Mare – Boxen in Accra
Transcription
Mare – Boxen in Accra
Bukom, ein Viertel in Ghanas Hauptstadt Accra, liegt am Meer. Hier gibt es 50 Boxschulen. Nur fünf von ihnen haben ein Dach. In „Sonia’s Gym“ wird unter freiem Himmel trainiert Fliegende Fäuste für ein Halleluja Sich zu prügeln hat bei den Fischern in Accra, Ghanas Hauptstadt, Tradition. Eine Zukunft als Boxchampion ist ihre große Hoffnung. Ihr Training ist eine harte Schleiferei: Autoreifen über den Strand ziehen Text: Gaby Herzog 12 Fotos: Martin Steffen 13 D i e mare - R e p o r t a g e Links Sparringspause in „Sonia’s Gym“. Bukoms Wasserversorgung findet nicht über Leitungen, sondern über Plastiktüten statt Rechts Nachwuchshoffung Obodai Sai, 28 Jahre alt, 2011 Träger des Commonwealth-Titels im Welter gewicht, trainiert im „House of Pain“ D AS MIRAKEL LÄSST AUF SICH WARTEN. KURZ NACHDEM DIE SONNE aufgegangen ist, haben die vier Männer vor der windschiefen Fischerhütte Stellung bezogen. Zwischen Bergen aus ausgedienten Netzen und Bojen sitzen sie auf Plastikstühlen, die notdürftig mit Klebeband zusammengehalten sind, essen Erdnüsse, malen mit ihren Zehen Muster in den staubigen Lehmboden und werden langsam ungeduldig. „Elizabeth, lass ihn gehen, dann bringen wir ihn dir als Champion zurück“, ruft einer. Die anderen lachen, fangen an zu klatschen und singen „Obodai, du bist der Messias“. Der Quirligste der Gruppe springt auf und macht aus dem Stand einen Flickflack. „Heute wird Jesus Wunder vollbringen !“ Endlich öffnet sich die Tür. Die Gruppe erwartet ihren Helden, das Boxtalent Obodai Sai, genannt „The Miracle“. Sai trägt blaue Shorts, ein gelbes Baumwollshirt und muss erst einmal ein paar Ziegen vertreiben, die es sich auf der Schwelle gemütlich gemacht haben. Zur Begrüßung drückt er seine Faust gegen die der anderen. „Respect, brother“, murmelt er und tippt mit den Fingerspitzen auf sein Herz. Dann setzt sich der Trupp in Bewegung. Hinunter, Richtung Strand. Wer von den Männern Zeit hat, das heißt, wer am Morgen noch keinen Job für den Tag finden konnte, begleitet den 28-Jährigen zu seiner ersten Trainingseinheit am Meer. „Wir sind miteinander groß geworden. Wir sind Obodais Freunde und seine Fans“, erklärt Tobo, der Flickflackmann. „The Miracle“ joggt derweil am Leuchtturm und der ehemaligen Zur Begrüßung drückt er seine Faust Sklavenburg James Fort vorbei bis zu den Sonnengegen die der anderen. „Respect, brother“, schirmen am Hollywood Beach. 2011 gewann er den Commonwealth-Titel im Weltergewicht im murmelt er und tippt auf sein Herz Kampf gegen einen Landsmann. „Ein Anfang“, sagt ein Fan. „Das hat viel Spaß, aber kein Geld gebracht. Obodai muss einen hochdotierten internationalen Titel gewinnen, dann sind wir alle Sieger.“ Zwei Stunden läuft Obodai Sai auf und ab. Hin zwei Kilometer über den festen Untergrund direkt am Wasser entlang. zurück durch den lockeren Sand etwas weiter oben am Strand. „Das gibt Extrakraft in den Unterschenkeln“, erklärt Tobo fachmännisch. Sein Handy klingelt. Der Bekannte eines Bekannten braucht Stacheldraht. Tobo weiß, wo er den besorgen kann, steht auf und geht. Obodai Sai macht allein weiter. Nach dem Ausdauerlauf und 100 Push-ups streift er ein Seil um den Oberkörper. Als er losläuft, zieht es sich an der Hüfte zusammen – mit einem Ruck setzt sich der alte Autoreifen, der am anderen Ende befestigt ist, in Bewegung. Auf den ersten Metern ist die Übung noch leicht. Dann füllt sich der Reifen mit jedem Schritt mit Sand. Die Trainingsbedingungen in Bukom, einem der ältesten Viertel von Ghanas Hauptstadt