Abschlussdokumentation

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Abschlussdokumentation
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Die 1952 gegründete Arbeitsgemeinschaft katholisch-sozialer Bildungswerke in der Bundesrepublik Deutschland (AKSB)
ist die Fachorganisation für katholisch-sozial orientierte politische Jugend- und Erwachsenenbildung in Deutschland.
Sie sorgt für fachlich qualifizierte politische Bildung in einer bundesweit wirksamen Infrastruktur.
In der AKSB arbeiten mehr als 60 Akademien, Bildungsstätten, Bildungswerke, Soziale Seminare und Verbände zusammen, um bundesweit politische Bildungsarbeit auf der Grundlage
christlicher Sozialethik anzuregen, zu fördern und zu koordinieren.
Aus diesen Zielen ergeben sich folgende Aufgaben:
• fachdidaktischer Austausch unter den AKSB-Mitgliedern
• gemeinsame Arbeit an Schwerpunkten und innovativen Projekten (Konzeption und Evaluation)
• Förderung der Fort- und Weiterbildung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
• partnerschaftliche Zusammenarbeit mit anderen zentralen Stellen der politischen Bildung
• Pflege internationaler Kontakte
• Interessenvertretung in Fachfragen
• Beschaffung von Mitteln für die politische Bildung
Rechtsträger der AKSB ist der „Verein zur Förderung katholisch-sozialer Bildungswerke in
der Bundesrepublik Deutschland e.V.“ Er nimmt die Aufgaben einer Zentralstelle für die
Bewirtschaftung von öffentlichen Mitteln zur Förderung der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung der AKSB-Mitglieder wahr.
Die AKSB ist u.a. Mitglied im Bundesausschuss Politische Bildung (BAP) und in der Katholischen Bundesarbeitsgemeinschaft für Erwachsenenbildung (KBE).
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
„Familie und Gewalt: Menschen würdig erziehen!“ Ein trägerübergreifendes
Projekt der politischen Bildung - Abschlussdokumentation / Lothar Harles
(Hrsg.) im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft katholisch-sozialer Bildungswerke
in der Bundesrepublik Deutschland. Bonn: Verein zur Förderung katholischsozialer Bildungswerke in der Bundesrepublik Deutschland e.V., 2002
(AKSB, Dokumente - Manuskripte - Protokolle; 30)
ISBN 3-924137-30-7
Redaktion:
Dr. Lukas Roelli (Projektleiter bis Juli 2001)
Dr. Simeon Reininger (Projektleiter ab August 2001)
Satz + Gestaltung:
Marie-Theres Pütz-Böckem
Die Erlaubnis zum Nachdruck der Fotos gaben: AKSB (10, 146), Martin Kaiser (43, 44, 112,
187, 244, 278, 302, 320, 330), M.-Th. Pütz-Böckem (116, 122, 161, 191, 200, 232, 248), AGJ
(204, 260, 315)
© 2002, Verein zur Förderung katholisch-sozialer Bildungswerke in der
Bundesrepublik Deutschland e.V., Bonn
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Inhalt
1.
Simeon Reininger
Vorwort .................................................................................... 7-9
2. Lukas Rölli, Simeon Reininger
Projektbeschreibung ................................................................. 10-43
2.1 Anlass .................................................................................. 12
2.2 Planung ................................................................................ 14
2.3 Konzeption ........................................................................... 18
2.4 Durchführung ........................................................................ 25
2.5 Ergebnisse ............................................................................ 33
3. Expertisen ............................................................................. 44-111
Andreas Borchers
Politische und zivilgesellschaftliche Handlungsfelderz ur
Erleichterung familialen Erziehungshandelns und zur
Prävention von Gewalt in der Erziehung ........................................... 46
Udo F. Schmälzle
Gewaltfreie Erziehung: Theorie und Praxis
eines pädagogischen Leitbildes ....................................................... 76
4. Fachtagungen ...................................................................... 112-272
4.1 Gewaltfreie Erziehung – Eine Herausforderung für
die politische Bildung
27. Oktober 1999 in Bonn ....................................................... 114
4.2 Gewaltfreie Erziehung – Zu Theorie und Praxis
eines pädagogischen Leitbildes *
24./25. Oktober 2000 in Neu-Anspach/Taunus ............................ 136
4.3 Gewaltfreie Erziehung in der Tagespflege *
8./9. Mai 2001 in Neustadt/Bergstraße ..................................... 212
4.4 Zwischen Prävention und Intervention *
12./13. Juni 2001 in Hildesheim ............................................. 257
* Die Fachtagungen 4.2 bis 4.4 sind nur auf CD-Rom verfügbar.
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5. Seminar-Bausteine ................................................................ 273-319
5.1 Dagmar und Bernward Bickmann
„Wo, bitte, geht’s denn lang wo ich hin will?“ (Karl Valentin)
Familie als prägende Instanz von Wertorientierungen im
„Zusammenspiel“ mit Schule, Arbeitswelt, Medien
und politsicher Teilhabe ......................................................... 274
5.2 Birgit Engelhard-Schwaab
„Was ist los, wenn ich wild werde?“
Bildungswoche für Alleinerziehende in der
Katholischen Landvolkshochschule Feuerstein, Ebermannstadt ..... 279
5.3 Dorothea Frey
„Gewaltfreie Erziehung in der Tagespflege
Gewalt gegen Kinder – Rechte der Kinder“
Seminartag im Rahmen der Qualifizierung von Tagesmütter ......... 287
5.4 Rainer Hartel
Jugend – Gewalt – Familie
Bildungswoche für Jugendliche in der Bildungsstätte Alte Schule
Anspach (basa), Neu-Anspach (Taunus) ..................................... 297
5.5 Christine Heide
Gewalt in der Erziehung
Eine Fortbildung für Erzieher/innen und Grunschullehrer/innen ..... 305
5.6 Simeon Reiniger
„Starke Kinder – Starke Eltern“©
Seminar für Familien, Alleinerziehende und Interessierte in
Zusammenarbeit mit dem Kinderschutzbund Lingen (Ems) ........... 314
6. Lukas Rölli
Ausgewählte Literaturhinweise ............................................... 320-329
7. Kontakte ............................................................................. 330-335
7.1 Projekträger ......................................................................... 332
7.2 Projektgruppe ...................................................................... 333
7.3 Autorinnen und Autoren ........................................................ 335
8. Inhalt – Langfassung * ......................................................... 337-344
* Die Langfassung ist nur auf CD-Rom verfügbar
VORWORT
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Simeon Reininger
Vorwort
Seit November 2000 ist das Recht auf gewaltfreie Erziehung im Bürgerlichen Gesetzbuch
(BGB) gesetzlich verankert. Damit folgte der Gesetzgeber der Kinderrechtskonvention
der Vereinten Nationen, die schon über 20 Jahre das Recht von Kindern auf körperliche
Unversehrtheit fordert.
„Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafung, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“
(§ 1631 Abs. 2 BGB)
Mit diesem Gesetz allein ist es freilich nicht getan. Während neue Gesetze zumeist das
Ergebnis und der Abschluss eines lang anhaltenden parlamentarischen und auch gesellschaftlichen Diskussionsprozesses sind, gab dieses Gesetz umgekehrt erst Anstoß zu
einem gesellschaftlichen Diskussionsprozess. Natürlich haben sich die Erziehungsstile
in den letzten Jahren gewandelt. Sie sind oder wollen zumindest partnerschaftlicher
sein. Und: Schläge und Prügel haben in der Erziehung nicht mehr den Platz, den sie
früher als Straf- und Züchtigungsmittel hatten. – Zumindest wird das häufig so gesehen.
Dennoch, wer sich der Thematik gewaltfreier Erziehung stellt, weiß nicht nur darum,
dass Gewalt mehr ist als körperliche Gewalt und dass es diese immer noch zu viel gibt.
Deshalb startete das Bundesfamilienministerium mit der Verabschiedung des Gesetzes
im Deutschen Bundestag im September 2000 eine breit angelegte Werbekampagne: „Mehr
Respekt vor Kindern“. Mit Plakaten, Anzeigen, Fernsehspots und Vor-Ortkampagnen warb
das Familienministerium für die Umsetzung des Gesetzes an der Basis.1 Über diese Kampagne hinaus wurden Projekte und Kooperationen gefördert, darunter das trägerübergreifende Projekt „Familie und Gewalt – Menschen würdig erziehen“, das parallel zur
Kampagne von der Arbeitsgemeinschaft katholisch-sozialer Bildungswerke (AKSB) gemeinsam mit dem Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten (AdB), dem Deutschen Volkshochschul-Verband (DVV) und dem Verband ländlicher Heimvolkshochschulen (HVHS)
durchgeführt wurde.
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VORWORT
Dieses Projekt, das Ende 2002 abgeschlossen wurde, und dessen Dokumentation mit
dieser Veröffentlichung vorliegt, hatte zum Ziel, durch politische Bildung bei Eltern,
Erziehungsberechtigten und Verantwortlichen in Gesellschaft und Staat das Bewusstsein für die gesellschaftliche Bedeutung von Erziehung zu stärken, die die Persönlichkeitsrechte junger Menschen und ihre Würde achtet und ihre Entwicklung in einer auf Teilhabe, Verantwortung und Solidarität angelegten demokratischen Gesellschaft fördert. Dazu
gehört die Auseinandersetzung mit den strukturellen Rahmenbedingungen, die diesem
Ziel förderlich oder hinderlich sind.
Hierfür wurden wissenschaftliche Expertisen in Auftrag gegeben, vier Fachtagungen
sowie Seminare und Bildungsveranstaltungen mit unterschiedlichsten Zielgruppen organisiert, durchgeführt und evaluiert, die im Folgenden dokumentiert sind.
Das Projekt und die gesamte Kampagne des Bundesfamilienministeriums sind abgeschlossen. Auch wenn zum Abschluss der Kampagne im Herbst 2002 die damalige Familienministerin Bergmann in einem Interview sagen konnte, „Kräftig den Po versohlen ist
allmählich out“2, reicht das nicht aus. Untersuchungen belegen zwar, dass Gewalt in der
Familie abgenommen hat: Während Mitte der neunziger Jahre noch in einem Drittel der
Familien den Kindern schon einmal der Po versohlt wurde, geschieht dies heute nur
noch in einem Viertel der Familien. 85 % der Eltern streben eine gewaltfreie Erziehung
an. Realität ist aber, dass immer noch zu viel Gewalt in Familien angewandt wird und
vermutlich wesentlich mehr als statistisch erfassbar. Denn vielfach wird tatsächlich
angewandte Gewalt – vor allem psychische – gar nicht als Gewaltanwendung wahrgenommen. Dies konnte gerade in den durchgeführten Bildungsveranstaltungen immer
wieder deutlich werden. Abnehmende Tendenz also, und doch gibt es noch zu viele
Eltern oder Sorgeberechtigte, die notfalls auch mal zuschlagen oder Kinder seelisch
verletzen. Deshalb spricht das Gesetz, das vor zwei Jahren im Bundestag verabschiedet
wurde, auch nicht nur vom „Recht auf gewaltfreie Erziehung“, sondern verbietet zudem
„seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen“.
Das durchgeführte Projekt und insbesondere die erprobten Seminarmodelle ließen deutlich werden, wie schwierig es ist, „Gewalt in der Familie“ in der Bildungsarbeit zu thematisieren. Allein über niedrigschwellige Angebote war und ist es möglich, Eltern zu
erreichen, um mit ihnen Erziehungswerte und Erziehungsstile zu reflektieren. Gewiss ist
die Nachfrage nach konkreten, praktischen Hilfsangeboten allerorten sehr stark. Denn
Erziehung ist schwieriger geworden in einer Gesellschaft, deren Wertvorstellungen zwar
VORWORT
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nicht unbedingt brüchig, aber vielfältig wurden. Nicht wenige Eltern sehen sich überfordert, aus der Vielfalt der Wert-Angebote die richtigen zu übernehmen und ihren Kindern die Orientierung zu geben, die sie im gesellschaftlichen Dschungel brauchen.
Aber schon die Frage nach dem richtigen („respektvollen“) Erziehungsstil lässt erkennen dass es sich eben nicht allein um ein familiäres, sondern ein gesellschaftliches
Problem handelt. Deshalb ist es auch nicht allein ein Thema für Erziehungsberatungsstellen, sondern durchaus auch eines für die politische Bildung und die Politik. Familiäre Gewalt hat nämlich durchaus strukturelle Ursachen: Finanzielle Unsicherheit angesichts
von Kindern als Armutsrisiko Nummer 1, unzureichende Kinderbetreuungsmöglichkeiten,
kinderfeindliche Wohnviertel (Stadtplanung), zu enger Wohnraum, familienfeindliche
Arbeitszeiten, berufliche Mobilität sind nur ein paar wenige Faktoren, die als Stressfaktoren schon einmal auch mit verursachen, dass eine „Hand ausrutscht“. Wer also eine
„gewaltfreie Erziehung“ durchsetzen will, muss auch an den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen etwas ändern. Hierzu Bewusstsein zu schaffen, zum politischen („zivilgesellschaftlichen“) Handeln zu ermutigen und zu befähigen, wollte das Projekt beitragen.
Das Projekt ist beendet, die Aufgabe bleibt; denn immer noch gilt in mindestens einem
Viertel aller Familien „Wen der Vater liebt, den züchtigt er.“ (Buch der Sprüche 3,12)
Literatur
1
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.): Kampagne „Mehr Respekt
vor Kindern“ 2000 bis 2002. Dokumentation. Bonn/Berlin 2002.
2
Psychologie heute September 2000, S. 38.
Nachsatz des Herausgebers:
Die Publikation der Ergebnisse des Projekts „Familie und Gewalt“ erfolgt als Broschüre und
in Form einer CD-Rom. Der Umfang der Berichte machte es erforderlich, einen Teil der
Materialien nur für die Präsentation auf der CD-Rom vorzusehen. Dort sind sie durch ein
übersichtliches Suchsystem gut erschließbar.
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Anlass
Planung
Konzeption
Durchführung
Ergebnisse
Projektbeschreibung
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2.
PROJEKTBESCHREIBUNG
Lukas Rölli, Simeon Reininger
Projektbeschreibung
2.1 Anlass
Am 23. Juni 1999 brachten die Koalitionsfraktionen im Deutschen Bundestag den Entwurf
eines „Gesetzes zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung“ ein (BT Drucksache 14/1247).
Das Gesetz sollte § 1631 Abs. 2 des BGB und § 16 Abs. 1 SGB VIII (KJHG) i.d.S. ändern,
dass das Recht des Kindes auf gewaltfreie Erziehung im BGB festgeschrieben und die
Vorschriften über die allgemeine Förderung der Erziehung in der Familie im KJHG um
Angebote erweitert werden sollen, die Wege aufzeigen, wie Konfliktsituationen in der
Familie gewaltfrei gelöst werden können. Gegenüber der erst vor zwei Jahren beschlossenen Änderung des § 1631 im Rahmen des Kindschaftsrechtsreformgesetzes (KindRG) vom
16. Dezember 1997, in dem „entwürdigende Erziehungsmaßnahmen, insbesondere körperliche und seelische Misshandlungen“ als unzulässig erklärt wurden, soll nun ein „Recht
auf gewaltfreie Erziehung“ des Kindes festgeschrieben werden, um damit das gewohnheitsrechtliche Züchtigungsrecht in unmissverständlicher Weise abzuschaffen.
Bereits in der 1. Lesung des Gesetzesentwurfes vom 30. Juni 1999 und in der Beratung des
Bundestages über den Zehnten Kinder- und Jugendbericht vom 30. September 1999 wurde
deutlich, dass zur Verhinderung von Gewaltanwendung in der Erziehung in der Bevölkerung
ein breiter „Diskussions- und Bewusstseinsbildungsprozess“ in Gang gesetzt werden muss.
Ausgehend von der Tatsache, dass Gewaltanwendung gegen Kinder durch eine „komplexe
Verschränkung“ von gesellschaftlichen, familiären und individuellen Faktoren bedingt ist,
nennt der Zehnte Kinder- und Jugendbericht (BT Drucksache 13/11368, S. 116, 128-131)
drei Handlungsfelder für eine wirkungsvolle Prävention gegen Gewalt in der Erziehung:
■ Veränderung der Einstellungs- und Handlungsmuster in der Gesellschaft
■ Veränderung der wirtschaftlichen und sozialen Lage von Familien mit Kindern
■ Anforderungen an ein Hilfesystem für betroffene Kinder und ihre Familien
Alle drei Handlungsfelder haben eine starke politische Dimension: Es geht um die Frage
nach dem Verhältnis von Familie und Staat, nach Zielen und Maßnahmen einer familien-
ANLASS
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und kinderfreundlichen Sozialpolitik und nach Möglichkeiten zur Stärkung zivilgesellschaftlicher Netzwerke zur Prävention von Gewalt.
Mit der Verabschiedung des „Gesetzes zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung“ plante
das Familienministerium eine breite Kampagne, die das Recht auf gewaltfreie Erziehung
in der Bevölkerung bewusst machen sollte. Hier sahen sich Träger der politischen Bildung gefordert, zu sachlicher Information und qualifizierter Auseinandersetzung beizutragen und zudem im gesamtgesellschaftlichen Kontext auch Wege zu erörtern, die helfen, Konfliktsituationen in der Familie gewaltfrei zu lösen und Alternativen zu körperlichen Bestrafungen, seelischen Verletzungen und anderen entwürdigenden Maßnahmen
gegenüber Kindern zu entwickeln.
Örtliche und überörtliche Kampagnen sowie eine erhöhte Medienpräsenz des Themas
sollten von den Einrichtungen der außerschulischen politischen Jugend- und Erwachsenenbildung genutzt werden, um das Thema wirksam aufzugreifen und gegebenenfalls
mit anderen Aktionen zu vernetzen.
Die Familienabteilung des BMFSFJ wollte im Rahmen ihres Aktionsprogramms flankierende Maßnahmen fördern. „Damit sollen neben der Information über die Intention des
Gesetzes eine Bewusstseinsänderung in der Bevölkerung und damit auch bei den Eltern
erreicht und konkrete Hilfs- und Unterstützungsmaßnahmen gefördert, angeregt und
erprobt werden. In der Öffentlichkeit und insbesondere bei den Eltern soll eine breite
Kommunikation darüber angeregt werden, wie Erziehung, die auch immer das Setzen
von Grenzen bedeutet, so angelegt werden kann, dass Eltern dabei auf körperliche und
seelische Gewalt verzichten. Andererseits sollen durch gezielte Hilfestellungen Eltern
entsprechende Handlungskompetenzen im täglichen Umgang mit ihren Kindern vermittelt werden, damit sie ihre Verantwortung im Sinne des Gesetzes wahrnehmen können.“
Im Rahmen des Aktionsprogramms waren neben Maßnahmen auf lokaler Ebene (öffentliche Veranstaltungen und Aufklärung im Netzwerk sozialer Hilfen) Maßnahmen der Träger der Familienarbeit zur Qualifizierung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der
Familienbildung und -beratung und in Familien- und Kinderschutzorganisationen sowie
präventive Aktivitäten der Institutionen, die Kontakt mit Eltern pflegen, vorgesehen.
Für Träger der politischen Jugend-, Erwachsenen- und Familienbildung kamen eine Beteiligung an dem Aktionsprogramm vornehmlich in Form von präventiven Aktivitäten in
Betracht. Konkret konnte es beispielsweise um Information und Auseinandersetzung mit
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PROJEKTBESCHREIBUNG
dem Thema „Grenzen setzen ohne Gewalt“ besonders für die Zielgruppen Eltern und andere Erziehungsberechtigte, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Tagesbetreuung für Kinder sowie in anderen Einrichtungen und Stellen der Jugend- und Familienhilfe gehen, die
mit Eltern Kontakt haben und auf deren Erziehungsverhalten sie Einfluss nehmen können.
Dabei sollten auch grundsätzliche Fragen der Rechtsstellung des Kindes (u.a. Impulse
aus der UN-Kinderrechtskonvention), der Werte und Normen in der Erziehung, der Rechtsstellung von Eltern und anderer Erziehungsberechtigter, der rechtlichen und alltäglichen Definition der Begriffe Gewalt, körperliche Bestrafung, seelische Verletzung, entwürdigende Maßnahme sowie das Verhältniss zwischen staatlichen Maßnahmen und Vorschriften im Verhältnis zu Elternrechten und -pflichten erörtert werden.
Schließlich sollte auch die Einhaltung von Rahmenbedingungen für eine kinder- und
familienfreundliche Gesellschaft berücksichtigt werden. Denn Erziehung hängt in erheblichem Umfang von Einflüssen und Einwirkungen ab, denen Familie und andere
Institutionen der Erziehung ausgesetzt sind: das soziale Umfeld im engeren Sinne wie
familiäre und kulturelle Tradition, Milieus, Wohnen, Arbeitswelt und vor allem die
Medien – kurz: alle Miterzieher. Ein gesamtgesellschaftliches Klima und entsprechendes Handeln tut Not, um das Ziel gewaltloser Erziehung nachhaltig zu erreichen. Zwar
will das Aktionsprogramm auch die Öffentlichkeit aufklären und sich mit anderen Aktivitäten (z.B. Soziale Stadt, Armutsprophylaxe) vernetzen; eine gezielte Einwirkung
auf die Medien ist jedoch nicht vorgesehen. Daher sollten auch die Rahmenbedingungen
für Erziehung in Veranstaltungen der politischen Bildung thematisiert und zu ihrer
Verbesserung motiviert werden. Schließlich war auch zu erwägen, inwieweit Kinder und
Jugendliche selbst sich mit der Thematik auseinandersetzen wollen und können.
2.2 Planung
Die Idee zu einem trägerübergreifenden Projekt der politischen Bildung zum Thema
„Gewaltfreie Erziehung“ ist 1999 im Vorfeld des parlamentarischen Beratungsprozesses
des Gesetzes zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung entstanden. Am 27. Oktober 1999
veranstaltete die Arbeitsgemeinschaft katholisch-sozialer Bildungswerke in der Bundesrepublik Deutschland (AKSB) eine vom Bundesfamilienministerium geförderte Fachtagung
„Gewaltfreie Erziehung: eine Herausforderung für die politische Bildung“, die interessierten Einrichtungen aus unterschiedlichen Trägerzusammenschlüssen der politischen
PLANUNG
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Bildung Gelegenheit gab, die politische und gesellschaftliche Problematik des Themas
„gewaltfreie Erziehung“ zusammen mit Experten zu erörtern und inhaltliche und didaktische Rahmenbedingungen eines möglichen gemeinsamen Projektes zu erörtern. Die
Fachtagung zeigte, dass das Problem von Gewalt in der familiären Erziehung von politischen Bildnerinnen und Bildnern als wichtiges gesellschaftspolitisches Anliegen angesehen wird, zu dessen Bearbeitung politische Bildung einen Beitrag leisten kann.
Nach Rücksprache mit dem BMFSFJ wurde in der Gemeinsamen Initiative der Träger
politischer Jugendbildung (GEMINI) eine (möglichst) gemeinsame Beteiligung an dem
Aktionsprogramm vorgeschlagen. Man dachte daran, Veranstaltungen und Bausteine zu
dem Themenkomplex zu entwickeln, zu erproben und zu evaluieren, um die Thematik
bekannt zu machen und ihr eine Perspektive in der weiteren Arbeit zu geben. Ansätze
dafür lagen in der AKSB bereits vor: AKSB-Werkstatt 1 „Werte und Normen, Konflikte und
Gewalt, Konzepte und Erfahrungen aus einem Arbeitsschwerpunkt katholisch-sozial orientierter politischer Jugendbildung 1994 bis 1998“ sowie das dreibändige Werk Vaskovics/
Lipinski „Familiäre Lebenswelten und Bildungsarbeit“, in dem Ergebnisse des AKSBProjekts Ehe und Familie im sozialen Wandel dokumentiert sind1.
Ein solches Projekt bedurfte neben einem ausreichenden Interesse von Mitgliedsinstitutionen einer kontinuierlichen Mitwirkung, einer hauptberuflichen Projektleitung
und wissenschaftlicher Zuarbeit. Bevor weitere Schritte eingeleitet werden konnten,
war das Interesse an einem solchen Projekt zu erheben. Außerdem war mit dem BMFSFJ
eine Abstimmung über Ziele, Inhalte und Strukturen eines solchen Projekts sowie über
eine Koordination mit Vorhaben anderer Träger vorzunehmen.
Folgende Einrichtungen bekundeten ihr Interesse an einer Mitarbeit in einem Projekt
der familienbezogenen politischen Bildung zum Thema „Gewaltfreie Erziehung“ 2:
AKSB-Mitglieder
Franziskanisches Bildungswerk, Großkrotzenburg
Heinrich Pesch Haus, Ludwigshafen
Jugendakademie Walberberg
Katholisch-Soziale Akademie Franz Hitze Haus
Kolpingwerk Deutschland
Ludwig-Windthorst-Haus, Lingen
Sozialinstitut der KAB für Erwachsenenbildung e.V., Vohenstrauß
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PROJEKTBESCHREIBUNG
Weitere Mitglieder der GEMINI
Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten (AdB)
Deutscher Volkhochschul-Verband (DVV)
Verband ländlicher Heimvolkshochschulen Deutschlands (HVHS)
An der vom BMFSFJ geförderten Tagung vom 27. Oktober 1999 in Bonn haben 34
Vertreterinnen und Vertreter aus diesen Trägerzusammenschlüssen teilgenommen. In
einem Expertengespräch mit Prof. Dr. Holzhauer, Universität Münster, wurden im ersten Teil der Tagung grundlegende familienrechtliche Fragen im Zusammenhang mit
der Gesetzesvorlage zur Ächtung von Gewalt in der Erziehung geklärt. Frau Lipinski,
Ludwigsburg, zeigte vor dem Hintergrund des abgeschlossenen Projektes „Ehe und
Familie im sozialen Wandel“ Perspektiven für den Umgang mit dem Thema Gewalt in
der familienorientierten politischen Bildung auf. Im zweiten Teil der Tagung wurde
der von der AKSB-Geschäftsstelle vorgelegte Konzeptentwurf für ein trägerübergreifendes Projekt intensiv diskutiert.
Die Fachtagung trug zur Klärung der Beteiligungsmöglichkeiten und -formen an dem
trägerübergreifenden Projekt bei. Politische Bildung kann die öffentliche Diskussion
sinnvoll begleiten. Die Frage nach dem Verhältnis von Familie, Erziehung und Staat
trifft einen Kernbereich der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Hier ist politische Bildung gefordert. Sie kann das Bewusstsein für die gesellschaftliche Bedeutung
von Erziehung ohne Gewalt und für die strukturellen Rahmenbedingungen, die dieser
Forderung entgegenstehen, wecken und vertiefen. Es ist allerdings nicht Aufgabe politischer Bildung, durch Persönlichkeitsbildung Handlungskompetenzen von Eltern zum
gewaltfreien Umgang mit ihren Kindern zu schulen.
Der von der AKSB-Geschäftsstelle vorgeschlagene Rahmen wurde grundsätzlich angenommen. Das Interesse an einer Mitarbeit war in genügendem Umfang vorhanden. Bei der
Planung des Projekts konnte die AKSB auf bereits vorhandene Erfahrungen aus früheren
Projekten zu den Themen „Familie“ und „Gewalt“ zurückgreifen. Die AKSB hatte gemeinsam mit der Bundesarbeitsgemeinschaft katholischer Familienbildungsstätten in dem vom
BMFSFJ geförderten Projekt „Ehe und Familie im sozialen Wandel“ didaktische Bausteine
für eine lebensweltorientierte politische Bildung zum Thema „Veränderte Familien- und
Lebensformen“ entwickelt, erprobt und evaluiert3. Dabei wurde auch die Rolle von Leitbildern in der Familienerziehung thematisiert. Fragen nach Gewalt in der Erziehung, nach
Gewaltfreiheit und Prävention standen dabei aber nicht im Vordergrund.
PLANUNG
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Im Arbeitsschwerpunkt „Werte und Normen – Konflikte und Gewalt“ erprobte die AKSB
über einen Zeitraum von fünf Jahren didaktische Konzepte und Bausteine für einen
wertorientierten Umgang mit dem Thema „Gewalt in der außerschulischen politischen
Bildung mit Jugendlichen“4.
Das Projekt „Ehe und Familie im sozialen Wandel“ und der Arbeitsschwerpunkt „Werte
und Normen – Konflikte und Gewalt“ lieferten wichtige Grundlagen für die wertorientierte
Auseinandersetzung mit dem Thema „gewaltfreie Erziehung“. Die Behandlung dieses
Themas mit dem Ziel, gesellschaftliches Bewusstsein zu schaffen und Präventionsstrukturen zu stärken, stellt für die politische Bildung allerdings weitgehend Neuland
dar.
Mit dem trägerübergreifenden Projekt „Familie und Gewalt: Menschen würdig erziehen!“
wollte die AKSB Träger der politischen Bildung anregen, sich verstärkt mit diesem Thema auseinander zu setzen. In dem Projekt sollten innovative Konzepte für den Umgang
mit diesem Thema in der politischen Bildung vor dem Hintergrund unterschiedlicher
Arbeitsformen und Wertorientierungen entwickelt, erprobt und evaluiert werden. Das
Projekt bot zudem die Möglichkeit, im Internet ein Forum für den didaktischen und
praktischen Austausch zu dem Thema zu schaffen.
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PROJEKTBESCHREIBUNG
2.3 Konzeption
In dem Projekt sollten Bildungseinrichtungen mit unterschiedlichen Arbeitsformen (mehrtägige Veranstaltungen mit Internatsunterbringung, Wochenendseminare, Tagesveranstaltungen; regionale oder überregionale Verwurzelung), unterschiedlichen Zielgruppen
und Methoden und mit verschiedenen Werthintergründen über einen Zeitraum von zwei
bis drei Jahren kontinuierlich zusammenarbeiten. In der Vorbereitung auf die Fachtagung vom Oktober 1999 meldeten 47 Einrichtungen ihr Interesse an dem Projekt an:
acht von der AKSB, neun vom AdB, 26 vom DVV, drei vom HVHS sowie die Arbeitsgemeinschaft für katholische Familienbildung (AKF).
Die aktive und kontinuierliche Zusammenarbeit der am Projekt beteiligten Bildungseinrichtungen diente der gemeinsamen Entwicklung und Erprobung innovativer Seminare und
Bausteine der politischen Bildung zum Thema „Gewaltfreie Erziehung“. Neben der Entwicklung und Erprobung von Veranstaltungen war besonders deren gemeinsame Evaluation
wichtig im Hinblick auf die Optimierung von Methoden, Themenstellungen, Gewinnung
von Teilnehmenden und Nachhaltigkeit von Lernprozessen. Zentrale inhaltliche und didaktische Fragestellungen sollten durch wissenschaftliche Expertisen im engen Austausch
mit den Praktikern geklärt werden. Durch die Dokumentation der entwickelten und erprobten Bausteine und Materialien, der wissenschaftlichen Expertisen, durch das Forum im
Internet und durch die Veranstaltung von Fachtagungen für interessierte Einrichtungen
über den Kreis der am Projekt Beteiligten hinaus wollte man erreichen, dass das Thema
„Gewaltfreie Erziehung“ in seinen politischen Dimensionen von einer breiten Zahl von
Einrichtungen der außerschulischen Jugend- und Erwachsenenbildung aufgenommen wird,
die dabei auf den gewonnen Erfahrungen des Projektes aufbauen können.
Die Zusammenarbeit von Trägern mit unterschiedlichen Arbeitszusammenhängen und
Wertorientierungen barg den Vorteil in sich, dass sehr unterschiedliche Veranstaltungsformen erprobt und sehr vielfältige Teilnehmergruppen angesprochen werden können.
Dies sollte den späteren Transfer auf andere Einrichtungen der außerschulischen Jugend- und Erwachsenenbildung erleichtern. Die trägerübergreifende Zusammenarbeit
stellte für die am Projekt beteiligten Einrichtungen auch eine Herausforderung dar.
Sie setzte die Bereitschaft voraus, sich mit anderen Trägern über den eigenen Arbeitszusammenhang hinaus auszutauschen und unterschiedliche Arbeitsformen und Wertorientierungen zu respektieren. Die trägerübergreifende Zusammenarbeit sollte die
je eigenen Ansätze der beteiligten Einrichtungen diskursiv befruchten und zugleich
KONZEPTION
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einen breiten und vielerorts spürbaren Impuls zur Auseinandersetzung mit der Thematik auslösen.
2.3.1 Projektziel
Übergeordnetes Ziel des Projektes war es, durch politische Bildung bei Eltern, Erziehungsberechtigten und Verantwortlichen in Gesellschaft und Staat das Bewusstsein für
die gesellschaftliche Bedeutung von Erziehung zu stärken, die die Persönlichkeitsrechte
junger Menschen und ihre Würde achtet und ihre Entwicklung in einer auf Teilhabe,
Verantwortung und Solidarität angelegten demokratischen Gesellschaft fördert. Dazu
gehörte die Auseinandersetzung mit den strukturellen Rahmenbedingungen, die diesem
Ziel förderlich oder hinderlich sind.
Im einzelnen sollte durch das Projekt
■ geklärt werden, welche Bedeutung dem Misshandlungsverbot und der Gewaltfreiheit in
einer Kultur der Erziehung in einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft zukommt;
■ Bausteine und Materialien zur Behandlung des Themas „Gewaltfreie Erziehung“ in
der politischen Bildung in unterschiedlichen Arbeitsformen und mit unterschiedlichen Teilnehmerkreisen gemeinsam entwickelt, erprobt, ausgewertet und für die
weitere Verwendung in der außerschulischen politischen Jugend-, Familien- und Erwachsenenbildung dokumentiert werden;
■ im Austausch mit den am Projekt beteiligten Pädagoginnen und Pädagogen wissenschaftliche Expertisen zu zentralen Fragestellungen des Themas erstellt werden, die
anderen Einrichtungen das Aufgreifen des Themas erleichtern;
■ durch Fachkonferenzen und Öffentlichkeitsarbeit Einrichtungen der außerschulischen
Jugend- und Erwachsenenbildung angeregt werden, das Thema „Gewaltfreie Erziehung“ in Veranstaltungen der politischen Bildung mit unterschiedlichen Teilnehmerkreisen aufzugreifen;
■ im Internet ein Forum in Form einer Homepage geschaffen werden, das den didaktischen Austausch in der Projektgruppe und die öffentliche Diskussion von praktischen Fragen im Zusammenhang mit dem Projektthema ermöglichen sollte.
2.3.2 Lernziele
Mit den im Rahmen des Projektes entwickelten, erprobten und ausgewerteten Veranstaltungen sollten folgende Lernziele erreicht werden:
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PROJEKTBESCHREIBUNG
■ Eltern und Erzieherinnen und Erzieher sollen zur Wahrnehmung ihrer Erziehungsaufgabe im Hinblick auf die damit verbundene gesellschaftliche Verantwortung ermutigt
werden.
■ Kinder und Jugendliche sollen ihre Verantwortung für eine Erziehung in gegenseitigem Respekt vor der Würde des anderen erkennen und dabei mitwirken.
■ Eltern, Erzieherinnen und Erziehern sowie Personen, die sich um die Herstellung kinderund familienfreundlicher Verhältnisse in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik bemühen,
soll der Wert von Erziehung in gegenseitigem Respekt vor der Würde des anderen im
Hinblick auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung verdeutlicht werden.
■ Personen, die sich in der Jugend- und Familienhilfe, in der Sozial- und Familienpolitik oder in zivilgesellschaftlichen Initiativen durch präventive Maßnahmen für eine
Erziehung ohne körperliche und seelische Gewaltanwendung einsetzen, sollen Kenntnisse über gesellschaftliche und politische Rahmenbedingungen erwerben oder vertiefen und ihre Handlungskompetenzen im Hinblick auf die Schaffung günstiger gesellschaftlicher Rahmenbedingungen für eine solche Erziehung erweitern.
2.3.4 Zielgruppen
Mit den im Rahmen des Projektes entwickelten, erprobten und ausgewerteten Veranstaltungen wurden verschiedene Zielgruppen angesprochen. In der ersten Phase des Projektes mussten Fragen der Zugangsweise und der Themenwahl für die unterschiedlichen
Zielgruppen geklärt werden. Folgende Zielgruppen standen im Mittelpunkt:
■ Eltern und Erziehungsberechtigte.
■ Kinder und Jugendliche.
■ Familien (auch generationenübergreifend).
■ Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Tagesbetreuung.
■ Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Einrichtungen und Stellen der Jugend- und
Familienhilfe sowie Lehrerinnen und Lehrer, die mit Eltern Kontakt haben und auf
deren Erziehungsverhalten Einfluss nehmen können.
■ Personen, die in Politik, in Verbänden, in zivilgesellschaftlichen Initiativen und in
den Medien auf Erziehungsbedingungen Einfluss nehmen können.
2.3.5 Themenbereiche
Die Veranstaltungen, die im Rahmen des Projektes entwickelt, erprobt und ausgewertet
werden sollten und wurden, befassten sich mit den politischen und gesellschaftlichen
KONZEPTION
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Dimensionen des Zieles einer Erziehung ohne körperliche und seelische Gewaltanwendung.
Im Sinne der Teilnehmerorientierung sollten die konkreten Erfahrungen und Lebenszusammenhänge der Teilnehmenden selbstverständlich berücksichtigt werden. Die Reflexion von Erziehungsverhalten im Hinblick auf Werte, auf dessen gesellschaftliche
Bedeutung und auf dessen gesellschaftliche Rahmenbedingungen waren das Hauptanliegen der Veranstaltungen. Man ging von der Annahme aus, dass es in der politischen
Bildung nicht darum ginge, individuelle Problemlagen von Teilnehmenden oder von
deren Familien durch Beratung, Begleitung oder Therapie zu bewältigen oder entsprechende Erziehungskompetenzen zu erlernen. Es erschien jedoch sinnvoll und möglich,
Themenfelder des Projekts mit anderen zu verknüpfen, z.B. in Veranstaltungen zu erziehungspraktischen Fragen oder zur Gestaltung des Familienlebens.
Folgende Themenbereiche sollten durch verschiedene Veranstaltungen abgedeckt werden:
■ Grundsätzliche Fragen der Erziehung und der Rechtsstellung des Kindes:
– Rechtsstellung von Eltern, anderen Erziehungsberechtigten und Kindern unter Berücksichtigung von Grundgesetz und UN-Übereinkommen über die Rechte des Kindes.
– Werte und Normen in der Erziehung – Eingriffsmöglichkeiten des Staates in die
Erziehung und deren Grenzen.
– Verhältnis staatlicher Maßnahmen zu Elternrechten und -pflichten.
■ Bedeutung von Gewaltfreiheit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung unserer Gesellschaft:
– Rechtliche und alltägliche Definition der Begriffe „Gewalt“, körperliche Bestrafung,
seelische Verletzung, entwürdigende Maßnahme, Misshandlung in der Familie.
– Zusammenhänge zwischen Gewalt in der Familie und Gewalt in der Gesellschaft.
■ Gesellschaftliche Rahmenbedingungen zur Förderung des Zieles einer gewaltfreien
Erziehung:
– Rahmenbedingungen für eine kinder- und familienfreundliche Gesellschaft und
ihr Einfluss auf Erziehung.
– Einfluss der Medien auf Gewalt in der Erziehung.
– Vorbeugende Maßnahmen zur Eindämmung oder Verhinderung von Gewalt in der
Erziehung: öffentliche Verantwortung, zivilgesellschaftliche Handlungsfelder.
2.3.6 Veranstaltungsformen
Je nach Zielgruppe und Träger wurden in dem Projekt unterschiedliche Veranstaltungsformen angewandt, z.B.:
22
PROJEKTBESCHREIBUNG
■ Einzelveranstaltungen
■ Wochenendseminare
■ Workshops mit Multiplikatoren aus der Jugend- und Familienhilfe oder engagierten
Personen aus Politik, Verbänden oder zivilgesellschaftlichen Initiativen
■ Seminarreihen z.B. über ein Semester
2.3.7 Leitende Erkenntnisziele für die Evaluation
Die gemeinsame Evaluation der erprobten Veranstaltungen stellte einen zentralen Bestandteil des Projektes dar. Sie ermöglichte es, Methoden, Themenstellungen und Werbemaßnahmen zu optimieren, um für unterschiedliche Zielgruppen nachhaltige Lernprozesse
zu erreichen und einen breiten Kreis der Bevölkerung anzusprechen. Durch die Dokumentation der Evaluation konnten die gewonnenen Erfahrungen an andere Einrichtungen der außerschulischen Jugend- und Erwachsenenbildung weitergegeben werden.
Folgende Erkenntnisziele leiteten die Evaluation:
■ Es sollten zielgruppenspezifisch geeignete Methoden für die Auseinandersetzung
mit dem Thema gewaltfreie Erziehung in der politischen Bildung gefunden werden,
die bei den Teilnehmenden das Bewusstsein für die gesellschaftliche Bedeutung von
Erziehung in gegenseitigem Respekt vor der Würde des anderen erhöhen.
■ Es sollten geeignete Bausteine und Materialien entwickelt werden, die nachhaltige
Lernprozesse im Hinblick auf die Schaffung geeigneter Rahmenbedingungen zur Förderung des Zieles einer Erziehung in gegenseitigem Respekt vor der Würde des anderen ermöglichen.
2.3.8 Arbeitsstruktur
Das Projekt erforderte die aktive und kontinuierliche Mitarbeit der beteiligten Einrichtungen über einen Zeitraum vom 01.3.2000 bis 30.11.2002, also über zweieinhalb Jahre. Es
wurde von einem hauptberuflichen Projektleiter (1/3-Stelle) koordiniert. Die Projektgruppe, in der alle beteiligten Einrichtungen vertreten waren, traf sich halbjährlich, um sich
über die Entwicklung, Erprobung und Auswertung der Veranstaltungen auszutauschen. Zu
den zentralen Fragen des Projektes wurden Fachtagungen veranstaltet oder wissenschaftliche Expertisen in Auftrag gegeben. Für den didaktischen Austausch in der Projektgruppe
und für die öffentliche Diskussion von praktischen Fragen im Zusammenhang mit dem
Projektthema wurde im Internet ein Forum in Form einer Homepage geschaffen.
KONZEPTION
23
Diese Arbeitsstruktur setzte voraus, dass die beteiligten Einrichtungen folgende Leistungen erbrachten:
■ Durchführung von möglichst zwei Seminaren pro Jahr, die inhaltlich den Zielen des
Projektes entsprechen;
■ schriftliche Auswertung der Veranstaltungen auf der Grundlage gemeinsam entwickelter Evaluationskriterien;
■ Dokumentation methodischer Bausteine für eine gemeinsame Publikation;
■ Teilnahme an zwei Arbeitstagungen der Projektgruppe pro Jahr für die Entwicklung
und Auswertung der Veranstaltungen.
Der didaktische Austausch über das Internet setzte voraus, dass die beteiligten Einrichtungen über einen Zugang zum Internet verfügen.
2.3.9 Zeitplan
Das Projekt begann im ersten Quartal 2000. In einer ersten Phase entwickelte die Projektgruppe gemeinsam Veranstaltungen und Evaluationskriterien, die den Zielen der Projektkonzeption entsprachen. Gleichzeitig wurden Expertisen in Auftrag gegeben werden, die
im Austausch mit der Projektgruppe entstanden und die Entwicklung und Auswertung von
Veranstaltungen unterstützten. Das Forum im Internet wurde im ersten Jahr realisiert.
Nach einer ersten Erprobungsphase von etwa einem Jahr konnten die Bausteine und
Veranstaltungen modifiziert und weiter erprobt werden. In Fachtagungen wurden Zwischenergebnisse präsentiert und neue Impulse für die beteiligten Einrichtungen und
weitere interessierte Kreise vermittelt. In der letzten Phase des Projektes wurden die
Bausteine, Materialien und die Evaluationsergebnisse dokumentiert und für die Veröffentlichung vorbereitet. Die geplante Abschlussveranstaltung konnte auf Grund eins
zum vorgesehenen Zeitpunkt geringen Teilnehmerinteresses nicht durchgeführt werden.
Quartal
2000 / 1
Aktivitäten
Vorbereitungsphase A
■ Aufbau der Organisationsstrukturen des Projektes
Kontaktierung von Experten
■ 1. PG-Sitzung: Konstitutierung der Projektgremien; Vergabe der
Expertisen; Festlegung von gemeinsamen Themenfeldern für die
Planung von Veranstaltungen
24
2000 / 2
PROJEKTBESCHREIBUNG
Vorbereitungsphase B
■ Entwicklung von Veranstaltungen in den Themenfeldern
■ Erstellung der Expertisen
■ Aufbau des Internet-Forums
2000 / 3 Vorbereitungsphase C
■ 2. PG-Sitzung: Abstimmung der ersten Expertisen; Festlegung der
Evaluationsraster
2000 / 4 1. Erprobungsphase
■ Jede beteiligte Einrichtung führt bis Ende 2001/2 mind. 1 Veranstaltung durch.
2001 / 1 ■ 3. PG-Sitzung: Abstimmung der letzten Expertisen; Evaluation von
geplanten oder durchgeführten Veranstaltungen; Begutachtung des
Internet-Forums
2001 / 2 ■ 1. Fachtagung
■ Ausbau des Internet-Forums und PR für das Projekt
2001 / 3 Zwischenauswertung
■ 4. PG-Sitzung: gemeinsame Evaluation der durchgeführten Veranstaltungen; ggf. Beratung über Modifizierungen der Veranstaltungen;
Auswahl von ersten Bausteinen für die Veröffentlichung
2001 / 4 2. Erprobungsphase
■ Jede beteiligte Einrichtung führt bis Ende 2002/1 mind. 2 weitere
Veranstaltungen durch.
■ Veröffentlichung der Expertisen
■ 2. Fachtagung
2002 / 1 ■ 5. PG-Sitzung: gemeinsame Evaluation der durchgeführten Veranstaltungen; Vorbereitung der Abschlussveranstaltung;
■ Vorbereitung der Veröffentlichung der Projektergebnisse
2002 / 2 Abschlussphase – Planung
■ Abschlussveranstaltung
■ Jede beteiligte Einrichtung präsentiert auf einer Ausstellungstafel
Bausteine, Materialien und abschließende Evaluationsergebnisse.
2002 / 3 ■ Veröffentlichung der Projektergebnisse
DURCHFÜHRUNG
25
2.3.10 Förderung
Die Zuwendungen des BMFSFJ für das Projekt wurden in erster Linie zur Finanzierung der
Kosten der Projektleitung, der Sitzungen der Projektgruppe einschließlich der Reisekosten ihrer Mitglieder nach BRKG, der Expertisen, des Internet-Forums, der Fachtagungen
und einer Abschlussveranstaltung verwendet.
Die finanzielle Förderung von Veranstaltungen der mitwirkenden Bildungseinrichtungen
z.B. für Fachtagungen und Modellveranstaltungen im besonderen Interesse des Projektes stand nicht im Vordergrund des Projektes. Die beteiligten Einrichtungen erhielten
für das Erstellen von Evaluationsberichten und Bausteinen Aufwandsentschädigungen,
die sich am Zeitaufwand orientierten und im einzelnen vereinbart wurden. Zusätzlich
war die Unterstützung von Werbemaßnahmen für besonders schwierig zu erreichende
Zielgruppen möglich.
2.4 Durchführung
Das auf gut zweieinhalb Jahre angelegte trägerübergreifende Projekt startete Anfang
März 2000. Die zehn Monate des Jahres 2000 stellen somit das erste Drittel der gesamten Projektlaufzeit dar. Wie aus dem Zeitplan der Projektkonzeption hervorgeht, standen in dieser Auftaktphase die Konstituierung der Kooperationsstrukturen im Projekt
sowie die Entwicklung von Veranstaltungskonzepten im Mittelpunkt.
Auf der Grundlage der Ergebnisse der ersten Fachtagung am 27.10.1999 entwickelte die
AKSB-Geschäftsstelle im November/Dezember 1999 die Konzeption für das Projekt „Familie und Gewalt: Menschen würdig erziehen!“. Sie lud die Trägerzusammenschlüsse der
politischen Bildung (AdB, DVV, HVHS) ein, unter ihren Mitgliedern interessierte Einrichtungen für die Projektmitarbeit zu gewinnen. Um eine effektive Zusammenarbeit in der
Projektgruppe zu gewährleisten, wurde die Zahl der beteiligten Bildungseinrichtungen
auf zehn begrenzt. Die Auswahl konkreter Einrichtungen lag in der Verantwortung der
jeweiligen Trägerzentralen. Aus diesem Auswahlverfahren ergab sich eine sehr ausgeglichene Zusammensetzung der am Projekt beteiligten Einrichtungen hinsichtlich der verwendeten Arbeitsformen und angesprochenen Zielgruppen sowie der regionalen und
überregionalen Verteilung. Einzig in den neuen Bundesländern ließ sich leider keine
interessierte Einrichtung finden.
26
PROJEKTBESCHREIBUNG
Die am Projekt beteiligten Bildungseinrichtungen verpflichteten sich, für die gesamte Dauer
des Projektes eine Person als Ansprechpartner/-in zu benennen. Von den im März 2000 in
der Projektgruppe zusammen treffenden Personen (siehe 7.2), hatten etwa die Hälfte an der
Fachtagung vom 27. Oktober 1999 teilgenommen. Das gemeinsame Verständnis über die
Grundlagen und Ziele des Projektes musste deshalb in der ersten Projektgruppensitzung vom
1./2. März 2000 noch einmal gründlich erarbeitet und vertieft werden. Da die beteiligten
Pädagoginnen und Pädagogen in vier unterschiedliche Trägerzusammenschlüsse mit jeweils
spezifischen Organisations- und Verwaltungsstrukturen eingebunden waren, galt es gleichzeitig, durch geeignete, leicht handhabbare Instrumente (Merkblätter, Anmeldeformulare,
Sprachregelungen etc.) auch eine organisatorische Grundlage für die effiziente Kooperation
im Projekt zu legen. Beide Zielsetzungen konnten in der ersten Projektgruppensitzung zufriedenstellend erreicht werden. Die am Projekt beteiligten Pädagoginnen und Pädagogen
akzeptierten sich sehr schnell als gleichwertige Partner und zeigten großes Interesse an
einer Zusammenarbeit über gewohnte Fach- und Trägergrenzen hinweg. Bereits in der zweiten Projektgruppensitzung vom 20./21. September 2000 war die für den fachlichen Austausch und die gemeinsame Entwicklung von Veranstaltungskonzepten unbedingt erforderliche Vertrauensgrundlage in der Projektgruppe vorhanden.
Die am Projekt anfänglich beteiligte Überregionale Frankfurter Sozialschule Abt. Fulda
schied nach kurzer Zeit aus; an ihre Stelle trat aus dem Mitgliedseinrichtungen der AKSB
das Familienpädagogische Institut der Katholischen Arbeitnehmerbewegung Westdeutschlands in Haltern. Bei der Bildungsstätte Alte Schule Anspach e.V. und bei der Hildesheimer
Volkshochschule trat im Verlaufe des Jahres 2000 Personalwechsel ein, die jedoch in der
Projektgruppe gut aufgefangen werden konnten.
2.4.1 Aufbau der Projektstrukturen
Zentrales Kooperationsinstrument für die Projektgruppe waren sechs Projektgruppensitzungen. Die erste Projektgruppensitzung diente der Vergewisserung über die Projektgrundlagen, dem Sich-Kennen-Lernen und der Entwicklung von Kooperationsinstrumenten. Die zweite Sitzung war v.a. der Entwicklung und Diskussion von Veranstaltungskonzepten gewidmet. Der Informationsaustausch über den Stand der Projektaktivitäten
bei den beteiligten Bildungseinrichtungen sowie die Weitergabe von Literatur- und
Veranstaltungshinweisen gehörten zum festen Bestandteil der Sitzungen. Die weiteren
Inhalte bildeten insbesondere die Entwicklung, Erprobung und Evaluation innovativer
Kurse (siehe 2.4.2) sowie der fachdidaktische Austausch über Kurskonzepte (siehe 2.4.3).
DURCHFÜHRUNG
27
Zwischen den einzelnen Sitzungen wurden die Projektgruppenmitglieder von der Projektleitung durch mehrere Rundschreiben per Post und per E-Mail über die Entwicklung des
Projektes und über gesellschaftliche und politische Vorgänge im Themenfeld des Projektes informiert. Seit November 2000 konnten die internen Seiten der Projekthomepage
als zusätzliches Medium genutzt werden, um zentrale Dokumente, Vorlagen und Formulare für die Projektgruppe leicht abrufbar bereit zu halten. Die Entwicklung eines eigenständigen internetbasierten Kommunikationsinstrumentes durch die Projektleitung musste
aus technischen Gründen auf das Frühjahr 2001 verschoben werden.
Um die Verteilung der Zuwendungen für Evaluationsberichte, Bausteine und Werbemaßnahmen und das Anmeldeverfahren zur Bewerbung für die Durchführung einer Projektfachtagung in Kooperation mit der Projektleitung möglichst fair zu gestalten, wurden
gemeinsam mit der Projektgruppe ein Merkblatt und dazu gehörige Anmeldeformulare
entwickelt. So konnte sicher gestellt werden, dass die Projektleitung frühzeitig und
umfassend über geplante Veranstaltungen informiert wurde und bei Bedarf die beteiligten Einrichtungen bei der Planung von Veranstaltungen beraten konnte. Zur Vertiefung
ihrer Fachkenntnisse baute die Projektleitung einen Handapparat mit einschlägiger Literatur auf und betrieb eingehende Internet-Recherchen (siehe 6.1).
Auf der Grundlage des fachwissenschaftlichen Diskurses und der Erkenntnisinteressen
des Projektes einigte sich die Projektgruppe auf zwei erste Aspekte des Projektthemas,
die in Expertisen geklärt werden sollten. Die Projektgruppe einigte sich auf die Vergabe
von Expertisen zu den folgenden Themen:
■ Politische und zivilgesellschaftliche Handlungsfelder zur Erleichterung familiären
Erziehungshandelns und zur Prävention von Gewalt in der Erziehung (siehe 3.1)
■ „Gewaltfreie Erziehung“: Theorie und Praxis eines pädagogischen Leitbildes (siehe 3.2)
Darüber hinaus zeigte sich die Notwendigkeit, dass unbedingt auch die juristischen
Fragen im Zusammenhang mit dem Thema beleuchtet werden sollten (siehe 4.4.2).
2.4.2 Entwicklung, Erprobung und Evaluation innovativer Kurse
Um die Fülle von Fragestellungen im Zusammenhang mit dem Projektthema zu strukturieren und die Erkenntnisziele der Projektgruppe zu bündeln, einigte sich die Projektgruppe
auf vier Themenfelder, die in den zu entwickelnden Veranstaltungskonzepten und in den
fachwissenschaftlichen Diskursen der Projektgruppe im Mittelpunkt stehen sollten:
28
PROJEKTBESCHREIBUNG
■ Grundsätzliche Fragen der familiären Erziehung und der Rechtsstellung von Eltern
und Kindern im Hinblick auf Gewaltanwendung.
■ Erziehungsziel „Gewaltfreiheit“ und seine Bedeutung für die freiheitlich-demokratische Grundordnung unseres Staates.
■ Gesellschaftliche Rahmenbedingungen zur Förderung oder Behinderung des Zieles
einer gewaltfreien Erziehung.
Bei der Entwicklung und der Diskussion erster Veranstaltungskonzepte zeigte sich, dass
diese Aufteilung in Themenfelder mehr analytischen als praktischen Nutzen hatte. Es
erwies sich als illusorisch, einzelne Bildungsveranstaltungen schwergewichtig oder gar
ausschließlich einem dieser Themen zu widmen. Die Isolierung einzelner Aspekte widerspricht der ganzheitlichen Lebenserfahrung der Teilnehmenden. In der Praxis werden
deshalb meist mehrere Ebenen des Themas angesprochen. Für die Projektevaluation
dürften die oben genannten Themen deshalb keine zentrale Rolle mehr spielen. Dennoch trug die intensive Auseinandersetzung mit den Detailfragen dieser Themenfelder
zur fachlichen Vertiefung des Diskurses in der Projektgruppe bei.
Hinsichtlich der Zielgruppen, die von den beteiligten Bildungseinrichtungen schwergewichtig
angesprochen werden, ergab sich eine ausgeglichene Verteilung. Mit Eltern, Erziehungsberechtigten oder Familien gemeinsam mit Kindern arbeiteten fünf Einrichtungen zusammen, mit Jugendlichen zwei Einrichtungen, mit professionellen Pädagoginnen und Pädagogen vier Einrichtungen und mit Spätaussiedlern oder Migranten zwei Einrichtungen. Die
Voraussetzungen, um Konzepte für Veranstaltungen mit möglichst vielen verschiedenen
Zielgruppen auszuprobieren, sind in der Projektgruppe somit gegeben.
Um eine an den leitenden Erkenntniszielen des Projektes (siehe 2.3.1) ausgerichtete
Evaluation der für das Projekt durchgeführten einzelnen Bildungsveranstaltungen zu
gewährleisten, entwickelte die Projektleitung gemeinsam mit der Projektgruppe ein Evaluationsraster, das den Projektmitgliedern als Dateivorlage zur Verfügung gestellt wurde. Die Projektgruppenmitglieder wurden gebeten, ihre Berichte in elektronischer Form einzureichen, so dass
sie später im Internet den übrigen Mitgliedern
ohne Aufwand zur Verfügung gestellt werden konnten.
DURCHFÜHRUNG
29
2.4.3 Fachdidaktischer Austausch über Kurskonzepte
Nach der Auftaktsitzung der Projektgruppe benötigten die beteiligten Pädagoginnen und
Pädagogen rund ein halbes Jahr, um innerhalb ihrer jeweiligen Bildungseinrichtung realisierbare Kurskonzepte für Veranstaltungen zum Projektthema zu entwickeln. Dabei ist zu
bedenken, dass die familienorientierte politische Bildung in allen am Projekt beteiligten
Einrichtungen jeweils nur einen Teilaspekt der gesamten Bildungsangebote darstellt. Bei der
Entwicklung von Kurskonzepten ging es folglich auch darum, diese Kurse stimmig in ein
Gesamtkonzept der jeweiligen Einrichtung einzubauen. Dies traf insbesondere auf die Frage
der anzusprechenden Zielgruppen und der zu ergreifenden Marketingstrategien zu.
Im Austausch mit der Gruppe wurden dann insbesondere Fragen der Titelwahl, der
Zielgruppenansprache, der Themenstellung und der Methodenwahl diskutiert. Die Bearbeitung von zehn unterschiedlichen Konzepten hatte den Vorteil, dass jedes Projektmitglied seine Ideen vorstellen konnte. Sie schuf allerdings auch einen großen Zeitdruck, der eine intensive Diskussion einzelner Aspekte kaum zuließ. Für den weiteren
fachdidaktischen Austausch entschied sich die Projektgruppe deshalb zu einem Vorgehen, bei dem weniger Kurskonzepte in intensiverer Form besprochen werden können.
2.4.4 Erprobung von Werbemaßnahmen
Bei der Konzeption des Projektes war sich der Projektträger bewusst, dass die Entwicklung von geeigneten Marketingstrategien für Bildungsveranstaltungen zum Projektthema
von großer Bedeutung ist. Aus diesem Grund sah er neben Honoraren für Evaluationsberichte und Bausteine auch Zuwendungen für die Unterstützung von Werbemaßnahmen
vor. Der Kostenplan des Projektes sah solche Zuwendungen allerdings nur für das erste
Kalenderjahr vor.
Die Möglichkeit, Unterstützung für besondere Werbemaßnahmen in Anspruch zu nehmen, wurde lediglich bei einer Veranstaltung in Anspruch genommen. Es zeigte sich im
Verlauf der ersten Kurserprobungen, dass für die Gewinnung von Teilnehmenden aufwändige Werbekampagnen mit Plakaten oder Flugblättern wenig nützlich sind. Vielmehr
ist eine intensive persönliche Beziehungspflege zu bestehenden Organisationen und
Akteuren im gesamten Bereich der Familien- und Jugendhilfe für die Gewinnung von
Teilnehmenden ausschlaggebend. Dies erfordert einen relativ langen Vorlauf für die
30
PROJEKTBESCHREIBUNG
Vorbereitung von Veranstaltungen und setzt die Ressourcen einer auf langfristige Erfolge ausgerichteten Bildungsinfrastruktur voraus.
2.4.5 Vermittlung von Projektergebnissen über das Internet
Für die Vermittlung von Projektergebnissen an die Fachöffentlichkeit spielte die Entwicklung einer eigenen Projekthomepage eine wichtige Rolle. Innerhalb der ersten drei Monate konnte das Grundgerüst der Projekthomepage entwickelt und ins Internet gestellt werden; Ergänzungen folgten dann im weiteren Verlauf des Jahres. Neben einer Vorstellung
des Projektes und dem Verzeichnis der am Projekt beteiligten Einrichtungen (mit direkten
Links auf deren Homepages) enthält die Website (www.aksb.de/familie-und-gewalt) eine
Rubrik zur Ankündigung von Projektfachtagungen, eine Dokumentation mit Ergebnissen
zurückliegender Fachtagungen und weiteren nützlichen Informationen (z.B. Zusammenstellung von Rechtstexten, Literaturliste) sowie ein umfangreiches Linkverzeichnis mit
Verweisen zu Institutionen und Organisationen im Umfeld des Projektthemas.
Zu der Bekanntheit der Projekthomepage hat die Verlinkung mit der Kampagnenhomepage
„www.mehr-respekt-vor-kindern.de“ und mit Organisationen aus dem Bereich des Kinderschutzes wesentlich beigetragen. Die Homepage kann über das Stichwort „Familie
und Gewalt“ in gängigen Suchmaschinen leicht gefunden werden. Zu den beliebtesten
Seiten zählten (in der Reihenfolge ihrer Nennung): Mitgliederliste, Vorstellung des Pro-
DURCHFÜHRUNG
31
jektes, Pressemeldungen, Links. Von den zum Download zur Verfügung gestellten Dokumenten wurden die Rechtstexte, die Literaturliste und die Dokumentation der Fachtagung vom 27. Oktober 1999 jeweils zwischen 30 bis 50 mal abgefragt.
Der Aufbau und das Betreiben einer eigenen Projekthomepage hat sich somit für den
Austausch mit der Fachöffentlichkeit als ein sehr effektives Kommunikationsmittel erwiesen. Über Links und Suchmaschineneinträge konnte einerseits ein breites Publikum,
das an der Projektthematik interessiert ist, auf das Projekt aufmerksam gemacht werden; und andererseits konnten Materialien aus dem Projekt Interessierten ohne Portound Verwaltungskosten zur Verfügung gestellt werden.
Als Ergänzung zur Projekthomepage wurde von der Projektleitung ein Projektflyer entwickelt, der im wesentlichen eine kurze Selbstdarstellung des Projektes und eine Liste
mit den Adressen der am Projekt beteiligten Bildungseinrichtungen enthält (vgl. Anlage). Der Flyer sollte den Projektmitliedern und der Projektleitung in erster Linie als
Informationsmittel bei der Werbung für Kooperationspartner und für Teilnehmende an
den Projektfachtagungen dienen. Er wurde in einer Auflage von 3.200 Exemplaren gedruckt.
Parallel zur Herstellung des Flyers baute die Projektleitung einen projektspezifischen
Verteiler mit rund 200 Anschriften von bundesweit tätigen Organisationen und Institutionen im Umfeld des Projektthemas auf. Diese Einrichtungen wurden mit Informationen zum Projekt und mit der Ausschreibung für die erste Projektfachtagung beschickt.
Neben den Postadressen baute die Projektleitung auch einen Verteiler für E-Mail-Adressen auf, über den weitere Einrichtungen kostengünstig beschickt werden können.
2.4.6 Weitere Schwerpunkte der Projektgruppe
Gewinnung von Teilnehmenden: Die intensive Pflege von persönlichen Kontakten zu
Akteuren im Bereich von Jugendhilfe und Gewaltprävention auf kommunaler Ebene sowie eine kontinuierliche Öffentlichkeitsarbeit ist für die Gewinnung von Teilnehmenden
sehr wichtig. Dabei können auch bereits vorhandene Strukturen (z.B. Stadtelternrat,
„Runde Tische“ etc.) genutzt werden. Der hohe persönliche Arbeitsaufwand, der mit
dieser Akquisitionsarbeit verbunden ist, kann unter Umständen durch die Kooperation
mit Gleichgesinnten reduziert werden. Der Zugang zu Teilnehmendengruppen braucht
nicht immer ausschließlich über das Thema Gewaltprävention zu erfolgen.
32
PROJEKTBESCHREIBUNG
Erschließung von Zugängen zu gesellschaftlichen und politischen Aspekten des Themas:
Die Öffnung der Diskussion über Gewaltprävention in der Tagespflege, in Kindergärten,
in Tagesstätten und Schulen durch die Einbeziehung der Familie ist wichtig. Bei der
Thematisierung von gesellschaftlichen und politischen Aspekten sollte der Vereinbarkeit
von Familie und Beruf besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. In die Reflexion
über „strukturelle Gewalt“ sollte auch der eigene Arbeitsbereich von Pädagoginnen und
Pädagogen einbezogen werden. Gute Kenntnisse der familienpolitischen Situation und
der Familien- und Jugendhilfestrukturen vor Ort sind eine wichtige Voraussetzung für
die familienorientierte politische Bildung.
Erschließung von Handlungsmöglichkeiten zur Veränderung von gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen familiären Erziehungshandelns: Ausgangslage für die Erschließung von Handlungsmöglichkeiten sollte eine gründliche Analyse bestehender
Probleme und Hilfestrukturen sein. Die Arbeit an konkreten Projekten oder das Erarbeiten von Handlungsoptionen in Rollenspielen sind geeignete Methoden sowohl zur Vertiefung von Sachkenntnissen als auch zur Stärkung von Handlungskompetenzen.
Die Projektgruppenmitglieder diskutierten u.a. Handlungsempfehlungen für die Bildungsarbeit mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Jugendhilfe und mit Pädagoginnen
und Pädagogen. Sie konzentrierten sich vor allem auf die Frage, wie in Bildungsveranstaltungen Handlungsmöglichkeiten zur Veränderung von gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen familiären Erziehungshandelns thematisiert werden können.
Leitideen für die Kooperation mit Verantwortlichen für die Stadtplanung: von Erfahrungen ausgehen, wo die Stadtplanung in der Vergangenheit versagt hat, oder von konkreten Gewaltereignissen, die in der Öffentlichkeit bekannt wurden; möglichst viele Beispiele struktureller Rücksichtslosigkeiten in der Stadt sammeln; Umsetzung von Verbesserungsvorschlägen in Planspielen, in denen v.a. Beteiligungsmodelle für Kinder
und Familien realisiert werden.
ERGEBNISSE
33
2.5 Ergebnisse
2.5.1 Strukturelle Ebene
Die Auswertung der Erfahrungen der Projektarbeit ergibt folgende Erkenntnisse:
■ Die Zusammenarbeit von Bildungseinrichtungen aus unterschiedlichen Trägerzusammenschlüssen zu einem bestimmten Thema ist möglich. Bei Pädagoginnen und Pädagogen ist eine große Bereitschaft zum Kennenlernen anderer Arbeitsformen und
Themenzugänge vorhanden. Allerdings erfordert der Aufbau einer Kooperationsstruktur,
die den fachlichen Austausch sicherstellt, einen Zeitraum von ungefähr vier bis sechs
Monaten.
■ Projektgruppensitzungen benötigen ausreichend Zeit, um neben administrativen Absprachen einen intensiven fachdidaktischen Austausch zu gewährleisten.
■ Die Entwicklung von innovativen Veranstaltungen in Bildungseinrichtungen, die sich
nicht ausschließlich auf familienorientierte politische Bildung spezialisiert haben,
benötigt einen Zeitraum von mindestens einem Jahr. Um eine eingehende Erprobung
von diesen Veranstaltungen zu gewährleisten, ist danach ein Zeitraum von mindestens
eineinhalb bis zwei weiteren Jahren unbedingt erforderlich.
■ Die Tatsache, dass für innovative Veranstaltungen der am Projekt beteiligten
Bildungseinrichtungen keine besondere Veranstaltungsförderung zur Verfügung steht,
hat zur Folge, dass die Einrichtungen das Risiko für solche Veranstaltungen ausschließlich selbst tragen. Die Finanzierung erfolgte in der Regel durch Veranstaltungseigene Quellen. Frei ausgeschriebene Veranstaltungen ohne feste Kooperationspartner sind dadurch kaum möglich. Innovationen können im Rahmen eingespielter Kooperationsnetze der beteiligten Einrichtungen entwickelt werden; sollen
darüber hinaus neue Zielgruppen über Kooperationen angesprochen werden, so
macht dies einen aufwändigen Vorbereitungsprozess zur Erschließung dieser Kooperationen erforderlich.
■ Eine projekteigene Homepage ist sowohl für die Kommunikation innerhalb der Projektgruppe als auch für eine effiziente Öffentlichkeitsarbeit von großem Nutzen.
34
PROJEKTBESCHREIBUNG
2.5.2 Konzeptionelle Ebene
Aus den Diskussionen im Zusammenhang mit der Entwicklung neuer Veranstaltungskonzepte und aus dem Austausch mit Praktikern und Fachwissenschaftlern während der
ersten Projektfachtagung ergeben sich folgende Erkenntnisse zur Konzeption von Bildungsveranstaltungen zum Thema „Familie und Gewalt“:
■ Der Begriff „gewaltfreie Erziehung“ ist als Leitbegriff für eine öffentliche Diskussion,
die bei Eltern und Erziehungsberechtigten einen Bewusstseinswandel anstoßen soll,
wenig geeignet. Denn er setzt zu sehr bei der Gewalt als dem negativen Abgrenzungsbegriff an. Insbesondere bei der Werbung für Bildungsveranstaltungen erweist sich die
negative Abgrenzung gegen Gewalt in Veranstaltungstiteln eher als hinderlich. Vielmehr sollten positive Werte in den Vordergrund gerückt und die tatsächlich vorhandenen Probleme von Eltern und Erziehungsberechtigten angesprochen werden.
■ Ein wichtiges Anliegen des Projektes ist es, Elemente eines positiven pädagogischen
Leitbildes zu erarbeiten, das zu einer Verminderung von Gewaltanwendungen in der
Erziehung führt. Stabile persönliche Beziehungsverhältnisse in den ersten drei Lebensjahren des Kindes scheinen von großer Bedeutung zu sein für die Fähigkeit, Frustrationen und Aggressionen positiv zu verarbeiten. Inwieweit gewaltbelastete Erziehungsstile kulturell oder gar religiös geprägt sind, sollte sehr sorgfältig geprüft werden. Bei
der Entwicklung neuer Seminarkonzepte gilt es, Methoden zu entwickeln, die die Teilnehmenden zu einer Reflexion ihres Erziehungsverhaltens anregen. Dabei ist die Frage
nach den erzieherischem Handeln zugrunde liegenden Werten zentral.
■ „Strukturelle Gewalt“, d.h. Umstände und Verhältnisse, die Erziehungshandeln in den
Familien erschweren, ist für die Verbreitung von körperlicher oder psychischer Gewaltanwendung in Familien wichtig. Eltern und Erziehungsberechtigte lassen sich aber
nur sehr schwer dazu gewinnen, sich mit den strukturellen Rahmenbedingungen ihres Lebens auseinander zu setzen. Es gilt deshalb, neue Seminarkonzepte zu entwickeln, in denen politische und gesellschaftliche Fragen geschickt mit pädagogischen
und persönlichkeitsbezogenen Themen verknüpft werden.
■ Gewalt in der Familie kann nicht losgelöst von anderen Gewalterscheinungen in unserer Gesellschaft betrachtet werden. Deshalb sollte bei den vielfältigen Bemühungen zur Gewaltprävention die Familie verstärkt mit einbezogen werden. Bei der Ana-
ERGEBNISSE
35
lyse von familiärer Gewalt sollten umgekehrt auch die weiteren Lebensbereiche der
Betroffenen (Eltern und Kinder) mit berücksichtigt werden. Insbesondere für
Pädagoginnen und Pädagogen und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Jugendhilfe sollten Veranstaltungskonzepte entwickelt werden, in denen die Zusammenhänge zwischen Gewalterscheinungen in unterschiedlichen Gesellschaftsbereichen und
die Möglichkeiten der Prävention bewusst gemacht werden.
2.5.3 Inhaltliche Ebene
Ein wichtiges Ziel des Projektes war es, u.a. im Austausch mit den am Projekt beteiligten Pädagoginnen und Pädagogen wissenschaftliche Expertisen zu zentralen Fragestellungen des Themas zu erstellen, die anderen Einrichtungen das Aufgreifen des Themas
erleichtern (s.o.).
Folgende Themenschwerpunkte sollte dabei behandelt werden:
■ Politische und zivilgesellschaftliche Handlungsfelder zur Erleichterung familiären
Erziehungshandelns und zur Prävention von Gewalt in der Erziehung.
■ „Gewaltfreie Erziehung“: Theorie und Praxis eines pädagogischen Leitbildes.
Die Expertisen von Borchers und Schmälzle (siehe 3.) lieferten wichtige Ergebnisse der
fachwissenschaftlichen Diskussion und lieferten wichtige Impulse bzw. bestätigten im
Rahmen der veranstalteten Kurse gewonnene Einsichten, die für die weitere Arbeit im
Rahmen der politischen Bildung von großer Bedeutung sind:
■ Das Thema „Gewalt in der Familie“ wie Gewalt überhaupt wurde lange Zeit bagatellisiert und tabuisiert (und wird es teilweise immer noch). Zugleich stellt sich gerade
vor diesem Hintergrund nochmals die Frage nach dem Verständnis von Gewalt.
Schmälzle und Borchers verstehen diese im Anschluss an Schwind/Baumann als „aggressiver, vom Gegenüber nicht erlaubten Zugriff auf dessen physische oder psychische Existenz“, wobei Schmälzle hier (wenn auch nicht im gesamten Kontext seiner
Expertise) „strukturelle Gewalt“ (Johan Galtung) ausblendet. Diese wird jedoch bereits
dort deutlich, wo Schmälzle das Problem der Gewalt in einer „Kultur der Gewinner“
begründet sieht, deren Perspektive zudem hauptsächlich die der Täter sei, einer
Gesellschaft, in der „sozialdarwinistische“ Tendenzen immer mehr Oberhand gewinnen. Im Blick auf den Begriff „strukturelle Gewalt“ gibt Borchers zu bedenken, dass
es schwer sei, „diesen Begriff konkret zu fassen und zu operationalisieren“.
36
PROJEKTBESCHREIBUNG
■ Schmälzle deutet Gewalt im Rückgriff auf Aggressions- und Frustrationstheorien, verortet sie in den Kontext mangelnder Identität und mangelnden Selbstwertgefühles,
und sieht in ihr einen Reflex auf erfahrene Gewalt in der Herkunftsfamilie der Gewalttäter(innen): „Gewalt erzeugt Gewalt“. Borchers dagegen schränkt ein, dass Gewalt
durch Gewalt erzeugt wird, aber nicht in jedem Fall. Hier müsse vor zusätzlichen
Stigmatisierungen gewarnt werden. Im Blick auf mediale Gewalt wendet sich Schmälzle
entschieden gegen einseitige Schuldzuweisung. Die in den Medien gezeigte Gewalt
ist der „Spiegel unserer eigenen Innenwelt“. Borchers stimmt insoweit zu, als er
ebenfalls vor monokausalen Schuldzuweisungen warnt. Schmälzle unterscheidet „eine
intrapersonale, eine interpersonale und eine strukturelle Dimension“ von Gewalt.
■ Borchers weist zudem auf den gesellschaftlichen Wandel hin, der sowohl die „Binnenstruktur“ von Familie als auch das gesellschaftliche Umfeld verändert. D.h. die Anforderungen an Partnerschaft und Familie sind vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen
Wandels stärker geworden und bergen Aggressionspotenziale: Veränderungen im Erwerbsleben (Flexibilität, Mobilität u.s.w.), unzureichende Kinderbetreuungsmöglichkeiten, problembeladenes Wohnumfeld.
■ Für die Bildungsarbeit bzw. gesellschaftlichen Handlungsziele werden als die wesentlichen Aufgaben gesehen
– das diagnostizierte Tabu zu durchbrechen, Gewalt zu thematisieren und auf die
Klärung des Begriffes „Gewalt“ hin zu arbeiten;
– das Schaffen von Foren, in denen die verschiedenen Sozialisationsinstanzen gemeinsam die verschiedenen Dimensionen von Gewalt (präventiv) angehen können in der „Arbeit an wert- und normbildenden Kommunikationsstrukturen in
einer plural verfassten Gesellschaft“ mit dem Ziel der Befähigung zu einer „gewaltlosen Konfliktlösung“;
– „zwischen Verhaltensprävention, die die individuelle Handlungsfähigkeit im Blick
hat, und Verhältnisprävention, die auf eine Verbesserung der Strukturen und Bedingungen zielt“ zu unterscheiden (Borchers), um somit Gesellschaft als Ganzes
kinder- und familienfreundlicher zu gestalten;
– angesichts des gesellschaftlichen Individualisierungsprozesses zum Aufbau von
Netzwerken (Kommunen und Verwaltung, freie Träger der Kinder- und Jugendhilfe, Selbsthilfegruppen und Elterninitiativen u.s.w., Institutionen wie
Sozialisationsinstanzen, Ärzte, Polizei, Gerichte Wohnungsgesellschaften) zu
befähigen (Borchers), die Familien zu eigenem Handeln befähigen (sowohl in
ERGEBNISSE
37
der Verhaltens- als auch in der Verhältnisprävention) und sie in diesem Handeln
begleiten;
– (christlich orientierten) Trägern der Bildungsarbeit nicht zuletzt den christlichen
Glauben als „Widerstandspotenzial“ gegen Gewalt aufzuschlüsseln (Schmälzle).
2.5.4 Ausblick und Forderungen
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass sich die durchgeführten Einzelprojekte
(Kurse, Fachtagungen), die Expertisen von Borchers und Schmälzle sowie die Projektgruppensitzungen als Diskussions- sowie als Auswertungs- oder Evaluationsforum als
fruchtbar erwiesen. Für die weitere Entwicklung des Themas sowohl in der Bildungsarbeit als auch, sofern die Ergebnisse aufgegriffen werden, in der Politik können sie
sich sehr nützlich erweisen.
Auf Grundlage des durchgeführten Projektes werden insbesondere folgende Ergebnisse
und sich daraus ergebende Konsequenzen für die bzw. Forderungen an die politischen
Entscheidungsträger und politische Bildung festgehalten:
■ Politische Bildung steht zum Teil zwischen den Ansprüchen der Teilnehmerinnen und
Teilnehmern von Kursen, den Ansprüchen der politischen Bildung (respektive der
Bundeszentrale für politische Bildung) und den eigenen Ansprüchen in der Kursarbeit Tätigen. Hier gilt es enge Sichtweisen zugunsten einer umfassenden zu öffnen. D.h. Politische Bildung muss das „Private“ immer auch als das „Politische“
verstehen und im Blick haben. Bezogen auf Kursarbeit (im durchgeführten Projekt)
heißt das dann: Orientierung an der Erwartung der Teilnehmenden nach konkreten
Handlungsanweisungen im Erziehungsalltag bzw. Hilfestellung in bestimmten Problemlagen (z.B. zur Vermeidung von Gewalt in der Erziehung) bedeutet in einem ersten
Schritt ein Eingehen auf diese Erwartungen, in einem zweiten Schritt ein Bewusstmachen, dass erzieherisches Handeln zwar zunächst eine familiäre (innere), dann
aber auch eine gesellschaftliche (äußere) Angelegenheit ist, insofern es sich in einem gesellschaftlichen Kontext ereignet. Familiäre „Rollenmuster“ werden als Spiegel gesellschaftlicher „Rollenmuster“ bzw. gesellschaftlicher Strukturen bewusst gemacht, und damit werden familiäre Fragen oder Problemlagen auf ihre gesellschaftliche Relevanz hin erweitert und als politische Fragen formuliert.
Das Interesse der Teilnehmerinnen und Teilnehmern an ihren eigenen individuellen
Problemen und an auf sie zugeschnittenen Handlungshilfen spiegelt sicher auch die
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PROJEKTBESCHREIBUNG
gesellschaftliche Individualisierung, für die unter anderem Hilflosigkeit und Überforderung Einzelner ursächlich ist. Hier zeigt es sich, wie wichtig es ist, Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit diesem Hintergrund zu konfrontieren und sie damit auch
zur Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Fragestellungen zu motivieren und zu
befähigen.
In diesem Kontext wird an das im Mai 2000 formulierte Projektziel erinnert: Dieses
war und „ist es, durch politische Bildung bei Eltern, Erziehungsberechtigten und
Verantwortlichen in Gesellschaft und Staat das Bewusstsein für die gesellschaftliche
Bedeutung von Erziehung zu stärken, die die Persönlichkeitsrechte junger Menschen
und ihre Würde achtet und ihre Entwicklung in einer auf Teilhabe, Verantwortung
und Solidarität angelegten freiheitlich-demokratischen Gesellschaft fördert. Dazu
gehört die Auseinandersetzung mit strukturellen Rahmenbedingungen von Gesellschaft und Staat, die diesem Ziel förderlich oder hinderlich sind“.
Unter politischer Bildung ist damit mehr zu verstehen als nur die Bemühung um bzw.
Befähigung zu politischem Engagement.
Dennoch: Es ist auch ein Ergebnis des Projektes, dass es sinnvoll und möglich ist,
durch Politische Bildung in dem Sinne, wie sie von den Mitgliedern der Projektgruppe verstanden wird, Projekte auf kommunaler Ebene anzustoßen: sei es in stadtteilbezogenen Projekten wie etwa kinderfreundlicher Raumgestaltung (Wilhelmshaven/
siehe 5.5), sei es in „offenen“ Elternprojekten wie einem Elterncafé zur Ermöglichung
elterlicher Selbsthilfe (Feuerstein/siehe 5.2).
■ Nicht nur die (zunächst individuell erfahrbare) Hilflosigkeit und Überforderung einzelner Eltern oder Familien ist bewusst geworden. Gewalt ist ein über den familiären
Rahmen hinausgehendes gesellschaftliches Problem. Prävention ist daher eine umfassende gesellschaftliche Aufgabe, in die alle davon berührten Gruppen eingebunden und in der diese vernetzt werden müssen: Zum einen Sozialisationsinstanzen wie
Familie, Tagespflege, Kindertagesstätten, Schulen u.s.w., zum anderen öffentliche
Behörden wie Kommunen mit ihren Jugend- und Stadtplanungsämtern u.s.w., Justiz
und Polizei bzw. auch Verbände, die die Problematik mittelbar oder unmittelbar berührt, und schließlich Träger von Bildungseinrichtungen. Erziehung ist auch immer
zugleich Erziehungspartnerschaft.
In diesem Zusammenhang ist es nicht nur unumgänglich, Projekte, die diese Vernetzung
wollen und gemeinsam Initiative ergreifen, präventiv gegen Gewalt in Familie und
anderswo arbeiten, entsprechend finanziell zu unterstützen, um so z.T. erfahrbare Konkurrenz im Einwerben öffentlicher Zuwendungen von vorne herein zu vermeiden und
ERGEBNISSE
39
stattdessen konstruktive und produktive Kooperation zu ermöglichen. Es ist ebenso
unumgänglich die Akteure in den professionellen Sozialisationsinstanzen wie Kindergarten, Tagespflege, Schule u.s.w. entsprechend auszubilden und beispielsweise Elternarbeit zu ermöglichen.
Hier sieht die Projektgruppe beträchtliche Lücken in der gegenwärtigen Ausbildung,
Fort- und Weiterbildung von Erzieherinnen und Erziehern, Lehrerinnen und Lehrern.
Diese müssen befähigt werden zu ständiger Kooperation und Kommunikation mit den
Eltern, weil Probleme wie z.B. Gewalt nie nur das Problem einer einzelnen Instanz ist
(s.o. Erziehungspartnerschaft), sondern weil in einer individualisierten und pluralisierten Gesellschaft nicht nur der Konsens über Erziehungsziele, Werte und Normen
abhanden gekommen ist, sondern ebenso die gemeinsame Sprach- und Verstehensregelung etwa darüber, was z.B. unter Gewalt und bzw. oder gewaltfreier Erziehung zu
verstehen ist. (Dies wirft zugleich die Frage bestimmter Berufsgruppen auf, wie weit
denn der eigene Beruf reiche. Hierzu zählen beispielsweise auch Ärzte, die lernen
müssen, mit bestimmten Verdachtsmomenten bei möglicher Kindesmisshandlung sowohl pädagogisch als auch juristisch umzugehen.)
Die in den öffentlichen Einrichtungen oder auch in der Tagespflege Tätigen dürfen
und können in ihrem erzieherischen Handeln nicht allein gelassen werden. Gerade in
Kindergärten sehen sich Erzieherinnen (und bisweilen auch Erzieher) gerade nach
ihrer Ausbildung zum Teil weitaus älteren Eltern gegenüber, was den Dialog und
eventuelle Angebote zur Hilfestellung im erzieherischen Handeln nicht erleichtert.
■ Die Frage nach „Gewalt in der Erziehung“, „Gewalt in der Familie“ berührt ein Problem,
das in mehrfacher Weise Erzieherinnen und Pädagoginnen und Pädagogen vor Schwierigkeiten stellt: Sie müssen befähigt werden, etwas zu thematisieren, dem sich betroffene Eltern nicht nur nicht stellen wollen. Nicht selten wird sogar die Erfahrung gemacht, dass sich Eltern der Auseinandersetzung etwa in Kindergärten oder Kindertagesstätten entziehen, indem sie einfach die Einrichtung wechseln. Umgekehrt sind
diese Einrichtungen gehalten, aus ökonomischen Gründen, sinkenden Kinderzahlen
entgegenzuwirken, was sie dann in ein Dilemma treibt. Zweierlei wird hier deutlich:
Zum einen ist hier eine (institutionalisierte) Kooperation möglicherweise konkurrierender Kindertageseinrichtungen von Nöten. Zum anderen sind Interventionskonzepte
erforderlich wie sie beispielsweise im Kursmodell von Heide (s. 5.5) erarbeitet und in
der Multiplikatorenschulung bereits umgesetzt wurde.
Zugleich zeigt sich, wie wichtig es ist, Räume zu schaffen, in denen betroffene Eltern
„niedrigschwellige“ Angebot eröffnet werden. Bildungsangebote zum Thema „Gewalt
40
PROJEKTBESCHREIBUNG
in der Erziehung“ motivieren diese kaum, durch ihren Besuch Gewaltanwendung zu
gestehen. Außerdem gibt es viele Formen elterlicher Gewaltanwendung, die nicht als
solche bewusst sind, aber aufgrund von Formulierungen (wie „den muss ich zur Tür
hinaustreten, damit er zur Schule geht“) offensichtlich sind. Diese „niedrigschwelligen“
Angebote können Elternabende zu anderen, möglicherweise von den Eltern selbst
gewählten Themen sein, in deren Rahmen „Gewalt in der Erziehung“ problematisiert
wird und in denen das Verständnis von bzw. der Begriff Gewalt diskutiert und geklärt
werden kann. Diese Angebote können Elternseminare sein zu positiv formulierten
Themen, die ansprechend und einladend sind und ebenso zum eigentlichen Thema
hinführen (können). Diese Angebote können Bausteine innerhalb umfassenderen
Kursen sein wie etwa der Qualifizierung in der Tagespflege. Diese Angebote können
schließlich offene Treffs sein, Foren, die den ungezwungenen Austausch über Erziehungsprobleme ermöglichen und die, wie die vorgenannten Angebote ermöglichen, den notwendigen Raum des Vertrauens schaffen.
■ Dass Eltern häufig einen sehr engen Begriff von Gewalt als physischer Gewalt haben
und dabei häufig angewandte psychische Gewalt ausblenden ist nur ein Problem, das
zudem auf die Schwierigkeit der Projektgruppe hinweist, einen Konsens zu entwickeln im Blick auf das Verständnis von „menschen (–) würdig erziehen“. Ein anderes
Problem sind die „strukturellen Rücksichtslosigkeiten“ (s.o.) oder die Formen „struktureller Gewalt“, die wiederum Aggressionspotenziale bei Eltern, Kindern und Jugendlichen verstärken. Gerade nach dem Amoklauf von Erfurt darf sich der Blick nicht
einseitig auf mediale Gewalt als alleiniger Ursache beschränken.
■ Strukturelle Gewalt begegnet uns dort, wo die öffentliche Hand sich mehr und mehr
durch Streichung von Fördermitteln aus ihrer erzieherischen Verantwortung entzieht.
Dies betrifft die Förderung eines familienfreundlichen Wohnungsbaus ebenso wie
einer familienfreundlichen Stadt- und Stadtteilplanung. (Wie Heinrich Zille sagte:
„Mit der Wohnung kann man einen Menschen ‚erschlagen’ wie mit einer Axt.“) Dies
betrifft auch die finanziellen Zuwendungen für Kindertagesstätten und Schulen bis
hin zur in der Entlohnung ausgedrückten mangelnden Wertschätzung erzieherischer
Berufe.
ERGEBNISSE
41
2.5.5 Abschließende Reflexion der Projektgruppenmitglieder
■ Im Blick auf die eigene Arbeit waren die Erwartungen der Projektmitglieder (zu Beginn) unterschiedlich ausgeprägt: Sie hingen zum einen von persönlichen Erfahrungen
in der Bildungsarbeit bzw. der Beschäftigung mit dem Themas ab, zum anderen von den
Möglichkeiten des je eigenen Engagements innerhalb des Projektes. Als bedeutsam
wurde dies im Blick auf die Erweiterung der eigenen inhaltlichen Kenntnisse sowie der
Schärfung des eigenen Bewusstseins für die Thematik gesehen. Die trägerübergreifende
Projektarbeit wurde als Chance der Vernetzung an sich, aber auch des voneinander
Informiertsein und Voneinanderlernens gesehen, um so die eigene Arbeit qualitativ
verbessern zu können. Mit der Projektarbeit war natürlich auch die Erwartung verbunden, dadurch eine finanzielle Förderung eigener Projekte abzusichern.
Das mit dem „Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung“ vom 7. November 2000
garantierte Recht auf eine gewaltfreie Erziehung kann sich nicht nur allein als gesetzlich verbrieftes Recht durchsetzen. Die Projektgruppe sieht aber in diesem Gesetz eine Vorreiterfunktion und in ihrer praktischen Arbeit einen Beitrag, dieses
Gesetz inhaltlich „aufzufüllen“ bzw. zu „unterfüttern“. Damit kann die Präsenz des
Themas in der Öffentlichkeit verstärkt und Interesse geweckt werden. „Gewaltfreie
Erziehung“ soll in einer breiteren Diskussion zum Thema werden können: Insbesondere
in der Tagespflege, in Kindergärten und Kindertagesstätten sowie in der Schule. Hierbei
könnten vor allem auch Impulse gegeben werden für die Zusammenarbeit mit anderen Trägern, mit anderen Organisationen, Institutionen, Vereinen u.s.w. vor Ort. Es
geht um die Vermittlung eines neuen Bewusstseins: Was ist Gewalt, was ist gewaltfreie Erziehung?
Insbesondere soll auch und gerade der „strukturelle“ Hintergrund bzw. die strukturelle Komponente sichtbar und eine Diskussion um „strukturelle Gewalt“ angestoßen
werden.
■ Im Blick auf die eigene Arbeit sehen die Projektmitglieder ihre eigenen Erwartungen
unterschiedlich erfüllt. Das Projekt insgesamt wird als gut, die Arbeit in der Projektgruppe wird methodisch wie inhaltlich als bereichernd bewertet. Dagegen erweist
sich die Zusammenarbeit mit anderen Trägern vor Ort zum Teil als nur zögerlich und
von Ängsten um die Verteilung von Zuschüssen geprägt. Damit wird deutlich:
Vernetzung wird als hilfreich und wichtig erfahren, zugleich wird aber auch spürbar,
dass deren Erfolg nicht zuletzt von einer ausreichenden Finanzierung abhängig ist.
Im Blick auf die öffentliche Wirkung des Projektes sind vor allem die durchgeführten
42
PROJEKTBESCHREIBUNG
Fachtagungen hervorzuheben. Drei konnten durchgeführt und mit ihnen die Öffentlichkeit erreicht werden. Insbesondere die Fachtagung zum Thema „Gewaltfreie Erziehung in der Tagespflege“ stieß auf große Resonanz und konnte zur Bewusstseinsschärfung beitragen. Insgesamt wurden freilich hier die Erwartungen nicht erfüllt,
und die Gründe liegen zum teil sicher auch daran, dass aufgrund der begrenzten
finanziellen Mittel sowohl die Wahl der Referenten als auch der Werbewege erheblich
eingeschränkt war. Dies gilt vor allem auch für die ausgefallene Fachtagung sowie für
die ausgefallene Abschlusstagung. Hier zeigt sich offensichtlich die Diskrepanz zwischen der verbalen Aufgeschlossenheit der politisch Verantwortlichen bei gleichzeitiger Unbeweglichkeit im politischen Alltag (gesellschaftliche Rahmenbedingungen;
weiches Thema).
■ Entsprechend der z.T. unterschiedlichen Erwartungen sind auch die Folgerungen, die
aus diesem Projekt gezogen werden, unterschiedlich, wenngleich – und das wird als
besonders wichtig hervorgehoben – die Richtung die gleiche ist.
Im Blick auf die eigene Arbeit ist überwiegend der Wille festzuhalten, der Bedeutung
des Themas entsprechend „hartnäckig“ daran zu bleiben, es in anderen Kontexten
sinnvoll einzubauen (s.o. „niedrigschwellige“ Angebote) und „Quereinstiege“ zu nutzen. Vor allem in der Jugend- und Familienbildung sollte es seinen Platz behalten
und hier insbesondere auch in der Vernetzung von Familie und Schule bzw. Familie
und Kindertagesstätte u.s.w. Die Projektarbeit ergab hierfür etliche positive Denkanstöße, die zu weiteren Planungen motivieren und führen.
Vor allem im Zusammenhang mit einem Projekt in der Tagespflege konnte nicht nur
eine weitere Fachtagung im Sommer 2002 angestoßen werden, sondern die
verbandliche Organisation von Tagespflege in Rheinland-Pfalz. Das im Rahmen des
Projekte entwickelte Curriculum zur gewaltfreien Erziehung in den Qualifizierungslehrgängen für Tagespflegepersonen in Neustadt wurde bereits in Ludwigshafen und
Bad Dürkheim übernommen und wird demnächst auch in Speyer eingeführt.