Accra, sind simpel. Es gibt kaum staatliche Unterstützung für den Sport, Sponsoren Lesen Sie bitte weiter auf Seite 18 14 mare No. 96, Februar/März 2013 15 Aus Bukom kommen viele der ghanaischen Boxchampions. Größte Bevölkerungsgruppe sind die Ga, das Volk der Fischer und Krieger 16 17 D i e mare - R e p o r t a g e Links Joshua Clottey, der als Boxchampion Millionen kassiert hat, kommt jeden Tag zum Trainieren nach Bukom der Rechts Eine Meeresbrise als Klimaanlage. Die Gyms hier sind ärmlich. Was zählt, sind Talent und Disziplin fehlen. Und doch leben nirgends sonst auf der Welt auf so kleinem Raum so viele hoffnungsvolle Boxer. Rund 500 hauptberufliche Boxer, schätzt Francis Decland von der Ghana Boxing Authority, wohnen in und um Bukom. Das quirlige Viertel hinter dem Hafen erstreckt sich über nicht viel mehr als 15 Straßen zwischen Slaha Market und High Street und ist Standort für rund 40 private Boxschulen. Nur fünf der „Gyms“ haben ein Dach, der Boden im Ring ist in der Regel aus Beton. Eine harte Schule. Während in anderen Ländern in modernen Leistungszentren jede Faser eines Athleten unter ständiger Beobachtung steht, seine Blutwerte kontrolliert, die Belastbarkeit getestet, seine Diät optimiert und auch die Psyche von Fachleuten gestählt wird, sind die Boxer in Ghana auf sich gestellt. Was zählt, sind Talent und Disziplin, der Wille zum Sieg. 1951 gewann Roy Ankrah den British-Empire-Titel im Federgewicht und steht damit am Anfang einer langen Reihe ghanaischer Champions in den unteren Gewichtsklassen. Eine lebende Legende in Bukom ist Azumah „Zoom Zoom“ Nelson, der von 1984 bis 1997 den WBC-Weltmeistertitel hielt. 1996 und 1997 durften sich Ike Quartey, Alfred Kotey und Alex Baba in ihren jeweiligen Gewichtsklassen Champions nennen. Joshua Clottey gewann 2008 den IBF-Titel im Weltergewicht. Nachdem er im vergangenen Jahr gegen Clavin Green in den USA einen bedeutenden Kampf gewonnen hatte, säumten Tausende die Straßen vom Flughafen bis in die Stadt, Nur fünf der Gyms haben ein Dach, um den Sportler zu bejubeln. Als der ehemalige Westafrika champion Oblitey Commey vor drei Wochen Boden im Ring ist in aller Regel aus beerdigt wurde, bettete man den 85-Jährigen in einen Beton. Eine harte Schule metallicroten Sarg in Form eines Boxhandschuhs. „Wir essen, trinken, träumen Boxen. Bukom ist Boxen“, erklärt Decland, der Boxfunktionär. „Neun ehemalige Weltmeister kommen von hier. Der Sport ist die Chance für einen armen schwarzen Mann, ohne Schulbildung reich zu werden.“ Mit einem Kampf in den USA, in England oder Australien könne ein Boxer Millionen verdienen. „Boxen ist unser Stolz und unsere Hoffnung, wir sind einfach boxverrückt“, sagt er und überreicht eine silbergrün schimmernde Visitenkarte über den Schreibtisch. Dort ist zu lesen, dass der 67-Jährige neben seiner Funktion im Boxverband auch noch im Schmuck- und Immobilienhandel tätig ist, dass er Know-how für Ölförderung sowie Elektrotechnik anbietet und sich ganz generell auf Export und Import versteht. Außerdem ist er, quasi nebenberuflich, Stammes oberhaupt einer 600 000-Einwoh- Rechts Am Strand von Bukom werden Ziegen geschlachtet und die Felle gesengt. Boxer Obodai Sai verdient sich hier ein Extrageld. Das Profigehalt ist bescheiden Bitte lesen Sie weiter auf Seite 23 18 mare No. 96, Februar/März 2013 19 Der Trainingsparcours der Boxer am Strand von Accra. Die Autoreifen stehen aufgereiht für die Sportler bereit 20 21 D i e mare - R e p o r t a g e ner-Stadt in der Voltaregion im Westen des Landes. Wenn Decland alle 14 Tage mit seinem polierten Mercedes, Baujahr 1999, sein kleines Königreich besucht, warten dort schon Hunderte Menschen auf ihn. „Die wollen nicht nur mal Hallo sagen oder einen weisen Rat von mir haben“, sagt der Chief, „vom Reden füllen sich die Bäuche nicht. Sie haben konkrete Anliegen. Es geht um Geld für Schuluniformen, für Medizin oder den Hausbau.