Übereinstimmend wird festgestellt, dass künftige Projektarbeit ohne bessere finanzielle Ausstattung sowie einen längeren Projektzeitraum ins Leere läuft. Konkrete,
ergebnisorientierte Arbeit, zumal mit dem Anspruch der politischen Bildung ist ohne
diese nicht möglich. Flankierend hierzu müsste der persönliche Kontakt zum Zuschussgeber intensiviert und die Teilnahme seiner Kontaktperson an Projektgruppensitzungen angestoßen werden. Insgesamt wird jedoch befunden, Projekte seien sinnvoller, wenn sie von „unten“ angestoßen und von „oben“ entsprechend ihrer gesellschaftlichen Bedeutung denn auch gefördert und unterstützt werden.
ERGEBNISSE
43
Von den politisch Verantwortlichen wird eine klare und konsequente Position in der
Familienpolitik eingefordert. Konkret heißt dies: Wer Familie zum Politikthema macht,
muss konsequenterweise auch die notwendigen Rahmenbedingungen sowohl im Blick
auf Kinderbetreuungsmöglichkeiten als auf Elternunterstützung (finanziell, praktisch,
ideell) bereitstellen. Und in diesem Kontext ist insbesondere für die Chancen der
Vernetzung der hier Beteiligten die politische Bildung wesentlich – sofern sie aufgrund
der materiellen und personellen Ausstattung dieser Aufgabe gerecht werden kann.
Anmerkungen
1
Opladen 1996-1998.
2
Außerhalb von AKSB und GEMINI hat die Arbeitsgemeinschaft für katholische Familienbildung e.V.
(AKF) am 15.09.1999 mitgeteilt, dass sie an einer Mitarbeit an dem Projekt interessiert sei.
3
Vgl. Laszlo A. Vaskovics/Heike Lipinski (Hrsg.), Familiäre Lebenswelten und Bildungsarbeit, 3 Bde.,
Opladen 1996-1998.
4
Zu den Ergebnissen des Schwerpunktes vgl. Werte und Normen – Konflikte und Gewalt. Konzepte,
Analysen, Erfahrungen für die politische Jugendbildung (= aksb-werkstatt 1), Bonn 1999.
44
Andreas Borchers
Politische und zivilgesellschaftliche
Handlungsfelder zur Erleichterung
familialen Erziehungshandels und
zur Prävention von Gewalt und
Erziehung
Udo F. Schmälzle
Gewaltfreie Erziehung:
Theorie und Praxis eines
pädagogischen Leitbildes
E x p e r t i s e n
45
46
EXPERTISEN
Andreas Borchers
Politische und zivilgesellschaftliche
Handlungsfelder zur Erleichterung familialen
Erziehungshandelns und zur Prävention von
Gewalt in der Erziehung
0. Vorbemerkung
Es scheint mir notwendig, als Vorbemerkung zu einer Expertise über Gewalt in der
Erziehung herauszustellen, dass Familien in erster Linie und weit überwiegend die
Orte sind, in denen die weit überwiegende Zahl der Kinder und Jugendlichen Geborgenheit und Angenommensein erleben, wo sie Solidarität und gegenseitigen Respekt
erfahren und wo sie Möglichkeiten der kompromissfähigen Auseinandersetzung und
der Toleranz erlernen. Der vorherrschende Erziehungsstil hat sich im letzten Jahrhundert deutlich gewandelt von einem autoritativen zu einem eher kooperativen Umgang
miteinander.
Dennoch: Auch heute werden viele Kinder und Jugendliche in der Familie geschlagen,
werden seelisch misshandelt oder müssen andere Formen von Gewalt erfahren. Oder sie
müssen Gewalt gegen andere Familienmitglieder miterleben. Die Kindheitsforschung
hat nachgewiesen, dass dies eine Belastung nicht nur für die Gegenwart, sondern für ihr
gesamtes weiteres Leben ist.
Gerade vor diesem Hintergrund ist die Prävention von häuslicher Gewalt, von Gewalt
gegen Kinder ein dringendes Thema, das nicht zuletzt in der Änderung des BGB und des
KJHG seinen Ausdruck findet. Diese Gesetzesänderungen korrespondieren mit einer Sichtweise, die Kinder zunehmend als eigene Rechtspersonen mit eigenen Rechten wahrnimmt (die sie dem Gunde nach schon immer waren).
Die vorliegende Expertise geht davon aus, dass Gewalt gegen Kinder kein Ausdruck von
elterlicher Macht und Stärke, sondern im Gegenteil sehr häufig ein Zeichen von Schwäche und von Überforderung darstellt. Gewalt wird von den Eltern in der Regel nicht
POLITISCHE
UND ZIVILGESELLSCHAFTLICHE
HANDLUNGSFELDER…
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(mehr) als „Selbstverständlichkeit“ dargestellt, sondern nachträglich aus einem Gefühl
von Hilflosigkeit oder Überforderung heraus begründet, einhergehend mit dem Gefühl
des „Das-habe-ich-nicht-gewollt“. Gleichwohl werden die Folgen für die kindliche Entwicklung noch häufig unterschätzt.
Diese Sichtweise hat Folgen in Bezug auf gewaltpräventive Handlungsmöglichkeiten,
die dadurch eröffnet werden. Einerseits werden damit Möglichkeiten der Unterstützung
der einzelnen Familien durch Bildung und Beratung eröffnet, wie sie auch in der Neufassung von § 16 KJHG angelegt ist. Andererseits kann und soll darüber hinaus die
gesamte Lebenssituation der Familien in den Blick genommen werden. Denn die Rahmenbedingungen, unter denen Familienleben stattfindet und unter denen Familien ihre
Aufgaben wahrnehmen (können), beeinflussen die Belastungen und den Stress, die sich
auf das Alltagsleben aller Familienmitglieder auswirken.
Die vorliegende Expertise geht auf diese Rahmenbedingungen familialen Lebens ein.
Vor diesem Hintergrund können Handlungsansätze aufgezeigt werden, die nicht (nur)
bei der einzelnen Familie ansetzen, sondern darüber hinaus auch auf strukturelle Verbesserungen abzielen.
1. Gewalt in der Erziehung: Definitionen und Erscheinungsformen
Diskussionen um Gewalt in der Erziehung stehen unter der Gefahr, dass aneinander
vorbei geredet wird, weil von unterschiedlichen Begriffen und Verständnissen ausgegangen wird. Es werden die gleichen Worte verwendet, aber mit unterschiedlichen Bedeutungen. Dies betrifft den Begriff Gewalt ebenso wie das Bild von Familie.
In diesem Abschnitt soll deshalb zur Begriffsklärung beigetragen werden.
Hinweis an die Bildungsarbeit: Eine Klärung dieser Begriffe ist auch insgesamt in der
Gesellschaft hilfreich und würde die Prävention von Gewalt unterstützen.
Als Gewalt kann grundsätzlich jede aktive Handlung bezeichnet werden, die auf die
Durchsetzung der eigenen Ziele bei einer anderen Person ausgerichtet ist, ohne Rücksicht auf damit verbundene physische oder psychische Schädigungen zu nehmen. „Aktiv“ meint sowohl tatsächlich ausgeführte als auch angedrohte Handlungen. In einem
weiteren Sinn kann „Handlung“ auch Duldung und Unterlassung mit einschließen.
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EXPERTISEN
Die Grenzziehung zwischen „noch nicht schädigend“ und „gewaltsam misshandelnd“ ist
allerdings fließend. Gewalt ist ein äußerst unscharfer Begriff, der in unterschiedlichen
Zusammenhängen und von unterschiedlichen Personen verschieden verwendet wird. Nun
muss es keinen einheitlichen Gewaltbegriff geben. Was unter Gewalt zu verstehen ist,
ist in hohem Maße kulturell definiert. Mit Veränderungen der Alltagskultur, aber auch
wissenschaftlichen Erkenntnissen verändert sich zwangläufig unser Verständnis von
Gewalt.
1.1 Abgrenzung von Gewalt
Unklarheiten bestehen schon in der Grenzziehung dessen, was noch (bzw. schon) als
Gewalt gilt:
■ Unangemessen enge Auslegung
– Dies ist beispielsweise der Fall, wenn darunter ausschließlich körperliche Misshandlung verstanden wird und andere Formen, die der psychischen Gewalt zuzurechnen sind (z.B. Erniedrigungen und Beschimpfungen) und die nachweislich
massiv negative Folgen für die Entwicklung des Kindes haben, ausgeblendet bleiben.
Hinweis an die Bildungsarbeit: Empirische Untersuchungen zeigen, dass in der
Allgemeinbevölkerung und auch bei vielen Eltern ein solcher, auf physische Gewalt
beschränkter Gewaltbegriff vorherrscht.
– Eine unangemessen enge Auslegung liegt ebenfalls vor, wenn Gewalt sich ausschließlich auf besonders extreme Formen beschränkt – wobei unklar bleibt, was
denn der leicht verharmlosend so genannte ‚Klaps’ eigentlich ist.
Problematisch bei einem unangemessen engen Gewaltbegriff ist das Ausblenden
anderer Formen von Gewalt und von deren Folgen.
■ Unangemessen weite Auslegung
– Problematisch ist, wenn alle Formen von Sanktionierung bzw. Bestrafung (z.B.
weniger Taschengeld, temporäres Fernsehverbot, kurzzeitiger Stubenarrest) als
Gewalt bezeichnet werden. Erziehung erfordert das Festlegen und Einhalten klarer
Grenzen. Bei Überschreitungen müssen den Kindern die Konsequenzen ihres
Handelns verdeutlicht werden. Um Grenzen durchsetzen zu können, benötigen
Eltern grundsätzlich auch Möglichkeiten zur Sanktionierung.
– In der Fachdiskussion wird gelegentlich von ‚struktureller Gewalt’ gesprochen. In
Anlehnung an Galtung (1975) sind damit Bedingungen gemeint, die verhindern,
dass Menschen sich so entwickeln können, wie dies eigentlich möglich wäre.1 Es
POLITISCHE
UND ZIVILGESELLSCHAFTLICHE
HANDLUNGSFELDER…
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gelingt allerdings nur schwer, diesen Begriff konkret zu fassen und zu operationalisieren. Dies wäre aber notwendig, um ihm praktische Relevanz zu geben. Entsprechend ist umstritten, ob bzw. inwiefern von struktureller Gewalt überhaupt gesprochen werden kann.
– Problematisch bei einer unangemessen weiten Auslegung des Gewaltbegriffs ist
der mögliche inflationäre Gebrauch, der zu einer tendenziellen Aufweichung des
Begriffs führt. Wenn alles zu Gewalt wird, verliert der Begriff an Schärfe und nicht
zuletzt an Relevanz.
■ Abgrenzungen und Wechselwirkungen
– Nicht nur selbst als Opfer, sondern auch als Zeuge können Kinder von Gewalt in
der Familie betroffen sein. Aus der gewaltpräventiven Arbeit ist bekannt, dass es
für Kinder äußerst belastend ist, Gewalt in der Ehe bzw. Gewalt gegen Frauen mit
ansehen bzw. mit erleben zu müssen. Bei der Prävention von Gewalt in der Erziehung steht dies zwar nicht im Zentrum, darf aber gleichwohl nicht vernachlässigt
werden.
– Schließlich darf nicht vergessen werden, dass Kinder auch zum Opfer von Gewalt
von Gleichaltrigen bzw. von anderen Kindern und Jugendlichen werden können.2
1.2 Erscheinungsformen von Gewalt
Der Zehnte Kinder- und Jugendbericht stellt unterschiedliche Formen von Gewalt gegen
Kinder dar:
■ Körperliche Misshandlung wie Schläge, Schütteln, Stöße, Verbrennungen u.a.m. Die
Auswirkungen auf den kindlichen Organismus hängen von der Intensität der Gewalthandlung und von seinem Entwicklungsstand ab. Manche Folgen sind nicht sichtbar,
in einigen Fällen werden Folgen erst nach Jahren sichtbar (z.B. durch Retardierung).
■ Vernachlässigung, die dann vorliegt, wenn andauernd oder wiederholt Grundbedürfnisse
des Kindes gänzlich oder in einem Maße unbefriedigt bleiben, dass es in seinem
Wohlergehen und seiner Entwicklung beeinträchtigt oder gefährdet ist. Dies bezieht
sich sowohl auf körperliche Bedürfnisse (Ernährung, Pflege) als auch auf psychische
(Zuwendung, Schutz). Die Vernachlässigung kann sowohl als aktives und bewussten
Handeln als auch unbewusst oder aufgrund mangelnder Einsicht bzw. unzureichenden Wissens erfolgen.
■ Psychische Misshandlung, z.B. Einschüchterung und Ängstigung, Drohungen, Herabsetzen, Isolieren, langanhaltender Liebesentzug. Die Folge ist eine massive Beeinträchtigung der kindlichen Entwicklung sowohl in seelischer als auch in körperlicher
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EXPERTISEN
Hinsicht. Die Formen psychischer Misshandlung werden noch oft zu gering beschätzt
und bagatellisiert. Bildungsarbeit kann hier aufklärerisch wirken und insbesondere
auf die Folgen hinweisen.
■ Sexuelle Misshandlung, d.h. die Einbeziehung eines Kindes in eine sexuelle Aktivität,
zu der es aufgrund seines Entwicklungsstandes noch kein Einverständnis geben kann,
weil es die Tragweite nicht erfasst. Schädigend ist hier auch die damit verbundene
Verpflichtung des Kindes zur Geheimhaltung, die oft durch Drohungen erzwungen
wird. In der Kriminalstatistik sind 2 von 1.000 Mädchen und immerhin auch 2 von
3.000 Jungen unter 14 Jahren als Opfer sexueller Kindesmisshandlung erfasst. Die
Täter sind fast ausschließlich männlich.
■ So genanntes. Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom, d.h. das Hervorrufen von Krankheiten oder Krankheitsanzeichen beim Kind (z.B. Erstickungsanfälle, Verletzungen,
Vergiftungen) in der Absicht, (medizinische) Hilfe zu bekommen (BMFSFJ 1998: 108ff).
Diese einzelnen Formen der Gewalt sind nicht isoliert zu betrachten, sondern sie treten
oftmals in Verbindung auf. Und: Je mehr Gewalt angewendet wird, desto häufiger kommen andere Sanktionsformen hinzu (Bussmann 1995: 246).
Beachtung verdienen darüber hinaus die Rahmenbedingungen der elterlichen Gewalthandlungen (z.B. als Strafe für eine Handlung des Kindes). Werden sie vom Kind als
‚grundlos’ und willkürlich wahrgenommen, dann sind die psychischen Auswirkungen
besonders schädigend und wirken sich zusätzlich negativ auf die Entwicklung des Selbstvertrauens aus.
1.3 Verbreitung von Gewalt in der familialen Erziehung
Nach den Ergebnissen von Befragungen von Jugendlichen ist körperliche Bestrafung in
der Erziehung weit verbreitet. Nach den Ergebnissen einer Befragung der Universität
Bielefeld von 2.400 Jugendlichen im Alter von 13 bis 16 Jahren haben 82 % Ohrfeigen,
44 % deftige Ohrfeigen und 31 % eine Tracht Prügel erfahren. Als nicht-körperliche
Sanktionen werden berichtet: Jeweils zwei Drittel der Jugendlichen hatten Fernsehverbot oder Ausgehverbot, die Hälfte wurde zu Hause schon niedergebrüllt, jeweils ein
Drittel berichtete von Kürzung des Taschengeldes oder Anschweigen.
Nach den Schülerbefragungen des KFN sind (nur) 43 % der unter 13-Jährigen nie Opfer
elterlicher Gewalt geworden. 30 % haben leichte Züchtigungen erfahren, 17 % schwere
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UND ZIVILGESELLSCHAFTLICHE
HANDLUNGSFELDER…
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Züchtigungen. Die verbleibenden 10 % berichten von leichten oder schweren Misshandlungen (wie prügeln, zusammenschlagen, mit der Faust schlagen, treten). Abgegrenzt
auf die letzten 12 Monate sind 58 % nie Opfer von Gewalt geworden; im gleichen Zeitraum wurden 8 % schwer gezüchtigt sowie 7 % misshandelt (Pfeiffer et al. 1999: 10ff).
In der Perspektive der Eltern kommt Bussmann bei einer Typologisierung zu dem Ergebnis, dass 24 % einen relativ stark gewaltbelasteten Erziehungsstil haben, bei dem eine
Tracht Prügel und darüber hinaus auch andere Sanktionen häufiger vorkommen. Über
die Hälfte der Eltern (59 %) bezeichnet er als „konventionell“; in dieser Gruppe kommen
leichte oder deftige Ohrfeigen vor. 11 % der Eltern verzichten weitestgehend auf Körperstrafen, 6 % haben einen nahezu sanktionsfreien Erziehungsstil (Bussmann 1995
und 2000).
1.4 Gewaltbereitschaft und -akzeptanz: Multikausales Bündel von Faktoren
Gewaltbereitschaft und gewalttätiges Handeln von Eltern können nicht monokausal erklärt werden. Es gibt verschiedene Erklärungsansätze und Differenzierungen, die
mittlerweile als abgesichert gelten. Sie setzen auf unterschiedlichen Ebenen an, so dass
es also nicht „die“ Ursache von Gewalt gibt (und entsprechend auch nicht „die“ Gegenstrategie geben kann).
Psychologische Erklärungen gehen insbesondere von den Kompetenzen der Eltern aus,
z.B. im Umgang mit Stress, Umgang mit Aggressionen, Problemlösungskompetenz bzw.
einem Gefühl von Hilflosigkeit. Diese Faktoren stehen im Zusammenhang mit dem Selbstbewusstsein bzw. Selbstvertrauen. Gewalt kann insofern bei zu geringen elterlichen
Kompetenzen auftreten; Handlungsansätze ergeben sich mit der Stärkung von Erziehungskompetenzen, Beratung, Therapie usw.
In diesem Zusammenhang wird häufig darauf hingewiesen, dass Menschen, die in ihrer
eigenen Kindheit Gewalt erleben mussten, später mit größerer Wahrscheinlichkeit Gewalt gegenüber generell weniger abgeneigt sind, überdurchschnittlich oft selbst Gewalt
anwenden sowie Gewalt bei anderen eher akzeptieren. Insgesamt ergibt sich daraus ein
Kreislauf der Gewalt, der durchbrochen werden muss.
Der Zusammenhang von kindlicher Gewalterfahrung und späterer Gewaltanwendung ist
wissenschaftlich gut belegt. Gleichwohl ist es nur begrenzt möglich, Wahrscheinlichkeiten
52
EXPERTISEN
zu benennen, mit denen dieser Kreislauf fortgesetzt wird. Kaufman/Zigler gehen nach
Auswertung unterschiedlicher Studien vorsichtig davon aus, dass etwa ein Drittel von
denen, die als Kind physische Gewalt, sexuellen Missbrauch oder extreme Vernachlässigung erfahren mussten, später eine dieser Formen von Gewalt an ihren eigenen Kindern
ausüben. (Sie gehen ferner davon aus, dass bei der restlichen Bevölkerung die Wahrscheinlichkeit der Gewaltausübung bei etwa 5% liegt.)
Das bedeutet aber auch: Die Mehrzahl von denen, die als Kind das Opfer von Gewalt
wurden, werden dieses Verhalten voraussichtlich nicht fortsetzen. Hier besteht die Gefahr einer zusätzlichen Stigmatisierung: Eltern, die als Kind Gewalt erleiden mussten,
dürfen nicht als ‚potenzielle Gewalttäter’ abgestempelt werden. Vielmehr ist zu fragen,
durch welche Bedingungen der „Kreislauf der Gewalt“ durchbrochen werden kann.
Ein weiterer wesentlicher Einflussfaktor sind die Rahmenbedingungen familialen Lebens. So wie in psychologischer Perspektive beispielsweise Stress- und Problembewältigungskompetenzen im Blickfeld stehen, können in sozialstruktureller Perspektive diese stressauslösenden bzw. problematischen Situationen betrachtet werden. Die Rahmenbedingungen, unter denen Familienleben stattfindet, sind häufig geprägt durch strukturelle Rücksichtslosigkeiten, durch ungünstige und divergierende Zeitstrukturen, durch
eingeschränkte Möglichkeiten, im Alltag und insbesondere in Belastungssituationen
angemessene Unterstützung zu erhalten. Auf diese Aspekte wird im folgenden Abschnitt
näher eingegangen.
Damit hängen auch soziale Unterschiede in Bezug auf Gewaltanwendung zusammen.
Nach der Untersuchung von Pfeiffer et al. (1999) berichten Schülerinnen und Schüler
des BVJ am häufigsten und Gymnasiasten am wenigsten, von elterlicher Gewalt betroffen gewesen zu sein. Auch Bussmann hat eine überdurchschnittliche Gewaltbelastung
in unteren Bildungsschichten festgestellt; dieser Zusammenhang ist allerdings nicht
allzu stark ausgeprägt. Dabei können – neben anderen Faktoren – äußere Belastungen
des Familienlebens eine wesentliche Rolle spielen.
Auf keinen Fall allerdings kann Gewalt lediglich bestimmten sozialen Schichten zugeschrieben werden. Die Untersuchungen bestätigen durchgängig eben auch, was z.B. aus
der Beratungspraxis bekannt ist: Dass grundsätzlich in allen gesellschaftlichen Schichten in der Erziehung Gewalt ausgeübt wird. Gewaltpräventive Angebote dürfen deshalb
auch keine gesellschaftliche Gruppe auslassen.
POLITISCHE
UND ZIVILGESELLSCHAFTLICHE
HANDLUNGSFELDER…
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Weitere Unterschiede beruhen auf kulturellen Differenzen, z.B. sozialen Milieus (Vester),
die durch unterschiedliche Traditionen nachhaltig geprägt sind.3 Auch Immigranten sind
durch die Kultur ihrer Herkunftsländer beeinflusst, in der andere, in der Bundesrepublik
nicht (mehr) akzeptierte Regeln vorherrschen können.4
Für die Bildungsarbeit ergibt sich daraus die Notwendigkeit, entsprechend differenzierte
Angebote zu entwickeln und anzubieten, die auf den jeweiligen kulturellen Hintergrund
eingehen.
2. Familienleben heute
Ein angemessenes Verständnis von Gewalt in der Erziehung setzt ein zeitgemäßes
Familienbild voraus. Allerdings gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher Familienbilder,
und auch die Tatsache, dass jeder Familienleben aus eigener Erfahrung kennt, macht die
Verständigung darüber nicht einfacher, sondern erschwert sie eher noch.
Derzeit wird Familie oftmals gleichgesetzt mit Privathaushalten von Eltern mit (minderjährigen) Kindern („Familie ist, wo Kinder leben.“). Diese Sichtweise geht über die in
der Vergangenheit verbreitete Beschränkung auf die sog. ‚Kernfamilie’ (verheiratete
Eltern und ihr(e) Kind(er) in einem Haushalt) hinaus und bezieht unterschiedliche
Haushaltsformen wie Ein-Eltern-Familien, Stieffamilien und Adoptivfamilien selbstverständlich mit ein.
Vom Begriff der Familie ist der des Haushalts zu trennen (allzu häufig wird beides vermischt). Der Haushalt ist definiert durch das Zusammenleben und -wirtschaften. Es gibt
heute nur noch vergleichsweise wenig Mehrgenerationen-Haushalte. Gleichzeitig nimmt
die Zahl der Generationen einer Familie zu: Es gibt zunehmend mehr Vier- und sogar FünfGenerationen-Familien. Auch die Drei-Generationen-Familie war noch vor hundert Jahren
die Ausnahme und ist erst seit ca. fünfzig Jahren weit verbreitet (Lauterbach 1995).
Ein zeitgemäßer Familienbegriff berücksichtigt, dass sich Familienleben nicht nur
über kleine Kinder definiert, und hat ebenfalls die älteren Menschen (GroßelternGeneration) und ihre erwachsenen Kinder (sog. Sandwich-Generation) im Blick. Die
mittlere Generation ist oftmals doppelt in soziale Netzwerke eingebunden: Die (erwachsenen) Kinder werden auch nach ihrem Auszug aus dem elterlichen Haushalt
weiterhin unterstützt, gleichzeitig beginnt für die eigenen, hochbetagten Eltern oftmals
54
EXPERTISEN
die Phase der Pflegebedürftigkeit (Borchers 1997). Insbesondere die sog. „jüngeren
Alten“ verfügen nach ihrem Ausstieg aus dem Erwerbsleben zunehmend über – oftmals
übersehene – Ressourcen (Zeit, Geld, Kompetenzen und Erfahrungen), die sie z.B. in
die Betreuung ihrer Enkel einbringen können und zunehmend auch einbringen (BMFSFJ
2001; Borchers 1998).
Familienleben, das über die Generationenbeziehungen definiert wird, findet heute in
hohem Maße über die Grenzen des Haushalts hinweg statt. Denn auch für die in anderen
Haushalten lebenden Familienmitglieder werden wesentliche Leistungen der Unterstützung, der Betreuung, Versorgung und Pflege, des Kontakthaltens oder des Austauschs
erbracht. In einer solchen Sichtweise findet Familienleben in einem familialen Netzwerk statt. Die neben stehende Abbildung verdeutlicht diese Sichtweise.
2.1 Wandel im System Familie
Im Zuge der demographischen Entwicklung dünnen die verwandtschaftlichen Netzwerke
immer mehr aus. Der seit langem zu beobachtende Rückgang der Geburtenzahlen hat
Auswirkungen nicht nur auf die Eltern-Kind-Beziehungen (mehr Einzelkinder, weniger
Geschwistererfahrungen usw.). Denn damit nimmt gleichzeitig die Zahl der weiteren
POLITISCHE
UND ZIVILGESELLSCHAFTLICHE
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Verwandten wie Onkel und Tanten, Cousinen und Cousins, Schwägerinnen und Schwäger
usw. ab. Die Verwandtschaftsnetze werden kleiner. Damit sinkt auch das Potenzial, aus
diesem Kreis Unterstützung zu unterhalten.
Die Vielzahl familialer Lebensformen nimmt zu. Stark ansteigend ist die Zahl der Haushalte von Alleinerziehenden. Häufig leben hier Kinder bei der Mutter; allerdings steigt
auch die Zahl der alleinerziehenden Väter überdurchschnittlich. In Haushalten von Alleinerziehenden können jedoch auch Kinder bei beiden leiblichen Eltern wohnen; sind
diese nicht verheiratet, gelten sie nämlich in der Statistik als Alleinerziehend.
Eine steigende Zahl von Scheidungen geht einher mit einer zunehmenden Zahl von
neuen Partnerschaften und Wiederheirat. Auch dies hat Auswirkungen auf Verwandtschaftsnetze. Mit dem neuen Partner bzw. der neuen Partnerin kommen neue Onkel und
Tanten, Großeltern usw. hinzu; gleichzeitig stehen die alten Beziehungen in der Gefahr
abzubrechen. Die Netzwerke müssen sich insgesamt auf die neue Situation, die neue
Unsicherheiten ebenso wie neue Chancen mit sich bringt einstellen.
Familien können sich darüber hinaus immer weniger auf die Unterstützung aus dem
sozialen Umfeld in Nachbarschaft oder aus dem Kollegenkreis am Arbeitsplatz verlassen. Mit der Auflösung traditioneller ‚sozialer Milieus’ (Vester) fallen Bindungen weg,
die im Alltagsleben und in Krisensituationen entscheidende Stützungsfunktionen übernommen hatten. Gerade sozial belastete Familien sind von diesen Auswirkungen sozialer Modernisierungsprozesse krisenhaft besonders betroffen.
Vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wandels verändert sich zwangsläufig auch
die Binnenstruktur der Familien. Die Pluralisierung gesellschaftlicher Werte und Lebensstile schlägt sich in einer zunehmenden Notwendigkeit nieder, die Regeln für das familiale
Leben und das Erziehungshandeln zu klären. Das Zusammenleben der Eltern verändert
sich, die Partnerrollen müssen neu austariert werden. Die Anforderungen an die Partnerschaft ändern sich, häufig steigen sie.
Dies geht häufig mit sehr hohen Erwartungen an die eigenen Leistungen als Eltern
einher. Traditionelles Erziehungswissen wird entwertet (oder ist nicht verfügbar). Professionelle Informationen, Bildung, Beratung und Unterstützung gewinnen an Bedeutung. Sie führen aber auch leicht zu einer zusätzlichen Verunsicherung der Eltern,
(insbesondere wenn unterschiedliche Aussagen getroffen werden).
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EXPERTISEN
2.2 Gesellschaftliche Rahmenbedingungen der familialen Erziehung und
„strukturelle Rücksichtslosigkeiten“
Familien sind in der Regel in der Lage, ihre Aufgaben eigenständig zu bewältigen. Sie
erbringen eine Vielzahl von Leistungen für sich selbst und für die Gemeinschaft, die
anders gar nicht erfüllt werden könnten, wie z.B.
■ Erfahrung von Angenommensein, emotionale Geborgenheit.
■ Raum zur Entfaltung der Persönlichkeit.
■ Wirtschaftliche Absicherung.
■ Kindererziehung und -betreuung.
■ Betreuung und Pflege von Behinderten und Kranken.
■ Unterstützung von älteren und pflegebedürftigen Menschen.
■ Verpflichtende Solidargemeinschaft der Generationen und Geschlechter im Alltag und
in Notsituationen.
■ Eingebundensein in Freundeskreise, Nachbarschaften; keine Isolation und Vereinzelung.
■ Bereitschaft zum freiwilligen Engagement in Initiativen, Gruppen und Vereinen.
Auf diese Leistungen sind nicht nur die Familien selbst, sondern die Gemeinwesen insgesamt
angewiesen. Sie könnten von keiner anderen Institution in vergleichbarer Weise erbracht
werden. Familien wirken damit wie eine kleine – und dabei äußerst effiziente – soziale
Infrastruktur. Dies gilt für alle Familienformen und Familienphasen gleichermaßen.
Familien können grundsätzlich diese Leistungen erbringen, und sie wollen es auch. Sie
wollen nicht, dass ihnen die Aufgaben abgenommen werden. Damit sie dies leisten
können, ist es zuallererst notwendig, dass sie nicht durch ein strukturell rücksichtsloses
Umfeld daran gehindert werden.
Franz-Xaver Kaufmann hat den Begriff der „strukturellen Rücksichtslosigkeiten“ geprägt
(1995: 174ff). Er versteht darunter die Tatsache, dass in der Gesellschaft eine weitgehende Indifferenz gegenüber Kindern und ihren spezifischen Bedürfnissen besteht und
dass die elterlichen Leistungen nur ungenügende Anerkennung finden. Familie und Kinder gelten weitestgehend als Privatsache. Daraus resultiert eine Gleichgültigkeit, die im
Ergebnis verhindert, dass familienindifferente bzw. familienfeindliche Regelungen in
der Wirtschaft, im staatlichen Bereich, im Bildungswesen und im Bereich der sozialen
Dienste abgebaut werden.
POLITISCHE
UND ZIVILGESELLSCHAFTLICHE
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Im Folgenden soll auf drei Bereiche, die für das Alltagsleben von Familien von zentraler
Bedeutung sind, eingegangen werden: das Erwerbsleben, die Situation der Kinderbetreuung sowie Wohnen und Wohnumfeld.
■ Anforderungen aus dem Erwerbsleben
Der massive Strukturwandel der Wirtschaft von der Agrargesellschaft über die Industriegesellschaft zur wissensbasierten Dienstleistungsgesellschaft geht mit tiefgreifenden gesellschaftlichen Änderungen einher. Berufliche Qualifikationen werden immer
schneller entwertet. In allen Lebensbereichen gehen Sicherheiten verloren. Im Erwerbsleben entstehen neue Gestaltungsmöglichkeiten, aber ebenso neue Anforderungen. Stichpunkte hierzu sind:
❐ Fortschreitende Flexibilisierung der Arbeit, die zunehmende Beweglichkeit bei
den Arbeitszeiten und Arbeitsorten erfordert.
❐ Zunehmende Bedeutung von lebenslangem Lernen, Flexibilität im Denken und
Handeln.
❐ Wachsende Bedeutung von sozialen Kompetenzen.
❐ Steigende Mobilitätsanforderungen, die eine starke Belastung für die sozialen
Netzwerke darstellen.
Im Zuge der Globalisierung wächst der Druck auf die Unternehmen. Der Arbeitsmarkt
ist seit langem unausgeglichen, und vermutlich wird auf lange Sicht keine Vollbeschäftigung erreicht werden können. Dies bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die
Beschäftigten. Die Unternehmen und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen
sich unter kaum noch überschaubaren internationalen Marktbedingungen in einem
härter werdenden Wettbewerb behaupten.
Auch familienpolitisch ist von Bedeutung, dass durch das zunehmende Ausmaß
ungesicherter Arbeitsverhältnisse, die Umgehung tarifvertraglicher Regelungen und
bestimmte Formen von Arbeitszeitflexibilisierung erheblicher Druck auf den einzelnen Arbeitnehmer entsteht. Dies hat direkte Rückwirkungen auf die sozialen Netzwerke in den Familien, Nachbarschaften und Freundeskreisen. Der Verlust von Sicherheiten führt zu einem enormen Anpassungsdruck, um die wirtschaftliche Absicherung der Familie leisten zu können. Die Veränderungen erfordern stetig zunehmende Integrationsleistungen, die Zeit und Kraft kosten. Lebensläufe nehmen zunehmend den Charakter von „Patchwork-Biographien“ an, gekennzeichnet durch:
❐ Entscheidungen unter Unsicherheitsbedingungen, was insbesondere das Eingehen langfristiger Verpflichtungen erschwert. Hierzu zählt auch eine Entscheidung
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EXPERTISEN
für Kinder. Oder – auf anderer Ebene – die Entscheidung, einen großen Kredit für
den Kauf von Wohneigentum aufzunehmen.
❐ Schwierige wirtschaftliche Absicherung. Neben Problemen in der Gegenwart (zu
denen nicht zuletzt auch eine eingeschränkte Kreditwürdigkeit zählt) ergeben
sich langfristige Folgen für die Rentenansprüche.
❐ In den Partnerschaften führen diese Unsicherheiten und Veränderungen zu
Lebensstilfragen und Belastungen, bspw. wenn getrennte Haushalte notwendig
werden. Auch innerhalb der Partnerschaften müssen die Rollenmuster und Aufgabenverteilungen ständig neu austariert werden, die partnerschaftliche Solidarität steht ständig auf dem Prüfstand.
Am Beispiel der Telearbeit kann der Einbruch der Arbeitswelt in die familiale Privatheit
verdeutlicht werden (vgl. hierzu Glade 2000 und 2001). Mit der Ausbreitung der PCTechnik und der Vernetzung werden zunehmende Möglichkeiten geschaffen, Arbeitsaufgaben auch zu Hause zu erledigen. Telearbeit umfasst neben Teleheimarbeit (Arbeit ausschließlich am heimischen PC) und alternierender Telearbeit (Arbeit im Betrieb und zu Hause im Wechsel) beispielsweise auch die Arbeit in Nachbarschaftsbüros in Wohnungsnähe. Sie bietet für die Beschäftigten eine Reihe von Vorteilen
und Chancen, z.B.
❐ Zeitersparnis durch den Wegfall von Wegezeiten,
❐ freiere Zeiteinteilung,
❐ stärkere Eigenverantwortlichkeit und
❐ bessere Arbeitsmöglichkeiten für Menschen in peripheren Wohngebieten.
Gleichzeitig entstehen neue Risiken:
❐ Gefahr der Selbstausbeutung (z.B. Mehrarbeit, Nichteinhaltung von Schutzfristen
bei Krankheit),
❐ Auflösung von Zeitstrukturen (z.B. Arbeit am Abend oder am Wochenende),
❐ Schwierigkeiten der Trennung von Arbeits- und Familienleben und
❐ Risiko der sozialen Isolation.
Darüber hinaus stellen sich oftmals Fragen der innerfamilialen Arbeitsteilung, weil
Telearbeit eine gleichberechtigtere Beteiligung beider Partner ermöglichen kann.
Diese ergibt sich aber keineswegs von selbst. Bei der Einführung und bei Änderungen der Anforderungen ist ein innerfamilialer Dialog erforderlich.
POLITISCHE
UND ZIVILGESELLSCHAFTLICHE
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■ Kinderbetreuung
Eltern stehen unter dem ständigen Druck, ihre Familientätigkeit und Erwerbstätigkeit
vereinbaren zu müssen. Die ist grundsätzlich eine Aufgabe für Frauen und Männer,
für Mütter und Väter gleichermaßen.
Familien verteilen innerfamilial die Aufgaben der Kinderbetreuung, Haushaltsführung,
notwendigen Unterstützung von Hilfebedürftigen (z.B. bei Krankheit oder Behinderung) usw. Die innerfamiliale Rollenverteilung folgt noch immer häufig traditionellen Mustern. Das Engagement von Vätern bei der Familienarbeit ist nach wie vor eher
gering. Die Erwartungen von Frauen und Männern liegen auseinander. Nach der
Männerstudie der katholischen und evangelischen Kirchen zählen (je nach Wertung
kann man sagen ‚nur’ oder ‚immerhin’) 20 % zu den neuen Männern, die eine deutliche Bereitschaft zur Veränderung des Rollenverständnisses anstreben (Zulehner/Volz
1998). Doch auch wo der Wunsch besteht, kann die Umsetzung schwierig sein, z.B.
weil
❐ das Einkommen des Vaters höher als das der Mutter ist und das Geld gerade in der
Familienphase mit Kindern im Haushalt dringend gebraucht wird.
❐ es gesellschaftlich noch zu wenig akzeptiert ist, wenn sich Väter mit großem
Engagement der Familie widmen – und sich in anderen Bereichen, z.B. im Beruf,
weniger engagieren.
❐ die Regelungen am Arbeitsplatz nicht die Vereinbarkeitsfrage für Väter im Blick
haben und z.B. kaum Teilzeitarbeitsplätze für Männer angeboten werden.
Das Angebot an Teilzeitarbeitsplätzen ist insgesamt nicht ausreichend. In Deutschland arbeiten 19 % der Beschäftigten Teilzeit; von den Frauen sind es 37 %, von den
Männern 5 %. Die Nachfrage ist größer, und der Blick in andere EU-Staaten wie
insbesondere die Niederlande (Teilzeitquote 39 %) zeigt, dass grundsätzlich eine
Ausweitung möglich ist5.
Voraussetzung für die Erwerbstätigkeit der Eltern ist eine gesicherte Kinderbetreuung.
Das Angebot ist nach wie vor insgesamt nicht hinreichend:
❐ Das Angebot an Krippenplätzen für die unter 3-Jährigen ist sehr gering: In den
westlichen Bundesländern stehen lediglich rund 3 Plätze für 100 Kinder unter 3
Jahren zur Verfügung, in den östlichen Bundesländern sind es 36 Plätze (BMFSFJ
2002: 328). Insbesondere in den alten Bundesländern übersteigt der Bedarf das
Angebot.
❐ Für das Kindergartenalter wurde ein quantitativ weitgehend hinreichendes Angebot aufgebaut. Problematisch kann es für Familien dennoch werden, etwa wenn
die Kindertagesstätte in Ferienzeiten schließt oder die täglichen Öffnungszeiten
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EXPERTISEN
nicht mit den Arbeitszeiten der Eltern in Einklang gebracht werden können (Siegmund 1998).
❐ Für die Schülerinnen und Schüler im Grundschulalter stehen nicht genügend
Betreuungsplätze zur Verfügung, etwa in Horten oder schulischen Angeboten (z.B.
verlässlichen Grundschulen). Derzeit gibt es für 100 6- bis unter 10-Jährige in
den westlichen Bundesländern lediglich 6 Plätze, in den östlichen Bundesländern
48 Plätze (BMFSFJ 2002: 328).
❐ Die nachschulische Betreuung der über 10-Jährigen muss ebenfalls sichergestellt
werden. Hierfür keine verlässlichen Regelungen zu haben, kann für Eltern äußerst
belastend sein. Diese Altersgruppe wird in der öffentlichen Diskussion bislang
noch weitgehend übersehen.
Wo eine angemessene institutionelle Betreuung der Kinder nicht gewährleistet ist,
werden die Lücken häufig durch das familiale oder weitere soziale Netzwerk gefüllt,
z.B. durch die Großeltern, andere Verwandte, Nachbarn und Freunde. Dieses ist aber
weniger selbstverständlich und muss von den Familien oftmals aufwändig organisiert
werden.
■ Wohnen und Wohnumfeld
Für Familien hat die Situation in der Wohnung und im Wohnumfeld eine hohe Bedeutung. Kindliches Leben spielt sich in hohem Maße in der elterlichen Wohnung ab.
Straßenkindheit, früher die Regel, gibt es heute kaum noch. Die zunehmende ‚Verhäuslichung’ von Kindheit ist vor dem Hintergrund von zunehmend eingeschränkten
Spiel- und Erlebnismöglichkeiten im Wohnumfeld zu sehen. Daraus folgen häufig
Einschränkungen der motorischen und sozialen Entwicklung der Kinder, steigender
Medienkonsum und Konflikte in der Familie.
Zeitlicher Stress entsteht, weil im Zuge der ‚Verinselung’ von Kindheit immer größere
Wege zurückgelegt werden müssen, wenn Freunde besucht werden sollen. Für die
Eltern bedeutet dies einen hohen Zeitaufwand; dieser ist besonders hoch, wenn der
ÖPNV nicht bedürfnisgerecht ausgebaut ist.
Konzepte für familien- und kinderfreundlichen Wohnungs- und Städtebau liegen vor
(z.B. Rohr-Zänker 2001; IES 1996; Flade/Greif 1996). Dennoch erleben Familien eine
Vielzahl ‚struktureller Rücksichtslosigkeiten’ in ihrem Wohnraum und Wohnumfeld, z.B.
❐ zu enge, schlecht geschnittene, zu teure Wohnungen;
❐ Mangel an geschützten Spielmöglichkeiten im Wohnumfeld;
❐ schlechte ÖPNV-Anbindung;
❐ unsichere Schulwege;
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❐ Umweltbelastungen durch Lärm, Staub, Abgase;
❐ kinderunfreundliche Nachbarschaften;
❐ fehlende Treffpunkte für Jugendliche;
❐ fehlende Versorgungsmöglichkeiten im Quartier;
❐ mangelhafte Infrastruktur.
Die Wohn- und Wohnumfeldbedingungen unterscheiden sich kleinräumig sehr stark. In
sozial belasteten Stadtteilen kommt es für die Familien zu kumulierten Anforderungen,
wenn bestehende Belastungen durch hohe Arbeitslosigkeit und ungenügende Ausstattung mit sozialer und kultureller Infrastruktur durch eine ungünstige Wohnsituation
nicht abgemildert, sondern im Gegenteil noch verstärkt werden (Hurrelmann 1998).
Fazit: Stress für das System Familie. Ungünstige äußere Rahmenbedingungen und
strukturelle Rücksichtslosigkeiten belasten den Alltag und wirken bis in die Familien
hinein. Belastungen und Stress wirken sich auf alle Familienmitglieder und das Zusammenleben aus.
Zeitliche Belastungen entstehen, weil der Strukturwandel in der Arbeitswelt hohe Anpassungsleistungen erfordert, die häufig im Gegensatz zu den Notwendigkeiten des Familienlebens stehen. Gemeinsame Zeitstrukturen geraten unter Druck. Schlechte ÖPNVAnbindung frisst Zeit. Die Anforderungen aus dem Erwerbsleben und die Angebote der
Kinderbetreuung sind häufig nicht aufeinander abgestimmt. Die Öffnungszeiten von
Behörden, Ärzten, Einkaufsmöglichkeiten usw. harmonieren damit ebenfalls nicht. Vor
diesem Hintergrund zählt „Hektik und Zeitdruck“ zu den häufigsten Belastungen des
Familienlebens (Laux/Trapp/Vogel 1996; Oberndorfer 1996).
Finanzielle Belastungen entstehen, weil die Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf
nach wie vor ungelöst ist: wenn Erwerbstätigkeit eingeschränkt oder darauf verzichtet
werden muss, weil keine familienfreundlichen Beschäftigungsmöglichkeiten bestehen oder
die gleichzeitig notwendige (Kinder-)Betreuung nicht gewährleistet ist. Auch die „Kinderkosten“ sind nicht zu unterschätzen: Der wissenschaftliche Beirat für Familienfragen hat
in seinem jüngsten Gutachten errechnet, dass allein die direkten Geldaufwendungen eines Ehepaares für ein Kind bis zum vollendeten 18. Lebensjahr bei insgesamt 154.000 DM
in den alten bzw. 92.000 DM in den neuen Bundesländern liegen.6
Psychische und emotionale Belastungen entstehen, weil eine Diskrepanz zwischen den Lebensplänen und der Lebenswirklichkeit entsteht. Familien sind konfrontiert mit sinkenden
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EXPERTISEN
Selbsthilfepotenzialen und dem Verlust gesellschaftlicher Selbstverständlichkeiten. Zunehmende Gestaltungsspielräume in einigen Lebensbereichen gehen einher mit Orientierungsproblemen. In den Familien bestehen uneingelöste Anforderungen an die Geschlechtersolidarität, insbesondere im Hinblick auf Engagement und Betreuungskompetenzen der Männer.
3. Gesellschaftliche Handlungsziele und -möglichkeiten
Wer in der Kindheit Gewalt erleben musste, ist mit größerer Wahrscheinlichkeit Gewalt
generell weniger abgeneigt, wird entsprechend eher Gewalt gegen seine Kinder ausüben
und Gewalt bei anderen eher akzeptieren. Dies ist in individueller Perspektive, wie oben
dargestellt, keine Zwangsläufigkeit; aufgrund der erhöhten Wahrscheinlichkeit wird hier
dennoch von einem ‚Kreislauf der Gewalt’ gesprochen. Gewaltprävention zielt darauf ab,
diesen Kreislauf nachhaltig zu durchbrechen. Deshalb sollte sie alle Menschen – Kinder
und Jugendliche, junge Erwachsene, Eltern, ältere Menschen – im Blick haben.
Gewaltprävention darf sich nicht nur an Personen richten, die in der Vergangenheit
schon Gewalt ausgeübt haben, und/oder die Opfer von Gewalt geworden sind (unter der
Annahme, dass diese besonders gefährdet sind, selbst Gewalt auszuüben). Denn Gewalt
gegen Kinder kann viele Gründe und Ursachen haben. Deshalb gibt es grundsätzlich
keine Bevölkerungsgruppe, die ausgelassen werden sollte.
Die Gesetzesänderungen grenzen entsprechend auch nicht ein.7 Mit der Ergänzung des
§ 16 KJHG hat die Familienbildung eine zusätzliche besondere Aufgabe bekommen, die
sich selbstverständlich an alle Familien richtet.
3.1 Ansätze von Gewaltprävention
Der Begriff Prävention ist historisch stark geprägt von medizinischen bzw. gesundheitlichen Vorgaben. Er bezeichnet „Verfahren, die an den Prozessen bzw. Bedingungen für
die Entstehung von Krankheiten und sozialen Problemen ansetzen.“ (Bauer 1992: 1547)
Nach Caplan können die unterschiedlichen Ansatzpunkte von Prävention unterschieden
werden nach
■ primärer Prävention, die vorbeugend einsetzt und auf den Erhalt oder eine Verbesserung von Bedingungen oder Verhaltensweisen ausgerichtet ist, in der Regel ohne
dass eine konkrete Gefährdung nachgewiesen werden kann. Hierzu gehören z.B. all-
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gemeine Informations-, Aufklärungs- und Werbekampagnen sowie Kompetenzförderung
und persönlichkeitsfördernde Maßnahmen;
■ sekundärer Prävention, die sich speziell an definierte „Risikogruppen“ wendet. Eine
frühzeitige Intervention soll bestimmtes potenzielles Verhalten verhindern. Zur sekundären Prävention gehören zielgerichtete Aufklärungsmaßnahmen und konkrete
Unterstützungsangebote für bestimmte Zielgruppen;
■ tertiärer Prävention, die auf Täter und Opfer zielt. Die Ziele der tertiären Prävention
liegen darin, weiteres Gewalthandeln zu verhindern. Tertiäre Prävention umfasst
insbesondere Unterstützungsmaßnahmen zur Rückfallprophylaxe.8
Des Weiteren wird zwischen Verhaltensprävention, die die individuelle Handlungsfähigkeit
im Blick hat, und Verhältnisprävention, die auf eine Verbesserung der Strukturen und
Bedingungen zielt, unterschieden:
■ Verhaltensprävention greift vorrangig auf psychologische und erziehungswissenschaftliche Erklärungsansätze zurück. Sie setzt auf eine Stärkung der individuellen
Ressourcen und zielt auf einen Wandel persönlicher Verhaltensweisen ab. Die Verhaltensprävention kann vor dem Problem stehen, dass die Personen in der Zielgruppe zunächst
davon überzeugt werden müssen, dass sie Probleme haben (könnten). Damit stellt die
Erreichbarkeit der Anzusprechenden eine besondere Aufgabe dar.9
■ Eine strukturbezogene Verhältnisprävention basiert im Wesentlichen auf sozialwissenschaftlichen Erklärungsansätzen. In der Gewaltprävention liegt der Ausgangspunkt in der Erkenntnis, dass belastete und ‚gestresste’ Familien überdurchschnittlich von Gewalt betroffen sind. Verhältnisprävention kann vor diesem Hintergrund
als anwaltschaftliche Sozialpolitik interpretiert werden, die auf eine familien- und
kinderfreundliche Gestaltung des Lebensumfelds der familialen Netzwerke ausgerichtet ist. Sie agiert damit in Zielsetzung und Strategie in den Handlungsfeldern der
Sozialpolitik.
3.2 Ziele von Familien- und Kinderfreundlichkeit
Stress und Belastungen im Alltag führen dazu, dass Kinder und Jugendliche häufiger
gewalttätig behandelt werden. Im Sinne von Verhältnisprävention sind die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen familien- und kinderfreundlicher zu gestalten. Die Ausrichtung auf Familien- und Kinderfreundlichkeit sollte sich an folgenden Handlungszielen
und Kriterien orientieren:
■ Stärkung der Leistungsfähigkeit der Haushalte mit Kindern.
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EXPERTISEN
■ Stärkung der Leistungsfähigkeit der Familiennetze (haushalts- und generationsübergreifende Netzwerke).
■ Stärkung von Nachbarschaften, Selbsthilfestrukturen, Freiwilligen-Engagement.
■ Entlastung der Familien von strukturellen Rücksichtslosigkeiten.
■ Vorhandensein von Entfaltungs- und Lebensräumen für Kinder und Jugendliche.
■ Vorhandensein von Möglichkeiten zur Mitbestimmung und Mitwirkung von Kindern,
Jugendlichen und Familien.
■ Hilfe und Unterstützung in Notlagen.
Eine derart verstandene Familien- und Kinderpolitik ist nur als Querschnittsaufgabe zu
verwirklichen. Das Handbuch der örtlichen und regionalen Familienpolitik (IES 1996)
belegt, wie umfassend die Handlungsfelder verstanden werden müssen und zeigt Ansatzpunkte in den Bereichen
■ Wohnen und Wohnumfeld
■ Arbeitswelt
■ Betreuungsangebote für Kinder
■ Gesundheitliche Förderung und Hilfen
■ Soziale und kulturelle Familienarbeit
■ Bildungswesen
■ Beratung und Selbsthilfeförderung
Eine Darstellung der Handlungsoptionen in den einzelnen Bereichen würde an dieser
Stelle zu weit führen; auch sind sie für die Bildungsarbeit unterschiedlich relevant.
Unmittelbar deutlich wird hier aber schon der übergreifende Charakter, den die Gestaltung familien- und kinderfreundlicher Umwelten zwangsläufig hat.
Diese Aufgabe ist nicht in das bloße Belieben der handelnden Akteure gestellt, sondern kann sich auf unterschiedliche gesetzliche Grundlagen stützen. Zu nennen sind
insbesondere Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes („Ehe und Familien stehen unter dem
besonderen Schutz der staatlichen Ordnung.“), das KJHG / SGB VIII (insbes. § 1.3 und
§ 81), das Übereinkommen über die Rechte des Kindes (UN-Kinderkonvention) und
weitere Gesetze und Normen, z.B. BauGB (insbes. § 1.5 zur Berücksichtigung sozialer
und kultureller Bedürfnisse bei der Bauleitplanung und § 3 zur Bürgerbeteiligung),
DIN-Normen (Barrierefreiheit u.a.) und Länderrichtlinien (z.B. erweiterte Kinderbeteiligung).
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UND ZIVILGESELLSCHAFTLICHE
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Bei der Ausgestaltung von Familien- und Kinderfreundlichkeit kommt der örtlichen und
regionalen Ebene besondere Bedeutung zu. In kleinräumiger Betrachtung können die
spezifischen Bedürfnisse der Familien und ihrer Mitglieder differenziert bestimmt und
Handlungsmöglichkeiten entwickelt werden, die sich direkt auf das Alltagsleben von
Familien auswirken. Im Nahraum können Familien direkt angesprochen und beteiligt
werden. Bürgerbeteiligung bei der Entscheidungsfindung ist hier ebenso möglich wie
Wecken, Einbinden und Unterstützen von freiwilligem Engagement.
4. Möglichkeiten vernetzten Handelns
Die Querschnittsaufgabe Familienpolitik kann nicht von einzelnen Ämtern, Institutionen oder Einrichtungen allein angemessen umgesetzt werden. Der übergreifende Charakter setzt Kooperationen voraus. Familienbezogene Dienste und Angebote können
eine wesentliche Rolle in diesen Netzwerken einnehmen.
Alle Akteure müssen sich auf die zunehmend komplexeren Lebenssituationen und
Bedürfnislagen von Familien einstellen. Es muss damit gerechnet werden, dass
■ die Isolation der Familien in der Gesellschaft zunimmt.
■ die Anforderungen in der Erwerbstätigkeit unverändert hoch bleiben oder teilweise
steigen.
■ der Bedarf an integrierten Betreuungsangeboten steigt.
■ Bildungsangebote verstärkt mit Beratung verknüpft werden müssen, und zwar nicht
nur im psycho-sozialen Bereich, sondern auch im Sinne einer weitergehenden Bürgerberatung.
■ eine stärkere Vernetzung von Bildungsangeboten mit Angeboten der Beratung und
Betreuung notwendig wird.
■ die Ansprache neuer Zielgruppen wichtiger wird (z.B. „soziale Unterschicht“, Angehörige anderer Kulturkreise), die aus Sicht der Erwachsenenbildung oftmals ‚lernungewohnt’ sind.
Diese Ausdifferenzierung der Bedürfnislagen erfordert eine zunehmende Differenzierung von familienbezogenen Diensten.
Damit steigt gleichzeitig die Notwendigkeit zu vernetztem Handeln. Die folgende Abbildung zeigt, dass eine Vielzahl von familienbezogenen Diensten und Angeboten in den
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EXPERTISEN
Bereichen Bildung, Beratung und Betreuung sowie Hilfen zur Verfügung steht. Die einzelnen Bereiche überlappen sich.
Die Erfahrungen aus der familienbezogenen Arbeit zeigen sehr häufig, dass die Angebote für Hilfe und Unterstützung viel zu wenig bekannt sind. Dies gilt nicht nur gegenüber
den Familien, denen die Inanspruchnahme der vorgehaltenen Angebote dadurch erschwert wird. Es bezieht sich auch auf die Anbieter anderer Leistungen, die, wenn sie
mit spezifischen Problemlagen konfrontiert werden oder gezielt in präventive Angebote
weiterleiten wollen, nicht an die bestehenden zuständigen Dienste und Einrichtungen
vermitteln können. Neben einer gezielten Öffentlichkeitsarbeit der einzelnen Einrichtungen können örtliche Übersichten wie Familienwegweiser, Familienratgeber oder
Familienberichte hier Klarheit für Familien und Anbieter schaffen sowie Kooperationen
nachhaltig unterstützen. Bereits die Erstellung einer solchen Übersicht kann dazu genutzt werden, Kooperationsstrukturen aufzubauen.
Handlungsbeispiele:
■ Der Landesverband Familienbildung Baden-Württemberg e.V. hat Angebote aus
den aktuellen Programmen der Familienbildungsstätten (2001) zum Thema
„Häusliche Gewalt / Konfliktlösung in der Familie“ zusammengestellt.
■ Die Stadtverwaltung Potsdam hat in Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis „Gewalt in der Familie“ einen „Wegweiser Gewalt in der Familie“ herausgegeben.
Betrachtet man die Einrichtungen der Familienbildung, so ist festzustellen, dass sie
über ein breites Spektrum von Kooperationspartnern verfügen (Schiersmann 2000). Fast
alle kooperieren mit anderen Bildungseinrichtungen, die Mehrzahl darüber hinaus mit
Ämtern und Behörden, Kirchengemeinden, Kindergärten und Beratungsstellen, schließlich
werden auch Wohlfahrtsverbände, Selbsthilfeinitiativen, Schulen, Vereine u.a.m. genannt. Neben dem Erfahrungsaustausch werden gemeinsame Bildungsangebote durchgeführt und die Programme abgestimmt; dieses nicht zuletzt, um Konkurrenz zu reduzieren oder zu vermeiden und um die materiellen und personellen Ressourcen zu erhöhen.
Mehr als die Hälfte der Familienbildungsstätten kooperiert auch mit dem Ziel der Vermittlung von Teilnehmerinnen und Teilnehmer.
Die Möglichkeiten sind damit aber nicht ausgereizt. Gerade in einem tabuisierten Bereich wie der innerfamilialen Gewalt ist es schwierig, überhaupt Zugang zu betroffenen
Familien zu gewinnen, um ihnen Informationen und Kompetenzen vermitteln zu kön-
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nen. Bildungseinrichtungen müssen sich die Zugangswege aktiv erschließen. Der Aufbau von Kooperationsstrukturen mit anderen Bildungs-, Beratungs- und Betreuungseinrichtungen kann dafür eine wesentliche Voraussetzung sein. Neben dem mangelnden
Wissen voneinander betonen Bildungseinrichtungen oft weitere (mögliche) Hindernisse
und Stolpersteine.
In der Tat können auch negative Erfahrungen vorliegen, insbesondere wenn
■ die Grundlagen unklar sind (z.B. unangemessene Zielvorstellungen, unklare ‚Spielregeln’, Ängste vor Vereinnahmung).
■ die personellen und/oder materiellen Ressourcen allzu knapp sind.
■ Konkurrenzen nicht überwunden werden können.
■ die Mitgliederbindung (z.B. Konfession) aus Sicht der Einrichtung, aus Sicht möglicher Kooperationspartner oder aus Sicht der Familien dominiert.
Im Interesse der Gewaltprävention ist der Aufbau von örtlichen und regionalen Netzwerken sinnvoll, um Zugangswege zu den Familien in ihren unterschiedlichen Lebenssituationen zu finden und um Angebote machen zu können, die einander optimal ergänzen. Für die Verhaltensprävention und die Verhältnisprävention sind teils unterschiedliche, teils einander überschneidende Wege gangbar.
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EXPERTISEN
4.1 Ausrichtung auf ein gemeinsames Ziel
Der Aufbau von Kooperationsstrukturen zwischen verschiedenen Institutionen, Einrichtungen und Diensten setzt grundsätzlich die Ausrichtung auf ein gemeinsames Ziel voraus. Dieses wird bei der Orientierung an der Verhaltensprävention und Verhältnisprävention entsprechend unterschiedlich ausfallen:
■ Auf der Ebene der einzelnen Familien besteht das Ziel darin, Gewalt gegen Kinder
(und gegebenenfalls weitere Familienmitglieder) präventiv zu verhindern.
■ Bei der Verhältnisprävention stehen die Stärkung der familialen Netzwerke, die Verbesserung der Lebensbedingungen von Familien und der Abbau struktureller Rücksichtslosigkeiten im Mittelpunkt.
4.2 Klärung der Aufgaben
Diese übergeordnete Zielsetzung ist zu präzisieren. Bei der Gewaltprävention gehört
dazu die Verständigung über den Gewaltbegriff und die verschiedenen Formen von Gewalt. Auch die unterschiedlichen Zielgruppen, die unterschiedliche Wege der Ansprache
und unterschiedliche Angebote erfordern, sind dabei zu thematisieren. Dabei sollten
auch lebensräumliche Bezüge (z.B. Einzugsbereiche von Kooperationspartnern; Ballung
von Problemlagen in bestimmten Quartieren) berücksichtigt werden. Vor diesem Hintergrund können die Aufgaben konkretisiert und kleinräumig verortet werden.
Für die Verhältnisprävention ist eine Bestandsaufnahme über Angebote und Bedarfe von
Familien in unterschiedlichen Familiensituationen sinnvoll, um auf dieser Basis möglichst
konkret umsetzbare Handlungsbedarfe und -ziele abzuleiten. Informationen aus der Sozialplanung können dafür wichtige Hinweise liefern. Insbesondere ein Kinder- und Jugendbericht oder ein Familienbericht kann dafür eine wesentliche Hilfe darstellen.
4.3 Arbeitsformen und Arbeitsteilung
Vor dem Hintergrund der Zielsetzung und Aufgabenfindung lassen sich angemessene Arbeitsformen finden. Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass die Beteiligten ihre Kontakte und
Kenntnisse einbringen. Daraus ergibt sich ein kooperativ-arbeitsteiliges Vorgehen.
Das Spektrum der Arbeitsformen reicht
■ vom Aufbau auf Dauer angelegter Kooperationsstrukturen, die davon ausgehen, dass
POLITISCHE
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die Aufgaben auch mittelfristig nicht bewältigt werden können und die Prävention
von Gewalt gegen Kinder sowie die Gestaltung einer familienfreundlichen Umwelt
dem Grunde nach Daueraufgaben sind,
■ über mittelfristige, mit einer Ergebnisfestlegung versehenen Zusammenarbeit, z.B.
runde Tische zum Erfahrungsaustausch, Arbeits- und Projektgruppen zur Bestandsaufnahme und Entwicklung von Konzepten,
■ bis hin zu kurzfristigen oder einmaligen Kooperationen, die dem Kennenlernen und
der ersten Kontaktaufnahme dienen oder nur eine sehr begrenzte Aufgabe verfolgen.
Erfahrungen zeigen, dass es sinnvoll ist, zu Beginn die Ansprüche und Erwartungen
nicht zu überfrachten. Als Einstieg sollten also Anlässe geschaffen werden, die einen
eher einmaligen (z.B. Familienfeste; einmalige Bildungsangebote, die die Akteure und
Familien ‚vor Ort’ ansprechen) oder kurzfristigen Charakter haben. Sollte es gelingen,
Interesse an gemeinsamer Weiterarbeit zu wecken, kann der Aufbau mittel- oder längerfristiger Kooperationen folgen. Denkbar sind sowohl zeitlich als auch thematisch begrenzte Kooperationen und Bündnisse.
Beispiel:
■ Für das „Bremer Bündnis für eine gewaltfreie Erziehung“ haben sich der Deutsche Kinderschutzbund LV Bremen, das Evangelische Bildungswerk und der
Frauengesundheitstreff Tenever zusammengeschlossen, um gemeinsam öffentliche Veranstaltungen und Aktionen mit gewaltpräventivem Charakter durchzuführen.
4.4 Kooperationspartner und Beteiligte am Netzwerk
Die Frage möglicher Kooperationspartner stellt sich nach Klärung der Zielsetzung und
Inhalte sowie der Arbeitsformen. Grundsätzlich sollte der Kreis möglicher Partizipienten
vorab nicht zu eng gefasst werden. Um ein Netzwerk zur Unterstützung von Familien auf
lokaler Ebene aufzubauen, ist an folgende mögliche Kooperationspartner zu denken:
■ Kommunalpolitik und Verwaltung, z.B. Parteien, Ämter (Jugendamt, Sozialamt usw.),
politische Gremien, Kultureinrichtungen, Volkshochschulen.
■ Freie Träger mit ihren unterschiedlichen Einrichtungen und Angeboten, z.B. Kinderund Jugendhilfe, Jugendverbände, Beratungsstellen.
■ Initiativen, Gruppen, Vereine und Verbände, z.B. Selbsthilfegruppen, Elterninitiativen, Bürgerinitiativen, Freizeitgruppen.
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EXPERTISEN
■ Weitere örtliche Institutionen wie Kindertagesstätten, Schulen, Kirchengemeinden,
(Kinder-)Ärzte, Polizei und (Familien-)Gerichte, Wohnungsgesellschaften usw.
Gerade die Verhältnisprävention bietet Ansatzpunkte, den Kreis möglicher Interessenten
und Akteure weit zu fassen. Häufig wird etwa übersehen, dass beispielsweise auch Seniorenvereinigungen Ansprechpartner und Bündnispartner für Fragen von Familien- und Kinderfreundlichkeit sein können, etwa bei Barrierefreiheit oder der Gestaltung des ÖPNV.
Bereits bestehende informelle Kontakte sollten genutzt werden und können den Einstieg in die Vernetzung erleichtern. Es ist aber notwendig, sich einen Überblick über die
lokal agierenden möglichen Kooperationspartner zu verschaffen, damit sich nicht ein
(unnötig begrenzter) Kreis zusammenfindet, der von außen als ‚geschlossener Zirkel’
wahrgenommen wird.
5. Ansatzpunkte für die Bildungsarbeit
Im Sinne der präventiven Ziele lassen sich zwei Perspektiven für die Bildungsarbeit
formulieren:
■ Perspektive A: Gewaltpräventive Arbeit mit Familien.
■ Perspektive B: Mitarbeit an einem gewalt-ablehnenden gesellschaftlichen Klima.
5.1 Perspektive A: Gewaltpräventive Arbeit mit Familien
In der direkten Ansprache von Familien sind unterschiedliche, einander in einigen Bereichen auch überschneidende Handlungsansätze möglich.
■ Mit einem primärpräventiven Ansatz geht es um allgemeine Information (Umgang
mit Aggressionen, kindliche Entwicklung, gesetzliche Bestimmungen usw.) und um
Kompetenzstärkung im Umgang mit Stress und Konflikten, auch im Rahmen von praktischen Übungen.
■ Im Rahmen der Sekundärprävention sollen ‚gewalt-gefährdete’ Familien gestützt werden; die Maßnahmen überschneiden sich mit denen der Primärprävention.
■ In der Tertiärprävention geht es um die Arbeit mit Familien mit Gewalterfahrungen
(Gewalt gegen Kinder, Gewalt gegen Frauen). Dabei stellt sich besonders die Frage
der Abgrenzung zur Beratung sowie zur Intervention. Wie oben dargestellt, ist das
Wissen und die Kenntnis anderer verfügbarer Angebote eine wichtige Voraussetzung
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UND ZIVILGESELLSCHAFTLICHE
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für eine enge Kooperation; diese wiederum ist notwendig, um die Bildungseinrichtungen nicht zu überfordern.
Eine besondere Herausforderung ist das Erreichen der Eltern. Angesichts der nicht erst
seit der Gesetzesnovelle bestehenden gesellschaftlichen Tabuisierung – über Gewalt in
der Familie wird nicht gesprochen – stellt sich die Frage des Zugangs zu den Familien in
besonderer Weise. Hinzu kommt, dass prinzipiell keine gesellschaftliche Gruppe ausgelassen werden sollte. Bei den Zielgruppen sind also besonders zu nennen
■ Frauen und Männer
■ Eltern und Nicht-Eltern
■ Sozial belastete Familien
■ Migrantenfamilien
Für den Zugang zu den Familien ist eine Kooperation mit anderen Einrichtungen angezeigt, die einen breiten Querschnitt der Kinder und Eltern erreichen, insbesondere Kindergärten, Horte, Krabbelgruppen, Krippen, Schulen, Einrichtungen der Jugendhilfe.
Ansätze hierzu liegen vor, sie sind auszubauen und weiter zu entwickeln. Notwendig
sind insbesondere offene Angebote und zugehende Angebote.
Beispiel:
■ In der Region Ebermannstadt/Forchheim haben die Landvolkshochschule Feuerstein, der Familienbund der Deutschen Katholiken und die Diözesanstelle
Familie ein Elternhilfe-Netzwerk „Mach halt vor Gewalt“ aufgebaut. Ziele sind
Gewaltprävention, Kontakte, Bereitstellung familienunterstützender Hilfsangebote, Bewusstseinsbildung und Verbesserung der sozial- und familienpolitischen
Verhältnisse. Im Rahmen eines vielgestaltigen Angebots werden in einem
Elterncafe bei Kaffee und Kuchen Informationen und Unterstützung angeboten; für Kinderbetreuung ist gesorgt. Wichtig ist eine umfangreiche Pressearbeit, die für Bekanntheit sorgt.
5.2 Perspektive B: Mitarbeit an einem gewalt-ablehnenden gesellschaftlichen
Klima
Einrichtungen der Erwachsenenbildung und Familienbildung können einen wichtigen
Beitrag zur Stärkung der sozialen Netzwerke von Familien und zum Abbau von struktu-
72
EXPERTISEN
rellen Rücksichtslosigkeiten leisten. Mit der strukturellen Unterstützung gelingenden
Familienlebens tragen sie im Sinne der Verhältnisprävention zur Ablehnung von Gewalt
in der Familie bei.
Ein Ansatzpunkt für die Bildungsarbeit liegt in der Initiierung von und der Mitwirkung
in lokalen Netzwerken zur Schaffung einer familien- und kinderfreundlichen Umwelt:
Bildungseinrichtungen können beispielsweise offene Abende zu familienbezogenen Themen unter Einbeziehung der örtlichen Politik und Verwaltung durchführen und durch
ihre Kontakte zu fachlichen Experten kompetent gestalten. Derartige Veranstaltungen
oder Veranstaltungsreihen können den Ausgangspunkt für weitergehende und auf Dauer
angelegte Aktivitäten bilden.
Darüber hinaus können sie qualifiziert an der Schaffung der Voraussetzungen für die
Beteiligung von Familien mitwirken. Derzeit ist bundesweit eine zunehmende Bedeutung von Bürgerbeteiligung, Mitwirkung und Mitverantwortung festzustellen. Auf allen
Ebenen, bei den Familien ebenso wie in Politik und Verwaltung, besteht hierfür eine
große Offenheit und Bereitschaft. Sie äußert sich allerdings mit veränderten Motiven
und Ausprägungen; traditionelle Formen von Engagement und Mitwirkung haben mit
dem Bedeutungsverlust traditioneller Milieus an Bedeutung verloren. Für die Bildungsarbeit ergeben sich neue Ansatzpunkte, denn sie kann Interesse wecken, Möglichkeiten
entwickeln und aufzeigen sowie Kompetenzen und Befähigungen für Engagement fördern. Neben Angeboten für die Familien besteht die Möglichkeit der Schulung von
Multiplikatorinnen und Multiplikatoren.
Anmerkungen
1
Begrifflich besteht eine gewisse Nähe zur ‚strukturellen Rücksichtslosigkeit’ (vgl. Abschnitt 2.2).
Strukturelle Gewalt bezieht sich etwa auf ungleiche Machtverhältnisse und Ressourcen sowie
ungleiche Lebens- und Bildungschancen. So wichtig die Berücksichtigung dieser Grundlagen auch
ist, so scheint es dennoch fraglich, ob es angemessen ist, hier unmittelbar von Gewalt zu sprechen.
2
Nach der Statistik des BKA etwa waren von den erfassten Tatverdächtigen zu sexuellem Missbrauch von Kindern immerhin 16 % unter 18 Jahren.
3
Aus der Autoritarismus-Forschung ist z.B. bekannt, dass ein Aspekt auch die Sprache sowie schichtspezifische ‚Kulturen’ sein können, mit der das Sprechen über Gewalt unterschiedlich tabuisiert ist
POLITISCHE
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(vgl. z.B. Jaerisch 1975). Dies kann zu verzerrten Ergebnissen führen, da die Befragungsergebnisse
über Sprache vermittelt gewonnen werden.
4
So hat Pfeiffer in türkischen Familien überdurchschnittliche Gewaltbelastungen festgestellt.
5
Angaben für 1999; Quelle: Eurostat
6
Angaben für Ehepaare mit einem Kind. Hinzu kommt der hier unberücksichtigte elterliche Zeitaufwand. Wird dieser bewertet und werden die öffentlichen Aufwendungen hinzugenommen, liegt die
Summe der Gesamtaufwendungen bei 716.000 bzw. 551.000 DM (alte/neue Bundesländer). Die
Eltern tragen hiervon etwa zwei Drittel. Quelle: Wissenschaftlicher Beirat für Familienfragen des
BMFSFJ 2001: 153ff.
7
Neufassung des §1631 Abs. 2 BGB: „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche
Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“
Die Neufassung des §16.1 SGB VIII ergänzt die Leistungen der allgemeinen Förderung der Erziehung in der Familie: „Sie sollen auch Wege aufzeigen, wie Konfliktsituationen in der Familie
gewaltfrei gelöst werden können.“
8
Ausführlicher dargestellt sind diese Ansätze in der Expertise von Schmälzle „Gewaltfreie Erziehung: Theorie und Praxis eines pädagogischen Leitbildes“.
9
Wo die Ansprache nicht direkt gelingt, kann Schlüsselpersonen, die den Kontakt herstellen und
Ansprechbarkeit ermöglichen, besondere Bedeutung zukommen. Die Schulung dieser Personen
kann eine wichtige Aufgabe für die Bildungsarbeit darstellen.
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EXPERTISEN
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76
EXPERTISEN
Udo F. Schmälzle
Gewaltfreie Erziehung: Theorie und
Praxis eines pädagogischen Leitbildes
„Der Quäler und der Gequälte sind Eines. Jener irrt, indem er sich der Qual, dieser, indem er
sich der Schuld nicht teilhaftigt glaubt.“
Arthur Schopenhauer
0. Vorbemerkung
Im Herbst 1992 retteten Polizeibeamte Asylantenfrauen vor der Vergewaltigung durch
Rechtsradikale. Diese Meldung ging um die Welt und war in aller Munde. Eine Religionslehrerin erlebte, wie in der 9. Hauptschulklasse ein Bursche das Verhalten der Rechtsradikalen im Unterricht rechtfertigte: „Das ist richtig so!“ Beim Nachfragen erläuterte er:
„Die Männer der Frauen sollen durch die Vergewaltigung gedemütigt werden!“ Der junge
Mann war 15 Jahre alt.
Der Dialog zwischen der Lehrerin und ihrem Schüler im Religionsunterricht entschlüsselt
das geheime Lernprogramm, das bis dato im diffusen Medien- und Literaturspektakel läuft:
Wer draufschlägt, wird wahrgenommen! Der Starke hat das Sagen! Der Schüler hat dieses
Programm begriffen und geht zur Lehrerin und ihrem „sozialen Geschwalle“ auf Konfrontationskurs. Begriffen haben es auch Betrofzene und potenzielle Opfer. Die Angst vor
Gewalt treibt alte Menschen und Behinderte noch mehr in das soziale Abseits. Die Bereitschaft zur Gegengewalt wächst, verstärkt durch ein politisches Programm gegen den Terrorismus, das auf Gewalt setzt, Menschen, Länder und Regionen dämonisiert und glaubt, mit
Waffengewalt die Wurzeln des Bösen ausrotten zu können. Verselbstständigt sich der Hass?
Erleben wir mit dem Ende des sozialen Leitbildes ein weiteres Risikopotenzial, das neben
Gen- und Atomtechnik das Projekt der Moderne gefährdet? Hier stellt sich die Frage, was
wir bis heute als Kirchenleute, Wissenschaftler, Politiker und Journalisten von diesem
geheimen Lernprogramm im „circle of violence“ begriffen haben, vor allem, wie wir ihn –
bewusst oder unbewusst – ständig am Leben erhalten. Wird dieser Teufelskreis der Gewalt
nicht durchbrochen, weil alle – mehr als wir vermuten – davon leben?
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77
1. Wahrnehmung von Gewalt als Grundlage einer gewaltfreien
Erziehung
Die gegenwärtige Diskussion des Gewaltproblems zeigt, dass es bei Wissenschaftlern
und Praktikern bereits bei der Analyse zu keinem Konsens kommt. Trotz steigender Gewaltdelikte banalisieren Berichte den gegebenen Gewaltkonflikt mit der Frage, ob das, was
früher eine „Bubenrauferei“ war, die Jugendliche unter sich regelten, heute von den
Erwachsenen zu einem Gewaltdelikt hochstilisiert werde. Aus soziologischer Perspektive
signalisiert das Gewaltproblem einen Generationenkonflikt. Die Erwachsenen, z.B. Eltern, Lehrer und Polizei, mischen sich zu stark in das Leben des heutigen Jugendlichen
ein und lassen ihn nicht genügend an der Lösung seiner eigenen Probleme arbeiten.
Eckert (1993, 84), Soziologe an der Universität Trier, vermutet, das die Skin- und Fascho-Gewalt ein Phänomen jugendlicher Identitätsverwirrung darstellt und verweist auf
die „Rocker“ früherer Jahre, die von ihren „Bräuten“ gezähmt wurden. Er geht nicht auf
die harten Fakten der Gewalt ein, die heute auch von Frauen ausgeht. Seine „Bräute“
mischen in der Zwischenzeit mit. Ehefrauen, die ihre Männer schlagen ebenso. Das
„Fazit“ von Pfeiffer und Wetzels (2001, 139), dass Jugendgewalt „primär männlich“ sei,
verleitet dazu, sich nicht adäquat mit den spezifischen Formen der Gewalt auseinander
zu setzen, die von Frauen ausgeht. Sicher ist, dass die Gewalt in der Familie statistisch
primär eine Gewalt von Männern gegen Frauen darstellt. Klar ist aber auch, „dass Frauen
bei Kindesmisshandlungen bemerkenswert häufig (nach der Gewaltkommission) ‚polizeilich in Erscheinung treten’ (sie tragen die Hauptlast der Kindererziehung) und auch
bei der Gewalt gegen Alte ist jeder dritte Täter weiblich (Frauen tragen die Hauptlast
der Pflege)“ (Rückert/Gehrmann 1995, 18).
Wenn die Fakten der Gewalt bereits so schwierig wahrzunehmen sind, dann ist es nicht
verwunderlich, dass beim Versuch der Diagnose die Beurteilung von Sachverhalten und
Ursachen noch weiter auseinanderfällt und im dritten Schritt, mit der Suche nach
Handlungskonzepten, die große Sprachlosigkeit beginnt.
1.1 Tabuisierung und Verdrängung
Die Tatsache, dass wir im Vergleich zu den USA und Japan so wenig Gewaltforschung
betrieben haben, hängt mit der Tabuisierung dieses Themas zusammen. Die Gewaltkommission (Schwind/Baumann, Bd. II, 133ff) geht ausführlich auf diese Forschungsdefizite ein. Diese Tabuisierung begleitet die Gewaltdiskussion bereits seit den 70er Jah-
78
EXPERTISEN
ren. Weis (1993, 123ff) schildert in einer Fallstudie zu der Schule, in der ein Schüler zum
ersten Mal auf einen anderen geschossen hat, die Verdrängungsdynamik, die nach der Tat
zu überwinden war.
Die Ereignisse in Erfurt haben erneut bestätigt, dass sich Staat und Gesellschaft in der
Bundesrepublik Deutschland dem Gewaltproblem nur unter dem Druck erlebter Opfer von
Gewalt stellen. Das Gewaltproblem wurde lange Zeit bagatellisiert und verdrängt. Behörden und Schulleitung sind eher zurückhaltend, wenn es darum geht, offen über die Gewaltprobleme in Schule und Gesellschaft zu sprechen. Sie fürchten um den guten Ruf ihrer
Schulen. Die Diskussion und Problematisierung des Gewaltverhaltens beginnt hierzulande
meist erst dann, wenn es Opfer gegeben hat. Dazu ein Beispiel: Nach zwei Jahrzehnten
Verdrängung wurde in der am 3. Februar 1992 vom ZDF ausgestrahlten Sendung „Zündstoff“ zum Thema „Gewalt in der Schule“ von Gabriele Kraiker und Wolfgang Konerding die
folgende, bisher noch verheimlichte Studie einer Hamburger Schulbehörde von 1974 veröffentlicht, nach der alle befragten Lehrer übereinstimmend angeben, dass sich im Verhalten der Schüler untereinander eine zunehmende Verrohung mit folgenden Erscheinungsformen abzeichnete:
■ Werfen von Knallkörpern auf Mitschüler.
■ Mehrere Schüler vergreifen sich an einem Einzelnen; Größere prügeln Kleine.
■ Gegenseitiges Anspucken.
■ Gegenseitiges Kleiderzerreißen.
■ Es wird in Manteltaschen uriniert u.a.m.
■ Brutale Schlägereien. Kampfmethode ist das Würgen.
■ Bandenbildung zum Zweck der Terrorisierung oder Erpressung.
Korte (1993, 76f) greift die Frage nach den „Belangen der Gemeinschaft und den Gestörten“ auf, wenn auf solche Ereignisse nicht reagiert wird. Krumm (1993, 186) hat schon
sehr früh über die Forschungsergebnisse an norwegischen (Olwans 1991) und englischen
Schulen (Tattum/Herbert 1990) berichtet, die durch eine systematische Einschaltung der
schulischen Öffentlichkeit in kürzester Zeit die Gewaltakte in der Schule reduzieren konnten. Im Bereich der „Gewalt in Familien“ bilden Verschleierung und Verschweigen immer
noch den Regelfall. In zwei Dritteln der Fälle von so genannter „häuslicher Gewalt“ muss
nach den Angaben des Bayerischen Landeskriminalamtes die Polizei wieder ohne Anzeige
abrücken, da sich Opfer und Täter bereits wieder „geeinigt“ haben und oft sogar gegen die
Ordnungshüter tätig werden. Was sich unter dem Tatbestand „häuslicher Gewalt“ jedoch
verbirgt, zeigt die Statistik des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, das
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79
1995 eine Untersuchung zu „Opfererfahrungen in engen sozialen Beziehungen“ veröffentlichte, die auf einer repräsentativen Stichprobe von 5.711 Deutschen beruhte:
❐ „Fast sechzehn Prozent der Bevölkerung waren in den letzten fünf Jahren Opfer
von ‚körperlicher Gewalt in engen sozialen Beziehungen’ geworden.
❐ Über achtzig Prozent der Opfer von physischer Gewalt standen dem Täter nahe.
❐ Rund zehn Prozent aller Befragten zwischen sechzehn und sechzig waren in ihrer
Kindheit mindestens einmal massiv von ihren Eltern misshandelt (gewürgt, mit
der Faust geschlagen) worden.
❐ Rund siebzig Prozent waren körperlich gezüchtigt worden (vom Ohrfeigen bis zum
Schlagen mit einem Gegenstand).
❐ Von den Frauen zwischen Zwanzig und Sechzig sind 6,1 Prozent mindestens einmal
von Familienangehörigen vergewaltigt oder genötigt worden. Hochgerechnet sind
das rund 1,4 Millionen Frauen in Deutschland.
❐ Fast jede fünfte Frau ist als Kind einmal Opfer von sexuellen Übergriffen gewesen.
❐ 6,2 Prozent der Mädchen hatten bis zum Alter von vierzehn Jahren sexuelle
Missbrauchserfahrungen mit Körperkontakt. Jeder fünfte Täter war der Vater oder
Stiefvater seines Opfers.“ (Rückert/Gehrmann 1995, 18)
Auf der Grundlage dieser Forschungen macht sich jeder, der Gewaltverhalten verniedlicht
oder vertuscht, mitverantwortlich, wenn Menschen weiter Opfer von Gewalttätern werden.
1.2 Auf den Spuren eines Faszinosums: Das Schicksal gewaltfreier
Erziehungsperspektiven in einer Kultur der Gewinner
Die Analyse von Gerichtsbeschlüssen, literaturkritische Untersuchungen zu Siegermythologien in der Dichtung und Literatur und erst recht die analytisch-therapeutische
Literatur belegen, dass bis heute der Täter und nicht das Opfer die Wahrnehmung bestimmt und dass von der Antike bis in die Gegenwart – wie Bettelheim (1980) und
Wertheimer (1986) belegen – nicht tötungshemmende Bewusstseinsbildung durch Beschreiben von Affekten wie Bedauern, Scham, Mitleid und Trauer, sondern Aggression,
Provokation, Kampf, Tötung und Schändung im Mittelpunkt stehen. Wo liegen die Ursachen dafür, dass Gefühle wie Mitleid, Empathie und Scham als Defekte degradiert werden?
Gewaltverhalten beinhaltet immer einen aggressiven, vom Gegenüber nicht erlaubten Zugriff
auf dessen physische oder psychische Existenz (vgl. Schwind/Baumann 1990, Bd. I, 35f; Bd.
II, 8f). In diesem Zugriff werden bereits Regeln des begrenzten und kontrollierten Macht-
80
EXPERTISEN
kampfes, in dem Menschen zunächst einmal Stärken und Schwächen, Kompetenzen und
Kompromisse ausprobieren und ausloten verletzt, indem z. B. die physische Intimdistanz,
das Tabu und das Verbot, den anderen unerlaubt zu berühren, nicht mehr beachtet werden.
Die perverse Faszination, die vom unerlaubten Zugriff auf den Körper des Anderen bis hin
zum Tötungsakt ausgehen kann, muss scheinbar in der Unwiderruflichkeit und Endgültigkeit dieses Aktes bestehen. In diesen Siegermythologien leben die Allmachtsphantasien
des Menschen auf, nämlich der Wunsch, unbesiegbar zu sein und sich unbesiegbar zu
machen. In diesen Allmachtsphantasien macht ein Täter sich zum Absolutum. Seine Stärke wird zum Gesetz. Er macht sich zu so etwas wie Gott, gewissermaßen zum Götzen. Wenn
dies von einem Menschen, von einer Nation, von einer Rasse oder von einer Religion
vollzogen wird, muss der Mitmensch zum Opfer werden. Wenn wir die Siegermythologie so
betrachten, ist es eine Götzenmythologie. Der Mensch verabsolutiert sich selbst im Überlebenskampf und vergisst dabei, dass er selbst nur Geschöpf ist und als solcher Bruder
oder Schwester für jeden anderen Menschen und für jedes andere Geschöpf darstellt.
Identität und Selbstwertgefühl können auf dieser Grundlage nur durch Kampf und Sieg
entstehen und müssen in immer neuen Kämpfen bestätigt werden. Es ist deshalb nicht
verwunderlich, wenn heute von Gewalttätern zu hören ist: „Ich schlage, also bin ich!“ In
diese neue, von der Gewaltfaszination geprägte Lebenswelt von Jugendlichen aus der
rechtsradikalen Szene führt Bill Buford (1992) in seinem Buch „Geil auf Gewalt“ ein. Bei
einem Vortrag in München (1993, 10) stellte er fest: „Gewalt ist eine der am intensivsten
erlebten Erfahrungen …, die Erfahrung absoluter Vollständigkeit.“ Farin und Seidel-Pielen
(1993) dokumentieren in ihren Materialbänden mit Interviews, Reportagen und Praxisberichten aus der Jugendszene: „Ohne Gewalt läuft nichts!“ (Farin/Seidel-Pielen 1993)
Gabi Rückert (1995, 21) berichtet auf der Grundlage von Gerichtsgutachten zum Thema
Gewalt in der Ehe von einem Mann, der seine Frau vergewaltigt, um die Angst in den
Augen der Frau zu erleben: „Die zweite Frau in Müllers Leben, die einen Namen trägt,
heißt Uschi und steht für seine einzige Liebesbeziehung. ‘Da war ich verliebt. Ich war
ein halbes Jahr mit ihr zusammen, bevor ich mit ihr geschlafen habe … Ein Jahr nach
der Geburt des Kindes beginnt Müller, seine Frau zu prügeln. Er zwingt sie unter Schlägen zum Geschlechtsverkehr. Immer hat er getrunken, das weckt den Unhold, der in ihm
schläft. ‘Solange das mit der Liebe neu war, war alles sehr schön’, sagt Müller. ‘Aber es
war nie meine Erfüllung. Die Erfüllung für mich ist die Macht und die Angst in den Augen
der Frau.’ Eines Tages geht der Mann mit dem Fleischermesser auf seine Frau los. ‘Pass
auf, du Schlampe, jetzt kriege ich dich! Ich mach’ mit dir, was ich will.’“ Sexualität
maskiert sich in der Aggressivität und umgekehrt. Sutterluty (1998, 30) verfolgt bis in
G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G
81
die Sprache der Jugendlichen die Semantik des Gewalt- und Sexualaktes: „Ficken“ ist
ein Synonym für „jemand zusammenschlagen“, „auf ihn eintreten“ oder „einstechen“.
Analytisch betrachtet erleben wir bei dieser Mixage aus Aggressivität, Sexualität und
Allmachtsphantasien die Kollision unbewältigter Bedürfnisse, die den Täter überschwemmen, das reflexive Potenzial ausschalten und ihn blind machen für das Opfer. Von dieser
Mixage aus Aggressivität und Sexualität geht eine eigentümliche Faszination aus.
1.3 Das Geschäft mit dem Faszinosum „Gewalt“
In Kunst und Literatur resultieren bis heute die wirkungsvollsten Effekte aus der
Thematisierung des Gewaltproblems. Der audiovisuelle Medienspektakel produziert schizophrene Doppelbotschaften am laufenden Band. Im manifesten Protest spricht doppelzüngig das Faszinosum Gewalt zu uns. Solche Berichterstattung reproduziert nach Kunczik
(1998) Gewalt. Sicher ist, dass die medialen Berichterstattungen von den Fronten des
Golfkrieges, von den Stammesfehden rechter und linker Politgangs, von den abgefackelten
Ausländer- und Asylantenwohnungen und den Horrorszenen in Schulen und Kindergärten
das Gewaltproblem eher anstacheln und bestehende Ohnmachtsgefühle verstärken.
Ohder (1992, 65) spricht vom „Fremdbild“, das Medienberichte vom gewalttätigen Jugendlichen konstruieren und beweist mit exakten Analysen zur Berliner Tagespresse,
dass dieses Bild nicht nur ein fremdes, sondern ein gemachtes und verfälschtes ist.
Vertreter der Presse gingen sogar so weit, dass Jugendlichen beim Phototermin Schlagwerkzeuge in die Hand gedrückt wurden. Selektive, Tatsachen verzerrende und panikmachende Berichte zur Jugendgewalt fördern Gewaltverhalten und Gewaltbereitschaft.
„Jugendliche, die ständig mit einem bestimmten Fremdbild konfrontiert sind, beginnen
sich diesem anzunähern, werden ‘innerlich’ zu dem, als was sie ‘von außen’ qualifiziert
werden.“ (Oder 1992, 65) Stadler stellt in der Neuen Zürcher Zeitung (21.02.1993) schlicht
fest: „Wir sind des Mordes schuldig.“ Umgekehrt bestätigt Oliner in seiner Untersuchung
unter „Retterinnen und Rettern“ im Holocaust, dass der Verzicht auf die körperliche
Züchtigung in der Erziehung der Herkunftsfamilie, also der Verzicht auf Gewalt in der
Familie den höchst signifikanten Indikator darstellt, der den „Retter“ von dem „Nichtretter“ unterscheidet (Oliner/Oliner 1988). Das Ziel, eine Gesellschaft zu schaffen, in
der Konflikte gewaltfrei gelöst werden, lässt sich auf der Grundlage dieser Forschungsergebnisse erreichen, wenn Kinder und Jugendliche in Familie und Schule erleben und
erfahren, wie Konflikte im Dialog gelöst werden. Das Züchtigungsrecht der Eltern und
die Anwendung körperlicher Gewalt in der Familie (vgl. Bussmann 2000; Albrecht 1994;
82
EXPERTISEN
Coester 1996; Schneider 1987; Vaskovics 1999; Woog 1998) ist damit nicht nur im Kontext von Elternrecht und Kinderwohl zu diskutieren. Der Verzicht auf die physische Gewalt und Praxis einer gewaltfreien Erziehung in Familie und Schule sichert für eine
Gesellschaft die entwicklungspsychologischen Konstitutionsbedingungen für prosoziales
Verhalten, Empathie und Toleranz (Martin 199; Schubarth 2000).
1.4 Die Bedeutung medialer Gewaltdarstellungen
Gewaltdarstellungen in den Medien korrespondieren mit erlebter und praktizierter Gewalt auf der Straße, in Politik, Schule und Familie. Die Medien lassen etwas wirklich
werden, was in uns selber wirklich ist. Gewalt in den Medien berührt den nicht, der
selbst der Versuchung widerstehen kann, eigene Interessen und Bedürfnisse in den
gegebenen Beziehungsfeldern und Alltagssituationen mit Gewalt durchzusetzen. Gewaltverhalten und Gewaltbereitschaft im Alltag werden sich nicht dadurch verändern, dass
die Gewalt aus der Welt der Medien in einem neuen Bildersturm eliminiert wird. Gewalt
in den Medien korreliert mit der Funktionalisierung und Entzauberung der Lebenswelt
von Jugendlichen und Erwachsenen im Kontext universeller technischer Machbarbeitsphantasien. „Man konzentriert sich auf Reizsteigerung und Realitätserweiterung
… Auf dem Markt bestehen kann nur, was bei den Rezipienten ‘ankommt’, was ihren
Nerv trifft“ (Paus-Haase 2000, 240). Die Inhalte der Medien werden sich verändern,
wenn die Zahl der Menschen wächst, die in Familie, Schule und Gesellschaft an Spannungen und Konflikten ohne den Einsatz von psychischer und physischer Gewalt arbeiten. Die Medien sind der Spiegel unserer eigenen Innenwelt. Bettelheim (1980, 212)
beschrieb schon sehr früh den Befund, dass das Vorrücken der Gewaltszenen „in den
objektiv berichtenden Nachrichtensendungen“ ein Anzeichen dafür ist, „wie weitverbreitet
die Faszination durch Gewalt und das Bedürfnis nach imaginärem Abreagieren aggressiver Neigungen sind“ (Bettelheim 1980, 212). Die Frage nach der Wirkung der Medien
wirft uns auf uns selbst zurück. „Das Verhalten von Kindern und Jugendlichen im Zusammenhang mit Gewalt spiegelt lediglich die bei den Erwachsenen vorherrschenden Muster wider.“ (Bettelheim 1980, 212) In den Medien wird Lebenswelt simuliert und konstruiert. Die Simulation von möglichen Lebenswelten geschieht genauso in der Literatur, in Mythologien und Religionen. Der Unterschied besteht darin, dass der Verbreitungsgrad und die Intensität der Vermittlung von heutigen Medienprodukten nicht mit der
Reichweite von Platons „Politeia“, den Utopien eines Augustinus in der „Civitas Dei“,
der „Wolfsanthropologie“ eines Thomas Hobbes oder den Theorien zum „Übermenschen“
in Nietzsches Zarathustra vergleichbar sind.
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83
Henk Hoekstra (1992, 70) beschreibt die neuen Kommunikationsformen, die mit der
audiovisuellen Sprache möglich sind, so dass ein Film oder Videoclip in kürzester Zeit
mit seiner Botschaft in die unterschiedlichsten Kulturen eindringen kann. Mit Pierre
Babin stellt er fest: „Bild und Wort sind … eine neue Ehe eingegangen“. Film und
Fernsehen sind heute die Geschichtenerzähler. „Nach der Ablösung der Wort- durch die
Schriftkultur erleben wir gegenwärtig mit der Mediatisierung das Anbrechen einer neuen
audiovisuellen Kultur.“ (Hoekstra 1992, 70) Kennzeichen dieser Kultur ist die unbegrenzte Simulation von Lebenswelten in Computerspielen, Videoclips, Vidoproduktionen
und Filmen und eine weder mit der Wort- noch Schriftkultur vergleichbare Multiplizierbarkeit dieser virtuellen Lebenswelten.
Es ist unbestritten, dass diese audiovisuelle Revolution nicht folgenlos bleiben und der
Snobismus der 80er Jahre über die Harmlosigkeit der Medien überwunden werden muss.
Die Menschenbilder, die in den Medien entwickelt werden, bleiben nicht ohne Folgen,
genausowenig, wie der „Übermensch“ von Nietzsche ohne Folgen geblieben ist. Ich will
jedoch mit aller Klarheit bestreiten, dass die Medien die eigentliche Ursache für die
Gewaltbereitschaft und das Gewaltverhalten in unserer Gesellschaft sind. Ich will ferner
bestreiten, dass es möglich ist, über Verbote von Medieninhalten das Gewaltproblem in
einer Gesellschaft lösen zu können. Bettelheim führt solche gewaltorientierten Feldzüge gegen die Gewalt ad absurdum: „So läuft es am Ende darauf hinaus, dass wir Gewalt
mit Gewalt unterdrücken und damit unseren Kindern beibringen, dass es unserer Meinung nach keine vernünftige oder intelligente Art gibt, mit ihr fertigzuwerden. Dabei
würden dieselben Eltern bei anderer Gelegenheit der Ansicht zustimmen, Unterdrückung
sei die untauglichste Art, mit Trieben umzugehen.“ (Bettelheim 1980, 210) Es ist unbestritten, dass neue Gesetzesbestimmungen bezüglich rassistischer, gewaltverherrlichender
oder jugendgefährdender Programme durchgesetzt werden müssen und dass wir uns in
der Gesellschaft, was den Kinder- und Jugendschutz angeht, hier in einem Vollzugsdefizit befinden.
Empirische Forschungen belegen, dass Medienkonsumenten ganz unterschiedlich mit
dem umgehen, was sie sehen. Es gibt nicht nur Hinweise für das Vorbildlernen durch
das, was Kinder und Jugendliche in den Medien sehen. Gewaltdarstellungen können bei
Kindern und Jugendlichen, die in Familie, Schule und Gesellschaft gewaltlose und prosoziale Vorbilder und Wertmaßstäbe erleben, ein Gegengift gegen Gewaltbereitschaft
und Gewaltverhalten in dem Sinne provozieren, dass Kinder und Jugendliche lernen,
sich abzugrenzen. Gefährdet sind die Gruppe der Vielseher von medialen Gewalt-
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EXPERTISEN
darstellungen und verstärkt solche, die in einem Milieu leben, in dem die in den Medien
virtuell dargestellten gewaltorientierten Handlungsweisen real praktiziert werden (Sturm
1981, 137-148). Jo Groeber (1988, 479) fasst die Ergebnisse der internationalen Studie
von Rowell Huesmann (1986) folgendermaßen zusammen:
„Für die interkulturelle Studie lässt sich zusammenfassend festhalten:
❐ Aggression steht in systematischem Zusammenhang mit dem Verhalten der Eltern.
Dies zeigt sich interkulturell. Eltern sind zunächst die wichtigste Sozialisationsinstanz.
❐ Aggression weist universal über die Zeit eine hohe Stabilität auf.
❐ Belege für eine langfristige Senkung von Aggression durch Gewaltdarstellungen
finden sich in keinem Land.
❐ Das Ausmaß der Wirkung von Fernsehgewalt auf aggressives Verhalten ist kulturabhängig. Deshalb lassen sich amerikanische Befunde zu diesem Bereich nicht
ungeprüft auf andere Länder übertragen.
❐ Gewalt in der konkreten Umwelt, normative Heterogenität und ein eher homogenes, gewaltbezogenes Programm tragen zu einem reziproken Prozess der Aggressionsentwicklung bei.
❐ Der Anteil der Medien an diesem Prozess hängt von ihrer Dominanz gegenüber
den anderen Faktoren ab. Er kann kulturspezifisch vergleichsweise hoch sein.“
Diese These wird noch plausibler und einsichtiger, wenn wir sein „Modell zu kurzfristigen und langfristigen Wirkungen von Mediengewalt“ betrachten. Gewaltdarstellungen
in Medien, die mit dem Gewaltverhalten in der Familie korrelieren und homogen sind,
verstärken und potenzieren das Gewaltpotenzial. Kinder, die das Gegenteil zur Mediengewalt in der Familie erleben, sind nicht so gefährdet. In ihnen wird durch die Gewaltdarstellungen der von Michael Charlton und Klaus Neumann (1990) beschriebene „innere Dialog“ ausgelöst, in dem das Kind virtuelle Medienwirklichkeit und primäre Familienwirklichkeit in Bezug setzt und vergleicht.
Wer wirklich an der Wurzel des Gewaltproblems arbeiten und Gewaltbereitschaft abbauen will, muss sich auf die Alltags- und Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen in
Schule und Familie einlassen und dort der Frage nachgehen, wie mit oder ohne Gewalt
gelebt wird und welche Erfahrungen Kinder, Jugendliche und Erwachsene dort mit der
Gewalt machen. Die Phantasien und Bilderwelten, die Kinder und Jugendliche in der
Auseinandersetzung mit ihrer Welt selber produzieren, sind wichtiger als die fremdproduzierten Geschichten, welche in den Bildteppichen der Medien erzählt werden.
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2. Was macht die Menschen zu dem, was sie sind?
Zur Stifterfunktion anthropologischer Leitbilder
Zum 10. Jahrestag des Aufstandes im Warschauer Ghetto entwickelt Bertrand Russel
(1953) ein Forschungsprogramm, das bis heute Humanwissenschaftler beflügelt und
durch die Gewaltproblematik neu an Aktualität gewonnen hat. „Menschen haben eine
außerordentliche Fähigkeit zu brutaler Grausamkeit. Und ich glaube, es ist die Pflicht
eines jeden denkenden Menschen, nicht nur über Grausamkeit entrüstet zu sein und den
Wunsch zu hegen, die Täter abzuhalten – das ist natürlich wesentlich –, sondern es gibt
darüber hinaus etwas, das man meiner Meinung nach tun müsste, nämlich die Wurzeln
der Grausamkeit, die Wurzeln der Verfolgung, die Wurzeln des Barbarismus in der menschlichen Seele aufzuspüren, dasjenige, das die Menschen veranlasst, böse zu sein, wo sie
auch anständig sein könnten. Dies ist vor allem ein wissenschaftliches Problem. Die
Lösung der Probleme müsste zeigen, was die Menschen zu dem macht, was sie sind.“
Die Fragen nach den Ursachen der Gewalt und nach dem Gewaltbegriff durchziehen wie
ein roter Faden die Gewaltliteratur. Spätestens beim Ringen um das Verständnis menschlicher Aggressivität, ob in uns der „Urmensch“ (S. Freud) fortlebt und der Mensch ähnlich
wie das Tier auf Aggression und Kampf festgelegt ist, oder ob der Mensch als soziales
Wesen auf Kommunikation und Kooperation angelegt ist, wird deutlich, dass die heutige
Erwachsenengeneration einen echten Konsens zu anthropologischen Grundwerten und
Leitideen nie hatte oder wieder verloren hat und der nachwachsenden Generation nach
Gronemeyer (1993) einen „moralischen Trümmerhaufen“ hinterlässt. Wir Erwachsene muten der nächsten Generation die Entwicklung von Lebensentwürfen zu, ohne dass wir
selbst überzeugend so leben, dass die Ressourcen für die nächste Generation nicht systematisch zerstört werden. Dabei geht es heute neben der Sicherung der ökologischen genauso
stark um die Sicherung von sozialen und spirituellen Ressourcen. Wenn wir dabei die
Analysen eines Rapoport mit den Büchern des Apokalyptikers Gronemeyer vergleichen,
dann besticht bei Rapoport die analytische Tiefenschärfe und ein systematisches Denken,
das Fakten aus der Soziologie, Psychologie und Kulturgeschichte gleichermaßen ernst
nimmt und nicht sofort zum Klagepsalm instrumentalisiert, in dem bei Gronemeyer (1993,
211) „die Zerstörung der äußeren und inneren Natur beweint wird“.
Während Rauchfleisch (1992) und mit ihm die meisten Autoren mit einem Erklärungsmodell zum Phänomen menschlicher Aggressivität arbeiten, verbindet Rapoport (1990,
194ff) Aggressions- und Frustrationstheorien mit den Ergebnissen aus der Lerntheorie
86
EXPERTISEN
und Soziobiologie. Die Frage nach den Ursachen der Gewalt muss nicht in einer abgehobenen Theoriedebatte und praxisvergessenden Grundlagendiskussion versanden. Die IstAnalyse zu den Wurzeln der Gewalt eröffnet durchaus Handlungsperspektiven.
2.1 Der Mensch: Bestie oder Gott?
Erklärungsmodelle und Analysen von Sozialwissenschaftlern entstehen nicht im wertfreien Denklabor. Es stellt sich die Frage nach den latenten oder manifesten anthropologischen Leitbildern, die solchen Erklärungsmodellen zugrunde liegen (Schmälzle 1993,
43ff). Diese Leitbilder vermitteln ethische Grundorientierungen. Ihnen kommt im Sinne
Foucaults (1973, 29) „Stifterfunktion des Subjekts“ zu, ja mehr noch, bei der Konstruktion von sozialer Wirklichkeit werden die anthropologischen Leitbilder und ethischen
Grundorientierungen der Sozialwissenschaften – wiederum im Sinne Foucaults – zum
„Dispositiv“, das soziale Wirklichkeit definiert. Wenn z.B. Sigmund Freud 1917 „Zeitgemäßes über Krieg und Tod“ schreibt und dabei den Mythos vom „Urmenschen“ entwickelt, der „in unserem Unbewussten“ mit seinem Aggressionstrieb fortlebt und betont,
dass „unser Unbewusstes die Tötung nicht ausführt“, dann konfrontiert uns Gewalt von
Kindern und Jugendlichen mit diesem Unbewussten in der Gesellschaft. Das mythische
Konstrukt des Urmenschen wird handlungsleitend. Ist die Gewalt von Kindern und Jugendlichen ein Reflex auf die Gewaltbereitschaft der Erwachsenen? Lebt in der Jugendgewalt die Wolfsanthropologie der Moderne auf, die wir seit Generationen mit uns herumschleppen?
Wertheimers Buch zur „Ästhetik der Gewalt“ (1986) betreibt bereits seit der Mitte der
achtziger Jahre diese „Archäologie des Wissens“ im Sinne von Foucault und zeigt auf,
dass wir realpolitisch und künstlerisch in einer Tradition der Gewalt stehen: „Der literarische Text, das Kunstwerk im Schnittpunkt von Affirmation und Provokation, spricht am
deutlichsten im Moment der Tötung … Der Akt des Tötens und Getötetwerdens wird zum
Prüfstein der Existenz.“ (1986, 10) Wertheimer beschreibt die neue Wesenswirklichkeit,
die den Menschen zwischen Tier und Gott, zwischen Bestie und Idol verortet und als
oberste Handlungsmaxime von ihm den Sieg erwartet. Leser, die mit der subjektiven
Auswahl der Texte nicht zufrieden sind und tiefer in die Archeologie von Gewaltbereitschaft
und Aggressionsverhalten eindringen wollen, sollten auf die Bücher von Anatol Rapoport
zurückgreifen. Sie öffnen in der Tat die Augen für die „Ursprünge der Gewalt“ (1990). In
dem Buch „Frieden: Eine Idee, deren Zeit gekommen ist“ kommt Rapoport zu dem Schluss,
dass die Friedensidee „während mindestens achtundzwanzig Jahrhunderten schlief“ (1991,
239).
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Die amerikanischen Sprachwissenschaftler Lakoff und Johnson (1980, 4f) haben bis in
die sprachlichen Metaphern des Alltags hinein das Muster einer auf Kampf und Sieg
abgestimmten Kultur nachgewiesen:
„‘Er griff jeden schwachen Punkt in meinem Argument an.’
‚Seine Kritik hat genau getroffen.’
‚Ich habe seine Argumente zunichte gemacht.’
‚Du stimmst nicht zu? Dann schieß mal los!’
‚Wenn du diese Strategie wählst, wird er dich fertigmachen.’“
Im Alltag laufen tagtäglich „verbale Schlachten“ ab, die Persönlichkeit zerstören, den
Respekt und die Toleranz vor dem Anderen und dem Fremden leugnen und „durch das
Konzept Krieg strukturiert sind … In diesem Sinn ist die Metapher ARGUMENT ALS
KRIEG eine der Metaphern, von und mit denen wir in unserer Kultur leben. Sie strukturiert die Handlungen, die wir beim Argumentieren ausführen.“
2.2 Der Mensch als Ware
Gerda Zellentin beschreibt die Faszination, die bis heute von der Sozialphilosophie und
sozialdarwinistischen Anthropologie eines Thomas Hobbes ausgeht. Er beschreibt den
Menschen als Mangelwesen: Der Mensch ist des Menschen Wolf, das heißt, Konkurrenz,
Konflikt und Mangelerfahrungen bestimmen das soziale Verhalten. Zellentin bemerkt dazu:
„Die Folgerichtigkeit, mit der Hobbes (1976, 76f) diese These zu beweisen sucht, ist
faszinierend. Bis auf den heutigen Tag zieht seine Anthropologie die Sozialwissenschaftler
an, weil sie einigermaßen verlässliche und präzise Voraussagen über menschliches Verhalten erlaubt.“ Diese Faszination fordert aber auch bis heute ihren Preis. Sie reproduziert
ständig die von Hobbes vertretene Wolfsanthropologie und Siegermythologie, deren letztes Ziel es ist, „an erster Stelle zu stehen“, und wer nicht bereit ist, zum Kampf anzutreten, über den sagt Hobbes: „Das Rennen aufgeben heißt Sterben.“ Der Konflikt zwischen
Menschen, deren Interesse sich auf das gleiche Objekt und das gleiche Ziel richtet, ein
Ziel, das nicht von allen erreicht werden kann, ist nur dadurch möglich, „dass der Stärkere
es allein erreichen muss und dass durch den Kampf entschieden wird, wer der Stärkere ist.“
Die Verdinglichung und Materialisierung des Menschen zur Ware im Arbeitsprozess, die
Verdrängung von gewaltlosen, an Solidarität und am Teilen orientierten Konfliktmodellen,
die Festlegung des Menschen auf den Kampf bei der Konfliktlösung, diese sozialdarwinistischen Positionen bestimmen den Bodensatz unserer Kultur der Gewinner. Die
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EXPERTISEN
Arbeit am Gewaltverhalten von Kindern und Jugendlichen wird zur Farce, verfehlt die
notwendige Wurzelbehandlung und verkommt zur Symptombehandlung, wenn dieser fundamentale Wertkonflikt nicht immer im Blick ist. Dieser Konflikt wird gegenwärtig auf dem
Rücken von Schule und Familie ausgetragen. Dabei ist festzustellen, dass sich zweckrationale Prinzipien und Zielvorgaben immer stärker auch im Bildungsbereich ausbreiten. Die
Beziehungen zwischen Lehrern, Schülern und deren Eltern, ja sogar die Beziehungen im
Primärbereich der Familie werden zunehmend von den Prinzipien der Zweckmäßigkeit, der
Funktionalität und der Verwertbarkeit bestimmt. Lyotard stellt für die Schule resignierend
fest, dass Wissen für Verkauf und Wettbewerb erworben wird (1986, 24). Wenn Wilhelm
Heitmeyer in seiner vielzitierten Analyse den Leser, der nach Handlungsperspektiven fragt,
mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit von „tiefgreifenden Einschnitten in zentrale Abläufe dieser durchkapitalisierten Gesellschaft“ (1986) entlässt, hat er vermutlich die angesprochene Wurzelbehandlung Blick. Was konkret zu tun ist, bleibt bei ihm offen.
Die Suche nach den Ursachen von Gewaltverhalten und Gewaltbereitschaft, nach Erklärungsmodellen und Deutungsansätzen menschlicher Aggressivität wurde in der Zwischenzeit zum Tummelplatz für Theoretiker und Analytiker aus allen Disziplinen. Wenn
wir uns die Frage nach einigermaßen verlässlichen Urteilen stellen, die zudem durch
empirische Befunde abgesichert sind, schmelzen Theorien und Wissensbestände zusammen wie der Schnee unter der Frühlingssonne.
2.3 Zur Reichweite verschiedener Erklärungsmodelle
Was Gewaltverhalten zu einem Problem für die Gesellschaft macht, wird ganz unterschiedlich begründet. Struktur- und funktionsbezogene Erklärungsmodelle setzen bei
sozialen Störungen im Zusammenleben an oder gehen von den Normen aus, die in der
Gesellschaft gelten. Auf diesem Hintergrund spricht Schneider (1991, 18) von „sozialer
Desorganisation: Gewalt entsteht, wenn Gemeinschaft und zwischenmenschliche Beziehungen zerfallen“. Heitmeyer (1992, 109) vertritt gleichlautend die These, „dass Desintegration ein zentraler Aspekt zur Klärung von Gewalt darstellt“. Beide Autoren versuchen damit das Gewaltproblem auf dem Hintergrund makrosoziologischer Erklärungsmodelle zu deuten.
Ich habe Zweifel, ob die Desintegrationshypothese den entscheidenden Schlüssel zur
Erklärung und Lösung des Gewaltproblems liefert. Knauf (1993, 4) stellt ähnliche Fragen: „Die Plausibilität solcher Deutungsansätze beruht auf ihrer Konkretheit, Eindeutig-
G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G
89
keit und ihrer Kombinierbarkeit mit unseren Alltagserfahrungen; ihre Schwäche liegt in
der Unterstellung eines eindimensionalen Wirkungszusammenhangs. Die Suche nach
komplexeren Erklärungen für die Gewaltbereitschaft ist schwierig, weil in solchen Erklärungen unter anderem auch auf das Grundsatzproblem der Entstehung, Wahrnehmung
und Definition von Formen und Stilen sozialer Verhaltensweisen eingegangen werden
müsste.“
Merton (1973) macht warnend darauf aufmerksam, dass solche diffusen Deutungsmuster
und Analyseraster konsequenterweise auch zu falschen und einseitigen Lösungskonzepten
führen und bestehende Ohnmachtsgefühle noch verstärken. Der Forschungsbericht
„Fremdenfeindliche Gewalt“, der unter Federführung von Eckert (1993, 133) für die
Deutsche Forschungsgemeinschaft durchgeführt wurde, grenzt sich ebenfalls unter Berufung auf Merton von der Desintegrationsthese ab und verweist auf die Schwäche des
„sozialstrukturellen Erklärungsmusters …“ Die Menschen reagieren auf konflikthafte,
widersprüchliche oder anomische Strukturen und Situationen nicht uniform, sondern
unterschiedlich, je nach konkret verfügbaren Handlungsmöglichkeiten, Kompetenzen
und Gelegenheitsstrukturen. „… Nur für einen Teil der fremdenfeindlichen Gewalttäter
sind eigene Desintegrationserfahrungen festzustellen: also etwa Schulabbruch, Arbeitslosigkeit, defizitäre Familienstrukturen, Beziehungslosigkeit.“ Bereits die Analyse von
Täterbiographien konfrontieren uns mit dem Phänomen personal verantworteter Lebensgestaltung und Wertentscheidung von einzelnen Menschen.
Der Therapeut Udo Rauchfleisch (1992, 23) setzt sich kritisch mit den Autoren
auseinander, die davon ausgehen, „dass Aggression eine Mensch wie Tier angeborene
primäre, von innen her zur Entladung drängende Kraft sei“ (z.B. Lorenz, Freud und
Klein). Er verweist auf die Kritik Kohuts am Freudschen destruktiven Aggressionskonzept und erläutert dessen These zur primär nicht destruktiven Aggression. Kohut schreibt
dieser Aggression in der Entwicklung des Menschen die notwendige und positiv zu
wertende Funktion der Abgrenzung zwischen Person und Umwelt zu, die fundamental
für die „Etablierung eines Identitätsgefühls“ (ebd. 25) wird. Solche Differenzierungen
fehlen in der gegenwärtigen Gewaltdiskussion. Vielfach endet der Versuch, durch die
Arbeit an theoretischen Erklärungsmodellen Handlungskonzepte zur Lösung des Gewaltproblems freizulegen, in einer fachspezifischen und abgehobenen Theoriedebatte und
Grundlagendiskussion, die aktional versandet und nicht zum Handeln führt. Knauf
(1993, 6) liefert eine vorläufige Zusammenfassung von Ergebnissen dieser Arbeit an
Erklärungsmodellen:
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EXPERTISEN
„Zentrale Bedeutung in den charakterisierten Erklärungsansätzen haben
❐ die menschliche Triebstruktur, die vor allem dann zum Zuge kommt, wenn Normen
und soziale Sinnstrukturen fehlen oder zu schwach ausgeprägt sind,
❐ die Erfahrung von psychischer Verletzung und Diskriminierung (Frustration), die aggressive (Ersatz-)Handlungen provozieren (Dampfkesseleffekt), die soziale Akzeptanz von Gewalt im sozialen Umfeld, aber auch die öffentliche Beachtung, die aggressives Verhalten erfährt,
❐ die Vermittlung von Verhaltensmodellen (etwa in den Massenmedien), die Gewaltanwendung als etwas Naheliegendes und Attraktives darstellen.“
Knauf betont die Notwendigkeit der Kombination verschiedener Erklärungsmodelle und
kommt zu dem Urteil, dass dieser Vergleich noch nicht geleistet sei. Dem ist nicht so.
Rapoport (1990, 195) entwickelt ein Erklärungsmodell, in dem Aggressions- und
Frustrationstheorie, ferner die Theorie des sozialen Lernens und der kognitiven Dissonanz in Beziehung gesetzt werden. Die Kombination dieser Erklärungsmodelle aus der
Sozialpsychologie liefert Ansätze zur Entwicklung von Handlungskonzepten.
2.4 Gewalt erzeugt Gewalt – Frieden erzeugt Frieden
Gewalt ist kein Naturprodukt. Der Mensch muss seine existenziellen Überlebensbedürfnisse
ohne die Instinktsteuerung des Tieres strukturieren. Die Verletzung physischer, psychischer und sozialer Bedürfnisse löst Frustrationen und aggressive Ersatzhandlungen aus.
Dabei entwickelt jedes menschliche Wesen vom Kleinkindalter an ein breites Repertoire
von Reaktionsmöglichkeiten (Mienenspiel, Beißen, Kratzen, Schreien …). Das Ernstnehmen dieser Bedürfnisse im Kleinkindalter schafft Vertrauen und Selbstwertgefühle.
Ihre Verletzung und Verdrängung disponiert zu Misstrauen, Angst und Aggressivität.
An diesem Punkt beginnen die Überlegungen von Galtung (1993, 51f) und anderen Friedensforschern (Gugel/Jäger 1994; Goss/Goss-Mayr 1983; Goss-Mayr 1998; Schäfer 1998; Voß
1999). Er kritisiert, dass wir nur nach den Ursachen von Gewalt und deren Auswirkungen
fragen, aber nicht umgekehrt die Frage nach den Ursachen des Friedens und dessen Folgen
stellen. Das Faszinierende an den Ausführungen von Galtung ist auf der einen Seite die
schonungslose und erdrückende Beschreibung des Gewaltpotenzials und die Tatsache, dass
er auf der anderen Seite nicht mutlos wird, eine Gegentypologie unter den Stichworten
Frieden und Kooperation zu entwerfen. Die Beschreibung des Gewaltpotenzials ist mit den
Begriffen Ökozid, Suizid, Homizid, Genozid, Strukturozid umfassend. „Die Typologie des
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Friedens ist genauso umfassend. Negativer Frieden ist die Abwesenheit von Gewalt; natürlicher Frieden ist Kooperation, nicht Kampf zwischen den Arten. Direkter positiver Frieden
besteht aus verbaler und physischer Zuwendung, gut für Körper, Geist und Seele; an alle
Grundbedürfnisse gerichtet (Überleben, Wohlergehen, Freiheit und Identität). Liebe ist
der Inbegriff davon, eine Vereinigung von Körper, Geist und Seele. Und die Integration
von Körper, Geist und Seele bedeutet inneren Frieden.“ Galtung gibt sich jedoch nicht
damit zufrieden, nur eine Typologie des Friedens zu entwickeln. Sein Blick richtet sich
schon auf eine Friedenstheorie mit entsprechenden Hypothesen: „Gewalt jeglicher Art
erzeugt Gewalt jeglicher Art. Frieden jeglicher Art erzeugt Frieden jeglicher Art. Positiver
Frieden ist der beste Schutz gegen Gewalt.“
Die Befunde der Aggressionsforschung weisen darauf hin, dass die wirksamste Methode,
aggressive und gewaltbezogene Verhaltensweisen zu lernen, darin besteht, dass Modellpersonen wie Väter, Mütter, Lehrerinnen und Lehrer ihre Forderungen mit psychischem
und physischem Druck bei Kindern und Jugendlichen durchsetzen. Die Gewaltkommission
stellt in ihrem Endgutachten fest: „Die empirisch nachgewiesenen Beziehungen zwischen Gewalterfahrung und eigener Gewalttätigkeit beruhen auf Lernprozessen … Ebenso
wie Gewalt an gewalttätigen Modellen gelernt wird, kann eine gewaltlose Konfliktlösung
am besten an konsequent gewaltlosen Vorbildern gelernt werden. Sie müssen dem Kind
im Elternhaus und in der Schule vorgelebt werden. Die Gewaltlosigkeit der Erziehung ist
wesentlicher Bestandteil der Erziehung zur Gewaltlosigkeit.“ (Ohder 1992, 168f)
Pädagogische Arbeit am Gewaltverhalten und der Gewaltbereitschaft kann damit in Schule
und Familie auf einer soliden empirischen Grundlagenforschung aufbauen. Hass, Sadismus, Destruktivität und Zerstörungswut sind nicht das Resultat angeborener Verhaltensweisen, sondern Ergebnis interaktionsgebundener und entwicklungsspezifischer Lernprozesse. Pädagogische Arbeit muss nach Festinger (1976) bei den Bedürfnissen und Lebenssituationen ansetzen, die in der Wahrnehmung von Kindern und Jugendlichen gewaltbelastet
sind und damit „gewaltfördernde Lernprozesse …, gewaltbegünstigende Einstellungen
und gewaltarme Verhaltenstechniken“ auslösen.
Udo Rauchfleisch konkretisiert individuell-lebensgeschichtliche und gesellschaftliche
Faktoren, die in solchen Lernprozessen wirksam werden. „Lebensgeschichtliche Ursachen sind vor allem Bedingungen, die dem Kind Gefühle von Leere und Ohnmacht vermitteln, eine Atmosphäre von Stumpfheit und Freudlosigkeit schaffen und das Kind
innerlich ‘erfrieren’ lassen. Die gesellschaftlichen Bedingungen, welche die Entwicklung
des Sadismus fördern, sieht Fromm vor allem in einer Sozietät, die auf ausbeuterischer
92
EXPERTISEN
Herrschaft beruht sowie Unabhängigkeit, Integrität, kritisches Denken und Produktivität ihrer Mitglieder hemmt.“
Bis in die gerichtsmedizinischen, kriminologischen und psychiatrischen Berichte bei der
Strafverfolgung von Gewaltakten hinein lassen sich täterfixierte Verzerrungen in der Wahrnehmung von Gewalt nachweisen. Der Täter wird dabei in den Mittelpunkt gerückt, Situation und Bedingungen des Gewaltakts werden ausgeblendet. Folge ist, dass „der stumme
Zwang sozialer Verhältnisse“, der gewaltauslösend wirken kann, gar nicht mehr gesehen
wird. Das Gewalt- und Misshandlungsproblem wird nach Gelles als „Problem individueller
Devianz, der Täter als der ganz andere, in primitivsten Formen als das Ungeheuer, der
Abartige“ verstanden, nämlich „als der, der aufgrund spezifischer, als naturveranschlagter
Charakterradikaler mit anderen Menschen sich nicht vergleichen lässt: als der Un-Mensch
par excellence. Offenbar spielt hier eine Rolle, dass dieses Ausgrenzen mit gegenaggressiver
Tendenz eine wichtige seelische Funktion hat: Es entlastet von eigenen gewaltsamen
Strebungen, die dem ‘Täter’ aufgeladen werden, damit man ihn dann (als Sündenbock) in
die Wüste schicken kann.“ (zit. nach Büttner/Nicklas u.a. 1984, 25f)
Im Mittelpunkt steht der brutale, physische und lebensvernichtende Gewaltakt, von dem
sich jeder demonstrativ abgrenzen kann. Das Vergessen des Opfers und die Fixierung auf
den Täter sind wiederum die Folgen der Faszination., die Taten begleitet, mit denen ein
Mensch seinen Mitmenschen zum Opfer macht.
3. Konsequenzen für die Bildungsarbeit
Der Peyrefitte-Report (Hobe 1990, 88f) macht deutlich, dass wir mit Verdrängung und
Tabuisierung den Signalwert des Gewalthandelns verschlafen. Er spricht nicht dem Dramatisieren das Wort, sondern fordert den Dialog. „Gewalt erscheint weniger als ‘Schrei
der Stummen’, sondern eher als Sprache derer, mit denen kein ausreichender Dialog
geführt worden ist oder werden konnte.“ Die Autoren dieses Berichtes gehen sogar so
weit, dass sie dem konkreten „Gewalthandeln“ die Funktion beimessen, dass es „auf
Schwachstellen in unserem Zusammenleben“ aufmerksam macht.
Was hat nun die Literatur Erziehern und Eltern anzubieten, die am Gewaltproblem arbeiten
wollen? Es gibt Autoren, die sich der Handlungsperspektive radikal verweigern oder nur
noch in Ausbliken thematisieren. Für Eibl-Eibesfeldt müssen Leute wie Albert Schweitzer,
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Bertrand, Russel, Bruno Bettelheim, Walter Benjamin und überhaupt alle Vertreter, die aus
christlicher oder humanistischer Intention gesinnungsethisch und verhaltensändernd am
Gewaltproblem arbeiten wollen, „Pop-Soziologen“ sein, weil sie Aggression aus dem Milieu erklären. Gronemeyer fragt deshalb mit Recht, ob auf „den Baseballschläger des Jugendlichen“ in Zukunft „mit der biologischen Keule“ geantwortet wird.
Während sich die Wissenschaft immer noch mit dem Rätsel menschlicher Aggressivität
beschäftigt, gibt es an der Basis runde Tische von Betroffenen, Antigewaltarbeitsgruppen
in Schulen und Stadtteilen und Lehrerinnen und Lehrer, die konkret der Gewalt wehren.
Die Religionslehrerin, von der ich eingangs berichtete, hat durch ihre besonnene und
klare Reaktion nur über das Gespräch einige aus der rechtsradikalen Gruppe zum Nachdenken gebracht, zumindest die, die sich an der von der Schülermitverwaltung organisierten
Anti-Gewalt-Demo beteiligt haben. Wenn Gronemeyer meint, gegen Gewalt sei noch kein
Kraut gewachsen, so ist schlicht festzustellen, dass schon einige Kräuter wachsen, so ist
ihm mit K.O. Hondrich (2002) zuzustimmen, der in seinem neuen Buch ebenfalls darauf
hinweist, dass der „Keim für Gewalt“ im Alltag immer neu gelegt wird. Verletzbar sind und
bleiben die Menschen, wie der 11. September 2001 gezeigt hat, in allen zivilisatorischen
Schutzhüllen, besonders aber in den allerengsten Beziehungen. Deshalb liegt nichts so
nahe zusammen wie Liebe und Gewalt. In der Liebe sei sie machthaltig (zwischen Eltern
und Kind) oder machtfrei (zwischen Partnern), sind wir im Inneren und im „Äußeren
verletzlich“. Trotzdem müssen wir lernen, mit dieser Gewalt, die aus uns selber kommt zu
leben, das heißt an der Bereitschaft zu arbeiten, dem Anderen die Freiheit zuzugestehen,
die wir für uns selbst beanspruchen und immer wieder in Tapferkeit all denen gegenüberzutreten, die sich selbst zum „Absoluten“ erheben.
3.1 Konzepte gegen Hass und Gewalt
Die Empfehlungen der Gewaltkommission (Schwind/Baumann 1990, Bd. II, 426) leiden
darunter, dass „die physische Gewalttätigkeit (sei es gegen Personen, sei es gegen
Sachen gerichtet)“ in das „Zentrum der Analyse“ gerückt wird. Damit dominieren Handlungsperspektiven zur Intervention nach geschehener Tat. Fragen der Prävention bleiben ohne Antwort. Hinzu kommt, dass sich die Arbeit der Gewaltkommission letztlich
auf den Staatsschutz konzentrierte. Um so erstaunlicher ist, dass die Gewaltkommission
weder analytisch noch praktisch eine Antwort auf Rechtsradikalismus und Fremdenhass
gab. Gerade die Arbeit am Rechtsradikalismus und Fremdenhass macht deutlich, dass der
Gewaltbegriff nicht restriktiv zu begrenzen ist, sondern so entgrenzt werden muss, dass
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EXPERTISEN
das Gewaltpotenzial von Türkenwitzen deutlich wird. Bielicki (1993, 188) zeigt deutlich
die Grenzen der Interventionen gegen rechtsradikale Gewalttäter. Es sind Menschen mit
„mörderischen Hassgefühlen“. Die notwendige Härte staatlicher Gewalt muss das „fehlende innere Leitsystem“ ersetzen. Aber was ist, wenn nicht nur bei einzelnen dieses
Leitsystem ausfällt? Freud bezeichnete es als „Schicksalsfrage der Menschenart“, den
Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb des Menschen unter Kontrolle zu bekommen.
Japan, das als das sicherste Land der Welt auch von der Jugendgewalt eingeholt wird,
geht andere Wege. Es sucht nach einem Bericht von Professor Toshiko Ito, Mil (1998) in
der „Erziehung des Herzens“ ein Rezept gegen Jugendkriminalität. „Im Mai 1997 lag vor
einem Schultor in Kobe der Kopf eines 11-jährigen Knaben, dessen Mund bis zu den
Ohren durchgeschnitten war und dessen Augen ausgestochen waren. Diese brutale Tat
erschütterte Japan zutiefst. Als sich sechs Wochen später ein 14-jähriger Junge als
Täter herausstellte, entsetzte sich das Land von neuem. Der Täter gestand zudem, dass
er Mitte März ein Mädchen ermordet und ein weiteres Mädchen verletzt hatte. Das soziale Umfeld des Jungen war gleichgültig oder abweisend und er beging die Bluttaten, um
von einem ‘durchsichtigen Wesen’ zu einem ‘sichtbaren Wesen’ zu werden.“ Der Zentrale
Bildungsrat des Kultusministeriums (ZBR: chûô kyôiku shingikai) beschäftigt sich mit
einem Programm zur Erziehung des Herzens von Kindheit an. In den Mittelpunkt rücken
dabei die Erziehung zur Achtung vor dem Leben (Ethik) und die Beachtung der Gesetze
und Verordnungen (Normenbewusstsein). Toshiko erwähnt in diesem Zusammenhang,
dass in Japan zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg wieder über den Religionsunterricht an den Schulen nachgedacht wird, der als Nährboden der Faschisten und
Nationalisten abgeschafft wurde.
3.2 Prävention mörderischer Hassgefühle und destruktiver Aggressivität
Langfristig stehen wir vor der Aufgabe, ethische und psychologische Barrieren zu schaffen, die verhindern, dass der Mensch weiter zum Opfer des Menschen wird. Der Mensch,
der die Fähigkeit entwickelt, mitzuleiden, der Unverletzlichkeit fremden Lebens achtet,
degeneriert nicht und beweist nicht seine Lebensuntüchtigkeit, sondern er sichert Leben. An diesem Bewusstsein müssen wir arbeiten, wenn wir im Menschen so etwas wie
„Tötungshemmung“ aktivieren wollen. Im Vorwort zum Buch „Mit Gewalt leben“ schildert der Autor, wie bei Straßenkindern in São Paulo im Binnenkreis räuberischer Kindergruppen nicht das Faustrecht des Stärkeren letztes Prinzip ist, sondern die Verantwortung für die ganz Kleinen (Schmälzle 1993, 8).
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Die Arbeit an Fremdenhass und Gewalt leidet gegenwärtig unter einem Karussell von
Theorien und Konzepten. Dabei wird über Theorien, Dokumente und Gremien vielfach
Innovation von oben nach unten versucht. Solche Theorielawinen und Papierfluten erdrücken und demotivieren vielfach Menschen, die an der Basis an dem Problem arbeiten
wollen. Zu fordern ist eine Innovation von unten, indem gruppen- und netzwerkspezifisch
Problemdefinitionen erarbeitet und Handlungsalternativen erprobt werden. In der Wissenschaft kämen wir sicher weiter, wenn solche Basisprojekte Grundlage theoretischer
Arbeit wären.
Im Mittelpunkt weiterer Projekte und Überlegungen müssen die Handlungsfelder in Schule
und Familie stehen. Ohne Interventionen im Schulbereich und in der Familie gibt es
keine Lösung des Gewaltproblems. Es ist erstaunlich, wie praxis- und erfahrungsvergessen
bislang über das Gewaltproblem psychologisiert und politisiert wird, ohne Wissensbestände
und evaluierte pädagogische Konzepte aus der Sozialforschung zur Kenntnis zu nehmen.
Dabei zeigen eigene Forschungen, wie bereits an der Basis Netzwerke zwischen Familien, Schulen und Einrichtungen der Jugendhilfe entstehen, in denen Eltern, Lehrer und
Jugendliche nicht nur defensiv auf das Gewaltproblem reagieren, sondern offensiv und
präventiv Menschen helfen, am inneren Leitsystem zu arbeiten und das Gewaltproblem
von innen zu lösen. Die Ergebnisse des von der AKSB auf den Weg gebrachten Kooperationsprojektes zeigen, dass Aggressivität in den meisten Fällen das verschlüsselte Signal für den Wunsch nach mehr Beziehung darstellt (Schmälzle 1993).
3.3 Hilfen für gewaltbelastete Familien
Honigs (1990, 351) Sondergutachten zur Gewalt in der Familie macht darauf aufmerksam, dass der an der Körperverletzung orientierte Gewaltangriff „im Subsystem Familie
zwischen Sexualität und Aggression“ verschwimmt. Kinder werden aus Liebe geschlagen, sexuelle Ausbeutung wird als Zuwendung maskiert. Dies macht Prävention im Bereich der Familie schier gar unmöglich. Die Opfer sind Frauen. Dazu ein Beispiel aus
einer Dokumentation des „Weißen Kreuzes“ ( Espay 2000, 4):
96
EXPERTISEN
Beispiel:
„Die Eheleute M. sind seit fünfzehn Jahren verheiratet. Sie haben keine Kinder.
Bevor sie heirateten, waren sie ein Herz und eine Seele. Nach ihrer Hochzeit setzte
eine Klimaveränderung zwischen ihnen ein: Herr M. ließ seine Frau mit der Hausarbeit allein und überließ ihr nur einen schmalen Geldbetrag für die Haushaltskasse,
während er selber die Beine hochlegte und für seine Interessen eine Menge Geld
ausgab. Hatten die Eheleute M. in ihrer Verlobungszeit noch intensive Gespräche
über ihre Beziehung geführt, reduzierte sich ihre Kommunikation bald auf das tägliche Einerlei und erschöpfte sich schließlich in zermürbenden Auseinandersetzungen
über Geld- und Haushaltsprobleme. Analog zum Eheklima entwickelte sich ihr sexuelles Miteinander: Sie kamen nur noch sporadisch zusammen. Wenn Herr M. betrunken
nach Hause kam, das Trinken hatte er sich mit zunehmender Distanz zu seiner Frau
angewöhnt, versuchte er, sie zum Geschlechtsverkehr zu zwingen, oft mit Gewalt. Sie
wehrte sich gegen seine Übergriffe, aufgrund seiner körperlichen Überlegenheit aber
ohne Errfolg. Da Frau M. ihrem Mann zuliebe kurz nach der Hochzeit ihre Arbeitsstelle
aufgegeben hatte, verlor sie allmählich den Kontakt zu anderen Menschen. Sie hatte
niemanden, mit dem sie über ihre bedrückende Situation hätte reden können.“
Honig stellt fest, dass alle Welt von Prävention familialer Gewalt „redet“ und „schreibt“,
wir jedoch konkret außer bei der „Prävention sexueller Gewalt an Kindern“ mit therapeutischen und pädagogischen Konzepten zur gewaltfreien Lösung von Familienkonflikten
„Neuland“ betreten (ebd. 356f). Gewaltverhalten im Kindergarten ruft nach einer pädagogischen und therapeutischen Antwort. Sie kann nur in Kooperation und Kommunikation zwischen Familien, Kindergärten, Schulen und entsprechenden Fachkräften gefunden werden. Prävention von Gewalt in Schule und Familie ist damit identisch mit
Beziehungsarbeit. Honig beschreibt für die Familie vier Felder: „Es geht um die Veränderung von Einstellungen und von Handlungs-/Konfliktlösungsmustern, um die Veränderung von belastenden Bedingungen des Familienlebens, schließlich um die Veränderung
von Hilfestrukturen.“ (Ebd. 357) Er ist sich darüber im klaren, dass solche Prävention
„Neuland“ bedeutet. Sie scheiterte bereits am Zugang zu den betroffenen Familien.
In der Zwischenzeit haben Frauen und Mütter dieses Neuland selbst betreten. Das Netzwerk für die Opfer der Männergewalt haben Feministinnen geknüpft. Das „Berliner
Interventionsmodell gegen häusliche Gewalt“ (BIG) von Helga Hentschel organisiert
nach amerikanischem Muster die Kooperation zwischen Polizei, Staatsanwaltschaft, Gericht, Frauenhäusern, Kinderschutz, Beratungsstellen, Männergruppen, Sozial-, Gesund-
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heits- und Jugendämtern. Die Arbeit dieser Frauen hat sich gelohnt. Sexuelle Nötigung
oder Vergewaltigung sind in der Zwischenzeit ein Offizialdelikt, d.h. wenn Opfer Anzeige erstatten, muss die Justiz diese Anzeige verfolgen, selbst wenn die Opfer später
diese Anzeige zurückziehen: „Wer eine andere Person mit Gewalt durch Drohung mit
gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben oder unter Ausnutzung einer Lage, in der das
Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert ist, nötigt, sexuelle Handlungen
des Täters oder eines Dritten an sich zu dulden oder an derem Täter oder einem dritten
vorzunehmen, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft (§ 177 StGB,
Abs.1).“
Dieses Gesetz stellt zwar einen Rahmen dar, der hoffen lässt, dass sich Männer Zurückhaltung auferlegen. Wenn wir jedoch auf der Grundlage der aktuellen Männerstudie von
Haas (2001) wissen, dass die Ursachen für das Gewaltverhalten von Männern in der
Kumulation von Gewalterlebnissen in der eigenen Kindheit liegen, dann muss die Gewaltprävention dann einsetzen, wenn es darum geht, familiare Beziehungskonflikte und
Erziehungsdefizite zu lösen, sprachfähig zu werden, um sich im Konfliktfall abzugrenzen
und zur eigenen Würde zu stehen. Die Möglichkeiten einer präventiven Familienbildung
sind bis heute nicht genügend erkannt und ausgereizt. Diese pädagogische Arbeit muss
nach dem Urteil der Gewaltenquete-Kommission (Schwind/Baumann, Bd. I, 78) bei den
Bedürfnissen und Lebenssituationen ansetzen, die in der Wahrnehmung von Kindern
und Jugendlichen gewaltbelastet sind und damit gewaltfördernde Lernprozesse, gewaltbegünstigende Einstellungen und gewaltarme Verhaltenstechniken auslösen. Auch diese Arbeit hat bereits begonnen.
In dem Buch „Mit Gewalt leben“ wird die generationsübergreifende Arbeit auf Familienseminaren geschildert und aufgezeigt, wie in den vergangenen 20 Jahren das Gewaltproblem im Netzwerk von Schule und Familie thematisiert wurde. Büttner und Nicklas
werden in ihrem Buch „Wenn Liebe zuschlägt“ ganz konkret. Sie zeigen spielerische
Möglichkeiten auf, um den Sumpf familialer Gewalt auszutrocknen. Die Konzepte liegen
auf dem Tisch.
Der „Runde Tisch“ von Eltern, Lehrern, Erziehern in Schulen und Kindergärten könnte zu
dem Ort werden, von dem aus in gemeinsamer Verantwortung daran gearbeitet wird,
dass Kinder und Jugendliche so in unsere Welt hineinwachsen, dass sie im Sinne von
Fromm das Entsetzen über Isoliertheit, Machtlosigkeit und Verlorenheit in dieser Welt
überwinden und unsere Welt mit ihren Risiken in Verantwortung übernehmen. Sie er-
98
EXPERTISEN
warten mit Sicherheit nicht, dass wir ihnen alle Probleme lösen. Sie erwarten jedoch die
Partnerschaft und Ehrlichkeit der Erwachsenengeneration.
3.4 Prävention von Gewalt: zwischen Utopie und Resignation
In der Drogen- und Verkehrserziehung (Feser 1981) wurden schon sehr früh auf breiter
Basis präventive Konzepte und Programme zum Schutz von Kindern auf der Straße und
zur Vorbeugung des Drogenmissbrauchs entwickelt und evaluiert. Dieses Wissen und die
Erfahrung mit präventiven Programmen aus der Gesundheitserziehung können für die
Prävention von Gewalt genutzt werden. Präventive Konzepte werden in verschiedenen
Gutachten der Gewaltkommission vorgestellt. Henriette Haas (2001), Professorin für
angewandte Kriminologie in Lousanne, befragte 21347 Rekruten und 7900 Nichtrekruten
aus dem Jahr 1997 in der Schweiz: Haben Sie selber während der letzten 12 Monate
folgendes getan: Jemanden beleidigt durch Worte oder Gesten? Jemanden eingeschüchtert? Jemanden bedroht mit der Waffe? Jemanden geschlagen, geohrfeigt? Jemanden
verprügelt? Jemanden gefesselt? Auf jemanden mit dem Messer eingestochen?1
Auch Haas übernimmt aus dem Bereich der Drogenprävention das erprobte Vier-SäulenModell. Prävention, Repression, Therapie und Schadensverminderung müssen im Verbund eines Maßnahmepaketes organisiert werden, das wir in diesem Abschnitt bis zu
einer typologischen Matrix weiter entwickeln wollen. Haas ergänzt das Vier-SäulenModell mit einer fünften: der Wiedergutmachung im Rahmen außergerichtlicher TäterOpfer-Mediation. Dem vielschichtigen Phänomen Gewalt ist ebenso vielschichtig zu begegnen und nicht mit weitschweifigen, aber handlungsblinden Theorien auszuweichen,
weder auf die in der Politik und Rechtsprechung so gerne favorisierte Theorie menschlicher Willensfreiheit noch auf Erklärungsansätze, die von soziokultureller und biologischer Determiniertheit ausgehen.
Prävention von Gewalt – dies wird die Hauptaufgabe im Bildungsbereich darstellen –
setzt sich damit zum Ziel, langfristig durch Arbeit an Einstellungs- und Verhaltensstrukturen die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass es überhaupt nicht zur Schädigung von Leib und Leben durch Gewalt kommt. Feser macht für den Bereich der Drogenerziehung darauf aufmerksam, dass es gelungen ist, bereits mit Kleinkindern Risikosituationen vorweg zu nehmen und angemessenes Drogenverhalten mit Kindern einzuüben. Diese Feststellung gilt sicher noch verstärkt für eine Erziehung zur Gewaltlosigkeit.
Präventive Maßnahmen und Zieldefinitionen sollten klar von therapeutischen oder päd-
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99
agogischen Interventionen unterschieden werden. Die Weltgesundheitsorganisation
unterscheidet zwischen einer Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention. Die Entwicklung von Zielen und Maßnahmen zur Gewaltprävention sollte von diesen Grundlagen der
Sozial- und Gesundheitserziehung ausgehen und sich ganzheitlich in ein entsprechendes Sozialisationskonzept einfügen.
Primärprävention setzt sich zum Ziel, durch psychologische und pädagogische Maßnahmen ein Einstellungs- und Verhaltensrepertoire aufzubauen, das sich an einer gewaltfreien Konfliktlösung orientiert. Das friedenspädagogische Konzept von Galtung (1993)
ist hier einzuordnen. Ein wichtiges Feld der Primärprävention eröffnet sich in der Arbeit
an wert- und normbildenden Kommunikationsstrukturen in einer plural verfassten Gesellschaft. Das Leitziel einer gewaltlosen Konfliktlösung kann nur in einem lebendigen
Vermittlungsprozess von Generation zu Generation übernommen und internalisiert werden. Primärprävention sichert damit die Grundlagen eines gewaltfreien Zusammenlebens von Menschen.
Sekundärprävention konzentriert sich auf Risikogruppen und Risikosituationen. Dabei
geht es z.B. um Familien, in denen es bereits zu Gewalttaten gekommen ist, oder um
Familien, die sich in einer akuten Konflikt- und Krisensituation befinden. In der Schule
geht es z.B. um solche Schüler und Schülerinnen, die durch Leistungsversagen auffallen
und erfahrungsgemäß besonders gewaltgefährdet sind. In der Jugendarbeit sind in diesem Zusammenhang regionale Aspekte zu berücksichtigen und in den Stadtteilen Maßnahmen und Dienste zu entwickeln, die einen sozialen Brennpunkt darstellen.
Tertiärprävention konzentriert sich auf Täter und Opfer, die einmal in konkrete Gewaltereignisse verwickelt waren, Ereignisse, die juristisch, therapeutisch oder pädagogisch
zum Abschluss gebracht wurden, bei denen jedoch eine Nachsorge erforderlich ist, wie
sie sich bei allen Formen von sexueller Gewalt als notwendig erwiesen hat. Ziel dabei
ist, Spätfolgen unter Kontrolle zu nehmen und dafür zu sorgen, dass keine neuen Gewalttaten entstehen. Dazu gehört auch die Förderung von Selbstregulations- und Eigengestaltungskräften. Eine Zielgruppe ist dabei besonders zu berücksichtigen, nämlich die
ehemaligen Opfer von Gewalt, die dagegen zu immunisieren sind, neu Opfer zu werden.
Diese recht trennscharfe Unterscheidung von Maßnahmetypen der Weltgesundheitsorganisation ist zu fundamentalen Dimensionen in Bezug zu setzen, in denen ganz
konkrete inhaltliche und zielgruppenspezifische Maßnahmen anzusiedeln sind. Wir un-
100
EXPERTISEN
terscheiden dabei eine intrapersonale, eine interpersonale und eine strukturelle Dimension. Auf dem Hintergrund dieser Unterscheidung ergibt sich folgendes Schaubild zu
präventiven Maßnahmen bei der Gewaltverhütung.
3.5 Die Verantwortung von Religion und Kirche
Udo Rauchfleisch (1992, 237) stellt in seinem Buch „Allgegenwart von Gewalt“ zur
Grunderfahrung von gefolterten, misshandelten und verfolgten Menschen fest, „dass
ihnen ein Überleben am ehesten dann gelungen ist, wenn sie der furchtbaren Sinnlosigkeit der gegen sie gerichteten Gewalt einen politisch oder religiös determinierten Sinn,
ein ‘Nein’ entgegenzusetzen vermochten. Dies ist eine der wichtigsten Voraussetzungen
dafür, dass wir überhaupt weitere Strategien zur Auseinandersetzung mit dem Phänomen Gewalt entwickeln können.“
Welche Kraft und welches Widerstandspotenzial aus dem sicher oft deformierten und
missbrauchten christlichen Glauben wachsen können, hat sich in den KZs gezeigt und
zeigt sich gegenwärtig in den Basisgemeinden der Elendsviertel der Dritten Welt. Die
Relevanz dieses christlichen Widerstandspotenzials haben wir für die Lösung des Gewaltproblems und die Auseinandersetzung mit dem sozialen Verrohungs- und Verelendungsprozess der westlichen Industrienationen kaum diskutiert. In keiner der mir bislang
bekannten Gewaltkommissionen waren Theologen vertreten. Darüber lohnt es nachzudenken. Die Ambivalenz des Verhältnisses von Religion und Gewalt und speziell des
Verhältnisses von Kirche und Gewalt wird auch in der Theologie diskutiert (Baudler
2001; Lohfink 2001), die gleichwohl wichtige Beiträge zur Friedenserziehung geleistet
hat und auf ein breites Spektrum kirchlicher Präventions- und Interventionsmöglichkeiten
Zugriff hat, was im Themenheft der Katechetischen Blätter (2001, Nr. 4) „Ernstfälle
ethischen und sozialen Lernens“ überaus deutlich wurde (Sieg 2001; Brodkorb 2001;
Scholten 2001; Scheidler 2001; Laible 2001). Wertheimer (1986, 125ff) schildert die
Gewalt im Zeichen von Kreuz und Schwert. Sexualität, Religiosität und Machtstreben
sind für ihn Triebfedern und Wirkungsfelder menschlicher Aggressivität. Nicht nur die
Religionskritik befasst sich mit diesen Themen. Sie werden in der Zwischenzeit selbstkritisch und fragend aus dem Binnenraum von Kirche und Theologie gestellt. Thilo (1983)
greift als Theologe und Analytiker Fragen wie „Aggression und Religion“ und „Sexualität
und Religion“ auf. Kirchmayr und Haack (1990, 67ff) fragen nach den Wurzeln „christlicher Gehorsamslust“. Mitten hinein in die theologische Grundlagendiskussion führt der
Band mit den Vorträgen zum Girard-Kongress in Salzburg, der von Niewiadonski und
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Palaver (1992) herausgegeben wurde. Im Mittelpunkt steht dabei die These von Girard
(1982, 216ff), dass Jesus nicht als Opfer stirbt, sondern gegen alle Opfer. Jesus musste
nach Girard sterben, weil er mit seiner radikalen Gewaltverzichtsforderung unerträglich
wurde.
Das Leiden und Sterben Jesu enthält eine andere Botschaft und stützt das Programm
eines Galtung: Gewalt erzeugt Gewalt! Frieden erzeugt Frieden! Das Programm unseres
christlichen Gottes ist nicht das Kampfprogramm (Baudler 1994, 267ff). Nur müssen wir
zur Kenntnis nehmen, dass die Philosophie eines Thomas Hobbes ihren Wurzelgrund in
einer Zeit hat, in der sich Christen verschiedener Konfessionen in endlosen Kriegen
unter Berufung auf den christlichen Glauben und mit dem Segen ihrer Kirchen die Köpfe
einschlugen und sich gegenseitig eliminierten. Giegerich ging auf dem Kongress der
Tiefenpsychologen in Basel zur Gewaltproblematik noch einen Schritt weiter. Er versucht, „die Geschichte der verschiedenen Tötungen, Traumen und Brüche“ im christlichen Abendland nachzuzeichnen, an denen die christliche Religion immer beteiligt war.
„Man pflegt die Hexenverbrennungen heute moralisch zu verdammen“, schreibt er und
lehnt dieses Urteil, das von einem „externen Standpunkt“ aus denkt, für den Psychologen ab. Mit analytischer Tiefenschärfe stellt er fest, „dass die Existenz der heutigen
Psychologie sich unter anderem auch dem tötenden Tun der Inquisitoren verdankt …
Die Tötung der Hexen war nicht einfach ein Tun an gleichgültigen anderen draußen, sie
war, indem sie dies auch war, zugleich ein Tun am eigenen höchsten Wert, am Selbst, an
der Seele. In den Hexen hat sich die Seele als die heidnische, die sie war, selbst ausgemerzt.“ (Giegerich 1992, 220) Giegerich stellt sich den historischen Fakten dieser Gewaltakte und sucht ihre Bedeutung für die Sinnkonstruktion der Gegenwart. Es lohnt
sich, weiter zu denken. Die Psychologie verdankt ihre Existenz im eigentlichen Sinn
nicht den Hexenprozessen, sondern einer Kirche, die mit ihrem damaligen Selbstverständnis und ihrer Theologie diese Gewaltexzesse erst möglich gemacht hat. Ohne die
Inquisition wären in dieser Weise keine Hexen und Ketzer verbrannt worden.
Wir können diesen Gedanken Giegerichs auf andere Bereiche übertragen und müssen
dann feststellen, dass sich nicht nur die Psychologie mit ihrem Verständnis der Seele
diesen Gewaltexzessen verdankt, sondern das gesamte Projekt der Moderne, in dem auf
der Grundlage religionskritischer Postulate Mündigkeit immer gegen die faktische Entmündigung durch die Kirche eingefordert wurde, in diesen religiös begründeten Gewaltakten wurzelt. Die Geschichte der Hexenverbrennungen holt damit nicht nur die Psychologie, sondern noch viel stärker uns als Christinnen und Christen ein.
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103
Unser Beitrag in der Kirche zur Gewaltproblematik beginnt damit, dass wir uns der
eigenen Gewaltgeschichte stellen. Der Griff zur Gewalt hat dazu geführt, dass die Kirche
mit der Tötung von Menschen nicht nur ihr eigenes Gottesbild verleugnet und zerstört
hat, nämlich des Gottes, der sich im Leiden, Sterben und der Auferstehung seines Sohnes zur Gewaltlosigkeit bekannte und nur so als der Gott zu identifizieren war, dessen
Wesen im Neuen Testament dann mit Liebe beschrieben wurde. Dieses Reden vom Gott
der Liebe und der Versöhnung, der zwar immer noch verbal bezeugt, aber aktional mit
dem Scheiterhaufen verleugnet wurde, hat wohl am meisten unter diesen tödlichen
Doppelbotschaften der Kirche gelitten und tut dies bis auf den heutigen Tag.
Solche in der Religion wurzelnden Gewaltakte sind damit eine der Ursachen dafür, dass
Gott in der Moderne nicht mehr gedacht, Religion unter Verdacht gestellt wurde und die
Vordenker zum Projekt der Moderne ihre religiösen Wurzeln gekappt und den Tod Gottes
angesagt haben. Jedenfalls sind Hobbes und Nietzsche als Protagonisten der Moderne
mit ihrer Mystifizierung von Kampf und Stärke auf diesem Hintergrund neu zu verstehen.
Gerade die Lektüre von Nietzsche zeigt, welche Kraft es diesen Denker gekostet hat,
gegen Gott zu denken und den Tod Gottes anzusagen. Dass es ihm nie gelungen ist, die
religiösen Wurzeln gänzlich zu kappen, zeigt sein Gedicht „Dem unbekannten Gott“.
Der Gottesverlust der Moderne blieb nicht ohne Folgen. Mit diesem Verlust begann eine
Götzendämmerung, die heute mehr und mehr durchschaut und beschrieben wird,
interessanterweise weniger in der Theologie, sondern mehr in Dichtung und Literatur.
Einen Markstein in dieser Literatur zur Götzendämmerung stellt die Rede von Martin
Walser bei der Verleihung des Büchnerpreises 1981 dar. Auch er greift die Frage auf:
Woran stirbt Gott? Für Walser ist aus dem Menschen ein „Daumenlutscher“ geworden
(Walser 1984, 173f):
„Der die Welt beschimpfende Daumenlutscher ist unser Muster. Dem Daumenlutscher
stirbt ein Gott. Er ist sein eigener Gott. Nicht die Leere der Gottlosigkeit ist sein
Horror, sondern der Nächste, der Nebenmensch. Wie er sich selber Gott ist, so ist ihm
der Nebenmensch die Hölle. Solidarität bzw. Mitleiden wird verdächtigt …
Wenn ich also an mir feststelle, dass ich mich am liebsten durch Teilnahmslosigkeit
leidlos hielte, ahne ich, dass ich so wahrscheinlich dem ersten Gebot des jetzt herrschenden Gottes gehorche: Kultur der Teilnahmslosigkeit. Das entlastende Gerechtigkeitsprinzip unseres Gottes: Vor der Leistung sind wir alle gleich und nach der Leistung
sieht man, was einer bringt. Das ist der Klartext unseres Gottes. Wir wählen einen Gott
nicht ab, weil er nicht hilft. Wir haben ihn dazu gewählt, dass er unsere Unfähigkeit zu
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helfen legitimiert. Unser Gott brüllt andauernd durch die Gegend: du hast es dir selber
zuzuschreiben. Dem Leidenden salzt das das Leiden, dem Genießenden den Genuss!
Bürgertum und Christentum haben sich zu einer gigantischen Unterhaltungsfirma zusammengetan, deren alles niederwalzende Entsorgungskapazität jedem Horror gewachsen ist … Unser Gott wird interdisziplinär gewartet. Und die Warte werden gewartet
von Wittgenstein, Linguistik und Anästhesie. Vokabulare schwärmen aus und lassen
keine Blüte unbesucht. Es dürfte eigentlich nichts mehr schief gehen.
Büchners Empfindlichkeit liegt nur noch unterm Mikroskop. Ergriffen, wenn auch skeptisch, studieren wir die Feinfühligkeit dieser Moralmembran; die Entzündbarkeit dieses
Gewissensnervs. Anstatt einen Gott sterben zu lassen, der Leiden zulässt, hätte Büchner,
wie wir, mitarbeiten sollen an einem Gott, der Leidende einschüchtert. Armer Büchner.
Aber ein eingreifendes Präparat bleibt er. Und ein vorwurfsvolles.“
Mit Büchner macht Walser in diesem bewegenden Text allerdings das gesamte Projekt
der Moderne zum „Präparat“. Könnte es sein, dass die Moderne mit dem Verlust von
Religion und Gottesdenken den Anderen, das Du, den Nächsten verloren hat? Könnte es
sein, dass die größte Gefährdung gegenwärtig vom Menschen ausgeht, der sich selbst
zum Gott wird und damit zur Quelle von neuer Gewalt und neuem Leid?
Die Siegermythologien eines Hobbes und Nietzsche sind Götzenmythologien. Wertheimer
hat sie in der Literatur entlarvt und Walser als Literat in ihren konkreten Auswirkungen
beschrieben. Die Untersuchungen zum Gewaltverhalten zeigen überdeutlich, dass die
perverse Faszination, die von Gewalt- und Tötungsakten ausgeht, etwas mit der Verletzung der Intimdistanz, des Berührungstabus zu tun hat: Ich habe Gewalt über dich! Ich
bin stärker! Identität und Selbstwertgefühl können auf dieser Grundlage nur durch Kampf
und Sieg entstehen und müssen in immer neuen Kämpfen bestätigt werden. Es ist deshalb nicht verwunderlich, wenn heute von Gewalttätern zu hören ist: „Ich schlage, also
bin ich!“ und in der Philosophie bereits räsoniert wird: „Ich hasse, also bin ich!“
Der Hass verselbständigt sich. Wenn wir der Diagnose von Hans Magnus Enzensberger
folgen, sind serbische Heckenschützen, französische Vorstadt-Desperados und marodierende Skinheads erst die Protagonisten eines latenten Gewaltpotenzials, das sich aus
einem irrationalen Hass speist und beim konkreten Gewaltakt nicht mehr unterscheiden
kann, was Menschen und Sachen zerstört und was zur eigenen Selbstzerstörung führt.
„Die Kämpfer wissen sehr wohl, dass sie nur verlieren können, dass es keinen Sieg gibt.
Sie tun alles, was in ihrer Macht steht, um ihre Lage bis ins Extrem zu verschärfen. Sie
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105
wollen nicht nur die anderen, auch sich selber in den ‚letzten Dreck’ verwandeln.“
(Enzensberger 1994, 314)
Wenn die These stimmt, dass das gegenwärtig erlebte Gewaltpotenzial im Gottes- und
Religionsverlust der Moderne Wurzeln hat, dann verbindet sich mit dieser These eine
zweite: Die Wiederentdeckung des Glaubens an den Gott, den Jesus Vater nennt, schützt
den Menschen vor sich selbst und schützt die Menschen voreinander. Der Mensch, der
sich von Gott geliebt weiß und nicht, um mit Giegerich zu sprechen, „in die eiskalte
Leere“ (1992, 227) eines entgötterten Himmels schaut, findet zu sich selber und zum
Anderen zurück und wird fähig, den Hass, der aus ihm kommt und der ihm entgegenschlägt zu überwinden. Die Geschichte des Christentums zeigt, dass immer dann der
verfluchte Teufelskreis der Gewalt durchbrochen wird, wenn Einzelne, Gruppen und erst
recht eine ganze Institution sich in den Dienst dieses Liebenden Gottes stellen, indem
sie auf Gewalt verzichten. Dies begann am Schandpfahl des Kreuzes, setzte sich in den
Christenverfolgungen fort, ließ einen Franz v. Assisi durch Kreuzzugsheere hindurch bis
zum Sultan vordringen und brachte auf den Philippinen und in der ehemaligen DDR
Panzer zum Stehen. Der Gott, zu dem Jesus ‚Vater’ gesagt hat und an den wir als Christinnen und Christen glauben, muss nicht mehr totgesagt werden, wenn in der Kirche, in
Gemeinden, Orden und Familien wieder gewaltfrei gelebt wird.
Für Rauchfleisch ist dies die Grundlage für das Widerstandspotenzial des Christentums.
Giegerich (1992, 227) kann vermutlich dieser Utopie nicht folgen: „Wenn der noch
gegenständlich, als Gegenüber vorgestellte höchste Gott ganz verdampft ist, … blickt
man in eiskalte Leere. Die ganze Welt ist entgöttert und ordinär geworden.“ Vor solchen
Aussagen wird Theologie nicht kapitulieren. Bei christlichen Mystikern ist der „Blick in
die eiskalte Leere“ schon immer Grunderfahrung für eine neue Gottesgeburt gewesen.
Spiegel (1993) erinnert in dem Buch „Mit Gewalt leben“ an die Konsequenzen jüdischchristlicher Gotteserfahrung: „Selig, die keine Gewalt anwenden, denn sie werden das
Land erben“ (Mt 5,5). Das letzte Wort haben auf diesem Hintergrund nicht Interventionen, die wiederum Gegengewalt provozieren. In den Mittelpunkt rückt der lange Weg
einer „gewaltfreien“ Erziehung, auf dem wir mit Kindern und Jugendlichen – und sie mit
uns – so umgehen, dass sie für ihr eigenes Handeln Verantwortung übernehmen und den
„Anderen“ als Partner erleben.
Es gibt nicht nur die Ambivalenz zwischen Gewalt und Religion. Diese Ambivalenz gründet in der noch subtiler zu befragenden Ambivalenz zwischen Erotik, Religion und Ge-
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EXPERTISEN
walt (Bataille 1994). Dem Blick in die „eiskalte Leere“ hat der christliche Glaube den
Gott entgegenzusetzen, den Luther einmal als „Backofen von Liebe“ beschrieben hat,
den Gott, dessen Erfahrung jegliche Rationalität übersteigt. Die Begegnung mit ihm
wird zum „totalen Ereignis“ schlechthin. Wie lange werden die christlichen Kirchen und
Theologien noch brauchen, bis sie wieder in Kult und Liturgie die menschliche Sensucht
nach dem Totalen, nach der Übertretung, nach der – im Sinne Freuds – ozeanischen
Entgrenzung und Verschmelzung mit dem Absoluten erahnen lassen und feiern? Zilleßen
(2001, 221) träumt davon, dass Religion dies leisten kann:
„Die Sehnsucht nach dem Totalen ist menschlich. Wohin mit dieser Gewaltfaszination
der Sterblichen?
Wo kann das Tabu des Totalen so übertreten werden, dass das soziale Leben nicht
zerstört, sondern bestätigt ggf. verändert wird? Es bedarf (mit Bataille) Orte der
Unterbrechung des Alltags, Orte der Unterbrechung der Rationalität, nicht ihrer Aufhebung (ihrer Suspendierung).“
Das Widerstandspotenzial der Religion umfasst mehr als den kategorischen Imperativ:
„Du kannst! Denn du sollst!“ Der Glaube sagt uns: „Du lebst, wenn du liebst!“ Menschen,
die nicht mehr lieben können, sind laut Gabriel Marcel schon tot. Was bleibt für sie mehr
als zu sagen: Ich schlage, also bin Ich! In dem unvollendeten Theaterstück „Das Unergründliche“ lässt Gabriel Marcel (1961, 340) Edith, die ihren Geliebten verloren hat,
sagen:
„Die einzige Religion, die für mich in Frage kommt, ist die Religion, die uns in eine
andere Welt einführt, in der die armseligen Schranken, die die Wesen aus Fleisch und
Blut trennen, in Liebe und Barmherzigkeit verschwinden.“
Zu allen Zeiten haben Menschen mit dieser Sehnsucht und diesem Glauben im Herzen
Gewaltmenschen und Gewaltregime in Kirche und Welt überlebt. Das wird auch in Zukunft so bleiben.
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107
Anmerkungen
1
Insgesamt wurden 156.076 unterschiedlich schwere Delikte berichtet. Den harten Kern bildeten
341 Männer mit schweren Gewaltdelikten wie Raub, Körperverletzung, Erpressung, Nötigung.
Sexuelle Übergriffe gaben 12 % der Rekruten zu.
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108
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Gewaltfreie Erziehung –
Eine Herausforderung für die
politische Bildung
Gewaltfreie Erziehung –
Theorie und Praxis eines
sozialpädagogischen Leitbildes
Gewaltfreie Erziehung
in der Tagespflege
Zwischen Prävention
und Intervention
F a c h t a g u n g e n
113
114
4.1
F AC H TAG U N G E N
Gewaltfreie Erziehung –
Eine Herausforderung für die politische Bildung
27. Oktober 1999 in Bonn
4.1.1 Lukas Rölli
Zusammenfassung
1. Ziel der Tagung, Beteiligung und Konzeption
Die Arbeitsgemeinschaft katholisch-sozialer Bildungswerke (AKSB) veranstaltete die Fachtagung „Gewaltfreie Erziehung: Eine Herausforderung für die politische Bildung“ vom
27. Oktober 1999 mit dem Ziel, interessierten Einrichtungen aus unterschiedlichen Trägerzusammenschlüssen der politischen Bildung Gelegenheit zu geben, die politische und
gesellschaftliche Problematik des Themas „Gewaltfreie Erziehung“ zusammen mit Experten zu erörtern und den inhaltlichen und didaktischen Rahmen eines möglichen gemeinsamen Projektes zum Thema „Gewaltfreie Erziehung in der politischen Bildung“ zu
beraten. Hintergrund war der von den Fraktionen der Regierungsparteien im Sommer
1999 eingebrachte Gesetzesentwurf zur Ächtung von Gewalt in der Erziehung (BT Drucksache 14/1247) und die damit verbundenen Überlegungen für ein Aktionsprogramm
„Gewaltfreie Erziehung“ im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ).
Das Interesse von Einrichtungen der politischen Bildung an dem Thema war überraschend groß: 47 Einrichtungen aus unterschiedlichen Trägerzusammenschlüssen (AKSB,
Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten, Deutscher Volkshochschul-Verband, Verband
Ländlicher Heimvolkshochschulen Deutschlands) hatten ihr Interesse an der Tagung
und an einem allfälligen trägerübergreifenden Projekt angemeldet. An der Fachtagung
nahmen 34 Vertreterinnen und Vertreter von Bildungseinrichtungen der genannten Trägerzusammenschlüsse aus ganz Deutschland teil.
Die Tagung war in zwei Teile gegliedert: Im ersten Teil sollten anhand von drei Referaten mit anschließender Diskussion die Kenntnisse über den Diskussionsstand zum The-
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115
ma „Gewaltfreie Erziehung“ vertieft und die politische Dimension des Themas in Bildungsveranstaltungen erörtert werden. Im zweiten Teil sollte der von der AKSB vorgelegte
Entwurf eines Konzeptes für ein trägerübergreifendes Projekt in Arbeitsgruppen beraten
und im Plenum diskutiert werden.
2. Vertiefung der Kenntnisse, Erörterung der politischen
Problemstellung
In einem Einführungsreferat beschrieb der Tagungsleiter, Lukas Rölli, drei gesellschaftliche Entwicklungen, die in den vergangenen rund 30 Jahren zu einer stark veränderten
Einstellung gegenüber Gewalt in der Familie geführt haben: die erhöhte Sensibilität
gegenüber Gewalt in der Familie, die Veränderung der Erziehungsstile und die Erschwerung der Rahmenbedingungen für die familiale Erziehung. Soziologische Untersuchungen zeigten, dass körperliche Strafen in Form von deftigen Ohrfeigen oder einer Tracht
Prügel in rund einem Viertel aller Familien nach wie vor häufig angewandt würden. In
den meisten Untersuchungen zum Thema Gewalt in der Familie werde der enge Zusammenhang zwischen der unter dem Stichwort der „strukturellen Rücksichtslosigkeit“ zusammengefassten ungünstigen Rahmenbedingungen familialer Erziehung und dem Auftreten von körperlichen und seelischen Misshandlungen betont.
Das Expertengespräch mit dem Münsteraner Familienrechtler Prof. Dr. Holzhauer befasste
sich mit dem Verständnis von zentralen Begriffen im Zusammenhang mit den gesetzlichen
Rahmenbedingungen für die familiale Erziehung. Prof. Holzhauer wies insbesondere auf
die ungenügend scharfe Definition des Begriffes „Gewalt“ hin und betonte, dass die Abschaffung des elterlichen Züchtigungsrechtes nicht ohne Auswirkungen auf die strafrechtliche Beurteilung von Fällen der Körperverletzung in der Familie bleiben könne. Die ausgewogene Darstellung unterschiedlicher Rechtsauffassungen und deren historischer Entwicklung wurde von den Teilnehmenden sehr positiv aufgenommen. In der Diskussion mit dem
Referenten wurde die unterschiedliche Verwendung des Gewalt-Begriffes in pädagogischen, psychologischen, soziologischen und juristischen Kontexten deutlich. Trotz Differenzen zwischen steuerungsoptimistischen und steuerungspessimistischen Einschätzungen der Wirkung von familienrechtlichen Normen wuchs bei den Teilnehmenden die Erkenntnis, dass die Erarbeitung klarer, eindeutig handhabbarer Begriffe im Umgang mit
dem Thema „Gewalt in der Erziehung“ von zentraler Bedeutung ist. Für die familienorientierte
politische Bildung wurde hier ein klares Defizit festgestellt.
116
F AC H TAG U N G E N
Frau Heike Lipinski stellte in ihrem Referat Perspektiven für den Umgang mit dem Thema
„gewaltfreie Erziehung“ in der politischen Bildung vor. Sie griff dabei auf die Erfahrungen
aus dem AKSB-Projekt „Familie im sozialen Wandel“ zurück, das sie geleitet hatte. Folgende fünf Themenfelder eignen sich nach Ansicht von Frau Lipinski für die politische Bildung:
■ Klärung von Wertoptionen im Verhältnis Staat – Familie – Erziehung.
■ Information über die Verbreitung von „Gewalt“ in den Familien und über den Umgang
von Gesellschaft und Staat mit diesem Phänomen.
■ Auseinandersetzung mit den Ursachen von Gewalt in der Erziehung.
■ Auseinandersetzung mit den Folgen von Gewalt in der Erziehung.
■ Aufzeigen von konkreten Handlungsmöglichkeiten und Motivation zum persönlichen
Handeln.
Frau Lipinski betonte, dass der Transfer von Erkenntnissen in den eigenen Lebenskontext
der Teilnehmenden eine wichtige Leistung der politischen Bildung sein müsse. Bei der
konkreten Umsetzung der Themen in Bildungsveranstaltungen wies sie auf die Wichtigkeit von zielgruppenspezifischen Werbemaßnahmen und auf den Nutzen von Kooperationen mit Vereinen und Initiativen hin. Die Ideen von Frau Lipinski wurden von den
Teilnehmenden sehr zustimmend aufgenommen. In der Diskussion wurde auf die besondere Problematik von Aussiedler- und türkischen Migrantenfamilien hingewiesen. Die
Erziehung in diesen Familien sei häufig gewaltbelastet; die Betroffenen seien aber nur
G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P O L I T I S C H E B I L D U N G
117
schwer ansprechbar. Bisherige Erfahrungen hätten gezeigt, dass die Bereitschaft zur
Reflexion des eigenen Verhaltens am ehesten gegeben sei, wenn diese Gruppen allein
angesprochen werden. Ein ähnliches Problem könne sich auch bei der Ansprache von
Jugendlichen stellen. Verschiedene Teilnehmende wiesen darauf hin, dass es sinnvoll
sein könne, das Thema „Gewalt in der Erziehung“ im Rahmen von übergeordneten
Veranstaltungsreihen etwa zu „Erziehung“ aufzugreifen.
3. Perspektiven für ein trägerübergreifendes Projekt
Der von der AKSB vorbereitete Konzeptentwurf für ein trägerübergreifendes Projekt wurde in drei Gruppen jeweils unter verschiedenem Blickwinkel beraten: A) Projektziel und
Themenfelder der Bildungsveranstaltungen, B) Zielgruppen, Veranstaltungsformen und
Evaluationskriterien, C) Arbeitsstruktur des Projektes. Die Ergebnisse wurden im Plenum
vorgestellt und kurz diskutiert.
4. Ergebnis der Fachtagung
Es ist auf der Fachtagung gelungen, unter den beteiligten Pädagoginnen und Pädagogen das Bewusstsein für die rechtliche und politische Problematik der Forderung nach
gewaltfreier Erziehung in der Familie zu wecken. Alle Teilnehmenden waren sich einig,
dass die Eindämmung von „Gewalt“ in der Familie ein wichtiges gesellschaftspolitisches
Anliegen sei, zu dessen Verwirklichung politische Bildung einen wertvollen Beitrag leisten könne. Aus der Breite des Themenfeldes und der Verschiedenheit möglicher Zielgruppen ergeben sich zahlreiche Fragen, für die keine fertigen Lösungen vorliegen und
die in einem trägerübergreifenden Projekt sinnvoll gemeinsam bearbeitet werden könnten. Auf der Fachtagung wurde deutlich, dass eine genügend große Zahl von Bildungseinrichtungen ein ernsthaftes Interesse an einem solchen trägerübergreifenden Projekt
hat. Auf der Grundlage der Beratungen während der Fachtagung hat die AKSB deshalb
das Konzept „Familie und Gewalt: Menschen würdig erziehen!“ erarbeitet.
118
F AC H TAG U N G E N
4.1.2 Lukas Rölli
(Zusammenfassung des Einführungsreferats)
Der gesellschaftliche und politische
Rahmen für die Beschäftigung mit dem
Thema „Erziehung ohne Gewalt“ in der
politischen Bildung
Der am 23. Juni 1999 von SPD und Bündnis 90/Die Grünen eingebrachte Entwurf eines
Gesetzes zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung schlägt für § 1631 Absatz 2 folgenden
Wortlaut vor: „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“
Bereits vor zwei Jahren wurde § 1631 im Rahmen der Kindschaftsrechtsreform neu gefasst: „Entwürdigende Erziehungsmaßnahmen, insbesondere körperliche und seelische
Misshandlungen, sind unzulässig.“
Zur Begründung der Reform in der Bundestagsverhandlung vom 30. Juni 1999 wurden
vier Ziele genannt:
■ Es geht um die „Abschaffung des gewohnheitsrechtlichen Züchtigungsrechts in ganz
unmissverständlicher Weise“, aber nicht darum, die Anwendung elterlicher Gewalt
gegen Kinder strafbar zu machen.
■ Auf elterliche Gewaltanwendung, auch wenn sie noch unterhalb der Ebene der Strafbarkeit liegt, soll reagiert werden können.
■ Elterliche Gewaltanwendung soll sanktioniert werden und gleichzeitig soll geholfen
werden, dass sie nicht mehr geschehen muss.
■ Elterliches Versagen soll nicht verboten oder bestraft werden, aber Eltern sollen dazu
gebracht werden, die Würde ihrer Kinder wiederherstellen.
Was ist der Auslöser für diese Gesetzesänderung? Hat Gewalt zugenommen? Vieles deutet
darauf hin, dass dies nicht der Fall ist, dass es vielmehr die Einstellung zur Gewalt ist, die
sich in der Gesellschaft verändert hat. Drei gesellschaftliche Entwicklungen scheinen dabei
von zentraler Bedeutung: eine veränderte Sensibilität gegenüber Gewalt, veränderte Erziehungsstile und erschwerte Rahmenbedingungen für die familiale Erziehung.
G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P O L I T I S C H E B I L D U N G
119
1. Veränderte Sensibilität gegenüber Gewalt in der Familie
Die Zurückdrängung des Züchtigungsrechts auf einen immer engeren Personenkreis ist
ein langfristiger sozialgeschichtlicher Prozess. Beispielhaft einige Stationen: 1794 gab
es im Preußischen Landrecht noch ein „Recht der mäßigen Züchtigung des Ehemannes
gegenüber der Ehefrau“ das zwar 1812 gestrichen aber eigentlich erst 1900 durch das
BGB abgeschafft wurde. 1871 wurde im Reichsstrafgesetzbuch die Prügelstrafe abgeschafft (1923 auch für Strafgefangene). Das Züchtigungsrecht gegenüber Hausangestellten und Lehrlingen wurde im Laufe des 19. Jahrhuinderts eingeschränkt. Im 20. Jh.
gab es lange Auseinandersetzungen um das Züchtigungsrecht in der Schule; erst 1977
wurde bundesweit ein einheitliches Verbot von Körperstrafen in der Schule erlassen.
Das Kindeswohl tritt seit den 70er Jahren immer stärker in den Mittelpunkt der Gesetzgebung: Bei der Reform des Familienrechts 1979 ging man in § 1631 terminologisch von
„elterlicher Gewalt“ zu „elterlicher Sorge“ über; 1989 wurde die UN-Konvention über
Kinderrechte verabschiedet, die Gewalt und Misshandlung ächtet.
Züchtigungsrecht der Eltern gegenüber ihren Kindern hat sich bis heute erhalten. Dass
es dabei zu inakzeptablen Auswüchsen kommen kann, darüber wurde bis vor etwa 30
Jahren nicht gesprochen: Noch der Dritte Familienbericht von 1979 erwähnt Gewalt in
der Familie mit keinem Wort. Es war zuerst die Frauenrechts-, dann die Kinderrechtsbewegung und schließlich die Alarmierung durch rechtsextreme Gewaltauswüchse unter
Jugendlichen und erschütternde Fälle von Kindesmisshandlungen, die die Gesellschaft
sensibel für das Thema Gewalt in der Familie machten. Neueste kriminologische Untersuchungen (Christian Pfeiffer, Peter Wetzels)zeigen, dass tatsächlich ein Zusammenhang zwischen familialer Gewalterfahrung und Gewaltbereitschaft unter Jugendlichen
besteht.
2. Veränderte Erziehungsstile
Erziehungsstile haben sich zuerst im Bereich der öffentlich verantworteten Erziehung
verändert: Reformpädagogen bringen zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Wende zu
einer kindzentrierten Pädagogik, die sich allerdings nur sehr langsam durchsetzt. Die
familiäre Erziehung ist davon nicht unbeeinflusst; sie wird aber stärker noch durch
Individualisierungsprozess, Wertwandel und durch den Rückgang der Kinderzahl beein-
120
F AC H TAG U N G E N
flusst. Die Folgen: erhöhte Bedeutung von Elternschaft und damit verbundene Erwartungen an sich selbst; besonders ausgeprägt beim Typ der „modernen Eltern“ (nach Schülein).
Hier führt der Wandel von Pflicht- und Akzeptanz- zu Selbstenfaltungswerten (Klages) zur
Veränderung vom „Befehls- zum Verhandlungshaushalt“ (de Swaan). Ein solcher Erziehungsstil ist nur in Familien mit ein bis zwei Kindern praktizierbar. Der Generationenkonflikt,
der für die 50er und 60er Jahre noch typisch war, ist heute kaum mehr vorhanden.
Dennoch ist körperliche Züchtigung weiterhin ein weit verbreitetes Erziehungsmittel.
Vgl. die folgenden beiden Grafiken nach einer Studie von Kai-D. Bussmann im Rahmen
eines Teilprojektes des Sonderforschungsbereichs 227 an der Universität Bielefeld1:
Grafik 1
3. Erschwerte Rahmenbedingungen für die Erziehung in Familien
Die hohen Erwartungen, die Eltern an sich selbst stellen, führen allein schon oft zu
Überforderung. Durch die Isolation, in der viele Familien leben, wird die Belastung der
Eltern verschärft; Konfliktsituationen häufen sich.
Hinzu kommen ungünstige äußere Rahmenbedingungen, die treffend als „strukturelle Rücksichtslosigkeit“ (F.-X. Kaufmann) bezeichnet werden: finanzielle Schlechterstellung von
G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P O L I T I S C H E B I L D U N G
121
Grafik 2
Familien mit Kindern, schwierige Vereinbarkeit von Familie und Beruf, verstärkte Rollenkonflikte, erhöhte Anforderungen an Eltern durch das Bildungssystem und das Freizeitverhalten Jugendlicher u.a.m. Nicht zu unterschätzen ist auch die Wirkung von Gewaltdarstellungen in den Medien.
Die Eindämmung von missbräuchlicher Gewalt gegenüber Kindern ist ein unumstrittenes
Ziel in unserer Gesellschaft, dem sich alle Parteien und gesellschaftlichen Gruppen anschließen. Der Zehnte Kinder- und Jugendbericht schlägt drei Handlungsfelder für eine
wirkungsvolle Prävention von Gewalt in der Familie vor:
■ Veränderung der Einstellungs- und Handlungsmuster in der Gesellschaft
■ Veränderung der wirtschaftlichen und sozialen Lage von Familien mit Kindern
■ Erhöhte Anforderungen an ein Hilfesystem für betroffene Kinder und ihre Familien
Alle drei Handlungsfelder haben eine starke politische Dimension: Es geht um die Frage
nach dem Verhältnis von Familie und Staat, nach Zielen und Maßnahmen einer familienund kinderfreundlichen Sozialpolitik und nach Möglichkeiten zur Stärkung zivilgesellschaftlicher Netzwerke zur Prävention von Gewalt. Viele Experten meinen, die
Abschaffung des Züchtigungsrechtes sei ein geeignetes Mittel zur Unterstützung dieser
drei Handlungsfelder.
122
F A C H TA G U N G E N
4.1.3 Lukas Rölli
(Expertengespräch mit Heinz Holzhauer –
Zusammenfassung)
Rechtliche und politische Implikationen
des Rechtes auf eine gewaltfreie
Erziehung
1. Grundgesetzlicher Rahmen von Erziehung in der Familie
In der Formulierung von Art. 6, Abs. 2 GG („Pflege und Erziehung der Kinder sind das
natürliche Recht der Eltern“) wird ein ausgesprochener Steuerungspessimismus deutlich. Die familiale Erziehung wurde als ein vorgegebener Naturzustand angesehen, der
nicht erst durch den Staat geschaffen werden muss. Im Gegensatz zur Weimarer Verfassung wurden im Grundgesetz absichtlich keine Erziehungsziele genannt. Der Steuerungspessimismus wird heute von „linken“ Verfassungsrechtlern nicht geteilt.
G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P O L I T I S C H E B I L D U N G
123
2. Familienrechtliche Bestimmungen des BGB
Die familienrechtlichen Bestimmungen zu „Erziehung“ lassen sich in ein Koordinatensystem mit vier Dimensionen einordnen:
Personensorge
Vermögenssorge
rechtliche Sorge
tatsächliche Sorge
In Fragen der Vermögenssorge ist der staatliche Einfluss traditionell groß (ursprünglich
Sorge um Waisen). Fragen der Personensorge wurden in früheren Zeiten nicht staatlich,
sondern informell durch die Kirchen oder die Nachbarschaft geregelt. 1979 ging der Gesetzgeber vom Begriff „elterliche Gewalt“ zu „elterliche Sorge“ über. Die etymologische Herkunft
des Begriffes „Gewalt“ (lat. auctoritas, nicht violentia) von „walten“ ist aus dem rechtlichen
Bewusstsein weitgehend verschwunden. In der Reform der §§ 1626 und 1627 des BGB werden Ansätze zu einer staatlichen Mitbestimmung der familialen Erziehungsstile deutlich.
3. Begriffsbestimmung von § 1631 Abs. 2 BGB
Derzeitige Fassung von § 1631 Abs. 2: „Entwürdigende Erziehungsmaßnahmen,
insbesondere körperliche und seelische Misshandlungen, sind unzulässig.“
„Würde“: Der durch das christliche Menschenbild geprägte Begriff „Würde“ hat durch
das Grundgesetz eine hohe rechtliche Bedeutung gewonnen. In vielen seiner Anwendungsbereiche wurde früher mit dem Begriff „Ehre“ argumentiert, der stärker gruppenspezifisch geprägt war.
„Entwürdigend“ ist ein für die Charakterisierung von Erziehungsmaßnahmen geeigneter Begriff. Er weist auf den kommunikativen Charakter des Erziehungshandelns hin und
macht die Wirkung auf das Selbstwertgefühl des Kindes zum entscheidenden Kriterium.
Der Begriff ist nicht starr, sondern er bleibt dehnbar.
„Misshandlung“: Der Begriff „Misshandlung“ setzt voraus, dass es eine Vorstellung über
rechtes Handeln gibt.
„Unzulässig“: Das Wort „unzulässig“ kommt aus dem Öffentlichen Recht und suggeriert
eine Art von öffentlicher Beaufsichtigung. Es macht die punktuelle Kontrolle über die
Beachtung einer vorgegebenen Grenze erforderlich und schließt die Möglichkeit staatlicher Intervention ein.
124
F AC H TAG U N G E N
4. Rechtspolitische Absichten hinter dem Gesetzesentwurf
Es geht den Initiatoren der Gesetzesänderung v.a. darum, das „elterliche Züchtigungsrecht“ unmissverständlich abzuschaffen. Bisher gibt es keine Rechtsvorschrift, die dieses
Gewohnheitsrecht der Eltern, das seinerseits nirgendwo positiv benannt wird, verneint.
5. Folgen eines Rechtes auf gewaltfreie Erziehung
Im Strafrecht wirkt das gewohnheitsrechtliche Züchtigungsrecht bis jetzt als Rechtfertigungsgrund, um bei einem vorliegenden Straftatbestand der Körperverletzung eine
Strafe auszuschließen. Das BGB kennt keine solchen Rechtfertigungsgründe. Der Misshandlungs- und der Gewaltbegriff im Strafgesetzbuch und im BGB sind deshalb nicht
identisch. Eine Reform von § 1631 Abs. 2 in der geplanten Form würde das gewohnheitsrechtliche Züchtigungsrecht abschaffen und hätte durch den Wegfall dieses Strafausschließungsgrundes auch eine Auswirkung auf das Strafrecht.
Die Einführung des Begriffes „Gewalt“ resp. „gewaltfrei“ in das BGB ist sehr fragwürdig,
da diese Begriffe weitgehend offen gehandhabt werden und nicht klar genug umrissen
sind.
G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P O L I T I S C H E B I L D U N G
125
4.1.4 Heike Lipinski
Gewaltfreie Erziehung –
Perspektiven für die politische Bildung
1. Ist Erziehung Privatsache?
Erziehung von Kindern wird in Deutschland noch weitgehend als Privatsache angesehen. Sie wird zwar auch von staatlichen Institutionen wahrgenommen, die Hauptverantwortlichkeit liegt jedoch im familialen Bereich. Dies trifft insbesondere für kleinere Kinder bis zu drei Jahren zu. Dieses Verständnis spiegelt sich auch in der sozialpolitischen Ausgestaltung wieder. Beispiele hierfür sind: mangelnde Betreuungsangebote
für Kleinkinder unter 3 Jahren, das dominante Prinzip der Halbtagesschule, Erziehungsgeld nicht in der Funktion als Lohnersatzleistung u.ä. Das dies nicht prinzipiell so sein
muss, zeigen Beispiele aus anderen europäischen Ländern (z.B. Schweden, Frankreich
etc.).
Trotz dieser zunächst offensichtlichen Trennung zwischen politischem und privatem Raum,
dem auch die Kindererziehung zugerechnet wird, gibt es eine Vielzahl von Verflechtungen zwischen beiden Bereichen. Dabei gehe ich von einem systemischen Verständnis
aus. Das heißt vereinfacht dargestellt, die Gesellschaft besteht aus verschiedenen Teilbereichen, (u.a. Wirtschaft, Politik, Familie etc.) die systemisch miteinander vernetzt
sind und nicht unabhängig voneinander bestehen können. Diese Teilsysteme stehen in
gegenseitigen Wechselbeziehungen.
Aus diesem Verständnis folgt, dass Familie und damit Kindererziehung nicht unabhängig von Politik und Wirtschaft sein können. Ich möchte das kurz mit einigen Beispielen
verdeutlichen: Wie die einzelne Familie ihr Familienleben und die Erziehung der Kinder
ausgestaltet, ist nicht nur eine Frage des persönlichen Geschmacks, sondern immer auch
Reaktion auf das Machbare in einem bestehenden individuellen und strukturellen Kontext. So fließt beispielsweise gesellschaftlicher Wertewandel in die Erziehung mit ein.
Gesellschaftliche Werte, die in den fünfziger und sechziger Jahren bedeutsam waren,
wie Fleiß, Pünktlichkeit, Sauberkeit, Sparsamkeit (und nach Inglehard unter den Begriff
materialistische Werte zu fassen sind), wurden abgelöst durch hedonistische Werte, wie
126
F AC H TAG U N G E N
Genuss, Freiheit, Selbstverwirklichung. Ein anderes Beispiel ist, dass unser wirtschaftliches System immer noch auf dem Prinzip beruht, dass hinter einer vollzeitarbeitenden
Kraft, in der Regel der Mann, eine andere Person steht, in der Regel die Frau, die Haus
und- Familienarbeit leistet. Struktureller Einflussfaktor auf Familie und Kindererziehung
ist auch die gegebene oder nicht gegebene Möglichkeit der Vereinbarkeit von Familie
und Berufstätigkeit. Der Staat setzt Rahmenbedingungen für Kindererziehung, auch wenn
er keinen direkten Einfluss nimmt (durch Schaffung von Kinderbetreuungseinrichtungen,
Gestaltung der Sozialversicherungssysteme, sozialpolitische Maßnahmen etc.).