“ 60 Prozent der Ghanaer sind Selbstversorger, arbeiten als Bauern oder Fischer. Zwar gehört das Land zu den wichtigsten Goldproduzenten der Welt, der Handel mit Diamanten floriert, und die Ölvorkommen vor der Küste sind groß, doch von dem Reichtum kommt bei der einfachen Bevölkerung wenig an. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, ein Drittel der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze, jedes fünfte Kind ist unterernährt. D er Geschäftsmann Decland sieht den Boxsport nicht nur als Hobby. Es ist für ihn ein Businessmodell. Sieben Jahre lang hat er sich als Manager im Boxen engagiert. Aus eigener Tasche hat eine Handvoll Sportler finanziert. Zwischen 30 und 150 Ghana-Cedi, umgerechnet etwa 15 bis 75 Euro, bekommt ein Profiboxer in der Woche. Decland sieht das als Investition. „Wenn ich ein Talent früh erkenne und systematisch aufbaue, kann ich mit ihm reich werden. Die Aussicht auf das große Geld gibt dem Boxsport die spannende Würze“, sagt er. Bislang hat Decland aber nur draufgezahlt. „Wir haben fantastische Boxer. Uns fehlen nur die finanziellen Mittel, sie an die Weltspitze zu bringen. Boxen ist hierzulande ein Armeleutesport.“ Die ghanaischen TV-Anstalten zahlen nicht für die Übertragungsrechte eines Kampfes – es zahlt ja auch niemand TV„Wenn ich ein Talent früh erkenne und Gebühren, ist das Argument. Es gibt keine Werbung, keine aufbaue, kann ich mit ihm reich werden“, Sponsoren. Während in den Vereinigten Staaten Zuschauer für einen hochkarätigen Fight bis zu 800 Dollar für ein Ticket zahsagt der Geschäftsmann Francis Decland len, kosten die teuersten Plätze bei den Commonwealth-Meisterschaften in Accra gerade 15 Cedi, das sind 7,50 Euro. Der Austragungsort am Lebanon-Haus im Stadtzentrum ist an normalen Tagen ein Parkplatz. Am Tag vor einer Veranstaltung werden je nach Bedarf ein Basketballfeld oder ein Boxring aufgebaut. Eine Girlande aus acht 100-Watt-Glühbirnen beleuchtet das Areal. Das Publikum sitzt auf Gartenstühlen, es gibt zwei Klosetts, keinen Getränkestand, keine Fanartikel, keine Umkleidekabine. Die Sportler bereiten sich in einer Nische auf ihren Kampf vor. Draußen vor der Arena fiebern die Fans mit, die sich kein Ticket leisten können. Sie klettern auf Bäume, auf umliegende Mauern und Autodächer. Francis Decland zieht die Vorhänge aus Samt und Spitze zurück und schaut aus dem Fenster. Von seinem Büro aus, im höchsten Gebäude der Viertels, hat er einen guten Blick. Die kleinen Hütten sind wild durcheinandergewürfelt, aus den Dächern ragen selbst gebastelte FernsehLinks Obodai Sai im Eingang des „House of Pain“. Den Commonwealth-Titel im Weltergewicht ist er mittlerweile wieder los 22 Rechts Der Boximpresario Decland hält den Sport für die „einzige Chance des armen schwarzen Mannes, ohne Schulbildung reich zu werden“ 23 D i e mare - R e p o r t a g e Links Der Boxring befindet sich am Lebanon-Haus im Zentrum von Accra. An kampffreien Tagen ist hier ein Parkplatz Rechts Runde vier wird eingeläutet. Das Publikum sitzt auf Gartenstühlen. Acht 100-WattBirnen beleuchten die Szenerie antennen. Mittendrin, in Blickweite des Funktionärs, drei Boxschulen: „Sonia’s“, „Fit Square Gym“ und „Will Power Gym“. „Sonia’s Gym“ ist