Im Gegenzug wirken Familie und Erziehung auf die Gesellschaft zurück. Viele individuell
getroffene Entscheidungen bewirken die Reaktion der Politik und die Anpassung der
Wirtschaft, der Einzelne ist nicht machtlos. Dass Familien auf die Gesellschaft zurückwirken, wird z.B. in der Debatte um Transferleistungen und Umverteilung zugunsten von
Familien immer wieder deutlich. Familien leisten einen Beitrag für die Gesellschaft,
vereinfacht gesagt: sie erziehen Kinder zu Menschen, die sich in diese Gesellschaft
integrieren können, Sozialverhalten zeigen und Verantwortung übernehmen. Dies stellt
einen Gewinn für die ganze Gesellschaft dar. Gelingt dies der Familie nicht, dann entstehen Sozialkosten, die die Gesellschaft tragen muss.
An diesen wenigen Beispielen wird bereits die enge Verflechtung des Privatraums Familie und damit der Kindererziehung mit anderen gesellschaftlichen Bereichen und damit
auch mit der Politik deutlich. Hieraus ergibt sich konsequenterweise, dass Familie und
Kindererziehung unverzichtbar Thema der politischen Bildung sein müssen.
Politische Bildung in diesem Themengebiet ist in katholischer Trägerschaft immer ein
besonderes Anliegen gewesen. Diese Verantwortung ergibt sich aus der katholischen
Soziallehre. Diese hat Ehe und Familie immer im Rahmen des gesellschaftlichen Kontextes begriffen und die geschilderten Wechselwirkungen mitbetrachtet.
2. Welche konkreten Themen kommen für die politische Bildung
infrage?
Erziehungsthemen werden in der Bildungsarbeit vor allem in der klassischen Familienbildung abgehandelt: Pekip, Spielgruppen, musikalische Früherziehung etc. Das Thema
Gewalt in der Erziehung und dessen politische und gesamtgesellschaftliche Relevanz
G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P O L I T I S C H E B I L D U N G
127
sollte jedoch noch in einen anderen Rahmen gestellt werden. Das mögliche thematische
Spektrum habe ich in sechs thematische Bereiche untergliedert, die aufeinander aufbauen und für Veranstaltungen der politischen Bildung aus meiner Sicht infrage kommen. Je nach Veranstaltungsform und Zielgruppe können alle thematischen Bereiche
behandelt werden oder nur Ausschnitte.
2.1 Politische Bildung verdeutlicht Wertoptionen
In diesem Themenkomplex wird sozusagen die Metaebene betrachtet. Der Staat hat in
die Erziehung der Familien eingegriffen, indem er mit dem neuen Gesetz eine klare
Grenze gezogen hat. Die Kindererziehung wird den Familien zwar nicht vorgeschrieben,
aber es wird eine klare Richtlinie gegeben, wie es nicht sein sollte.
Daraus ergeben sich verschiedene Diskursnotwendigkeiten über Fragen wie :
■ Ist der Staat berechtigt, in dieser Weise in die Erziehung einzugreifen? Nach einer
Studie von Petri billigen nur 40 % dem Staat dieses Recht zu. Wie kann das Verhältnis von Familie, Staat und Erziehung definiert werden?
■ Wie ist der Zusammenhang zu den Grundwerten des Staates? An welchem Werteverständnis knüpft ein derartiges Gesetz an? Verortung im normativen Kontext: Welche anderen normativen Optionen gäbe es alternativ und welche Folgen hätten sie?
Welches Menschenbild wird vorausgesetzt, welches Verständnis von der Würde des
Menschen?
■ Wie ist dieses Verständnis in anderen Ländern?
Die Klärung dieser Fragen kann den Ausgangspunkt für weitere Überlegungen bilden.
2.2 Information über den Ist-Zustand
Wenn man über die Problematik „Gewalt in der Erziehung“ diskutiert, sollte man ein Bild
darüber gewinnen, inwieweit dieses soziale Problem verbreitet ist und mit welchen
Gewaltphänomenen man es in welcher Größenordnung zu tun hat.
Dabei sind aus meiner Sicht zwei Aspekte wichtig:
■ Klärung der Frage, was unter Gewalt gegen Kinder in der Erziehung zu verstehen ist:
Zunächst kann man dazu neigen, diese Thematik auf offensichtliche körperliche Gewalt zu reduzieren. Es gibt aber vielfältige andere Formen von Gewalt, die genauso
gravierende Folgen nach sich ziehen können: z.B. alle Formen emotionaler Gewalt,
128
F A C H TA G U N G E N
Vernachlässigung, bewusster Liebesentzug, Mangel an Zärtlichkeit ebenso wie sexueller Missbrauch, strukturelle Gewalt wie Armut, fehlende Möglichkeiten den kindlichen Bewegungsdrang auszuleben, Leistungsdruck, überzogene Erwartungen etc.
Gewalt ist immer da zu sehen, wo Menschen, in diesem Fall Kinder, in ihrem Leben
gravierend verhindert oder behindert werden.
■ Klärung der Frage, welche Formen der Gewalt in welcher Größenordnung auftreten:
Ist Gewalt generell ein Thema in der Erziehung, oder betrifft es nur bestimmte Gruppe von Familien? Wenn ja, sind diese Gruppen schicht- bzw. milieuspezifisch zu
verorten?
2.3 Darstellung der Ursachen von Gewalt
Hintergrund ist hier, dass man, um eine Veränderung oder Verbesserung herbeiführen zu
können, zunächst begreifen muss, warum etwas so ist. Gewalt kommt nicht aus dem
Nichts. Jeder Gewalttätigkeit gehen aufgestaute Aggressionen voraus, die in Enttäuschung, Frustration, Verletzung ihre Ursache haben. Im Umkehrschluss bedeutet das,
dass jede Kränkung und Enttäuschung, die nicht verarbeitet werden kann, zu einer
erhöhten Aggressionsbereitschaft führt, die sich dann in Gewalt gegen Sachen, Menschen oder gegen sich selbst richten kann.
„Wie alle Untersuchungen zeigen, können Kindesmisshandlungen nicht als individualisierte Fehlhandlungen von Eltern oder anderen erwachsenen Tätern gegenüber Kindern verstanden werden. Sie haben fast immer eine Verankerung im gesamten Familiengefüge, und diese hat wiederum eine soziale Korrespondenz im umfassenden Gesellschaftsgefüge (Honig 1989). Insbesondere die psychische Gewalt gegen Kinder und
die psychosoziale Vernachlässigung bzw. Überforderung von Kindern haben eindeutig
soziale Ursachen und sind nicht alleine auf psychische Ursachen zurückzuführen (Engfer
1995).“ (aus: Bründel/Hurrelmann, Einführung in die Kindheitsforschung, S. 285,
Weinheim, 1996)
Dieses Zitat verdeutlicht, dass die Ursachen sich in strukturelle Ursachen, die viele
Familien betreffen und individuelle Ursachen, die nur die einzelne Familie betreffen,
trennen. Allerdings muss man bedenken, dass beide Ursachenbereiche in der Analyse
selten trennscharf sind. Man muss sich außerdem der Multikausalität bewusst sein,
dass selten nur ein Faktor ursächlich ist, sondern dass Ursachen sich gegenseitig
verstärken.
G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P O L I T I S C H E B I L D U N G
129
2.3.1 Gesellschaftliche Ursachen
Die Wahlmöglichkeiten der Lebensgestaltung des Individuums in unserer Gesellschaft
sind längst nicht so frei, wie dies suggeriert wird. Der Einzelne, und damit auch die
einzelne Familie stehen in strukturellen Rahmenbedingungen. Diese können günstig
sein und das Familienleben positiv beeinflussen. Öfter ist es aber so, dass sie zu
Stress und Überforderung der Familien führen. Stress gefährdet die Beziehungen der
Familienmitglieder untereinander. Wenn es keine Möglichkeiten der Kompensation
gibt, führt dies schnell dazu, dass der Druck sich am wehrlosesten Glied der Kette
entlädt. Stress, Demütigung und Verletzung (z.B. durch überfordernde Berufstätigkeit,
Arbeitslosigkeit, Armut, Wohnungsnot, mangelndes Betreuungsangebot für Kinder,
Doppelbelastung Familie/Berufstätigkeit, mangelnde Anerkennung von Familienarbeit,
soziale Isolation der Familie etc. ), die Eltern erleiden, werden weitergegeben.
Die Aggression kann aber genauso vom Kind ausgehen: Kinder, die unter schlechten
strukturellen Bedingungen leiden z.B. in der Schule gehänselt werden, weil sie ärmlich
gekleidet sind, reagieren aggressiv auf diese Demütigung. Dies kann zu Aggression und
Provokation gegenüber den Eltern führen, diese reagieren ihrerseits mit Gegenaggression.
Wandlung des Erziehungsverständnisses: Die Ansprüche, die an Eltern in Bezug auf die
Erziehung ihrer Kinder gestellt werden, sind im Rahmen der Pädagogisierung der
Kindheit immer höher geworden. Eltern haben in der heutigen Zeit die Aufgabe, die
optimale Förderung des Kindes zu gewährleisten, es auf die Anforderungen der Gesellschaft vorzubereiten, alles zu tun, dass es im leistungsorientierten Umfeld bestehen kann. Überforderung stellt sich bei den Eltern ein, wenn sie diese Aufgaben
nicht lösen können, wenn sie merken, sie können den selbst gestellten Erwartungen
nicht gerecht werden oder ihr Kind sich nicht so entwickelt, wie sie sich das in ihrer
Erwartungshaltung vorstellen.
Mediale Gewalt: Kinder und Eltern erleben in den Medien, dass Gewalt ein probates
Mittel der Auseinandersetzung ist und eingesetzt werden darf. Wenn die kritische
Distanz zu solchen Darstellungen fehlt, kann das Aggression bei Kindern auslösen.
2.3.2 Individuelle Ursachen
Man kann beide Ursachenkomplexe (individuelle und strukturelle) eigentlich nur analytisch, aber nicht praktisch voneinander trennen. In vielen Fällen sind individuelle
Ursachen prädisponierend und die belastende soziale Situation der aktuelle Auslöser. Das Spektrum möglicher individueller Ursachen, d.h. solcher, die in der Biographie der einzelnen Familie ihren Grund haben, ist vielfältig. Es können hier nur
einige Aspekte genannt werden.
130
F AC H TAG U N G E N
Mangelnde Kommunikation in Beziehungen: Es ist leider immer noch so, dass Menschen nicht gelernt haben, Konflikte verbal zu lösen. Auf Männer trifft das immer
noch in stärkerem Maße zu als auf Frauen. Dies wirkt in der Kindererziehung fort.
Dort wo man sich mit Worten nicht mehr vermitteln kann, entsteht Aggression und es
kann zur Gewalt kommen. Es besteht eine enge Verbindung zu den strukturellen
Ursachen. Wer gelernt hat, über die Kränkung, die ihm z.B. durch den Verlust des
Arbeitsplatzes entstanden ist, oder über die Überforderung, die durch die Doppelbelastung Haushalt-Familie entsteht, zu reden, kann Aggression auf diesem Wege
bereits abbauen.
Prägung durch die Herkunftsfamilie: In der Herkunftsfamilie werden Konfliktlösungsmodelle erlernt oder auch nicht. Wer Gewalt in der Kindheit selbst erlebt hat, neigt
dazu, im Erwachsenenalter selber gewalttätig zu werden. Studien haben ergeben,
dass viele Gewaltopfer, also Erwachsene, die selber von ihren Eltern z.B. geschlagen
wurden, in der eigenen Familie wieder in dieses Muster zurückfallen.
2.4 Folgen von Gewalt
Es besteht Konsens darüber, dass schwere Misshandlung ein Verbrechen am Kind ist.
Keine Einigkeit besteht jedoch darüber, was „der kleine Klaps“, den viele immer noch
für unverzichtbar halten, für Folgen hat. Der Kinderschutzbund hat erhoben, dass 70 %
aller Eltern Prügel als probates Mittel der Erziehung ansehen.
Bei den Folgen von Gewalt verhält es sich wie bei den Ursachen. Es gibt einen individuellen Anteil, dass heißt Folgen, die nur das Individuum betreffen, es gibt aber auch
Folgen, die darüber hinaus auf die Gesellschaft wirken.
Festzustellen bleibt: Geschlagene Kinder verhalten sich als Kinder und als Erwachsene
aufgrund ihrer Gewalterfahrungen im Durchschnitt anders als diejenigen, ohne eine
derartige Erfahrung. Ein Folgenkomplex von Gewalterfahrungen ist der ganze Bereich
der psychischen und psychosomatischen Auswirkungen: z.B. Sprachstörungen, Allergien, Neurodermitis, Nägelkauen, Asthma, Süchte, Magersucht, Depression, autoaggressive
Gewalt, übertriebene Sehnsucht nach Geborgenheit, Verhaltensprobleme, mangelhafte
Sozialkompetenz, Störungen des Selbstwertgefühls, Orientierungsschwierigkeiten bezogen auf Werte etc. Insbesondere die letzteren Punkte sind als sehr bedeutend einzustufen, weil sich aus diesen individuellen „Störungen“ eine Reihe in die Gesellschaft hineinwirkende Folgeerscheinungen ergeben. Hierfür seien einige Beispiele genannt:
G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P O L I T I S C H E B I L D U N G
131
■ Gewaltopfer werden zu einem hohen Prozentsatz wieder gewalttätig.
■ Gewalterfahrungen untergraben das Selbstvertrauen. Dies kann zu Angst vor Fremden
und in Folge dessen zu Rassenhass und Fremdenfeindlichkeit führen.
■ Gewaltopfer haben Probleme, Werte für sich zu definieren. Dies führt zu einem fehlenden Unrechtsbewusstsein, zur Gewöhnung an „falsche“ Werte und zu einem sehr
eingeschränkten Schuldbewusstsein.
■ Verhaltensstörungen aufgrund von Gewalterfahrungen führen zu Familien- und
Beziehungsunfähigkeit. Dies kann zu Scheidungen und den damit verbundenen Problemen führen.
■ Mangelndes Selbstwertgefühl und die Suche nach Geborgenheit kann zur Flucht in
die Sucht führen, in die Hände von dubiosen Cliquen oder Vereinigungen treiben, die
scheinbar diese Geborgenheit bieten (z.B. rechtsradikale, kriminelle Gruppen, Graffitiszene, Drogenmilieu, Sekten).
■ Wenn Kinder aus Furcht vor Gewalt die Flucht aus dem elterlichen Zuhause suchen,
geraten sie oft ins Bahnhofsmilieu großer Städte mit allen damit verbundenen Begleiterscheinungen wie Prostitution, Drogensucht, Kriminalität.
Bei diesen Beispielen muss immer klar sein, dass es um Einzelschicksale geht. Man muss
aber auch sehen, dass die Folgen in die Gesellschaft hineinreichen und damit alle betreffen, sei es in Form steigender Sozialkosten, steigender Krankenkassenkosten, Finanzierung von Arbeitsausfall, höheren Kosten für Polizei, höheren Kosten für Sozialarbeit etc.
Ich will die Problematik nicht auf Kostenrechnungen reduzieren, aber sie sind ein Aspekt.
Diese ersten vier Themengebiete, die ich ausgeführt habe, sind wichtig zur Information
und Reflexion, können Bewusstseinsbildung in Gang setzen. Für politische Bildung halte ich aber zwei weitere Schritte für unverzichtbar: Betroffenheit und Lebensweltbezogenheit herstellen und aus dieser Betroffenheit heraus zum Engagement motivieren.
2.5 Transfer in den eigenen Lebenskontext ermöglichen
Es ist für politische Bildung zu wenig, wenn die Teilnehmerinnen und Teilnehmer das
Thema nur als abstrakte Information wahrnehmen und hinterher sagen, dass war interessant oder weniger interessant. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sollten das Gefühl haben, dass betrifft mich, dass hat mit mir und meiner Lebenswirklichkeit zu tun.
Der Ansatz für diese Betroffenheit liegt im Bezug zur Lebenswelt der Teilnehmerinnen
und Teilnehmer, bzw. an dem Punkt ihrer Lebenswelt, an dem für sie das Thema relevant
132
F AC H TAG U N G E N
ist. Dieser Schritt ist die Basis dafür, um in einem nächsten Schritt zum Handeln zu
motivieren. Wie man diese Reflexion auf den Lebenskontext der Teilnehmerinnen und
Teilnehmer anstößt, richtet sich nach den einzelnen Zielgruppen.
2.6 Konkrete Handlungsmotivation erzeugen und Hilfsangebote präsentieren
Teilnehmerinnen und Teilnehmer kommen in Bildungsveranstaltungen zumeist mit einer
starken Ergebnisorientierung. Gerade bei politischen Themen besteht die Gefahr, dass
sie sich auf einer Ebene bewegen, die der direkten Einflussnahme der Teilnehmenden
entzogen ist und sie keine Handlungsspielräume sehen. Es ist daher unverzichtbar, dass
eine Bildungsveranstaltung im politischen Bereich auch konkret wird und den einzelnen
Teilnehmenden zeigt, wo sie ansetzen können, wo sie konkret etwas positiv bewirken
können. Es wäre fatal, wenn die Teilnehmenden am Ende der Veranstaltung das Gefühl
haben, ich kann sowieso nichts tun.
Es muss Aufgabe sein, aufzuzeigen, dass der Einzelne mit seinem Engagement, seinen
Entscheidungen und seiner Lebensgestaltung Gesellschaft mit verändern kann. Diese
Möglichkeiten für Veränderungen auf gesellschaftlicher und auf individueller Ebene sollten
erarbeitet werden. Man kann sich vielfältige konkrete Anregungen, die initiiert werden
könnten, vorstellen. Im folgenden sollen lediglich einige Beispiele genannt werden:
■ Aufzeigen der Möglichkeiten, strukturelle Verbesserungen für Familie auf politischer
Ebene einzufordern; über Möglichkeiten der Einflussnahme informieren; Familien zur
Lobbybildung anregen, damit sie selber politisch aktiv werden.
■ Wenn strukturelle Gegebenheiten nicht veränderbar sind, Hinweise geben, wie ein
positiver Umgang damit möglich ist.
■ Hinweise, wie Gewalt gegen Kinder aussehen kann und welche Möglichkeiten des
Eingriffs im konkreten Fall gegeben sind.
■ Erarbeiten von Kompensations- und Konfliktlösungsstrategien für Eltern (Wie kann
ich Aggression abbauen, Aggressionsauslöser im Vorfeld vermeiden, Kommunikationsverhalten innerhalb der Familie verbessern? etc.).
■ Vorstellung pädagogischer Programme/Umgangsmöglichkeiten mit aggressiven Kindern
■ Ideen zur Bewusstseinsbildung (Organisation von Gesprächskreisen, Aktionstagen,
Kampagnen in der Öffentlichkeit).
■ Information über bestehende Hilfsangebote, in denen man sich engagieren kann/die
man nutzen kann.
■ Möglichkeiten im präventiven Bereich.
G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P O L I T I S C H E B I L D U N G
133
3. Welche Aspekte sind bei der Umsetzung dieses Themas in die
politische Bildung zu beachten? Einige didaktische Hinweise
3.1 Zielgruppen
Für diese Thematik ist eine breite Palette möglicher Teilnehmerkreise vorstellbar, z.B.
Multiplikatoren aus der Kommunalpolitik, Multiplikatoren aus der Sozialarbeit, Ehrenamtliche, in der Seelsorge tätige Personen, beim Jugendamt Beschäftigte, Ärzte, Pädagogen, Studenten, Familien in verschiedenen Konstellationen, Großeltern.
Drei Prinzipien könnten bei der Auswahl der Zielgruppe bedenkenswert sein:
■ Generationenübergreifender Teilnehmerkreis: Wenn ganze Familien in eine Veranstaltung einbezogen werden, hat das den Vorteil, dass die einzelnen Mitglieder die Möglichkeit haben, gemeinsam und voneinander zu lernen und ein Thema von allen Seiten
zu betrachten. Jeder findet außerdem andere Personen mit demselben Status (also
andere Väter, andere Jugendliche etc.) mit denen eine Solidarisierung möglich ist.
■ Institutionenübergreifende Zusammenarbeit: So können z.B. Lehrer, Eltern und Schüler
an einen Tisch geholt werden.
■ Keine ausschließliche Mittelschichtorientierung.
3.2 Wie mache ich das Thema attraktiv?
Die Thematik „Gewalt gegen Kinder“ ist für potenzielle Teilnehmerinnen und Teilnehmer
nicht unbedingt attraktiv. Es handelt sich immer noch um ein gesellschaftliches Tabuthema. Familien weisen diese Problematik eher von sich („Das kann bei uns nicht passieren“) und wollen sich weder präventiv noch aktuell damit beschäftigen. Gerade bei
persönlicher Betroffenheit besteht eine große Hemmschwelle, sich damit auseinander
zu setzen.
Dazu einige Hinweise:
■ Man muss für die Werbung mehr Arbeitsaufwand einplanen und sehr gezielt vorgehen. Das Bedienen üblicher Verteiler reicht sicher nicht aus. Die Gefahr des Seminarausfalls sollte einkalkuliert werden, ebenso wie Wiederholungsversuche.
■ Es ist wichtig für die Veranstaltung eine gute Verpackung zu finden, z.B. thematische
Elemente in den Rahmen einer anderen Veranstaltung einbauen (z.B. in ein Familienwochenende). Das Thema sollte möglichst unverfänglich und positiv formuliert wer-
134
F A C H TA G U N G E N
den, zumindest wenn man Familien selbst erreichen möchte. Bei Multiplikatoren bietet
sich eher eine Formulierung an, die die Dringlichkeit des Problems bewusst macht.
■ In der Ausschreibung sollte schon die Methode deutlich werden. Gerade bei einer
Thematik, die in den eigenen Lebenskontext hereinreicht, besteht die Angst, dass
die Veranstaltung stark in den Bereich der Selbsterfahrung hereinreicht. Hier sollte
die Ausschreibung deutlich machen, dass es um Arbeit am Thema und nicht um die
Klärung persönlicher Lebensschicksale geht.
■ Ein effektiver Weg der Teilnehmergewinnung ist die Kooperation, z.B. Jugendamt,
Vereine, Gewerkschaften, Familienkreise. Die Teilnahme in der Gruppe fällt dem Einzelnen oft leichter.
3.3 Art der Veranstaltung
Hierzu kann man keine pauschalen Aussagen treffen, da man von der jeweiligen Zielgruppe ausgehen muss. Es hat sich gezeigt, dass sich bei der Arbeit mit den Betroffenen, in dem Fall Familien selbst, eher längere Veranstaltungen anbieten, da hier die Zeit
zum Austausch und zur Reflexion gegeben ist. Es kann ein Gruppenprozess angestoßen
werden, der zu Handlungsmotivation führt. Für Multiplikatoren sind in Anbetracht der
immer knapper werdenden Zeitbudgets wohl eher kürzere Veranstaltungen möglich, die
Ausschnitte aus dem Themenkomplex bezogen auf die jeweilige Multiplikatorenfunktion
aufgreifen.
Eine methodische Vielfalt, abseits der klassischen Methode Referat und Diskussion ist
für eine derartige Thematik in vielen Fällen sinnvoll. Vor allem Kleingruppenarbeit bietet sich an, weil die Angst der Teilnehmenden, sich zu äußern dann deutlich geringer ist
als im Plenum. Problemlösungen können effektiver erarbeitet werden. Kreative Methoden sollten da eingesetzt werden, wo Sachverhalte zunächst schlecht verbalisierbar
sind. Großer Wert sollte der Kennenlernrunde beigemessen werden, um bei dieser schwierigen Thematik zunächst einmal eine Atmosphäre des Vertrauens zu schaffen. Freizeitelemente sollten eingeplant werden, weil ein persönliches Thema die Teilnehmerinnen
und Teilnehmer (zumindest wenn es sich um Familien, bzw. persönlich Betroffene handelt) erheblich beansprucht. Die freien Zeiten bieten für den Einzelnen auch Möglichkeit der Aufarbeitung und Reflexion und Möglichkeiten im kleinen Kreis intensiv weiter
zu reden. Dies kommt auch den Bedürfnissen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer
entgegen, die der Kommunikation (Austausch mit anderen) im Durchschnitt einen ebenso
großen Stellenwert wie der Information einräumen.
G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P O L I T I S C H E B I L D U N G
135
3.4 Persönlichkeitsbildung und politische Bildung
Beide Bereiche werden oft sehr stark als gegenläufig angesehen, „die einen machen
das, die anderen machen das“. Bei Themen, die Partnerschaft, Familie, Erziehung betreffen, kommen beide Aspekte in den meisten Fällen unverzichtbar zusammen. Würde man
sich nur auf den politischen Aspekt beschränken, würde das Thema verkürzt betrachtet,
weil zwar die gesellschaftlichen Ursachen von Gewalt zum Tragen kommen, aber nicht
die individuellen. Damit fehlt ein stückweit der Bezug zum Leben der Teilnehmerinnen
und Teilnehmer. Reduziert man das Thema nur auf den persönlichkeitsbildenden Aspekt,
beschäftigt man sich lediglich mit individuellen Problematiken und übersieht, inwieweit gesellschaftliche Gründe relevant sind. Besonders problematisch wird es, wenn
versucht wird, Probleme mit strukturellen Ursachen auf der individuellen Ebene zu lösen. Es ist für das Thema wichtig, an der persönlichen Ebene anzuknüpfen, aber auf ihr
nicht stehen zu bleiben, denn das wäre für politische Bildung zu wenig. Nur wenn
individueller und struktureller Kontext zusammen kommen, entsteht aus meiner Sicht
bei diesem Thema ein sinnvolles Ganzes.
Anmerkungen
1
Kai-D. Bussmann, Familiale Gewalt gegen Kinder und das Recht. Erste Ergebnisse aus einer Studie
zur Beeinflussung von Gewalt in der Erziehung durch Rechtsnormen, in: Familie der Zukunft.
Lebensbedingungen und Lebensformen, hrsg. von Uta Gerhardt/Stefan Hradil/Doris Lucke/Bernhard
Nauck, Opladen 1995, 261-279.
136
4.2
F AC H TAG U N G E N
Gewaltfreie Erziehung –
Zu Theorie und Praxis
eines pädagogischen Leitbildes
24./25. Oktober 2000 in Neu-Anspach (Taunus)
4.2.1 Lukas Rölli
Zusammenfassung
Die Fähigkeit, sozial verträglich mit den eigenen Aggressionen umzugehen, stellte der
Darmstädter Pädagoge Prof. Manfred Gerspach als das eigentliche Ziel von „gewaltfreier
Erziehung“ dar. Als entscheidend für die Ausbildung dieser Fähigkeit sieht er die ersten
drei Lebensjahre des Kindes, in denen Eltern dem Kind vertrauensvolle Beziehungsräume eröffnen müssten. In der „strukturellen Gewalt“ einer kommerzialisierten Gesellschaft, die den Mensch immer mehr zur Ware mache, erblickt er ein wesentliches Hindernis für das Gelingen einer solchen Erziehung.
Zur Frage nach gewaltfördernden kulturellen Einflüssen in Migrantenfamilien legte die
Deutsch-Ägypterin Dr. Daoud-Harms aus Frankfurt a.M. überraschende Thesen vor, die
sie aus ihrer Beratungstätigkeit mit auffälligen Schülern aus Migrantenfamilien beim
Pädagogischen Institut Frankfurt a.M. gewonnen hat. Sie bestritt die weit verbreitete
These, dass die Ausübung von Gewalt durch Männer in Migrantenfamilien kulturell bedingt sei. Statt dessen betonte sie, dass migrationsspezifische innerfamiliäre Konflikte
und die Isolation ausländischer Familien die Gewaltbereitschaft erhöhten. Allerdings
räumte sie in der Diskussion ein, dass ein kulturell beeinflusster, stark ausgeprägter
Patriarchalismus diese Konflikte verschärfe. In einer guten Bildung sieht sie das beste
Mittel zur Überwindung patriarchaler Haltungen.
Mit dem Einfluss von Geschlechterrollen auf Erziehungsleitbilder und Erziehungshandeln
befasste sich die Frankfurter Pädagogin Dr. Barbara Rendtorff. Sie wies auf die entwicklungspsychologisch grundlegend unterschiedlichen Erfahrungen in der Entwicklung
der Geschlechtlichkeit bei Jungen und Mädchen hin. In der stärkeren Gefährdung der
G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P Ä D A G O G I S C H E S L E I T B I L D
137
psychosexuellen Position von Jungen/Männern sieht sie eine wichtige Ursache für deren erhöhte Aggressivität. Ähnlich wie Prof. Gerspach unterstrich sie die Bedeutung
eines unzerstörbaren Beziehungsrahmens in der Erziehung, der das Austragen von inneren Widersprüchen ermögliche. Im Blick auf gesellschaftlich geprägte Rollenmuster beklagte Frau Rendtorff, dass die Vereinbarkeit von Beruf und Familie heute viel zu sehr
als ein persönliches Problem der betroffenen Frauen angesehen werde. Ein neuer Diskurs sei erforderlich, der dieses Problem als eine gesellschaftliche Aufgabe angehe.
Vor allzu hohen Erwartungen an die Leistungsfähigkeit von Bildung bei der Veränderung
von Erziehungsverhalten von Eltern warnte der Darmstädter Sozialpädagoge Prof. Dr.
Achim Schröder. Bildungsarbeit müsse bei Erfahrungen der Teilnehmenden ansetzen,
um dann Reflexionsprozesse anzuregen. Die Methode des Szenischen Spieles nach Ingo
Scheller eigne sich besonders gut zur Anregung solcher Prozesse. Gesellschaftliche Aspekte des Themas Gewalt in der Erziehung würden dabei in der Regel selbstverständlich
in die Analyse einbezogen.
In der abschließenden Diskussion bemerkten die Referierenden übereinstimmend, dass
die Anregung für ein Umdenken im Erziehungsverhalten der Bevölkerung nicht unter
dem irreführenden Titel „gewaltfreie Erziehung“ erfolgen sollten, da dieses Schlagwort
moralisierend wirke und falsche Erwartungen wecke. Statt dessen sollte verstärkt bei
konfliktlösungsorientierten Konzepten der Friedenserziehung angesetzt werden.
Die Fachtagung mit einer überschaubaren Anzahl Teilnehmender bot einen guten Rahmen für intensive Diskussionen zwischen Teilnehmenden und Referierenden. Von den
Teilnehmenden wurde die Vermittlung von praktischen Erfahrungen der Bildungsarbeit
aus dem Projekt vermisst. Angesichts der Tatsache, dass zum Zeitpunkt der Fachtagung
noch keine solchen Erfahrungen in der Projektgruppe vorlagen, war dies bei der ersten
Fachtagung noch nicht möglich. In den Fachtagungen des Jahres 2001 sollte die Vermittlung von Projektzwischenergebnissen jedoch eine wichtigere Rolle spielen. Die Texte der Referate der Fachtagung wurden im Dezember 2000 in einer Dokumentation in der
Projekthomepage der Fachöffentlichkeit zur Verfügung gestellt.
138
F AC H TAG U N G E N
4.2.2 Manfred Gerspach
Zum Leitbild „Gewaltfreie Erziehung“:
seine anthropologischen, moralischen, sozialen
und pädagogischen Grundlagen
1. Allgemeine Aussagen über das Paradoxon von Erziehung und
Gewaltfreiheit
Erziehung wird immer mehr zum Mythos. Was die sozialwissenschaftliche Forschung in
der letzten Zeit dazu anzubieten hat, geht von einer Machbarkeitsvorstellung aus, die
ich nur noch als entfremdete Abbildung eines ökonomistischen Glaubensbekenntnisses
natürlicher wie humaner Ressourcenausschlachtung aufnehmen will. Jedenfalls werden
uns hier speziell zur Frage von Gewalt und Gewaltprävention Konzepte nahe gelegt, die
von einer erstaunlich unwissenschaftlichen Naivität beseelt sind, wie man denkt, ohne
einen Begriff vom Subjekt und seiner möglichen seelischen Deformationen auskommen
zu können und ihm dennoch das Gute antrainieren will.
Gar nicht reden will ich davon, dass immer dann nach bestimmten Erziehungsprogrammen
gerufen wird, wenn eine gravierende soziale Problemstellung auf eine gesellschaftliche
Situation ausgedehnter Ohnmacht verweist – denken wir nur, historisch gesehen, an
den demokratischen Umerziehungsgedanken nach der Zerschlagung des NS-Faschismus.
Heute ist es offensichtlich das Erstarken auffälliger, also antisozialer Verhaltensweisen
bei Kindern und Jugendlichen, das uns allgemein Kummer bereitet. Wir können inzwischen
bei den 2- bis 18-Jährigen von einer Prävalenz von bis zu 7 % ausgehen, dass sie
Störungen des Sozialverhaltens bzw. eine erhöhte Aggressivität aufweisen. Depressionen werden bei bis zu 17 % in dieser Altersgruppe prognostiziert, Angststörungen bei
mehr als 10 % (vgl. Petermann, Petermann 2000). Wie dem zu begegnen sei, das scheint
schwer zu beantworten.
Zwar gilt ein unmittelbarer Zusammenhang einer erstarkten ‚Gewaltkultur’ mit familialen
Faktoren als gesichert (vgl. Holtappels u.a. 1999, Martin 1999, Schubarth 2000), doch
über den Transfer, wie denn nun das Anwachsen eines Aggressionspotenzials im Einzelnen
G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P Ä D A G O G I S C H E S L E I T B I L D
139
vonstatten geht, existieren eher vage und oberflächliche Andeutungen. Dass aggressive,
bzw. depressive oder ängstlich-neurotische Reaktionsweisen von Kindern und Jugendlichen etwas mit bestimmten Bedeutungen zu tun haben, die einer subjektiv verfälscht
wahrgenommenen sozialen Situation entspringen und eben jenes Verhalten auslösen, wird
in der Regel nicht thematisiert. Ohne diesen Bezug zu erkennen und zu verstehen, werden
wir aber schwerlich einen Weg zu den inneren Verarbeitungsmechanismen des Einzelnen
finden, der es uns gestattete, veränderte Interpretationsmuster zu entwickeln.
Wer lediglich meint, Vorschläge zum Abbau von aggressiven und störenden Verhaltensweisen zu machen und in Trainingsprogramme umsetzen zu können, ohne auf den Sinnkontext erlebter Beziehungserfahrungen einzugehen, darf sich nicht wundern, wenn
sein Konzept vielleicht in einer eng umgrenzten Laborsituation funktionieren mag, nicht
aber draußen und ohne pädagogische Überwachung. Ebensowenig scheint es mir möglich, Eltern moralisch zum gewaltfreien Umgang mit ihren Kindern bewegen zu wollen,
wenn sie innerlich dazu nicht bereit oder fähig sind. Wem selber nie wirklich mit Respekt und Einfühlung begegnet wurde, der kann kaum die persönliche Fähigkeit aufbauen, solches an andere weiterzureichen.
Doch halten wir kurz inne und überlegen, was wir unter Gewalt verstehen wollen bzw. was
gewaltfreie Erziehung kann oder auch nicht kann. Gewalt als theoretischer, empirischer
und pädagogischer Leitbegriff lässt sich nicht auf körperliche Gewalt allein reduzieren
(vgl. Martin 1999, Melzer 2000, Schubarth 2000, Holtappels u.a. 1999). Eine knappe Definition lautet: „Insgesamt kann Gewalt als eine zielgerichtete direkte Schädigung begriffen werden, die unter körperlichem Einsatz und/oder mit psychischen und verbalen Mitteln erfolgt und sich gegen Personen und Sachen richten kann“ (vgl. Melzer 2000, 9).
Dabei erscheint die Abgrenzung vom Aggressionsbegriff problematisch, zumal es sehr
differierende und sich zum Teil widersprechende Auffassungen darüber gibt. Melzer schlägt
vor, Aggression für persönlichkeitsinterne Prozesse, Antriebs- und Verarbeitungsformen
zu nehmen und den Gewaltbegriff einer umfassenden Leittheorie vorzubehalten (vgl.
2000, 8). Meist werden Gewalt und Aggression aber synonym verwandt und beinhalten
jeweils neben der körperlichen auch verbale und psychische Faktoren (vgl. Schubarth
2000, 11).
Angeheizt durch die mediale Vermarktung wurde das Gerücht in Umlauf gesetzt, dass die
Gewalt unter Kindern und Jugendlichen explodiere. Ernsthafte Studien relativieren dies
140
F AC H TAG U N G E N
aber: Insgesamt ist ein leichter Anstieg an gewalttätigem Verhalten unter Jungendlichen zu verzeichnen, und wir müssen in etwa von folgenden Zahlen ausgehen:
von 1972 bis 1995 eine Zunahme bei
Schlägereien
Einbrüchen
von
von
5%
1%
auf
auf
12,5 %;
5,3 %;
Bandenzugehörigkeit
von
6%
auf
16,0 %.
Allein für die Population der Hauptschüler ergeben sich noch höhere Werte. Für alle
Schüler gilt, dass 3 – 4 % von ihnen zu einer härteren Tätergruppe zu rechnen sind,
wobei interessanterweise Täter und Opfer oft der gleichen Gruppe zuzurechnen sind.
Der starke Zuwachs von Raub- und schweren Körperverletzungsdelikten der 14- bis unter
21-Jährigen ist überwiegend solchen Jugendlichen zuzurechnen, die sozialen Randgruppen angehören oder aus Familien kommen, die von Armut bedroht sind. Fast ausschließlich weisen sie ein sehr niedriges Bildungsniveau auf (vgl. Pfeiffer 1999).
Die offiziell registrierte Jugendgewalt wie auch die Opferzahlen junger Menschen ist
seit Mitte der 80er Jahre um mehr als das Dreifache angestiegen. Allerdings hat sich
jener Anteil von Jugendlichen, die eine hohe Anzahl von Delikten zugeben, kaum erhöht. Überdies überwiegen verbale Attacken, bzw. in der aktiven Ausübung wie der
Opfererfahrung mildere Aggressionsformen. Die Mehrheit der Jugendlichen – in Ost- wie
Westdeutschland – ist aber altruistisch und gemeinschaftsorientiert eingestellt, sind
75 % aller Kinder und Jugendlichen überhaupt nicht in derlei Händel verstrickt. Insgesamt
kann man also nicht, wenn man den empirischen Befunden Glauben schenkt, von einer
dramatischen Zuspitzung der Lage ausgehen. Insofern ist aus ethisch-pädagogischer
Sicht ein Balancieren zwischen Nicht-Dramatisieren und Nicht-Bagatellisieren gefragt,
denn es gibt kaum objektivierbare Maßstäbe, wann eine Gewaltsituation als gravierend
zu bezeichnen wäre. Die Erziehungswissenschaft kann keine Normen liefern, die klar
vorgeben, was zu tun sei, sie vermag allein „Selbstbeobachtungskriterien“ liefern (vgl.
Melzer 2000, Tillmann 1999, Schwind u.a. 1999, Lösel u.a. 1999, Schubarth 2000).
Ohne eine differenzierte Sicht auf die Dinge werden wir nicht weiterkommen. Insbesondere
Scherr (1993, 1994, 1999) wendet sich gegen die gängige Annahme einer unspezifischen
Gewaltbereitschaft, die einer speziellen Täterpersönlichkeit zuzurechnen sei, frei nach
dem Motto: Schlechte Verhältnisse machen schlechte Manieren. Die Vorstellung radikalisierter arbeitsloser Jugendlicher entspricht wohl eher einem bürgerlichen Vorurteil als
G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P Ä D A G O G I S C H E S L E I T B I L D
141
dass es einer empirischen Überprüfung standhielte. Die Jugendlichen aber, die sich für
schäbig bezahlte Lohnarbeit verdingen und dementsprechend vom sozialen Abstieg bedroht sind, dürfen in einer ernsthaft geführten Diskussion ebensowenig übersehen werden wie jene Gewalttäter aus dem linksliberalen Elternhaus.
Der asynchrone und rasante Kultur- und Strukturwandel trägt sicherlich dazu bei, dass
„Desintegrations- und Verunsicherungspotenziale zunehmen, die Gewalt zu einer wichtigen Option der Bearbeitung solcher Problemlagen werden lassen“ (vgl. Schubarth 2000,
43). Auch bieten Kinder, die in einem restriktiven Klima erzogen werden, am meisten
Angriffsfläche für aggressivere Gleichaltrige (vgl. Rostampour, Melzer 1999, 183). Überdies
können ein wechselhafter, vernachlässigender und indifferenter Erziehungsstil, autoritäre Eltern-Kind-Beziehungen und machtbetonte Formen sozialer Kontrolle als familieninterne Risikofaktoren für das Auftreten von Aggressivität gelten (vgl. Kühnel, Matuschek
1999, 269). Ebenfalls ist in Klassen, in denen Kinder aus bestimmten Sozialschichten
dominant vertreten sind, die Gewalt entsprechend höher oder niedriger – es gibt ein
Gefälle von den Gymnasien zu den Förderschulen für Erziehungshilfe und Hauptschulen.
„Die bloße Schichtzugehörigkeit als Individualmerkmal lässt jedoch keine Rückschlüsse
auf das Gewaltverhalten zu“ (vgl. Melzer 2000, 12).1
Nicht zuletzt die Resilienzforschung belegt, dass die Aufsummierung von Risikofaktoren
kein abschließendes Urteil über den Einzelfall zulässt. Es ist nicht ein spezifischer Erziehungsstil im Sinne einer Erziehungstechnik – „wenn man darunter all das verstehen
will, was Eltern sagen, wenn sie danach gefragt werden, wie sie ihre Kinder erziehen,
worauf sie besonderen Wert legen, wie sie mit Konflikten umgehen, wie sie sie beruhigen, belehren, belohnen, bestrafen (…)“ – der die menschliche Entwicklung entscheidend beeinflusst. Viel stärkere prognostische Relevanz weist die „frühe Beziehungsqualität“ auf, wie sich die Eltern in bestimmten Interaktionssituationen zeigten. Hier
gelingt zunehmend ein empirischer Nachweis von signifikanten Zusammenhängen zwischen den frühen Beziehungsqualitäten und Merkmalen der späteren emotionalen und
psychosozialen Entwicklung (vgl. Göppel 1997, 279).
Defizitäre Sozialisationsbedingungen also pauschal als unmittelbares Verursachungsmoment aggressiven oder delinquenten Verhaltens ins Feld zu führen übersieht den
„interaktiven Charakter von Gewaltphänomenen“ (vgl. Scherr 1993, 329). Auch die These vom viel zitierten Zerfall sozialer Strukturen reicht empirisch gesehen als monokausaler Erklärungsversuch vermeintlich zunehmender Gewaltbereitschaft nicht allzu weit.
142
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Die damit verknüpfte Annahme, die allgemeine Not zur postmodernen Individualisierung stürze die heutigen Jugendlichen in ein Sinnchaos, löse sie aus traditionellen
Familien- und Klassenbanden heraus und liefere sie zunehmender Hilflosigkeit aus,
erweist sich aus Sicht einer soziologischen Subjekttheorie als äußerst fragwürdig,
vernachlässigt sie doch „wesentlich sozial typische Ereignisse“ wie etwa Erfahrungen
im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt und ignoriert „die alte Frage nach der
sozialen Ungleichheit“, die sich beileibe noch nicht erledigt hat (vgl. Scherr 1994,
176).
Ein wichtiger Aspekt gesellschaftlicher Ursachen von Gewalt ist sicherlich mit der Chiffre von der „Zwei-Drittel-Gesellschaft“ bzw. der „Winner-Loser-Kultur“ benannt: ein Drittel
gehört zum produktivistischen Leistungskern, dem Rest gelingt es nicht, den Bedingungen gesellschaftlichen Erfolges gerecht zu werden (vgl. Scherr 1993, Pfeiffer, Wetzels
1999). Jugendliche, die zur letzten Kategorie zählen, sind gegenüber akademisch gebildeten Jugendlichen selbstredend benachteiligt. Bei den Sprösslingen des Bildungsbürgertums geht es um Sprachfähigkeit und Einfühlungsvermögen, hier aber wird Gewaltfähigkeit zum Kriterium der Zugehörigkeit zur Altersgruppe. Männliche Jugendliche dieser Gattung machen einen überproportionalen Anteil an der Gruppe registrierter Gewalttäter aus (vgl. Scherr 1999). Die Gewaltbereitschaft dieser jungen Männer ist ein „statistisches Normalphänomen“ (Scherr 1993, 333), es macht wenig Sinn, über eine allgemeine Gewalteskalation zu lamentieren.
Schichtspezifische Sozialisationsprozesse spielen also eine gewichtige Rolle für das Auftreten jugendlich-männlicher Gewalt, eine lineare Zuordnung vorzunehmen wäre aber
fatal. Zwar müssen wir realisieren, dass in den Klassengesellschaften der Länder der
westlichen Hemisphäre eine Dominanz der Mittelklasse existiert, die den Angehörigen
der sozioökonomischen Unterschichten die nötigen Mittel zur Erreichung der von ihnen
definierten kulturellen Ziele versagt. So fühlen sich die Jugendlichen der Unterschicht
zwar an die Mittelklassennormen gebunden, sie erleben aber gleichzeitig immer wieder
Versagungen, Beschränkungen und die Unmöglichkeit, die vorgegebenen Ziele zu erreichen (vgl. Rauchfleisch 1999, 20 ff). Aber dissoziale Eigenschaften sind nichts Statisches. Sie stehen für einen dynamischen Entwicklungsprozess, an welchem nicht nur
das betroffene Individuum, sondern auch die Gesellschaft beteiligt ist.2
Zur Frage der Entstehung von Gewalt gibt es heute zahlreiche, oft konkurrierende Theorieansätze (vgl. Schubarth 2000, 64 f, Martin 1999, 21 ff). U.a. wird wie folgt argumentiert:
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143
■ Aggression entsteht reaktiv durch Frustration (Frustrationstheorie),
■ Aggression beruht auf Lernvorgängen (Lerntheorie),
■ Aggression erfolgt auf der Basis eines Aggressionsmotivs als Folge der Interaktion
von Person und Situation (kognitive Motivationstheorie),
■ Aggression ist der Versuch, ein bedrohtes Selbst zu schützen (psychoanalytische
Theorie),
■ Aggression ist die Folge biologischer Vorgänge im Organismus (soziobiologische Theorie),
■ Aggression ist abhängig vom kognitiven, moralischen und psychosozialen Entwicklungsstand (entwicklungspsychologischer Ansatz),
■ Aggression ist die Folge von Modernisierungs- und Desintegrationsprozessen (Individualisierungstheorie),
■ Aggression ist eine Form „produktiver Realitätsverarbeitung“, Nichtanpassung von
Kompetenzen und gesellschaftlichen Anforderungen (sozialisationstheoretischer Ansatz).
So plausibel sich das mitunter auf den ersten Blick anhört, so problematisch wird es
aber, wenn man sich die jeweiligen Konsequenzen für die Prävention anschaut. Da wird
verlangt nach
– der Kanalisierung der aggressiven Impulse,
– der Verstärkung erwünschten Verhaltens,
– Entspannungsübungen,
– Herauslösen aus antisozialen Gruppen,
– der Förderung von Partizipation,
– der Vermeidung von Etikettierung,
– dem Abbau patriarchalischer Strukturen,
– einer gerechteren Chancenverteilung,
ohne dass geklärt wäre: Geht das überhaupt? Welche Persönlichkeitsdeformationen stehen einem solchen Programm entgegen, wird hier nicht Sozialpädagogik mit Sozialpolitik verwechselt, was sind letzten Endes die implizit wirkenden normativen Vorstellungen der Pädagogen, die solche Modelle entwerfen?
Damit wird es nötig, einen Blick auf die jeweiligen anthropologischen Vorannahmen zu
werfen, die mehr implizit als explizit die Theoriebildung bestimmen. Mit Heinrich Roths
These, dass der Mensch ein sowohl aggressionsfähiges wie erziehungsbedürftiges Wesen
ist, kann man noch allemal konform gehen (vgl. Martin 1999, 84 ff). Was aber folgt aus
144
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dieser Erkenntnis? Muss die Tatsache, dass die aggressiven Tendenzen kulturell überformt werden können, zwangsläufig dazu führen, zu verstärkter Verhaltenskontrolle durch
rigide Regelsetzung zu greifen? Muss also am Ende Erziehung in erster Linie als Gegenwirkung zur Eindämmung des Aggressionspotenzials gedacht werden? Wird da nicht der
Teufel mit dem Belzebub ausgetrieben?
Umgekehrt gibt es kein kleineres Problem: Die Wertschätzungsphilosophie eines Carl
Rogers geht vom Guten im Menschen aus, davon, dass man dies dem Heranwachsenden
nur spiegeln müsse, damit es wachse. Ist es aber nicht unabdinglich für jeden gelingenden Erziehungsversuch, dass man dem Kinde, wenngleich wohldosiert, Versagungen zumutet? Das aber heißt oft Konflikt, Wut und Vernichtungsphantasien auf beiden Seiten.
Wenn Aggressionen in diesem Dialog keinen Platz finden, kann man nicht lernen, sie
allmählich so zu internalisieren, dass sie weder sadistisch noch selbstzerstörerisch agiert
werden müssen. Mit gelingender Erziehung meine ich jenen Vorgang, bei dem Bindung
und Autonomie in ein austariertes Verhältnis zueinander gesetzt sind: Keiner der
Beziehungspartner sollte den anderen über Gebühr dominieren wollen, wohl aber sollte
man sich, wie es Martin Buber (1925) ausdrückte, zeigen vor dem Kind und sich nicht
durch ein Phantom vertreten lassen.
Gelingende Erziehung nenne ich es, wen es einem Heranwachsenden ermöglicht wird,
sich mit seiner mangelhaften Ausstattung zu versöhnen und ein befriedigendes persönliches und soziales Leben zu leben. Die anthropologische Grundfrage zentriert sich nämlich meines Erachtens um den Punkt, dass wir Menschen stets pendeln zwischen Größenphantasien, was wir alles zustande brächten, und tiefen Selbstzweifeln und Ängsten.
Beide Regungen können Anlass mannigfaltiger aggressiver Durchbrüche sein.
Der Mensch kompensiert seine natürlichen Schwächen, indem er Werkzeuge gebraucht,
sich Institutionen, Sitten und Künste schafft und die Eingebungen und Erfindungen
seines Geistes nutzt. Es gehört allerdings auch zur Widersprüchlichkeit des Humanen,
dass aus der Erfahrung des Mangels oftmals ein wütendes Aufbäumen gegen das Unvermeidliche und damit ein Hang zur persönlichen Überschätzung resultiert. Der Mensch
legt all sein Streben in die Begierde, die physische wie psychische Unzulänglichkeit, die
vielfältige Abhängigkeit in seiner Phantasie dadurch ungeschehen zu machen, dass er
sich künstliche Mächte schafft – er strebt nach Reichtum, Einfluss, Größe. Und also
versucht er, sich die Natur wie seinen Nächsten untertan zu machen, und das Dilemma
ist, dass es ihm immer besser gelingen will. Zwar wird er von seinen Idealen geleitet,
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145
aber mehr noch von seinem Ehrgeiz getrieben. Denn die menschliche Aggression ist
dann am gefährlichsten, wenn sie von der Kraft der eigenen Grandiosität gespeist wird
(vgl. Kohut 1975, 146 ff).
Die Existenz der Aggression beim Menschen ist ursprünglich als gesundes Potenzial
anzusehen. Nicht zuletzt seine Willens- und Schaffenskraft hat dort ihren Ursprung.
Dass sie aber zuweilen aus dem Ruder läuft zeigt, wie wichtig es gerade aus pädagogischer Sicht ist, sich über die Hintergründe und Motive bestimmter Verhaltensweisen und
Persönlichkeitsmerkmale eingehender Gedanken zu machen. Eine anthropologische Selbstversicherung über die heimlichen Motive unseres Tuns, eine ethische Kritik, ein philosophisches Sinnieren unterbleiben aber zusehends in einer Zeit, die an erster Stelle den
Zugewinn, die Lustmaximierung als ihr Ziel nennt.
Wie immer wir die Dinge zu sehen belieben: Der Mensch ist und bleibt ein Mängelwesen,
und dennoch oder gerade deshalb verfügt er über Kultur und Bildung. Kultur und Bildung
sind ihm, dem instinktarmen Tier, zur zweiten Natur geworden. Und just hier taucht immer
wieder ein pädagogischer Grundkonflikt auf: Bedarf es der Zucht und Disziplinierung, die
wuchernde Triebnatur des Menschen im Zaum zu halten (vgl. Scheuerl 1992)?
Oder haben anstelle jener pessimistischen Anthropologie eher jene Auffassungen recht,
die wir schon in der Antike finden und die weniger die Mängel als seine besonderen
Werte betonen, mit denen der Mensch von Hause aus ausgestattet sei? Ist also der
Mensch, jener erste Freigelassene der Schöpfung, wie es bei Herder heißt, zum Kulturwesen prädestiniert, und oberste Pflicht der Pädagogik sei es, diese Werte ans Licht zu
bringen, den zu Erziehenden also nicht einzuengen, sondern darauf zu hoffen, dass sie
sich gleichsam von alleine entfalten? Mit Kants Worten ließe sich fragen: „Wie kultiviere
ich die Freiheit bei dem Zwang?“ Denn die Erziehung des Menschen bewegt sich zwischen Strenge, Repression, Anpassung und Unterwerfung auf der einen, Vernunft, Freiheit, Humanität und Subversion auf der anderen Seite (vgl. Scheuerl 1992).
Damit sind wir endlich beim Thema Erziehung angelangt. Erziehung soll dem Menschen
zu Mündigkeit und Emanzipation verhelfen. Sie soll ihn befähigen, gestützt auf kritisches und selbstständiges Denken und Urteilen sowie Sinnorientierung, sein Leben so
weit es geht, selbstbestimmt, vernünftig und verantwortlich zu führen. Weiterhin soll
sie ihm die Ablösung aus jenen gesellschaftlich verursachten Abhängigkeiten gestatten, die subjektiv als übermäßige und unzulässige Einschränkung der eigenen Freiheits-
146
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grade erscheinen (vgl. Gerspach 2000, 19 ff). Beides scheint unabdingbar an eine gewaltfreie Form von Pädagogik geknüpft.
Gleichwohl tun sich hier mehrere Dilemmata auf: Zunächst gilt für Eltern wie professionelle Pädagogen gleichermaßen, dass Erziehung heute von einer abgründigen Destabilisierung heimgesucht ist. Die Auflösung sozialer, kultureller und moralischer Vorstellungen und Verhaltenssicherheiten wirkt sich auf die Erziehungsabsichten besonders dramatisch aus. Wer noch immer vorgibt, sich in seinem Handeln auf gesichertes pädagogisches Wissen stützen zu können, verliert an Glaubwürdigkeit.
Weil eben die Mehrdeutigkeit und Unschärfe des Erzieherischen den Verlust jeglicher
Klarheit heraufbeschwört, die den Menschen im Grundsätzlichen betrifft, gilt: Wir können den Erziehungsprozessen keinen überzeitlichen Sinn ,an sich’ zuerkennen, sondern
sind gehalten, dem Sinn einer ethisch legitimierbaren Pädagogik nachzugehen. Hier
deutet sich eine Dimension an, die weit über eine rein wissenschaftliche Bearbeitung
hinausweist – das Ganze der Pädagogik hat einen wissenschaftlich nicht einholbaren
Sinn (vgl. Mollenhauer 1991).
Darüber hinaus bleiben wir stets einem Paradoxon verhaftet, auch und gerade, wenn
uns die Suche nach dem Sinnhaften in der Pädagogik antreiben mag: So soll Mündigkeit
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in einem Prozess erreicht werden, der zunächst die Unmündigkeit des Heranwachsenden
zum Gegenstand hat, vor allem soll das erzieherische Herrschaftsverhältnis Vertrauen
und Zuneigung ermöglichen (vgl. Lotz 1991).
Hier zeigt sich eine große Schwierigkeit: Erziehung beinhaltet per se ein Abhängigkeitsverhältnis, das, wird es vom kleinen Kind endlich realisiert, immense Wut auslöst: Es
erkennt schmerzlich, dass es auf die Liebe der physisch und psychisch überlegenen
Eltern angewiesen ist und sie also schützen muss vor seinen zerstörerischen Phantasien; und es sieht, was es im Vergleich zu ihnen alles nicht kann, was wiederum Anlass
einer mächtigen narzisstischen Kränkung ist, aus der sich erneut eine Menge Aggressionen speist. Umgekehrt ist das Kind auf Grund eben dieser mangelhaften Ausstattung
anfällig für seelische Verletzungen, die ihm nur allzu oft von Seiten der Erwachsenen
zugefügt werden. Aber selbst wenn die Eltern sehr liebevoll und empathisch mit ihrem
Kind umgehen, lässt sich eben diese Ungleichheit nicht verleugnen. Die Kränkung ist da
und bleibt erhalten. Sie macht Wut, und eine gewaltfreie Erziehung ist vielleicht die zu
nennen, die es schafft, dem Kind einen sozial verträglichen wie subjektiv gedeihlichen
Umgang mit seinen zerstörerischen Impulsen zu ermöglichen.
Allerdings müssen wir einrechnen, dass Erziehung eine recht unzuverlässige Angelegenheit ist: Wie gerne wird sie unter Druck ausgehebelt, können Menschen in bestimmten
Situationen zum Tier werden. Ethik und Vernunft sind eben deshalb seit den Tagen der
Aufklärung programmatischer Auftrag, das Triebhaft-Bestialische, zu dem der Mensch
sich hinreißen lassen kann, in soziale Formen zu gießen und also zu bändigen. Jüngst
hat Zygmunt Baumann in seiner „Postmodernen Ethik“ (1995) indessen darauf hingewiesen, dass die Rationalität selbst es war, die Gewalt gegen jene Lebensformen legitimiert hat, die mit ihrer Hilfe als minderwertig eingestuft wurden. Sie ist ein zweischneidiges Schwert, wie nicht zuletzt die aktuelle Diskussion um die Bioethikkonvention
zeigt, wo unter der Hand behindertes Leben zur Disposition gestellt ist.
Ethik ist zur gesetzlichen Regelung erstarrt, die die Verantwortung des individuell Moralischen auf dem Wege einer allumfassenden Bürokratisierung und Rationalisierung suspendiert hat. Insofern versteht Baumann den Holocaust als ein Projekt der Moderne, das
den Einzelnen für sein Tun persönlich nicht mehr haftbar macht. Die Postmoderne
schließlich hat alle großen religiösen und ideologischen Erzählungen zu Grabe getragen
und damit endgültig jede individuelle Verantwortungsethik verabschiedet. Allein eine
Re-Institutionalisierung persönlich zu tragender moralischer Verantwortlichkeit wäre
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F AC H TAG U N G E N
aber der Ausweg, denn, so Baumann, das moralische Gewissen ist „nur betäubt, nicht
amputiert worden“ (S. 371).
Seit Adornos Aufsatz „Erziehung nach Auschwitz“ (1966) sind wir aufgefordert, jede
Debatte über Erziehung so zu gestalten, dass Auschwitz sich nicht wiederhole. Weil aber
die Zivilisation selbst das Antizivilisatorische – eben die Gewalt – hervorbringt, ist dies
ein fast unmögliches Unterfangen. Es sei denn, man lässt die Angst zu, wie es Adorno
fördert. Erziehung soll nicht hart gegen sich selbst machen und damit Gewalt legitimieren, sondern gestatten, dass man die eigene Angst nicht verdrängen muss. Allein dadurch
kann manches von dem zerstörerischen Effekt der unbewusst verschobenen Angst gemildert werden.
2. Der Einfluss struktureller Gewalt auf die Erziehung
Dennoch habe ich die Hoffnung nicht aufgegeben, dass Erziehung einen kleinen Beitrag
leisten kann zur Frage, auf welche Weise dem Menschen ein „gekonnter Umgang mit
Aggression“ möglich werde, um sogleich eine Formulierung von Mitscherlich einzuführen. Mitscherlich unterscheidet ungekonnte von gekonnter Aggressivität (vgl. 1969,
90). Erstere meint den regressiven zerstörerischen Durchbruch, letztere eine verfeinerte
Form, die sich als ziel- oder sachgerechte Aktivität zu artikulieren versteht. Mitscherlich
gehörte zu jenen Humanwissenschaftlern, die sich Ausgangs der 60er Jahre um die
einschüchternden Erziehungsmomente des modernen Industriezeitalters bekümmerten.
In Zusammenhang mit der neu entstehenden technisch-industriellen Umwelt ist danach
ein Adaptationszwang aufgekommen, verbunden mit einem beträchtlichen Aggressionsüberschuss sowohl auf der Ebene des Gruppenverhaltens wie auf jener des individuellen
Lebens. Vor allem in den Ballungsräumen der technischen Umwelt entsteht ein „bedrängendes Gefahrenmoment für das innere Gleichgewicht des einzelnen“ (vgl. 1969, 84).
Das Selbst gerät in die Zwickmühle innerer Triebspannungen und einer äußeren Realität, die die gesellschaftliche Bewegung hin zur Industrialisierung durch „seelische
Konfektionierung“ ergänzt. Mitscherlich folgert: „Es ist keine böse Absicht, wenn Mütter
und Väter heute den Kindern nur mangelhafte Identifikationsmöglichkeiten bieten, vielmehr hängt dieser Mangel mit dem gesamtgesellschaftlichen Prozess des Übergangs von
einer technisch-revolutionären Veränderung der Umwelt in eine andere zusammen“ (S.
97).
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149
Begonnen mit dem Unsichtbarwerden der Väter und ihrer öffentlichen Entmachtung,
den rapiden Veränderungen in der unmittelbaren Umgebung schon des Kleinkindes, der
damit gesetzten affektiven Überforderung der Leistungsfähigkeit auch der Mütter wird
es offenbar immer schwerer, verlässliche innerfamiliale wie gesellschaftliche Strukturen
zu schaffen, die noch die Fähigkeit tradierten, Frustrationen und Triebaufschub zu ertragen, es sei denn, man bediene sich rücksichtloser Unterdrückungsmechanismen. Gehorsam ist aber ein schlechter Lehrmeister. Schon damals konnte Mitscherlich aufzeigen,
dass eben deshalb die Triebbeherrschung misslingt, weil die nachwachsende Generation
– nicht zuletzt unter Verwertungsgedanken – dazu verführt wird, gerade solche Triebe
ungezügelt auszuleben, die im offiziellen gesellschaftlichen Wertekodex gleichzeitig
abgewertet sind.
Und auch wenn Aggressionsmeisterung eine der wichtigsten Aufgaben ist, deren „Erfüllung Erziehung und kollektive Bräuche übernehmen“ sollen, so wissen wir doch, „dass
die Gesellschaft periodisch ihren Mitgliedern die Erlaubnis zur grausamen Unterdrückung und zur Tötung von Artgenossen, die zu tödlichen Feinden erklärt werden, gibt“
(S. 113). Insofern atmet Erziehung immer ein wenig „Kulturheuchelei“: „Manche Mörder
haben zur falschen Zeit am falschen Platz gemordet“ (S. 115).
Mitscherlichs Ausführungen verstehen sicher noch immer zu polarisieren. Vor allem der
viel zu früh verstorbene Klaus Horn, damals Mitarbeiter am Frankfurter Sigmund-FreudInstitut, hat seine Thesen noch radikalisiert. Horn wendet sich gegen eine Psychologie,
die den „gesellschaftlichen Einzelnen zum Ausgangspunkt des Redens über Gewalt“ mache und fortan den gesellschaftlich produzierten Gewaltzusammenhang verschleiere (vgl.
1996, 99). Vielmehr sei Gewalt als strukturelles ein gesellschaftliches Problem, und
daher müsse es primär um eine „Analyse des Gewaltzusammenhanges zwischen Sozialstruktur und subjektiver Struktur“ gehen (S. 107). Und er folgert, dass das entscheidende Gewaltverhältnis des organisierten Kapitalismus nach wie vor die private Aneignung
des Mehrwertes sei. Als logische Konsequenz ergibt sich mit Horn, dass die Frage nach
einer rationalen, und das heißt letzten Endes: gewaltlosen Erziehung „nicht von der
nach der vernünftigen Einrichtung der Gesellschaft getrennt“ werden kann (vgl. S. 25).
Diese Aussagen entbehren auch heute nicht einer gewissen brisanten Aktualität. Indessen sei an dieser Stelle eine leise, kritische Bemerkung eingewirkt. Lag die Betonung
dieser Zeitspanne auf dem sozialen Einfluss, dem sich der Heranwachsende ausgesetzt
sah, so erfreut sich heute die Hervorhebung der genetischen Disposition wieder zuneh-
150
F AC H TAG U N G E N
mender Beliebtheit. Wir erleben derzeit eine massive Rebiologisierung menschlicher
und vor allem sozialer bzw. politischer Angelegenheiten. Alles scheint genetisch vorherbestimmt, der Mensch wird bald gänzlich seiner Entscheidungs- wie Erkenntnismöglichkeiten beraubt, so als ob sich das Zeitalter der Aufklärung dem Ende zuneige.
Selbstredend gilt es anzuerkennen, dass es physikalisch-chemische Informationen gibt,
die das menschliche Leben im Sinne von „Erbfaktoren“ genetisch codieren, nicht zuletzt
um Erziehung vor überhöhten Erwartungen zu schützen. Aber die vielfältigem Kulturund Zivilisationsprozesse der Moderne mit ihrer immensen Wissens- und Technologieakkumulation haben dem Humanen eine Dispositionsvielfalt beschert, die jede genetische Determination zu überschreiben in der Lage ist (vgl. Treusch-Dieter 1996). Foucault
schreibt: „Der moderne Mensch ist ein Tier, in dessen Politik sein Leben als Lebewesen
auf dem Spiel steht“ (1977, 171).
Wir wissen schon lange, dass der Mensch nicht das rationale Wesen ist, für das ihn die
Behaviouristen gerne gehalten hätten. Allein Freuds Erkenntnis vom Unbewussten und
von der Macht der Affekte hat uns den komplexen Zusammenhang von Physiologie und
Ratio vor Augen geführt. Psychoanalyse bedeutet Ernüchterung, weil sie unserem Ich
offenbart, wie es an die Grenzen seiner Macht stößt. Das Ich ist nicht „Herr in seinem
eigenen Haus“ (vgl. Freud 1917a). Diesbezüglich schätzt Lorenzer an Freud, dass er
beziehungspsychologische Bedeutungen und neurophysiologische Vorgänge zusammendachte: „Psychoanalyse ist Naturwissenschaft und zugleich auch Analyse von Sinnstrukturen“ (1986, 1061).
Aggressionen sind animalische Relikte, und sicherlich gibt es genetische wie phylogenetische Dispositionen, die z.B. auch geschlechtsspezifische Unterschiede aufweisen.
Rein stammesgeschichtlich gesehen liegt die Vermutung nahe, dass Männer und Frauen
in der Tat auf äußere Gefahren anders reagieren mussten. Während beim Angriff kriegerischer Horden die Männer getötet oder weggejagt wurden, wurden Frauen als Beute
verschleppt. Es diente dem Überleben der Art, wenn Kleinkinder und Frauen diese Angriffe heil überstanden. Also mussten Frauen sich eher gefügig verhalten. Hier finden
wir womöglich ein weibliches Erbe vor, auf seelische Belastungen anders zu antworten,
als dies Männer tun, die in der Regel eher Aggressionen mobilisieren (vgl. Perry u.a.
1998). Ich denke, dass wir solche Überlegungen auf die unterschiedlichen Sozialisations- und Interaktionserfahrungen von Jungen und Mädchen beziehen müssen, um zu
plausiblen Schlussfolgerungen zu gelangen. Denn schon mit männlichen Neugeborenen
wird in der Regel anders herumgetollt.
G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P Ä D A G O G I S C H E S L E I T B I L D
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Der Mann als Sammler und Jäger richtete schon in der Vorzeit sein Interesse mehr nach
außen und musste gegebenenfalls aggressiv auftreten dürfen. Die Frau als Hüterin des
Heims und des Nachwuchses konzentrierte sich mehr auf das Innere. Auch mag es angehen, dass phylogenetisch betrachtet Männer mehr aggressives Potenzial benötigten: Sie
mussten sich auf einen intrasexuellen Wettkampf mit ihresgleichen einlassen, schließlich
können Männer viele Kinder zeugen, Frauen nur eine begrenzte Zahl von ihnen austragen (vgl. Euler 1999, 202 ff). Daraus aber global einen nicht vorhandenen familialen
Sozialisationseinfluss abzuleiten, halte ich für fragwürdig. Dies kann nur dann als stimmig bezeichnet werden, wenn ich mich eines naiven Begriffes von Erziehung bediene.
Wenn ich also von unmittelbar umgesetzten pädagogischen Absichten ausgehe – etwa
nach dem Motto: repressive Erziehung macht Aggressionen, nicht repressive Erziehung
verhindert sie – und ich dies über reine Verhaltensbeobachtung zu verifizieren oder
falsifizieren suche. So einfach ist es zum Glück nicht.
Hüten sollten wir uns vor einer lerntheoretisch verkürzten Sichtweise, so als sei Erziehung identisch mit einer elterlichen Instruktion, die in einem 1 : 1 - Verhältnis ihre
Wirkung erziele. Auch die Idee pädagogischer Vorbilder, die das Kind imitiere, trägt
nicht viel weiter (vgl. Bandura 1979, Euler 1999). Denn Welterkenntnis wie Selbsterkenntnis entspringt einem eigenständigen inneren Konstruktionsprozess, der sich vor
dem Hintergrund von Erziehungsvorgängen abspielt (vgl. Piaget 1975, Leber 1995).
Jedes heranwachsende Kind ist unabhängig von seinen Erziehungserfahrungen einem
gewaltförmigen Anpassungszwang ausgeliefert, der die Dialektik äußerer Realität und
innerer Reifungsprozesse geschuldet ist. Nach und nach entsteht daraus ein intelligenter Organisationszusammenhang, der es ihm auf immer komplexerer Ebene gestattet,
systematische Verknüpfungen herzustellen, Handlungsschemata aufzubauen und Handlungen operational auszuführen. Dabei muss das Kind imstande sein, der ihm durch die
aufgegebenen Rätsel aufbrechenden Verunsicherung standzuhalten und sein Gleichgewicht auf höherer Ebene neu zu finden.
Dazu bedarf es eines gedeihlichen Erziehungsmilieus, welches von einer befriedigenden
Beziehungserfahrung getragen wird, die Halten und Zumuten in ein austariertes Verhältnis setzt. Damit ist eine komplementäre Beziehung gemeint, in der vor allem das ganz
junge Kind die Erfüllung seiner Bedürfnisse und die Entlastung von bedrängenden Erlebnissen „erwartet“. Der Erwachsene braucht also die Fähigkeit, zu erspüren, was das Kind
z.B. gerade mit seinem Schreien meint und was es unmittelbar braucht. Daraus entwickelt
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sich unter günstigen Bedingungen eine haltgebende Beziehung, ein fördernder Dialog, der
weit über das Babyalter hinausreicht und dem Heranwachsenden hilft, innere wie äußere
Spannungszustände zu ertragen und zu bewältigen (vgl. Leber 1988). So lernt der Mensch,
unangenehme und bedrückende Affekte in sein Selbst-Erleben zu integrieren, ohne sich
ihrer mittels gewaltsamer Übergriffe auf andere entledigen zu müssen.
Ohne Zweifel kommt den biologischen Vorgaben eine gewichtige Bedeutung für das
individuelle Schicksal zu. So entwickelt sich das Selbsterleben von Jungen und Mädchen
unter dem Eindruck der eigenen Körperlichkeit und Psychosexualität unterschiedlich
(vgl. Mertens 1994). Die infantile Sexualtheorie über den Besitz oder Nichtbesitz eines
Penis, die von kleinen Kindern auf Grund ihrer kognitiven Unreife aufgestellt und im
Grunde das ganze Leben über als Wahrheit genommen wird, entscheidet zudem nicht
unerheblich über den Verlauf der persönlichen Geschichte und den dazugehörigen Umgang mit den eigenen Aggressionen. Allerdings geraten auch jene inneren Prozesse
rasch unter den Einfluss gesellschaftlicher, d.h. vor allem patriarchalischer Lebenspraktiken. Das Schicksal biologischer Anlagen ist eben eng verkoppelt mit gesellschaftlich zugestandenen Lebenspraktiken („Jungen weinen nicht, Mädchen sollen brav sein“)
bzw. innerfamilial erlebten Beziehungsformen, die sich selbst wieder brechen an gesellschaftlichen Adaptationszwängen, die oft mehr unbewusst als bewusst in die erziehenden Subjekte einsickern.
Unter den gegenwärtig herrschenden Besitz- und Produktionsverhältnissen mit ihren
umspannenden Technologisierungs- und Globalisierungtendenzen erleben wir eine zunehmende anonymisierte Enteignung der Subjekte von ihrer Subjektivität. Sie werden
zu einer immer entfremdeteren Form der Anpassung an die Gesetze des Marktes gezwungen, ohne dass ihnen dieser Akt der Selbstpreisgabe noch wirklich ins Bewusstsein
dränge, zumal offene Formen gewalttätiger Unterdrückung eher der Vergangenheit angehören und im Zuge der sogenannten Individualisierung und Pluralisierung jedem vorgemacht wird, er allein sei seines Glückes Schmied.
Um also zu einigermaßen plausiblen theoretischen Annahmen über das Aggressive im
Menschen zu kommen, die der Komplexität des Themas wirklich gerecht würden – aus
denen wiederum eine angemessene praktische Konsequenz zu ziehen wäre – müssen wir
uns folglich von der einzelnen Person weg und dem Begriff der Begriff der strukturellen
Gewalt zuwenden, der sich rein biologistischen Auffassungen menschlicher Angelegenheiten aufs effektivste zu entziehen weiß. Ich meine damit jene gewaltförmigen Einwir-
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kungen auf den Einzelnen, die sich aus der Eigendynamik der herrschenden ökonomischen Gesellschaftsform speisen. Vor dem Hintergrund eines Wirtschaftssytems, das allem und jedem den Charakter eines Ware zuerkennt, die zu Markte getragen wird, gehen
die Menschen miteinander verdinglichte Beziehungen ein: „Sie wissen das nicht, aber
sie tun es“ (Marx/Engels Werke Bd. 23, 88).
Das Nicht-Wissen führt zu einer Mystifizierung der Warenwelt. Jeder Einzelne wird zum
Produzenten seiner Ware Arbeitskraft, und bald verhält er sich zu sich selbst und zu den
anderen wie zu einer Ware. Indessen bleibt diese Ökonomisierung zwischenmenschlicher Beziehungen unbewusst, wird dieses Wesen der bürgerlichen Gesellschaft verschleiert.
Jenes auf rationaler Kalkulation beruhende Prinzip generiert die Universalität der Warenform sowohl in objektiver wie vor allem auch subjektiver Hinsicht und macht, dass die
Selbstobjektivierung des Menschen – sein „Zur-Ware-Werden“ – zum Zeichen entmenschlichter und entmenschlichender Warenbeziehungen wird. Bis hinein in die tiefste physische und psychische Seite des Menschen reicht diese Rationalisierung der Welt: der
Verstand selbst wird verdinglicht.
Diese Erkenntnis hatte Georg Lukacs (1923) vor bald 80 Jahren. Bezogen auf den umspannenden aktuellen Trend neoliberaler Wirtschaftspolitik darf sie nach wie vor Gültigkeit beanspruchen. Erst jüngst hat Sennett (2000) aufgezeigt, wie der „neue flexible
Kapitalismus“ mit seiner auf Kurzfristigkeit ausgelegten Ökonomie tiefsitzende Ängste
erzeugt, die den Menschen weit über die Einflusssphäre seines Arbeitsplatzes hinaus
heimsuchen. So spüren die Menschen das „Fehlen anhaltender persönlicher Beziehungen und dauerhafter Absichten“ (S. 131). Der Mensch wird zum getriebenen Menschen.
Sennett folgert: „Die Gleichgültigkeit des alten klassengebundenen Kapitalismus war
grob materiell; die Indifferenz, die der flexible Kapitalismus ausstrahlt, ist persönlicher,
weil das System selbst weniger definiert ist, in seiner Form weniger lesbar“ (S. 202).
Die Widersprüchlichkeit auf der erzieherischen Mikroebene wird ergänzt und vervollständigt durch ein anwachsendes Widerspruchspotential auf der sozialisatorischen Makro-Ebene. Wir erleben die Gefahr einer wachsenden globalen Entmündigung und Entwertung des Subjekts zugunsten der Funktionsfähigkeit machtvoller Systeme und Organisationen. Der Mensch wird fortschreitend ökonomisch funktionalisiert, was ihn mehr und
mehr entwertet, seine Ohnmacht steigert, so dass er am Ende immer störanfälliger – und
gewalttätiger – reagiert. Aus Soziologie und Medizin sind hierzu warnende Stimmen zu
hören (vgl. Bourdieu 1999, Sigusch 1997). Denn der Mensch als handelndes Agens, als
Subjekt, das die Dinge bewegt, erlebt tendenziell, nichts mehr bewirken zu können.
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Das alles ist strukturelle Gewalt, die auf dem Einzelnen lastet; strukturell deshalb, weil
sich ihr niemand entziehen kann, schlimmer noch: weil sie nur mehr wenigen als solche
bewusst wird. Wer strukturelle Gewalt erlebt, und geschehe dies auch noch so diskret,
der ist nicht frei von der Tendenz, jeden deformierenden Einfluss auf das, was an Regungen und Verhaltensweisen als legitim empfunden wird, zu tradieren. Erdheim sprach
diesbezüglich von der gesellschaftlichen Produktion von Unbewusstheit. Jede Kultur
gestattet gewissen psychischen Manifestationen den Zutritt ins Bewusstsein und verlangt, dass andere verdrängt werden. „Unbewusst muss all das werden, was die Stabilität der Kultur bedroht“ (vgl. Erdheim 1984, 192 ff).
Der notwendig werdende „Prozess der Zivilisation“ verlangt denn auch, weil kollektive
und institutionalisierte Verhaltensregelungen ausfallen, nach verstärkter individueller
Selbstkontrolle und Disziplin, was durch eine verinnerlichte Moral zu steuern gesucht
wird (vgl. Elias 1976). Gleichzeitig erleben wir einen umspannenden Niedergang an
moralischer Kultur. Die bis dato ungesühnten kriminellen und semi-kriminellen Machenschaften so manchen law-and-order-Mannes werden einen weit verheerenderen Einfluss
auf diesen Verflüchtigungsprozess haben, als bislang offenbar geworden ist.
Allerdings ist dieser Prozess der Zivilisation im Zeitalter der Globalisierung entfesselter
Marktinteressen, wie Eisenberg es sieht, in ein neues Stadium eingetreten. Die Verdrängung unliebsamer Triebregungen war ehedem der der Akkumulation des Kapitals gemäße Abwehrmechanismus. Die klassische Neurose entstand vor dem Hintergrund einer
patriarchalischen Traditionsfamilie, in der der autoritäre Vater mit Macht die Unterwerfung unter sein Realitätsprinzip forderte. Der so Erzogene musste sein ganzes Lebensinteresse „unter Schmerzen in sich begraben“ und es projektiv in jenen verfolgen, die
„nicht sichtlich Seinesgleichen sind“ (vgl. Eisenberg 2000a, 2000b).
Heute finden wir eher ein Zuwenig als ein Zuviel an Verdrängung und aufgebürdeter
Enttäuschung vor. Der flexible Kapitalismus verlangt denn auch, sich vom „analen Syndrom“ zu lösen und traditionelle Hemmungen abzulegen. Denn er bedarf eines allseits
verfügbaren und wendigen Menschen, der sich von allen herkömmlichen Bindungen
gelöst hat. So kommt es wie es kommen muss: „Unter den Realitätseinbrüchen der
Gegenwart ist der familiare Binnenraum zusammengebrochen, die Eltern verblassen zu
Statisten“. Viele Gewalterscheinungen bei Kindern Jugendlichen weisen keine Struktur
mehr auf, erscheinen motivlos und zweckfrei – gerade im Westen Deutschlands, wo der
gesellschaftliche Korrosionsprozess weiter fortgeschritten ist als im Osten, trifft man
G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P Ä D A G O G I S C H E S L E I T B I L D
155
nicht einmal mehr auf eine stichhaltige Begründung; es passiert einfach so. Zwar sind
derlei Überlegungen empirisch noch nicht abgesichert, erscheinen jedoch plausibel.
Psychodynamisch gesehen lässt sich die (braun eingefärbte) Wut des Autoritären vom frei
flottierenden Hass des narzisstisch Gestörten unterscheiden. Dieser richtungslose Hass ist
Produkt einer „Erziehungsverwahrlosung“, dementsprechend entlädt er sich individualisiert und ungerichtet. Keine feindliche Triebregung wird damit abzuwehren gesucht. Vielmehr ist er der Reflex auf eine ständig drohende psychische Fragmentierung. Es ist eine
ganz und gar archaische Wut, die sich bei der kleinsten narzisstischen Erschütterung Bahn
bricht. Die unkonturiert auftretende Gewalt ist das innerseelische Korrelat einer gesellschaftlichen Entfremdung, wo im Zeichen von Beziehungslosigkeit, Indifferenz und Kälte
das Selbstgefühl nicht mehr erwärmt wird und jede Innerlichkeit erfriert.
Zum einen schwindet das Monopol familiärer wie öffentlicher Erziehung, weil sie sich an
der verpflichtenden Weitergabe konsensfähiger Regeln gehindert sieht. Zum andern nimmt
die anonymisierte Einwirkung aufs Subjekt in unüberschaubarer Weise zu – abzulesen
etwa an der massenmedialen Mediatisierung der Gesellschaft (vgl. Ferchhoff 1994). Damit
wird die Stabilität der Kultur selbst bedroht, und das muss zwangsläufig zu einer Labilisierung
des Subjekts führen. Der gesellschaftliche Modellierungsprozess des Einzelnen im Sinne
der abendländischen Zivilisation verlangt nach einer besonders intensiven und stabilen
Regulierung psychischer Prozesse. So führt die Umleitung und Verwandlung von nicht
geduldeten Trieb- und Affektäußerungen immer häufiger dazu, dass Zwänge sich in Selbstzwänge umsetzen. Gesellschaftlich akzeptierte Kulturleistungen stehen dann unmittelbar
neben seelischen Deformationserscheinungen (vgl. Gerspach 1998, 2000).
Allein ein Bildungsverständnis, das ich insofern als subversiv bezeichnen möchte, als es
vor allem die Fähigkeit zu selbstreflexivem Querdenken birgt, um damit zu erkennen,
inwieweit wir bereits mit dem Virus der strukturellen Gewalt infiziert sind, kann diesen
Einfluss tendenziell wieder aufheben. Diese Fähigkeit zu tradieren ist für mich die erste
Voraussetzung gewaltfreier Erziehung.
Und damit kehre ich zurück zum Verhältnis von biologischen und gesellschaftlichen
Einflüssen. Nur wenn wir uns den diskreten und zu großem Teil unbewusst verlaufenden
Sozialisationsprozessen zuwenden, werden wir verstehen, wie genetische Disposition
und soziale Erfahrung eine je eigene Verbindung eingehen. In diesem Sinne sind Triebschicksale stets Beziehungsschicksale, sind Körperprozesse „in Beziehung zu“ zu sehen
156
F A C H TA G U N G E N
(vgl. Lorenzer 1974, 178): „Wirksame Natur ist im Individuum immer schon strukturiert
in bestimmten Interaktionsformen, in denen das Nichtidentische mit Gesellschaft in der
körperlichen Ausgangslage steckt“ (S. 120). Horn hat es ähnlich gefasst: „Psychoanalytische Sozialisationstheorie hebt das materielle Substrat, das Körperliche menschlicher
Natur als eine Größe hervor, die gesellschaftlich (in der Sozialisation) bearbeitet wird
und doch in diesen Formen der Bearbeitung nicht aufgeht“ (1974, 168).
Wichtig erscheint mir an diesem Punkt, dass die Fähigkeit des Menschen zur Erkenntnis
wie Selbsterkenntnis, in anderen Worten: zur Reflexion wie Selbstreflexion ihm einen
Weg zeigt, sich von biologischen Zwangsläufigkeiten tendenziell zu emanzipieren. Der
Mensch ist nicht passives Opfer seiner genetischen Ausstattung, auch wenn diese Annahme heute vielen in den politischen Kram passt, weil sie soziale Ungleichheit aus
ihrer politisch-ökonomischen Fassung bricht.
3. Konzept für eine gewaltfreie Erziehung
Eingedenk des soeben skizzierten gesellschaftlichen Einflusses auf die Genese des Einzelnen möchte ich dennoch mein Augenmerk weiterhin auf den familialen Mikrokosmos konzentrieren. Ich habe darauf hingewiesen, dass die These einer linearen Zuordnung gesellschaftlicher Risikofaktoren zur Manifestation individueller Gewaltbereitschaft nicht wirklich haltbar ist. Ohne den Blick für den Einzelfall zu schärfen, wird es uns nicht gelingen,
zu verstehen, wann sich derartige Probleme tatsächlich einstellen und wann nicht.
Und da komme ich nun auf einen zentralen Aspekt zu sprechen, der diesem Beziehungsrahmen sein charakteristisches Gepräge verleiht: Das Erleben des Einzelnen beruht sehr
stark auf früh einsetzenden – stimmigen oder nicht stimmigen – affektiven Erfahrungen
mit den primären Objekten, und diese Affektabstimmungen haben einen entscheidenden Einfluss auf den Umgang mit dem eigenen aggressiven Reservoir. Sie sind es, die
dem heranwachsenden Menschen erste Orientierungshilfen in sozialen Bezügen geben –
oder eben zu systematischer Realitätsverzerrung führen mit dem scheinbar einzigen
Ausweg, aggressiv bzw. selbstzerstörerisch aufzutreten.
Aggression ist eine biologische Reaktionsmöglichkeit, das eigene psychische Selbst gegen (reale oder vermeintliche) Drohungen zu verteidigen. Diese Fähigkeit entwickelt sich
nach und nach vor dem Hintergrund intersubjektiver Erfahrungen in den ersten drei Le-
G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P Ä D A G O G I S C H E S L E I T B I L D
157
bensjahren. Mehr und mehr gewinnt das Kind in dieser Zeit die Erkenntnis von den mentalen Zuständen in anderen Personen. Wenn die wichtigen unter diesen Personen – in der
Regel Mutter und Vater – ohne Einfühlungsvermögen oder feindselig erfahren werden, ist
die Erfahrung dieser mentalen Zustände schmerzhaft für das Kind. Seine reflexive Funktion, sich selbst und andere (selbst)kritisch betrachten zu können, wird nur unzureichend
ausgebildet. Langfristig kann Aggression zum vorherrschenden organisierenden Einfluss
beim Aufbau des Selbst werden. Im Grunde obliegt es der Pädagogik, im Rahmen einer
Sicherheit gewährenden gutwilligen Beziehung einen intersubjektiven Prozess anzubahnen, der den Rückgriff auf aggressive Reaktionsweisen zu minimieren versteht und so das
Selbst stärkt (vgl. Fonagy u.a. 1998, 125).
Die Kernfrage lautet: Welche innerseelischen Vorgänge und Repräsentanzenbildungen
vom eigenen Selbst und den Objekten3 finden in den frühen Erziehungsprozessen statt
und welche Persönlichkeitsstrukturen werden in der Folge ausgebildet? Was hat etwa
Gewaltbereitschaft mit dem eigenen Erleben zu tun? Ich möchte nun die Hintergründe
für einen fürsorglichen Erziehungsrahmen schildern bzw. die Auswirkungen eines inkonsistenten frühen Milieus auf das kindliche Erleben umreißen. So können wir spätere
problematische Verhaltens- und Verarbeitungsweisen besser verstehen. Zunächst sei
darauf hingewiesen, dass eine hinreichende bzw. unzureichende Auseinandersetzung
mit der Umwelt und die (Un-)Fähigkeit, stimmige Objektbeziehungen einzugehen, in
erster Linie auf dem jeweiligen Charakter der frühen Erfahrung beruhen (vgl. Gerspach
1997). Eine unzureichende Auseinandersetzung wäre jene, bei der es zu keiner angemessenen Konfliktregulierung im Sinne einer zulässigen Sozialverträglichkeit kommt.
Am Ursprung vieler dissozialer Entwicklungen stehen „verinnerlichte pathologische frühkindliche Objektbeziehungen“ meist oral-aggressiven Charakters, wie es Rauchfleisch auf
Grund seiner langjährigen theoretischen Forschungen und praktisch-psychotherapeutischen Erfahrungen befindet (vgl. 1999, 43).
Die emotionale Unzuverlässigkeit der frühen Interaktionspartner schlägt sich später
strukturbildend im Subjekt als „Struktur verhinderter Subjektivität“ nieder (vgl. Finger
1977, 155; vgl. auch Lorenzer 1977, 53). Wo die Mutter4 ihrem Kind keinen von gemeinsamer Affektabstimmung getragenen Dialog anbieten kann, bleibt die Interaktion beider
leer und äußerlich. So hat die Mutter schon in ihr „imaginiertes Kind“ investiert, bevor
es geboren wurde (vgl. Roedel 1986, 130). Nach Mannoni soll das geborene Kind seine
Mutter für die Leere der eigenen Kindheit entschädigen (vgl. Mannoni 1972, 23). Durch
die fortwährende Begegnung mit dem realen Kind werden die imaginierten Vorstellun-
158
F AC H TAG U N G E N
gen der Mutter allmählich ersetzt. Die wachsende Erfahrung mit dem sich zunehmend
eigenständig entwickelnden Kind, das Erleben der Differenz von wirklichem und phantasmatischem Kind, ermöglicht der Mutter ein allmähliches Aufgeben ihrer Projektionen
(vgl. Mannoni 1980, 101).
Ist allerdings die Unfähigkeit der Mutter vorherrschend, in der Beziehung zum Kind von
eher primärprozesshaft gesteuerten Beziehungsangeboten zu reiferen, sekundärprozesshaften voranzuschreiten, wird eine Einigung auf eine für beiden Seiten befriedigend
verlaufenden Beziehungsprozess verfehlt werden. Primärprozesshaft gesteuerte
Beziehungsangebote sind verbunden mit ungehemmt und häufig unvermittelt abfließenden heftigen Affekten, sekundärprozesshafte dagegen beinhalten, dass sich Interaktion über Sprache vermitteln lässt. Die Unbeständigkeit der frühen Interaktionen
hinterlässt dann eine Anfälligkeit für narzisstische Kränkungen5, die sich später in der
Bereitschaft äußern wird, sich beim geringsten Anlass provoziert und zu einer heftigen
Reaktion herausgefordert zu sehen.
Unter hinlänglich befriedigenden sozialen Bedingungen kommt es für beide Seiten,
Mutter wie Kind, zu einer emotional befriedigenden Interaktion, verbunden mit „guten“
wechselseitigen Phantasien6, die in eine gemeinsame Träumerei einmünden (vgl. Milani
Comparetti 1986, Pedrina 1992). So entsteht eine dyadische Verschmelzung der inneren
Vorstellungen und Phantasien des einen mit dem Verhalten des anderen Beziehungspartners. Vor dem Hintergrund dieser gedeihlichen Mutter-Kind-Interaktion erwächst
auf Seiten des Kindes aus einer zunächst diffusen psychophysischen Welterfahrung eine
konturierte Beziehungsfähigkeit zu seinen Objekten.
Innerhalb dieses frühen Austausches stellt die Mutter ihrem Kind intuitiv ihre Phantasien und also ihre Welt zur Verfügung. Versteht sie es allerdings auf Grund einer eigenen
Empathiesperre nicht, seine nach draußen gerichteten Signale positiv aufzunehmen,
bleibt dessen Erfahrungsraum begrenzt, die Umwelt wird zur unklaren, leeren Bedrohung (vgl. Baumgart 1991, 797 ff).
Eine zwar physisch anwesende, aber ihrem Kind nur gering verfügbare und zur
empathischen Einfühlung unfähige Mutter, wie wir sie immer wieder in problematischen Beziehungsarrangements der Unterschicht und hier insbesondere der Randgruppe antreffen, wird kaum – höchstens mechanisch – auf seine Bedürfnisse eingehen
können. Zu seiner affektiven Entlastung ist sie häufig nicht imstande. Die mit dieser
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159
basalen Einschränkung zwangsläufig gesetzte Urkränkung hinterlässt beim Kind eine
jederzeit abrufbereite, dem Gesetz des Augenblicks unterworfene Bereitschaft zu aggressiven Eruptionen. Sein absolutistischer, weil stets frustrierter Anspruch ans äußere Objekt lässt sich nicht für eine realistischere Selbsteinschätzung eintauschen, so
dass es im Fortgang der Dinge nur noch darum gehen kann, dieses Objekt, wenn auch
vergeblich, mit Macht zu beherrschen, um ihm die Erfüllung der ungestillten Wünschen abzutrotzen.
Winnicott spricht von der Besorgnis der Mutter für ihr Kind, und er nennt diese Haltung
„primäre Mütterlichkeit“ (vgl. 1976, 157). Die „genügend gute Mutter“ versucht, den
Bedürfnissen ihres Kindes gerecht zu werden, womit sie seine Ängste bannt und seine
Bemühungen um Individuation und Selbst-Werden unterstützt. Im gelungenen Wechselspiel beider kommt es zu einer Einigungssituation, in der sich befriedigende und versagende Momente die Waage halten und sich keiner vom andern dominiert sieht. Wir
können in diesem Zusammenhang auch von einer „‘harmonischen Verschränkung’“ von
Mutter und Kind sprechen (vgl. Balint 1970, 81). Im wahrsten, physischen Sinne des
Wortes garantiert die Mutter das Halten des Säuglings (vgl. Winnicott 1990, 63). Diese
mütterlichen Haltungen werden vom Kind verinnerlicht und bilden das Fundament seiner weiteren inneren Differenzierung von Selbst- und Objektrepräsentanzen (vgl. Trescher,
Finger-Trescher 1992, 95).
Somit habe ich kurz die Umrisse einer gedeihlichen, also gewaltlosen Erziehung skizziert. Gewalt verweist aber zwingend auf die Erfahrung von Hass. Es hängt von den
jeweiligen erzieherischen Momenten im Rahmen der frühen Interaktionserfahrungen ab,
wie mit diesem Affekt später umgegangen wird, d.h. ob sich Hass sozial verträglich
kommunizieren lässt oder ob es beständig zu gewalttätigen Gefühlsdurchbrüchen kommen muss.