ein 70 Quadratmeter großer betonierter Innenhof. In der Mitte ein improvisierter Boxring, die Wände sind von Hand bemalt: ein Paar Boxhandschuhe, von der gegenüberliegenden Mauer lächelt „Jesus the Christ“ mit Hirtenstab. Um 16 Uhr, wenn die Sonne tiefer steht und die Hitze nachlässt, beginnt das Techniktraining. Joseph Nii Armah ist früh da. Er tänzelt um den Sandsack aus Lkw-Plane und verteilt Hiebe. Der 28-Jährige ist von Beruf Fischer. Früher hatte er gehofft, dass ihn der Boxsport einmal ernähren könnte. „Ich habe schnelle Reaktionen, aber ich habe leider ein zu schwaches Kinn“, sagt er. „Wenn ich da eins draufbekomme, gehen bei mir die Lichter aus.“ Trotzdem macht Armah weiter. Boxen gehöre zum Leben eines Fischers, erklärt er. „Als kleine Jungen prügeln wir uns am Stand. Wer gewinnt und gut ist, sucht sich einen Trainer und macht weiter.“ Die Vorstellung, dass Erwachsene einen Streit schlichten oder gar zwei Kämpfende auseinanderbringen könnten, hält Armah für absurd. Er hat selbst fünf Kinder, drei von ihnen sind Jungen. „Wie soll man denn sonst herausfinden, wer der Stärkere ist ? Es ist doch ganz normal, dass wir Sieger sehen wollen.“ Kämpfen hat in Bukom Tradition. Im 15. Jahrhundert siedelte der Stamm der Ga an der westafrikanischen Küste. „Die Ashanti sind bekannt für ihre Gesänge, die Ewe sind gute Lehrer und Bauern. Wir Ga sind Fischer und Krieger“, sagt Armah und gibt dem Sandsack einen besonders Es gibt keine Werbung, keine Sponsoren, kräftigen Haken. Auf beiden Wangenknochen trägt er keine Fanartikel, keine Getränkestände eine tiefe, aufgeplatzte Narbe. Dabei handelt es sich um und keine Umkleidekabinen rituelle Wunden, die früher jedem Ga schon im Babyalter zugefügt wurden. „Das sind Zeichen für unsere Stärke“, erklärt Armah. „Wenn ein Ga als Kind von einem älteren Jungen verprügelt wird, dann vergisst er das nicht. Jedesmal, wenn er die Netze aus dem Wasser an Bord zieht, wachsen seine Muskeln. Und eines Tages ist er so stark, dass er sich revanchiert.“ Dienstage sind traditionelle Kampftage in Bukom. Dann machen die Fischer die größeren 20-Mann-Kähne in der Bucht fest und bringen die Netze an Land. Anschließend ziehen sie die Boote mit vereinten Kräften auf den Strand. „Dienstags darf sich das Meer erholen“, sagt Armah, „und wir Menschen haben Zeit, um zu boxen.“ Während die Oberschicht in früheren Zeiten das Meer mied und nie auf die Idee gekommen wäre, darin zu schwimmen, trafen sich die Männer von Bukom am Strand. ➢ 24 mare No. 96, Februar/März 2013 Rechts Der Cutman hat einiges zu tun. Die Boxer aus Bukom sind bekannt für ihren unbedingten Willen zum Sieg 25 D i e mare - R e p o r t a g e Links Joseph Nii Armah (hinten), Fischer, musste seinen Traum von der Profikarriere im Boxsport begraben. „Ich habe leider ein zu schwaches Kinn“ Rechts Obodai Sai hat bereits einen Ausdauerlauf und 100 Push-ups hinter sich. Ziel des Trainings: endlich einen hochdotierten Titel gewinnen Nach dem Nachmittagsbad stand man dort so lange zusammen, bis der Erste seine zitternde Faust in den Himmel riss und den Schlachtruf brüllte: „Odododiodioo !