Nach Auffassung der englischen Schule der Objektbeziehungspsychologie wird die Mutter als das erste Liebes- und Hassobjekt vom Säugling mit aller Kraft geliebt und gehasst. Zuallererst liebt das Kind seine Mutter dafür, dass sie seine Bedürfnisse befriedigt. Verspürt es aber Hunger, fühlt es sich unwohl oder tut ihm etwas weh, so schlägt
dieses Empfinden urplötzlich um. Hass und Aggressionen kommen auf. Das Kind ist nun
ganz von dem Impuls beherrscht, die Mutter zu zerstören, die doch das Objekt all seiner
Begierden ist. Der Hass ist also ein grundlegendes Element der frühen Interaktionsmuster (vgl. Klein 1996, Lazar 1999).
160
F AC H TAG U N G E N
Damit das Kind in dieser Zeit lernen kann, seine eigenen wie die ihm entgegengebrachten Affekte und Phantasien zu verdauen, muss die Mutter wie ein Container fungieren
und diese Aufgabe zunächst stellvertretend übernehmen. Erlebt das Kind, dass sich die
Mutter von seinen destruktiven Affekten nicht zerstören lässt, sondern diese zu containen
versteht, wird ihm ein Weg gezeigt, sie unter der Vorherrschaft des verinnerlichten
Bildes einer „guten Mutter“ in sein Selbst zu integrieren. So lernt es zunehmend, mit
innerlich und äußerlich erzeugten Spannungszuständen autonom umzugehen. Autonomie bedeutet in diesem Sinne, eine klar konturierte Vorstellung von Ich und Nicht-Ich,
d.h. von sich selbst und den Objekten, zu besitzen. Damit dieser Prozess von Selbst- und
Objektbesetzungen gelingen kann, ist es notwendig, die Trennung vom Objekt zu realisieren. Sie wird zunächst als schwere narzisstische Kränkung erlebt, bedeutet sie doch
den schmerzlichen Abschied von den eigenen Größenphantasien. Insofern stimmt es,
dass das Objekt im Hass entsteht (vgl. Diebold 2000, 115).
Die ersten Regungen des Kindes nennt Winnicott „erbarmungslose Liebe“. Damit ist gemeint, dass das Kind sein Objekt für dessen Befriedigungen ‚liebt’, es aber für die
Versagungen ‚hasst’. Dennoch klingt dies befremdend, und Winnicott schränkt ein, dass
die Persönlichkeit des Kindes noch nicht genügend integriert ist, als dass man von wirklichem Hass sprechen könnte. Alles, was der Säugling tut, wird noch nicht im Hass getan.
Jeder „erbarmungslose Angriff auf das primäre Liebesobjekt“ wird von ihm in der Frühzeit
nicht als solcher empfunden (vgl. Stork 1997, 55). Dennoch ist uns hier ein wichtiger
Hinweis auf die konstitutiven erzieherischen Momente des Umganges mit Hass- und Gewaltphantasien gezeigt. Das sich entwickelnde Kind „braucht Hass, um zu hassen“ (vgl. Winnicott
1997, 45). Nur so kann es ihm gelingen, diesen Affekt später weder verleugnen oder
abspalten noch ausagieren zu müssen. Deshalb befindet Winnicott: „Ich bin der Meinung,
dass die Mutter das Baby hasst, bevor das Baby die Mutter hasst“ (1997, 43). Unterliegt
dieser Impuls einer zensierenden Kontrolle, entwickelt er eine unbewusste Wirkung, die es
beiden erschwert, die wechselseitigen Ambivalenzen angemessen austragen zu können.
Das, was das Kind von Anfang an braucht, ist also keine sorgende und frustrationsvermeidende Mutter, sondern eine, die Frustrationen aushält und so zu transformieren
versteht, dass sie für das Kind selbst zu bewältigen sind, ohne von übergroßen Ängsten
befallen zu werden (vgl. Ermann 2000, 76; Lazar 1988). Ist die Mutter dagegen rein auf
harmonische und konfliktfreie Situationen aus, werden von ihr alle Autonomiebestrebungen des Kindes übersehen, „wie auch die mit ihnen verbundene Aggressivität“ (vgl. Stork 1999, 262).
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161
Gruen (1999) kritisiert, dass in unserer Kultur die natürliche Ambivalenz von Gefühlen
nicht wirklich zugestanden ist. Wut, Hass und Ärger gelten als sozial unerwünscht. Im
Zuge ihrer Abwehr produziert die gesellschaftliche Ideologie einseitig positive Vorstellungen vom Eltern-Sein. Wird aber eine Mutter vom aggressiven Teil ihrer Gefühlswelt
abgeschnitten, hat dies zwangsläufig Auswirkungen auf die Interaktion mit ihrem Säugling und wird diesen in seiner Entwicklung zwangsläufig beeinflussen. Der Säugling
spürt aber sehr wohl die ihm entgegengebrachten Gefühle, seien sie bewusster oder
unbewusster Natur.
So kann es leicht geschehen, dass die Mutter sich von den zerstörerischen Regungen ihres
Säuglings bedroht fühlt und sich erschreckt abwendet oder ihrerseits das Kind mit Gewalt
verfolgt. Jede Erziehung ist folglich vom Thema Gewalt infiziert. Gewaltfreie Erziehung
wäre dann nicht in der Vermeidung von Hassgefühlen begründet, sondern allein in jener
Form gültig, die es beiden Interaktionspartnern erlaubt, den Hass zu integrieren, ohne
befürchten zu müssen, vom andern zerstört zu werden oder diesen zerstören zu wollen.
Gelingt dies nicht in ausreichendem Maße, treffen wir später oft auf gewalttätige Menschen mit narzisstischen Persönlichkeitsstrukturen, die „versuchen, der Erfahrung von
Beziehung zu entfliehen“. Es sind Menschen, bei denen aus der unbewussten Phantasie
ein wahnhaftes System geworden ist – „als Antwort auf das Bedürfnis, sich von inneren
Objekten durch äußere Gewalt zu trennen“. Hier wird der andere auch zu einem Container,
aber in dem Sinne, das in ihm projektiv eigene unerwünschte und ängstigende Teile der
Selbstrepräsentanzen eliminiert werden sollen (vgl. Perelberg 2000, 4 ff). Wenn Gewalt
einer „reinen Abwesenheit von Beziehung“ gleichkommt (vgl. Reiche 2000, 27), dann
162
F A C H TA G U N G E N
heißt das, dass gewalttätige Erziehung Beziehungslosigkeit symbolisiert. Sie verhindert, dass aggressive Regungen steuer- und kommunizierbar werden.
Für eine gesunde Entwicklung des Kindes, die auch und zuerst die Integration feindlicher Impulse und Phantasien beinhaltet, ist nach Winnicott eine „vollkommene Umwelt“ nötig (vgl. Winnicott 1976, 158), wobei er sogleich eine wichtige Einschränkung
vornimmt: Das Bedürfnis nach dieser absolut guten Umwelt relativiert sich sehr rasch,
denn die genügend gute Mutter ist gut genug, dass das Kind allmählich lernt, ihre
Mängel durch geistig-seelische Aktivität auszugleichen.
Winnicott macht unmissverständlich klar, dass der Säugling auf eine mütterliche Fürsorge angewiesen ist, „die nicht auf dem Verstehen dessen beruht, was verbal ausgedrückt
wird oder werden könnte, sondern auf mütterlichem Einfühlungsvermögen“ (1990, 51).
Unter diesen Voraussetzungen kommt es zu gemeinsam geteilten euphorischen Zuständen von Mutter und Kind. Kohut weist darauf hin, dass dem primären Objekt insofern
Wichtigkeit zukommt, als es „eingeladen ist, an der narzisstischen Lust des Kindes
teilzunehmen und sie auf diese Weise zu bestätigen“. Das Kind benötigt die „narzisstische Speisung von Seiten der Mutter“, um sich in seinen Aktivitäten in den Reifungsphasen bestärkt zu sehen (vgl. Kohut 1975, 149).
Sind diese mütterlichen Phantasien also ‘gutartig’, wird sich ein gedeihliches Wechselspiel ergeben. Im Rahmen dieses sich entwickelnden Dialoges wird es dem Kind immer
besser gelingen, seine Hassgefühle so ins eigene Erleben zu integrieren, dass sie selbstreflexiv betrachtet werden können (vgl. Winnicott 1997). Ist dagegen die Mutter auf Grund
eines uneingestandenen Ambivalenzkonflikts oder ihrer basal eingeschränkten Fähigkeit,
gerichtete Phantasien über ihr Objekt ‘Kind’ zu entwickeln, nicht imstande, sich auf einen
angeregten affektiven Dialog einzulassen, wird auch die Lust des Kindes zum Phantasieren geschmälert. Der erste Fall träfe etwa auf die Geburt eines behinderten Kindes zu, der
zweite auf den Umstand, dass die Mutter selbst massive defizitäre Sozialisationserfahrungen,
die bereits durch einen konsistenten Mangel an gemeinsam geteilter Begeisterung gekennzeichnet waren, erlebt hat. Jedesmal verarmt das Kind innerlich. Es spürt den Widerstand der Mutter und muss ihn zwangsläufig auf sich beziehen. Insbesondere, wenn wir
diesem wechselseitigen Zur-Verfügung-Stellen von Phantasien, diesem unbewussten Dialog von Mutter und Kind, welcher für die Identitätsbildung des Kindes entscheidend ist,
unsere Aufmerksamkeit schenken, eröffnet sich uns ein Weg zur dialogisch vermittelten
Genese dessen, was wir später Persönlichkeit nennen.
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163
Bleibt das grandiose kindliche Selbst in seinem exhibitionistischen Drang ungesättigt,
entsteht grenzenlose narzisstische Wut. Werden dem Kind in dieser Zeit seine elementaren Bedürfnisse nicht ausreichend gespiegelt und ist die Mutter nicht imstande, sich in
seine Gefühle und Stimmungen empathisch einzufühlen, entsteht Angst vor Vernichtung. Die Integration libidinöser und aggressiver Strebungen, das heißt die Umwandlung des Narzissmus misslingt. Als Abwehr gegen diese Angst vor Vernichtung werden
primitive Aggressionen mobilisiert. Das „Böse“ wird abgespalten und projektiv zum
Merkmal eines äußeren Feindes verfremdet, den es jetzt mit Rachgelüsten zu verfolgen
gilt. Die „narzisstische Wut versklavt das Ich“ (vgl. Kohut 1975, 235). Aus dieser basalen Ich-Einschränkung erwächst später die tiefe Unfähigkeit, sich auch nur ansatzweise
in die Person einfühlen zu können, gegen die sich die eigene Wut richtet. Ein stark
agierendes Verhalten, zu dem notabene auch jene diffuse Gewaltbereitschaft bei Kindern und Jugendlichen zu zählen ist, wird von dissozialen Menschen häufig zur „Reparation narzisstischer Krisen“ eingesetzt (vgl. Rauchfleisch 1999, 66).
Gerade in der Adoleszenz bekommen Aggression und Omnipotenz eine neue Bedeutung.
Winnicott schreibt dazu: „Der vierjährige Junge (…) träumt vom Tod seines Vaters, aber
jetzt, mit vierzehn Jahren, hat er die Möglichkeit, zu töten. (…) Das Mädchen, das mit
vier Jahren mit seiner Mutter identifiziert war, aber auch eifersüchtig auf die Empfängnisfähigkeit der Mutter, (…) kann jetzt, mit vierzehn Jahren, schwanger werden oder seinen Körper für Geld feilbieten“ (Winnicott 1990, 321). Durch den nun wirksam werdenden Triebschub öffnet sich der Jugendliche seinen frühkindlichen Ängsten und Wünschen (vgl. Schröder 1993, 104), und daher kann es immer auch zur Reaktivierung
narzisstischer Kränkungen kommen. Erdheim folgert aus diesen Umständen, dass Möglichkeit und Wirklichkeit, Wunsch und Realität schärfer auseinandergehalten werden
müssen. Je größer das Kind wird, „desto realisierbarer werden seine Wünsche, und umso
gefährlicher wird die Realität“ (vgl. Erdheim 1993, 944).
In dem Maße, wie sich ein Heranwachsender seiner zunehmenden Körperkraft versichert
und gleichzeitig, obzwar oft mehr dumpf als von (Selbst-)Erkenntnis getragen, verspürt,
wie er im Gegensatz zu so manch anderem nur geringe soziale Chancen erhält, sich in
seinem weiteren Leben angemessen zu verwirklichen, in dem Maße kommt es zu einer
Reaktivierung der narzisstischen Wut. Schon Bernfeld hat darauf verwiesen, dass für
Jugendliche aus proletarischem Milieu, deren perspektivischen sozialen Lebenschancen
von Anfang an minimiert sind, sich der zentrale Affekt in einer narzisstischen Kränkung
konzentriert. Sie befinden sich in einer Tantalus-Situation, in der wie dereinst bei die-
164
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ser tragisch von den Göttern bestraften Figur der griechischen Mythologie, die Gesellschaft zwar Reichtum in Hülle und Fülle zur Verfügung stellt, sie aber von seiner Verteilung weitgehend ausgeschlossen sind. Nicht innere Konflikte und Loslösung vom ödipalen Objekt ist ihr vorherrschendes Thema, sondern reale „Flucht vor und Aggression
gegen alles, was diese Kränkung“ entstehen lässt (vgl. Bernfeld 1935, 634 ff; Müller
1992, 64 f).
Diese politische Verortung der innerseelischen Prozesse ist dringend erforderlich, um
nicht einer familialistischen und den sozialen Kontext völlig verkürzenden Sichtweise
aufzusitzen. Insofern auch reklamiere ich Erkenntnisse der Psychoanalyse immer im
Sinne eines gesellschaftskritischen Paradigmas. Denn noch immer gilt der Satz: „Psychoanalytische Reflexion und sozialkritische Überlegungen dienen der Emanzipation
der Zielgruppen, d.h. heißt ihrer Befähigung zu selbstständiger, konstruktiver Mitwirkung an der Veränderung der eigenen sozialen Lage“ (vgl. Leber, Reiser 1972, 10).
Fazit: Emanzipation, verstanden als Loslösung von infantilen Abhängigkeiten, Versöhnung mit den eigenen Mängeln und Integration der eigenen Feindseligkeit, ist ein hehres Ziel von Erziehung. Sie kann nur halbwegs gelingen, wenn Gewalt keinen Schatten
auf die eigene Geschichte wirft.
Anmerkungen
1
Zum einen müssen wir auch Lehrer als Träger von Gewalt in den Blick nehmen (vgl. Krumm, Weiß
2000, Gottschalch 2000), zum anderen ist die Schule als gesellschaftliche Institution noch immer
von jenem heimlichen aggressiven Impuls umfangen, der Bernfeld zu folgendem Urteil verleitete:
„Und ein Stück des uralten Sadismus, ein Schimmer jener Aggressionsorgie (…) verklärt sie noch
heute“ (vgl. 1925, 79).
2
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist das Thema von Missbrauch und Inzest, auf das ich hier leider aus
Zeitgründen nur am Rande eingehen kann. Eingedenk der Tatsache, dass wir von einer recht
großen Dunkelziffer ausgehen müssen, werden für deutsche Verhältnisse derzeit folgende Zahlen
angegeben: „Ca. 25 % der Mädchen und ca. 11 % der Jungen bis 16 Jahren haben Missbrauchserfahrungen“ (vgl. Hirsch 1999, 20).
3
Objektrepräsentanzen entsprechen der Summe der Erfahrungen über die primären Objekte, Selbstrepräsentanzen der Summe der Erfahrungen über sich selbst (vgl. Muck 1991, 26).
4
Mit einer gewissen Häme wirft man der Psychoanalyse, und nicht ganz zu Unrecht, vor, sie
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165
mythologisiere die Mutter-Kind-Beziehung. Vielfach ist ihre Mutter ein treu sorgendes Wesen,
ohne dass bei ihr andere Bedürfnisse sichtbar würden. Durch die empirische psychoanalytische
Säuglingsforschung wie auch Untersuchungen zur Rolle des Vaters hat in den letzten Jahren ein
Wandel der Betrachtung eingesetzt. Mutter ist weitgehend als Metapher zu verstehen für die
zentralen Beziehungspartner der frühen Lebenszeit. Gleichzeitig sei auf die Bedeutung des Vaters
für den Aufbau stabiler innerpsychischer Repräsentanzen hingewiesen, was hier leider nur gestreift werden kann (vgl. Schon 1995).
5
Im folgenden wird noch öfter von Narzissmus oder narzisstischen Kränkungen die Rede sein. Der
Begriff Narzissmus bezieht sich auf das seelische Erleben des Kindes hauptsächlich in der Zeitspanne
des ersten Lebensjahres. An Hand der Beobachtung von Interaktionssequenzen eines sieben bis acht
Monate alten Kindes mit seiner Mutter hat Mahler nachgewiesen, dass seine Beziehung mit der
Mutter zu diesem Zeitpunkt weitgehend auf „Spiegelung“ beruht (vgl. Mahler u.a. 1980, 216).
Dieses Spiegeln führt nach Lichtenberg zum frühen Aufbau eines „Kommunikationssystems von
erstaunlicher, synchroner Unmittelbarkeit“ zwischen Mutter und Kind. Wie die neuere psychoanalytische Säuglingsforschung belegt, gilt der Blick des Kindes dem Gesichtsausdruck seiner Mutter, und
auf seinem Gesicht spiegeln sich all die Empfindungen wider, die dort abzulesen sind (vgl. Lichtenberg 1991, 97). Das sich entwickelnde Selbst erwartet nach Kohut gar, dass es von seinen primären
Objekten „widergespiegelt“ wird (vgl. 1975, 242). Kohut spricht davon, dass das Kind im Zuge
seiner seelischen Ablösung „den Glanz in den Augen der Mutter braucht“, damit seine sich bildenden
mentalen Funktionen und Aktivitäten genügend gespeist werden (S. 149). Wenn nun die frühe
Lebenssituation von einem elementaren emotionalen Mangel beherrscht wird, in der sich das Kind
nicht von seiner Mutter empathisch gehalten fühlt, misslingt eine stabile Unterscheidung des Selbst
von seinen Objekten. Es entsteht eine tiefe narzisstische Kränkung, wenn das „Selbst-Objekt sich
unerwartet weigert“ (S. 243). Ungenügendes Spiegeln von Seiten der Mutter führt dann bei ihm zur
Ausbildung eines „primären Defekts“ (vgl. Kohut 1981, 23 f). Zurück bleibt eine narzisstische Wut,
die immer dann reaktiviert wird, wenn eine äußere Bedrohung phantasiert wird.
6
Freud hat aufgezeigt, wie psychische Prozesse nicht allein auf das Bewusstsein reduzierbar sind
und dass gewisse „‘Inhalte’ erst nach Überwindung von Widerständen dem Bewusstsein zugänglich werden“ (vgl. Laplanche, Pontalis 1972, 563). Unser Seelenleben ist „erfüllt mit wirksamen, aber unbewussten Gedanken“ (Freud 1912g, 433). Phantasien sind jene mehr unbewusst
als bewusst imaginierten inneren Vorstellungen, die wir uns machen und die im Schnittpunkt
von Beziehungsarrangements und dort aufkommenden Gefühlen und Affekten zusammenfließen.
166
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Literatur
Adorno, Th. W.: Erziehung nach Auschwitz. In: Erziehung zur Mündigkeit. Frankfurt 1973 (1966).
Balint, M.: Therapeutische Aspekte der Regression. Die Theorie der Grundstörung. Stuttgart 1970.
Bandura, A.: Aggression – eine sozial-lerntheoretische Analyse. Stuttgart 1979.
Baumann, Z.: Postmoderne Ethik. Hamburg 1995.
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171
4.2.3 Mounira Daoud-Harms
Gewaltfördernde und
gewalthemmende kulturelle Einflüsse
in Migrantenfamilien
Der Einfluss soziokultureller Milieus auf die
Erziehungsstile
Die Formulierung des Themas lässt die Annahme zu, dass ein Zusammenhang zwischen
kultureller Herkunft von Migrantenfamilien, ihren Erziehungsmethoden und Gewalt besteht. Und sicherlich gibt sie eine weit verbreitete Vorstellung in der Öffentlichkeit
wieder. Vielleicht stimmen Sie mit mir darin überein: wenn wir von gewalttätigen Auseinandersetzungen auf den Straßen, in Kneipen, in Schulen oder in Familien, an denen
Migranten beteiligt sind, aus den Medien erfahren oder sie selbst miterleben, dann
neigen wir dazu, ohne dass es uns besonders auffällt, Gewalt mit kulturellen Eigenarten
von Migranten zu verknüpfen.
Dazu zwei Rundfunkmeldungen: Donnerstag, den 19.10.00: Bei einer Auseinandersetzung in einer Gaststätte wurde der Bruder des Wirts so schwer verletzt, dass er in der
Klinik notoperiert werden musste. Freitag, den 20.10.00: Ein 27jähriger Türke hat seine
Frau mit dem Messer schwer verletzt und sich danach selbst getötet.
Eine repräsentative „Frankfurter Bürgerbefragung“ von 1997 hat ergeben, dass 48 % der
Deutschen in Frankfurt Kriminalität und öffentliche Sicherheit für das größte Problem in
der Stadt hielten. An zweiter Stelle nannten 21 % der Deutschen das Verhältnis zu den
Ausländern. Für 18 % war es das größte Problem, dass es zu viele Ausländer gäbe. Erst
danach folgten die Verkehrssituation, Arbeitslosigkeit, Drogen und Wohnungsbau. (Frankfurter Rundschau, 27.2.98)
Migranten, Gewalt und Kultur sind so umfassende Begriffe, dass die Vermutung eines
allgemeinen Zusammenhangs zwischen ihnen zu unbestimmt und nichtssagend wäre. In
der jüngeren sozialwissenschaftlichen Diskussion ist wiederholt der Vorwurf erhoben
worden, in den Untersuchungen und Veröffentlichungen über die sogenannte multikul-
172
F AC H TAG U N G E N
turelle Gesellschaft würden kulturelle Konflikte durch die untersuchenden Sozialwissenschaftler konstruiert. Sie verdecken mit ihren vorgefassten Begriffen von angeblicher Einheitlichkeit abgegrenzter ethnischer Gruppen und ihrer Kulturzugehörigkeit
die wirkliche Vielfalt kultureller und sozialer Verhältnisse von Herkunfts- und
Einwanderungsgesellschaften.(vgl. Radke, Bommes, Nassehi)
Um solcher Vorurteilsbildung nicht zu unterliegen, möchte ich für unseren Zusammenhang
Kultur verstehen als alle Formen und Inhalte privater und öffentlicher Kommunikation in
der Familie und in den Institutionen von Religion, Bildungswesen und Wissenschaft.
Gewalt umfasst individuelle und kollektive Zwangsmaßnahmen bis zum Bürgerkrieg oder
Krieg zwischen Staaten. Sie kann mit körperlichen Mitteln, mit oder ohne Waffen und
sie kann psychisch ausgeübt werden. Max Weber beschreibt Gewalt als Mittel zur Ausübung von Macht und Herrschaft, also als Mittel, den eigenen Willen bei anderen auch
gegen ihren Widerstand durchzusetzen. Als Disziplin bezeichnet er die psychisch verinnerlichte Bereitschaft, sich fremder Macht und Herrschaft zu fügen. (Weber 1960). Unser Staat beansprucht das Gewaltmonopol. Die tägliche Kriminalität beweist, dass er es
nicht durchsetzen kann. Auch die legale Staatsgewalt selbst ist eine zweischneidige
Sache. Ihre Ausübung nach Recht und Gesetz wird häufig verletzt und ist ständig vor
den Gerichten umstritten. Die verfassungsmäßige Gültigkeit der Gesetze kann bis zur
Formulierung des Grundgesetzes höchst zweifelhaft sein, wie die Auseinandersetzungen
um das Asylrecht, das Ausländerrecht und das neue Staatsangehörigkeitsrecht zeigen.
Die Durchsetzung eines fremden Willens auch gegen den Widerstand der Individuen ist
ein konstitutives Element unserer Gesellschaft und reicht von der Erziehungsgewalt der
Eltern und Lehrer in den Schulen bis zur Weisungsbefugnis der Unternehmer gegenüber
ihren abhängig Beschäftigten. Erst jetzt soll das Recht der Kinder auf gewaltfreie Erziehung in der neuen Verfassung der Europäischen Union verankert werden.
Migranten sind eine sehr vielfältige soziale Gruppe. Sie kommen aus ganz verschiedenen Nationen mit unterschiedlichen ökonomischen, politischen und sozialen Strukturen
und Familienverhältnissen. Sie haben verschiedene persönliche Motive und Gründe für
die Migration. Sie sind z.B. als Arbeitskräfte angeworben, vor politischer Verfolgung
oder Kriegen geflüchtet oder als Familienmitglieder von anderen mitgenommen worden.
Eines haben sie alle gemeinsam: sie haben ihre heimatlichen Lebenszusammenhänge
verlassen und sich in ihnen unbekannte, andere gesellschaftliche Verhältnisse hinein
gewagt. Wer sich entschließt, Familienmitglieder, Freunde, Nachbarn, Sitten und Ge-
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173
bräuche, alles Vertraute und Aufgebaute, also ihre kulturellen Zusammenhänge aufzugeben, für den müssen familiäre, soziale, wirtschaftliche oder politische Verhältnisse so
unerträglich geworden sein, dass eine andere Gesellschaft zu suchen zu einer Notwendigkeit wird. Solche Entscheidungen werden unter der Gewalt äußerer Verhältnisse und
unter Leidensdruck getroffen und sind zugleich auch persönliche Entschlüsse. Sie setzen
die Fähigkeit voraus, sich etwas Besseres vorzustellen, es mit eigener Anstrengung
zumindest teilweise erreichen zu können, und die Hoffnung, der Not und der Bedrohung
zu entkommen. Die Erfahrung von Zwang und Gewalt, Hoffnung und Leidensdruck, Risikobereitschaft und Handlungsfähigkeit sind offenbar Eigenschaften, die Migranten haben
müssen. Und betrachtet man die Menschen, die aus Deutschland vor oder unter der
Gewalt des NS-Regimes geflüchtet oder emigriert sind, fällt es nicht schwer, darunter
bedeutende Persönlichkeiten mit solchen Eigenschaften auszumachen.
Die mit der Einwanderung verbundenen gesellschaftlichen Prozesse sind darauf zu untersuchen, ob es einen Zusammenhang zwischen kulturellen Eigenarten und individueller oder sozialer Gewalt gibt. Da sich solche Prozesse über die Beziehungen und die
Kommunikation von Individuen vermitteln, möchte ich Ihnen Ausschnitte aus vier Lebensgeschichten von Migranten vorstellen und die Zusammenhänge untersuchen, die
von den Betroffenen offengelegt werden.
1. Lebensgeschichte A
Im Rahmen meiner Beratungstätigkeit in der Lehrerfortbildung am Hessischen Landesinstitut für Pädagogik im Bereich Migration und Integration wurde ich von einer Lehrerin angerufen, die mir eine türkische Schülerin zur Beratung schicken wollte. Der Lehrerin fiel seit deren Einschulung in die fünfte Klasse des Gymnasiums vor etwa neun
Monaten auf, dass sie sich in der Klasse isoliert, noch sehr verspielt ist, unkonzentriert
dem Unterricht folgt, ihre Klassenkameraden und -kameradinnen kratzt und beißt, sich
ihre Finger blutig kaut und Bleistifte und sonstiges Unterrichtsmaterial von Mitschülern
verschwinden lässt. Sie erschien in der Beratung nicht allein, sondern brachte eine
Freundin mit und fragte, ob diese mit reinkommen könne, alleine habe sie Angst. Nach
ihrer Herkunft und familiären Situation befragt sagte sie, sie sei das jüngste von drei
Geschwistern und habe noch weitere, die sie aber nicht kenne. Ihre Situation zuhause
beschrieb sie als ganz toll, sie werde von Papa und Mama besonders verwöhnt und auch
die beiden älteren Geschwister liebten sie über alles. Sie ginge mit dem Vater sehr oft
174
F AC H TAG U N G E N
ins Kino und zu McDonalds. Die Frage, ob sie Probleme zuhause habe, verneinte sie.
Warum sie ihre Freundin mitgebracht habe, erklärte sie damit, sie habe Angst vor mir.
Auf die Frage, was ich ihr antun könnte, antwortete sie, das wisse sie nicht, ich könnte
sie kratzen und beißen. Damit hat sie mich in ihr Thema hineingeholt. Ich erfuhr, dass
sie ihre Klassenkameraden kratzte und biss, weil diese sie nicht liebten und mit ihr
nicht spielen wollten. „Schließlich bin ich eine Türkin und sie sind ja alle viel älter.“ Sie
war gerade 10 geworden. Am Ende des Gespräches erklärte ich ihr, dass alles, was wir
hier besprochen hatten, unter uns bleiben müsste, ich würde weder den Lehrern noch
den Eltern davon berichten. Sie möchte auch draußen nichts davon erzählen. Ob sie das
einhalten könnte und ob sie noch einmal zu mir kommen wollte.
In den darauf folgenden Stunden kam Selma regelmäßig zu mir. Ihre Geschichte stellte
sie so dar: Sie lebt mit ihrer Mutter und zwei Geschwistern. Wo die Mutter arbeitet, weiß
sie nicht. Der Vater ist Deutscher. Ihre Eltern haben sich wegen seiner Alkoholprobleme
getrennt. Sie besucht ihren Vater zweimal in der Woche in seiner kleinen Schlosserwerkstatt. Dort wohnt er auch seit der Trennung, deswegen kann sie nicht beim ihm
übernachten: „Die Mama will es auch nicht“. Sie hängt sehr an ihrem Vater und versteht
nicht, warum die Mutter ihn „rausgeschmissen“ hat. Sie vertraut mir etwas an, was
sonst niemand erfahren darf. Sie leidet seit einiger Zeit an Haarausfall. Die Mutter
kämmt sie so, dass niemand es bemerkt. Sie möchte nicht mit auf Klassenfahrt ins
Landschulheim, damit niemand die kahle Stelle beim Kämmen sieht.
Ihre Mutter, die ich in meine Sprechstunde einlud, berichtete folgendes: Sie stammt aus
einer größeren Stadt in der Türkei, ist die jüngste von 13 Geschwistern, hat ihre Mutter im
Alter von 17 Jahren verloren und lebte danach alleine bei ihrem alten Vater. Obwohl sie
ihn sehr liebte und ihn pflegen wollte, konnte sie das Leben mit ihm wegen seiner Trinkerei
und Zudringlichkeit nicht ertragen und heiratete bald einen älteren, entfernten Verwandten, der sich als gewalttätig herausstellte und sie schlug. Trotzdem hatte sie zwei Kinder
mit ihm. Da sie sich als muslimische Frau in der Türkei schwer scheiden lassen konnte, wie
sie sagte, verließ sie ihre beiden Kinder und ihren Ehemann, flüchtete in eine andere
Stadt und nahm dort eine Arbeit an, um sich dann von ihm scheiden zu lassen. Sie lernte
bei der Arbeit einen anderen Mann kennen, erwirkte mit großer Anstrengung ihre Scheidung und heirate ihren Freund. Mit ihm lebte sie vier Jahre zusammen und bekam vier
Kinder, fand aber auch bei ihm keine Ruhe vor Gewalt. Nachdem sie sich auch von ihm
hatte scheiden lassen, verließ sie wieder die Stadt. Die Kinder wurden ihm zugesprochen.
Im Urlaub in Frankreich lernte sie einen Franzosen kennen, und bekam mit ihm ein Kind,
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175
verließ beide jedoch bald, weil auch dieser Mann sie geschlagen hat, und suchte über
Freunde in Deutschland eine Arbeitsstelle. Hier lernte sie den Vater von Selma kennen,
einen Deutschen, heiratete ihn, stellte aber bald fest, dass er Alkoholiker und ebenfalls
gewalttätig war. Sie bekam von ihm drei Kinder, bis sie es schaffte sich dann auch von ihm
zu trennen. Bevor sie zu mir kam, war sie zur Beratung und Therapie im Familienzentrum,
das ihr bei der Trennung half. Sie wirkte entschieden, sogar hart in ihrer Art, und obwohl
sie wusste, dass der Vater gut zu den Kindern war und dass gerade Selma an ihm hing, war
sie entschlossen, sich auf keinen Fall mehr auf ihn einzulassen.
Ohne Sie mit den psychoanalytischen Methoden meiner Arbeitsweise näher vertraut zu
machen, kann ich nach vier Monaten Zusammenarbeit mit Selma Ihnen folgendes Ergebnis berichten. Zunächst überwand sie ihre Angst vor der Klasse, fuhr mit ins Landschulheim und löste sich aus der Isolierung. Kurze Zeit später berichtete sie, dass der
Haarausfall gestoppt war. Das stärkte ihr Selbstvertrauen und verringerte ihre Angst.
Nach und nach ließen ihre Aggressionen in der Klasse und ihr Beißen und Kratzen nach.
Am Ende erkannte sie, dass sie von der Trennung der Eltern und vom Verlust der Freundinnen aus der Grundschule überfordert war. Die Entscheidung auf das Gymnasium zu
gehen, war ein Wunsch ihrer Mutter gewesen. Dagegen setzte sie jetzt durch, auf die
Realschule zu wechseln, wo ihre Freundinnen aus der Grundschule waren. „Wenn ich
später aufs Gymnasium will, kann ich das immer noch.“
2. Lebensgeschichte B
Von einer Lehrerin einer Realschule wurde mir ein 13-jähriges türkisches Mädchen geschickt, das durch große Aggression ihren Klassenkameradinnen und Klassenkameraden
gegenüber, Desinteresse am Unterricht und Frechheit ihren Lehrerinnen und Lehrern
gegenüber aufgefallen war. Sie fehlte viel im Unterricht, hatte bereits das fünfte Schuljahr wiederholt, drohte auch im sechsten zu scheitern und wurde auf der Toilette mit
einem Messer erwischt. Als sie mit ihrer Mutter zu mir in die Sprechstunde kam, nahm
ich die Mutter als sehr energiegeladen, sehr bestimmt und genervt gegenüber ihrer
Tochter wahr. Sie wiederholte, was die Lehrerin mir am Telefon bereits gesagt hatte und
betonte, ihre Tochter könne und dürfe nicht nochmal sitzen bleiben. Die Tochter ihrerseits wirkte gelangweilt, stöhnte und machte unwillige Bemerkungen über das, was ihre
Mutter gesagt hatte. Zu meiner Bemerkung, dass dieses Verhalten bei Kindern in diesem
Alter nicht ungewöhnlich sei und dass viele Schülerinnen und Schüler mit ähnlicher
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F AC H TAG U N G E N
Beschreibung zu mir kommen, antwortete die Mutter, die ausgezeichnet Deutsch spricht:
„Aber Sie können es nicht wissen, weil sie es nicht sehen, meine Tochter ist unbeschreiblich dick. So kann sie nicht bleiben. Sie frisst den lieben langen Tag.“. Ich fragte
das Mädchen nach ihrem Gewicht und warum sie soviel essen würde. „80 Kilo“, sagte
sie, und wendete sich unwirsch an ihre Mutter: „Was soll ich sonst tun!“. Ich vereinbarte
mit Alfa, die übrigens sehr bereitwillig war, die nächsten Termine und bat die Mutter um
ein Gespräch zusammen mit ihrem Mann. Das Auftreten der Eltern erregte im Institut
Aufsehen und einer meiner Mitarbeiter fragte mich, mit was für Leuten ich inzwischen
zu tun hätte. Der Mann sehe aus wie ein Zuhälter. Der Vater trat brummig auf, sprach
schlecht deutsch, saß wie seine Tochter desinteressiert da und ließ seine Frau antworten, auch wenn die Fragen an ihn gerichtet waren. Auf meine wiederholte Bitte, er
möchte etwas dazu sagen, war seine Antwort immer, er habe nichts zu sagen, seine
Tochter brauche Hilfe, im Elternhaus sei alles in Ordnung, sie hätten genug Geld, genug
Kleider und führen häufiger in Urlaub, was wollten sie mehr. In die nächste Stunde kam
Alfa aufgeregt und wollte nicht mehr nach Hause zurück. Als ich sie fragte, warum und
wo sie hin könnte, sagte sie, sie werde zu irgend einer Freundin gehen, sie fände schon
eine. Der Vater habe sie geschlagen und das Streiten im Elternhaus halte sie nicht mehr
aus. Aus der Familiengeschichte erfuhr ich von der Mutter, dass sie vor 18 Jahren aus der
Türkei einen ihrer Brüder hier besucht hatte und bei ihm geblieben war. Hier lernte sie
vor 15 Jahren ihren türkischen Mann kennen und heiratete ihn, weil sie als Mädchen
hier nicht alleine sein wollte. Ihr Mann war selbstständig und hatte ein Geschäft in der
Bahnhofsgegend. Sie half ihm zunächst im Geschäft. Zuerst verstanden sie sich gut und
Alfa wurde geboren, doch dann stellte sie fest, dass er verschiedene Freundinnen hatte.
Sie fing an ihm nach zu spionieren. Als er das bemerkte, schlug er sie so, dass sie in die
Klinik musste. Da sie selbst finanziell in dem Geschäft eingebunden war und er ihr im
Falle einer Scheidung kein Geld geben wollte, blieb sie bei ihm unter wiederholten
Misshandlungen und Versöhnungen und bekam acht Jahre später ihre zweite Tochter.
Sie sagte, ihre beiden Töchter würden viel miteinander streiten und Alfa würde die
kleine immer schlagen. Sie sei ähnlich wie ihr Vater.
In der weiteren Arbeit mit Alfa – ihre Mutter brachte sie immer mit einem luxuriösen
Auto und wartete bis zum Ende der Stunde auf sie – erfuhr ich: sie trug immer das
Messer mit sich und bedrohte die Mädchen und Jungen damit, sie rauchte auf der Toilette Zigaretten und Hasch und ärgerte die Mitschüler mit dem Laser-Pointer. Wenn sie im
Unterricht fehlte, traf sie sich mit Mädchen- und Jungenbanden. Ihre Eltern würden sich
nicht nur schlagen, sondern die Mutter würde sie auch einsetzen, um ihren Vater auszu-
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177
spionieren. Ihr Vater habe zwar das Geschäft, aber er arbeite auch im Zuhältermilieu,
was sie ganz fertig mache. Sie sei von ihrer Mutter enttäuscht, die sie häufig gegen ihn
aufhetze und einsetze und sich dann immer wieder mit ihm versöhne. Im Laufe der
Beratung der Mutter erfuhr ich, dass sie bei einer Bank eine Arbeit annahm, um sich von
ihrem Mann unabhängiger zu machen. Während unserer Zusammenarbeit verbesserte
sich Alfa in mehreren Fächern von den Noten fünf und sechs auf zwei, stellte periodisch
das Rauchen und übermäßige Essen ein, gab das Messer ab und war seltener aggressiv.
Sobald eine Krise zwischen ihren Eltern auftrat, fiel sie wieder zurück.
Alfa wollte bewusst und gegen den Willen ihrer Eltern das Klassenziel nicht erreichen,
obwohl ihre Lehrerinnen immer wieder beteuerten, dass sie eine intelligente Schülerin
sei. In der letzten Sitzung vor den Sommerferien teilte Alfa mir mit, dass sie doch auf
die Hauptschule gehen werde, wo alle ihre Freundinnen und, wie sie sagte, Mitstreiterinnen seien. Nach den Sommerferien ist sie nicht mehr bei mir erschienen.
3. Lebensgeschichte C
Ahmed wurde mir von einer Gesamtschule zugewiesen, als ein Junge der ständig erkältet sei und immer röchelte. Sein Deutsch sei kaum zu verstehen, obwohl er schon sehr
lange in Deutschland lebt. Im Unterricht habe er das Niveau eines Lernhilfeschülers.
Trotz zweijähriger Therapie bliebe er unverändert.
Als ich Ahmed zum erstenmal traf, fiel mir seine ausgesprochen höfliche und defensive Art auf, die man aber nicht als Schüchternheit bezeichnen kann. Er war sehr ernst,
offen, fast naiv und beantwortete meine Fragen ohne Scheu und Scham in einem
auffallend schlechten Deutsch. Er gab seine häufigen Krankheiten und seine fehlende
Konzentration im Unterricht als Grund an zu mir zu kommen. Auffällig in unserem
Gespräch war, dass er nie die Schuld in der Schule oder bei den Lehrern suchte, sondern immer auf seine Unfähigkeit zurückführte. Als Ziel nach dem Abschluss der Schule gab er an, Arzt, vielleicht sogar Chirurg oder Anwalt zu werden, weil er gerne Menschen helfen wollte.
In unseren Gesprächen erfuhr ich: Ahmed kam im Alter von vier Jahren mit seinen Eltern
und seinem zwei Jahre älteren Bruder aus Tunesien nach Deutschland. Als ich ihn traf war
er 13 Jahre. Seine Mutter und sein Vater kamen beide aus wohlsituierten Verhältnissen
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und hatten sich freiwillig entschieden nach Deutschland zu kommen. Der Vater betreibt
hier eine Autowerkstatt und exportiert Gebrauchtwagen nach Tunesien. Bei der Ankunft
lebten die Eltern mit beiden Kindern in einer großen Wohnung und fuhren jedes Jahr zu
den Großeltern und in ihr eigenes großes Haus nach Tunis. In einem dieser Urlaube stellte
die Mutter fest, dass der Vater eine zweite Frau hatte. Als sie darauf bestand sich scheiden
zu lassen, gab es eine schwere Auseinandersetzung, in deren Verlauf der Vater mit einem
Messer auf sie losging und sie sich nur retten konnte, indem sie Ahmed in die Arme nahm
und als Schild benutzte. Sie kehrten dennoch zusammen nach Deutschland zurück. Über
deutsche Gerichte hat die Mutter sich durchgesetzt und die Scheidung durchgebracht.
Bedrohungen und Gewaltanwendungen seitens des Vaters haben sich auch nach der Scheidung häufig ereignet. Die Mutter musste mit beiden Kindern die große Wohnung verlassen, bekam Sozialhilfe und nahm dann eine Arbeit auf. In der zwei Jahre dauernden
Beratung von Ahmed gelang es mir nur einmal die Mutter trotz häufiger Versuche zu
treffen . Sie habe nie Zeit, müsse viel arbeiten und habe Angst, ihr Mann könne sie auf der
Straße treffen. Ahmed könne mir ja alles erzählen.
Ahmed träumte von American Football, konnte aber selbst und würde auch nie Gewalt
anwenden, besonders nicht gegen Mädchen, aber auch nicht gegen Jungen, wofür er
häufig gehänselt wurde. Er verehrte seine Mutter außerordentlich und konnte ihr gegenüber nie einen Widerspruch leisten: „Sie ist meine Mum“. Auch seinen Vater dürfe er
nicht ablehnen, auch dann nicht, wenn er ihnen kein Geld gäbe und wenn er sie nicht
mehr besuche: „Er ist mein Dad“. Bis kurz vor Ende der Beratung trug Ahmed auffallend
langes Haar. Wirkte auf seine Lehrer und Mitschüler „sauber, aber verwahrlost“. Statt
seine Hausaufgaben zu machen oder mit andern Kindern zu spielen, verbrachte er seine
Freizeit mit der Mutter (sie war häufig arbeitslos) auf dem Sofa im Wohnzimmer und
schaute stundenlang über Satellitenfernsehen ägyptische Filme. Seine Mutter nannte
ihn „mein Mädchen“ und bis zu seinem 15. Lebensjahr schlief Ahmed zusammen mit ihr
im Ehebett. Während der zweijährigen Zusammenarbeit gingen die Symptome seiner
Erkältungskrankheit zurück und verschwanden schließlich ganz. Er gab seine Verleugnungen auf und erkannte seine Enttäuschungen und Aggressionen gegen seinen Vater.
Er ließ sich die Haare kurz schneiden und verliebte sich in ein Mädchen aus der Nachbarschaft. Er verteidigte sich erfolgreich gegen Hänseleien und beteiligte sich an einem
Streich gegen Lehrer. Mir fiel auf, dass seine ernste Stimmung zurück ging und er häufig
lachte und scherzte. Die Lehrer berichteten mir, dass er im Unterricht und in den Pausen
viel offener und aktiver wirkte. Sein Verhalten hatte jungenhafte Züge bekommen. Er
achtete mehr auf seine Kleidung, löste sich von seiner Mutter und richtete sich gegen
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179
ihren Willen einen Schlafplatz im Wohnzimmer ein. In der 9. Klasse suchte er sich auf
eigenen Wunsch einen Praktikumplatz in einer Automobilfirma.
4. Lebensgeschichte D
Alexander wurde von seiner Lehrerin als gewalttätig bezeichnet und sollte die Schule
verlassen, wenn die Beratung als letzte Chance nicht helfen würde. Sie fügte hinzu: „Ich
selber glaube an sowas ja nicht. So einen kann man nicht am Gymnasium behalten.“ In
die erste Beratungsstunde kam Alexander unwillig und aggressiv und meinte: „Es ist ja eh
alles egal, die Ziege will mich nicht haben“ und sagte: „Gegen Lehrerinnen kann man eh
nichts machen. Aber ich werde es ihr zeigen.“ Ich konnte Alexander überzeugen, dass es
sinnvoll wäre in die Beratung zu kommen und dass wir beide über das, was wir hier
besprechen, schweigen und niemand an der Schule etwas von mir erfahren würde. In den
darauffolgenden Sitzungen kam Alexander, der für sein Alter relativ klein war, immer pünktlich und war mir gegenüber zuvorkommend. Die Tatsache, dass ich nicht sehen kann,
schien Eindruck auf ihn zu machen. Er stellte mir viele Fragen zur Blindheit. Auf die
Störung im Unterricht und auf die Schlägereien mit anderen Schülern angesprochen meinte er: „Man muss sich behaupten können und darf nicht schwach wie ein Säugling sein.
Ich bin ja schließlich 14 und kein Baby mehr.“ Erst in den 90er Jahren war Alexander mit
seiner Mutter aus der Nähe von Tschernobyl nach Deutschland gekommen, sprach jedoch
ausgezeichnet Deutsch. Er wohnte mit seiner Mutter und seinem jüngeren Bruder zusammen. Sein Vater würde immer zwischen Russland und Deutschland pendeln und viel mit
ihm streiten. Er habe das Gefühl, der Vater möge ihn nicht.
Die Begegnung mit seiner Mutter, einer sehr freundlichen Dame Ende vierzig, war sehr
offen und brachte folgende Informationen. Mit 36 lernte sie Alexanders Vater kennen, er
war 29, und sie war froh, dass er eine älter Frau heiraten wollte. Da er in einer höheren
Stellung beim Militär arbeitete, sahen sie sich nicht häufig und sie durfte nie fragen,
wohin er ging und wann er wieder käme. Zärtlichkeiten wurden wenig ausgetauscht.
Nach der Geburt von Alexander begann er sie und seinen Sohn zu schlagen. Jähzornig
war er nach ihrer Aussage schon immer. Da sie Angst vor seinen Zornausbrüchen hatte,
dachte sie zwar immer an Scheidung, wagte aber nicht es auszusprechen. Erst als sie für
sich die Chance sah als Spätaussiedlerin mit Alexander nach Deutschland zu kommen,
konnte sie sogar seine Zustimmung zur Scheidung bekommen. Er durfte als Militärangehöriger nicht ausreisen, wollte aber nach seinem Ausscheiden ihr folgen.
180
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Vor wenigen Jahren hat er das Militär verlassen. Wie sie berichtete, heiratete sie ihn in
Deutschland wieder, weil Alexander einen Vater haben sollte. Er habe hier eine Autowerkstatt aufgebaut, die sie aber nie gesehen habe, würde immer zwischen Russland
und Deutschland pendeln, aber sie wisse nicht genau, was er macht, und dürfe wieder
nicht danach fragen. Sie habe trotz allem mit ihm ein zweites Kind bekommen. Damit
hoffte sie ihn an sich binden zu können. Alexander müsse häufiger miterleben, wie sie
von seinem Vater geschlagen wird. Und er hasse daher seinen Vater. Sie würde wegen
ihres Alters von ihm gedemütigt und erniedrigt, sie müsse das aber alles ertragen, weil
sie ja schließlich alt sei und hier kaum jemanden habe, dem sie sich anvertrauen könnte. Seitdem der Vater wieder häufiger bei der Familie ist, sei Alexander sehr verändert.
Sein Vater schlage ihn oft wegen seines Verhaltens in der Schule, sperre ihn ins Zimmer
und bedrohe ihn mit einer Pistole. Nach der Versöhnung dürfe er damit selbst schießen
üben. Schließlich schenkte der Vater ihm zum Geburtstag eine eigene Pistole. Alexander
erzählte mir ganz stolz, dass er diese Waffe besitze. Er übte damit in seinem Zimmer und
wollte sie mit in die Schule nehmen, um sie seinen Freunden zu zeigen: „Sie sollen
wissen wer ich bin.“ Die Mutter war darüber sehr erregt und beängstigt.
Meine Hauptaufgabe bestand nunmehr darin ihn davon zu überzeugen, auf die Waffe
ganz zu verzichten. Nachdem die Mutter sich bereit erklärt hatte ihm den Gegenwert in
einer langfristigen Taschengelderhöhung zukommen zu lassen, gab er ihr die Pistole
zurück.
Während der dreimonatigen therapeutischer Arbeit ist es ihm gelungen, sein aggressives Verhalten in der Schule einzustellen. Er kam mehr und mehr zu der Überzeugung,
dass er stark sein kann auch ohne Waffe und ohne Schlägereien. Seine Lehrerin kommt
seitdem sehr gut mit ihm aus und findet ihn einen ihrer nettesten Schüler.
5. Auswertung
Die Ihnen hier vorgestellten Geschichten zeigen Gewalt von Männern gegen ihre Frauen
und Kinder. In keinem Fall lassen sich Zusammenhänge zwischen Gewalt und kulturellen
Besonderheiten erkennen.
■ Die Männer stammen aus der Türkei, Tunesien, Frankreich, Deutschland und Russland. Nach den vorliegenden Berichten waren die in Deutschland lebenden Männer
kleine Selbstständige und in ihrer wirtschaftlichen Existenz nicht unmittelbar ge-
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fährdet. Sie waren nicht bereit, ihre geschiedenen Frauen finanziell zu unterstützen.
Als Religionszugehörigkeit ist nur der Islam für den tunesischen und die türkischen
Männer bekannt. Die anderen sind in Ländern christlicher Religionstraditionen aufgewachsen. Ihr Bildungsstand ist nicht genau bekannt. In keinem der Herkunftsländer sind Alkoholmissbrauch und Gewalt von Ehemännern gegen ihre Frauen und
Kinder anerkannt und positiv bewertet.
■ Die Frauen hatten eine abgeschlossene Schulausbildung in ihren Heimatländern,
vergleichbar unserem Realschulabschluss oder dem Abitur, wirkten offen und interessiert, Hilfe von außen, Beratung und psychotherapeutische Unterstützung anzunehmen.
Zwei waren berufstätig, die beiden anderen mehrfach von Arbeitslosigkeit betroffen.
Sie lebten relativ anonym in kleinen Wohnungen in Hochhäusern, hatten wenig Kontakt zu ihren Nachbarn und kaum Freunde. Gesprächspartner waren hauptsächlich
ihre Kinder. Drei der Frauen gehörten der islamischen Religion an, von der vierten ist
nichts bekannt. Die muslimischen Frauen waren nicht verschleiert. Ihr Alltagsleben
und ihre Erziehungspraxis waren nicht erkennbar religiös bestimmt. Religion wurde
von ihnen gar nicht oder nur am Rande erwähnt und war kein leitendes Handlungsmotiv. Alle Frauen waren alleinerziehend und nahmen die Verschlechterung ihrer
ökonomischen und sozialen Stellung in Kauf um sich von ihren Männern zu trennen.
■ Die Jugendlichen befanden sich alle im Pubertätsalter zwischen 10 und 14 Jahren.
Diese Phase stellt eine Entwicklungskrise mit erheblichen psychischen Belastungen
dar. Ihr aggressives und ihr defensives Verhalten (Rückzug und Passivität bei Ahmed)
war nicht geschlechtsspezifisch geprägt. Weder das Verhalten der Eltern noch der
Kinder kann mit religiösen oder moralischen Überzeugungen oder mit landestypischen
Sitten und Gebräuchen erklärt werden. Wesentliche Bedingungen ihres aggressiven
oder auch defensiven Verhaltens sind schwere Störungen und Konflikte in den familiären Beziehungen. Die Gewaltätigkeit der Väter, der Streit der Eltern und die Stellung der Kinder dazwischen untergraben das Vertrauen in die Zuwendung der Eltern,
Enttäuschung und Ablehnung sind die Antwort. Damit sind hier schon in früher Kindheit die entscheidenden Voraussetzungen für die Bildung des Ich gestört. Das Kind
muss die Fähigkeit erwerben, zwischen inneren Triebansprüchen, den wachsenden
Anforderungen der Eltern und später der Schule und dann der Gesellschaft relativ
sicher sich zu entscheiden, ohne sich selbst schweren Konflikten und Strafen auszusetzen. Gelingt das nicht, können aggressive Auswege aus problematischen sozialen
Bedingungen gesucht werden. Die mangelnde psychische Stabilität und die Ich-Schwäche der Jugendlichen und Erwachsenen entsteht aus der Orientierungslosigkeit und
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sozialen Isolierung und bei den Jugendlichen aus dem Verlust des Vaters als einer
wichtigen Orientierungsfigur.
Aus zahlreichen persönlichen Berichten von Migranten und aus der Literatur wird deutlich, dass sie alle, ob Diplomat, Professor oder Arbeiter, unter Schuldgefühlen leiden,
ihre Heimat verlassen zu haben. Wenn sie ihre Kinder besonders in den Sitten und
Gebräuchen ihrer Heimat erziehen und eine besondere Nähe dazu herstellen wollen,
dann geschieht dies nicht, weil sie die hiesige Kultur ablehnen oder sich nicht integrieren, sondern weil sie ihre Schuldgefühle wieder gut machen wollen. Kein Chinese lebt in
China so chinesisch wie in Chinatown, wie mir neulich ein Kenner sagte.
Vorurteile und Einstellungen, die Verhaltens- und Persönlichkeitsstörungen bei Migranten
auf angebliche Kulturgegensätze zwischen Herkunfts- und Einwanderungsländern zurückführen, verstärken die Isolation, verschärfen die sozialen Probleme und fördern die
Aggressivität von beiden Seiten.
Literatur
Bommes, M: Die Beobachtung von Kultur. In: Jahrbuch für Soziologiegeschichte 1994, S. 205 - 226.
Opladen 1996.
Diehm, I./Radke, F. O.: Erziehung und Migration, Eine Einführung. Stuttgart/Berlin/Köln 1999.
Dollase, R./Kliche, T./Moser, H.(Hrsg.): Politische Psychologie der Fremdenfeindlichkeit. Weinheim/
München 1999.
Grinberg, L./Grinberg, R.: Psychoanalyse der Migration und des Exils. München/Wien 1990.
Nassehi, A.: Das stahlharte Gehäuse der Zugehörigkeit. Unschärfen im Diskurs um die ‚multikulturelle
Gesellschaft’, in: Nassehi, A. (Hrsg): Nation, Ethnie, Minderheit: Beiträge zur Aktualität ethnischer Konflikte. Köln 1997.
Weber, M.: Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen 1972.
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183
4.2.4 Barbara Rendtorff
Geschlecht, Erziehungshandeln
und Gewalt
Ich möchte meinen Vortrag auf zwei unterschiedlichen Ebenen ansiedeln; zum einen auf
der Ebene der konkreten Geschlechtserwartungen von Kindern an sich selbst bzw. von
Eltern und Gesellschaft an Kinder und Jugendliche; und zum zweiten auf einer allgemeineren, abstrakteren Ebene, bei der es um die Frage der Anerkennung des Anderen als
anders gehen soll. Und natürlich bleibt dann noch zu fragen, was beide miteinander und
dem Aspekt ‘Gewalt’ zu tun haben.
Die Erwartungen an Frauen und Männer, die Geschlechterleitbilder und die gesellschaftlichen Zuschreibungen von männlich und weiblich sind uns allen scheinbar gut bekannt, aber es verstecken sich darin Aspekte, die nicht auf den ersten Blick erkennbar
sind. Und manche Unterschiedlichkeiten werden auch durch die forcierte Gegenüberstellung der Betrachtung von Mädchen und Jungen so verstärkt, dass man dadurch auf
falsche Fährten gelockt wird.
Grundsätzlich will ich noch vorausschicken, dass es keine nicht-geschlechtete (nicht
sexuierte) Wahrnehmung eines Menschen gibt. Wir wissen beispielsweise aus sogenannten
Baby-x-Versuchen, dass ein Säugling oder Kleinkind, wenn es als männliches ausgegeben wird, anders empfunden und behandelt wird – tatsächlich anders ‘gesehen’ wird, als
wenn man dasselbe Kind als Mädchen ausgibt. Außerdem wissen wir auch, dass wir alle,
Eltern, Lehrerinnen und Lehrer, Verkäuferinnen und Verkäufer, Busfahrerinnen und Busfahrer usw. die Tendenz haben, freche, laute Mädchen anders (und i.d.R. ‘schlimmer’) zu
empfinden als freche, laute Jungen, auf weinende Jungen anders zu reagieren als auf
weinende Mädchen usw.
Dahinter steht jenes Wirkungsgeflecht, das in der Geschlechterforschung mit dem Ausdruck „Zweigeschlechtlichkeit als kulturelle Konstruktion“ umschrieben wird. Diese
Begrifflichkeit hebt darauf ab, dass unsere Gesellschaft in ihren elementaren Strukturen
eine Binarität (Zweiwertigkeit) behauptet und ständig selbst erzeugt. Dabei werden
immer zwei Pole gesetzt: aktiv-passiv, Geist-Körper, männlich-weiblich. Diese Ordnung
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F AC H TAG U N G E N
der Zweiwertigkeit ist nicht etwa nur beschreibend, sondern erzeugt selbst den Druck,
sich selbst, die Gegenstände, die Welt, das Wissen zuzuordnen zu einer Seite, sich selbst
zu definieren und Eindeutigkeiten herzustellen – auch da, wo man weder das Bedürfnis
dazu empfindet noch es unbedingt nötig erscheint. Es wird gewissermaßen ‘Natur erzeugt’, die dann für wahr gehalten, an die ‘geglaubt’ wird. (Nehmen Sie als Beispiel
festlegende, definierende Formeln wie ‘Ein Indianer kennt keinen Schmerz’, sprich: ‘Wenn
Du weinst, bist Du kein richtiger Junge’.) Das Entweder-Oder ist ja überhaupt ein Kennzeichen des modernen Denkens, ein Mechanismus, der weitgehend unbewusst bleibt.
Die Sicherheit, mit der wir solche Zuordnungen vornehmen, wird unterstützt durch unsere über Jahrhunderte gewachsene Fertigkeit, Dinge, Sachverhalte, Personen und uns
selbst so weit zu vereindeutigen, dass sie/wir gut in diese Binarität hineinpassen. So
kann man sagen, dass eine Art ‘kulturelles Gedächtnis’ entstanden ist, in dem dieses
‘Wissen’ aufbewahrt ist. Wie die mit dem Körper gemachten Erfahrungen ins Körperbild
des Kindes, so schreiben sich auch hier Erfahrungen, Einstellungen, politische Argumentationen usw. in einen Katalog ein, der den Charakter einer ‘gemeinsamen Wahrheit’
erhält. Dieses ‘Gedächtnis’ gehört zum Fundament der kulturellen Verfasstheit unserer
Gesellschaft, wird von den einzelnen Individuen je eigenständig angeeignet und in
diesem Selbstzuschreibungsprozess zugleich immer aufs Neue bestätigt und erzeugt. Es
ist dies also kein einfacher Kreislauf, da der Aspekt der aktiven Übernahme eben auch
die Chance zur Veränderung enthält.
Natürlich geht das alles nicht ohne Konflikte ab, im Gegenteil, aber da dieses kulturelle
Gedächtnis weitgehend unbewusst und deshalb nicht verfügbar ist, erscheinen die Konflikte ganz überwiegend als etwas anderes, als sie tatsächlich sind. (Ein gutes Beispiel
wäre hier die aktenkundige Tatsache, dass es bei jungen Mädchen eine auffallend hohe
Rate fehldiagnostizierter Blinddarm-Operationen gibt, bei denen der Zusammenhang
zur Menarche und den psychischen Problemen sich entwickelnder weiblicher Sexualität
offenbar nicht bedacht worden war.) Wir müssen zudem berücksichtigen, dass diese
Kultur der Zweigeschlechtlichkeit eine Hierarchie in sich birgt. Dass Männer und die
dem Männlichen zugeordneten Aspekte (‘männliche Eigenschaften’) über Jahrhunderte
für wichtiger, wertvoller und gesellschaftspolitisch angesehener gehalten wurden, zählt
mittlerweile zum Allgemeinwissen und ist von seiten der Frauen(bewegungen) auch
immer wieder kritisiert worden. Auf der bewussten Ebene gibt es da auch eine ganze
Menge von Erfolgen zu verzeichnen – entscheidend ist aber letztlich die Frage, wie es
gelingen kann, auch die unbewussten Einstellungen zu verändern. Denn das kulturelle
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Gedächtnis hat zwei wesentliche Wirkungsweisen: es ist persistent, d.h. es hat die
Tendenz zu beharren, unverändert fortzubestehen; und es ist performativ, d.h. durch
immer wiederholtes Darüber-Sprechen werden die Einstellungen immer aufs Neue wiederbelebt und als „wahr“ bestätigt. Es muss uns also darum gehen, diese Wirkungsweise
abzuschwächen.
Interpretationen von kindlichem Verhalten und Selbstdarstellungen haben also (neben
anderen) stets eine Geschlechterdimension. Ob wir wollen oder nicht, selbst wenn wir
uns ausdrücklich bemühen, nur das Kind und nicht sein Geschlecht zu sehen, so zeitigt
doch das kulturelle Gedächtnis seine Wirkung und erschwert unsere Versuche, die
Geschlechterbilder zu verflüssigen. Im Bereich der kindlichen Entwicklung gibt es eigentlich nur zwei manifeste Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen, die einen
realen Kern haben und insofern nicht allein auf sozialisierende Einflüsse zurückgeführt
werden können. Das eine ist die Tatsache des geschlechtlichen Körpers mit seiner unterschiedlichen genitalen Ausstattung. Über unmittelbare kindliche geschlechtliche Körpererfahrung wissen wir leider sehr wenig, doch kann man m.E. davon ausgehen, dass die
unterschiedliche Lage der Genitalien auch ein unterschiedliches Körpergefühl bedingt,
d.h. Mädchen und Jungen beziehen sich mit je unterschiedlichen Fragen auf ihren Körper und ihr Körperinneres. Der größte Unterschied wird wohl darin liegen, dass Mädchen
sich selbst ein Bild ihrer Genitalien und des Körperinnen machen müssen, weil diese
sich dem Blick nicht darbieten; es gibt weniger Gewissheit und mehr Interpretation.
Auch die Sorgen und Phantasien um mögliche Gefährdungen des Genitales sehen unterschiedlich aus, je nachdem, ob man ein äußerliches oder ein innenliegendes Organ
schützen und verteidigen muss. Ohne das hier weiter auszuführen wäre als ein zentraler
Punkt noch aufzuführen, dass das männliche Genitale in unserer Kultur ja als das ‘wertvollere’ gilt. Kleine Jungen werden also (fälschlicherweise) in einer Position des ‘Habens’ fixiert (‘Sei doch froh, Du hast das bessere Teil erwischt’), kleine Mädchen werden
über das (scheinbare) Nicht-Haben hinweggetröstet mit dem Verweis auf spätere Mutterschaft. Das macht beide unsicher und besorgt, aber auf sehr unterschiedliche Weise:
Der kleine Junge meint, er müsse das, was er ‘hat’ schützen und verteidigen, das kleine
Mädchen ist verunsichert durch die Botschaft, dass sie etwas Wichtiges ‘nicht hat’ und
ist sich folglich unsicher darüber, wie sie das, was sie ja zweifellos doch ‘hat’, einschätzen und wertschätzen soll.
Und natürlich sind darüber hinaus auch die Phantasien über die genitale Sexualität und
die eigene Beteiligung an der Fortpflanzung höchst verschieden. Auch hier wird sich die
186
F AC H TAG U N G E N
Erwartung von im eigenen Bauch wachsenden Babys in das Körperbild anders einschreiben als die in unserer Kultur an männliche Potenz geknüpften Bilder und Phantasien.
Die reale geschlechtliche Unterschiedlichkeit erlangt ihre Bedeutung aber erst über
Bebilderungen, über äußere und innere Bilder, die sich jeder Mensch von sich und anderen macht, und die sich herleiten aus dem „kulturellen Gedächtnis“ seiner Gesellschaft.
Bedeutung wird erzeugt im Feld imaginärer Zuschreibungen, symbolischer Einordnungen
und kultureller Interpretationen, und nicht zuletzt spielen dabei die Interpretationsspielräume der jeweiligen Eltern und Bezugspersonen eine große Rolle.
Der zweite wichtige ‚reale’ Unterschied entspringt der Tatsache, dass die Mutter für das
Mädchen ein gleichgeschlechtliches, für den Jungen aber ein gegengeschlechtliches
Liebesobjekt ist. Denn auch wenn aktuelle Pluralisierungs- und Individualisierungstendenzen der Auffassung Vorschub leisten, Mutter und Vater seien dann austauschbar,
wenn sie sich nur zu gleichen Teilen um die Versorgung des Säuglings kümmern würden,
so ist dem aus psychoanalytischer Perspektive klar zu widersprechen. Ich gehe hier und
im folgenden davon aus, dass Mutter und Vater (welches im strengen Sinne ‘Positionen’
sind, deren Platz auch von anderen, nicht den leiblichen Eltern, eingenommen werden
kann) in der psychischen Entwicklung des Kindes unterschiedliche Aufgaben zukommen, dass diese beiden Positionen weder vermischt noch ersetzt werden noch einfach
wegfallen können.
Diese Tatsache führt dazu, dass die Autonomieentwicklung bei Mädchen und Jungen
unterschiedliche Vorzeichen hat. Grundsätzlich ist jedes Kind (jeder Mensch) in seinem
Triebgeschehen durch zwei wesentliche, einander widerstreitende und doch zusammengehörende Dynamiken geprägt: durch Symbiosewünsche und Autonomiebestrebungen,
durch den Wunsch nach Verschmelzung und Fülle einerseits, und dem nach Trennung
andererseits. Um Autonomie zu gewinnen, muss der Säugling zunächst einmal lernen,
sich von der Mutter zu unterscheiden. Grob verkürzt wird hier angenommen, dass der
Junge als gegengeschlechtliches Kind für die Mutter von vornherein ein ‘Anderer’ ist.
Seine Autonomie-Entwicklung steht also unter dem Vorzeichen der Trennung – wobei
das Trennende tendenziell überbetont wird und der kleine Junge häufig zu wenig in dem
Kummer über diese Trennung, diesen Verlust an Ähnlichkeit begleitet wird. (Vielleicht
ist die auffällige Tatsache, dass viele Mütter ihre kleinen Söhne mehr ‘bemuttern’ (beim
Anziehen helfen usw.) und unselbständiger halten als ihre Töchter, auch eine Antwort
auf diese Problematik.) Hier wäre ein zuverlässiger Vater wichtig, der dem Jungen Schutz
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187
und Unterstützung und sich selbst als alternatives Objekt anbietet. Insofern ist das
typische Problem der männlichen Entwicklung, dass die den Autonomiewünschen innewohnende Zwiespältigkeit zur Seite der Trennung hin aufgelöst wird und der Wunsch
nach Bindung und Aufgehobensein ganz verloren oder zurückgewiesen wird, was dann
später bei erwachsenen Männern als Beziehungsproblematik wieder auftaucht. (Dies ist
im übrigen ein wichtiger Aspekt in der aktuellen Männerforschung, vgl. z.B. BauSteineMänner 1996; Conell 1999)
Auf der Ebene des geschlechtlichen Körpers taucht diese Problematik des Getrenntseins
dann als Besorgnis auf: die Attitüde kleiner Jungen, die bis an die Zähne bewaffnet,
laut und raumgreifend durch den Kindergarten rennen, ist nicht so sehr als aggressive
zu werten, sondern vielmehr als eine „kontraphobische“, also angstabwehrende Aktivität. Dazu kommt, dass alle Kinder eine Phase des Geschlechtsneids durchleben, in der
sie vermuten, das Gegengeschlecht sei besser ausgestaltet und somit glücklicher dran
als sie selbst. Die hierarchische Auffassung von männlich und weiblich gestattet es dem
kleinen Jungen aber nicht, seinen Kummer darüber, dass er „nur“ ein Junge ist und nie
eine Mama („wie die Mama“) sein wird, wirklich als Verlust zu betrauern.
Die Tochter als gleichgeschlechtliches Kind ist für die Mutter nicht in derselben Weise
(nicht ‘einfach’, nicht so eindeutig) ‘anders’, wie der Sohn es ist. Ihre Autonomie-Entwicklung ist von hoher Ambivalenz geprägt, ihre Wünsche, sich von der Mutter zu unterscheiden und zu trennen,
sind verquickt mit der Befürchtung, diese Trennung
werde die Mutter verletzen
oder zerstören. Typisch für
die weibliche Entwicklung
ist entsprechend (1) die
Schwierigkeit, sich zu
konturieren und zu unterscheiden ohne Angst, und
(2) die verbreitete
Schwierigkeit, Trennung
zu erleben (geschehen zu
lassen), ohne sich als Person zerstört und getroffen
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zu fühlen. Auch hier wäre übrigens ein Vater sehr hilfreich, der dem Mädchen helfen
kann, Trennung und Unterscheidung von der Mutter zu empfinden, ohne sie ganz verwerfen zu müssen. Dazu kommt noch erschwerend, dass die Autonomiewünsche das
Mädchen von der Mutter wegführen, während die Unsicherheit über die Beschaffenheit
ihres geschlechtlichen Körpers sie angewiesen macht auf die Mutter, damit diese ihr
versichern kann, dass ihr Körper intakt und gut geraten ist. M.E. geht diese Angewiesenheit
auch zu einem guten Teil in Mädchen- und Frauenfreundschaften ein und gibt denen
einige ihrer typischen Facetten.
Nur am Rande soll darauf hingewiesen werden, dass das Erreichen einer sicheren, versöhnten Geschlechtsidentität offenbar ein so anfälliger Prozess ist, dass er auch bei vielen
Erwachsenen noch nicht zum Ende gekommen ist. Es ergibt sich dann die neurotische
Figur, dass die eigene Geschlechtsidentität von der Wahl des Liebespartners gestiftet wird.
Da unsere Gesellschaft stark heterosexuell geprägt ist, wird das eigene Geschlecht als
‘gesichert’ empfunden, wenn das Liebesobjekt gegengeschlechtlich ist: ‘Ich liebe einen
Mann, das bestätigt mir, dass ich eine Frau bin’ – und vice versa. Das hat natürlich eine
tragische Kehrseite, denn die Umkehrung lautet ja: ‘Wer einen Mann liebt, kann nicht
selbst ein Mann sein’, oder, nicht weniger dramatisch: ‘Wer keinen Mann liebt, hat nicht
bewiesen, dass sie eine Frau ist’ (und vice versa) – Denkfiguren, die den Umgang mit
Homosexualität und Bisexualität in unserer Gesellschaft außerordentlich stark beeinflusst
haben und bei der Herausbildung geschlechtlicher Identität eine wichtige Rolle spielen.
In diesem Zusammenhang wird auch die Tatsache interessant, dass die Zuordnung zum
Feld des Männlichen deutlich rigider gehandhabt wird als im Bereich des Weiblichen.
Mädchen wird eher gestattet, männliche Attribute auszuprobieren als umgekehrt, und
ein ‘wildes’ Mädchen zieht eine andere Art von Abwertung auf sich als ein weicher
Junge. Ohne das hier näher ausführen zu können, sei doch darauf hingewiesen, dass
hier die Vermutung naheliegt, dass die männliche Position insgesamt die ‚gefährdetere’
ist, dass sie unsicher ist und stark verteidigt werden muss. Und gefährdet ist sie offenbar nicht so sehr von seiten der Frauen, als vielmehr von innen. Wenn Sie auf einem
Schulhof in der Pause die Schimpfwörter sammeln würden, würden Sie unschwer feststellen, dass diejenigen in Bezug auf Mädchen eher um das ‚Nuttige’ kreisen, also um
vermutete, angeblich ausschweifende heterosexuelle Aktivität bzw. um die Beschaffenheit ihres weiblichen Körpers, während die Schimpfwörter für Jungen viel mit Schwulsein zu tun haben und die heterosexuelle Komponente vor allem im Verbindung mit
einem verbotenen Objekt auftaucht (z.B. der Mutter).
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Kurz gesagt: Wenn die Unsicherheiten der Kinder im Entwicklungsprozess nicht aufgefangen werden können, sondern auf der Folie dessen, was ich das kulturelle Gedächtnis
genannt habe, in eine bestimmte Form gebracht werden, dann wachsen die Kinder in
Geschlechtspositionen hinein, aus denen sich nur sehr schwer und nur in Grenzen heraustreten lässt. Die männliche Position ist in unserer Kultur organisiert um Getrenntheit
und Verteidigung, die weibliche um eine gewisse Unklarheit in Bezug auf den eigenen
Körper und die Beziehung zur Mutter.
Jetzt wechseln wir vorübergehend die Ebene. Unser Stichwort heute ist ja Gewalt bzw.
die „gewaltfreie“ Erziehung. Ich denke, es wird weitgehend Konsens sein, dass mit
„gewaltfrei“ nicht die Abwesenheit von Streit oder Aggression gemeint sein kann, denn
das wäre ein ganz großes Missverständnis.
Aggression ist als aktiver Triebanteil in den menschlichen Handlungen enthalten, gibt
den aktiven Impuls ab zur Auseinandersetzung mit der Welt. Auch in der Sexualität ist
eine ‘aggressiv’-aktive Komponente enthalten. In einer psychoanalytischen Perspektive
unterliegt das Triebgeschehen „den Einflüssen der drei großen, das Seelenleben beherrschenden Polaritäten“: aktiv-passiv (die Freud als biologische bezeichnet), Ich-Außenwelt (als reale) und Lust-Unlust (als ökonomische), zwischen denen sich beständig ein
dynamisches Geschehen entwickelt.1 Dabei kann die Dynamik nicht nach einer Seite hin
aufgelöst werden, sondern besteht gewissermaßen als Mischungsverhältnis. Wie die
vorher erwähnten gegensätzlichen Wünsche nach Aufgehobensein und Autonomie ist
auch im Triebgeschehen der aggressive Aspekt mit allen Triebregungen notwendigerweise vermischt – erst die Entmischung, das Auseinanderfallen oder Zerbrechen des
labilen Gleichgewichts lässt Aggression in Destruktion umschlagen. Destruktion ist also
eine Folge einer fehlgeschlagenen Integration widerstreitender Aspekte im Ich – sei es,
dass in der individuellen Lebensgeschichte dieses Menschen die Eltern ihre edukative
Aufgabe nicht erfüllen konnten, oder sei es, dass das gesellschaftliche Umfeld ein Menschenbild hervorgebracht hat, das dieser Nicht-Integration Vorschub leistet (indem es
z.B. Aggression stark tabuisiert, einen unerträglichen Unterwerfungsanspruch hat o.ä.).
Auf jeden Fall ist die Integrationsleistung das Ergebnis eines Erziehungs- und
Sozialisationsprozesses, eines ‘Aushandlungsprozesses’ zwischen Individuum und Gemeinschaft, so dass man sagen kann, dass Auseinandersetzung und „Streit die soziale
Ordnung nicht zerstört, sondern bindet“.2 Dieser Prozess verläuft im übrigen jeweils
unterschiedlich und führt zu jeweils individuellen ‘Mischungsverhältnissen’. Dabei kann
man grundsätzlich festhalten, dass die Befähigung zum Aushalten bzw. Leben von Wi-
190
F A C H TA G U N G E N
dersprüchen mit der inneren Sicherheit wächst, bzw. umgekehrt: je unsicherer jemand
ist, desto größer die Bereitschaft zu Rigidität und Spaltungen (in gut oder böse, Freund
oder Feind usw.) – sei es in Sekten, politischen Gruppen oder auf der Straße.
Aggressive Akte, für die nach Begründungen gesucht wird, haben also gewissermaßen
noch einen Appell-Charakter, sind immerhin ‘Formulierungsversuche’ und damit Versuche, das Geschehen, den Akt einzuordnen in irgendeine Logik, die sich an soziale Zusammenhänge immerhin anbindet. Hass oder ‘namenlose Wut’ ist dagegen eher ein
Zusammenbruch, eine Auflösung, die objektlos ist, bei der das Individuum aus dem
gegebenen Rahmen (der Familie, der Gruppe, der Gesellschaft mit ihren Normen und
Vorstellungen) ganz herausfällt.
Dass Aggressivität und Wut beide damit zu tun haben, dass die psychische Integrationsleistung widerstrebender Aspekte im „inneren des Menschen“ misslungen ist, lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Frage, wie denn das gesellschaftliche Umfeld mit dieser
Widersprüchlichkeit umgeht. Ganz sicher muss man davon ausgehen, dass der ‘Widerstreit der Gefühle’ für jedes Kind beunruhigend ist, dass folglich eine Strategie der
Konfliktvermeidung (‘Streitet Euch nicht!’) ebenso falsch und nutzlos ist wie ein „sentimentaler“ Umgang (Winnicott) mit jugendlicher Aggressivität (‘Er hat’s nicht so gemeint’, ‘hat die Nerven verloren’, ‘kann jedem mal passieren’), sondern dass es vielmehr
darum gehen muss, einen Rahmen zu errichten, der gewissermaßen unzerstörbar ist, in
dem die ganze Widersprüchlichkeit sich zeigen kann und der ihr doch standhält. Eine
Voraussetzung dafür ist die gegenseitige Anerkennung mit/in dieser Widersprüchlichkeit:
d.h., dass jedes Individuum unerreichbar eigen ist, dass der andere (im überpersönlichen
Sinne: der andere Mensch, ob Kind oder erwachsen) anerkannt wird als anders - nicht
weil er ein Gleicher ist, sondern weil „der andere Mensch als Nächster Anderer bleibt in
einer unaufhebbaren Trennung.“3 Die Erwartung einer Ähnlichkeit des Anderen ist ja
gerade die Folie, auf der dann Aggression oder Hass sich artikulieren gegen diejenigen,
die als unähnlich aufgefasst werden.
Unverfügbarkeit des Anderen, Andersheit, Unerreichbarkeit – das sind die Grundelemente,
die der Anerkennung des Anderen zugrunde liegen sollten, aber wir machen i.d.R. gerade im Erziehungsprozess das genaue Gegenteil: wir erwarten Ähnlichkeiten: zwischen
Kind und Eltern (‘Du bist wie ich’), zwischen Kindern einer Klasse oder Altersgruppe,
vergleichbare Interessen und Verhaltensweisen usw., und wir reagieren auf die wachsende Beunruhigung mit pädagogischen Maßnahmen, Therapeutisierung oder morali-
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191
schen Appellen. Das führt dazu, dass die empfundene Beunruhigung als unangemessen
erscheint und um so mehr Angst auslöst – die Angst, aufgrund der Unähnlichkeit, die
jeder Mensch spürt, um die jede und jeder weiß, herauszufallen aus der Gruppe und dem
Denken, das uns umgibt.
Jetzt fragen wir von hier aus erneut nach der Geschlechterdimension. Auch hier gibt es
wieder zwei Ebenen. Auf der einen Ebene lässt sich jetzt leichter verstehen, warum
Gewalt eine männliche Domäne ist. Das Aggressionspotenzial ist zweifellos bei Mädchen
und Jungen gleich – allen Versuchen der Soziobiologie zum Trotz, Aggressivität auf den
Hormonspiegel zurückzuführen. Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die Angst- und
Aggressionswerte bei Jungen/Männern mit der Höhe der Schulbildung zusammenhängen – Aggression ist ja nicht zuletzt ein Versagen der Sprache: „Gewalt ereignet sich,
wenn die Sprache nicht mehr reicht, Spannungen zu erfassen und zu verarbeiten. Der
Sprachlose ‘platzt’, und Hände und Füße übernehmen die Kommunikation.“4
Aber das Aggressionspotenzial wird bei Mädchen und Jungen unterschiedlich beantwortet und kanalisiert. Neben den gesellschaftlichen Geschlechterbildern, die z.B. deutlich
weniger tolerant sind bei der Verknüpfung von Aggression und Weiblichkeit, kommt
jetzt vor allem die vorne beschriebene Struktur zum Vorschein: Die Konzeption des
Männlichen als getrennt macht Angst, die Festlegung auf Aktivität verschiebt die Aufmerksamkeit an die Peripherie (die Körpergrenzen, das Außen) und vermischt sich dort
unbewusst mit der (phantasmatischen) Notwendigkeit der Verteidigung des Genitales. Je größer die
Beunruhigung über die eigene
Geschlechtlichkeit und über das eigene Aufgehobensein, desto rigider
werden die Strukturen sein, die der
Junge (oder Mann) sich sucht oder
aufbaut, damit sie ihm Halt geben.
Als psychosoziale Auffälligkeiten,
die in Beratungsstellen erfasst wurden, überwiegen denn auch bei Jungen und männlichen Jugendlichen
antisoziales und aggressives Verhal-
192
F AC H TAG U N G E N
ten, bei Mädchen Trennungsängste, Angst vor Beziehungsverlust und Selbstwertprobleme5
– folglich werden auch in Kindertherapien mehr Jungen vorgestellt als Mädchen, deren
Probleme „weniger lärmend und stärker nach innen gewandt“ sind.6 Bei Jugendlichen
kehrt sich das Verhältnis dann um mit einer Zunahme v.a. von Essstörungen, psychosozialen Krankheiten und Depressionen bei weiblichen Jugendlichen.7 Bei jungen Männern
werden Aggressivität und demonstrative, ‘laute’ Anpassungsprobleme eher vom gesellschaftlichen Männlichkeitsbild abgedeckt als bei Kindern, die überwiegend aus einer pädagogischen Perspektive als Wachsende und Werdende betrachtet werden, die noch nicht
voll in die Geschlechterrollen eingetreten sind. Die sozialen Probleme junger Frauen erscheinen dagegen gesellschaftlich gesehen als kontraproduktiv, während ihre stumme
Vorgeschichte mit Selbstunsicherheiten und depressiven Zügen in der Mädchenzeit nicht
zuletzt pädagogisch betrachtet als unauffällig oder angepasst empfunden wurde.
Wir sehen also zwei stereotype Erwartungen sich überkreuzen: In der Kinderzeit überwiegt
als Forderung der Gesellschaft die Anpassung – folglich wird die laute Abweichung sanktioniert und als therapiebedürftig selektiert, aber das Verstummen (Brown/Gilligan) junger
Mädchen fällt nicht weiter auf. Im Erwachsenenalter überwiegt als Forderung der Gesellschaft die aktive Teilnahme – und da werden Unsicherheit, Selbstzweifel und depressive
Ichschwächen auffällig und gelten nun als therapiebedürftig, während aggressive
Auffälligkeiten als (ein Stück weit) tolerierbarer Aspekt von Aktivität erscheinen.
Ich hatte vorher gesagt, Unverfügbarkeit, Andersheit, Unerreichbarkeit seien die Grundelemente, die der Anerkennung des Anderen zugrunde liegen. Die Andersheit des Anderen können wir nicht erfassen, auch eine Mutter kann ihr Kind nicht in seiner „Wahrheit“ verstehen oder eine Lehrerin ihre SchülerInnen. Die Erwartung des VerstehenKönnens, also besser als das Kind zu wissen, was los ist oder was es will, ist selbst ein
aggressiver, gelegentlich sogar gewaltförmiger Akt. Und der resultiert gerade daraus,
dass das Aushalten der Andersheit des Anderen in unserer Kultur keinen Wert und keine
Tradition hat. (Im übrigen steht dahinter die innere Differenz, Nicht-Vollständigkeit des
Menschen selbst, die er bei sich selbst nicht erträgt und deshalb nach außen verschiebt.
Aber das zu diskutieren, würde an dieser Stelle zu weit führen.)
Deshalb ist „Gleichheit“ auch eine so problematische Devise: gleich sind wir vor dem
Gesetz und vor Gott, in jeder anderen Hinsicht sind wir ungleich, mit anderen Worten:
Gleich sind wir als unpersönliche, sozusagen abstrakte Personen, als Bürgerinnen und
Bürger, Wählerinnen und Wähler, Schulpflichtige, aber als Individuen, als Menschen
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sind wir unvergleichlich unterschiedlich. Mir scheint, dass sowohl in der Schule wie in
den heutigen Elternhäusern die Tendenz besteht, diese beiden Ebenen zu verwechseln –
womit nichts, aber auch gar nichts gewonnen ist.
Die Erfahrung der Unverfügbarkeit des Anderen macht ja auch deshalb große Angst, weil
die eigene Unerreichbarkeit darin gespürt wird. Um den Anderen (ob Kind oder erwachsen) als anders, sogar als letztlich fremd, eigen und eigensinnig ertragen zu können,
braucht es Verbindungen, die durch Orte, Regeln usw. gefestigt sind, die gewissermaßen
unzerstörbar sind, die Differenz ertragen, ohne erschüttert zu werden – innerhalb derer
dann Interessen, Tätigkeiten usw. als gemeinsame, in Grenzen je eigenwillig und unterschiedlich gestaltet werden können. Das ist m.E. die Qualität, um die es geht bzw.
gehen muss, damit wir nicht weiterhin Mädchen und Jungen in ihren jeweiligen, streng
begrenzten Geschlechterbildern einfangen und dadurch immer aufs Neue Unsicherheiten und falsche Antworten erzeugen.
Sicherlich ist das keine Veränderung von heute auf morgen. Aber Gewalt entspringt ja
nicht zuletzt gerade dem Versuch, „eine belastende Krisen- oder Konfliktsituation möglichst
schnell zu lösen.“8 Bessere Strategien im Umgang mit Aggressivität zu entwickeln, geht
nicht von jetzt auf gleich, auch gibt es dafür keine „richtigen“ pädagogischen Maßnahmen. Aber wenn wir die Beziehungen zwischen Menschen in dieser beschriebenen Weise
verändernd angehen, werden sich für jeden Beteiligten neue Perspektiven eröffnen.
Anmerkungen
1
Freud, Sigmund: Triebe und Triebschicksale, in: Studienausgabe, Bd. III, S. 107
2 Vgl. Buchholz, Michael: Streit und Wider-Streit - Unbewußtheiten im kulturellen Kontext, in:
Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsyhiatrie 41/1992, Heft 1, S. 172 f.
3
Wimmer, Klaus-Michael: Von der Identität als Norm zur Ethik der Differenz. Das Verhältnis zum
anderen als zentrales Problem einer pädagogischen Ethik, in: Käte Meyer-Drawe et al.: Pädagogik
und Ethik, Weinheim 1992, S. 169.
4
Hanke, Ottmar: Gewaltverhalten in der Gleichaltrigengruppe von männlichen Kindern und Jugendlichen. Konzeptioneller Zugang - pädagogische Folgerungen, Pfaffenweiler 1998.
5
Vgl. Hopf, Hans H., a.a.O., S. 177 f.
6
Ders.: Aggression in der analytischen Therapie mit Kindern und Jugendlichen, Göttingen 1998, S.
38.
194
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7
Vgl. ebd., S. 37 f.
8
Beck, Klaus J.: Jungen und Gewalt, in: Männlichkeit und Gewalt. Konzepte für die Jungenarbeit,
Opladen 2000, S. 205.
Literatur
BauSteineMänner (Hg.): Kritische Männerforschung, Berlin 1996.
Conell, Robert W.: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, Opladen 1999.
Freud, Sigmund: Triebe und Triebschicksale, in: Studienausgabe, Bd. III.
Buchholz, Michael: Streit und Wider-Streit – Unbewußtheiten im kulturellen Kontext, in: Praxis der
Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 41/1992, Heft 1.
Wimmer, Klaus-Michael: Von der Identität als Norm zur Ethik der Differenz. Das Verhältnis zum anderen als zentrales Problem einer pädagogischen Ethik, in: Käte Meyer-Drawe et al.: Pädagogik und
Ethik, Weinheim 1992.
Hanke, Ottmar: Gewaltverhalten in der Gleichaltrigengruppe von männlichen Kindern und Jugendlichen. Konzeptioneller Zugang -pädagogische Folgerungen, Pfaffenweiler 1998.
Brown, Lyn M./Gilligan, Carol: Die verlorene Stimme. Wendepunkte in der Geschichte von Mädchen
und Frauen, Frankfurt a.M. 1994.
Beck, Klaus J.: Jungen und Gewalt, in: Männlichkeit und Gewalt. Konzepte für die Jungenarbeit,
Opladen 2000.
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195
4.2.5 Achim Schröder
Bildungsarbeit und „Gewaltfreie
Erziehung“ – Ideen zur Umsetzung
Wie man durch Bildungsarbeit die
Herausbildung gewaltfreier Erziehung
unterstützen kann
1. Einleitung
Als ich bei der Vorbereitung auf mein heutiges Thema darüber nachdachte, wie denn
Bildungsarbeit die Herausbildung von gewaltfreier Erziehung unterstützen kann, tauchten bei mir zunächst Zweifel auf, die ich an zwei Fragen erläutern möchte.
Erstens stellt sich die Frage, wie denn Bildungsarbeit dort hineinwirken kann, wo es sich
um innerfamiliäre Prozesse handelt. Die meisten Familien schotten sich hinsichtlich ihrer Art und Weise, wie sie mit Konflikten umgehen, nach außen möglichst gut ab. Zudem
wird man mit Bildungsarbeit jene am wenigsten erreichen, bei denen Gewalt als Erziehungsmittel noch eine große Rolle spielt. In der Tat kann Bildungsarbeit keine Feuerwehrfunktion übernehmen und sie wird sich hauptsächlich an Multiplkatorinnen und
Multiplikatoren richten und die in der beruflichen Erziehungsarbeit Tätigen. Diese werden dann – idealiter gedacht – den Umdenkungs- und Veränderungsprozess weitervermitteln. Bildungsarbeit hat vor allem dann Chancen, die Menschen in ihren Erziehungsfragen zu erreichen, wenn sie an ihren realen Erfahrungen und an ihren Nöten anknüpft.
Sie hat dann Chancen, wenn sie auf einem Menschenbild fußt, dass die tagtäglichen
Konflikte in der Erziehung einbezieht. Deshalb sollte es nicht in erster Linie um eine
Kritik an der Erziehungsgewalt1 gehen, sondern um die Konflikte und Aggressionen, die
das Aufwachsen begleiten und den Umgang zwischen Eltern und Kindern belasten.
Meine zweite Frage ergibt sich aus den verschiedenen Wirkungsmöglichkeiten von Bildungsarbeit und Erziehung. Erziehung ist langfristig angelegt und es handelt sich um einen
intersubjektiven Prozess, der sich über besondere Nähe herstellt und zur weiteren Ent-
196
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wicklung auch Distanzierung benötigt. „Erziehung ist Beziehung“2, wie Buber das nannte.
In der Erziehung entwickeln sich die Einstellungen und Haltungen in einem teilweise sehr
nahen und identifikatorischen Kontakt zu der Bezugsperson. Bei diesem intersubjektiven
Austausch haben wir es mit einer engen Verzahnung von emotionalen und kognitiven
Lernprozessen zu tun. Bildungsarbeit ist demgegenüber verhältnismäßig kurzfristig.
Wie kann Bildungsarbeit überhaupt Einstellungen erreichen, die gefühlsmäßig in tieferen
Schichten verankert sind? Das ist sicher keine leichte Frage und ich werde sie vermutlich
nicht gänzlich beantworten können. Aber ich möchte mich der Frage nähern, indem ich
einige Zusammenhänge zwischen „Lernen und Erfahrung“ darstelle und an einem Lernverfahren zeige, wie auch innere Einstellungen durch Bildungsarbeit einbezogen und
dadurch Lernprozesse ermöglicht werden können.
2. Konflikte im Erziehungsprozess
Eine Erziehung ohne Konflikte ist nicht vorstellbar. Die verschiedenen Vorstellungen
über Erziehung unterscheiden sich vor allem dahingehend, wie mit Konflikten umgegangen wird.
Noch vor wenigen Jahrzehnten gingen die meisten Eltern von einem umfassenden Herrschaftsanspruch gegenüber ihren Kindern aus. Eigene Meinungen von Kindern sah man
als Widerworte an und die Rechte der Kinder standen mehr oder weniger nur auf dem
Papier. Konflikte wurden auf diese Weise unterdrückt bzw. mittels Autorität „gelöst“. Das
änderte sich mit dem politischen und kulturellen Wandel in den 60er und 70er Jahren.
Man wollte den alten autoritären Erziehungsstil und das damit verknüpfte Menschenbild
loswerden. Die Ursache für viele gesellschaftliche Probleme – so auch die Gewalt – sah
man in der Erziehung bzw. in dem vorherrschenden Erziehungsstil. Dafür steht besonders
das Buch „Am Anfang war Erziehung“ (1983), in dem Alice Miller eine radikale Ursachenzuweisung an die Erziehung propagierte und damit auch große Hoffnungen bediente, es
ganz anders machen zu können.
Diese Gedanken fielen auf fruchtbaren Boden und haben zu einem Umdenken geführt,
das keinesfalls nur die damals Engagierten erfasst hat. Bis weit in die Gesellschaft
hinein änderte sich die Einstellung gegenüber Kindern. Man wollte sie nicht mehr gängeln und einschränken, man wollte sie fördern und gewähren lassen. Man wollte den
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197
Kindern möglichst alles bieten und möglichst wenig verbieten. Sie sollten ihre Stärken
und ihr Selbstbewusstsein entwickeln können. Es war ein Lernen in Freiheit angesagt.