“ Das ist Ga und bedeutet „Lasst uns kämpfen“. „Oo aieee“ – ich nehme die Herausforderung an – war die Antwort, und der Kampf konnte beginnen. Teenager gegen Teen ager, junge Männer gegen junge Männer, Alte gegen Alte – der ganze Strand wurde zu einem Kampfplatz. Die Frauen und Kinder kamen aus ihren Hütten und schauten zu. 30 Minuten dauerte das Gerangel, feste Regeln gab es nicht. Erst als die Goldküste britische Kolonie wurde, brachten die Europäer ihre Boxregeln mit. Noch heute ist Odododiodioo der offizielle Name für den Verwaltungsbezirk rund um den Hafen. Joseph Nii Armahs Hütte ist aus Strandgut und den Resten eines alten Bootes gezimmert. Mit etwa 15 Menschen wohnt er hier. Wie groß seine Familie tatsächlich ist, hat der Fischer nie nachgezählt. Wenn das Meer sich nachts abkühlt und die Fische an die Oberfläche steigen, fahren die Männer hinaus. Seit vor der Küste chinesische Trawler die Fischgründe plündern, wird der Fang immer kleiner. Deshalb ist der Mitgliedsbeitrag für das Box-Gym ständiger Streitpunkt zwischen ihm und seiner Frau. „Jesus liebt euch alle“, tönt es plötzlich in den Hinterhof, „kehrt um und glaubt an das Evangelium!“ Eine ältere Frau mit Megafon ruft Armah ihre Botschaft zu. Der Lohn für die Missionsarbeit sind ein paar Cedi von ihrer Kirchengemeinde; ein Platz im Himmel steht in Aussicht. „Der Herr ist all„Als kleine Jungen prügeln wir uns am mächtig“, ruft sie noch, dann biegt sie in die Strand. Wer gewinnt und gut ist, sucht Nachbargasse ab. Dort hofft sie bei den Fischverkäuferinnen, die unter Hüten dösen und gelangsich einen Trainer und macht weiter“ weilt die Fliegen von ihrer Ware vertreiben, ein offenes Ohr zu finden. Bukom ist einer der geschichtsreichsten Stadtteile Accras. Hier stehen auch zwei gut erhaltene ehemalige Sklavenburgen, in denen die Kolonialherren ihre Zwangsarbeiter einpferchten. Bis heute sind in den Zellen in James Fort und Ussher Fort die Eisenringe im Boden verankert, an denen einst die Männer und Frauen festgekettet wurden, ehe man sie durch unterirdische Gänge zu den Segelschiffen trieb, die sie in die Neue Welt transportierten. Nur die Stärksten überlebten diese Behandlung. Ein weißer Ford-Kombi fährt im Schritttempo durchs Viertel. Der Kofferraum steht offen, die Rücksitze sind ausgebaut und die Ladefläche mit frischem Gras belegt. Ein mobiler Hühnerstall, in dem aufgeregte Hühner das Interesse von Käufern wecken sollen. Am Straßenrand kochen Frauen; daneben stehen riesige Tanks, aus denen Süßwasser verkauft wird. Die Kinder werden auf der Straße gewaschen. Bukom ist nicht an die Wasserversorgung angeschlossen, die Kanalisation ist provisorisch. Mitten in diesem Gewirr aus Garküchen, Müll und öffentlicher Badeanstalt parkt ein chicer metallicgrauer SUV, ein japanisches Luxusfabrikat. Am Rückspiegel baumeln zwei rote Boxhandschuhe. „Der Wagen von Joshua“, erklärt Armah und fügt hinzu: „Der 26 mare No. 96, Februar/März 2013 27 D i e mare - R e p o r t a g e Schlitten hat 60 000 Cedi gekostet.“ Joshua, das ist Joshua Clottey. Überall rund um den zentralen Platz hängen Plakate mit seinem Konterfei. 2008 wurde er IBF-Weltmeister in seiner Gewichtsklasse. Die Siegprämie betrug damals knapp eine Million Dollar. 2010 bekam er für den Kampf gegen Manny Pacquiao 1,5 Million US-Dollar. Für kurze Zeit ging Clottey in die USA und nach Großbritannien, kehrte dann aber doch wegen Heimweh zurück nach Ghana. Genauer: nach Bukom, zum Training im „House of Pain“. Hier sind die Sportgeräte zum großen Teil selbst gebaut, die Meeresbrise übernimmt die Kühlung, und die Jungen aus der Nachbarschaft dürfen kostenlos mittrainieren. „Ich habe für meine Familie ein Haus in der Nähe des Flughafens gekauft“, erklärt Clottey. Eine feine Gegend, in der Politiker, Diplomaten und Schauspieler wohnen. Da ist alles ordentlich, die Straßen sind geteert, und es gibt keine Obdachlosen. „Das ist ein guter Ort für meine Mutter, meine Frau und die Kinder. Aber mir persönlich gefällt es hier viel besser. Hier sind meine Leute“, sagt Clottey und teilt eine Tüte Nüsse mit den kleinen Zuschauern, die sich in den offenen Fenstern drängeln. Joshua Clottey ist nicht der Einzige, den es immer wieder zurück in sein Viertel zieht. Auch der sechsmalige WBA-Champion Ike „Bazooka“ Quartey kommt jeden Tag aus seinem Luxusdomizil am Stadtrand hierher. Heute sitzt er im frisch gestärkten zartrosa Hemd auf einer Mauer gegenüber dem Fußballplatz und raucht. Mit Fremden spricht er nicht gern. Wird er angesprochen, malt er kommentarlos seine Unterschrift auf ein Blatt Papier und reicht es hinüber. Starallüren ? Einen Gutteil seines Geldes hat der 42-Jährige jedenfalls in Schmuck investiert. Vier breite Ketten aus Gold hängen um seinen Hals und rasseln bei jeder Bewegung wie eine Ritterrüstung. Auch die Schneidezähne sind nach Vorbild von James Bonds Beißer in Gold eingefasst. Ein wenig protzig wirkt Ike schon. Dennoch scheinen die Menschen ihm sein Geld nicht zu neiden. Wer ihn schon unterstützt hat, als er noch ein No-Name war, kann bis heute darauf zählen, dass Quartey die Treue belohnt. Die anderen bewundern seinen exzentrischen Bling. Sie sind stolz, dass es einer von ihnen, ein Fischerjunge, der kaum Dienstags ziehen die Fischer ihre Netze lesen und schreiben kann, in die Boxarenen vor ein Millionenpublikum geschafft hat. an Land. Dienstags darf sich das Meer Es ist Abend geworden. Obodai Sai, „The erholen, und die Menschen prügeln sich Miracle“, kommt vom zweiten Training aus dem Gym nach Hause. Abgekämpft. Wie Rocky Balboa. Weil sie im Schlachthof einen kräftigen Kerl wie ihn gerade gut gebrauchen konnten, hat man ihm für ein paar Stunden einen Job angeboten. Im Akkord hat Sai 20 Ziegen die Kehle durchgeschnitten und ihnen über dem Feuer das Fell abgesengt. Das bringt Extrageld, denn das Boxprofigehalt ist bescheiden. Sais Freundin Elizabeth wartet schon vor der Hütte. Sie hat lange goldene Wimpern auf die Lider geklebt und trägt, wie viele Frauen in Bukom, eine Perücke. Das Accessoire garantiert eine perfekte Frisur, egal bei welchen Temperaturen. „Komm, setz dich“, sagt sie und klopft neben sich auf die Bank. Sie will die Narbe begutachten, die seit zwei Tagen Sais Braue ziert. Der guckt grimmig und will sich ins Haus schleichen. Doch die Ziegen blockieren die Tür; also setzt er sich unschlüssig neben seine Verlobte. Die Blessur hat er sich nicht bei einem regulären Kampf mit Boxhandschuhen und Ringrichter geholt. Ein Nachbar hat Elizabeth seine Aufwartung gemacht. Jeden Dienstag. Das konnte „The Miracle“ nicht auf sich sitzen lassen. Sein Trainer war außer sich, der Manager hat mit Kündigung gedroht, weil Sai seine wertvollen Fäuste dieser Verletzungsgefahr ausgesetzt hatte. Sai zuckt mit den Schultern. „Ich bin ein Kämpfer. Was zählt: Seither hat niemand den Kerl mehr auf der Straße gesehen, und Elizabeth wohnt bei mir“, sagt er und lächelt dann doch zufrieden. In der Abendsonne schimmert das Tattoo auf seiner Brust. „Only God can judge me“, „Nur Gott kann über mich richten“, ist dort mit schwarzer Farbe eingeritzt. ! Gaby Herzog, Jahrgang 1977, lebt als freie Reporterin in Berlin und ist in der ganzen Welt unterwegs. Als mitten im Interview mit Ike Quartey die Fischer im Hafen von Accra in Streit gerieten, freute sie sich, den mürrischen Champ an ihrer Seite zu haben. Der stellte sich nur einmal aufrecht hin – dann hatte sie ihre Ruhe. Martin Steffen, Jahrgang 1967, lebt als Fotograf in Bochum. Sport und Soziales sind seine bevorzugten Themen. Hier in Ghana haben sich beide Sphären getroffen. 28 mare No. 96, Februar/März 2013