Heute, drei Jahrzehnte später, können wir uns die Durchschlagskraft dieser Vorstellung
auch damit erklären, dass sie auf eine erstaunliche Weise zu dem passte, was man unter
wirtschaftlichem Neoliberalismus versteht. Seit den 70er und 80er Jahren – zunächst in
Amerika und England und dann später auch in ganz Europa – wurde die Schutzfunktion
des modernen Wohlfahrsstaates abgebaut zugunsten einer allein an den Märkten ausgerichteten Ökonomie. Von Seiten der Wirtschaft hat man die sozialen Abfederungen solange als Hindernisse für eine Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt gebrandmarkt,
bis auch sozialdemokratische Regierungen nachgaben und den Abbau betrieben. Wir
haben es mehr und mehr mit einem „Kampf aller gegen alle“ zu tun. Jeder muss sehen,
wo er bleibt, heißt es dazu im Volksmund. Und gesellschaftliche Anerkennung misst sich
fast ausschließlich an dem Erfolg, ausgedrückt in Geldeinheiten. Diese Form des
Wirtschaftsliberalismus wird zurecht als Sozialdarwinismus bezeichnet, weil dadurch das
Recht des Stärkeren wieder vermehrt gesellschaftsfähig wird (Vgl. Butterwege 2000,
Negt 2000). Das spiegelt sich in der Erziehung wieder, die bereits frühzeitig damit
konfrontiert ist, dass die Konsumfreude der Kinder ständig angeheizt wird: durch Werbung, durch neue Produkte und durch Mechanismen, die auch schon unter den Kids
dafür sorgen, dass demjenigen oftmals mehr Anerkennung zuteil wird, der mehr besitzt.
Dazu möchte ich von einer kleinen Begebenheit erzählen, die ich kürzlich erlebt habe: Ich
stehe montags morgens in einer kleinen Schlange vor der Bäckerei-Theke in einem Supermarkt, vor mir eine Mutter mit zwei Kindern, einem Kleinkind und einem ungefähr schulreifen Kind. Als sie an der Reihe sind, haut der etwa 6jährige Junge an die Glasscheibe
und sagt: „Ich will Croissant mit Käse.“ „Es gibt aber nur ohne Käse,“ erwidert die Mutter.
Dann packt die Verkäuferin so ein Teilchen ein. Der Junge ganz wild: „Ich will aber auch
noch ein Brötchen mit Käse.“ Er springt herum und haut gegen die Scheibe. Die Mutter
gibt nach und schaut etwas hilflos nach hinten. Ich blicke ihr verständnislos ins Gesicht,
doch der Mann hinter mir springt ihr bei und sagt: „Die Fütterung der Raubtiere.“ Während
der Junge nun sogar hinter die Theke rennt, um der Verkäuferin beim Brötchenschmieren
über die Schulter zu gucken, sagt die Mutter halblaut vor sich hin und irgendwie für uns
Zuschauer bestimmt: „Gleich setz’ ich sie zu Hause vor den Fernseher, dann ist Ruh’“.
Dieses Beispiel steht für mich für eine Hilflosigkeit, die sich aus den verinnerlichten
Ansprüchen ergibt, das Beste für das eigene Kind tun zu wollen und zugleich sich nicht
198
F A C H TA G U N G E N
mehr zurechtzufinden mit dessen Bedürftigkeiten, die auf vielfältige Weise von der
Konsum- und Medienwelt angestachelt werden. Man kann diesen Umgang mit Kindern –
auch wenn mir das zynisch erscheint – als eine gute weil angemessene Vorbereitung auf
die Anforderungen einer neoliberalen Gesellschaft begreifen. Es wird gelernt, sich durchzusetzen. „Früh übt sich…“.
Inzwischen wird der gewährende Erziehungsstil mit verschiedenen Argumenten kritisiert. Viele Erwachsene haben sich, meint Hurrelmann, „aus der Rolle als Eltern oder
Erzieher praktisch verabschiedet. Sie haben sich auf eine Position der ‚Nicht-Erziehung’
zurückgezogen, auf einen laufenlassenden, ‚permissiven’ Erziehungsstil, …“ (Hurrelmann
in Raser 1999: 7). Sie haben die Sache aus der Hand gegeben und fühlen sich oftmals
den dann laufenden Prozessen hilflos ausgeliefert. Der erneute Blick auf das, was Kinder
und Jugendliche brauchen, hat den Begriff der Grenzen auf neue Art hoffähig gemacht.
Kinder brauchen Grenzen, sie brauchen eine Struktur, sie brauchen einen Rahmen, der
ihnen dabei hilft, sich zurechtzufinden. Und das heißt auch, die Kinder in ihren Wünschen und ihrem Handeln zu begrenzen. Die aktuelle Ratgeberliteratur ist voll von diesen Gedanken (Vgl. Rogge 1993 und 1995).
Ahrbeck nennt es eine Täuschung, der man mit einem Erziehungsstil aufgesessen ist,
der einseitig auf die ungestörte Entfaltung und Befriedigung kindlicher Bedürfnisse
setzt. „Hinter einer primär auf narzisstische Wachstumsförderung bedachten, konfliktvermeidenden Erziehung verblassen unumgängliche Realitätsanforderungen“ (1997: 8).
In dem man glaubte, auf eine Konfliktvermeidung setzen zu können und das mit einer
allein positiven und damit einseitigen Entwicklungstheorie begründen zu können, habe
man sich über sich selbst und über Erziehung getäuscht. Stattdessen stellt die Realität
in der Familie und in der Gesellschaft Anforderungen, mit denen man sich auseinandersetzen muss. „Erziehung hat immer das Ziel, dem Kind begreiflich zu machen, dass es
Teil einer Gesellschaft ist und dass es auf den Anderen Rücksicht nehmen muss, obwohl
sein ursprünglicher Trieb darin besteht, nur sein eigenes Bedürfnis und seinen eigenen
Wunsch zu befriedigen. Jedes menschliche Wesen kennt zum Zeitpunkt seiner Geburt
ausschließlich seine eigenen Bedürfnisse und hat als einziges Ziel, sich am Leben zu
erhalten“ (Olivier 2000: 9).
Konflikte zwischen Kindern und Eltern tauchen in allen Lebensaltern auf, es gibt reale
handfeste Konflikte und es gibt solche, die sich in der Phantasie abspielen und auch
von großer Bedeutung sein können. Die meisten Eltern spüren bereits im Säuglingsalter
G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P Ä D A G O G I S C H E S L E I T B I L D
199
ihrer Kinder, wie leicht ihre eigenen Interessen und Bedürfnisse als Erwachsene und als
Paar auf der Strecke bleiben, wenn sie sich nicht gegenüber den Wünschen und Anforderungen des Säuglings behaupten. Mit zunehmendem Alter der Kinder tauchen ständig
neue Alltagsprobleme auf, die geregelt und teilweise gegen die Bedürftigkeiten der
Kinder durchgesetzt werden müssen. Eine besondere Färbung bekommen die Konflikte
im Pubertätsalter, wenn die Kinder ihre Eltern auf die eine oder andere Weise extrem
herausfordern, um sich von ihren wichtigsten Bezugs- und Liebespersonen – nämlich
den Eltern – innerlich ein Stück weit absetzen zu können.
Die Verantwortung und die Weitsicht, wie man sie als Erwachsener hat, kann man von
Kindern nicht in dieser Weise erwarten. Die Perspektiven sind notwendigerweise verschieden. Es gibt aber nicht nur Konflikte zwischen Eltern und Kindern. Es gibt auch
Konflikte und Ambivalenzen im Kind. Kinder haben Phantasien, die sie glauben nicht
haben zu dürfen. Das können sexuelle Wünsche und Phantasien sein, das können auch
Vorstellungen sein, andere vernichten zu wollen. Daraus ergeben sich innere Konflikte
und Schuldgefühle, die auch von einfühlsamen Eltern nicht aufgelöst werden können.
Aber es ist wichtig, solche Konflikte als zum Leben gehörig zu kennen und als akzeptierbar
zu behandeln. Kinder erleben tagtäglich, wie schwierig es ist, auf der einen Seite sich
behaupten zu müssen und dazu auch hart, aggressiv und durchsetzungsfähig zu sein
und auf der anderen Seite zu lieben und anzuerkennen, um selbst anerkannt zu werden
und Bindungen zu ermöglichen. Der Widerspruch zwischen selbständigem Willen und
Autonomie einerseits und schützender Bindung und Anerkennung andererseits wird oft
als unlösbar empfunden und dennoch muss jeder Mensch lernen damit umzugehen (Vgl.
Benjamin 1993: 93). Die mit den inneren Widersprüchen verknüpften Konflikte entladen sich schon im sogenannten Trotzalter nach außen, wenn das Kind mehr eigene
Schritte machen möchte und zugleich große Angst vor der Loslösung hat. Es ringt mit
sich und bringt seine Verzweifelung nach außen. Konflikte sind unumgänglich, und sie
sind auch entwicklungsfördernd.
„Innerpsychisch treibt der Konflikt die individuelle Entwicklung voran. In den zwischenmenschlichen Beziehungen und im gesellschaftlichen Leben ist es auch der Konflikt, der
anzeigt, dass wir lebendig sind, uns entwickeln und verändern“ (Grüneisen 1998: 244).
Deshalb brauchen Kinder konfliktfähige und konfliktbereite Eltern.
Die Bildungsarbeit kann diese Konfliktfähigkeit stärken und damit zur Herausbildung
von neuen pädagogischen Leitbildern beitragen.
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3. Lernen und Erfahrung
Lernen geschieht nicht auf die einfache Weise, dass man etwas hört, es aufnimmt und es
dann übernimmt. Beim Lernen gibt es immer einen Unterschied zwischen den Bildern,
die mir vermittelt werden und meinem Selbstbild. Es gibt einen Unterschied zwischen
den von außen auf mich zukommenden Bildern und den inneren Bildern, über die ich
bereits verfüge. Diese Diskrepanz führt oft zu einer Konfrontation.
Das Neue und Andere kann in das bestehende Eigene integriert werden, wenn es passungsfähig ist oder wenn es sich passungsfähig machen lässt und ich als Lernender auch die
kognitive und die psychische Bereitschaft habe.
Meine Fähigkeiten zum Lernen und meine Bereitschaft dazu hängen wiederum mit meiner Lebensgeschichte zusammen – meiner Vorgeschichte, meinen Erfahrungen im Umgang mit Anderen und meinen Erfahrungen im Umgang mit Lernstoffen.
Lernprozesse sind in starkem Maße von der Person und der Persönlichkeit des Lernenden
abhängig. Hat man bereits frühzeitig die Erfahrung gemacht, alleine zu sein? Hat man
erlebt, dass jeder nur für sich ums Überleben kämpfen muss? Oder hat man Stützen
erlebt und ist in einer kommunikativen Interaktion aufgewachsen? Hat man die Erfahrung gemacht, aufgehoben zu sein? Hat man erlebt, in Krisensituationen und bei existenziellen Ängsten nicht nur auf sich gestellt gewesen zu sein?
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201
Die jeweiligen Erfahrungen prägen den Umgang mit Neuem und Anderem, dem man
beim Lernen begegnet. Man kann die Diskrepanzen und Konfrontationen, die dadurch
entstehen, entweder gut ertragen und das Neue sogar begierig aufnehmen oder man
schottet sich eher ab und will sich den befürchteten Verunsicherungen möglichst wenig
aussetzen.
Das erste Lernen im Leben geschieht durch Erfahrung. Das kleine Kind erfährt, wie die
Mutter oder der Vater sich sorgend zur Verfügung stellt und zeitweise auch nicht zur
Verfügung steht. Das Kind erfährt das Ja und das Nein und viele Nuancen dazwischen.
Das Kind erfährt, wie Vater und Mutter mit ihm kommunizieren und das in einem Alter,
in dem das Baby noch gar nicht sprechen kann. Die neue Säuglingsforschung hat interessante Erkenntnisse über diese Kommunikation und die aktive Mitgestaltung durch
das Baby zu Tage gefördert (Vgl. Dornes 1993). Das Baby ist in den ersten Lebensmonaten nicht einfach dem Von-außen-kommenden ausgeliefert, es beteiligt sich aktiv
an der Erfahrungsbildung.
Auch weit über die Säuglingsforschung hinaus hat die Vorstellung, dass der Mensch
seine jeweiligen Wirklichkeiten zu großen Anteilen selbst konstruiert, mehr und mehr
Anhänger gefunden. Die konstruktivistische Sicht fordert noch radikaler als andere Theorien, den Lernenden in seiner Subjekthaftigkeit ernst zu nehmen. Die Wirklichkeit ist
nicht die Wirklichkeit, sondern sie ist die des jeweiligen Beobachters.
„Der Mensch bildet demnach als Beobachter der Welt diese nicht einfach ab, sondern er
konstruiert und erschafft das, was er zu erkennen glaubt, im Akt der Beobachtung selbst“
(Arnold u.a. 1999: 372). Für die Lehrenden komme es deshalb darauf an, meint Arnold,
genügend große Gestaltungsspielräume für den Umgang mit Wissen zu ermöglichen. Der
Lehrende müsse immer davon ausgehen, dass der Lernende mit dem Wissen nur etwas
anfangen könne, wenn er es auf seine je eigenwillige konstruiere und re-interpretiere
(Vgl. ebd.: 373)
Doch auf welcher Basis konstruiert und re-interpretiert der Lernende? Wovon hängt es
ab, auf welche Weise er das tut? Der Konstruktivismus berücksichtigt zu wenig die Voraussetzungen im einzelnen Subjekt. Die Subjekte sind nicht beliebig verschieden. Sie sind
verschieden ausgestattet, sie wurden gefördert oder gebremst. Sie haben unterschiedliche basale Erfahrungen. Zumeist lassen sich Lernblockaden aus der eigenen Lebensgeschichte heraus erklären und verstehen.
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Die wissenschaftlichen Erkenntnisse über die frühkindlichen und sozialen Prägungen bleiben aus meiner Perspektive sehr wichtig, aber sie werden heute nicht mehr so
„determinististisch“3 betrachtet. Es zeigen sich mehr und mehr Möglichkeiten zu individuellen Korrekturen, Erweiterungen und Neukonstruktionen im Verlauf eines Lebens. Das gilt
auch für die Erkenntnisse über die Adoleszenz, die bereits seit einigen Jahren nicht mehr
nur als Zeit der Krise gesehen wird, in der sich eine Reihe von frühkindlichen Erfahrungen
auf neue Weise durcharbeiten müssen, sondern als eine „zweite Chance“ im Leben eines
jeden Menschen. Diese Zeit bietet eine Chance zu Neukonstruktionen in der Persönlichkeit
auf besondere Weise (Vgl. Erdheim 1988: 194; Schröder/Leonhardt 1998: 28).
Erfahrungen haben eine individuelle und eine kollektive Komponente. Mit der individuellen Komponente meine ich die biografische Erfahrung, das individuelle Sosein, mit
meinen spezifischen Gedanken und Gefühlen, meinen Verarbeitungserfahrungen im
Umgang mit Enttäuschungen, mit Konflikten, mit nicht erfüllten Wünschen und ebenso
mit den großartigen Erfahrungen, mit beflügenden Erfahrungen, mit Liebes- und Näheerfahrungen, mit Glückserfahrungen.
Erfahrungen haben zudem verschiedene kollektive Komponenten. Es gibt bestimmte Erfahrungen in einer Familie, die allen Mitgliedern gemeinsam sind, es gibt vergleichbare Erfahrungen innerhalb eines sozialen Milieus – mit Armut oder mit Reichtum, mit Religion
und mit Weltanschauung, mit Infrastruktur und mit Wohnraum. Es gibt auf einer größeren
Ebene ähnliche gesellschaftlich-kulturelle Erfahrungen, je nach dem ob man z.B. in Deutschland, Jugoslawien oder in einem asiatischen Land aufgewachsen ist.
Die Erfahrungen mit ihren individuellen und kollektiven Komponenten stellen die Voraussetzungen dar, die im Subjekt vorhanden sind. Ohne Erfahrungen und Vorerfahrungen
ist Lernen nicht denkbar. Wie bereits erwähnt, geschieht das erste Lernen durch Erfahrungen, – ich zitiere: durch „Erfahrungen mit der Umwelt, die über die Sinnesorgane
vermittelt werden. Ohne menschliche Kontakte zur rechten Zeit lernen wir nicht sprechen. Wir sind von klein an auf Erziehung angewiesen“ (Biesenbaum 2000). Durch dieses Erfahrungslernen wird die Architektur des Gehirns erst geschaffen, meinen die heutigen Neurowissenschaftler. Somit hängt von diesem Erfahrungslernen ab, wie man später das Gehirn zum kognitiven Denken und Lernen benutzen kann.
Lernen hat dann die größten Chancen, wenn es die individuellen und kollektiven Erfahrungen aufgreift, wenn es an den Erfahrungen andocken kann.
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Das ist eigentlich eine alte Weisheit. Aber sie geht immer wieder verloren. Derzeit spricht
man viel von der Wissensgesellschaft und der Informationsgesellschaft und scheint wieder
zu glauben, dass es vor allem um die Verfügbarkeit von Informationen geht. Es wird
unterstellt, dass bei einer ausreichenden Verfügbarkeit über Informationen die Individuen
diese nur zu adaptieren brauchen. Aber das können sie eben teilweise überhaupt nicht.
Die Vorstellung, dass man sich nur über die Verfügbarkeit zu kümmern hätte, ist zuhöchst
unsozial, weil diejenigen mit guten Voraussetzungen – hinsichtlich ihres Talents, ihrer
biografischen Erfahrungen und ihrer materiellen Lage – haben auch die besten Möglichkeiten. Das sind eben die Gewinner und die anderen sind die Verlierer.
Die Bildungsappelle richten sich unterschiedslos und scheinbar gleichberechtigt an jeden Einzelnen. Wissensaneignung ist jedoch „von Art und Qualität früher angeeigneten
Wissens abhängig“ (Pollak 2000: 12) und verweist somit auf die ungleich verteilten
Voraussetzungen. Das, was das Individuum an Bildung braucht und wie es das braucht,
ist von daher sehr unterschiedlich. Die Bildungserfordernisse der Gesellschaft werden
heute auf einer sachlogischen Ebene dargestellt, die den Raum für ganz unterschiedliche soziale Kompetenzen einschränkt und die individuellen Stärken und Schwächen
entwertet.
Pollak befürchtet dadurch eine Tendenz zur Entmündigung der Adressaten von Bildung.
Es liegt bereits fest, was sie lernen sollen und wie sie es lernen sollen. Er schlägt
deshalb vor, dass Mündigkeit wieder zu einem Leitbegriff von politischer Bildung werden soll. Hier sind Kompetenzen zu vermitteln, die zu einem Umgang mit der Gesellschaft und ihren aktuellen Erscheinungsformen befähigen. Dazu braucht es auch die
kritische Reflexion der eigenen Person und ihrer Erfahrungen (vgl. ebd.: 14).
Das, was man als Binsenweisheit bezeichnen kann, beim Lernen an den Erfahrungen der
Individuen anzusetzen, wird oft nur unzureichend befolgt. Allerdings ist es auch nicht
leicht, dieser Weisheit zu folgen. Denn die Erfahrungen, die uns prägen, sind uns nur
teilweise bewusst. Dementsprechend gilt es, Lernprozesse so zu organisieren,
■ dass Erfahrungen darin auftauchen können,
■ dass Erfahrungen durch besondere Methoden angeregt werden,
■ dass die damit verknüpften Gefühle spürbar werden,
■ dass Erfahrungen sich auch geschützt fühlen und
■ dass Erfahrungen durch Neues angereichert und damit in Teilen umstrukturiert werden.
204
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Wir können eine Bildung gegen Entmündigungsprozesse und für ein selbsttätiges Indie-Hand-nehmen nur initiieren, wenn wir an der Lebenserfahrung der Individuen anknüpfen und das heißt eben auch an deren Gefühlen.
4. Methode „Szenisches Spiel“ am Beispiel von Seminaren zur
Gewalt- und Konfliktverarbeitung
Das „Szenische Spiel“ ist eine Methode, die Ingo Scheller im Rahmen der Lehrerausbildung an der Universität in Oldenburg aus der Theaterarbeit und hier speziell der
Brechtschen Lehrstückarbeit heraus entwickelt hat (Vgl. Scheller 1998). Das „Szenische
Spiel“ eignet sich zur Reflexion und Aufarbeitung von alltäglichen Erfahrungen. Man
stellt eine real erlebte Situation als Standbild szenisch nach und arbeitet daran. Man
hält den Film, den man noch im Kopf hat, an und betrachtet unter Einsatz verschiedener
Verfahrensweisen, was in dieser zugespitzten Situation geschehen ist und was die daran
Beteiligten in ihrer jeweiligen Lage empfinden. Dabei kann die Position des Opfers, die
Position des Täters, die Position des Sowohl-als-auch und die Position des Zuschauers
oder Außenstehenden nachempfunden werden.
Konkret läuft das in einem Seminar etwa so ab. Jemand hat eine Konfliktsituation erlebt
und baut die Szene mit drei oder vier Personen auf. Die Haltungen der Personen einschließlich ihrer Mimik werden möglichst genau rekonstruiert. Der Protagonist der Szene – also der, der sie erfahren hat – modelliert die Spieler so lange, bis das Standbild die
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erlebte Situation so wiedergibt, wie er sie erinnert. Nun befragt der Spielleiter die
einzelnen Personen, die weiter im Standbild verharren, nach dem, was sie gerade tun,
wie es ihnen geht und was sie empfinden. Durch dieses sogenannte Einfühlungsgespräch
wird die Szene immer plastischer, die Erfahrungen werden lebendig. Die Befragung der
Personen verschafft uns einen Zugang zu den inneren Haltungen in der jeweiligen Position. Diese Haltungen sind selbstverständlich subjektiv und dementsprechend vom einzelnen Spieler abhängig. Wenn beispielsweise die Position eines Opfers nacheinander
von zwei verschiedenen Personen gespielt wird, werden zwar beide Personen die Opferposition zeigen und nachempfinden, aber sie werden diese Position auf verschiedene
Weise empfinden. Wir sehen als Beobachter eines Standbildes also immer einerseits die
Position einer Person innerhalb der Szene und andererseits das, was der jeweilige Mensch
subjektiv daraus macht und dabei erlebt.
Wir haben nun das Standbild vor uns und haben gehört, was in den Personen vorgeht.
Jetzt arbeiten wir mit verschiedenen Reflexionsmethoden an dem Bild weiter, um andere Perspektiven zu sehen und alternative Lösungen durchzuspielen. Eine Methode dazu
ist die Stimmenskulptur. Dazu wählt der Spielleiter eine Person im Standbild aus und
fordert die Beobachter auf, dieser Person eine Stimme zu geben, sie etwas sagen zu
lassen, was zu ihrer Rolle passt. Bald stehen drei, vier oder fünf Beobachter hinter der
Person und wiederholen mehrfach ihre Aussprüche wie beispielsweise „Was soll ich nur
machen?“ oder „Nichts wie weg von hier“. Auf diese Weise entfaltet sich das, was in der
Person vorgeht oder vorgehen könnte. Auch hier kommt es uns wieder darauf an, die
ganz unterschiedlichen subjektiven Sichtweisen und Gefühle zu entäußern und damit
kennen zu lernen.
Die Stimmenskulptur kann uns erste Hinweise darauf geben, wie einzelne Personen eine
andere Haltung innerhalb der Szene einnehmen könnten. Weitere Anregungen erhalten
wir dann, wenn wir eine Position im Bild durch eine andere Person aus der Beobachtergruppe übernehmen und spielen lassen. Nach einem solchen Rollentausch führen wir
erneut Einfühlungsgespräche. Wir lassen dann die Szene auch mal kurz anspielen und
treten aus dem Standbild im engeren Sinn heraus. Der Film läuft jetzt weiter, wir halten
ihn wieder an und beginnen erneut und immer wieder in anderen Besetzungen. Für viele
Konfliktsituationen gibt es keine einfachen Lösungen oder ganz andere Verhaltensweisen. Oftmals zeigen jedoch kleine Haltungsänderungen einzelner Personen, wie man
dennoch anders mit der Situation umgehen könnte. An zwei Beispielen möchte ich das
Arbeiten mit der Methode erläutern.
206
F AC H TAG U N G E N
Erstes Beispiel
Eine Studentin war als Erziehungsbeistand für einen Jungen tätig. Den Auftrag dazu
hatte ihr das Jugendamt erteilt, das auf diese Weise eine ambulante erzieherische
Hilfe auf den Weg bringen kann, um einem Kind oder einem Jugendlichen bei der
Bewältigung von Entwicklungsproblemen zu unterstützen (§ 30 KJHG). Die Studentin machte einen Hausbesuch und erlebte einen Streit zwischen der Mutter und dem
Sohn, den sie betreute. Der Sohn wurde wütend und wollte die Mutter ins Gesicht
boxen. Die Studentin stand daneben. Das war die Szene. Wir leuchteten mit unserem Verfahren die verschiedenen Personen und ihre Positionen aus: die Hilflosigkeit
der Studentin, den Zorn des Jugendlichen und die möglichen Hintergründe der Situation bei Mutter und Sohn. Es schien zunächst überhaupt keine Idee in Sicht, wie
man sich denn in so einer Situation verhalten könne. Doch durch die verschiedenen
Einfühlungsversuche und Perspektivenwechsel und auch durch körperliche Haltungen, die die Beobachter zu der Szene einnahmen, entwickelte sich eine Vorstellung,
wie man mit Körpersprache auf die Situation reagieren kann. Eine Voraussetzung für
einen selbstbewussteren Umgang mit der Szene war, die eigene Hilflosigkeit zulassen zu können und als Teil der Situation zu begreifen. Die Studentin hatte ihre
Untätigkeit in der Situation ihrer eigenen Unfähigkeit zugeschrieben. Für sie war es
allein schon wichtig, die Ratlosigkeit auch bei den anderen im Seminar zu erleben,
dann aber aus dieser Ratlosigkeit heraus doch noch eine akzeptable Haltung zu der
Konfliktsituation entwickeln zu können.
Zweites Beispiel
Diese Szene spielte sich am letzten Tag einer 14tägigen Jugendfreizeit auf einem
Hausboot in Holland ab. An Bord befanden sich noch drei Jugendliche und ein
Sozialarbeiter. Die Küche war noch nicht geputzt, das war die Aufgabe von Tim.
Der Sozialarbeiter geriet in einen Streit mit ihm. Unterdessen verließen die anderen beiden Jugendlichen das Schiff, denn der Reisebus war eingetroffen.
Letztendlich beförderte der Sozialarbeiter den Jugendlichen mit „sanfter Gewalt“,
wie er das nannte, in die Küche und zwang ihn zum Putzen. Beim Vorstellen der
Situation einige Monate später im Seminar war der Sozialarbeiter immer noch
sehr bewegt und hochgradig unzufrieden mit dem ganzen Verlauf.
Die Einfühlungsgespräche ergaben Einiges über die Vorschichte zu diesem Streit.
Tim empfand schon die ganzen Tage bei der Freizeit als Stress. Der Sozialarbeiter
G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P Ä D A G O G I S C H E S L E I T B I L D
207
kam mit allen Jugendlichen gut aus, nur Tim habe immer eine Sonderrolle gehabt.
Welchen Hintergrund die Empfindungen und Verhaltensweisen von Tim wohl gehabt
haben, können wir nicht wissen. Aber an Hand der verschiedenen Ideen, die einige
Spieler und Beobachter des Standbildes einbrachten, konnte der Sozialarbeiter Erklärungen finden, die ihm passend erschienen. Tim hat offenbar nach dem Motto
agiert „besser unangenehm auffallen als gar nicht.“ Er war anscheinend „in sich
gefangen“, hätte sich gerne anders verhalten, konnte es aber nicht. Dementsprechend tauchten alternative Verhaltensideen für die Zeit vor der zugespitzten Situation auf. Beispielsweise hätte man mit ihm mal einen Tag allein verbringen können und auf diese Weise sich ihm persönlich widmen und ihn auf seine Weise
anerkennen können. Diese und andere Ideen spielten wir ausgiebig durch.
Am Ende ging der Sozialarbeiter aus der Reflexionsarbeit mit dem Gefühl heraus,
zukünftig solche Konstellationen eher erkennen und anders damit umgehen zu
können. Er kam in einen Kontakt zu anderen Umgangsweisen nicht über das reine
Nachdenken und Reden, sondern innerhalb eines nachgestellten Raumes und mit
lebendigen Personen. Hier in dem Raum und an den Personen konnte er die anderen Haltungen spüren und erleben.
Das Faszinierende am „Szenischen Spiel“ als einem Verfahren zur Reflexion ist für mich,
wie man mit inneren Haltungen arbeiten kann, ohne es auf eine therapeutische Weise zu
tun. Das Verfahren ist klar strukturiert und bietet einen Rahmen. Innerhalb dieses Rahmens – beispielsweise bei den vom Spielleiter vorsichtig zu führenden Einfühlungsgesprächen – kann jeder von sich in der Position erzählen. Dabei tauchen unweigerlich
eigene Dispositionen und Erinnerungen zu einer Situation auf, die man in ähnlicher Weise
vielleicht schon einmal schmerzlich erlebt hat. Hier wird niemand gedrängt, dieses alles
zu erzählen. Darum geht es ja nicht. Wir leuchten Situationen aus und das mit Hilfe der
Gefühle von jedem von uns. Das, was uns dabei zu uns selbst, zu unserer Lebensgeschichte
und zu unserem Umgang mit Konflikten einfällt, bleibt bei uns selbst und wird nicht
entäußert. Dazu ist die Position hilfreich, die man spielt, und hinter der man, soweit wie
nötig, versteckt bleibt. Natürlich muss der Spielleiter auch spüren, wenn sich ein Spieler
zu weit einlässt, sei es weil er das Seminar als Therapie missversteht, oder sei es weil er
sich von anderen aus der Gruppe zu einer Entblößung gedrängt fühlt. Das Verfahren bietet
eine Fülle von Übungen, die der Spielleiter entsprechend einsetzen kann, damit sich die
Arbeit innerhalb eines schützenden und strukturierenden Rahmens bewegt.
208
F A C H TA G U N G E N
Andererseits, und da komme ich auf meine Faszination zurück, fühlen sich die meisten
Teilnehmenden bei diesen Seminaren von den nachgestellten und durchgearbeiteten
Situationen deshalb so berührt, weil sie emotionale Anteile haben entdecken und erleben können, die mit ihren Lebensthemen zu tun haben, ihnen aber doch in Teilen
verborgen waren. Das aktuelle Beziehungsarrangement wird in unseren Seminaren nachgestellt und im wahrsten Sinn des Wortes szenisch und das heißt auch bildlich und
körperlich nach-empfunden (Vgl. Gerspach 1998: 148). In diesem Prozess tauchen frühere Erfahrungen und Gefühle wieder auf, sie werden reaktiviert.
Vielfach waren Teilnehmende bei den Seminaren davon überrascht und teilweise erschrocken, wie sehr ihnen Macht- und Gewaltausübung in einer nachgespielten Situation Spass bereit habe. In der Aufbereitung solcher Erfahrungen bleiben wir nicht bei
dem Erschrecken stehen, können vielmehr herausarbeiten, inwiefern solche Anteile auch
zu uns gehören, obwohl wir sie oft verleugnen. Das erleichtert möglicherweise ein Einfühlen in einen Täter bei einer vergleichbaren Konflikt- und Gewaltsituationen. Dieses
Einfühlen erweitert die eigenen Handlungsmöglichkeiten.
5. Abschließende Gedanken
In der Begründung zu dem Gesetzentwurf zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung listet
die Bundesregierung eine Reihe von flankierenden Maßnahmen auf, so auch Beratungsund Bildungs-Leistungen, die der allgemeinen Förderung der Erziehung in der Familie
dienen. In der Begründung heißt es dazu: „Mit solchen Angeboten können den Eltern
auch Wege aufgezeigt werden, wie Konfliktsituationen in der Familie ohne Gewalt gelöst
werden können (Deutscher Bundestag 1999: 6). Ich hoffe meine Ausführungen haben
deutlich gemacht, wie wichtig beim Suchen nach anderen Lösungen die Einbeziehung
der jeweiligen Persönlichkeiten ist. Insofern wird es in vielen Fällen wenig nutzen,
wenn andere Wege „aufgezeigt“ werden, man wird sie unter starker Beteiligung der
betroffenen Personen und unter Einbeziehung ihrer inneren Haltungen entwickeln müssen - statt aufzeigen also gemeinsam entwickeln.
Mit der vorgestellten Verfahrensweise ist ein Lernen auf mehreren Ebenen möglich. Man
erweitert die eigene Deutungskompetenz, indem die Standbilder beobachtet und reflektiert werden. Die Rolle der Beobachter beim Szenischen Spiel ist nicht nur wichtig,
damit die Spielerinnen und Spieler eine Rückmeldung durch die Außenperspektive be-
G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P Ä D A G O G I S C H E S L E I T B I L D
209
kommen, sondern auch für die Beobachter selbst, die ihre Wahrnehmung schärfen und
ihre eigenen Deutungen mit denen der anderen vergleichen. Beim Deuten von Konfliktsituationen beziehen wir soziale und gesellschaftliche Hintergründe selbstverständlich
mit ein, sodass hier am konkreten Fall gleichzeitig Persönlichkeitsbildung und politische Bildung betrieben wird. Hier kommen, wie es auch Lipinski für die Bildungsarbeit
zu diesem Thema gefordert hat, „individueller und struktureller Kontext“ zusammen
(1999: 11).
Wer in einem Standbild mitspielt und sich auf die Einfühlungsgespräche, auf die Stimmenskulptur und auf den Rollentausch einlässt, erweitert seine Fähigkeiten zur Empathie
und zur Perspektivenübernahme. Die Perspektive des Gegenübers einnehmen zu können,
ermöglicht Fremdverstehen.
Wir können mit dem vorgestellten Verfahren an tiefere Schichten unserer Erfahrungen
herankommen und damit in Teilen neu strukturieren, weil wir die verschiedenen Sinne
im Körper ansprechen. Gefühle und Haltungen, die ausgeblendet werden, weil sie Angst
machen oder mit Verbotenem zu tun haben, können hier über andere Personen mit
denen ihn eigenen Strukturen auf eine neue Weise gesehen werden. Einen anderen
Umgang mit Konflikten lernt man nicht allein dadurch, dass man einen anderen Umgang
sieht. Aber das Sehen und Erleben gibt Möglichkeiten, die, sofern man sich wirklich
berührt fühlt, auch jenseits des Seminars weiterwirken und auf die eine oder andere
Weise aufgegriffen werden können.
Anmerkungen
1
Auch bei Deegener (2000) steht fast nur die Kritik im Zentrum. Er greift die Konflikte und Aggressionen zwar auf und warnt davor, sie durch Verbote zu unterdrücken, beschäftigt sich jedoch
wenig mit der Frage, wie denn Erziehung Grenzen setzen und den Aufbau von psychischen Strukturen so unterstützen kann, dass sich sozialverträgliche Formen der Konfliktaustragung entwickeln.
2
Vgl. Preuschoff (1999) zit. bei Deegener (2000: 31). Das Buch von Raser (1999) trägt zwar den
Titel „Erziehung ist Beziehung“, auf Buber wird jedoch nicht verwiesen.
3
Die deterministische Sichtweise bedeutet, dass die frühen Kindheitserfahrungen das Leben im
wesentlichen bestimmen.
210
F A C H TA G U N G E N
Literatur
Ahrbeck, Bernd 1997: Konflikt und Vermeidung. Psychoanalytische Überlegungen zu aktuellen Erziehungsfragen, Neuwied.
Arnold, Rolf u.a. 2000: Konstruktivistische Impulse für Lehren und Lernen. In: ausserschulische
bildung, Heft 4/99, S. 372-376.
Benjamin, Jessica 1993: Vater und Tochter: Differentielle Identifizierung. Ein Beitrag zur Heterodoxie
der Geschlechter. In: Dies.: Phantasie und Geschlecht. Psychoanalytische Studien über Idealisierung, Anerkennung und Differenz, Basel und Frankfurt, S. 87-114.
Deutscher Bundestag 1999: Drucksache 14/1247. Gesetzentwurf der Fraktionen SPD und Bündnis 90/
DIE GRÜNEN. Entwurf eines Gesetzes zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung, S. 1-8.
Biesenbaum, Hannegret 2000: Es gibt keine Wahrnehmung ohne Gefühl. Warum Neurowissenschaft
und Pädagogik zusammenarbeiten sollten, Frankfurter Rundschau vom 24. August.
Butterwege, Christoph 2000: Sozialstaat, Globalisierung und Herrschaft des Marktes. In: Sozialextra
7/8 2000, S. 38-42.
Deegener, Günther 2000: Die Würde des Kindes. Plädoyer für eine Erziehung ohne Gewalt, Weinheim
und Basel.
Devereux, Georges 1984: Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften, Frankfurt (zuerst
erschienen: 1967 in Paris).
Dornes, Marin 1993: Der kompetente Säugling. Die präverbale Entwicklung des Menschen, Frankfurt.
Erdheim, Mario 1988: Adoleszenz zwischen Familie und Kultur. In: Ders.: Die Psychoanalyse und das
Unbewußte in der Kultur, Frankfurt, S. 191-214.
Gerspach, Manfred 1998: Wohin mit den Störern? Zur Sozialpädagogik der Verhaltensauffälligen, Köln.
Grüneisen, Veronika 1998: Lernen durch Erfahrung. In: Eckes-Lapp, Rosemarie/Körner, Jürgen (Hrsg.):
Psychoanalyse im sozialen Feld. Prävention – Supervision, Gießen, S. 233-250.
Lipinski, Heike 1999: Gewaltfreie Erziehung – Perspektiven für die politische Bildung. Vortrag bei der
Fachtagung „Gewaltfreie Erziehung“ am 27.10. in Bonn. Dokumentation S. 5-11.
Miller, Alice 1983: Am Anfang war Erziehung, Frankfurt (zuerst: 1980).
Negt, Oskar 2000: Die Aufdinglichkeit der Sinne. Vom machtgeschützten Verlust der gesellschaftlichen Sehkraft, in Frankfurter Rundschau vom 28. Juni.
Olivier, Christiane 2000: Das innere Monster zähmen. Warum unsere Kinder Autorität brauchen, Freiburg (zuerst erschienen in Frankreich 1998).
Pollak, Guido 2000: Erziehungswissenschaftliche Bemerkungen zu einigen Problemen aktueller bildungspolitischer Diskussionen. In: ausserschulische bildung, Heft 1/2000, S. 9-15.
Preuschoff, G. 1999: Wachsen und wachsen lassen. Anregungen für das Leben mit Kindern, Köln (zit.
nach Deegener).
G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P Ä D A G O G I S C H E S L E I T B I L D
211
Raser, Jamie 1999: Erziehung ist Beziehung. Sechs einfache Schritte, Erziehungsprobleme mit Jugendlichen zu lösen. Mit einem Vorwort von Klaus Hurrelmann, Weinheim und Basel (zuerst: 1995
in Houstan).
Rogge, Jan-Uwe 1993: Kinder brauchen Grenzen, Reinbeck.
Rogge, Jan-Uwe 1995: Eltern setzen Grenzen, Reinbeck.
Scheller, Ingo 1998: Szenisches Spiel. Handbuch für die pädagogische Praxis, Berlin.
Schröder, Achim/ Leonhardt, Ulrike 1998: Jugendkulturen und Adoleszenz. Verstehende Zugänge zu
Jugendlichen in ihren Szenen, Neuwied.
212
4.3
F AC H TAG U N G E N
Gewaltfreie Erziehung
in der Tagespflege
8./9. Mai 2001 in Neustadt an der Weinstraße
4.3.1 Dorothea Frey
Zusammenfassung
Während der Tagung gab es einen breiten Konsens darüber, dass dieses Thema der gewaltfreien Erziehung eine hohen Stellenwert einnehmen muss und besonders für die Tagespflege immer wieder eine Form für Erfahrungsaustausch und Möglichkeiten der Reflexion
des eigenen Erziehungsverhaltens erforderlich sind zur Stärkung der Erziehungskompetenz.
Das gemeinsame Fragen und Nachsinnen, was ist Gewalt, wo beginnt für mich Gewalt,
das offene Benennen von Gewalttätigkeiten in der Familie hat einen großen Beratungsund Stärkungsbedarf für die in der Tagespflege Tätigen gezeigt. Viel öfter müssten
Fortbildungsmöglichkeiten mit solchen Themenstellungen angeboten werden. Außerdem wünschen sich die Teilnehmerinnen berufsbegleitende Supervision.
Der Bundesverband für Kinderbetreuung in Tagespflege e.V. hat den Impuls aus dieser
Fachtagung aufgenommen und hat zugesagt, den Wortlaut des neu gefassten § 1631
Abs. 2 BGB in den bundesweiten Mustervertrag für Betreuungsverhältnisse aufzunehmen: „Kinder haben ein Recht auf eine gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafung,
seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“
Ausgehend von der Tatsache, dass die überwiegende Zahl der gewalttätigen Übergriffe
in der Familie und im sozialen Nahfeld von Männern ausgehen, war es ganz besonders
wichtig für ein Tätigkeitsfeld, in dem fast ausschließlich Frauen tätig sind, die geschlechtsspezifische Sichtweise von heranwachsenden Jungen eindrucksvoll dargestellt zu sehen, um deren Bedürfnisse und Ängste besser verstehen zu können.
In einer Arbeitsgruppe wurde der Frage nachgegangen, ob und wann Mitmenschen eingreifen sollten, wenn sie Zeuge oder Zeugin von Gewalt an Kindern werden. Die Teilneh-
G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G
IN DER
TAGESPFLEGE
213
merinnen konnten in ihrer Präsentation ihrer Arbeitsgruppe allen eindeutig mitteilen,
dass es vom Gesetz her richtig ist, wenn „Gefahr in Verzug“ besteht, das Kind einem Arzt
vorzustellen. Dass es wichtig ist, in solchen Notsituationen von Kindern, auf Hilfe in
Beratungsstellen aufmerksam zu machen und alle Beteiligten ohne Bewertungen zu
unterstützen.
Die Fachtagung hatte weiter die Intension, den Blick für die gesellschaftlichen Forderungen für das Gelingen von gewaltfreier, respektvoller Erziehung zu schärfen mit dem
Augenmerk auf die Stärkung der Eltern bzw. Tageseltern. Hier wurde es als ein gesamtgesellschaftliches Problem dargestellt, dass die Väter auch bei großem Interesse an der
Erziehung ihrer Kinder zu wenig Spielraum von Seiten der Arbeitgeber eingeräumt bekommen, um am Familienleben aktiver teilnehmen zu können. Es zeigten sich jedoch
auch kleine positive Anzeichen in der Weise, dass immer öfter auch Väter in Teilzeitarbeitsverhältnissen beschäftigt sein könnten und sich bei der Betreuung der Kinder mit ihren
Partnerinnen, die ebenfalls in Teilzeit weiter arbeiten, abwechseln können. Diese neuen
Familienorganisationen sind eine positive Möglichkeit, mit den grundlegenden familiären Veränderungen der vergangenen Jahre umgehen zu können.
In dem Maße, wie von den Familien Mobilität und Flexibilität gefordert sind, müssten auch
die Unternehmen bereit sein, auf junge Familien durch Schaffung von flexiblen Arbeitszeitmodellen einzugehen. Die neue Kampagne des Bundesfamilienministeriums, die Väter
ermutigt, ebenfalls in „Elternzeit“ zu gehen, wird als Schritt in die richtige Richtung
empfunden, da zur Zeit erst 2 % der Männer die „Elternzeit“ in Anspruch nehmen.
Tatsache ist, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf nach der Ankunft des ersten
Kindes stark sinkt. Wegen fehlender qualifizierter Betreuungsmöglichkeiten für die Kinder unter drei Jahren kommt es aus ökonomischen Überlegungen meist zur traditionellen Arbeitsteilung in den Familien. Dies belastetet die wirtschaftliche Situation der
jungen Eltern erheblich. Aus diesen und vielen weiteren Gründen wachsen die Scheidungsraten und rutschen Mütter mit kleinen Kindern vielfach in die Sozialhilfe. Insgesamt
sind Frauen immer öfter gezwungen, ihr Leben selbst zu finanzieren, dies sollte in
kommunalpolitische Entscheidungen mit einbezogen werden. In dieser Situation können Tagesmütter und -väter das fehlende Puzzleteil im Gesamtbild von Vereinbarkeit,
Familie und Beruf sein. Diese können besonders den Alleinerziehenden helfen, wieder
berufstätig zu sein, von der Sozialhilfe wegzukommen und damit die Kommunen zu
entlasten.
214
F AC H TAG U N G E N
Abschließend wurde auf die Notwendigkeit hingewiesen, dass die Tätigkeit der Tagesmütter und -väter ein geschütztes, qualifiziertes Berufsbild mit Aus- und Fortbildungsmöglichkeiten sein muss. Damit sie diese verantwortungsvolle Aufgabe mit messbarer
Qualität auch professionell erfüllen können. Dies würde auch der Notwendigkeit einer
respektvollen, partnerschaftlichen, gewaltfreien Erziehung Rechnung tragen und dieses
Bemühen zu einem breiten gesellschaftlichen Austausch über Werte in der Erziehung in
die öffentliche Diskussion bringen. Dies würde ein höheres gesellschaftliches Ansehen
der Kindererziehung allgemein mit sich bringen und somit die Chancen auf partnerschaftliche, gewaltfreie Erziehung erhöhen. Werte wie: Kinderfreundlichkeit, Toleranz, Lebenslust, Freundlichkeit und allgemeines „Fair play“ zwischen den Kulturen, können ein
familienfreundlicheres Klima in Deutschland schaffen. Frei nach dem Motto: „Familien
sind unsere Zukunft“ – sie sollten ein Höchstmaß an Wertschätzung und Unterstützung
erfahren.
G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G
IN DER
TAGESPFLEGE
215
4.3.2 Kai-D. Bussmann
Gesetzliches Gewaltverbot nach
§ 1631 Abs. 2 BGB in der Erziehung
und Betreuung im familiären
Betreuungssystem
Internationaler Vergleich zum gesetzlichen
Gewaltverbot
1. Kurze Geschichte der Prügelstrafe
1.1 Historisches Material
Soziologen lehren uns, dass das generelle Gewalttabu noch nie in der Menschheitsgeschichte so hoch im Kurs stand und allgemein akzeptiert wurde wie heute. Diese
Entwicklung lässt sich auch am Beispiel der Prügelstrafen und körperlichen Strafen dokumentieren. Die Erziehung im letzten bzw. nunmehr vorletzten Jahrhundert - ich meine
das 19. Jahrhundert – lässt sich noch sehr treffend als „Prügelpädagogik“ bezeichnen.
Das Ausmaß körperlicher Gewalt im Dienste der Erziehung erreichte ein für uns heute
kaum begreifliches Ausmaß. Es existierte eine Kultur der Züchtigung im Dienste einer
ordentlichen und sittsamen Erziehung. Eine Züchtigungskultur, die sicherlich auch zu
damaliger Zeit nicht unwidersprochen geblieben ist. Vielfach wurde hier auf Rousseau
als Wegbereiter einer humanen Pädagogik in der Mitte des 18. Jahrhunderts Bezug
genommen, die auf Zwangsmittel wie Körperstrafen verzichten will. Teilweise konnte
man für die Idee der gewaltfreien Erziehung bereits auf Klassiker der hellenistischen
Zeit verweisen, wie Plato oder Plutarch.
Dennoch bleib die Züchtigung das dominante Mittel in der Erziehung. Dies kann man für
heutige Schulen überhaupt nicht und für Familien sicherlich nicht mehr in gleicher
Weise sagen. Radbill verweist für England und Nordamerika darauf, dass alle bildlichen
Darstellungen Pädagogen mit der Birkenrute in der Hand zeigten. Die Aufklärung setzte
jedoch der hemmungslosen Ausübung von Gewalt im Dienste der Zurichtung von Men-
216
F AC H TAG U N G E N
schen zunehmend Limitationen entgegen, weil sie alles menschliche Handeln dem Primat der Vernunft unterwarf. Im Zuge dieser gesamtgesellschaftlichen Entwicklung gerieten professionelle Disziplinen zwangsläufig zu den Apologeten vernünftiger Erziehungsmethoden, vor allem die Pädagogik und später die Psychologie. Eng damit zusammenhängend machte der Gedanke der Besserung von Menschen gleichzeitig in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen Karriere. Die Sanktionsmethoden wurden subtiler und
richteten sich immer weniger auf den Körper als auf eine psychische Beeinflussung, wie
man spätestens seit den Arbeiten von Michel Foucault zur Geburt des Gefängnisses
weiß.
Seitenblick:
Am Ende des 19. Jahrhunderts löste sich immerhin das männliche Patriarchat von der
legalen Züchtigung der eigenen Ehefrau. Das BGB sah ein solches Züchtigungsrecht nur
noch für die eigenen Kinder vor! Wir befinden uns somit – historisch gesehen – in der
letzten Etappe einer vollständigen Durchsetzung des Gewalttabus. Eine Etappe, in der
die rechtliche Subjektstellung nicht nur für die Frau, sondern nunmehr auch für das
Kind entdeckt und entwickelt wird.
1.2 Gegenwärtige Studien
Eindeutige Hinweise auf diesen sozialen Wertewandel ergaben viele internationale Studien. In unserer Bielefelder bundesweit durchgeführten Untersuchung konnten wir
ebenfalls eine signifikante intergenerationelle Abnahme der Häufigkeit bei allen
Sanktionsarten feststellen.
Tabelle 1 „Intergenerationeller Wandel von Sanktionsmustern“ offenbart eine deutliche
Wanderungsbewegung von einer Generation zur folgenden und zwar insbesondere von
schweren Gewaltformen zu leichten. Die Gruppe der „gewaltbelasteten Eltern“ ist als
einzige etwa um die Hälfte geschrumpft. Alle anderen Gruppen sind dagegen größer
geworden. Den größten Zulauf hatte die Gruppe der „sanktionsfreien“ Eltern, gefolgt
von der „konventionellen“ Sanktionsgruppe. Bezieht man andere Studien mit in die
Analyse ein, so kann es als gesichert gelten, dass zumindest im Bereich der schweren
Körperstrafen ein merklicher Rückgang erfolgt ist. Straus und Gelles berichten für den
relativ kurzen Zeitraum von 1975 bis 1985 im Bereich schwerer Gewalt (wie „Tracht
Prügel“) über einen Rückgang von 47 %.
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IN DER
TAGESPFLEGE
217
Diese Entwicklung ist sehr erfreulich, aber es gibt keinen Grund für eine Entwarnung.
Vielmehr hat sich die Gewalt in dem Gewand der kleinen alltäglichen Gewalt maskiert.
Dies ist die neue Gefahr, der es zu begegnen gilt.
1.2.1 Maskierung der Gewalt in kleinen und anderen „Dosierungen“
Die Dominanz der kleinen Gewaltformen belegen sehr anschaulich die Ergebnisse aus
unserer repräsentativen Befragung von 2.400 Jugendlichen und 3.000 Erwachsenen. Nach
den Selbstreports der Jugendlichen stellt die Ohrfeige eine der am stärksten verbreiteten
Sanktionen dar. Diese leichte Form der Züchtigung bildet sogar die häufigste Form der
häuslichen Erziehungsstrafen (81,2 %). Der Vergleich mit anderen Strafen wie Fernsehverbot (66,7 %), Ausgehverbot (64,2 %), Niederbrüllen (52 %), Kürzung des Taschengeldes (34,5 %) und Schweigen (36,9 %) zeigt die herausgehobene Bedeutung der leichten
Züchtigung im familialen Alltag. Aber auch schwere Formen wie deftige Ohrfeigen haben
nach den Selbstreports der Jugendlichen immerhin 43,5 % und eine Tracht Prügel 30,6 %
erfahren. Die Angaben von Eltern bewegen sich in ähnlichen Größenordnungen.
Versucht man eine Gruppenbildung, so zeigt sich, etwa 20 % der Familien mit Kindern
sind zu den gewaltbelasteten zu zählen. Ferner ergaben die Befragungen, 13,5 % der
Befragten haben schon einmal den Verdacht einer Misshandlung in einer anderen Familie gehabt. Berücksichtigt man die nur sehr eingeschränkten Beobachtungsmöglichkeiten
der Erziehung in anderen Familien, so zeigen diese Größenordnungen, dass sich hinter
unserer Gruppe der „gewaltbelasteten Familien“ ein beträchtliches Maß an Gewalt verbergen kann.
Nunmehr gilt der Blick den psychischen Gewaltformen und sog. Verbotssanktionen
(Fernsehverbot). Der Ergebnisse der Jugend- und Erwachsenenbefragung zeigen eindrucksvoll, dass in der gewaltbelasteten Familiengruppe nicht nur schwere Züchtigun-
F AC H TAG U N G E N
218
gen auftreten, sondern in dem gesamten abgefragten Sanktionsspektrum ein deutlich
höheres Sanktionsniveau im Vergleich zu den drei anderen Gruppen erreicht wird, wie
am Beispiel einer Form des Liebensentzugs untersucht worden ist.
Tabelle 2
Gewalt in der Erziehung ist infolgedessen eher als Ausdruck eines repressiven und
punitiven Erziehungsstils anzusehen. Wer viel schlägt sanktioniert auch sonst viel. Die
sogenannte Ausweichthese, Katharsisthese, ließ sich in anderen Untersuchungen nicht
bestätigen. Studien belegen insgesamt, dass bereits seit Generationen der Einsatz von
Gewalt in der Familie mit psychischen und anderen Sanktionen hochgradig korreliert.
Gewalt ist somit nicht das primäre Problem, sondern sie ist die Spitze eines Eisbergs
eines generellen repressiven und hilflosen Erziehungsstils in vielen Familien.
Nochmals kleiner Seitenblick:
Dieses Ergebnis lässt somit hoffen; eine Senkung des Gewaltniveaus dürfte sich auf
andere, nicht körperliche, Sanktionsformen ebenfalls sehr positiv auswirken. Die
familiale Gewalt gegen Kindern hat sich somit in ihrer historischen Entwicklung
maskiert – sie ist nicht verschwunden, sondern sie hat sich verkrochen.
G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G
IN DER
TAGESPFLEGE
219
1.2.2 Neben der Maskierung der Gewalt erfolgt bei den Eltern eine gefährliche
Immunisierung gegen Kritik
Die pädagogische Aufklärung ist deshalb an ihre Grenzen geraten. So meine These. Analysiert man die Einstellungen zu pädagogischen Begründungen, so wird Gewalt in der Erziehung weniger gutgeheißen als abgelehnt. Insbesondere befürworten die Befragten überwiegend diskursive Erziehungsmuster. So waren 83,3 % der Eltern der Meinung, „Eltern
sollten mehr mit ihren Kindern reden, als gleich eine lockere Hand zu haben“. Dagegen
waren ur 37,9 % der Meinung, dass eine Ohrfeige besser sei, als mit dem Kind nicht mehr
zu sprechen, und nur etwa mehr als ein Viertel (28 %) stimmten der Aussage zu, „manchmal
sind ein paar Ohrfeigen der beste oder schnellste Weg, Kindern klare Grenzen zu setzen“.
Diese Ergebnisse sprechen eindeutig dafür, dass Eltern weniger aus einer erzieherischen
Überzeugung ihre Kinder züchtigen, als vielmehr aufgrund erlernter Verhaltensmuster.
Hierfür spricht auch, wenn es zu Handgreiflichkeiten gekommen ist, dass diese stärker auf
emotionale und affektive Gründe zurückgeführt werden als auf erzieherische Notwendigkeiten. So stimmte der Begründung „wenn Eltern die Hand ausrutscht, geschieht es oft
aus Hilflosigkeit“, immerhin eine deutliche Mehrheit (60,2 %) der Eltern zu.
Familiale Gewalt gegen Kinder erscheint heute mehr denn je den Beteiligten als Unfall,
als Ausdruck eigener Schwäche und Überforderung. Alle – und zwar auch die gewalt-
Tabelle 3
220
F A C H TA G U N G E N
belasteten Familien – haben die Suppe des Anti-Gewalt-Diskurses ausgelöffelt und ziehen sich auf ein kaum noch rational angreifbares Rechtfertigungsniveau zurück. Da
bleibt die Gewalt vermutlich noch viele Jahrzehnte nahezu unverändert hocken, wenn
wir nichts tun. Aber was kann man tun?
Die Problematik verschärft sich noch durch die spezifischen Ursachen von Gewalt gegen
Kinder. Insbesondere die Gruppe der gewaltbelasteten Eltern erweist sich in dieser Hinsicht als Herausforderung. Es sind viele Hürden zu nehmen wie erzieherische Rechtfertigungsmuster, den „Kreislauf der Gewalt“ sowie familiale Normen und die allgemein verbreitete Vorstellung zur Privatheit der Familie.
2. Die Schwedische Strategie
Schweden ist das erste Land, in dem ein absolutes Verbot elterlicher Körperstrafen in Kraft
getreten ist. 1979 wurde in das dortige Elternrecht (Kapitel 6 § 2 Abs. 2) eine Bestimmung
eingefügt, die Eltern eine körperliche Bestrafung oder sonstige kränkende Behandlung
ihrer Kinder untersagt. Mittlerweile sind andere skandinavische Länder sowie Österreich
1989 dem schwedischen Beispiel gefolgt. Erfahrungswissen ist bislang nur für Schweden
vorhanden, so dass ich mich auf die schwedischen Erfahrungen beschränke.
Vor der Reform befanden sich die Schweden wahrscheinlich auf dem familialen Gewaltniveau, auf dem wir heute stehen. Wie konnte ihnen ein Zurückdrängen der Gewalt
gegen Kinder gelingen? Das Fehlen eines expliziten rechtlichen Verbots wurde aufgrund
der vorhergehenden halbherzigen rechtlichen Regelungen alsbald als Problem angese-
G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G
IN DER
TAGESPFLEGE
221
hen. Mit dem Ziel, Eltern eine eindeutige Orientierung über die rechtlichen Grenzen
erzieherischer Maßnahmen an die Hand zu geben, wurde deshalb 1979 ein explizites
gesetzliches Verbot von Körperstrafen verabschiedet: „Das Kind darf weder einer körperlichen Bestrafung noch einer sonstigen kränkenden Behandlung ausgesetzt werden“.
Es handelt sich somit um eine rechtliche Regelung, die den Interpretationsraum der
Rechtsprinzipien stark einschränkt und ihnen eine eindeutige rechtliche Unterscheidung zwischen rechtmäßigen und rechtswidrigen Erziehungsmaßnahmen an die Hand
gibt. Mit dieser Rechtsreform wurden interessanterweise keine punitiven Intentionen
verfolgt, sondern ausschließlich bewusstseinsbildende. Eine strafrechtliche Verfolgung
war nur in Fällen von Misshandlungen vorgesehen. Diese Zurückhaltung gegenüber
strafrechtlichen Interventionen wurde vor allem damit begründet, dass innerhalb der
Elternschaft keine Märtyrer durch eine strafrechtliche Verfolgung geschaffen werden
sollten.
Man kann bereits an dieser Begründung erkennen, dass hier eine Rechtsnorm nur behutsam gegen verbreitete soziale Normen in der Bevölkerung durchgesetzt werden sollte.
Hierzu musste daher aus rechtssoziologischer Sicht sichergestellt sein, dass die neu eingeführte rechtliche Unterscheidung in die gesellschaftlichen Kommunikationskreisläufe gelangte. Die schwedische Regierung löste dieses Problem durch eine in der schwedischen
Geschichte beispiellose, großangelegte Informationskampagne. So wurden Broschüren in
alle Haushalte verschickt und zusätzlich wurde für zwei Monate auf jeder Milchtüte das
rechtliche Verbot abgedruckt. Auf diese Weise erreichte man jede schwedische Familie und
erzielte eine außerordentlich hohe Rechtskenntnis. In einer 1981 durchgeführten Studie
waren 99 % der Schweden über das Züchtigungsverbot informiert.
Darüber hinaus wurde dieses Verbot in verschiedenen Fortbildungskursen für junge und
angehende Eltern, die fast alle Eltern besuchten, fester Bestandteil im Lehrprogramm.
Erfahrungsberichte können außerdem belegen, dass schwedische Kinder nicht nur
ebenfalls über eine sehr hohe Rechtskenntnis verfügen, sondern ihre Eltern sofort an
dieses rechtliche Züchtigungsverbot erinnern, wenn es notwendig sein sollte. Die Rechtsreform wurde innerhalb der schwedischen Gesellschaft nicht nur selbstverständlich, sondern sie wird auch im familialen Alltag gebraucht. Sie zirkuliert in den relevanten gesellschaftlichen Diskursen. Aus kommunikationstheoretischer Sicht scheint also in relativ kurzer Zeit ein optimaler Zustand erreicht worden zu sein.
222
F AC H TAG U N G E N
Die Erfolge des expliziten schwedischen Verbots – trotz seiner bewussten Symbolik –
können sich gleichwohl sehen lassen. 1980, ein Jahr nach dem Verbot von Körperstrafen, fand ein Vergleich mit der Situation in den U.S.A. statt. Er ergab einen deutlich
geringeren Gebrauch von Körperstrafen mit etwa 50 % (51,3 %) in Schweden gegenüber
knapp 80 % (79,2 %) in den U.S.A. Am stärksten ausgeprägt waren die Unterschiede im
Bereich leichter Züchtigungsformen und geringer bei schweren Körperstrafen.
Anmerkung: Wir liegen heute etwa auf dem Niveau der US-Amerikaner, wenn wir auf die
Häufigkeit von Ohrfeigen abstellen (ca. 80 %, siehe oben)!
Immerhin kann ergänzend auf die Statistik eines Stockholmer Krankenhauses verwiesen
werden, wonach die Zahl der Fälle von Kindesmisshandlungen 1989 auf ein Sechstel des
Niveaus von 1970 gesunken ist. Für den Zeitraum sechs Jahre nach der Einführung des
Körperstrafenverbotes verweisen Gelles und Edfeldt auf Berichte von klinischen Pädiatern, die über keine Misshandlungsfälle in ihrer Praxis berichten können. Des weiteren
wurde ein vorübergehender Anstieg der Meldungen über Kindesmisshandlungen bei den
Sozialämtgern festgestellt, der auf die gestiegene Sensibilität in der Bevölkerung zurückgeführt werden kann. Ebenso wurde nur Anfang der achtziger Jahre von den schwedischen Sozialämtern häufiger eine Strafanzeige gestellt; ein Rückgang erfolgte aufgrund
der später einsetzenden stärkeren Familienorientierung in der Sozialarbeit.
Außerdem, vergleicht man die schwedische Lage mit unserer bundesdeutschen Situation,
sind die Unterschiede zwischen beiden Ländern erheblich. Zieht man die Einstellungen (!)
zu „leichten Ohrfeigen“ aus unserer zeitgleichen deutschen Untersuchung heran, so halten 40,7 % der befragten Erwachsenen diese für (eindeutig) „in Ordnung“. In Schweden
sind es dagegen bei einer vergleichbaren Frage im gleichen Zeitraum nur 11 %.
Verschiedene Studien kommen daher unter Abwägung aller Indikatoren zu der Vermutung, dass die Rechtsreform mit der pädagogischen Aufklärungsarbeit zumindest die
intergenerationelle Weitergabe von gewaltförmigen Sanktionsmustern erheblich gebremst
hat. Wichtig war es, das Körperstrafenverbot an andere Diskurse anzukoppeln und auf
diese Weise in deren Kontext einzuführen. Im schwedischen Fall hatte das explizite
Verbot mit zu einer erhöhten Aufmerksamkeit sowohl in den Massenmedien als auch in
den (familialen-) pädagogischen Diskursen beigetragen.
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IN DER
TAGESPFLEGE
223
3. Gründe für ein rechtliches Verbot
Aber, warum konnten die Schweden nur diesen Weg eines absoluten Verbots gehen?
3.1 Differenzierter Gewaltbegriff
Die Antwort erhält man, wenn man sich darüber klar wird, wie die Züchtigung der Kinder
heute trotz aller pädagogischen Weisheit funktioniert. Die Antwort gleich vorweggenommen. Gewalt ist nicht gleich Gewalt, oder die Gewalt gegen die eigenen Kinder gilt
häufig nicht als Gewalt. Die Definition von Gewalt und die damit verbundene Stigmatisierung und Mobilisierung von äußerer Hilfe ist abhängig von den jeweiligen normativen
Bewertungsmaßstäben. Ein Problembewusstsein setzt überhaupt voraus, dass es sich
um Gewalt (!) gegen Kinder handelt.
Wir haben Eltern danach gefragt, wie sie dieselbe gewaltförmige Handlung in verschiedenen Situationen und gegen verschiedene Personen bezeichnen würden.
Berücksichtigen Sie bitte in der folgenden Gegenüberstellung, dass sowohl die Gewalt
zwischen Erwachsenen wie auch zwischen Lehrern und Schülern verboten ist. Immerhin
ist die körperliche Züchtigung von Schülerinnen und Schülern seit den siebziger Jahren
Tabelle 5
224
F A C H TA G U N G E N
durch Schulgesetze in den einzelnen Bundesländern untersagt. Es besteht in allen
Bundesländern ein absolutes Verbot von Körperstrafen in der Schulerziehung, das keine
Ausnahme kennt und keinen Auslegungsspielraum eröffnet.
Vergleicht man die rechtswidrigen Gewaltausübungen miteinander, so zeigt sich, dass
selbst schweren Züchtigungsformen in der Familie wie der Tracht Prügel ein geringerer
Gewaltgrad zugeschrieben wird, als der Ohrfeige des Lehrers in der Schule oder eines
Vorgesetzten im Betrieb.
Im welchem Umfang die Etikettierung von Handlungen von ihrer Legitimierbarkeit abhängt, veranschaulicht auch ein innerfamilialer Vergleich zwischen erzieherisch begründeten und unbegründeten Körperstrafen. Eine Ohrfeige, die nur aufgrund der
Gereitzbarkeit von Eltern erfolgt, wird deutlich stärker als Gewalt angesehen, als wenn
sie auf den Ungehorsam des Kindes zurückzuführen ist. Der fehlende erzieherische Anlass führt sogar dazu, dass die leichte Körperstrafe einen noch stärkeren Gewaltgrad
zugeschrieben bekommt als die gerechtfertigte Tracht Prügel. Über die Hälfte (51,0 %)
sehen die Ohrfeige wegen der Gereiztbarkeit der Eltern als Gewalt an, gegenüber nur
37,2 % bei einer erzieherisch begründeten Tracht Prügel.
Wir erkennen bereits hieran, wie wichtig die Bewertung einer Handlung ist. Die Auswirkungen der normativen Struktur einer Gesellschaft auf ihre Semantik zeigt sich indes
nicht nur im Vergleich zwischen verschieden Gewaltformen, sondern auch in der Gegenüberstellung verschiedener Sanktionsgruppen.
Allein bei der Definition der sexuellen Gewalt ist am ehesten ein Konsens zwischen
den vier Gruppen zu erkennen. In den Bereichen der körperlichen und psychischen
Einwirkung ist dagegen eine deutliche Abweichung der gewaltbelasteten zu den anderen Sanktionsgruppen erkennbar. Der signifikante Unterschied im Bereich der psychischen Einwirkung korrespondiert wiederum mit dem in den obigen Untersuchungen
festgestellten häufigeren Einsatz psychischer Sanktionsformen in dieser Sanktionsgruppe, wie Schweigen.
Der Vergleich aller drei Gewaltformen legt die Vermutung nahe, dass nur der Bereich des
rechtlich eindeutigen unzulässigen sexuellen Missbrauchs von Kindern zu einem einheitlichen Gewaltbegriff führt. Nur in diesem Bereich ist ein für alle Gruppen gleicher Sprachgebrauch und somit auch gleiche normative Orientierung erkennbar. Die Abstinenz rechtli-
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IN DER
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225
cher Unterscheidungen im Bereich psychischer und körperlicher Sanktionen in der Familie
spiegelt sich in relativ weit auseinander driftenden Gewaltdefinition wider.
Tabelle 6
Geht man einen Schritt weiter und fragt danach, was als Misshandlung angesehen wird,
so werden die semantischen Diskrepanzen zwischen den Sanktionsgruppen deutlich. So
definieren 16,2 % in der gewaltbelasteten Sanktionsgruppe diese schwere körperliche
Züchtigungsform nicht eindeutig als Misshandlung, sondern ordnen sie im mittleren
Bereich zwischen den Polen „Misshandlung“ und „keine Misshandlung“ ein, während es
bei den anderen drei Gruppen nur etwa 3 % sind.
Tabelle 7: Misshandlungsdefinitionen in den Sanktionsgruppen
Noch gravierender fallen die definitorischen Unterschiede bei den anderen Beispielen
aus, die häufig Vorstufen zum obigen Schweregrad sind. Schläge mit dem Stock erachten in der vierten Sanktionsgruppe nur 62,9 % der Befragten als Misshandlung gegenü-
226
F AC H TAG U N G E N
ber etwa 90 % bei den anderen drei Gruppen. Bedenklich erscheint auch das Ergebnis
zum vierten Fallbeispiel, bei dem Eltern dem Kind häufiger eine Tracht Prügel aufgrund
ihrer leichten Reizbarkeit geben. Nur 63,6 % bezeichnen eine Tracht Prügel in einer
gereizten Situation noch als Misshandlung, während der Anteil in den anderen Gruppen
um mehr als 20 Prozentpunkte höher ist.
Fazit: Die Wahrnehmung und Definition von Gewalt oder Misshandlung ist Spielball
schlagender Eltern. Von der „Rechtsfreform“ der früheren Bundesregierung, dem Misshandlungsverbot, werden typische Gewaltkonstellationen gerade nicht erfasst. Wie auch die
Pädagogik muss sich auch das Recht um eine klare Sprache bemühen, sonst sind alle
Bemühungen wertlos.
3.2 Pädagogische Aufklärung (Selbstkontrolle)
Die zuvor genannten Ergebnisse dienten dazu zu zeigen, die gegenwärtige Problematik
kann nicht mehr allein mit pädagogischer Aufklärung angegangen werden. Eltern schlagen mehr denn je ohne rechte Überzeugung. Dies unterscheidet unser Jahrhundert von
den vorhergegangenen deutlich. Und, sie können diesen Erziehungsstil auch weiter beibehalten, weil sie nicht in einen Widerspruch zu dem von ihnen selbst akzeptierten Gewaltverbot geraten. Ihre Gewalt gegen die eigenen Kinder ist für die meisten gar keine Gewalt.
3.3 Stimulierung der sozialen Kontrolle (Fremdkontrolle)
3.3.1 Publizität professioneller Ansprechpartner
Aber noch einmal zurück zu den Schweden. Warum konnten sie nicht allein auf Aufklärung und auf ihr gut ausgebautes Netz an sozialen Hilfseinrichtungen bauen?
Man könnte meinen, es könnte eine Stimulierung der informellen sozialen Kontrolle im
Sinne einer Fremdkontrolle helfen, also ganz im Sinne der Selbstregulierungskräfte von
Eltern, Kindern, Nachbarn und so weiter. Dies stellt sich jedoch als eine naive Hoffnung
heraus. In unser Studie fragten wir unter anderem nach der Kenntnis möglicher Hilfs- und
Beratungszentren im Falle familialer Probleme (also nicht nur bezogen auf Gewalt!).
Beginnen wir mit der Darstellung der Ergebnisse aus einer offenen Frage (!) zu möglichen Beratungsstellen, die Kinder und Jugendliche ansprechen oder anrufen können,
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TAGESPFLEGE
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wenn sie größere Probleme mit ihren Eltern haben. Als erstes fällt die mangelnde Publizität von professionellen Ansprechpartnern bei der Gruppe der Jugendlichen auf. Zwei
Drittel der Jugendlichen konnten keine Angaben machen, während dies bei den Erwachsenen nur bei der Hälfte der Fall war. Jugendliche scheinen trotz ihrer besonderen
Betroffenheit uninformierter und daher hilfloser zu sein.
3.3.2 Bereitschaft und tatsächliches Interventionsverhalten
Aber wie steht es mit dem tatsächlichen Interventionsverhalten? Fragt man sowohl nach
einem von den Befragten selbst eingeschätzten möglichen Verhaltensweisen als auch
nach der tatsächlichen damaligen Reaktion bei denjenigen, die über einen Fall von Misshandlung berichten konnten, so zeigt der Vergleich zwischen Einstellungen und Verhalten
interessanterweise, dass die geäußerten Interventionspräferenzen gegenüber nicht-professionellen Ansprechpartnern ungefähr dem tatsächlichen Verhalten entsprechen.
Tabelle 8
Das wichtige Kernergebnis lautet – sieht man alle gewählten Ansprechpartner zusammen: Das Ausmaß der tatsächlichen sozialen Reaktion ist zwar relativ stark ausgeprägt,
aber sie erfolgte in einer eher familiären Form! Die tatsächliche soziale Kontrolle ist
primär eine zwischen Individuen, die eine institutionelle Einmischung zu scheuen scheinen. Bemerkenswert ist auch, dass die Bedeutung von eher informellen Institutionen
wie Sorgentelefon oder kirchliche Beratungs- und Kinderschutzeinrichtungen genauso
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gering ist wie die einer repressiv ausgerichteten Institution, der Polizei! Die Gründe
hierfür können zwar unterschiedlich sein, aber man kann auch hier vermuten, dass es
einen gemeinsamen Grund gibt.
Tabelle 9
3.3.3 Die Privatheit der Familie und ihre Gewalt
So betonte Garbarino bereits 1977 die Notwendigkeit der Einbeziehung bestehender
kultureller Rechtfertigungsmuster und die Berücksichtigung der sozialen Isolation von
Kindern und Eltern. Letzteren Aspekt fasste er in dem Satz zusammen, „Child … ‚feed’
on privacy“.
Die These zur Privatheit der Familie wird durch verschiedene Ergebnisse unserer Studie
bestätigt. Hier konkret: Professionelle Institutionen erlangen nur in sehr seltenen Fällen Kenntnis von begründeten Verdachtsfällen. Geht man von einer These der gesellschaftlich bedingten Privatheit der Familie aus, so wäre zu vermuten, dass nicht nur
eine Hemmschwelle gegenüber professionellen Einrichtungen besteht, weil diese zu
radikal intervenieren würden. Vielmehr ist auch eine Tendenz anzunehmen, die Dinge
unter sich zu besprechen, um möglichst nichts nach draußen dringen zu lassen, weil die
Privatsphäre der Familie als unantastbar gilt.
Das Recht selbst ist durch den grundrechtlichen Schutz der Familie in Art. 6 GG – besonders
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durch den den Eltern im Familienrecht eingeräumten weiten erzieherischen Freiraum –
für die Tabuzone mitverantwortlich, die um die Familie, dass heißt auch um ihre Erziehungspraktiken, gezogen wird. Berücksichtigt man diese rechtliche Barriere, die die
Familie insbesondere vor staatlichen Interventionen schützen soll, so ist jegliche Intervention keine Frage nur der Höflichkeit oder Toleranz. Vielmehr drängt sich jedem, der
von gewaltförmigen Übergriffen von Eltern erfährt, ein Gefühl der Einmischung in
innerfamiliale Angelegenheiten auf. Eng damit verknüpft ist das Risiko des Öffentlichwerdens. Familiale Erziehungsmethoden können zum Thema in der Nachbarschaft werden, und dies scheut man offenbar mehr als die Misshandlung von Kindern. Das gesellschaftliche Tabu wäre durchbrochen, was auch auf den Beobachter negativ zurückschlagen könnte und von ihm antizipiert wird.
Tabelle 10
Wir wissen, dass der Anteil derjenigen, die sich wahrscheinlich an eine Beratungseinrichtung wenden würden, nur etwa ein Drittel ausmacht. Nimmt man zudem das tatsächliche Verhalten im „Ernstfall“ als Bezugspunkt, so schrumpft dieser Anteil beim Jugendamt auf ein Viertel und bei den anderen professionellen Ansprechpartnern sogar auf
weniger als 10 %. Die Gründe hierfür werden auf der Frage nach ihren Bedenken gegenüber einer Kontaktaufnahme deutlich.
Unter allen möglichen Gründen dominieren die Bedenken, die betreffende Familie in ihrer
Privatheit zu stören. Sich nicht an eine Beratungseinrichtung wenden zu wollen wird von
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230
der Befürchtung dominiert, in die Privatsphäre anderer Familien einzudringen (41,8 %)
oder als Spitzel bzw. als zu neugierig zu gelten (34,7 %). Bezieht man den Anteil derjenigen ein, die zumindest teilweise diese Bedenken hegen, so sieht sich die Mehrheit von bis
zu fast 80 % der Bevölkerung in einem Dilemma zwischen Helfen-Wollen und Schutz der
Privatsphäre anderer Familien.
Fazit: Die normalerweise hohe Bedeutung informeller sozialer Kontrolle im Bereich familaler
Gewalt kann nicht greifen. Die Familie operiert nahezu ungestört von äußerer Kontrolle.
Wie kann dieser Schutzwall poröser werden? Wie kann man diese Mechanismen zu durchbrechen?
4. Das Modell Recht als Kommunikationsmedium
Die Antwort lautet: Nur durch ein ausdrückliches rechtliches Verbot von Körperstrafen
im Verbund mit sozialen und institutionellen Multiplikatoren wie Schulen, Jugendämter,
Ämter für soziale Dienste und nicht staatliche Hilfseinrichtungen, Beratungszentren
usw. Wir brauchen insbesondere ein modernes Marketing für soziale Hilfseinrichtungen.
Es hakt derzeit noch an einem positiven Image entsprechender Institutionen und Inanspruchnahme von Hilfen. Wenn wir diese Voraussetzungen schaffen, dann erhält das
Körperstrafenverbot einen enormen Schub.
Einem solchen Verbot kann nur eine symbolische Wirkung zukommen, da es nur über einen
geringen direkten Einfluss auf das Erziehungsverhalten von Eltern verfügt. Damit ist gleichwohl mehr gewonnen, als man auf den ersten Blick meint. Der Begriff der symbolischen
Wirkung steht vielmehr für die sehr subtilen Beeinflussungsmöglichkeiten von Rechtsverboten, wie aus der folgenden Übersicht entnommen werden kann:
Symbolische Wirkung eines Körperstrafenverbots
I. Veränderung der Wahrnehmung von Realität
1. Markierung von Verhaltensgrenzen
2. Definition von Gewalt und Sensibilisierung für Gewalt
II. Veränderung des Konfliktverlaufs
1. Thematisierung von Grenzüberschreitungen
2. Mobilisierung von sozialer Unterstützung
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Neben der Sensibilisierung für gewalthaltige Erziehungsstile gewährleistet ein rechtliches
Verbot auch eine Veränderung des Konfliktverlaufs. Die von uns in qualitativen Interviews
befragten Schüler und Schülerinnen (N = 69) erzählten sehr eindrucksvoll, wie sie sich ihr
Konfliktverhalten in der Familie vorstellen, wenn das Züchtigungsrecht abgeschafft würde. Ein solches Verbot würde zum Thema werden und die große Mehrheit meinte sogar,
eine derartige rechtliche Veränderung zu Hause bei gegebenem Anlass anzusprechen.
Obwohl die Jugendlichen eigentlich nicht als Hoffnungsträger für erzieherische Reformen gelten dürfen, weil sie im wesentlichen die Erziehungsstile der Eltern billigen und
diese später zumeist auch beibehalten (siehe Kreislauf der Gewalt), sind sie durch ein
derartiges Referenzsystem wie Recht beeinflussbar. Ein gesetzliches Verbot könnte deshalb das Vehikel sein, mit dem gewaltkritische Inhalte stärker in die familialen Diskurse
und ihre Erziehungsrationalität eingeführt werden können. Die hohe Thematisierungsbereitschaft der Jugendlichen scheint jedenfalls hierfür zu sprechen.
Alles spricht somit für ein radikales Verbot von Körperstrafen in der Familie. Auf die
freiwillige Selbstbindung aus pädagogischer Einsicht haben wir lange genug gehofft.
Unsere Gesellschaft muss nun verbindliche Grenzen ziehen, was Recht und Unrecht ist,
und kann nicht mehr alles ungezügelten Selbstregulierungskräften überlassen. Zudem,
es werden Mechanismen der Thematisierung und informellen sozialen Kontrolle auf dem
Boden eingeräumter Rechte um so stärker eintreten, je mehr alternative Hilfen (wie
Kinderschutzzentren, Zufluchtshäuser, Beratungszentren) zum Recht verstärkt angeboten werden, wie wir aus rechtssoziologischen Studien zur Konfliktentwicklung und zum
Konfliktverlauf wissen. Auf dieses Zusammenspiel von Recht und Alternativen zum Recht
kommt es an. Gerade wenn man den Staatsanwalt nicht im Kinderzimmer haben will,
muss das Recht die informellen Kontrollpotenziale stärken.
Natürlich nehmen die Konflikte in vielen Familien durch die Einführung eines rechtlichen Gewaltverbots nicht sofort ab, aber das bisherige Ausmaß der Gewalt gegen Kinder
in vielen Familien ist auch kein Indiz für Harmonie und ungetrübte Geborgenheit.
Schließlich haben zahlreiche Studien in den letzten 20 Jahren Indizien für die vielfältigen erheblichen negativen Folgen von Kindesmisshandlungen erbracht, wie:
■ schwere psycho-soziale Auffälligkeiten,
■ erhöhtes Risiko nachfolgender Delinquenz und Gewalttätigkeit,
■ latente Gefahren einer Eskalation der Gewalt,
■ Entstehung von anti-sozialen Verhaltensweisen von Kindern.
232
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Die Familie ist für viele eben kein Hort der Idylle und Harmonie. Angesichts dieser
Risiken erscheint eine doch ausschließlich normative (!) Irritation der bisherigen
familialen Normalität als unumgänglich. Eine Verschärfung der strafrechtlichen Verfolgung wäre hingegen eher dysfunktional.
Das seit November 2000 geltende Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung empfiehlt sich bereits aufgrund seiner Eindeutigkeit für eine derartige symbolische Rechtsreform:
„Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafung, seelische
Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig“
(BT-Drucksache 14/1247).
Hinzu kommt, es vermag an das in der Gesellschaft konsentierte Gewalttabu anzuknüpfen und vereinigt allein deshalb einen hohen Aufmerksamkeitswert auf sich. Dennoch
zeigen die Ergebnisse aus unserer Studie wie auch die schwedischen Erfahrungen, dass
zur Unterstützung einer solchen Rechtsreform unbedingt eine groß angelegte Aufklärungskampagne durch Massenmedien und andere Multiplikatoren notwendig ist. Hierzu zählen vor allem auch die Schulen, da ihnen aufgrund des bereits dort praktizierten Verbots
von Körperstraße eine wichtige Vorbildfunktion zukommt.
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Nur in diesem Verbund wird ein allmählicher Bewusstseinswandel eintreten, dem ein Absinken des familialen Gewaltniveaus innerhalb weniger Jahre folgen wird. Ausgehend von
den schwedischen Erfahrungen kann in bundesdeutschen Familien innerhalb von fünf
Jahren – bei vorsichtiger Schätzung (!) – mit einem Rückgang leichter Körperstrafen um
ca. 30-50 % und schwerer Züchtigungen um etwa 10 % gerechnet werden, was in beiden
Fällen einer Halbierung der familialen Gewalt gleichkäme. Erste deutliche Anzeichen eines
Rückgangs müssten sich hingegen bereits 2 Jahre nach Inkrafttreten der geplanten Rechtsreform zeigen, vorausgesetzt, es kommt zu einer beabsichtigten umfassenden Aufklärungskampagne. Denn der Sinn einer Ächtung familialer Gewalt gegen Kinder muss von vielen
Disziplinen und Organisationen in die Familien hinein kommuniziert werden; das Recht
aber ist der aufmerksamkeitsauslösende „Aufhänger“; es dient als normatives Vorbild und
setzt die für alle verbindlichen Grenzen.
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G.Löschper, K.F. Schumann (Hrsg.): Strafrecht, soziale Kontrolle, soziale Disziplinierung, Jahrbuch
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IN DER
TAGESPFLEGE
235
4.3.3 Karin Weiß M.A.
Gewaltfreie Erziehung und Gewalt gegen
Kinder als Themen in der Qualifizierung
Zum besseren Verständnis einige Sätze zum Modellprojekt „Entwicklung und Evaluation curricularer Elemente zur Qualifizierung von Tagespflegepersonen, das im Deutschen Jugendinstitut durchgeführt wird im Auftrag des Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, des Sozialministeriums Mecklenburg-Vorpommern,
des Ministeriums für Kultur, Jugend, Familie und Frauen in Rheinland-Pfalz sowie des
Senats für Frauen, Gesundheit, Jugend, Soziales und Umweltschutz Bremen.
1. Das Modellprojekt im DJI
Im Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) wird die Tagespflege in der Familie der Kinderbetreuung in Institutionen gleichrangig gestellt. Tagesmütter durchlaufen aber – anders
als Erzieherinnen in Kitas – keine staatliche geregelte Berufsausbildung, die sie für ihre
Arbeit qualifiziert. Natürlich brauchen jedoch auch Tagesmütter eine Vorbereitung bzw.
Begleitung für ihre Tätigkeit und so ist die Qualifizierung als tragende Säule der Qualität von Tagespflege unumstritten. Da es bisher keine einheitlichen Bestimmungen zur
Aus- und Fortbildung für die Tagespflege gibt, arbeitet jedes Bundesland, jede Kommune bisher nach je spezifischen und unterschiedlichen Konzepten und Organisationsformen.
Der Auftrag des DJI-Modellprojekts bestand darin, einen Überblick über bestehende
ernstzunehmende Qualifikationsansätze zu ermitteln und die Frage wissenschaftlich zu
klären, wie eine qualitätsvolle Grundqualifizierung von Tagespflegepersonen sinnvollerweise gestaltet sein sollte. Es sollten darüber hinaus konkrete Anregungen für die Praxis entwickelt werden, die die Fortbildnerinnen und Fortbildner in ihrer Arbeit unterstützen können.
236
F AC H TAG U N G E N
1.1 Die Arbeit im Modellprojekt
An der Hauptphase des Modellprojekts nahmen neun Modellorte aus sechs Bundesländern teil. Die Orte bezogen sich auf verschiedene Fortbildungsprogramme und interpretierten diese Programme zudem unterschiedlich. Die Fortbildungen waren in unterschiedlichen öffentlichen und freien Trägerschaften organisiert (Volkshochschulen, Tagespflegevereine, DPWV, …). Das wissenschaftliche Team des DJI hat sich die Fortbildungen vor
Ort angesehen (d.h. Unterrichtshospitationen, Interviews, schriftliche Befragungen durchgeführt und die Unterlagen zu den Kursen gesichtet) sowie Literaturanalysen betrieben,
Expertinnen der Tagespflege und der Erwachsenenbildung um Beiträge in Form von Expertisen gebeten. Darüber hinaus fand eine intensive Zusammenarbeit mit den Referentinnen der Fortbildung aus den Modellorten statt.
Hinter den im Projekt untersuchten Qualifizierungsprogrammen steht eine große
Entwicklungsleistung der Praxis: Die Programme sind in überwiegend ehrenamtlicher
Arbeit aufgebaut worden und haben die Tagespflege-Ausbildung enorm voran gebracht.
In diesem Zusammenhang ist v.a. das Curriculum des Tagesmütter-Bundesverbandes zu
nennen, das einen Meilenstein auf dem Weg zur Qualitätsentwicklung in der Tagespflege
darstellt. Aber auch in Neustadt ist über die VHS ein beachtliches eigenständiges Qualifizierungsmodell erarbeitet worden.
1.2 Ergebnisse: Die Praxis der Tagespflege – Qualifizierung im Modellprojekt
Allein aus den vorgefundenen Programmen heraus allgemeingültige Anregungen für die
bundesweite Praxis zusammenzustellen, erwies sich im Laufe des Projekts als schwierig:
Grundlegendes Material war zu den wenigsten Themen schriftlich ausgearbeitet, so dass
neue Referentinnen jeweils zum größten Teil auf ihre eigene Gestaltung und Interpretation eines Themas angewiesen sind. Das stellt ein gewisses Problem dar, denn die Referentinnen und Referenten können nicht beliebig viel Zeit in die Vorbereitung einer Veranstaltung investieren, da sie diese Vorbereitung meist nicht vergütet bekommen1. Insofern ist häufig die Situation gegeben, dass Referentinnen aus themenverwandten Gebieten (z.B. Erzieherinnen-Qualifizierung) ihr Repertoire aus Zeitgründen in die Qualifizierung zur Tagespflege mitbringen.
Entsprechend waren die hospitierten Veranstaltungen häufig in ihren Themen eher allgemein und nicht so sehr auf den Tagespflege-Alltag bezogen, wie es für den Erfolg der
G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G
IN DER
TAGESPFLEGE
237
Ausbildung als wünschenswert erscheint. Auch waren einzelne Themenbereiche manchmal
wenig auf dem aktuellen Stand oder nicht angemessen gewichtet, so dass wichtige
Aspekte nicht vertieft werden konnten. Wissenschaftliche Ergebnisse waren oft eher
schematisch in Einzeldisziplinen dargestellt. Sehr viele Veranstaltungen beinhalteten
interessante und nachahmenswerte Sequenzen und Details, wenige waren jedoch in
ihrem Gesamtablauf modellhaft.
1.3 Das DJI-Curriculum
Diese Feinabstimmung und Ausrichtung der Veranstaltungen auf die Tagespflege erfordert Arbeit, welche die Referentinnen und Referenten in ihrem Tagesgeschäft in der
Erwachsenenbildung nicht ohne weiteres erbringen können (s.o.). Hier sollen die Produkte des Projektes Abhilfe schaffen. Der Schwerpunkt liegt auf dem Curriculum: Auf der
Basis der Praxisbeobachtungen und der aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse wird
im Rahmen des Projekts ein kompletter Lehrplan im Umfang von insgesamt 160 Unterrichtsstunden erarbeitet, der voraussichtlich ab Frühjahr 2002 fertig vorliegen wird. Aus
der Vielfalt der Projektergebnisse (z.B. Qualitätskriterien für die Tagespflege-Qualifizierung2) und aus dem gesamten Spektrum des Curriculums wird im folgenden vorgestellt:
1.4 Der Themenbaustein „Erziehung“ innerhalb des DJI-Curriculums
Bei dem zentralen Thema (familiäre bzw. familienergänzende) Erziehung haben wir etwas anders akzentuiert, als in den Qualifizierungskursen im Projekt vorgefunden: Den
erzieherischen Kernthemen wurde insgesamt etwas mehr Raum gegeben, weil das Zusammensein mit den Kindern ein/das zentrale/s Handlungsfeld in der Tagespflege ist
und weil die Art und Weise, wie dieses Zusammensein gestaltet wird, unbedingt reflexionswürdig erscheint – besonders vor dem Hintergrund der neuen Gesetzeslage.
Als das Projekt 1998 begann, war die Gesetzesänderung zur gewaltfreien Erziehung
(§ 1631 BGB) erst in Planung. Ausgehend von der UN-Kinderrechts-Konvention haben
wir uns jedoch bereits damals auf den international aktuellen Stand familiärer Erziehung bezogen: Im benachbarten Ausland (z.B. Schweden, GB) und in Übersee (USA,
Australien) ist die Anwendung von gewalttätigen und körperlich bzw. seelisch verletzenden Methoden in der Erziehung per Gesetz z.T. bereits seit längerem untersagt. Dort
gibt es fortgeschrittene Ansätze für spezielle Trainings, mit denen Erwachsene Prinzipien für die Gestaltung einer guten Beziehung zu Kindern kennenlernen und Alternativen
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F A C H TA G U N G E N
einüben können. An solchen vorbeugenden pädagogischen Konzepten, die im englischen Sprachraum unter dem Begriff „Positive Parenting“ („positive Erziehung“) zusammengefasst werden, haben wir uns orientiert.3
Seit im Juli 2000 vom Bundestag das Gesetz zur Ächtung von Gewalt in der Erziehung
verabschiedet wurde, sind auch bei uns nicht nur mehr Erzieherinnen und Erzieher in
Institutionen gehalten, mit ihren Kindern den Tag „gewaltfrei“ zu verbringen – sondern
per Gesetz nun auch all diejenigen, die Kinder in Familien erziehen und betreuen. Diese
neue Gesetzeslage betrifft die Tagespflege ganz konkret, sie muss entsprechend in die
Qualifizierung eingehen und mit Leben gefüllt werden. Dabei geht es sicher weniger um
spektakuläre Fälle von Gewalt gegen Kinder, sondern v.a. um sogenannte „alltägliche“
Formen von Gewalt und um kleinere und größere Grenzüberschreitungen im Erziehungsalltag. Hier tun sich viele Fragen auf: Was ist unter einer gewaltfreien Erziehung eigentlich zu verstehen? Wo fängt Gewalt an? Was genau sind demütigende, entwürdigende,
verletzende Erziehungs-Methoden? Wie können sie vermieden werden? Welche Alternativen gibt es? …
Um die Beantwortung dieser Fragen haben wir uns in der Gestaltung des Themenbausteins
bemüht. Wie bei allen Themen im Curriculum ist es gerade auch beim Thema Erziehung so,
dass unsere Ausarbeitungen nicht die Vorbereitung und Auseinandersetzung der Referentin/
des Referenten mit dem komplexen Gegenstand ersetzen und aus den Unterlagen heraus
1:1 reproduziert werden können. Die Referentinnen/Referenten müssen sich vielmehr die
Veranstaltung zu ihrer eigenen machen, sich ein- und vorbereiten sowie sich eine innere
Haltung zum oft auch kontroversen Thema aneignen, die sie gegenüber den Teilnehmerinnen und gegenüber sich selbst vertreten können. Das Curriculum versteht sich insofern
als Dienstleistung für die Referentinnen/Referenten, die Material hinsichtlich aktueller
und wichtiger Inhalte zur Verfügung stellt und Anregungen für die Umsetzung bietet. Es
versteht sich nicht als diktatorisches Ablaufschema. Einige grundsätzliche Vorbemerkungen:
In der Qualifizierung über Erziehung sprechen.
■ Gespräche über Erziehung verlaufen häufig sehr emotional, weil alle Frauen unmittelbar betroffen sind: Alle haben selbst als Kinder Erziehung erfahren. Die meisten
erziehen selbst Kinder oder haben bereits welche erzogen. Und gerade Frauen, die
sich für die Tagespflege entscheiden, sehen in der Erziehung von Kindern zumindest
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einen momentanen Lebensschwerpunkt und verstehen sich damit in gewisser Weise
als Expertinnen. Sie lassen sich oft ungern hineinreden in ihr „Spezialgebiet“.
■ Die Teilnehmerinnen einer Qualifizierung brauchen eine vertrauensvolle Atmosphäre,
um offen über ihr Erziehungsverhalten zu sprechen. Es ist sinnvoll, den Baustein
Erziehung dann in der Qualifizierung zu bearbeiten, wenn die Gruppe bereits miteinander vertraut ist. Das Einbringen von persönlichen Erfahrungen sollte ermutigt werden, allerdings sollte keine Teilnehmerin in den Mittelpunkt gestellt oder zur Zielscheibe gemacht werden.
■ Wenn in der Qualifizierung ein wenig förderlicher Umgang von Teilnehmerinnen mit
Kindern offensichtlich wird, sollten Verbesserungsmöglichkeiten besprochen und positive Alternativen aufgezeigt werden. Schädliches Erziehungsverhalten sollte benannt
werden. Von Seiten der Referentin oder des Referenten ist es wichtig, gerade auch bei
Kritik im Ton positiv zu bleiben. Hier ist ihre/seine Sensibilität gefragt.
■ Referentinnen und Referenten sollten bei einer Veranstaltung über ein erzieherisches Thema darauf vorbereitet sein, wie sie mit den weit verbreiteten Argumenten
im Stil von „Ein Klaps hat noch niemandem geschadet“ umgehen wollen (Lt. Einer
Emind-Umfrage aus dem Jahr 1997 waren 81 % der Befragten der Meinung, dass in
bestimmten Situationen ein „Klaps“ nicht schaden könne). Referentinnen/Referenten müssen für sich eine Position finden in den Fragen: Was ist dem Kindeswohl
zuträglich? Was ist meine Verantwortung als Referentin/Referent? Wie kann ich eine
Position vertreten und formulieren, die das Recht der Kinder auf gewaltfreie Erziehung vermittelt? Welche Alternativen kann ich anbieten?
■ Bei den Praxis-Hospitationen fiel auf, dass die Aufmerksamkeit beim Gespräch in der
Qualifizierung leicht von den Tageskindern hin zu den eigenen Kindern wandert. Es
besteht offensichtlich auch ein Bezug auf die Erziehung der eigenen Kinder in der
Regel ein großer Bedarf an Unterstützung, Austausch und Beratung. Das ist nicht
verwunderlich, denn Frauen werden in unserer Gesellschaft mit der Kindererziehung
allein gelassen. Sie sind damit strukturell und individuell chronisch überlastet und
in der Ausübung der familiären Erziehung außerdem isoliert. Das gilt für Tagesmütter, die ja quasi „Berufsmütter“ sind, in besonderem Maße. Es ist im Sinne des
Qualifizierungszieles aber wichtig, die Diskussionen auch immer wieder so konkret
wie möglich auf die Tagespflege zu beziehen.
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2. Curriculare Elemente zur Qualifizierung in der Tagespflege
2.1 Die Inhalte der Veranstaltungen zum Thema Erziehung
Tagesseminar: Wie erziehe ich – wie wurde ich erzogen (6 Ustd.)
■ Reflexion des „Erziehungskonzepts“.
■ Die Teilnehmerinnen treten einen Schritt aus dem Erziehungsalltag zurück. Sie versuchen, ihre Einstellungen, Wertvorstellungen und Zielsetzungen hinter dem eigenen Erziehungsverhalten wahrzunehmen und hinterfragen sie. Vertreten sie – bewusst oder unbewusst – ein „Konzept“ in ihrer Erziehung? Wenn ja: welches? Sind
das Konzept und die zugrundeliegenden Werte zeitgemäß? Wandel von Erziehungsvorstellungen.
■ Für den eigenen Ansatz stehen.
■ Die Teilnehmerinnen machen sich als (zukünftige) Tagesmütter damit vertraut, ihre
Vorstellungen von Erziehung und ihre Werte gegenüber den Eltern zu beschreiben
und zu vertreten.
■ Prägende Erfahrungen aus der eigenen Kindheit.
■ Die Teilnehmerinnen versuchen, sich den Einfluss von eigenen Kindheitserfahrungen
auf die Interaktion mit den Kindern zu vergegenwärtigen.
Zu beachten: Die Referentin sollte im Bedarfsfall wissen, an welche örtliche Beratungsstelle oder Einrichtung sie eine Teilnehmerin verweisen kann, die bei der Beschäftigung
mit dem Thema in Kontakt mit schmerzhaften Verletzungen aus ihrer eigenen Kindheit
gekommen ist und Unterstützungsbedarf signalisiert oder für sich an dem Thema weiterarbeiten will.
Tagesseminar: Wie viel und welche Erziehung in der Tagespflege? (6 Ustd.)
■ Reflexion des Erziehungsprozesses: Was ist die Position des Kindes/Was ist die Position der Erwachsenen?
■ Erwachsene haben immer die Verantwortung für eine gute Beziehung zu den Kindern.
■ Kinder sind von Geburt an willige und fähige Kooperationspartnerinnen und -partner.
Sie wollen mit den ihnen nahestehenden Bezugspersonen zusammenarbeiten und
wenn sie angenommen und geachtet werden, können sie das auch.
■ Auffrischen des Wissens, was Kinder in welcher Entwicklungsstufe brauchen und was
von ihnen erwartet werden kann.
■ Wie viel und welche Erziehungsarbeit wird von der Tagesmutter erwartet?
■ Das Recht der Kinder auf gewaltfreie Erziehung.
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■ Gewalt gegen Kinder ist ein schwieriges Thema, das betroffen macht. Möglicherweise
reagieren Teilnehmerinnen emotional, die Referentin/der Referent sollte darauf vorbereitet sein. Anhand von Datenmaterial sollen die Fakten benannt werden zur Verbreitung von köperlicher, seelischer und sexualisierter Gewalt gegen Kinder. Anhand von
Karikaturen kann das Machtgefälle zwischen Erwachsenen und Kindern thematisiert
werden: Die Abhängigkeit der Kinder, ihre körperliche Unterlegenheit, Grenzüberschreitungen von Erwachsenen, die sie oft nicht als „Gewaltausübung“ wahrnehmen.
Die Beziehung zum Tageskind positiv gestalten (3 Ustd.)
■ Alternativen: Die Prinzipien einer positiven Beziehung.
■ Gehorchen aus Angst ist keine Basis für eine gute Beziehung. Beziehung aufbauen
und bewahren als handlungsleitende Maxime im Zusammensein mit Kindern. Kinder
verstehen, respektieren, ermutigen. Sich in die Kinder einfühlen, sie mitwirken lassen und bewusst Zeit miteinander teilen. Das Positive in den Blick nehmen, statt
sich auf das Negative zu fixieren. Vorbild sein.
■ Beziehung fördern durch Kommunikation
■ Bedeutung einer persönlichen Kommunikation mit dem Kind. Warum ist sie wichtig?
Wie geht sie? Wie bei Konflikten miteinander sprechen? Die Gefühle der Kinder wahrnehmen und annehmen (zuhören und spiegeln). Ich-Botschaften statt Du-Botschaften aussenden, Umschalten von Botschaften senden auf Botschaften empfangen.
Niederlagelose Konfliktlösungen und Kompromisse aushandeln.
■ Sensibler Umgang mit Grenzen.
■ Auch Tagesmütter, die sich den Kindern gegenüber machtlos fühlen, haben Macht und
Verantwortung für das Wohlergehen der ihnen anvertrauten Kinder. Wie mit der Führungsrolle umgehen, ohne autoritär und verletzend zu sein? Was sind allgemeine Grenzen?
Was sind Grenzen der Kinder? Was sind die Grenzen der Tagesmutter? Wie mit Grenzen
umgehen? Wo sind Grenzen wirklich notwendig? Konflikte als Grenzerfahrungen. Dialog und Verhandlung. Ein Nein als liebevolle Antwort. Fragen zum Thema Grenzen.
Bevor der Kragen platzt (3 Ustd.)
Auch Tagesmütter werden wütend – Ursachen für Wut und Ärger. Was macht es schwierig, den Kindern gegenüber positiv zu bleiben? Wenn Wut und Stress kommen ist die
Neigung, zu den Kindern unfair zu werden, besonders groß. Es gibt viele ganz konkrete
Gründe, wütend zu werden und die Geduld zu verlieren. Aber auch die Tatsache, dass
Frauen in unserer Gesellschaft allein gelassen werden mit der Kindererziehung, macht
unterschwellig wütend.
242
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■ Dem Ausrasten vorbeugen.
■ Gelassenheit entwickeln und Entspannungstechniken lernen, absehbare, wiederkehrende Stress-Situationen minimieren oder meiden, Freiraum im Privatleben schaffen
und bewahren, Entlastung organisieren, Ansprüche hinterfragenn, Isolation abbauen, sich gesellschaftliche Zusammenhänge bewusst machen, …
■ Wut ist normal: Dampf ablassen, aber nicht am Kind!
■ Mit der Wut umgehen lernen. Wie fühlt es sich an, seine Wut zu zeigen, ohne dabei
anderen zu schaden? Techniken entwickeln und ausprobieren.
■ Wie vermeiden, die Wut gegen die Kinder zu richten?
■ Bedeutung von bewusstem Umgang mit Wut und Ärger. Tagesmütter haben Verantwortung: Es ist im Sinne des Kindeswohles nicht vertretbar, Wut an den Kindern
abzureagieren. Gefühle frühzeitig wahrnehmen und aggressive Impulse gegen die
Kinder bändigen.
■ Wie mit der Wut der Kinder umgehen?
■ Kinder brauchen die Verbindung zu ihren Gefühlen, sie müssen ihre Wut spüren dürfen. Kinder müssen lernen, mit ihren Gefühlen gut umzugehen. Sie lernen das, was
die Erwachsenen ihnen vorleben.
Schwierige Erziehungssituationen (3 Ustd.)
■ Zoff, Zank und Streit mit den Kindern - Was tun in schwierigen Situationen?
■ Wann ist Eingreifen nötig? Was tun, wenn Auseinandersetzungen nicht mehr aufhören?
Gemeinschaft fördern und vorbeugen. Mit herausforderndem Verhalten umgehen.
■ Ein Kind, das sich auffallend, herausfordernd oder schwierig verhält, braucht Unterstützung.
■ Es handelt nicht aus Bosheit, sondern sendet Signale um Hilfe aus.
■ Professionell mit Gefühlen der Hilflosigkeit und Wut umgehen.
■ Die Tagesmutter muss das Verhalten des Kindes nicht persönlich nehmen.
■ Ursachen erforschen: Warum verhält sich das Kind so?
■ Wo anfangen mit der Suche? Beim Kind? Bei der Tagesmutter? Bei der Familie des
Tageskindes?
■ Möglichkeiten und Grenzen der Tagesmutter.
■ Möglichkeiten der Abhilfe abklären. Grenzen des Einflussbereiches der Tagesmutter
anerkennen.
■ Es ist gut, sich Hilfe zu holen.
■ Bedeutung von guter Vernetzung mit kooperierenden Einrichtungen (Beratungsstellen, Jugendamt …). Die Qualifizierung als vermittelnde Instanz?
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■ Abgrenzung zur Tagespflege als „Hilfe zur Erziehung“ nach §§ 27 und 32 KJHG.
Diese Kernthemen des Themenbausteins zur Erziehung werden ergänzt durch Veranstaltungen zu den Themenbereichen
■ Prävention von sexueller Gewalt/Sexualerziehung.
■ Gegenüber diesem Thema gibt es viele Vorbehalte und Berührungsängste, deshalb
empfehlen wir dafür die Kooperation mit einem örtlichen Präventionsprojekt. Exemplarisch haben wir im Projekt den Rahmen einer solchen Veranstaltung von einem
Präventionsprojekt dokumentieren lassen.
■ Kinder sind verschieden – und das ist gut so!
■ (individuelle, geschlechtsspezifische, kulturelle Unterschiede).
■ Entwicklung von Kindern/Kinder beobachten.
■ Spielpädagogische Themen.
Als Querschnittsthema geht der Ansatz einer gewaltfreien Erziehung darüber hinaus
auch in alle anderen Veranstaltungen ein.
Der Anspruch, zentrale erzieherische Kernthemen in insgesamt 21 Stunden fundiert zu
behandeln, mag geradezu vermessen erscheinen. Es ist klar, dass eine Änderung von
Erziehungsverhalten kaum innerhalb dieses Zeitraumes stattfindet, sondern bestenfalls
angestoßen werden kann und sich prozesshaft entwickeln bzw. begleitet werden muss.
Hier wird die Bedeutung von praxisbegleitenden Gruppen neben bzw. im Anschluss an
die Qualifizierung deutlich. Innerhalb eines vom Umfang her auf 160 Stunden begrenzten Curriculums mit zahlreichen konkurrierenden, ebenfalls wichtigen Themen haben
wir versucht, mit den ausgewählten Themen einen Kompromiss zwischen dem Notwendigen und dem Machbaren zu finden.
Methoden zur Umsetzung der Veranstaltungen
■ Kleingruppenarbeit
■ Kurzvortrag Referentin/Referent
■ Diskussion im Plenum
■ Gemeinsame Erarbeitung im Plenum
■ Rollenspiele
■ Übungen
■ Methodische Lockerungselemente
■ Beobachtungs- und Vertiefungsdaten für zu Hause
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Materialien für die Vorbereitung/Durchführung der Veranstaltungen
■ Leitfaden für Referentinnen und
■ Inhaltliche Ausarbeitungen zum Thema für Referentinnen (so genannte Hintergrundinfos)
■ Handreichungen für Teilnehmerinnen
■ Arbeitsblätter für Teilnehmerinnen zur Erarbeitung des Themas
■ Themenbezogene Karikaturen
■ Literaturempfehlungen für die weitergehende Lektüre
Bezugspunkte für die erzieherischen Inhalte des DJI-Curriculums
■ „Positive Parenting“-Programm der University of Minnesota – unter Leitung des
Familiensoziologen Roland L. Pitzer wurde ein videogeschützes, praxisorientiertes
Curriculum für ein Training zur „gewaltfreien“ Erziehung entwickelt. Dieses Programm
hat sowohl in Bezug auf die formale Gestaltung als auch auf die inhaltliche Ausrichtung vielfältige Anregungen für das Curriculum des Modellpojekts gegeben.
■ „Save the Children“-Kursmaterial aus GB – dito.
■ Die Veröffentlichungen des dänischen Familien- und Gruppentherapeuten Jesper Juul.
Seine Bücher stellen kein „Programm“ im engeren Sinn dar, sondern bieten Orientierung für die individuelle Erziehungsarbeit. Er wirkt mit seinen Aussagen dennoch in
die gleiche Richtung wie die Ansätze einer sog. „positiven Erziehung“ und geht beispielhaft konsequent von der Anerkennung gleicher Würde bei Erwachsenen und Kindern aus.
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■ Alle diese Ansätze stehen in der Tradition der humanistischen Pädagogik und Psychologie (C. Rogers). Aus dieser Quelle schöpfte auch Th. Gordon seine Erziehungshilfen zur „niederlagelosen Konfliktlösung“ in der Familie – bekannt geworden unter
dem Namen „Familienkonferenz“ (ebenfalls Teil eines Familientrainingsprogramms).
Auch die Arbeiten der Analytikerin Alice Miller über die langfristigen Folgen von
Kindesmisshandlung und deren Verdrängung sind hier thematisch verwandt und fließen mehr oder weniger explizit in die Konzepte des „Positive Parentin“ ein.
Anmerkungen
1
Zu Arbeitsbedingungen von Referentinnen in der Erwachsenenbildung: schwieriger Beschäftigungsstatus, mangelnder Austausch, komplexes Kompetenzprofil, wenig Möglichkeiten zur Fortbildung,
manchmal schwierige räumliche und materielle Bedingungen bei den Veranstaltungen.
2
Konstante Fortbildungsgruppe, fächerübergreifende Themenbearbeitung, Qualifizierung nach den
Prinzipien der Frauenbildung, Praxisorientierung/Bezug zur Tagespflege, themenzentrierter Erfahrungsaustausch, wesentliches Wissen vermitteln, Theorie/Praxis/Reflexion/Selbsterfahrung in
ausgewogenem Verhältnis, ausgewogenes Verhältnis von Stoff und Zeit, Vielfalt partizipativer
Methoden, zugewandte ermöglichende Haltung der Referentin, angenehmer Rahmen, verständliche und ansprechende Materialien.
3
Auch das Projekt „Starke Eltern – starke Kinder“, das der Kinderschutzbund innerhalb der Kampagne des Bundesministeriums „Mehr Respekt vor Kindern“ zur Begleitung der Gesetzesänderung
anbietet, schöpft im weiteren Sinne aus dieser Quelle.
246
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4.3.4 Wege zur gewaltfreien Erziehung:
Vorstellung des Modellprojekts „Starke
Eltern – starke Kinder“
des Deutschen Kinderschutzbundes
Seit 1979, dem Internationalen Jahr des Kindes, setzt sich der Deutsche Kinderschutzbund für ein gesetzliches Verbot von Körperstrafen und anderen entwürdigenden Maßnahmen in der Familienerziehung ein.
Im Jahr 2000 war es endlich so weit: der Deutsche Bundestag verabschiedete die Änderung im Bürgerlichen Gesetzbuch. Der neue Text lautet: „Kinder haben ein Recht auf
gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere
entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig“ (§ 1631, Abs. 2 BGB).
Außerdem gibt es einen Zusatz im Kinder- und Jugendhilfegesetz, der soziale Dienste
verpflichtet, Eltern Wege aufzuzeigen, wie sie mit ihren Kindern gewaltfrei umgehen
können: „Sie sollen auch Wege aufzeigen, wie Konfliktsituationen in der Familie gewaltfrei gelöst werden können“ (§ 16 Abs. 1 KJHG).
Es kann davon ausgegangen werden, dass durch das eindeutige gesetzliche Verbot jeglicher Form von Gewalt – und seien es auch die „gut gemeinten Erziehungsschläge“, viele
Eltern in ihrem Erziehungsverhalten vorerst zusätzlich verunsichert werden. Denn für viele
Mütter und Väter besteht schon jetzt ein ungelöstes Spannungsfeld zwischen der
Grenzsetzung durch den bisher als legitim angesehenen „Klaps auf den Hintern“ oder
durch „gelegentliche Ohrfeigen“ einerseits und der oft verzweifelten Suche nach alternativen Erziehungsmethoden andererseits. Letztlich führen die Unsicherheiten der Erziehungsberechtigten im Erziehungsverhalten in vielen Familien zu vermehrten Konflikten.
Um dies präventiv aufzufangen und den Eltern mehr Sicherheit in der Erziehung zu
geben, wird es unerlässlich sein, auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene dafür
Sorge zu tragen, dass künftig mehr Gewicht auf die Elternbildung und -beratung gelegt
wird. Das bedeutet, dass den Müttern und Vätern alternative Erziehungsmethoden aufgezeigt werden müssen und die Vorbereitung auf die Erzieherrolle mit ihren Rechten
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IN DER
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247
und Pflichten besser als bisher erfolgen müsste. Eine Gesetzesänderung im Sinne eines
Verbots jeglicher Form von Gewalt muss, soll sie mittel- bis langfristig Einstellungs- und
Verhaltensänderungen zum Wohl des Kindes bewirken, durch breite Bekanntmachung,
Aufklärung und Unterstützung der Eltern begleitet werden.
Die Änderungen des § 1631 Abs. 2 BGB sollte auch durch Begleitprogramme unterstützt
werden. Diese müssen längerfristig angeboten und flächendeckend verbreitet werden.
Als geeignete Begleitprogramme kommen z.B. niedrigschwellig angelegte frühpräventive
Maßnahmen, Elternkurse (z.B. in Kindergärten und Schulen) sowie erweiterte Elternbildungs- und Beratungsangebote in Frage.
Eines dieser vom Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend geförderten Begleitmaßnahmen ist der Elternkurs „Starke Eltern – starke Kinder“.
1. Ziele, Inhalte und Anwendung
Die Grundlagen des Elternkurses wurden im finnischen Kinderschutzbund von dem damaligen Programmdirektor Toivo Rönkä entwickelt und in den 80er Jahren landesweit
praktisch in Kursform für Eltern durchgeführt. Die jetzige Kurskonzeption wurde auf
dieser Grundlage weiterentwickelt und im Aachener Kinderschutzbund in zahlreichen
Elternkursen mit Erfolg erprobt.
Ziel des Elternkurses ist es zum einen, die psychische und physische Gewalt in der Familie
durch Stärkung der Erziehungskomptenz der Eltern zu verhindern oder zumindest zu reduzieren und zum anderen die Rechte und Bedürfnisse der Kinder durch das Aufzeigen der
Mitsprache-, Mitbestimmungs- und Gestaltungsmöglichkeiten der Kinder in dem gemeinsamen Familiensystem – auch im Sinne der UN-Kinderrechtskonvention – zu stärken.
Um dies zu erreichen, soll das Selbstvertrauen der Eltern als Erzieher gefestigt und die
Kommunikation der Familie verbessert werden. Hierbei ist der Blick auf die vorhandenen
Ressourcen sowohl der Eltern als auch auf die der Kinder gerichtet, nicht auf die Defizite.
Die einzelnen inhaltlichen Schwerpunkte des Kurses werden von diesen beiden Zielkomponenten abgeleitet und an dem Leitbild des Erziehungsstils „anleitende Erziehung“ weiterentwickelt. Der anleitende Erziehungsstil ist weder „autoritär“ noch „anti-
248
F A C H TA G U N G E N
autoritär. Eltern sollen erfahren, wie sie ihre Erziehungsfunktion und Verantwortung
gemeinsam übernehmen können und wie sie ihre positive elterliche Autorität durchaus
ausüben dürfen, ohne auf körperliche Bestrafungen, auf seelische Verletzungen oder
auf sonstige entwürdigende Erziehungsmaßnahmen zurückgreifen zu müssen.
Die Auseinandersetzung mit den eigenen Wertvorstellungen, mit den Erziehungszielen,
mit den mehrgenerationalen Prämissen und Glaubenssätzen, die das Erziehungsverhalten
prägen und leiten, sind u.a. Inhalte des Kurses. Auch das Setzen und Begründen von
Grenzen sowie das Achten auf deren Einhaltung spielt eine wichtige Rolle in den Kursabenden.
Einen weiteren Schwerpunkt bilden die, die Entwicklung der Kinder prägenden beziehungsund erziehungsrelevanten Leitorientierungen, wie Fürsorglichkeit, Annahme, Anerkennung, Ermutigung, Vertrauen, gemeinsames Tun und Freud, die in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen behandelt werden.
Die Ressourcen der Eltern und Kinder und das Finden eigener Lösungswege aus den
Konfliktsituationen werden an Hand konkreter Beispiele analysiert und reflektiert. Hier
ist der Blick weder auf Vergangenheit, noch auf die Ursache-Wirkung-Schuld-Fragen, noch auf Defizite einzelner Familienmitglieder
gerichtet, sondern auf die Zukunft.
Die zentrale Frage lautet: Welcher
unmittelbare konkrete kleinstmögliche Schritt ist erforderlich,
um das eigene Verhalten in die
gewünschte Richtung zu verändern?
Zu Grunde liegt hier die Überzeugung, dass es einfacher ist, das Verhalten als die Einstellungen zu verändern. Die positiven Erfahrungen
auf der Verhaltensebene haben
eher die Chance, allmähliche Veränderungen auf der Einstellungsebene nach sich zu ziehen.
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TAGESPFLEGE
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2. Theorien und Methoden
Die Inhalte des Elternkurses sowie die Perspektive der Ressourcenorientierung basieren
auf zum Teil sehr verschiedenen Theoriepositionen. Systemtheoretische Ansätze, das
heißt die Betrachtung der Familie als System mit seinen familiären Subsystemen finden
ebenso Berücksichtigung, wie der kommunikationstheoretische Ansatz von Paul Watzlawick
sowie einige Inhalte der unterschiedlichen familientherapeutischen Schulen, z.B. S.
Minuchin, de Shazer. Aber auch Elemente der Individualpsychologie Alfred Adlers, einige verhaltens- oder gesprächstherapeutische Ansätze bilden den theoretischen Hintergrund.
In den Kursabenden wechselt Theorievermittlung mit Selbsterfahrung. Theoretische Inhalte werden in den Kursabenden als kurze Inputs mit Hilfe von Folien, Textmaterial
und mit Hilfe von „Mottos“ vorgestellt. Danach sollen die Teilnehmer/innen diese Inhalte in Kleingruppen mit ihren eigenen Erfahrungen in Verbindung setzen, um sie dann
bewusst in einem veränderten Verhalten mit den Partnern und Kinder während der nachfolgenden Wochen in Alltagssituationen auszuprobieren.
Durch den gruppendynamischen Prozess kann die Verarbeitung der Inhalte in einer angenehmen, zuweilen durch Humor und Spaß gekennzeichneten Atmosphäre vertieft und
die Reflexion über das eigene Verhalten intensiviert werden.
3. Anwendungsbereiche und Dauer der Kurse
Die Konzeption bietet eine praktische Arbeitsgrundlage gerade dort, wo es um das ABC
der Kommunikation in der Familie, um praktikable gewaltlose Erziehungs- und
Grenzsetzungsmethoden und mehr Sicherheit im Umgang miteinander geht. Man kann
das Konzept jedoch je nach Bedarf auch spezifizieren und an die Bedürfnisse der jeweiligen Zielgruppe wie z.B. Eltern der Kindergartenkinder, Grundschulkinder, an die Eltern
der Pubertierenden oder Adoleszenten anpassen.
Die Anwendung der Konzeption in der Arbeit mit Alleinerziehenden, mit Pflege- und
Adoptionsfamilien ist ebenfalls durch gezielte Schwerpunktsetzung denkbar. Darüber
hinaus können Teile des Kurses in modifizierter Form im Eltern-Kind-Gruppenbereich
oder für die Gestaltung von Elternabenden in Kindergärten oder Schulen genutzt wer-
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F A C H TA G U N G E N
den. Als weitere Einsatzbereiche sind u.a. Familienbildungs- und Beratungssituationen,
Schulen und Kindergärten denkbar.
Der Kurs umfasst acht bis zwölf Kurstermine, die jeweils zwei bis drei Stunden dauern.
Als günstig hat sich eine Gruppengröße zwischen zwölf und fünfzehn Teilnehmer/innen
erwiesen.
4. Multiplikatorenschulung
Für das Projekt „Starke Eltern – starke Kinder“ wurden im Jahr 2000 im Deutschen
Kinderschutzbund von den Landesverbänden Bayern, Nordrhein-Westfalen und Sachsen
Multiplikatoren geschult, die dann vor Ort, in den Orts- und Kreisverbänden des
Kinderschutzbundes die Elternkurse durchführen. Das Projekt wurde durch das Bundesministerium für Familie, Frauen, Senioren und Jugend unterstützt.
Weitere Zielgruppen der Multiplikatorenschulung wären Mitarbeiter/innen, Kursleiterinnen, Gruppenleiter/innen im Elternbildungs- und Familienhilfebereich und in den
Familien- und Erziehungsberatungsstellen.
Eine eingehende, zumindest dreitägige Schulung ist nötig, um erstens die zugrunde liegenden theoretischen Konzeptionen und Inhalte zu vermitteln und ihre praktische Umsetzung im gruppendynamischen Prozess zwischen Kursleiter/in und Eltern zu erarbeiten.
Ferner ist eine Schulung der Kursleiter/innen nötig, da der Wert und die Wirkung des Kurses wesentlich von der Haltung der Kursleitung abhängt. Sie soll durch Respekt, Vertrauen
und Anerkennung gegenüber den Eltern gekennzeichnet sein. Letztendlich hängt der Erfolg des Elternkurses wesentlich von der Fähigkeit der Kursleitung ab, die positiven Erziehungsleistungen und Ressourcen der Eltern hervorzuholen; diese müssen oft erst einmal
aufgespürt und bewusst gemacht werden, um sie zu stärken und weiter aufzubauen.
5. Aufbau der Schulung
Ausgehend von und analog zu den folgenden fünf Fragestellungen aus dem Elternkurs,
werden die Inhalte in der Multiplikatorenschulung jeweils zuerst theoretisch beleuchtet
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TAGESPFLEGE
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und dann auf der Basis gruppendynamischer und rollenspezifischer Prozesse eingeübt:
■ Welche Werte und Erziehungsziele haben wir in der Familie?
■ Wie kann ich das Selbstbewusstsein des Kindes unterstützen?
■ Wie kann ich meinem Kind bei seinen Schwierigkeiten helfen?
■ Wie drücke ich meine Bedürfnisse aus?
■ Wie lösen wir Probleme in der Familie?
Für die Vermittlungen der theoretischen Positionen wurden Arbeitspapiere entwickelt.
Wie in den Elternkursen ist auch in der Multiplikatorenschulung ein Prozess der Selbsterfahrung für die Teilnehmer/innen wichtig. Hierbei werden vor allem Kleingruppenübungen und Rollenspiele eingesetzt. Außerdem werden Verfahren vorgestellt, die bei
der Analyse der Entstehung von häufig auftretenden Erziehungsproblemen und deren
Lösungen behilflich sein können.
Die Teilnehmer/innen können nach Abschluss der Multiplikatorenschule ein Kurshandbuch
erwerben, in dem alle Materialien für die Kursabende zusammengestellt sind. Dies ermöglicht ihnen, den Elternkurs in ihrem Tätigkeitsbereich selbst durchzuführen.
252
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4.3.5 Hans Schmidt, Meinolf Hartmann
Männer- und Jungenarbeit des
Vereins Jedermann e.V. Heidelberg
Ziel: Jungen und jungen Männern Interpretationshilfen für das eigene Gewaltverhalten
zu bieten und es ihnen damit zu ermöglichen, verantwortungsvoller mit gegebener Aggression umzugehen.
Erster Tag: „Gewalt – (k)ein Thema für uns?“
08.40-09.25 h
■ Vorstellung des Vereins und des Inhalts der zwei Tage
■ Vorstellungsspiel: Gruppe läuft lose im Raum herum, Teamer
nennen Eigenschaften (Augenfarbe, Haarfarbe, Schuhgröße,
Geschwisterzahl), die Jungen gruppieren sich nach den Übereinstimmungen.
■ Gewaltlinie: Rote Klebebandlinie, eine Seite bedeutet: keine
Gewalt, die andere viel Gewalt, Zwischenwerte; Begriffe werden
genannt (Profiboxer, Faust auf Auge, Wichser, …), die Jungen
positionieren sich, wo sie den Begriff ansiedeln, Austausch über
die jeweilige Positionierung.
■ Wie kommt es zu Streit? (Arbeitsblatt)jeder Junge schreibt
einige Situationen auf, in denen es zu Gewalt kommt; jeder
stellt reihum eine Situation vor; Gespräch über die Situationen
(wie kam es zum Streit, wie eskalierte er, wie fühlte sich der
09.30-10.15 h
Junge dabei …).
■ Fortsetzung der Auswertung.
■ Vorbilder 1: Alle fünf Werbeclipszum Thema Gewalt in den
Medien werden angeschaut; Gespräch: Wie fandet ihr die Filme?
Welcher war am brutalsten? Welcher hat am meisten Angst
gemacht? Welcher war blöd?
10.30-11.15 h
■ Vorbiler 2: Theamtisierung: Was ist ein Idol, ein Vorbild? Nur der
„Idole“-Clip wird angeschaut;
Fragen: Kanntet ihr die Filme, die darin genannt werden? Wie
findet ihr die?
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IN DER
TAGESPFLEGE
253
■ Vorbilder 3: Die Vorbilder aus den Zeitschriften werden augehängt bzw. auf einen Tisch gelegt; jeder Junge bekommt das
Arbeitsblatt und trägt in der Mitte ein, wen er sich ausgesucht
hat (max. 3) und schreibt in die kleinen Kästchen am Rand des
Arbeitsblattes, welche Eigenschaften diese Person zum Vorbild
machen.
■ Vorbilder 4: Auswertung: Jeder stellt sein Idol und dessen
Eigenschaften vor. Auswertungsfragen: Was ist diesen Idolen
gemeinsam (vielleicht: nur Männer; hauptsächlich Sportler …)?
Warum gelten manche für viele als Symbol, manche für niemanden?
11.20-12.05 h
■ Mädchen/Jungen Quiz: zwei Gruppen; eine schreibt auf, was
Mädchen nicht können, die andere, was Jungen nicht können.
Drei Minuten Zeit, die Gruppe, die am meisten Punkte hat, erhält
einen Punkt. Zweite Runde: die Gruppen versuchen wechselseitig
zu beweisen, dass ein Punkt der anderen Gruppe nicht stimmt.
Wenn dies gelingt, wird dieser Punkt gestrichen; bei welcher
Gruppe die meisten übrigbleiben, bekommt einen Punkt.
■ Blitzlichtrunde zum Abschluss: Wie geht es mir? Wie hat mir der
Vormittag gefallen?
Zweiter Tag: „Grenzen wahrnehmen“
08.40-0 9.25 h ■ Blitzlichtrunde zum Einstieg: wie geht’s? Was erwarte ich vom
Vormittag heute?
■ Wir spielen Rollen (zum Thema Gefühle).
■ 1. Bewegung durch den Raum: wie ein Affe – wie ein Junge, der
eine gute Note geschrieben hat – wie ein Junge, der eine
schlechte Note geschrieben hat – Junge im Karatetraining – wie
ein alter Mann – wie eine alte Frau – Junge, der verliebt ist –
wie ein Schwuler.
■ 2. Auswertung: An welcher Stelle gab es einen Bruch? Dann:
jeder schreibt ein Gefühl pro Szene auf, ein Gefühl, das dargestellt wurde. Dann werden die Karteikarten entsprechend der
Szene sortiert - gibt es hier Unterschiede in der Wahrnehmung
der Gefühle? Danach werden die Karteikarten sortiert: gute
Gefühle/schlechte Gefühle. Leicht zu spielende Gefühle, schwer
zu spielende. Warum sind Gefühle so unterschiedlich? Wie
254
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drücken wir sie aus? Warum sind manche Gefühle schwerer
09.30-10.15 h
darstellbar?
■ Schimpfworte sammeln: jeder schreibt pro Karte ein Schimpfwort
auf (max. 5 Worte pro Junge). Wie können wir die Worte
sortieren? (Evtl. ergänzen; Vorschlag: witzige/verletzende/
diskrimini-erende/sexistische Schimpfworte) „Lernziel“ Gewalt
geht auch mit Worten …
10.30-11.15 h
11.15 h
11.20-12.05 h
■ Streitsituation in der Klasse; Rollenspiel, evtl. mit vertauschten
Rollen, filmen bzw. mit Kassettenrecorder aufnehmen.
■ Die Aufzeichnung wird angeschaut/-gehört: wie wird gestritten?
■ Wird hier Gewalt ausgeübt? Wie sind die Stimmen? Wie ist die
Körpersprache?
■ Gewaltskulptur und Antigewaltskulptur; aufstellen; polaroid
ablichten; anschauen und besprechen (Was war einfacher?
Welche Gefühle werden ausgedrückt? …)
■ Kriminalitätsquiz: zehn Fragen – zehn Punkte.
■ Feedback: Was war gut? Was schlecht? Noch mal? Zu welchem
Thema? Welches Thema hat euch gefehlt?
Dritter Tag: „Grenzen gestern – Grenzen heute“
08.40-12.05 h
Zwei alte Männer aus der Altentagesstätte werden über ihre
Kindheit, ihre Erziehung, ihren Schulalltag berichten. Im
Vordergrund steht die Vermittlung ihres Jungenbildes, späteren
Männerbildes, welches sich durch Krieg, Wiederaufbau, Weitergabe von Erfahrungen an ihre Kinder bestimmt. Es sollen für die
Älteren die Themen der Jungen in den vergangenen zwei Tagen
thematisiert werden. Was ist „Gewalt“ für die Alten, welche
Grenzen haben sie kennengelernt, was können sie den heutigen
Jungen weitergeben.
Für die Jungen in der Klasse: sie erzählen den „Alten“ über ihre
Erfahrung, hinterfragen, ob sie die gehörten Erfahrungen der
„Alten“ nachvollziehen können, ob sie grundlegend andere
machen, ob ihr Jungsein sich von dem der älteren Generation
unterscheidet und wenn ja, wo.
Ziel soll sein, einen integrativen Austausch zustande zu bringen, in
dem beide Generationen über sich lernen und verstehbar
machen.
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IN DER
TAGESPFLEGE
255
Empirisch konnten auf verbaler Art folgende „Bilder“ für Vorbilder, Wunscheigenschaften
und Schimpfworte dokumentiert werden:
Vorbilder
Kevin Nash; Dr. Der; Silvester Stallone; Santana; Tom Cruise; Tony Braxton; Wladimir
Klitschko; Reggie Miller; Indianer Jones; James Bond; Simpsons; Roger Wilco; Tomb
Raider; Bud Spencer; Michael Jordan; Jeff Goldblum; Mel Gibson; mein Vater; mein Bruder; meine zwei besten Freunde; Hans Oulivberg; Michael Schumacher; Borussia Dortmund; Herr Büttner; Jackie Chan; Flash; Green Latem; Pamela Anderson; Packo; Will
Smith; Hip Hop; Dynamite Deluxe; Massive Töne; Madonna; Rodman; Sammy Deluxe;
Game-Star-Team; Playboy 51.
Eigenschaften
richtig, cool, sexy, gute Basketballspieler, bester Wrestler, super, Rapper, cooler Basketballspieler, guter Gitarrenspieler, cooler Filmdarsteller, guter Schauspieler, jüngster und bester
Boxer, ist über 1,90 m, spricht russisch und deutsch, gewann gegen Ex-Boxer Axel Schulz,
verdient viel Geld, ist groß, ist verdammt stark, wohnt in Amerika (Westside), er ist
cool, kann gut Basketball spielen, cooles outfit, Held, Heldin, Weltraumpilot, Geheimagent, gute Stunts, sieht gut aus, Verhalten, Wortschatz, nett, schulische Leistungen,
schlau, alles wissend, sexy, schlank, intellligent, kann gute Tricks, kann gut kämpfen,
reich, Weltrekord, konkret geile Musik, konkrete Kiffer, Party, kiffen.
Schimpfworte
Schwanzlutscher, Bitch, Hure, Schlampe, du Sohn einer Wanderhure, Missgeburt,
Kaktusstreichler, Hurensohn, Fotze, Ameise mit Lupe Verbrenner, Warmduscher,
Pitbullzurücknehmer, Friten mit Senf Esser, Warmer, Weichei, Idiot, Hure, Arsch, Fuchsschwanz an Antenne Montierer, Wichser, Kanake, Schlampe, Narkose Ablehner, ins Feuer
Furzer, Arschloch, Mutterficker, Steckdosenbefruchter, Sadomasoschwein, fetter Sack …
Hexe, Gartenzwergzähler, Kampfhundestreichler, Zement mit der Hand Rührer, Fotze, …
Hurensohn, Gartenzwergkiller, Kaltduscher, Hooliganschubser, Schweinebums, Arschloch
… du Analpopler, Schwuchtel, Nigger, ins Feuer Furzer, Sonnebrille am Hinterkopf Träger, … Moorhuhn ins Knie Schiesser, Kettensägenjongleur, Stromkastenpinkler, Analbeule, … Brusthaarrasierer, Teletubbizurückwinker, Handy im Flugzeug Benutzer, Anton
aus Tirol-Mitsänger, Hooliganschubser, Inrichtungssitzer, Weichei, Foliengriller, Sauna
unten Sitzer, Fuchsschwanz an Antenne Montierer, Armduscher, Arschgeburt, Blödmann,
du schwule … Sau, Bordsteinnutte, Wichser, Nutte, Arschloch, Idiot, Schmalspurschleim-
256
F AC H TAG U N G E N
wichser, Hurenficker, Prostituierte, asiatische immergern Tussi, Penner, Wichser, Ausländer raus, … Flachland, Schlappschwanz, wär dein Schwanz ein Zentimeter größer, wärst
du der König, … ein Zentimeter kleiner, du die Königin, wenn deine Mutter 10 Pfennig
billiger gewesen wäre, … wär ich dein Vater, „sag deiner Mutter, sie soll nicht so viel
Lippenstift benutzen, dein … Schwanz sieht schon aus wie ein Regenbogen“, Kondomlutscher, Andi Möller Fan, Missgeburt, SWR 3 Hörer, Schlampe, Bastard, schwuler Pudel,
Hundesohn, Politessengrüsser, Warmduscher, Mutterstöpsler, Fotzenlecker, Hurensohn,
Hundebastard, du Sohn einer sibirischen Wanderhure, die Mutter hat keine Titten und
keinen Arsch, aber ein Fotze wie eine Garag, Bitch, du Pole, Däner, abgekochter Kotzbrocken, bastardischer Hurensohn, du behinderte, schwule Sau, Schweinepriester, dicker fetter Drecksack, Missgeburt, kick mich, … homosexueller Steckdosenbefruchter,
du Warmduscher, Hundesohn, Schleimspurenablutscher, Dortmund Sau, Teletubbiezurückwinker, Hure, Fotze, Schlampe, fette Schlampe, Sohn einer afrikanischen Wanderhure,
Arschloch, Penner, Fotze, Nutte, Hurensohn, Bitch, wenigstens hab ich Eltern, Hurensohn, Missgeburt, Schlampe, Hurenficker, Bastard, du Kanaldeckelvögler, wir wollen keine Bullenschweine, Brillenträger, Spast, Schweinearsch, Anan sikkem, Analhuster, behindertes Arschloch, Kinderficker, unzivilisiertes Arschloch, Schlampe, Hure, Hurensohn,
Back Street Boys, Hurentochter, Tussi ohne Titten, du abgelutschter Bambuswichser,
Bitch, Muschi, banan sikin, Schwanzlurch, Pimmel, Sesselfurzer, Orusbustustu, Fotze,
Nutte, Nutte, … Motherficker, Mutterficker, Motherficker, Motherficker, dein Muter sein
Gesicht, „Schlampe, Schlampe, Schlampe“, Hurenbock, Hundeficker, Ficker, Flaschensteckerin, Hure, Hurrsun, Bauer, arradini Sikim, amini Sikim, Pis Köpek, … Krustentiert, sibirischer Kanakenarsch, Schlappschwanz, Anan Baba Orusbu, Bitch, Shit … Nigger, Hurensohn, Psesvenk, Warmduscher, anasini salam, Sülaneni sikim, Tochter eines Schwulen,
behinderten Schwanzlutscher.
ZWISCHEN PRÄVENTION
4.4
UND
INTERVENTION
257
Zwischen Prävention und Intervention
Auswirkungen des „Rechtes auf gewaltfreie
Erziehung“ in Familien- und Jugendhilfe
12./13. Juni 2001 in Hildesheim
4.4.1 Lukas Rölli
Zusammenfassung
Die juristische Problematik des Gesetzes zur Ächtung von Gewalt in der Erziehung wurde
vom Kölner Familienrichter Joachim Fuß aufgezeigt. Er wies auf die unterschiedlichen
Tatbestandsdefinitionen im Zusammenhang mit Gewaltanwendung im Strafrecht und im
Familienrecht hin. Während sich das Strafrecht im wesentlichen auf Körperverletzung
und Nötigung beschränkt ist der Begriff des Schadens für das Kindeswohl im Familienrecht sehr viel weiter gefasst. Gegenüber der von Prof. Kai-D. Bussmann befürworteten
verstärkten strafrechtlichen Verfolgung auch von niedrigschwelliger familialer Gewalt
äußerte sich Fuß skeptisch. Spielräume sieht er in den Möglichkeiten von familiengerichtlichen Verfahren (Entzug der Personensorge nach § 1666 BGB), die jedoch klar von
strafrechtlichen Verfahren getrennt werden sollten. Für die Einleitung solcher Verfahren
spielt die Sensibilisierung von Institutionen außerhalb der Familie (Tagesstätte, Kindergarten, Grundschule, Kinderarzt, Polizei) eine entscheidende Rolle. Mitarbeiter/-innen
dieser Institutionen sollten eng mit dem Jugendamt als der Schaltstelle in Familiengerichtsverfahren zusammen arbeiten. In ihrer Aus- und Fortbildung müsste dem Thema
Gewaltprävention mehr Raum gegeben werden. Die dem Entzug der Personensorge vorangestellte Einzelfallbetreuung von Familien in den vom Kinder- und Jugendhilfegesetz
(KJHG) vorgesehenen unterschiedlichen Formen kann allerdings wegen der häufigen
Überlastung von Jugendämtern längst nicht in allen gewünschten Fällen realisiert werden. Aus diesem Grund warnte Herr Fuß davor, die Eindämmung familialer Gewalt in
erster Linie von den Gerichten zu erwarten. Für dringend erforderlich hält er jedoch eine
höhere Sensibilisierung aller Akteure im Umfeld von Familien- und Jugendhilfe.
Mit den Handlungsmöglichkeiten der freien und öffentlichen Jugendhilfe zur Prävention
von familialer Gewalt sowie mit den hierzu erforderlichen Kompetenzen und Ressourcen
258
F AC H TAG U N G E N
beschäftigte sich Klaus Münstermann, Honorarprofessor und Leiter des Votum-Verlages,
in seinem Referat. Er konstatierte, dass Jugendhilfe trotz der klar erkennbaren Bewusstseinsveränderung hin zu einem stärkeren Dienstleistungsverständnis ihrer Arbeit nach
wie vor stark in traditionellem Verwaltungsdenken von Zuständigkeiten, Verantwortungsdelegation und Abschottung gegenüber finanziellen Ansprüchen verharrt. Um sich vor
Arbeitsüberforderung zu schützen würde die Familien- und Jugendhilfe ihre Handlungsmöglichkeiten auch zu wenig offensiv in den gesellschaftlichen Diskurs über Gewaltprävention einbringen. Münstermann betonte, dass Präventions- und Interventionsmaßnahmen vermehrt in einer Hand miteinander verschränkt werden sollten, um zu
gewährleisten, dass Familien und Jugendliche, die bereits Unterstützung zur Lösung
ihrer Probleme erfahren haben, sich im Krisenfall dann auch an die entsprechende Stelle wenden. Den souveränen Umgang mit den institutionellen Netzwerken der Jugendhilfe, Mediationskompetenzen, Supervision und die Bereitschaft zu lebenslangem Lernen
bezeichnete er als wichtigste Anforderungen für die Akteure in der Familien- und Jugendhilfe.
Anhand zweier praktischer Beispiele wurden konkrete Handlungsmöglichkeiten von
Jugendhilfeinstitutionen vorgestellt. Doris Kahlert vom Jugendamt der Stadt Wolfsburg
beschrieb die vielseitigen Angebote ihrer Institution im Bereich der Hilfen zu Erziehung. Niedrigschwellige, aufsuchende Angebote in Kindertagesstätten, Kindergärten und
Schulen sowie gemeinsame Hilfeplankonferenzen von Jugend- und Gesundheitsamt haben sich hier bewährt. Sabine Triska aus Freiburg i.Br. stellte das Kriseninterventionsprogramm „Familie im Mittelpunkt“ vor, bei dem mit einem intensiven Einsatz auf dem
Höhepunkt von Familienkrisen versucht wird, durch ein Maßnahmenpaket mit Anlehnung an therapeutische Konzepte die Fremdunterbringung von Kindern zu vermeiden.
Wichtig für den Erfolg dieser Maßnahmen ist der reibungslose Übergang in eine weniger
engmaschige Nachfolgehilfe (z.B. sozialpädagogische Familienhilfe). Das Programm „Familie im Mittelpunkt“, das auf amerikanische Ansätze zurückgeht, setzt eine intensive
Qualifizierung der beteiligten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter voraus.
Im fachdidaktischen Teil der Veranstaltung wurden in Arbeitsgruppen Konzepte von
Fortbildungsveranstaltungen zum Umgang mit familialer Gewalt für Erzieher/-innen und
für Tagesmütter sowie Möglichkeiten zur Begleitung von Qualitätsentwicklungsprozessen
durch Bildungseinrichtungen vorgestellt und diskutiert. Die Teilnehmenden an der Fachtagung, die aus unterschiedlichsten Arbeitsbereichen der Familien- und Jugendhilfe
stammten, waren sich einig, dass der gesellschaftliche Diskurs über die Prävention von
ZWISCHEN PRÄVENTION
UND
INTERVENTION
259
familialer Gewalt nicht kurzfristig, sondern mittelfristig Wirkungen zeigen könne. Sie
forderten von allen Beteiligten auch eine verstärkte kritische Selbstreflexion, inwiefern
durch das eigene Handeln Gewalt auf Familien und Kinder ausgeübt werde, und eine
erhöhte Sensibilität für die Bedeutung von strukturellen Rahmenbedingungen, die das
Erziehungshandeln in Familien erschwerten. Die weite Verbreitung gewalttätiger Sanktionsformen in der familialen Erziehung sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die
allermeisten Eltern für ihre Kinder das Beste erreichen möchten. Familienhilfe und Familienpolitik muss deshalb trotz ihrer sehr beschränkten Mittel nicht in Resignation
verfallen, sondern sie kann bei dieser positiven Grundvoraussetzung ansetzen. Der politischen Bildung eröffnet die Sensibilisierung aller Akteure der Familien- und Jugendhilfe für die strukturellen Rahmenbedingungen und Handlungsmöglichkeiten zur Erleichterung von Erziehungshandeln in Familien ein weites Aufgabenfeld.
260
F A C H TA G U N G E N
4.4.2 Joachim Fuß, Familienrichter
Zwischen Prävention und Intervention
Das Recht auf gewaltfreie Erziehung –
Grundlagen einer rechtlichen Norm und deren
Auswirkungen auf Familien- und Jugendhilfe
1. Bestandsaufnahme
1.1 Gewalt und Aggressionen in Staat und Gesellschaft
Gewalt und Aggressionen prägen den Alltag. Es bereitet bisweilen große Mühe, das so
genannte Gewaltmonopol des Staates auch nur halbwegs zu sichern.
Gewalt und Aggressionen spielen in Familien und Gesellschaft, im privaten und im öffentlichen Bereich eine große Rolle. Die Palette reicht von ihre Kinder prügelnden und
sie vernachlässigenden Eltern, Gewalt in der Familie gegenüber älteren Familienmitgliedern, über tätliche Auseinandersetzungen in Kindergärten, Horten und Schulen, Gewalt
im Straßenverkehr, insbesondere auch in öffentlichen Verkehrsmitteln, Mobbing am Arbeitsplatz, umfangreiche und massive Auseinandersetzungen im
Zusammenhang mit
Sportveranstaltungen
und politischen Demonstrationen bis hin
zur Darstellung voll
Gewalt und Aggressionen in den Medien.
Es liegt auf der Hand,
das es für diese Entwicklung vielfältige
Ursachen gibt. Eine
ZWISCHEN PRÄVENTION
UND
INTERVENTION
261
der Ursachen ist mit Sicherheit die Anwendung von Gewalt und Aggressionen gegenüber
Kindern im Rahmen der Erziehung.
1.2 Vom Züchtigungsrecht der Erziehungsberechtigten über das Verbot entwürdigender Erziehungsmaßnahmen, insbesondere körperlicher und seelischer Misshandlungen bis hin zum Recht der Kinder auf gewaltfreie
Erziehung
Das Züchtigungsrecht von Erziehungsberechtigten und Lehrern war in der Gesellschaft
tief verwurzelt; es gab wohl immer wieder Bemühungen, von diesen tradierten Vorstellungen weg zu kommen, andererseits gab es auch immer wieder Rückfälle in die alten
Muster. Diese haben sich schon in der Formulierung des Rechtsinstituts der „elterlichen
Gewalt“ niedergeschlagen, die sich erst recht spät zur „elterlichen Sorge“ wandelte. Der
Weg vom Verbot strafbarer Handlungen – körperliche und seelische Misshandlungen –
bis zur Betonung der Menschenwürde des Kindes war ebenfalls lang und dornenreich.
2. Rechtliche Einordnung der Neufassung des § 1631 BGB
2.1 Der verfassungs- und völkerrechtliche Kontext der Neuformulierungen
von § 1631 b Abs. 2 BGB
Mit der Neufassung des § 1631 b Abs. 2 BGB ist – nach längerer Zeit – den Anforderungen der Artikel 16, 19, 29 der UN-Konvention über die Rechte des Kindes vom 20.11.1989
genüge getan.
Die Übereinstimmung der neu geschaffenen Norm mit Artikel 1 und 2 Grundgesetz ist
offenkundig. Darüber hinaus gibt es auch keine Widersprüche mit den Gedanken des
Artikel 6 Grundgesetz. Zwar berechtigt das staatliche Wächteramt nach Artikel 6 Abs. 2
Grundgesetz nicht dazu, von Amts wegen für eine optimale Erziehung von Kindern zu
sorgen; der Staat muss sich vielmehr darauf beschränken, eine „pessimale“ Erziehung
durch die Eltern ggf. zu verhindern, im übrigen aber das Primat der Interpretation des
Kindeswohls durch die Eltern grundsätzlich respektieren.
Der den Eltern insoweit zustehende Beurteilungsspielraum ist erst bei krassem und offensichtlichem Widerspruch einer Erziehungsmaßnahme zum Kindeswohl überschritten.
262
F AC H TAG U N G E N
Der Staat hat nur eine begrenzte Missbrauchskontrolle und zwar bei schlechthin
unvertretbarem, nicht mehr diskutablem Erziehungsstil.
Ob elterliche Züchtigungen in diesen Kontrollbereich gehören ist fraglich, da über 60 %
aller Eltern noch 1994 einräumten, in ihrem Erziehungsverhalten gelegentlich Ohrfeigen
einzusetzen und sich ca. 20 % aller Eltern zu einer gelegentlichen Tracht Prügel bekannten.
Liegt hier nun ein Missbrauch des Erziehungsrechtes vor oder missbraucht der Staat sein
Wächteramt, indem er Ohrfeigen unter Strafe stellt und sie zu einem Massendelikt erhebt? In Teilen des verfassungsrechtlichen Schrifttums wird das elterliche Züchtigungsrecht als zwar eingeschränkter, aber durch einfaches Gesetz nicht völlig aufhebbarer
Einfluss des Elternrechtes angesehen (vgl. von Mangoldt Kleinstarck, Das Bonner Grundgesetz Bd. 1, 3. Aufl. 1985, Art. 2 Randziffer 163).
Dieser Auffassung ist im Hinblick auf die gesellschaftlichen Wandlungen, das veränderte Erziehungsverständnis und die Vorgaben in der UN-Konvention über die Rechte
des Kindes nicht zu folgen (vgl. insoweit die gegenteilige Auffassung von Münch/
Kunick/Coester/Wandjen, Art. 6 Randziffer 65). Es ist im übrigen davon auszugehen,
dass die in dem von Mangoldt u. a. herausgegebenen Kommentar zum Grundgesetz
vertretene Auffassung bei Überprüfung aus heutiger Sicht im Zweifel aufgegeben würde. Im übrigen kann die Würdigung, ob eine entwürdigende Erziehungsmaßnahme
bzw. ein Verstoß gegen das Gebot der gewaltfreien Erziehung vorliegt, jeweils nur im
Einzelfall erfolgen; die entsprechenden Kriterien werden weiter unten im einzelnen
abgehandelt werden.
2.2 Der strafrechtliche Kontext
Die Verzahlung bzw. das Nebeneinander von Zivilrecht und Strafrecht haben sich durch
die Neufassung des Gesetzes geändert. Als strafrechtlicher Rechtfertigungsgrund war
das Züchtigungsrecht im Hinblick auf üble, erhebliche Beeinträchtigungen des körperlichen Wohlbefindens (Misshandlungen) bereits durch die Neufassung des Gesetzes zum
1. Juli 1998 weggefallen.
Die ab dem 1. Januar 2001 geltende Neufassung erweitert die verbotenen Erziehungsmaßnahmen auf körperliche Bestrafungen und seelische Verletzungen. Solche Handlun-
ZWISCHEN PRÄVENTION
UND
INTERVENTION
263
gen, soweit sie nicht absolut geringfügig sind, dürften künftig auch als strafrechtlich
relevant anzusehen sein (vgl. zu diesem Gesamtkomplex Hoyer: Im Strafrecht nichts
Neues? Zur strafrechtlichen Bedeutung der Neufassung des § 1631 Abs. 2 BGB, FAMRZ
2001,521 ff),
Außerdem gibt es bei der strafrechtlichen Würdigung Unterschiede zwischen Körperverletzung einerseits und Gewalt andererseits. Nach der Definition des Zivilrechtsgesetzgebers
bedeutet das Postulat der gewaltfreien Erziehung, dass auf jede Art von körperlicher
Bestrafung oder seelischer Verletzung zu verzichten ist, während im Strafrecht psychisch-seelische (fühlbare) Verletzungen allein das Tatbestandsmerkmal „Gewalt“ nicht
erfüllen, wobei der mehrtägige Hausarrest straffrei wäre und die – maßvolle – Ohrfeige
zu strafrechtlichen Sanktionen führen könnte. Diesem unerwünschten Ergebnis ist durch
eine sinnvolle Definition des Begriffes Erziehung im Rahmen der Ausgestaltung und der
Anwendung der neuen Vorschrift des § 1631 b Abs. 2 BGB Rechnung zu tragen.
3. Die Ausgestaltung des § 1631 b Abs. 2 BGB
3.1 Erziehung
3.1.1 Ziele
Heranbildung von Menschen, die selbständig, angstfrei und verantwortungsbewusst in
Staat und Gesellschaft leben können, ihre Begabungen und Ressourcen einbringen und
nutzen können, sich selbst und anderen möglichst wenig zur Last fallen, die die Grundfähigkeit erhalten, glücklich zu werden.
3.1.2 Mittel der Erziehung
Die Rechtsordnung ist – auch im Hinblick auf Art. 6 Grundgesetz – nicht befugt,
insoweit detaillierte Anordnungen zu treffen. Sie kann insoweit nur einen Rahmen
liefern. Besonderer Wert ist dabei auf die Menschenwürde zu legen, deren Kinder in
vollem Umfang oder besser – im Hinblick auf ihre Schutzbedürftigkeit – im besonderen Maße teilhaftig sind. Die Wahrung der Menschenwürde ist demnach der umfassende Gedanke der Kindererziehung, die Gewaltfreiheit ist ein – wenn auch substanzieller
– Teilaspekt.
264
F AC H TAG U N G E N
Aus diesem Grunde greifen alle Überlegungen, die Grenzen zulässiger Erziehungsmittel
im wesentlichen mittels strafrechtlicher Normen (Körperverletzung, Freiheitsberaubung
und anderes) zu bestimmen, eindeutig zu kurz.
Es ist vielmehr auf die Bandbreite entwürdigender, die Würde des Kindes verletzender
Erziehungsmaßnahmen abzustellen. Andererseits ist Erziehung nicht ohne Regeln und
auch nicht ohne Sanktionen gegen bestimmte Verhaltensweisen des Kindes zu leisten. In
Teilbereichen müssen die Erziehungsberechtigten in der Lage sein, Maßnahmen zu treffen, die den äußeren Tatbestand von Strafnormen (Freiheitsberaubung, Stubenarrest, Ausgehverbot, zeitliches Befristen des erlaubten Ausgehens) erfüllen mögen. Bei allen im
Einzelfalle ergriffenen Maßnahmen dürfte es im besonderen Maße auf das Verhältnis von
Anlass und angestrebtem Ziel der angewandten Erziehungsmaßnahmen einerseits und der
genauen Beschaffenheit der Erziehungsmaßnahmen andererseits ankommen.
Bei angemessener und vernünftiger Auslegung sind mit der vollzogenen Reform diese
Ziele zu erreichen; einerseits sind alle entwürdigenden Erziehungsmaßnahmen tunlichst
zu vermeiden, andererseits müssen die Erziehungsberechtigten in der Lage bleiben,
Fehlverhalten durch korrigierende Maßnahmen zu steuern.
Es bleibt Aufgabe der Eltern und der übrigen Erziehungsberechtigten, Regeln und Spielregeln aufzustellen und für Verstöße hiergegen entsprechende Sanktionen anzukündigen und dann auch auszuführen. Soweit dabei die Verhältnismäßigkeit zwischen Anlass
und Maßnahme Art und Schwere des Regelverstoßes und Alter des Kindes hinreichend
berücksichtigt werden, bewegen sich solche Sanktionen im Rahmen des neugefassten
§ 1631 b Abs. 2 BGB.
Generell wird man Erziehungsberechtigten sagen können, dass die Verhinderung von
selbst schädigenden oder selbst gefährdeten Verhaltensweisen des Kindes objektiv dem
Kindeswohl ebenso entspricht wie Maßnahmen zum Schutz von Rechtsgütern Dritter
und das veranlassen des Kindes zu gesetzmäßigem Verhalten. So können z. B. Eltern mit
Sicherheit das Zusammentreffen des Kindes mit Spiel- und Sportkameraden, die regelmäßig strafbare Handlungen begehen, verbieten, wie sie auch die Teilnahme an Festen,
die regelmäßig mit intensivem Alkoholgenuss verbunden sind, unterbinden können.
Einzelne Maßnahmen und ihre rechtliche Bewertung
■ Leichte Ohrfeige, leichter Klaps: aus gegebenen Anlass ohne das diese Maßnahme zur
ZWISCHEN PRÄVENTION
UND
INTERVENTION
265
Regel wird nach vorheriger genereller Erläuterung, dass ein bestimmtes Verhalten
derart sanktioniert werden könne und müsse, noch hinnehmbar, wie auch bei Handlungen der Eltern im Affekt, soweit keine gesundheitlichen Beeinträchtigungen damit verbunden sind.
■ Echte Tracht Prügel: unter keinen Umständen hinzunehmende Maßnahme der Erziehung.
■ Stubenarrest: in Fällen von Beeinträchtigungen des Kindeswohles im oben erläuterten Sinne und nach entsprechender Ankündigung bzw. Vorwarnung für einige Stunden in bestimmten Fällen als Erziehungsmittel zulässig; bei schweren Regelverstößen
auch tageweise denkbar; darüber hinausgehende Stubenarreste dürften im Zweifel
unzulässig sein.
■ Zeitliche Begrenzung der Ausgehzeiten und Festlegen der Nachtruhezeiten: je nach
Alter des Kindes, Gesundheitszustand des Kindes in Verbindung mit der Zulassung
von Ausnahmen als Erziehungsmaßnahme zulässig.
■ Kürzung bzw. Streichung von Taschengeld: insbesondere bei der Wiedergutmachung
von Schäden, die das Kind angerichtet hat, als sinnvolle Maßnahme anzusehen, als
Sanktionen gegen andere Regelverstöße problematisch und im Zweifel unzulässig.
■ Reduzierung und Verbot von Fernsehen: erscheint nur in Ausnahmefällen als geeignete Erziehungsmaßnahme.
■ Beschimpfungen sollten grundsätzlich unterlassen werden: die Benutzung von Ausdrücken wie „Schwein“, „Drecksack“ und falsche Vergleiche („Verbrecher“) sind im
Zweifel als entwürdigende Erziehungsmaßnahmen anzusehen; dies gilt besonders in
Beisein von Dritten und in Verbindung mit der ausführlichen Darstellung vom angeblichen Fehlverhalten.
■ Das Heruntermachen, das Kleinmachen von Kindern ist ebenso unzulässig wie das
bewusste Übersehen und Übergehen in der Familie.
4. Durchführung von Ermittlungs- und Strafverfahren im Falle von
Verstößen gegen das Verbot der gewaltfreien Erziehung und das
Verbot von entwürdigenden Erziehungsmaßnahmen
Generell erscheinen die Einleitung und insbesondere die weite Durchführung solcher
Verfahren nur in schwerwiegenden Fällen geboten und sinnvoll. Dies ist beispielweise
in Fällen schwerer Körperverletzung oder in Fällen des sexuellen Missbrauchs gegeben.
266
F AC H TAG U N G E N
Im übrigen ist die starke Belastung der Familie zu berücksichtigen. Dabei ist sowohl die
Belastung des Ehepartners (des anderen Eheteils) als auch der mit solchen Verfahren
verbundene Druck auf die Kinder gemeint. Die Kinder stehen in solchen Verfahren vor
der Frage, ob die Aussage verweigert wird oder die Aussage gemacht wird. Auch wenn für
diese Frage ein Ergänzungspfleger bestellt wird, stellt allein die Befassung mit dieser
Frage eine erhebliche Belastung für die Kinder dar, die auch lange zeit nach Einstellung
bzw. Beendigung solcher Verfahren fortwirkt und auf Dauer die Familie belasten, wenn
nicht gar völlig auseinander bringen kann.
Auch der Hinweis von Bussmann in seiner Dissertation (vgl. Bussmann, Verbot familiärer Gewalt gegen Kinder, Köln 2000, Seite 447) auf die Möglichkeit der Einstellung
solcher Ermittlungsverfahren bzw. Strafverfahren gem. § 153 a StPO in Verbindung mit
einer Beratungsauflage überzeugt nicht. Zum einen ist die gesamte Stimmung in der
Familie bereits sehr belastet; außerdem sind die Erfolgsaussichten von Beratung – bei
aller generellen Wertschätzung von Beratungen – in solchen Fällen nicht hoch anzusetzen. Zum einen wird die Beratung im Zweifel nur zögerlich, ohne hinreichende Überzeugung und lediglich unter dem Druck des Straf- bzw. Ermittlungsverfahrens aufgenommen, zum anderen erscheint dieser Umstand als äußerst hinderlich für eine engagierte
Tätigkeit von Beraterinnen und Beratern.
Generell ist im Zusammenhang mit familiengerichtlichen Verfahren (Sorgerecht, Umgangsrecht, Entzug der elterlichen Sorge nach § 1666 BGB) die Durchführung von Strafverfahren nicht sehr relevant. Ein Nebeneinander von familiengerichtlichen Verfahren
und Strafverfahren ist generell nicht sachdienlich.
Gegebenenfalls ist das familiengerichtliche Verfahren auszusetzen bis das Strafverfahren abgeschlossen ist. In vielen Fällen erscheint es sinnvoll, durch Einholung gutachterlicher Stellungnahmen den Sachverhalt hinreichend zu klären und dann im familiengerichtlichen Verfahren zu entscheiden, ohne dass es eines Strafverfahrens bedürfte.
Die Abläufe und Zielrichtungen des familiengerichtlichen Verfahrens einerseits und des
Strafverfahrens andererseits sind so unterschiedlich, dass eine parallele Durchführung
beider Verfahren nicht nur kompliziert, sondern unter Umständen auch kontraproduktiv
ist.
An der gedanklichen Verzahnung des Familienrechts und des Strafrechts in diesem Kon-
ZWISCHEN PRÄVENTION
UND
INTERVENTION
267
text kommt man nicht vorbei; es sollte aber alles getan werden, sich in aller Regel
primär oder gar ausschließlich auf das familiengerichtliche Verfahren zu konzentrieren.
Zwecks Information und Fortbildung sollten – soweit nicht bereits geschehen – Netzwerke der verschiedenen mit der Problematik befassten Institutionen und Professionen
geschaffen werden.
5. Familienrechtliche und Jugendhilferechtliche Konsequenzen von
Verstößen gegen das Gebot der gewaltfreien Erziehung bzw. das
Verbot entwürdigender Erziehungsmaßnahmen
Für das Jugendamt ist zunächst die Aufklärung des Sachverhaltes durch Anhörung der
Beteiligten, in fast allen Fällen auch durch Hausbesuche erforderlich; dabei sind tunlichst
die Ursachen für die Verstöße gegen § 1631 b Abs. 2 BGB zu ermitteln. Je nach den
herausgefundenen Ursachen (extrem schwierige Kinder, Schulprobleme, Gesundheitsbeeinträchtigungen der Eltern und der Kinder, Probleme mit Alkohol und anderen Drogen, finanzielle, wirtschaftliche Probleme und auch Paarprobleme der Eltern) sind gezielte
spezifische Beratungsangebote zu machen, die Annahme und Durchführung der Beratung einzuleiten, zu fördern und sicherzustellen. Die jeweils spezifische Beratung ist
durch begleitende Gespräche seitens des Jugendamtes zu unterstützen.
Falls sich eine Besserung der Situation nicht einstellt, da die beratenden Gespräche nicht
ausreichen, ist gegebenenfalls eine sozialpädagogische Einzelfallhilfe zu installieren.
Wenn auch diese nicht greifen sollte z.B. weil die Eltern sie ablehnen oder sie faktisch
boykottieren, ist ein Verfahren gemäß § 1666 BGB einzuleiten. Dieses Verfahren ist
dann seitens des Jugendamtes und des Familiengerichts in der gebotenen Zielstrebigkeit zu betreiben, wobei der Schwerpunkt auf einer Besserung der Situation durch Hilfen liegt. Falls die Hilfen nicht angenommen werden, muss aber auch eine andere Lösung, etwa in Form der Herausnahme der Kinder aus dem Haushalt der Eltern – und sei
es auch nur vorübergehend – mit der gebotenen Dringlichkeit eingeleitet werden.
Soweit Verstöße gegen § 1631 b Abs. 2 BGB in der Person des umgangsberechtigten
Elternteils vorliegen, ist die Situation ebenfalls in Schritten anzugehen. Ausgangspunkt
ist hier, dass es im Zweifel Kontakte zu geben hat. Diese müssten gegebenenfalls –
268
F AC H TAG U N G E N
jedenfalls vorübergehend – in begleiteter Form stattfinden. Außerdem hat hier die Beratung ihren Stellenwert. Soweit es darüber hinaus gehende Probleme gibt, insbesondere
auch in der Person des anderen Elternteils, müssen gegebenenfalls auch die Möglichkeiten der Mediation genutzt werden, um Umgangskontakte auf eine relativ sichere und
verlässliche Basis zu stellen.
Präventive Arbeit ist für alle Eltern einschließlich der Adoptiv- und Pflegeeltern geboten. In der Vorbereitung auf die Wahrnehmung dieser Aufgaben hat auch die Darstellung der Neuregelung des § 1631 b Abs. 2 BGB ihren Platz. Darüber hinaus sollten
Adoptiv- und Pflegeeltern auch fortlaufende Begleitung erfahren, in deren Rahmen auch
diese Problematik angesprochen wird und zwar generell, nicht erst aus gegebenen Anlass. Nur so kann die neu geschaffene Norm mit Leben erfüllt werden.
Grundsätzlich gilt dies auch bei Verdacht des sexuellen Missbrauchs mit entsprechendem konkreten Vortrag und gewissen objektiven Anhaltspunkten. Eine schnelle Absprache über die Einholung eines psychologischen Sachverständigengutachtens in Verbindung mit der Aussetzung des Umgangsrechts ohne irgendein Schuldeingeständnis erscheint für das Kindeswohl besser geeignet als die gleichzeitige Einleitung eines Strafverfahrens durch eine Strafanzeige. Dies setzt eine zügige Begutachtung voraus, vor
allem eine schnelle Exploration der Kinder und die sorgfältige Auswahl des Sachverständigen (Spezialisierung und entsprechende Supervision) und sachdienliche Absprachen
zwischen Gutachter und Gericht. So können z.B. ggf. nach den ersten Explorationen
durch den Sachverständigen Umgangskontakte – ggf. in geschützter Form – wieder stattfinden. Sofern Anhaltspunkte für massiven Missbrauch bestehen und mehrere Kinder –
auch außerhalb der Familie – betroffen sind bzw. ein Beruf zur Ausübung des Missbrauchs genutzt wird, ist die sofortige Erstattung einer Strafanzeige geboten.
Im übrigen sollte die Änderung des § 1631 b BGB nicht genutzt werden, problematische
Familienverhältnisse zu kriminalisieren. Auch jede Dramatisierung sollte unterbleiben.
Menschen, die als Nachbarn – häufig wenig kinder- und familienfreundlich – nichts
besseres zu tun haben, als ständig Familien im Blick zu halten und überall schlimme
Dinge zu berichten, sollten kritisch angehört werden und ggf. auf die Problematik bzw.
Unzulässigkeit ihres Tuns (falsche Angaben, große Übertreibung) hingewiesen werden.
Andererseits ist die frühzeitige Erkennung von Verstößen gegen das Gebot der gewalt-
ZWISCHEN PRÄVENTION
UND
INTERVENTION
269
freien Erziehung von Kindern eine entscheidende Voraussetzung zur Besserung der Verhältnisse. Dabei sollten alle Berufsgruppen, die mit Kindern zu tun haben, auf Symptome achten, die Folgen von Gewalt bzw. entwürdigenden Erziehungsmaßnahmen sein
können. Es sind hier zu nennen: Erzieher/innen in Kindergärten und Horten, Lehrer/
innen, Arzte/innen als Hausärzte, Schulärzte, Krankenhausärzte, Mitarbeiter des schulpsychologischen Dienstes, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Jugendamtes und von
Familien- und Erziehungsberatungsstellen. Diese Berufsgruppen werden zu einem großen Teil der Wahrnehmungsaufgabe gerecht und geben auch ihre Wahrnehmungen an
andere Stellen weiter, versuchen ihre Wahrnehmungen zu würdigen und überdenken
mögliche Konsequenzen. Andere sind recht gedankenlos und wieder andere scheuen
jede Art von Engagement in diese Richtung. Andere schließlich übersehen diese Symptome bewusst oder verharmlosen sie oder begnügen sich mit offensichtlich abwegigen
Erklärungen.
Besonders problematisch erscheint in diesem Kontext das Verhalten vieler Ärzte, die eindeutige Symptome von Misshandlungen wahrnehmen, gleichwohl nicht handeln, oder
massive psychische Störungen feststellen, aber den Ursachen nicht nachgehen. Hier ist
Aufklärung und Bildungsarbeit angesagt, die sinnvollerweise mit dem gebotenen Nachdruck über Ärztekammern eingeleitet werden sollten. Die Reaktionen von Lehrern sind
deutlich positiver. Aber auch hier gibt es noch Handlungsbedarf, weil Lehrern sehrhäufig
die Systeme von Beratung und Hilfe – auch vor Ort – nicht hinreichend bekannt sind.
6. Möglichkeiten von Hilfe und Beratung
Es steht außer Zweifel, dass man nicht alle Eltern zu Fortbildungsveranstaltungen mit
dem Thema der gewaltfreien Erziehung bekommen wird.
Es ist zwar richtig, dass Beratungen – insbesondere nach den gesetzlichen Änderungen
der letzten Jahre – ein ganz wesentlicher Faktor der Jugendhilfe Arbeit sind. Die Träger
und Mitarbeiter von Beratungsstellen und von Bildungswerken müssen sich aber mit
zwei Entwicklungen vertraut machen:
■ Immer mehr Menschen erweisen sich als beratungsresistent, so dass auch fachlich
gute Beratungs- und Bildungsangebote nicht greifen.
■ Immer mehr Menschen blockieren mit allen Mitteln eine sinnvolle Beratungssituation,
wobei sie zunächst Gesprächstermine immer wieder kurzfristig absagen. Wenn dann
270
F AC H TAG U N G E N
schließlich ein solches Gespräch zustande kam, nicht bereit sind, sich auch nur ein
wenig zuöffnen, sondern ausschließlich gebetsmühlenartig ihre Einwendungen gegen den anderen Elternteil, gegen das Jugendamt, gegen das Gericht, gegen die
Beratungsstelle und Beratung überhaupt wiederholen.
Im Hinblick auf diese Problematik muss die Öffentlichkeitsarbeit von Bildungswerken
und Beratungsstellen in den Medien deutlich verbessert und intensiviert werden.
7. Zusammenfassung
Die Vorschrift des § 1631 b Abs. 2 BGB ist – wie sich aus den bisherigen Ausführungen
ergibt – keine Norm mit bloßem Appellcharakter, sondern, durchaus eine Norm, deren
richtige Anwendung Konsequenzen für die geschädigten und betroffenen Kinder hat,
eine deutliche Besserung für die Kinder leisten kann und insgesamt die Situation der
ganzen Familie wesentlich zum Besseren wenden kann.
Andererseits verbessert sich naturgemäß nicht durch Schaffung einer Vorschrift über
Nacht die Welt zum Besseren. Es steht ein langsamer durchaus schwieriger Prozess bevor, der aber zu Bewusstseinsänderungen und damit auch zu substanziellen Fortschritten für die betroffenen Kinder führen kann.
Dies setzt eine intensive Ausbildung und Fortbildung der beteiligten Professionen ebenso
voraus, wie verstärkte Informations- und Bildungsangebote für die Eltern. Dabei muss
im besonderen Maße deutlich werden, dass die Eltern bei Anwendung guter Erziehungsmethoden die Elemente von Gewalt und Erniedrigung nicht benötigen. Darüber hinaus
muss ein qualifiziertes, plurales Beratungsangebot in größeren Umfang als bisher vorgehalten werden. Ferner muss das Thema der gewaltfreien Erziehung auch in den Ausbildungsplänen der einschlägigen Berufe einen herausragenden Stellenwert bekommen.
ZWISCHEN PRÄVENTION
UND
INTERVENTION
271
4.4.3 Klaus Münstermann
Gewaltfreie Konfliktlösungen fördern,
Gewalt verhindern
Handlungsmöglichkeiten und notwendige
Kompetenzen sowie Ressourcen der freien und
öffentlichen Familien- und Jugendhilfe
1.
Die Jugendhilfe reduziert mit großer Dynamik ihren Eingriffcharakter hin zu einem Dienstleistungsverständnis, aber sie verharrt noch zu sehr in traditionellem
Verwaltungsdenken von Zuständigkeiten, Verantwortungsdelegation und Abschottung gegenüber finanziellen Ansprüchen usw.
2.
Prävention ist die traditionelle Polarität der Jugendhilfe, die sich konzeptionell
in der Zukunft auflöst.
Interventionen (strukturelle und individuelle) sind dann wirksam, wenn sie bezogen sind auf die Prävention (strukturell und individuell) und umgekehrt.
Die Lebens- und Alltagsorientierung verbindet die Polarität von Schutz und Förderung. Konkret: Die Kinder und Jugendlichen erfahren in ihrem Sozialraum, in
ihren Anliegen und Bedürfnissen förderliche Hilfestellungen und erhalten dadurch
Zugang zu niedrigschwelligen Krisenangeboten.
3.
Gewaltfreie Konfliktlösung bedeutet für die Jugendhilfe (gleichzeitig Familienhilfe) u.a.
■ mit dem Spannungsfeld von Kindeswohl und Kindeswille professionell umzugehen;
■ Mediationskompetenz (auch Deeskalationstraining) als Standartqualifikation;
■ Hilfeplanung für die nachhaltige Konfliktlösung zu nutzen;
272
F AC H TAG U N G E N
■ souverän mit dem individuellen Netzwerk umgehen zu können;
■ Suprvision, Fort- und Weiterbildung als lebenslangen Lernprozress zu sehen.
■ Supervision, Fort- und Weiterbildung als lebenslangen Lernprozess zu sehen.
4.
Gewalt verhindern – diese Programmatik gilt für die Jugendlichen nach innen
und außen. Die modernen Themen (QM, Evaluation usw.) sind auf dieses Tabu zu
beziehen.
5.
Die personellen und räumlichen Ressourcen der Jugendhilfe sowie der sozialpädagogischen Aus-, Fort- und Weiterbildungseinrichtungen sind (im Interesse des
Schutzes der Akteure vor Überforderung) weitgehend unbekannt und ungenutzt.
6.
Von der Fachkompetenz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Jugendhilfe
kann eingebracht/genutzt werden:
■ Sozialpädagogisches Fallverstehen/sozialpädagogische Diagnose
■ Kinder- und Jugendberatung
■ Jugendhilfeplanung
■ Transfer Therapie-Alltag
■ Krisenmanagement
■ Täter-Opfer-Ausgleich
■ Jugendgerechte Lebensräume
7.
Menschenbildung ist das Ziel, Experten sind nur die (hoffentlich) kundigeren
Begleiter durch die komplizierte Welt und das ohne Führungsanspruch.
Familie als prägende Instanz von
Wertorientierung
„Was ist los, wenn ich wild
werde?“
„Gewaltfreie Erziehung in der
Tagespflege“
Jugend – Gewalt – Familie
Gewalt in der Erziehung
„Starke Kinder – Starke Eltern“
Seminar-Bausteine
273
274
5.1
SEMINAR-BAUSTEINE
Dagmar und Bernward Bickmann
„Wo, bitte, geht’s denn lang wo ich hin
will?“ (Karl Valentin)
Familie als prägende Instanz von
Wertorientierungen im gesellschaftlichen
„Zusammenspiel“ mit Schule, Arbeitswelt,
Medien und politischer Teilhabe
5.1.1 Seminarkontext bzw. Seminarhintergrund
Lernziele
■ Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Wertorientierungen in der Erziehung
■ Auseinandersetzung mit Wertorientierungen in einer pluralistischen Gesellschaft
■ Bedeutung der Menschenwürde als Orientierungspunkte für erzieherisches Handeln
Zielgruppe
Familien (nach der Definition: „Familie ist, wo Kinder leben.“)
Seminarhintergrund
Das Seminar, während der hessischen Herbstferien von der „Überregionalen Frankfurter
Sozialschule, Abt. Fulda - Bonifatiushaus“ veranstaltet, hat eine lange Tradition. Familien mit Kindern vom Kindergartenalter bis 15 Jahren nahmen daran teil. Familienformen waren Zwei-Eltern-Familien und allein Erziehende. Für die Kinder und Jugendlichen wurde von den Mitarbeitenden ein eigenes Programm durchgeführt. Phasenweise
nahmen die älteren Kinder / Jugendlichen nach vorbereitenden Einheiten in der eigenen Gruppe an gemeinsamen Seminareinheiten mit den Erwachsenen teil.
5.1.2 Ausschreibungstext
Liebe Eltern, unser Thema für das diesjährige Herbstferienseminar ist eigentlich nicht
nur ein Seminarthema, sondern ein lebensbegleitendes Thema. Jede Mutter, jeder Vater
FAMILIE
ALS PRÄGENDE
I N S TA N Z
275
erzieht sein Kind wertorientiert. Durch gesellschaftliche Veränderungen sind gemeinsame Werte für alle nicht mehr selbstverständlich vorgegeben. Wertorientierungen werden
im Diskurs und in der Lebenspraxis neu entwickelt. Wo früher Menschen in bestehende
Wertsysteme hineingeboren wurden und diese auch übernahmen, muss heute jede /
jeder eigenverantwortlich für sich Wertorientierungen prüfen und übernehmen.
Wir laden Sie ein, die gemeinsame Zeit zu nutzen, um eigene Standpunkte zu formulieren und im Austausch mit anderen zu reflektieren. Je nach Alter der teilnehmenden
Kinder und Jugendlichen werden Sie sich phasenweise mit den selben Themenschwerpunkten wie die Eltern beschäftigen und von Zeit zu Zeit gemeinsam mit den
Erwachsenen das Programm gestalten. Das Programm mag ihnen als inhaltliche Idee
dienen, wir werden es mit Ihnen weiter konkretisieren. Wir freuen uns auf die Begegnung mit Ihnen.
5.1.3 Bausteine
Samstag
11.00 h-12.30 h Begrüßung, Kennenlernen, Einführung in das Seminar
14.00 h-18.30 h Wertorientierungen in einer pluralistischen Gesellschaft: Wahrnehmungen – Erfahrungen – Befürchtungen Erarbeitung einer
gesellschaftlichen „Landkarte“: In welchen gesellschaftlichen
Lebensfeldern (Arbeitswelt, politische Gemeinde, Politik, Medien,
Schule, etc.) nehmen die Teilnehmenden welche Werte war?
Einführungsstatement / Arbeitsgruppen / Plenumgespräch /
Abschlussstatement
19.30 h-21.00 h Fortsetzung
Sonntag
09.00 h-12.30 h Jugend – Familie – Gesellschaft – Zukunft: Die Bedeutung von
Werten für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen in
einer pluralistischen Gesellschaft.
Vortrag und Gespräch
15.00 h-18.30 h Wertorientierungen bei Kindern und Jugendlichen im Blick auf:
Politik, gesellschaftliche Verantwortungsübernahme, Engagement, Konsum, Medien, etc.
Vortrag über Empirische Ergebnisse aus der Jugendforschung und
anschließende Diskussion
276
SEMINAR-BAUSTEINE
Montag
09.00 h-12.30 h
15.00 h-18.30 h
Familiäres Erziehungshandeln im Kontext von Schule und
Medien: Einfluss-Gefahren-Chancen.
Impulsreferat / Arbeitsgruppen / Plenumgespräch
Eltern zwischen Familie und Arbeitswelt: Unterschiedliche
Werte Welten? Welche Werte will ich meinen Kinder mitgeben?
Kreative Arbeitsgruppen mit anschließendem Plenumgespräch
und Abschlussstatement
Dienstag
09.15 h-12.30 h
Wertorientierungen im familiären Gespräch: Der Stellenwert
und die Bedeutung von Familie in der wert-pluralistischen
Gesellschaft, Anspruch und Realität.
Impulsreferat / Arbeitsgruppen / Plenumgespräch
15.00 h-18.30 h
Wert-Konflikte konstruktiv lösen (lernen): Gesellschaftliche
Wertkonflikt in der familiären Auseinandersetzung.
Gespräch zwischen Eltern und heranwachsenden Kindern /
Jugendlichen
Mittwoch
09.15 h-12.00 h
12.00 h-12.30 h
Familie als Kristallisationspunkt unterschiedlicher
Sozialisationseinflüsse.
Statement zur Zusammenfassung und Weiterführung
Auswertung
5.1.4 Resümee, Folgerungen, Perspektiven
Der „rote Faden“ des Seminars wurde bestimmt durch das Thema Wertorientierung im
Bezug zu verschiedenen gesellschaftlichen Lebens- und Arbeitsfeldern, die für die Teilnehmenden und ihre Familien von Bedeutung sind: gesellschaftliche Rahmenbedingungen,
Medien, Arbeitswelt, Schule.
Ausgangspunkt der inhaltlichen Auseinandersetzung war eine von den Teilnehmenden
gestaltete Landkarte, in denen diese ihre relevanten Arbeits- und Lebenswelten aufführten und die in den verschiedenen Feldern wahrgenommenen Werte darstellten. Dies
ermöglichte, dass die Teilnehmenden ihre Vorerfahrungen einbringen konnten und der
Rahmen für die thematische Gestaltung abgesteckt wurde.
FAMILIE
ALS PRÄGENDE
I N S TA N Z
277
Anhand einiger ausgewählter Ergebnisse der Studie „Jugend 2000 – 13. Shell Jugendstudie“ wurde das Thema „Jugend – Familie – Gesellschaft – Zukunft“ in Form eines
Referates den Teilnehmenden nähergebracht. Verknüpft wurden die Aussagen der Studie
mit aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen wie Pluralisierung der Werte, Normen
und Lebensformen, Fragen der Globalisierung und Europäisierung von Wirtschaft und
Gesellschaft.
Ein weiterer Schwerpunkt bildete der in den letzten Jahren gewachsene Medienbereich
und dessen Einfluss auf die Wertbildung bei Jugendlichen bzw. in der Gesellschaft.
Anhand von Daten aus der Medienforschung über Mediennutzung (Dauer, bevorzugte
Sendungen, Formate, etc.) wurden die Erfahrungen der Teilnehmenden „gegengelesen“.
Deutlich wurde, dass gerade das Zusammenspiel von Medien und Gleichaltrigengruppe/
Schule auf die Wertbildung Jugendlicher einen großen Einfluss hat.
Die Einführung in die Thematik „Eltern zwischen Familie und Arbeitswelt“ geschah über
die Erarbeitung von Collagen der Teilnehmenden. Darin kam der zunehmende Druck in
den Arbeitsbezügen zum Ausdruck. Die Gefahr von Arbeitsplatzverlust, der zunehmende
Anspruch an die Leistungsgrenzen gehen zu müssen (Abbau von Arbeitsplätzen) war in
der anschließenden Debatte präsent. Die Schere zwischen dem was die Teilnehmenden
in ihrer Erziehung an Werten weitergeben möchten und dem, was sie in der Arbeitswelt
erleben geht immer weiter auseinander. Die aktuelle Situation in der Arbeitswelt erleben, viele Teilnehmende als familienfeindlich. Insbesondere allein Erziehende fühlen
sich bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie allein gelassen.
In allen Themeneinheiten wurde die Fragestellung der Familie als Kristallisationspunkt
unterschiedlicher Sozialisationseinflüsse mitbehandelt. Familie als Kernzelle der Gesellschaft bekommt gerade in der Zeit der fast grenzenlos erscheinenden Pluralisierung und
der damit verbundenen Entscheidungsfreiheiten einen immer größeren Stellenwert.
Entscheidungslernen als Grundvoraussetzung für das Leben in einer pluralistischen Gesellschaft braucht die Räume des Erlernens dieser Fähigkeiten. Sowie in der Gesellschaft
eine Individualisierung zu beschreiben ist, individualisieren sich auch Familien.
Gesellschaftliche Wertkonflikte sind in Familien im Konkreten zu erleben. Orientiert an
der Menschenwürde ist es notwendig, Konfliktlösungsmodelle zu entwickeln, gesellschaftliche Verantwortungsübernahme zu lernen und Engagement zu lernen. In den gemeinsamen Phasen mit den Jugendlichen wurden diese Themenbereiche angesprochen.
278
SEMINAR-BAUSTEINE
Diese Teile des Seminars waren für den Verlauf des Seminars wichtig und führten auch
auf die Debatte über die gesellschaftlichen „Gegensätze“ zwischen Jugendlichen und
Erwachsenen hin.
Durch die methodisch abwechslungsreich gestalteten Einheiten (Input-Referate, Großund Kleingruppengespräche, Arbeit an Collagen, gemeinsame Phase mit den Jugendlichen) konnten die Ziele des Seminars erreicht werden. Unterstützt wurde dies durch die
hohe Motivation der Teilnehmende, für sie neue Aspekte aufzunehmen und sich in Debatten einzulassen.
Die Teilnehmenden erleben es in ihren eigenen Arbeits-/Lebenswelten wie auch in ihrer
erzieherischen „Arbeit“ als immer schwieriger bei einem immer kleiner werdenden gesellschaftlichen Konsens von Werten ihre eigene Wertorientierung gegenüber anderen
abzugrenzen.
Die Seite der Wahlmöglichkeiten in der Pluralisierung von Werten wurde durchaus gesehen und als positiv bewertet, in der Auseinandersetzung mit Jugendlichen aber auch als
Teil der schwieriger werdenden Erziehungs-“arbeit“ beschrieben. Die Teilnehmenden
beschrieben in den Diskussionen ihre vielfältigen Erfahrungen, wie sie sich als Familien
mit Kindern in der Gesellschaft benachteiligt fühlen und die gesellschaftlich bedeutenden Leistungen der Familie bzw. der Erziehung nur wenig anerkannt werden.
„WAS
IST LOS, WENN ICH WILD WERDE?“
5.2
279
Birgit Engehardt-Schwaab
„Was ist los, wenn ich wild werde?“
Bildungswoche für Alleinerziehende in der
Katholischen Landvolkshochschule Feuerstein,
Ebermannstadt
5.2.1 Seminarkontext bzw. Seminarhintergrund
Lernziele
■ Sensibilisierung für aggressive Verhaltensmustern und Erlernen eines adäquaten Umgangs mit Aggressionen: Zulassen, Kanalisieren von aggressiven Stimmungen bei
Eltern und Kindern.
■ Kennenlernen bzw. erarbeiten von Erziehungshilfen in Bezug auf aggressive Reaktionen von Kindern (z.B. Wut- und Trotzanfälle, „um sich schlagen“) im Blick auf die
eigene familiäre Situation.
■ Bewusstwerden verschiedener Aggressionsursachen in der eigenen Familiensituation
sowie vor dem Hintergrund aktueller gesellschafts-, sozial- und familienpolitischer
Rahmenbedingungen.
■ Kennenlernen verschiedener inhaltlicher Perspektiven zur Gewaltprävention.
■ Erkennen, dass subjektiv erlebte defizitäre familiäre Situationen bezüglich der genannten Faktoren durch eigene Schritte zum entsprechend politischen Handeln (z.B.
auf kommunaler Ebene) gebessert und geklärt werden können.
■ Kennenlernen von Einrichtungen, Verbänden und (Möglichkeiten von) Netzwerken
(bzw. Selbsthilfegruppen als wichtige unterstützende Institutionen/Einrichtungen.
Die einzelnen Lernschritte waren in der genannten Abfolge gezielt stufenweise angeordnet, um so bei den alleinerziehenden Eltern einen Prozess der inneren Motivation in
Gang zu bringen. Dieser sollte sie schrittweise zu der Erkenntnis führen, dass der Weg,
Gewalt zu verhindern, über das Reagieren im familiären Setting weit hinausreicht und in
ein Netz von gesellschafts-, sozial- und familienpolitischen Entwicklungen eingebunden ist. Dabei sollte jede/r Alleinerziehende die subjektiven Möglichkeiten seines/ihres
Handlungspotenzials auf politischer Ebene erforschen (für sich und durch den Austausch
in Kleingruppengesprächen).
280
SEMINAR-BAUSTEINE
Zielgruppe
Alleinerziehende mit Kindern
Seminarhintergrund
Im Rahmen eines Vortrages in einem Kindergarten zum Thema Aggression berichtete in
einer Kleingruppe die Mutter eines zweijährigen Jungen, wie sie ihn zur Strafe unter die
eiskalte Dusche stellte. Der Junge war ihr zu laut in der Wohnung. Der Bericht ließ deutlich werden, dass überforderte Eltern Hilfe brauchen, um gewaltorientiertes oder gewalttätiges Erziehungshandeln zu vermeiden. Daraus entstand die Idee zu diesem Seminar.
5.2.2 Ausschreibungstext
Liebe Interessierte an der Bildungswoche für allein erziehende Mütter und Väter! Gemeinsam mit den Kindern, in Kindergruppen und Workshops für Erwachsene will sich die
Landvolkshochschule Feuerstein in Zusammenarbeit mit dem Familienbund der Deutschen Katholiken mit dem Thema „Was ist los, wenn ich wild werde?“ beschäftigen. Es
macht Spaß, dem Thema mit vielen anregenden Spielen auf die Spur zu kommen, z.B. als
wilde Tiere verkleidet durch den Wald zu springen oder die körperlichen Kräfte bei fröhlichen Wasserschlachten auszutoben. Daneben gibt es interessante Erziehungstipps und
spielerische Anregungen in den Elternworkshops u.a. zu der Frage „Wie ist das, wenn ich
oder mein/e Kind/er mal aus der Haut fahre/n?“ Bitte bringen Sie für sich und ihre
Kinder bequeme Kleidung (Trainingsanzug), Hausschuhe, eine kleine Wanderausrüstung
(feste Schuhe, Regenjacke, Rucksack, Teeflasche) und Badesachen sowie, wenn möglich, für die Kinder eine Taschenlampe mit. Ich freue mich schon auf Ihr Kommen bzw.
auf ein Wiedersehen und grüße für heute herzlich vom Feuerstein.
5.2.3 Bausteine
Montag
19.00 h-19.30 h
19.30 h-20.30 h
20.30 h-21.00 h
Kennenlernrunde
In Kleingruppen werden in der näheren Umgebung Tiere
beobachtet. Teilnehmende beachten, welche wild, aufgeregt,
ruhig… sind. Beobachtungen werden auf Zetteln notiert.
Gute-Nacht-Geschichte für die Kinder
„WAS
IST LOS, WENN ICH WILD WERDE?“
281
Dienstag
09.00 h-11.30 h
Innerfamiliäre Betrachtungs- und Bearbeitungsebene mit dem
Medium Tierverkleidungen: In Eltern-Kind-Gruppen wird zum
Thema „Welches (wilde) Tier möchte ich gerne sein?“ gearbeitet. Eltern und Kinder basteln gemeinsam Tierkostüme und
stellen sich danach in der Gesamtgruppe vor. Im Anschluss
hieran malten diese zu Hintergrundmusik in Rückblendung auf
den Vormittag Bilder mit folgender Vorgabe: „Male Dich und
Deine Familie als Tiere“. Die Gefühlslage zu diesen Bildern wird
15.00 h-17.00 h
17.00 h-18.00 h
19.00 h-20.00 h
anschließend in Kleingruppen ausgetauscht.
■ Elterngruppe zum Thema: Einführung in den Umgang mit Emotionen. Meine Gefühlswelt und die meiner/-s Kind/er
■ Kindergruppe (Altersgruppen): Kontakt- und Kennenlernspiele
Körperwahrnehmungsspiele in Eltern-Kind-Gruppen: „Fühl’ mal,
wie gut das tut!“
■ Elterngruppe: Körperentspannung.
■ Kindergruppe: Kindertänze und Tanzspiele
Mittwoch
09.30 h-11.30 h
■ Elterngruppe zum Thema: „Persönliche und/oder soziale/gesellschaftliche Probleme, die zur Überlastung der eigenen familiären Situation führen können“. Hinführung zum Thema in
drei Schritten: 1. Einführung anhand einer Familiengeschichte,
die eine Wechselwirkung zwischen persönlichen und sozial/
gesellschaftlichen Problemfeldern aufzeigt. 2. Analyse der
jeweils eigenen familiären Situation nach persönlichen, wirtschaftlichen (z.B. Arbeitsplatz), sozialen (z.B. Betreuungsmöglichkeiten), gesellschaftlichen (z.B. Medien) Ursachen für Aggressions-/Gewaltbereitschaft in der Familie und
der familiären Umgebung (Zweiergespräche). 3. Niederschrift
der Analyse im Tagebuch (Einzelarbeit).
■ Kleingruppenarbeit mit der Zielsetzung, familienspezifische
Hilfsstrategien zu entwickeln, die sich auf innerfamiliäre Verbesserungen der psychischen, sozialen, finanziell/wirtschaftlichen, ethisch/moralischen Dimension (je nach Bedarf) oder
auf äußerfamiliäre Verbesserungen im privaten Umfeld (Gruppen, Nachbarschaft) beziehen.
282
SEMINAR-BAUSTEINE
■ Plenum: Rückmeldung der Ergebnisse aus den Kleingruppen,
Gewichtung nach inhaltlicher Brisanz, Suche nach strategischer und organisatorischer Bündelung der Hilfsstrategien
wenn möglich in kommunalen/regionalen Treffs (z.B. Stadtregionen oder bestimmte Dörfer).
13.30 h-18.00 h
■ Kindergruppe (Altersgruppen): Kooperationsspiele
Ausflug in ein Schwimmbad; Austoben mit Wasserspielen
19.00 h-20.30 h
Gemeinsam wird ein großes Wasserbild gemalt. Jede/r kann sich
selbst malen, so wie er/sie sich im Wasser erlebt hat.
20.30 h-21.00 h
Donnerstag
Gute-Nacht-Musik in der Gesamtgruppe
09.00 h-12.30 h
■ Elterngruppe:
1. Vorstellung von Ansätzen der Familienselbsthilfe aus der Familien- und Jugendarbeit am Beispiel der Stadt Ebermannstadt und Stellungnahme seitens Vertreterinnen und Vertreter
der Kommunalpolitik, der Hort-Initiative, des Jugend-Treffs.
2 Diskussionsrunde mit den Referenten
3. Kleingruppenarbeit zum Thema: „Welche Anregungen können
Eltern zum Ausbau ihrer eigenen Hilfsstrategien aus diesen
Modellen aufnehmen?“
13.30 h-18.00 h
19.00 h-20.30 h
4. Ergebnisrunde im Plenum
■ Kindergruppe: Basteln zum Thema: „Wie geht es mir zu Hause?“
Aufbruch zu einer Waldregion, dort spontan inszenierte Theaterstücke mit den Tierkostümen
■ Elterngruppe:
1. Vorstellung des Arbeitskreises Elternhilfe-Netzwerk (Feuersteiner Konzeptidee) und des aksb-Projekts (Grobübersicht).
2. Rahmenkonzept der Elterntrainingsabende
3. Elternkontaktstellenmodell (mit Elterncafé, Babysittervermittlung, Selbsthilfegruppen-Aufbau)
4. Plenum: Diskussion von Konzept-Inhalten und Fragen zum Konzept-Aufbau
20.30 h-21.00 h
Freitag
Gute-Nacht-Entspannungsübungen
09.00 h-11.30 h
■ Elterngruppe zum Thema: „Welche/n Modelle/n der Familienselbsthilfe können Eltern für sich (a) persönlich zustimmen
„WAS
IST LOS, WENN ICH WILD WERDE?“
283
(aber noch nicht umsetzen), (b) Modell-Aspekte aktiv umsetzen, (c) wie in nächster Zukunft mit dem Selbsthilfekonzept
vor Ort/zu Hause umgehen?
1. Inhaltlicher Input zu a bis c.
2. Einzelarbeit mit dem Tagebuch, dabei Auftrag erarbeiteter
Hilfsstrategien in Modell-Ansatz einzubauen.
3. Ergebnisrunde im Plenum
4. Ausfüllen eines Fragebogens mit dem inhaltlichen Schwerpunkten: Wie kann ich als Elternteil auf persönlicher, nachbarschaftlicher, gruppenbezogener, politischer, gesellschaftlicher
Ebene in der Gewaltprävention aktiv werden? (Die Unterfragen
des Fragebogens werden mit dem Betreuungsteam der Alleinerziehendenwoche in Kürze besprochen und festgelegt).
11.30 h-12.30 h
15.00 h-17.00 h
■ Kindergruppe: Bauen einer „Fühlstraße“.
Elternkindgruppen zum Thema: „Wir teilen einander unsere Gefühle mit“
■ Elterngruppe:
Wie erlebe ich die Eltern-Kind-Beziehung und meine gesamte
familiäre Situation heute? Wo ist Begegnung, gegenseitiges Verständnis, wo sind Spannungen/Belastungen/Aggressionen? Rollenspiele zu genannten Konfliktthemen, Erarbeitung von Lösungsvorschlägen.
■ Kindergruppe:
■ Geländespiele zum Thema: „Wie können wir zusammen hel-
17.00 h-18.00 h
fen, uns gegenseitig stärken?“
Kinder laden Eltern zum (Gelände-)Spiel ein.
19.00 h-22.00 h
Samstag
Bunter Abend in der Gesamtgruppe
09.00 h-11.00 h
■ Elterngruppe:
Welches (erreichbare) Ziel zur Entspannung (Verbesserung) meiner familiären Situation nehme ich mir ab jetzt vor? Wo kann ich
mit Aggressionen umgehen, wo brauche ich Hilfe? „Ausblick auf
11.00 h-12.00 h
das Elternhilfe-Netzwerk“.
■ Feedback-Runde zur Woche
■ Kindergruppe: Malen zum Thema „Was ich mir wünsche …“
Kinder überreichen Eltern ihr Bild, Abschlusslied, Abschlusstanz.
284
SEMINAR-BAUSTEINE
5.2.4 Resümee, Folgerungen, Perspektiven
Die überwiegende Mehrheit der Teilnehmenden erwarteten Hilfestellung für den richtigen und helfenden Umgang mit Aggressionen in der Erziehung. Gerade allein Erziehende
Fahren unter Alltagsbelastungen sehr schnell „aus der Haut“ und kommen mit der angespannten emotionalen Lage (z.B. Wutanfälle der Kinder) nicht mehr klar, wie die Rückmeldungen zu erkennen gaben. Es wurde die Erwartung geäußert, im Umgang mit sich
selbst und dem Kind etwas Hilfreiches lernen zu wollen. Ein Drittel der Befragten formulierte die Erwartungen, in diesem Seminar ausruhen, entspannen, neue Kraft schöpfen,
sowie die erlebten Belastungen möglichst hinter sich lassen und vergessen zu können.
Die Veranstalter wollten die Teilnehmenden für das Thema „Gewaltprävention in Familien“ innerpsychisch, sozial- und gesellschaftspolitisch sensibilisieren. Das Problem bestand nun darin, einen inhaltlichen „Spagat“ zwischen den persönlich emotionalen
Betroffenheiten in familiären Situationen sowie der Betrachtungsweise der Teilnehmenden einerseits und dem gesellschaftspolitischen Hintergrund ihrer Probleme andererseits
zu schaffen. Eine wichtige inhaltliche Brückenfunktion hatte dabei die Input-Geschichte, das Märchen „Hänsel und Gretel“.
Die Erwartungen der Teilnehmenden bezogen sich zu Beginn der Veranstaltung noch
überwiegend auf den Umgang mit Erziehungsproblemen, verlagerten sich aber nach der
Impuls-Märchen-Geschichte für den Zeitraum von Mittwoch bis Donnerstag auf die Suche nach Hilfsstrategien für kommunalpolitische, finanzielle und soziale Probleme. Ein
großer Teil der Hilfsstrategien wurde in der Diskussionsrunde mit einer Politikerin erarbeitet, ein kleiner Teil in Kleingruppen; in diesem Zusammenhang wuchs das Interesse
an der vorgeschlagenen Planung und Gründung des Familienhilfe-Netzwerkes für mehrere Teilnehmende.
Das Zusammenwirken der Teilnehmenden funktionierte auf der kommunikativen Ebene
zwar gut, auf der inhaltlichen kamen aber die sehr verschiedenen kognitiven Fähigkeiten zum Ausdruck (von Teilnehmenden mit Universitätsabschlüssen bis ohne Berufsausbildung, bereits stark politisch engagiert bis politisch uninteressiert/unwissend).
Handlungsleitende didaktische Prinzipien:
■ Sich Einfühlen in Beziehungen, inner- und außerfamiliäre Situationen, die mit aggressiven und gewaltprovozierenden Umständen/Umgang gestaltet sind.
„WAS
IST LOS, WENN ICH WILD WERDE?“
285
■ Erkennen von Bewältigungshilfen (emotional, kognitiv und aktional) zum adäquaten
Reagieren auf Aggressionsmuster sowohl innerfamiliär als auch auf die die Familie
umgebenden gesellschaftlichen Settings.
■ Leisten von Transfers zum Verstehen der Ursachenfaktoren für Aggression und Gewaltentstehen in der Familie und in der Gesellschaft.
Damit konnte den Teilnehmern ein Bewusstseinsprozess in der Weise ermöglicht werden, dass es bei dem Anliegen Gewaltprävention nicht nur auf die Mikroebene ihrer
eigenen familiären Situation ankommt, sondern dass die Makroebene der gesellschaftsund familienpolitischen Umstände gleichermaßen auf kognitiver und aktionaler Ebene
von den Eltern beachtet und begleitet werden muss. Eine wichtige Brücke zwischen
beiden Betrachtungsebenen bildete dabei das Wecken der emotionalen Betroffenheit
der Eltern über ihre eigene familiäre Situation hinaus. Dabei wurde das FamilienhilfeNetzwerk als geeignetes Lernfeld von vielen Eltern betrachtet.
In der Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Makroebene/familienpolitischen
Rahmenbedingungen wurden folgende Faktoren besonders thematisiert:
■ Die unzumutbare Situation alleinerziehender Frauen, nach Einstellung der auf sechs
Jahre befristeten Unterhaltszahlung durch den Vater des Kindes insbesondere vor
dem Hintergrund der dann fälligen Einschulung, mit der zunehmend mehr finanzielle
Belastungen anfallen.
■ Der Umgang mit Behörden, z.B. zur Klärung des Sozialhilfe-Empfangs wird von Alleinerziehende als zeitaufwendig, mühsam und demütigend erfahren. Insbesondere
die Beweispflicht, die von alleinerziehenden Müttern abverlangt werde, sei eine einseitige Überforderung (die z.B. den Ex-Partner nicht betreffe). Die Bereitstellung
eines Not-Fond für allein Erziehende in finanziellen Notsituationen müsse ohne lange Wartezeiten den Betroffenen zugebilligt werden.
■ Mangel an Kinderbetreuungs-Angeboten in Bezug auf ungünstige Arbeitszeiten (Spät-,
Nachtschicht) und Krankenhaus- und Reha-Aufenthalten der Alleinerziehenden führt
zu familiären Notsituationen. Ein Mehr und eine bessere Ausstattung von Hortplätzen,
Kindergartenplätzen, Mittagsschulbetreuung und Pflegediensten wurde gefordert.
■ Arbeitsplätze für Alleinerziehende sollten familienfreundlichere Strukturen/Organisationen anbieten.
Auf besonderen Wunsch einiger Teilnehmenden erfolgte in der Erwachsenen-Einheit die
Vorstellung des Konzeptes des Elternhilfe-Netzwerks mit dem Hinweis auf die Eltern-
286
SEMINAR-BAUSTEINE
trainingsabende verbunden mit der Werbe – Initiative „Mach’ halt vor Gewalt“ ab November 2000. Der Flyer zu dieser Aktion wurde zu einer ersten Information und Einschätzung in der Elterngruppe vorgestellt.
Daran schloss sich eine von den Eltern ausgehende, engagierte Diskussion zum Thema
Gewaltprävention in der Familie und in Jugendlichengruppen an. Auf Wunsch der Eltern
bildeten sich daraufhin drei Gesprächsgruppen mit folgenden Schwerpunkten:
■ Meine Aggressionen als alleinerziehender Elternteil.
■ Aggressive Verhaltensmuster meines Kindes und meine Grenzen/Ratlosigkeit im Umgang damit.
■ Meine eigenen Aggressionen und die meines Kindes.
In allen drei Gruppen wurden praktische Möglichkeiten des Umgangs mit Aggression
und der Prävention bezüglich Gewalt im Erziehungsverhalten diskutiert.
G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G
5.3
IN DER
TAGESPFLEGE
287
Dorothea Frey
„Gewaltfreie Erziehung in der
Tagespflege – Gewalt gegen Kinder und
Rechte der Kinder“
Seminartag im Rahmen der Qualifizierung
von Tagesmüttern
5.3.1 Seminarkontext bzw. Seminarhintergrund
Der Seminartag: „Gewaltfreie Erziehung in der Tagespflege – Gewalt gegen Kinder und
die Rechte der Kinder“ ist ein Baustein innerhalb der Qualifizierungslehrgänge für
Kinderbetreuung in Tagespflege. Diese werden seit 1992 in Zusammenarbeit mit dem
Deutschen Jugendinstitut und dem Bundesverband für Kinderbetreuung in Tagespflege,
mit insgesamt 160 Unterrichtsstunden angeboten. Ziel ist es, den professionellen
Tagesmüttern und -vätern aufzuzeigen, wie sie im Erziehungsalltag, insbesondere jedoch in Krisensituationen mit Kindern, positive Handlungsmöglichkeiten mit den Mitteln der gewaltfreien Erziehung umsetzen können. Der besondere Schwerpunkt liegt
in der Konfliktbewältigung in der Familie und dabei in der Reflexion unserer eigenen
Rolle als Tageseltern/Eltern. Darüberhinaus wird aber auch die geschlechtsspezifische
Komponente in Zusammenhang mit gewaltbelasteten Erziehungssituationen beleuchtet.
Themenfelder
■ Auseinandersetzung mit der Neufassung des Gesetzes § 1631 Abs. 2 BGB.
■ Gewaltfreie Erziehung und Gewalt gegen Kinder als Themen in den Qualifizierungslehrgängen für Tagespflegepersonen.
■ Vorstellung von Modellen zur Stärkung der elterlichen Erziehungskompetenz.
■ Bedeutung der geschlechtsspezifischen Erziehung in Bezug auf das Entstehen von
Gewalthandlungsmustern.
Zielgruppe
■ Tagesmütter und -väter
288
SEMINAR-BAUSTEINE
■ Eltern, die ihr Kind in der Tagespflege betreut haben
■ Mitarbeitende in der Tagespflege
5.3.2 Ausschreibungstext
Qualifizierung von Tagespflegepersonen Die Tagespflege hat als Betreuungs- und
Förderungsangebot für Kinder aller Altersstufen in den letzten Jahren eine erhebliche
Aufwertung erfahren. Im Kinder- und Jugendhilfegesetz wird ihre Gleichrangigkeit zur
institutionellen Kinderbetreuung hervorgehoben. Als ein Schwerpunkt der Unterstützung und Qualitätssicherung in der Tagespflege hat sich die vorbereitende und praxisbegleitende Fortbildung von Tagespflegepersonen erwiesen. Dieser Lehrgang ist ein
erster Schritt der Professionalisierung im familiären Erziehungsbereich.
Der Lehrgang befähigt die Teilnehmenden:
■ Tagespflege auf professioneller Ebene anzubieten,
■ professionelle Verantwortung für die ihnen anvertrauten Kinder zu übernehmen,
■ Erziehungsfragen kompetenter und sicherer zu beantworten,
■ Tageskinder in der eigenen oder fremden Wohnung zu betreuen,
■ auf problematische Situationen angemessen zu reagieren,
■ das Recht der Kinder/Tageskinder auf eine gewaltfreie Erziehung unter allen Umständen zu wahren,
■ die Familienbetreuung anregender und abwechslungsreicher zu gestalten.
Außerdem möchte der Lehrgang die gesellschaftliche Aufwertung der Erziehungsarbeit
und die qualitative Verbesserung des Angebots an Betreuungsplätzen bewirken.
5.3.3 Baustein
Didaktische Ziele des Bausteins:
■ Information und Diskussion über die Neufassung des Gesetzes § 1631 Abs. 2 BGB.
■ Aufbrechen des gesellschaftlichen Tabus: Es gibt Gewalt im Rahmen der Betreuung
und Erziehung von Kindern in der Tagespflege.
■ Grenzüberschreitungen in körperlicher, verbaler oder emotionaler Form von Tageseltern
gegenüber ihren Tageskindern und eigenen Kindern zu erkennen und zu thematisieren.
■ Aufzeigen von pädagogischen Leitlinien für die Kinderbetreuung in Tagespflege und
G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G
IN DER
TAGESPFLEGE
289
der besonderen Beachtung der elterlichen Vorbildfunktion zur Verankerung der gewaltfreien Erziehung im Alltag, vor allem in Konfliktsituationen.
■ Steigerung der Qualitätsstandards in den Tagespflegequalifizierungen.
■ Geschlechtsspezifische Erziehungsmuster in Zusammenhang mit aggressiven Handlungsmustern erkennen können.
■ Von der individuellen Verantwortung für die Umsetzung der gewaltfreien Erziehung,
politische Forderungen formulieren können, in denen die Bedingungen der strukturellen Rücksichtslosigkeiten genannt und verringert werden sollen, insbesondere für
den Bereich der Kinderbetreuung in Tagespflege.
Programm des Seminartages
19.15 h-20.45 h
Begrüßung, Kennenlernen, Einstieg in das Seminar:
■ Kennenlernen
■ Einstieg in das Thema in Kleingruppen: Was macht Familienleben und Erziehung (heute) einfach(er) oder schwer(er), Sammeln von Fragen, Erwartungen (Kartenabfrage, Pinnwand)
■ Plenum: Thematische Schwerpunktsetzung anhand der benannten Problemfelder.
09.00 h-09.15 h
09.15 h-09.45 h
Begrüßung und Einführung
Körperübungen: Eigenen Standpunkt finden, Erfahrungen von
Grenzüberschreitungen in der aktiven und passiven Rolle, Bedeutung der Körperhaltung)
09.45 h-10.00 h
10.00 h-12.00 h
Festlegung des eigenen Gewaltbegriffs (Gewalt ist für mich…)
■ Formen der Gewalt
■ Ursachen von Gewalt
■ Sexuelle Gewalt gegen Kinder
■ Verhalten bei Verdachtsmomenten
■ Kinderschutz aus der Sicht der Jugendhilfe und des Kinder-
13.30 h-15.00 h
15.00 h-15.30 h
15.30 h-16.00 h
schutzbundes
Workshops:
■ Positive Konfliktbewältigung mit Kindern
■ Gewalt als Thema in Kinderliteratur und den Medien
■ Gesellschaftliche Bedingungen für Gewaltbereitschaft (Strukturelle Gewalt)
■ Präsentation im Plenum
■ Abschluss und Feedback
290
SEMINAR-BAUSTEINE
5.3.4 Resümee, Folgerungen, Perspektiven
Die Teilnehmenden nahmen in den bisher durchgeführten Seminartagen die Chance
wahr, 1. dass sie in dem geschützten Kreis über ihre realen Erziehungsprobleme sprechen konnten, um so Probleme im Alltag und Ursachen für Konflikte im Vorfeld zu
erkennen und Lösungsstrategien, sowie Handlungsmöglichkeiten gemeinsam zu entwickeln, 2. in der Gruppe zu erleben, wie andere mit schwierigen Situationen umgehen,
wie andere Familien Krisen bewältigen.
Dabei wurden im Erfahrungsaustausch Gefühle von Hilflosigkeit, Resignation, Versagensängste und Überforderung deutlich. Fragen nach dem Umgang mit den eigenen, nicht
immer positiven Gefühlen Kindern gegenüber und das Gefangensein in der eigenen
Rolle als Mutter oder Tagesmutter kamen zur Sprache.
Die Reflexion über die eigene Erziehung in der Kindheit konnte Verhaltensmuster erklären und einer bewussten Veränderung dieser vorausgehen.
Es wurde deutlich, dass Gewaltfreiheit nicht Passivität bedeuten darf, Konflikte sollen
nicht vermieden werden. Ziel der gewaltfreien Konfliktaustragung ist es, im Idealfall
eine Lösung zu finden, bei der beide Partner, sowohl das Kind als auch die Eltern, bzw.
Tageseltern davon profitieren und eine Bereicherung erfahren.
Positive Voraussetzungen sind z.B. Schaffen einer vertrauensvollen Atmosphäre, Freiräume geben, Bereitschaft zum Zuhören, Fair sein, gemeinsam mit den Kindern / Tageskindern nach Lösungen suchen.
Grundsätzlich wurde deutlich vermittelt, dass die Tagespflegeeltern sich unbedingt an
die Verpflichtung zur gewaltfreien Erziehung der Tageskinder und eigenen Kinder halten
müssen und dies, in Bezug auf die Tageskinder, auch in den Betreuungsverträgen eindeutig festgehalten werden muss. (Siehe Musterverträge des tagesmütter Bundesverbandes
für Kinderbetreuung in Tagespflege/Meerbusch.)
G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G
IN DER
TAGESPFLEGE
291
Anhang
I. Gewaltfreie Erziehung in der Tagespflege – der rechtliche Hintergrund
Die Vereinten Nationen verabschiedeten 1989 ein „Übereinkommen über die Rechte des Kindes“.
In diesem Übereinkommen verpflichten sich die unterzeichneten Staaten, Kindern spezielle Grundrechte einzuräumen, damit sie in Zukunft von Erwachsenen ernster genommen werden. Dieser
Vertrag wurde 1990 auch von der Regierung der Bundesrepublik Deutschland unterzeichnet. Er
enthält 41 Artikel, in welchen die Rechte von Kindern genauer beschrieben werden:
■ Gleiches Recht für alle Kinder, egal aus welchem Land sie stammen, welche Hautfarbe oder
Religion sie haben, egal ob sie behindert oder gesund sind, egal was ihre Eltern tun.
■ Recht der Kinder bei den eigenen Eltern aufzuwachsen und die Regelung für die Betreuung bei
anderen erziehungsberechtigten Personen oder Institutionen.
■ Private (wie das Recht auf Privatsphäre) und öffentliche (wie das Recht auf Bildung und das
Recht auf Meinungsfreiheit) Rechte der Kinder; Schutz vor Ausbeutung und Gewalt.
Alle Staaten, die den Vertrag ratifizierten, müssen dem Kinderrechtsausschuss der Vereinten Nationen regelmäßig einen Bericht vorlegen, in dem sie beschreiben, was bei Ihnen für die Kinderrechte getan wird. Der Bundestag reagierte 2000 mit der Novellierung des § 1631 Abs. 2 BGB:
„Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“ Der Bundesrat stimmte dieser Änderung im November 2000 zu.
Das Recht auf gewaltfreie Erziehung stützt sich auf Artikel 19 der „UN-Kinderrechtskonvention“,
Schutz vor Gewaltanwendung, Misshandlung, Verwahrlosung.
§ 19, Abs. 1 Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Gesetzgebungs- Verwaltungs- Sozialund Bildungsmaßnahmen, um das Kind vor jeder Form körperlicher oder geistiger Gewaltanwendung, Schadenszufügung oder Misshandlung, vor Verwahrlosung oder Vernachlässigung, vor
schlechter Behandlung oder Ausbeutung einschließlich des sexuellen Missbrauchs zu schützen,
solange es sich in der Obhut der Eltern oder eines Elternteils, eines Vormunds oder anderen
gesetzlichen Vertretern befindet, die das Kind betreut.
§ 19,Abs. 2 Diese Schutzmaßnahmen sollen je nach den Gegebenheiten wirksame Verfahren zur
Aufstellung von Sozialprogrammen enthalten, die dem Kind und denen, die es betreuen, die
erforderliche Unterstützung gewähren und andere Formen der Vorbeugung vorsehen sowie Maß-
292
SEMINAR-BAUSTEINE
nahmen zur Aufdeckung, Meldung, Weiterverweisung, Untersuchung, Behandlung und Nachbetreuung in den in Absatz 1 beschriebenen Fällen schlechter Behandlung von Kindern und
gegebenenfalls für das Einschreiten der Gerichte.
„Gesetze allein sind nicht ausreichend, um die erforderliche Bewusstseinsänderung, noch eine
Verbesserung der Erziehungspraxis, hin zur gewaltfreien Konfliktbewältigung zu erreichen.“ (Bundesfamilienministerin a.D. Christine Bergmann)
II. Aggressionen und Gewalt gegen Kinder
Der Begriff Aggression beinhaltet das gerichtete Austeilen schädigender Reize. Das aggressive
Verhalten kann offen (körperlich oder sprachlich) oder verdeckt (phantasiert) von der Kultur
gebilligt oder missbilligt werden. (Ein aggressiver Junge gilt als toller Kerl, der sich nimmt, was
er will. Ein aggressives Mädchen gilt dagegen als unerzogen, rotzfrech, unweiblich.) Doch nicht
alle Aggressionen sind schlecht. Sie sind den Menschen als natürliche Triebe angeboren und sollen
sie befähigen in Krisensituationen sich Selbst zu schützen.
Gewalthandlungen werden als eine Teilmenge von Aggressionen betrachtet, die gekennzeichnet
sind durch die zielgerichtete, direkte, körperliche oder seelische Schädigung von Menschen durch
Menschen. Hier soll auch die zielgerichtete Beschädigung von Gegenständen mit einbezogen
werden. Gewalttätiges Handeln ist somit absichtsvoll darauf ausgerichtet, einen anderen Menschen, Gegenstände oder auch die eigene Person körperlich und seelisch zu verletzten.
Was ist Gewalt gegen Kinder?
Unter Misshandlung verstehen wir alle Handlungen oder Unterlassungen, die das Kind schädigen,
indem sie seinen Körper und seine seelisch-geistige Entwicklung nachhaltig stören. Nach Untersuchungen erfahren etwa 80 % der Kinder und Jugendlichen Gewalt in der Familie, in vielen Fällen
haben sich die Kinder bereits daran gewöhnt. Das Ausmaß der Misshandlungen ist jedoch recht
unterschiedlich. Die Gewaltanwendungen reichen vom Klaps auf den Po, Ohrfeigen bis zur Tracht
Prügel. Etwa 1,3 Mio. Kinder werden körperlich misshandelt, viele davon schon als Säugling oder
Kleinkind. Dazu kommt in etwa gleicher Größenordnung psychische (seelische) Gewalt in Form von
elterlicher Ablehnung oder Vernachlässigung. Diese Gewaltanwendung in der Familie endet jährlich
für 240 Kinder unter 6 Jahren mit dem Tod. (Quelle: Deutsches Jugendinstitut, München 2000)
Extreme Kindesmisshandlungen können oft vor der Öffentlichkeit verborgen werden, weil:
■ Kindesmisshandlung überwiegend in der Familie vorkommt und deshalb selten angezeigt wird.
G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G
IN DER
TAGESPFLEGE
293
■ die Polizei fast ausschließlich auf Hinweise der Bevölkerung angewiesen ist.
■ Kinder mit Verletzungen relativ leicht vor der Öffentlichkeit verborgen werden können, Verletzungen verharmlost und als Folge von Spielen, Stürzen, Raufereien ausgegeben werden.
(Zu beachten ist: Verletzungen durch Schläge verursacht, finden sich besonders häufig auf dem
Kopf, Ohren, Backen, Hals, Po, Oberseite der Hände, Rücken, Oberschenkel. Dies sind eigentlich
geschützte Körperstellen bei Stürzen oder Unfällen. Wogegen Verletzungen die durch Stürze entstanden sind vor allem die Ellenbogen, Knie, Handinnenflächen, Kinn, Nase, Stirn betreffen!)
Gewalt kommt am meisten im häuslichen Umfeld, statistisch gesehen am häufigsten in der Küche,
vor. Als Schlagwerkzeuge dienen Haushaltsgegenstände wie Teppichklopfer, Handfeger, aber auch
Gürtel, Riemen usw.
Gewalt hat viele Ursachen:
■ Übersteigerte Anforderungen an ein Kind: Kleinkinder können die Auswirkungen ihres Handelns
noch nicht abschätzen. Da hilft es auch nichts dem Kind oft genug zu sagen, du darfst, das und
jenes nicht tun. Die Einsicht fehlt ihm hierzu noch, es ist deshalb nicht böse.
■ Unzureichende Lebensbedingungen vieler Familien bedingt durch Geldnot, Arbeitslosigkeit,
enge Wohnverhältnisse, tragen zu einer großen Überforderung der Erziehungspersonen bei. Die
so überforderten Eltern reagieren schneller gestresst, genervt; die Gefahr den ganzen Frust an
dem schwächsten Glied in der Familie, dem Kind auszulassen steigt mit dem Stresspegel.
■ Eltern die ihre Kinder misshandeln, haben oft selbst viele soziale und psychische Probleme. Sie
sind unzufrieden und fühlen sich ungeliebt, unverstanden und unsicher.
■ Unterdrücktes Machtbedürfnis wird an den Kindern ausgelebt, in dieser Gefahr können Frauen
stehen, die sich ganz aufopfern für ihre Familie!
Die Tracht Prügel muss als eine vorsätzliche Körperverletzung gewertet werden. Mit ihr wird versuchet, das Kind für eine Tat zu bestrafen oder zur Einsicht zu bringen. Eine Tracht Prügel hat jedoch
noch kein Kind zur Einsicht bewogen. Im Gegenteil, das Kind entwickelt Hass auf die Erziehenden,
schmiedet Rachepläne, verschließt sich. Das Verhältnis zwischen Kind und Erwachsenen wird nachhaltig gestört. Deshalb: Konflikte immer gewaltfrei lösen!
Regeln zum positiven Umgang mit Kindern:
■ Von Kindern nur Dinge erwarten, die es altersgemäß schon leisten kann
■ Verschiedene Lösungswege zur Verfügung zu haben, wenn der Streit mit den Kindern sich
zuspitzt, der Aggressionspegel auf „180“ geschnellt ist, z.B. sich anderen Erwachsenen mitteilen (evtl. Freund/in anrufen)
294
SEMINAR-BAUSTEINE
■ Aus der Situation gehen, (eine Auszeit nehmen) ruhig erklären warum ein Verhalten nicht
akzeptiert werden kann. Dem Kind eine Chance geben, sich anders, weniger störend zu verhalten. Kompromisse gemeinsam suchen
■ Erkennen was das Kind zu seiner Unterstützung braucht.
■ Positives Verhalten mit Zuwendung und Lob verstärken.
■ Die eigenen Erwartungen dem Kind deutlich machen.
■ Mit Erwartungen und Regeln konsequent umgehen.
III. Sexuelle Gewalt gegen Kinder
Als Tagesmütter und -väter sollten Sie das Phänomen des sexuellen Missbrauchs von Kindern
kennen und wissen wie Sie sich bei Verdacht, zum Wohle des Kindes verhalten können. Es sind
Fälle von Missbrauch in der Betreuungsfamilie vorgekommen. Hier stellt sich die wichtige Frage,
wie Eltern mit Verdachtsmomenten richtig umgehen?
Was ist sexueller Missbrauch?
Es ist sexueller Missbrauch, wenn eine Person ihre Machtposition oder die Unwissenheit, das
Vertrauen oder die Abhängigkeit eines Mädchens oder eines Jungen zur Befriedigung der eigenen
Sexual- oder Machtbedürfnisse benutzt.
Fakten:
1993 wurden in Deutschland 15.430 Fälle an Kindern unter 14 Jahren polizeilich erfasst. In 76 %
der erfassten Fälle waren Mädchen die Opfer.
Wo geschieht sexueller Missbrauch?
Die Mehrheit der Missbrauchshandlungen finden innerhalb der Familie oder in einem sonstigen
vertrauten Rahmen statt. Es ist grundsätzlich von einer hohen Dunkelziffer auszugehen. Von den
angezeigten Fällen werden nur 20 % vor Gericht verhandelt. In der überwiegenden Mehrheit der
angezeigten Fälle sind die Missbrauchsübergriffe keine einmalige Tat, sondern werden in Familien
oft über Jahre hin wiederholt. Hinzu kommt die gesamte Problematik des „Sextourismus“ und der
zunehmenden Kinderpornographie im Internet.
Welche Kinder sind betroffen?
Kinder sind in keinem Alter vor sexuellem Missbrauch geschützt. Am stärksten betroffen sind
Mädchen und Jungen im Alter von 6 bis 12 Jahren. Missbrauch ist keine Frage der sozialen
Schichtung, Missbrauch findet in Akademikerfamilien genauso statt wie in Arbeiterfamilien.
G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G
IN DER
TAGESPFLEGE
295
Woran ist sexueller Missbrauch zu erkennen:
Der zum Teil Jahre lange Zwang zur Verheimlichung und zur Sprachlosigkeit führt zu Verhaltensänderungen wie z.B.:
■ Angst vor dem Alleinsein mit Männern
■ Depressionen, Apathie
■ Rückfall in der Entwicklung (Daumenlutschen, Einnässen)
■ Autoaggressives (selbst zerstörendes) Verhalten
■ Aggressives Verhalten anderen gegenüber
■ Distanzloses Verhalten (Kind fällt auch fremden Personen um den Hals)
■Konzentrationsschwächen
■ Plötzlicher Abfall schulischer Leistungen
■ Sexualisiertes Verhalten (z. B.: im Rollenspiel)
■ Schlafstörungen, Alpträume
Körperliche Verletzungen können an folgenden Merkmalen erkannt werden:
■ Blaue Flecken (Hämatome)
■ Bisswunden an der Brust und im Genitalbereich
■ Risse an der Scheide und After
■ Ausfluss, Infektionen und Geschlechtskrankheiten sind eindeutige Hinweise auf den sexuellen
Missbrauch
Handlungsmöglichkeiten bei Verdachtsmomenten:
1. Ruhe bewahren, überhastetes Eingreifen schadet nur
2. Schweigepflicht beachten! (Rufmord als Gefahr)
3. Rat und Unterstützung bei einer speziellen Beratungsstelle (Jugendamt, Kinderschutzdienst,
Kinderschutzbund, Kinderarzt) holen
4. Informationsbroschüren
Wie schütze ich meine Kinder/Tageskinder vor sexuellem Missbrauch?
Hier gibt es einige grundsätzliche Verhaltensregeln wie man Kinder stark und sicherer macht:
Gespräche mit den Kindern sind notwendig:
Ein gutes, offenes Vertrauensverhältnis zu den Kindern, in dem sie sich geborgen, geliebt und
anerkannt fühlen, schafft die Basis dafür, dass Ihre Kinder / Tageskinder zu Ihnen kommen, wenn
Ihnen etwas ein komisches Gefühl im Bauch macht. Gemeinsam mit den Kindern können sie
besprechen wie sich die Kinder selbst schützen können, z.B.:
296
SEMINAR-BAUSTEINE
■ Ich lasse mich nicht anfassen, wenn ich es nicht will! Das müssen auch die Familienangehörigen akzeptieren, wie Eltern, Geschwister, Großeltern etc.
■ Ich sage NEIN! Das Nein des Kindes sollte auch akzeptiert werden.
■ Ich will keine schlechten Geheimnisse! Kindern muss der Unterschied zwischen guten und
schlechten Geheimnissen erklärt werden. Gute Geheimnisse bereiten Freude, sind spannend,
schlechte Geheimnisse verursachen Kummer, bedrücken.
■ Ich darf schlechte Geheimnisse auch weitererzählen! Dem Kind klar machen, dass schlechte
Geheimnisse keine Geheimnisse sind, weil sie nur traurig und unglücklich machen.
■ Ich gehe nicht mit! Aufforderungen, vor allem fremder Personen mitzugehen, weil man z.B.
etwas zeigen soll, den Weg, eine Adresse, sollen von Kindern ignoriert oder abgelehnt werden.
■ Ich hole mir Hilfe! Vorbeikommende Erwachsene ansprechen, an der nächsten Haustür klingeln,
um Hilfe bitten.
■ Ich gehe in keine fremde Wohnung.
■ Ich steige in kein fremdes Auto.
■ Ich gehe nicht an ein fremdes Auto, wenn darin ein Fremder nach mir ruft.
■ Ich weiß, wie meine Körperteile heißen.
■ Bei Telefonbelästigungen: Sofort auflegen, oder Trillerpfeife benutzen, oder die Telefonnummer
des Anrufers aufschreiben.
■ Kinder beim Surfen im Internet nicht alleine lassen, Pornographie wird sehr über das Internet
vertrieben. Mit den Kindern und Jugendlichen Regeln aufstellen, welche Inhalte aus dem Internet
angeklickt werden dürfen.
(Quelle: „Gewalt gegen Kinder“ von INTERNATION POLICE ASSOCIATION, Informationsschrift der
Gleichstellungsstelle Ludwigshafen, Titel „mißbraucht“ 2. Auflage 1997)
J U G E N D – G E WA L T – F A M I L I E
5.4
297
Reiner Hartel
Jugend – Gewalt – Familie
Bildungswoche für Jugendliche in der
Bildungsstätte Alte Schule Anspach (basa),
Neu-Anspach (Taunus)
5.4.1 Seminarkontext bzw. Seminarhintergrund
Lernziele
Lernziel war die Thematisierung von und die Sensibilisierung gegenüber Gewalt in der
Familie und anderswo. Da das Seminar in der Jahresplanung des Förderlehrgangs den
Abschluss der Einführungs- und Kennenlernphase darstellte, welche bereits Lernelemente
des Rollenspiels enthielt, entschieden wir uns für eine besondere Kombination und Gewichtung der Lernziele. Während in den Workshops an vier Tagen das Thema „Gewalt“ in
sehr unterschiedlicher Form bearbeitet wurde, war der gesamte Mittwoch einer sehr direkten Annäherung an das Thema durch die Methode des „szenischen Spiels“ vorbehalten.
Zielgruppe
Jugendliche der Jugendberufshilfe im Alter zwischen 17 und 19 Jahren
Seminarhintergrund
Die Bildungsstätte in Anspach war von der Jugendwerkstatt Oberursel wegen der Gestaltung eines Seminars zur Gruppenfindung angefragt worden. Der Themenvorschlag kam
von der Bildungsstätte; die Konzeptionierung fand in Zusammenarbeit mit den
Pädagoginnen und Pädagogen der Jugendwerkstatt Oberursel statt. Auf diese Weise
gelang es, einen Beitrag zum Projekt „Familie und Gewalt“ zu leisten. Da die Jugendwerkstatt in erster Linie an einem projektorientiertes Seminar zur Gruppenfindung interessiert war, war es notwendig, neben der thematischen Arbeit auch Workshops und
Freizeitaktivitäten am Abend anzubieten. Da es sich um eine feste Gruppe des Förderlehrgangs für lernbehinderte Jugendliche handelte, war es nicht nötig, um einzelne Jugendliche zu werben. Seminarleitung und Workshopleiter gingen zehn Tage vor Beginn
des Seminars in die Gruppe, stellten ihr Konzept vor und beantworteten Nachfragen.
298
SEMINAR-BAUSTEINE
Bei dem Seminar handelte es sich um die Fortsetzung eines längerfristigen und immer
wieder modifizierten Vorhabens der Bildungsstätte, mit der Zielgruppe benachteiligter
Jugendlicher ein solch heikles Thema zu bearbeiten. Als Teilnehmende am Projekt „Familie und Gewalt“ sind die Mitarbeitenden der Bildungsstätte davon überzeugt, dass es sich
hierbei um ein zentrales, aber häufig verheimlichtes Thema bei Jugendlichen handelt.
Jugendbildungsarbeit hat deshalb die Aufgabe, sich und die Jugendlichen mit diesem
Thema zu konfrontieren.
Das Tagungshaus mit dem gemütlichen Café für die Abendprogramme sowie einer universellen Werkstatt mit überdachter Freifläche und die vielfältigen Seminarräume boten
ideale Bedingungen sowohl für die kreative Arbeit als auch für die Freizeitbedürfnisse
zwischendurch. Für den handwerklich-kreativen Workshop standen ausreichend Werkzeuge und technische Geräte zur Verfügung. Für die beiden anderen Workshops „Film“
und „Musik“ konnte durch die zusätzliche Ausleihe von speziellen Anlagen eine Arbeit
auf verhältnismäßig hohem Niveau gewährleistet werden.
Wir gingen davon aus, dass die Jugendlichen zentrale Gewalterfahrungen selbst gemacht haben, was sich im Verlauf des Seminars auch bestätigte. Diese zu kommunizieren gelang freilich in sehr unterschiedlicher Weise: Während einige relativ offen über
Gewalterfahrungen in der Familie und in sonstigen Zusammenhängen sprachen und auch
sprechen wollten, verschlossen sich andere bei diesem Thema. Insbesondere der dritte
Seminartag war in diesem Zusammenhang schwierig, da nur in zwei von drei Arbeitsgruppen des szenischen Spiels eine persönliche Aufarbeitung durch Standbilder, personelle Umbesetzungen und das „Vor- und Zurückspulen“ von Gewaltszenen im zweiten
Teil am Nachmittag möglich war. Die dritte Arbeitsgruppe hat sich der Methode fast
völlig verweigert.
5.4.2 Ausschreibungstext
Das Seminar „Jugend, Gewalt und Familie“ wendet sich an Jugendliche unterschiedlicher Nationalitäten, die zwischen 16 und 19 Jahre alt sind und gemeinsam einen berufsvorbereitenden Förderlehrgang besuchen. Wir werden uns dem Themenkomplex Jugend,
Gewalt, Familie mit den Mitteln des Theaters, der Musik und der Videotechnik nähern.
Die Teilnehmenden erhalten so die Gelegenheit, über ihre Erfahrungen mit Gewalt, auch
in der Familie, zu berichten und zu eigenständigen künstlerischen Ausdrucksformen der
J U G E N D – G E WA L T – F A M I L I E
299
Problematik – z.B. in der musikalischen Form des Rap – zu gelangen. Die dafür nötigen
Techniken sollen unter Anleitung erfahrener Medienpädagoginnen und -pädagogen in
mehreren Workshops erlernt bzw. die bereits vorhandenen diesbezüglichen Kompetenzen der Teilnehmenden stimuliert werden. Am Ende der Projektwoche steht die Präsentation der Arbeitsergebnisse, wodurch die Jugendlichen die Chance erhalten, die erlernten Fähigkeiten öffentlich darzustellen, auf diese Weise ihr Selbstbewusstsein bzw. Selbstwertgefühl zu stärken und ihnen so zu einem nicht allzu oft erfahrenen Erfolgserlebnis
zu verhelfen. Zugleich soll der Kurs die Jugendlichen darin unterstützen, familiäre Konfliktlagen in ihren wechselseitigen Beziehungsgeflechten zu erkennen, und ihre Bereitschaft fördern, sich auf aushandlungsorientierte und nichtgewaltförmige Strategien ihrer Austragung einzulassen.
5.4.3 Bausteine
Montag
09.00 h-09.30 h
10.00 h-10.30 h
Begrüßung und Einführung in die Regeln des Hauses
Beginn der Veranstaltung mit einem Warming up
10.30 h-11.00 h
Einführung ins Thema mittels Produktion eines Kettentextes sowie dessen Diskussion
12.00 h-13.00 h
Struktur der folgenden Tage, Fixierung der Themen durch Zettel,
die – strukturiert nach Metathemen (Familie/Gewalt/Erziehung)
15.00 h-18.00 h
– auf eine Wandzeitung geklebt werden
Workshops:
■ Foto: Motivsuche
■ Politik/Soziales: Elterliche Gewalt: Ursachen und Folgen
■ Szenisches Spiel: Stellung und Interpretation von Gewaltsituationen in der Familie
Dienstag
10.00 h-13.00 h
15.00 h-18.00 h
Workshops
■ Foto: Bilder entwickeln
■ Politik/Soziales: Interpretation des Films, Bilder der Gewalt,
■ Gewalterfahrung, Lust an Gewalt
Workshops
■ Foto: Bilder auf Pappe aufziehen, Montage der Bilder zu Szenen familialer Gewalt oder familialen Friedens
300
SEMINAR-BAUSTEINE
■ Politik/Soziales: Filmbetrachtung „Die letzte Kriegerin“ [Neuseeland 1994, Regie: Lee Tamahori, Verleih: BMG (Video)] und
Interpretation von familialer Gewalt und Vernachlässigung von
Jugendlichen sowie Umschlag der Frustration in Gewalt
■ Szenisches Spiel: Mittels Textszenen aus „Mensch Meier“ von
Kroetz Rekonstruktion familialer Konflikte und Lösung dieser
Konflikte mit Methoden des „Szenischen Spiels“
Mittwoch
10.00 h-13.00 h
Workshops
Schwerpunkt aller Workshops ist die Vorbereitung der Präsentation des Erarbeiteten unter der Zielsetzung: Gewaltfreie Bearbei-
15.00 h-17.00 h
17.00 h-17.30 h
tung von familialen Konflikten
Diskussion im Gesamtplenum mit Moderation:
■ Wie entstehen gewalttätige Konflikte in der Familie?
■ Wie lassen ich solche Konflikte konstruktiv lösen?
Abschlussreflexion
5.4.4 Resümee, Folgerungen, Perspektiven
Durch die drei sehr unterschiedlichen Workshopangebote über vier Seminartage ergaben
sich teils ungewöhnliche Begegnungen zwischen den Jugendlichen, die sie dazu motivierten, die andere bzw. den anderen näher kennen zu lernen. Es bestand das Bedürfnis,
sich gegenseitig zu erfahren und zu messen, aber auch sich abzugrenzen, was sich sehr
deutlich im abendlichen Freizeitverhalten zeigte. Viele Teilnehmende zeigten starkes
Interesse an Gesamtgruppenaktivitäten; andere zogen es vor, in Kleingruppen „unter
sich“ zu sein. Spätestens ab dem vierten Seminartag wurde von fast allen Teilnehmenden ein gutes Produkt erwartet, das am letzten Tag in einer Veranstaltung mit Presse
präsentiert werden sollte.
Berücksichtigt man, dass die Lerngruppe von der Arbeitsamtsverwaltung zwangsläufig
zufällig zusammengestellt wurde und einige Teilnehmende bereits bekannte Verhaltensauffälligkeiten zeigten, wurde mit dieser Seminarveranstaltung ein erstaunlich positives Ergebnis erzielt. Einzelne haben auch einmal kurzfristig das Gruppengeschehen –
sogar während der Arbeitsphasen – verlassen, was bedingt zugelassen wurde. Insgesamt
kann aber in allen drei Workshops von einem echten Teamergebnis gesprochen werden.
J U G E N D – G E WA L T – F A M I L I E
301
Durch die gezielte Einwahl in einen von drei Workshops konnten die Teilnehmenden in
sehr unterschiedlichen Neigungsfeldern neue Fähigkeiten entwickeln, sich zu einem gemeinsamen Thema zumindest semiprofessionell zu äußern. Auch der Projekttag „Szenisches Spiel“ erwies sich als zeitlich richtig platziert und im Gesamtumfang angemessen.
Die Reproduktion selbst erlebter Gewaltszenen mit der Möglichkeit, Handlungsalternativen
zu entwickeln, hat bei den Teilnehmenden spürbare Gedankenprozesse ausgelöst.
Im Workshop „Musik“ bildeten die Ereignisse des 11. September die Grundlage für das
endgültige Produkt. Der Text war letztlich das Ergebnis einer gemeinsamen Stellungnahme zum Terrorismus in einer für Jugendliche recht adäquaten Ausdrucksform, auch wenn
in der Gruppe keine tatsächlich kontroversen Positionen vertreten worden sind. Den
Teilnehmenden war es indes wichtig, zu diesem einschneidenden Ereignis in dieser
Form eindeutig Stellung zu beziehen.
In der Gruppe, die aus Stahlschrott-Teilen eine überdimensionale Figur produzierte,
entstand ihre „Big Mamma“, allerdings dann doch mit einem „Peace-Zeichen“ an der
Halskette. Eine andere Teilgruppe des handwerklich-kreativen Workshops produzierte
aus einem Eichenstamm eine zwar kleinere, aber schwerere Holzskulptur, die von ihnen
„TV-Glotzer“ genannt wurde. Im „Quadratschädel“ befand sich eine Eisenpistole, die die
mediale Gewalt zum Ausdruck brachte.
Das Thema „(jugendliche) Gewalt auf der Straße“ wurde - untermauert von Interviews
mit Jugendlichen und Erwachsenen zum Thema - im Workshop „Film“ szenisch bearbeitet. Es entstand ein Beitrag, der es den Teilnehmenden ermöglichte, das Geschehen aus
der Täter- und der Opferperspektive zu erleben und die eigene persönliche Geschichte
von Macht und Ohnmacht aufarbeiten zu können.
Durch die Medien Musik, Film, „Szenisches Spiel“ und das handwerkliche Tun mit Holzund Metallbearbeitungswerkzeugen sollten die Jugendlichen ans Thema von außen herangeführt werden, d.h. sie sollten über einen Umweg auf sich selbst gestoßen werden.
Die Arbeit in den Workshops, aber auch die szenische Arbeit sind schöpferische Formen,
die es ermöglichen, nicht alltägliche Rollenwechsel zu vollziehen und den fotografischen
Blick einzunehmen. Die handlungsorientierte Arbeit in den Gruppen ermöglicht die Annäherung an ein sehr persönliches Thema durch den Blick von außen in ein fremdes
Konfliktfeld. Von dort aus sollten die Jugendlichen allmählich in die Lage versetzt werden, Bezüge zum eigenen Leben herzustellen.
302
SEMINAR-BAUSTEINE
Das Thema „Gewalt“ sollte in den Workshops zum Ausgangspunkt der Arbeit genommen
werden. Das „Szenische Spiel“ am Mittwoch begann mit Bewegungstraining und Körperkontakt. Dabei taten sich die Jugendlichen durchaus schwer. Danach gingen wir in drei
Arbeitsgruppen zur szenischen Arbeit über, wobei die Jugendlichen zunächst Standbilder
mittels der anderen Teilnehmenden entwickeln sollten, die dann in der Gesamtgruppe
ausgewertet wurden. In einem zweiten Schritt sollten dann in den gleichen Arbeitsgruppen
die szenischen Standbilder variiert und mit Hilfe der Methode des fantasierten Vor- und
Rücklaufs sowie durch Rollentausch und Diskussion alternative Möglichkeiten im Erleben
der gezeigten Gewaltsituationen erarbeitet werden. Dies war in der geplanten Form nur in
zwei von drei Gruppen möglich. Wie bereits anfangs erwähnt, hatte sich die dritte Gruppe
diesem zweiten Schritt verweigert. Dies führte zu einer Sammlung von verschiedenen
Kritikpunkten der Teilnehmenden an der Gesamtveranstaltung in Bezug auf die Inhalte
und den organisatorischen Ablauf, die auch in der Auswertungsdiskussion des Tages im
Plenum einen breiten Raum einnahm. Dabei wurde deutlich, dass es für einige Teilnehmende massive Barrieren gegenüber der Methode des „Szenischen Spiels“ gab, die sie
allzu sehr an die bereits in der Einführungsphase durchgeführten Rollenspiele erinnerte,
an denen sie sich auch schon ungern beteiligt hatten. Somit wurde die Methode als Ganze
in ihrer persönlichen Kategorie „Kinderkram“ einsortiert. Die organisatorischen Probleme
konnten dagegen geklärt und verändert werden. Die Aussicht, dass an den beiden folgenden Tagen die Arbeit in
den Workshops weitergehen sollte und in der folgenden Woche ohnehin
ein straff organisiertes
berufsfeldorientiertes
Assessmentcenter bevorstand, beruhigte schließlich auch die Hauptwortführer der „KinderkramKritik“.
Aufgrund der bisherigen
Erfahrung mit ähnlichen
Gruppen wurde mit den
Workshops an vier von
fünf Tagen wieder be-
J U G E N D – G E WA L T – F A M I L I E
303
wusst auf eine stark produktorientierte Annäherung an das Thema familialer und anderer Gewalt gesetzt. Trotzdem sollte in der Mitte des Seminars nicht wie im letzten Jahr
ein freizeit- und erlebnisorientierter Tag stehen, sondern der bereits erwähnte „Tag des
szenischen Spiels“. Damit war unsererseits die Ambition verbunden, den Teilnehmenden
einmal andere und sehr persönliche Erfahrungen mit körperlicher und psychischer Gewalt bewusst zu machen und gleichzeitig Handlungsvarianten zu entwickeln.
Ausdrücklich benannt wurden die positiven Erlebnisse in den drei Workshops, die begleitet waren von einem gewissen Stolz auf das jeweils entstandene Produkt.
In den drei Workshops ist es gelungen, einerseits die Teilnehmenden aus verschiedenen
Blickwinkeln und Zugängen an das Thema „heranzuholen“ und dieses im jeweiligen
Kontext intensiv zu bearbeiten. Andererseits konnten sehr verschiedene kulturelle Ausdrucksformen je nach persönlicher Neigung ausprobiert und eingeübt werden.
Bezogen auf das praktische Tun war ein benannter Informationsgewinn die sichere Handhabung von Werkzeugen sowie des technischen Geräts in den Workshops „Musik“ und
„Video“. Da eine verbale Beurteilung der eigenen Reflexionsanregungen von benachteiligten und lernbehinderten Jugendlichen kaum zu erwarten ist, haben wir den Versuch
einer Abfrage derselben unterlassen. Insofern bleibt hier eine gewisse Grauzone in der
Evaluation bestehen.
Auch hier muss das Seminar im Kontext des pädagogischen Gesamtkonzeptes gesehen
werden. Für viele auch gewaltbereite Jugendliche war diese Seminarwoche ein prägnantes Schlüsselerlebnis, das mittel- und längerfristig durchaus eigene Verhaltensänderungen
bewirkt hat oder bewirken kann, wenn nämlich Gruppen- oder Einzelkonflikte frühzeitig
erkannt und bearbeitet werden. Eine Motivation zum gesellschaftlichen Engagement im
klassischen Sinne wurde nicht benannt und ist aufgrund eines einwöchigen Seminars
sicher auch nicht zu erwarten. Aber konkreten Konfrontationen mit Gewalt in ihren
verschiedenen Ausprägungen wollen die Teilnehmenden künftig anders und damit überlegter begegnen.
Zunächst ist zu bemerken, dass sich die sehr heterogene Gruppe in mehrerlei Hinsicht
und in vergleichsweise sehr kurzer Zeit - was nicht zuletzt durch das Seminar bewirkt
wurde - als kooperative und produktive Lerngruppe gefunden hat, in der es möglich war,
Konflikte jedweder Art zu thematisieren und auch Lösungen zu finden. Die persönliche
304
SEMINAR-BAUSTEINE
Erfahrung, unter professioneller Anleitung mit einfachen Mitteln kulturelle Ausdrucksformen zu einem Ergebnis zu führen, das in der Öffentlichkeit Beachtung gefunden hat,
wird die Teilnehmenden sicher auch längerfristig in ihrem Tun beeinflussen.
Die bisherigen Erfahrungen sowohl mit der Zielgruppe als auch mit der thematischen
Arbeit sind sehr stark in die Planung dieses Seminars eingeflossen. Die Arbeit in den
Workshops entsprach in jeder Hinsicht den Neigungen und Wünschen der Teilnehmenden, so dass hier zwar einzelne Elemente getauscht oder auch verändert werden könnten, aber grundsätzlich erhalten bleiben sollten. Der Seminarteil „Szenisches Spiel“, der
schon im letztjährigen Seminar für eine Teilgruppe mit nur mäßigem Erfolg das gesamte
Seminar über im Programm war und schließlich zugunsten eines freizeit- und erlebnispädagogischen Tages aus dem Seminar genommen wurde, könnte eventuell ersetzt oder
verändert werden. Vielleicht ist bereits die Vokabel „Spiel“ insbesondere bei dieser Zielgruppe zu sehr negativ besetzt. Andererseits ist die Methode prinzipiell sehr gut geeignet, persönliche Gewalterfahrungen in einer Gruppe sinnhaft und zukunftsweisend zu
bearbeiten.
G E WA L T
5.5
IN DER
ERZIEHUNG
305
Christine Heide
Gewalt in der Erziehung
Eine Fortbildung für Erzieher/innen und
Grundschullehrer/innen
5.5.1 Seminarkontext bzw. Seminarhintergrund
Das Seminar wurde geplant und durchgeführt in Kooperation mit der Jugendhilfeplanung
der Stadt Wilhelmshaven. Es sollte eine Veranstaltung für Erzieherinnen und Grundschulehrerinnen aus dem Stadtnorden, einem sozialen Brennpunkt mit hohem Anteil an Aussiedlern und Sozialhilfeempfängern sein. Teilgenommen haben ausschließlich Erzieherinnen, die meisten, aber nicht alle aus dem genannten Stadtteil (zwölf Teilnehmerinnen).
Das Thema ist ein „Dauerbrenner“ im Kriminalpräventionsrat der Stadt sowie seinen
verschiedenen Arbeitskreisen und in den Stadtteilkonferenzen und bei der Jugendhilfeplanung. Da die VHS in diese Gruppen lose eingebunden ist, konnte sie ohne Probleme
als Forum und Multiplikator für die Teilnehmerwerbung eingesetzt werden.
Die Kooperationspartner erwarteten auch eine Unterstützung ihrer Arbeit, vor allem ein
Hineintragen der Problematik auf weitere Kreise; insofern unterstützte die Jugendhilfeplanung die Veranstaltung auch finanziell, so dass die Eigenbeteiligung der Teilnehmerinnen bzw. der sie entsendenden Einrichtungen nur bei (damals) 30 DM pro Person
liegen musste. Inhaltliche oder organisatorische Einflüsse wurden nicht genommen.
Neben einer Veröffentlichung im Programm der VHS (siehe Ausschreibungstext) wurden
alle Kindertagesstätten und Grundschulen im Einzugsbereich mit einem Handzettel versorgt. Darüber hinaus wurde im Konvent der Leiterinnen der Kindertagesstätten und bei
einem Stammtisch der Grundschulleiter über die geplante Veranstaltung berichtet sowie
Einzelpersonen direkt angesprochen (allerdings mehr nach dem Zufallsprinzip). Die
vergleichsweise persönliche und relativ aufwändige Werbung sicherte die Durchführbarkeit der Veranstaltung, Berichterstattungen in der Lokalzeitung produzierten eine weitere, noch immer anhaltende Nachfrage sowohl von Grundschulkollegien wie auch vom
Frauenhaus und den niedergelassenen Kinderärzten.
306
SEMINAR-BAUSTEINE
Spannend waren bei dieser Veranstaltung vor allem die Fragen, die mit einer Projektentwicklung im Stadtteil und den entsprechenden Vernetzungen zusammenhängen: Würde
es gelingen, Kindertagesstätten und Grundschulen, die sich häufig eher skeptisch, ja
gar vorurteilsgeladen gegenüber stehen, zu Kooperationen zu bewegen? Und: Inwieweit
würde es gelingen, das Thema familiäre Gewalt – ein Tabuthema in beiden Institutionen
– produktiv zu behandeln?
5.5.2 Ausschreibungstext
Gewalt in der Erziehung: Eine Fortbildung für Erzieher/innen und Grundschullehrer/innen
„Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische
Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“ (§ 1631, Abs. 2
BGB)
Lernziele des Seminars
1 Die Teilnehmenden sollen sich mit eigenen Gewalterfahrungen in der Opfer- wie auch
der Täterrolle auseinandersetzen, sie sollen unterschiedliche Formen von Gewalt kennen lernen.
2 Die Teilnehmenden sollen einen Überblick über die unterschiedlichen Aggressionstheorien erhalten.
3 Die Teilnehmenden sollen (nach soviel Theorie) eine konkrete Handlungsanweisung
erhalten.
4 Die Teilnehmenden sollen eine Möglichkeit kennen lernen, sich selbst bei Gewalterfahrungen im Arbeitsbereich zu entlasten und Hilfe zu holen.
5 Die Teilnehmenden sollen Methoden der Projektentwicklung und des Projektmanagements kennen lernen.
5.5.3 Bausteine
Baustein 1
■ Ziele: Einstimmung auf die Thematik, Auseinandersetzung mit eigenen Gewalterfahrungen in der Opfer- wie auch der Täterrolle, Kennen lernen der unterschiedlichen Formen von Gewalt.
■ Zielgruppen: Alle oben genannten.
G E WA L T
IN DER
ERZIEHUNG
307
■ Methode: Kartenabfrage zur eigenen Gewalterfahrung (als Täter und Opfer), Sortieren
nach unterschiedlichen Formen der Gewalt (physisch, psychisch, strukturell).
■ Zeit: gut 2 Unterrichtsstunden.
Baustein 2
■ Ziel: Die Teilnehmenden sollen einen Überblick über die unterschiedlichen Aggressionstheorien erhalten.
■ Zielgruppen: Alle oben genannten.
■ Methode: Kurzvortrag mit Visualisierung über Folien.
■ Zeit: knapp 2 Unterrichtsstunden.
Baustein 3
■ Ziel: Die Teilnehmenden sollen (nach soviel Theorie) eine konkrete Handlungsanweisung erhalten.
■ Zielgruppen: Jede für sich.
■ Methode: Präsentation durch Kursleiterin/Kursleiter, gegebenenfalls noch nach Zielgruppen differenziert.
■ Beispiel für Erzieherinnen: Präsentation eines exemplarischen Elternabends zum Thema
einschließlich einer Mappe mit Folien und Arbeitspapieren.
■ Zeit: ca. 2 Unterrichtsstunden.
Baustein 4
■ Ziel: Die Teilnehmenden sollen eine Möglichkeit kennen lernen, sich selbst bei Gewalterfahrungen im Arbeitsbereich zu entlasten und Hilfe zu holen.
■ Zielgruppen: Grundsätzlich alle, aber Übung zielgruppendifferenziert.
■ Methoden: Kurzvortrag und Arbeitspapier zum Thema Kollegialsupervision, Übungen
in Kleingruppen (möglichst unter Moderatorenbegleitung), Auswertung im Plenum.
■ Zeit: 3 - 4 Unterrichtsstunden.
Zusatzbaustein
■ Ziele: Die Teilnehmenden sollen familiale Gewaltanwendung erkennen können und
Interventionsmöglichkeiten auf verschiedenen Ebenen kennen und anwenden können.
■ Methoden: Abfrage mit Dokumentation an vorbereiter Moderationswand; Fragestellung: Wie viele Kinder meiner Gruppe sind meines Wissens in der letzten Woche in
ihrer Familie geschlagen oder verbal niedergemacht worden? (differenzieren nach
Geschlecht, Altersstruktur und sozialer/ethnischer Herkunft); Plenumdiskussion: Wie
308
SEMINAR-BAUSTEINE
kann ich die Eltern erreichen? (mit Dokumentation/ Protokoll); Folienvortrag mit
Diskussion: Interventionsschema elterliche Gewaltanwendung. (Datei 14)
■ Zeit: ca. 4 Unterrichtsstunden
Baustein 5
■ Ziel: die Teilnehmenden sollen Methoden der Projektentwicklung und des Projektmanagements kennen lernen.
■ Zielgruppen: Alle oben genannten.
■ Methoden: Abhängig von den zeitlichen Möglichkeiten der Zielgruppe.
■ Methodenpräsentation mit praktikablen Arbeitsangaben.
■ Dito mit praktischen Übungen in Kleingruppen mit differenzierter Aufgabenstellung
oder (je nach Gruppengröße) im Plenum.
■ Zeit: mindestens 4 Unterrichtsstunden.
5.5.4 Resümee, Folgerungen, Perspektiven
Erzieherinnen und Grundschullehrerinnen sind in ihrem beruflichen Alltag ständig mit
Gewaltsituationen konfrontiert – vor allem mit Gewalt unter Kindern. Das Wissen um
familiale Gewalt ist ein eher theoretisches, welches wenig handlungsleitend ist. Im
Verlauf dieser Veranstaltung war es für die Referentin jedoch schon erschreckend, wie
wenig sich die Teilnehmerinnen im Vorfeld mit diesem Aspekt auseinander gesetzt hatten und wie groß die Verhaltensunsicherheiten vor allem der jüngeren Erzieherinnen in
Situationen waren, in denen sie Gewalt von Eltern ihren Kindern gegenüber erlebt hatten. Dieser Aspekt wurde an einem von einer Teilnehmerin eingebrachten Beispiel im
Sinne der Entwicklung von Verhaltensalternativen diskutiert.
Die zweite Gruppe, an der das Unterrichtsmodell erprobt wurde, war bereit, sich direkt auf
die Fragestellung, wie viele und welche Kinder ihrer Gruppe nach ihrer Einschätzung elterlicher Gewaltanwendung ausgesetzt sind, einzulassen. Die Erzieherinnen vertraten Kindertagesstätten aus allen Wohngebieten der Stadt, also Einrichtungen aus sozialen Problemgebieten ebenso wie aus gutbürgerlichen Vierteln. Die Sachstandserhebung ergab, dass
nach ihrer – eher zurückhaltenden – Einschätzung ca. 10 % der Kinder zuhause elterlicher
Gewalt ausgesetzt sind. Aus der Fachliteratur (Liebel-Fryszer, Inge/ Maria Kron: Gewalt
gegen Kinder, in TPS 1 und 2/99) wurde ein Interventionsschema vorgestellt, gemeinsam
weiterentwickelt und an die örtlichen Bedingungen angepasst. Dieser Zusatzbaustein wur-
G E WA L T
IN DER
ERZIEHUNG
309
de von den Teilnehmerinnen als sehr hilfreich und handlungsleitend wahrgenommen. Er
wird bei weiteren Veranstaltungen in das Gesamtkonzept integriert werden.
Der Begriff der strukturellen Gewalt war den Teilnehmerinnen zuerst fremd, wirkte aber
im Verlauf der Veranstaltung sehr motivierend, da das Thema „Raumgestaltung in Tageseinrichtungen für Kinder“ zur Zeit heftig diskutiert wird und Gewaltprävention durch
Umgestaltung von Räumen dem Bedürfnis der Teilnehmerinnen nach praktischer, sichtbarer Arbeit entgegen kam. Als schwieriger angesehen wurde die Durchsetzbarkeit struktureller Veränderungen im Stadtteil, jedoch war bei einzelnen Teilnehmerinnen eine
Bereitschaft auch zum gesellschaftlichen Engagement signalisiert worden.
Das Bedürfnis der Kooperation unter den Kindertagesstätten und zwar unabhängig vom
jeweiligen Träger und der Kooperation mit den Grundschulen war den Teilnehmerinnen
wichtig. Letzteres war in Anbetracht des Nicht-Vorhanden-Seins von Grundschullehrerinnen und -lehrern auf dieser Veranstaltung zum wiederholten Male als schwierig betrachtet worden: Die Strukturen und das Aufgabenverständnis der beiden Institutionen
werden als sehr unterschiedlich eingeschätzt. Als positiv bewerteten die Teilnehmerinnen diese, sonst in der Stadt nicht angebotene Möglichkeit der trägerübergreifenden
Diskussion, die als besonders anregend empfunden wurde.
Für das Thema „Projektentwicklung“ waren Arbeitsgruppen (je 4 Personen) vorgesehen,
die sehr zielorientiert und motiviert gearbeitet haben und abschließend im Plenum ihre
Ergebnisse vorgestellt haben.
Bei dieser Veranstaltung lag – den Interessen der Teilnehmerinnen folgend – der Schwerpunkt beim Lernziel 3. Praktische Hilfestellung im Umgang mit den Eltern und Möglichkeiten der Einflussnahme auf deren Erziehungsverhalten waren von besonderem Interesse.
Anknüpfend an die oben genannten Interessensschwerpunkte der Teilnehmergruppe und
dem hohen Aussiedleranteil im Stadtteil wurden kulturell unterschiedliche Beurteilungen familialer Gewalt diskutiert und vor dem Hintergrund der Integration von Aussiedlern reflektiert.
Handlungsleitend war die grundlegende Akzeptanz der fachlichen wie persönlichen Kompetenz der Teilnehmerinnen, die „Belehrungen“ im klassischen Sinne ausschließt und
aus dieser Kompetenz heraus den Erkenntnisprozess durch zielgeleitete Fragestellungen
310
SEMINAR-BAUSTEINE
vorantreibt. Dabei ging die Referentin von der pädagogischen Erkenntnis aus, dass
selbsttätig erlangte Erkenntnisse nachhaltiger wirken als von außen aufgesetzte.
In dieser Veranstaltung war das Interesse an der Elternarbeit zum Gewaltthema besonders
groß; Arbeitsformen, die das Einbringen eigener Erfahrungen ermöglichten wie moderierte Verfahren und Gruppenarbeit wurden besonders geschätzt.
Das Lernziel 4 wurde mangels Teilnehmerbedürfnis nicht bearbeitet, ansonsten wurden
die Lernziele erreicht. Die gesamt Seminarplanung war ohnehin für die verhältnismäßig
kurze zur Verfügung stehende Zeit etwas überfrachtet, deshalb ist sie als ein Angebot zu
betrachten, aus dem die Teilnehmenden auf Grund ihrer Bedürfnisse die Bausteine bearbeiten, die ihnen am wichtigsten sind. Die Entscheidung darüber wird in der Gruppe
getroffen.
Den mündlichen Rückmeldungen war zu entnehmen, dass das Projektthema, das bereits im
Vorfeld der Veranstaltung für die Teilnehmerinnen wichtig war (sonst hätten sie sich nicht
angemeldet und die zusätzliche, in vielen Fällen in der Freizeit stattfindende Arbeitsbelastung auf sich genommen), an zusätzlicher Relevanz gewonnen hatte und das Spektrum der
Herangehensweise an die Thematik erheblich erweitert wurde. Einzelne Teilnehmerinnen
(s.o.) zogen ein weitergehendes gesellschaftliches Engagement in Erwägung.
Soweit dies ohne eine nachfolgende Befragung (die nach einem Jahr sicherlich wünschenswert wäre) zu beurteilen ist, kann davon ausgegangen werden, dass innerhalb
der Einrichtungen in Bezug auf die Elternarbeit und auf die Raumgestaltung mittelfristige Wirkungen zu erwarten sind.
In Bezug auf ein erwünschtes gesellschaftliches Engagement muss die Lebenssituation
der Teilnehmerinnen und hier vor allem ihre Doppelbelastung durch Beruf und Familie
berücksichtigt werden, so dass dies wohl realistischerweise eher zurückhaltend beurteilt werden sollte.
Eine wichtige Voraussetzung für die Weiterentwicklung des Projektes ist m.E. die Offenheit und die Vernetzung der Projektbeteiligten und anderer Personen – z.B. gibt es
offenbar sowohl beim Kinderschutzbund wie auch bei der AWO ähnlich gelagerte Projekte. Wenn dies den Projektbeteiligten auch kein Problem darstellt, so wäre es doch wünschenswert, mehr über andere Projekte zu erfahren.
G E WA L T
IN DER
ERZIEHUNG
311
Literatur
Inge Liebel-Fryszer/Maria Kron: Gewalt gegen Kinder, in TPS 1 und 2/99
Anhang
Was tun bei Verdacht auf elterliche Gewaltanwendung?
Mögliche Symptome:
■ Häufige Verletzungen, die nicht auf Unfälle zurückzuführen sind.
■ Gesundheitsgefährdende Vernachlässigung der Hygiene.
■ Erschrecken bei plötzlichen Bewegungen Erwachsener.
■ Plötzliche dramatische Veränderungen im Bereich des Sozialverhaltens und der Leistung.
■ Distanzloses Verhalten.
■ Der Wunsch, nicht nach Hause zu gehen.
■ Autoaggression, bei älteren Kindern auch Suchtverhalten.
■ Stark zurückhaltendes Verhalten.
■ Depression.
■ Sprachlosigkeit.
■ Psychosomatische Reaktionen wie Ess- und Schlafstörungen, Einkoten, …
■ Bei sexueller Gewalt eventuell zusätzlich: sexualisiertes Verhalten, Verletzungen oder Reizungen im Genitalbereich.
Diese Symptome können, müssen aber nicht notwendigerweise auf häusliche Gewaltanwendung
hindeuten; sie sollten aber Erzieherinnen und Lehrkräfte ein Warnsignal sein und die folgenden
Arbeitsschritte auslösen:
1. Beobachtung:
Zum einen durch die zuständige Kollegin, zum anderen durch eine weitere Fachkraft, um den
Verdacht zu erhärten oder aber zu entkräften. Die Beobachtungen sollten unbedingt schriftlich
dokumentiert werden und sich über einen längeren Zeitraum erstrecken (außer wenn offensichtlich Gefahr im Verzug ist); auch Differenzen in der Wahrnehmung der beiden Beobachter sollten
festgehalten werden.
2. Informationssammlung:
Informationen über die Lebensbedingungen des Kindes müssen eingeholt werden; dazu sind Eltern-
312
SEMINAR-BAUSTEINE
gespräche über die Entwicklung des Kindes und sein Umfeld erforderlich. In diesen Gesprächen
geht es (noch) nicht um eine Konfrontation der Eltern mit dem Verdacht, sondern darum, ein
möglichst genaues Bild zu erhalten.
3. Selbstreflexion:
Was hat dieser Verdacht mit mir selbst, meinen Einstellungen und Erwartungen zu tun?
4. Beratung:
Wenn sich der Verdacht erhärtet, ist spätestens zu diesem Zeitpunkt Beratung einzuholen, da alle
weiteren Schritte erhebliche Konsequenzen für das Kind und die Familie haben können. Innerhalb
des eigenen Hauses bzw. trägerintern kann dabei nach dem Vorschlag „Kollegiales Problemlösungsgespräch“ verfahren werden. Beratung außerhalb des eigenen Hauses ist möglich über den
Kinderschutzbund oder den allgemeinen Sozialdienst der Stadt, außerdem über das Kinder- und
Jugendzentrum und die Schulpsycholgin. Der Name des Kindes muss hier nicht genannt werden.
5. Information des Trägers:
Sie sollte (vorerst ohne Namensnennung) zu diesem Zeitpunkt erfolgen, um ggf. Rückendeckung
zu haben.
6. Weiterbestehen des Verdachts, keine konkreten Informationen:
Weitere sorgfältige Beobachtung des Kindes, möglichst unter Hinzuziehung von Beratung; weitere
Elterngespräche über die Sorgen, die man sich über das Kind macht, d.h. die Einrichtung übernimmt hier durchaus Kontrollfunktionen.
7. Bestätigung des Verdachts durch konkrete Informationen
■ Eltern sind zur Mitarbeit bereit: Die Planung weiterer Schritte kann mit den Eltern gemeinsam
und einvernehmlich erfolgen, z.B. Vermittlung an Beratungsstellen, regelmäßige Elterngespräche,
Hilfen durch das Jugendamt etc.
■ Eltern sind nicht zur Mitarbeit bereit: Wenn alle Versuche (dokumentieren!) nichts fruchten,
müssen (wiederum nach Beratung) Institutionen zum Schutz des Kindes eingeschaltet werden.
Die Eltern sind über diesen Schritt zu informieren; erster Ansprechpartner ist das Jugendamt
bzw. der allgemeine Sozialdienst. Eine Anzeige bei der Polizei ist ebenfalls möglich, wird aber
unter dem Aspekt des Kindeswohls kontrovers diskutiert.
8. Begleitung des Kindes:
Ein Kind, das Gewalt ausgesetzt ist, fühlt sich hilflos und verlassen. Es ist deshalb unbedingt
G E WA L T
IN DER
ERZIEHUNG
313
darauf zu achten, dass das Kind in der Einrichtung eine zuverlässige Ansprechpartnerin hat; die
Elterngespräche sollten von einer anderen Kollegin geführt werden. Das Kind selbst muss immer
wissen, was als nächstes passiert.
9. Wenn das Kind in der Einrichtung bleibt:
Es müssen mit den anderen beteiligten Institutionen und Personen klare Verabredungen über
Informationswege, Zeitpunkte für Zwischenbilanzen etc. festgelegt werden; Dokumentation nicht
vergessen.
10. Wenn das Kind die Einrichtung verlässt:
Es muss überlegt werden, ob ein weiterer Kontakt (Besuche des Kindes in der Einrichtung, Besuche der Kontaktperson in der Einrichtung beim Kind) hilfreich und förderlich sein kann. Der
Wunsch des Kindes ist dabei zu berücksichtigen.
11. Auswertung:
Unter Inanspruchnahme von externer Beratung ist eine Auswertung des „Falls“ aus zwei Gründen
erforderlich:
■ Man kann sowohl aus Fehlern, die man im Verfahren gemacht hat, wie auch aus Erfolgen, die
man gehabt hat, lernen.
■ Die Belastung, die für die Erzieherinnen mit einer solchen Intervention verbunden sind, sollten
ausgearbeitet werden.
314
5.6
SEMINAR-BAUSTEINE
Simeon Reininger
„Starke Kinder – starke Eltern“©
Seminar für Familien, Alleinerziehende und
Interessierte in Zusammenarbeit mit dem
Kinderschutzbund Lingen (Ems)
5.6.1 Seminarkontext bzw. Seminarhintergrund
Lernziele
■ Die Teilnehmenden sollen eigene (gute, schlechte) Erfahrungen und ihr Bild von der
guten Familie (Was freut mich, was nervt mich in/an meiner Familie?) vor dem Hintergrund veränderter gesellschaftlicher Rahmenbedingungen reflektieren und einordnen: Zum einen steht im Vordergrund von Familie nicht mehr funktional das Überleben, sondern emotional das Erleben von Familie als Ort der Geborgenheit (angesichts
gesellschaftlicher Ungeborgenheit und Kälte), was häufig zu einer Überforderung
ihrer/seiner selbst, des Partners (Beziehungsprobleme) und des Kindes/der Kinder
(Erziehungsprobleme) führt, zum anderen stehen Eltern unter äußerem Druck (Leistungsdruck am Arbeitsplatz; finanzieller Druck: Kinder als Armutsrisiko, gesellschaftlicher Druck: Anerkennung und Integration über den Markt.
■ Die Teilnehmenden sollen sich vor diesem Hintergrund ihrer eigenen Werte bewusst
werden und diese in der Gruppe kritisch hinterfragen. Zugleich sollen sie ihre differenzierten Lebenswelten (Familie, Arbeitsplatz, Verein o.ä.) und die darin unterschiedlich (und vielleicht sogar gegensätzlich) gelebten Werten reflektieren und erkennen, wo sie mit ihren eigenen Werte (-vorstellungen) an Grenzen stoßen und wo
sich Konfliktlinien bilden.
■ Davon ausgehend sollen die Teilnehmenden versuchen ihre Erziehungsziele zu formulieren: Welche Werte wollen sie vermitteln? Welche „Un-Werte“ wollen sie vermeiden, d.h. wo wollen sie ihren Kindern Grenzen setzen?
■ Schließlich sollen die Teilnehmednen darüber ins Gespräch kommen mit welchen
Mitteln sie ihren Erziehungszielen näher kommen bzw. diese erreichen wollen. Sie
sollen sich dabei insbesondere mit der Frage nach „elterlicher Gewalt“ (im BGB in
„elterliche Sorge“ umbenannt) auseinandersetzen, die Begriffe von Gewalt und Gewalt-
„ S TA R K E K I N D E R –
S TA R K E
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315
freiheit klären und schließlich Hilfestellung für eine gewalt- und angstfreie Erziehung erhalten.
Zielgruppe
Eltern
Seminarhintergrund
Das Seminar „Starke Kinder – starke Eltern“, konnte in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Kinderschutzbund/Lingen durchgeführt werden. Die in den Seminarzielen beschriebenen Erwartungen wurden vom Kooperationspartner geteilt. Dessen eigenes Ziel, gewaltfreie Erziehung auf gesellschaftlicher Ebene zu thematisieren sowie Anwalt von Kindern
zu sein, motivierte zur Kooperation.
5.6.2 Ausschreibungstext
Liebe Familien! Die Anforderungen an die Kindererziehung sind in den letzten Jahren
immer mehr gestiegen. Als erziehende Eltern möchten viele ihre Kinder für die anstehenden Aufgaben gut vorbereiten und ihre Talente und Möglichkeiten optimal fördern.
Dass dies viele Eltern mehr als fordert und an die eigenen Grenzen bringt und sogar
316
SEMINAR-BAUSTEINE
wütend machen kann, ist nur verständlich. An diesem Wochenende wollen wir die eigenen Wünsche und Möglichkeiten bei der Kindererziehung in den Blick nehmen. Welches
„Klima“ wünsche ich mir in meiner Familie, welche äußeren Rahmenbedingungen und
Unterstützungen – auch seitens der Gesellschaft – sind Voraussetzungen für eine Erziehung, die gelingen kann und die der Entwicklung des Kindes hilft. Was kann ich selbst,
was kann die Gesellschaft insgesamt tun, um eine gewaltfreie Erziehung zu ermöglichen, wie es neuerdings auch der Gesetzgeber will. Welche Grundlagen, welche Möglichkeiten und Ziele haben wir in unserer Familie und welche Strategien zur eigenen
Entlastung gibt es. Für die Kinder gibt es ein eigenes Programm. Sie sind herzlich eingeladen!
5.6.3 Bausteine
Freitag
19.15 h-20.45 h
Begrüßung, Kennenlernen, Einstieg in das Seminar:
■ Kennenlernen
■ Einstieg in das Thema: Kleingruppen: Was macht Familienleben und Erziehung (heute) einfach(er) oder schwer(er)? Sammeln von Fragen, Erwartungen (Kartenabfrage, Pinnwand).
■ Plenum: Thematische Schwerpunktsetzung anhand der benannten Problemfelder.
Samstag
09.00 h-12.30 h
Eigene Erziehungsziele und Wertvorstellungen; Umgang mit Grenzerfahrungen:
■ Kleingruppen: Teilnehmende suchen sich Fotos aus und kommen darüber ins Gespräch: Welches sind meine eigenen Werte? Ziel: Teilnehmende sollen sich über ihre eigenen Werte
und der sich möglicherweise ergebenden Schwierigkeiten/
Widersprüchen klar werden. Sie sollen die Probleme benennen können, in einer differenzierten Gesellschaft klare Orientierung über eigene Lebensziele erreichen zu können (dazwischen eine Pause).
■ Kleingruppen malen jeweils den Umriss eines Kindes. In das
Innere werden ausgehend von den benannten Werten Erziehungsziele geschrieben, in das Äußere werden „Un-Werte“
„ S TA R K E K I N D E R –
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317
geschrieben. TN sollen klare Grenzen setzen und darüber
zunächst einmal ins Gespräch kommen. Gleichzeitig sollen die
Teilnehmenden sich über Schwierigkeiten austauschen diese
Ziele zu erreichen und überlegen, wie sie diesen Schwierigkeiten begegnen können, welche Mittel sie einsetzen wollen.
Gesprächsrunde über die Ergebnisse im Plenum.
■ Kurzreferat über die fünf Grundgefühle (Glück, Angst, Wut,
Trauer, Ekel) und deren Bedeutung sowohl für das eigene Verhalten Kindern gegenüber (im Blick auf die formulierten Erziehungswerte) als auch für das Verhalten der Kinder (in Blick
auf Erziehungsziele).
15.00 h-18.30 h
■ Kurzes Feedback und Blick nach vorne
Rahmenbedingungen für eine gewaltfreie Erziehung
■ In Kleingruppen werden konkrete Szenen überlegt, die in Rollenspielen dargestellt werden können. Ziel: Veranschaulichung
19.15 h-20.45 h
des am Vormittag Erarbeiteten.
■ Plenum: Rollenspiele und Auswertung.
Rahmenbedingungen für eine gewaltfreie Erziehung (Fortsetzung).
■ Kurzreferat zum Thema „Werteerziehung“, „Moralerziehung“.
Ziel: Teilnehmenden sollen begreifen, wie wichtig Klarheit über
eigene Werte und Erziehungsziele ist, um sich selbst und anderen, insbesondere den Kindern Orientierung und Sicherheit
zu vermitteln... Zugleich sollen Unsicherheit und Orientierungslosigkeit sowohl beim Erwachsenen (und der Gesellschaft
insgesamt) als auch beim Kind als Aggressions- und Gewaltpotentiale bzw. -ursachen erkannt werden. Anschließend Diskussion.
Sonntag
09.00 h-12.30 h
Perspektiven für das eigene erzieherische Handeln:
■ Im Plenum werden rote, gelbe und Gründe Din-A-4 Blätter
ausgelegt, auf welche Erziehungsmethoden stichwortartig geschrieben werden. Die Farben stehen für Werte: rot bedeutet
unerlaubt (kein Wert, Gewalt), gelb bedeutet Ausnahmefälle
(braucht eine differenzierte Wertung), grün bedeutet erlaubt
(erstrebenswert). Ziel: Klarheit über Erziehungsmethoden nicht
nur im Blick auf erstrebenswert oder nicht erstrebenswert,
318
SEMINAR-BAUSTEINE
sondern v.a. auch im Blick auf „Gewalt“ und „Gewaltfreiheit“
zu erhalten.
■ Inhaltlicher Input zum Thema „gewaltfreie Erziehung“. Anschließend Diskussion in Kleingruppen. Ergebnisse im Plenum.
13.30 h-14.30 h
Auswertung
5.6.4 Resümee, Folgerungen, Perspektiven
Die Frage nach „gewaltfreien“ Konfliktaustragungsmodellen standen im Vordergrund des
Interesses der Teilnehmenden. Wenn auch bei den Teilnehmenden die Mikroebene Familie im Vordergrund gestanden haben mag, so war doch die Makroebene Gesellschaft
immer wieder mit Thema. Die Handlungsorientierung v.a. im letzten Teil des Seminars
konnte die Teilnehmenden motivieren, ihr eigenes erzieherisches Handeln kritisch zu
reflektieren und zu verändern und darüber auch Einfluss auf die Gesellschaft als Ganzes
zu gewinnen.
Die Erwartungen entsprachen den formulierten Seminar- und Lernzielen (siehe oben).
Dabei war aufgrund der Erfahrungen mit Familienseminaren klar, dass die Erwartungen
der Teilnehmenden stärker in Richtung persönlicher Hilfestellung bei Erziehungsproblemen
als einer Auseinandersetzung mit einem gesellschaftspolitisch relevanten Thema zielten. Deshalb war es wichtig, von vorne herein diese Erwartungen aufzugreifen (Teilnehmerorientierung) und auf die gesellschaftliche Relevanz hin zu öffnen.
Die Lernziele ergaben sich aus der Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Diskussion der vergangenen zehn Jahre um Ursachen von Gewalt insbesondere im familialen
und schulischen Kontext sowie in dem mit rechtsextremistischen und gewaltbereiten
Gruppen und die Bedeutung von Orientierung in einer pluralistischen Gesellschaft. Dabei
schien vor allem die These (kurzgefasst) plausibel, dass Orientierungslosigkeit und wachsende Unfähigkeit zu Kommunikation Aggressions und Gewaltneigung begünstigen.
Kontroverse Themen, etwa die Diskussion darüber, ob wir es etwa mit einem Wertezerfall
in der Gesellschaft zu tun haben, wurden nicht gezielt aufgegriffen und diskutiert. Das
hätte dem Seminar einen zu theoretischen Rahmen gegeben. Allerdings wurden diese
Fragen im Rahmen der Kurzreferate angeschnitten und im Kontext von „Individualisie-
„ S TA R K E K I N D E R –
S TA R K E
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319
rung“, „Pluralisierung“ sowie „Enttraditionalisierung“ und den damit verursachten Chancen, aber auch Gefahren sowie neuen Herausforderungen für das erzieherische Handeln
von Eltern oder auch gesellschaftlichen Institutionen wie Kindergarten, Schule … thematisiert.
Die Stichworte „Individualisierung“, „Pluralisierung“ sowie „Enttraditionalisierung“ verweisen direkt auf die stärkere Verantwortung des Einzelnen in der Gesellschaft, das
eigene Leben zu organisieren, Rahmen, Regeln, Werte abzustecken und zu formulieren.
Daraus ergibt sich als Ansatz und didaktisches Prinzip die Teilnehmerorientierung, die
freilich dort an ihre Grenzen kommt, wo – wie immer wieder betont – Eltern in ihrem
erzieherischen Handeln unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen z.T. überfordert und sogar orientierungslos sind. Die Erwartung der Teilnehmer nach möglichst konkreten Hilfen und praktizierbaren Perspektiven bestätigt dies und liefert die Begründung für eine zweite, nämlich die Sachorientierung, die in den Kurzreferaten zum Ausdruck kommt.
Aufgrund der Teilnehmerorientierung legte es sich nahe methodisch durch Kartenabfragen,
aber auch Rollenspiele, eigenes Wissen, eigene Fragen und Interessen, aber auch Probleme zu thematisieren. Hierzu diente die Methode der „Fotosprache“, die sich auch in diesem Kontext eignete, sich in das Gespräch/die Diskussion einzubringen. Die Methoden
sollten dazu dienen, ein ganzheitliches Lernen zu ermöglichen und durch einen Wechsel,
der nicht nur thematisch, sondern auch „biorhythmisch“ (deshalb die Rollenspiele am
Samstagnachmittag) begründet war, die Konzentrationsfähigkeit zu erhalten.
Die Frage nach „gewaltfreien“ Konfliktaustragungsmodellen (natürlich vor allem in der
Familie, sowohl im Blick auf Partnerschaft, aber insbesondere im Blick auf die Kindererziehung) standen im Vordergrund des Interesses. Die verschiedenen Arbeitsformen wurden hinsichtlich ihres Einsatzes in gleicher Weise geschätzt, da sie zum jeweiligen
Zeitpunkt des Seminars insgesamt passend schienen. Die unterschiedliche, abwechslungsreiche Gestaltung wurde denn auch in den Rückmeldungen positiv angemerkt.
Die Teilnehmenden konnten zur aktiven Auseinandersetzung mit dem Thema und zum
Erlernen insbesondere neuer Kommunikations- und Konfliktaustragungsmöglichkeiten
motiviert werden. Die Rückmeldungen haben zum einen ergeben, dass das Erlernte als
für den Alltag nützlich eingeschätzt wurde, zum anderen konnte Interesse an einem
Folge- und Vertiefungsseminar geweckt werden.
320
Gesetzgebung
Juristische Literatur
Soziologische Literatur
Pädagogische und
psychologische Literatur
Literatur zu Familien, Kinderund Jugendpolitik
Fachdidaktische Beiträge zur
familienbezogenen politischen
Bildung
L i t e r a t u r
321
322
6.
L I T E R AT U R H I N W E I S E
Ausgewählte Literaturhinweise
zusammengestellt von Lukas Rölli
6.1 Gesetzgebung: Bundestags Drucksachen, Berichte, Gesetzesvorlagen
Die neueren Bundestagsdrucksachen ebenso wie die Protokolle der Plenarsitzungen des Bundestags
der aktuellen und der vergangenen Wahlperioden können über die Homepage des Bundestages
(www.bundestag.de) online eingesehen und ausgedruckt werden. Der Familienbericht, sowie der Kinder- und Jugendbericht kann über die Homepage des Bundesfamilienministeriums (BMFSFJ,
www.bmfsfj.de) bestellt werden.
Kampagne „Mehr Respekt vor Kindern“ 2000 bis 2002: Dokumentation, hrsg. v. Bundesministerium
für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
Familien und Familienpolitik im geeinten Deutschland – Zukunft des Humanvermögens. Fünfter Familienbericht (= Bundestags Drucksache 12/7560), Bonn 1994.
Zehnter Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation von Kindern und die Leistungen
der Kinderhilfen in Deutschland (= Bundestags Drucksache 13/11368), Bonn 1998.
Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des § 1631 BGB (Misshandlungsverbotsgesetz) vom 3. Dezember 1993 (Bundestags Drucksache 12/6343).
Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Kindschaftsrechts (Kindschaftsrechtsreformgesetz – KindRG)
vom 13. Juni 1996 (Bundestags Drucksache 13/4899); dazu: Beschlussempfehlung und Bericht
des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) vom 12. September 1997 (Bundestags Drucksache 13/
8511); Änderungsantrag der Fraktion der SPD zur zweiten Beratung des Gesetzesentwurfs der
Bundesregierung vom 24. September 1997 (Bundestags Drucksache 13/8558); Entschließungsantrag der Abgeordneten Rita Grießhaber, Volker Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen) u.a. und der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vom 24. September 1997 (Bundestags Drucksache 13/8570).
Beratungen im Bundesrat: 3. Mai 1996, 17. Oktober 1997.
Beratungen im Bundestag: 20. Juni 1996, 25. September 1997.
Entwurf eines Gesetzes zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung vom 23. Juni 1999 (Bundestags
Drucksache 14/1247); dazu: Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) vom 28. Juni 2000 (Bundestags Drucksache 14/3781); Antrag der Abgeordneten Sabine
L I T E R AT U R H I N W E I S E
323
Jünger, Rosel Neuhäuser, Christina Schenk, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS „Ächtung der
Gewalt in der Erziehung wirkungsvoll flankieren“ vom 16. Februar 2000 (Bundestags Drucksache
14/2720); 1. Beratung im Bundestag: 30. Juni 1999 (Plenarprotokoll 14/49, S. 4280-4285); 2.
u. 3. Beratung im Bundestag: 6. Juli 2000 (Plenarprotokoll 14/114, S. 10888-10899).
Empfehlung des Rechtsausschusses des Bundesrates vom 19. September 2000 (Drucksache 519/1/
00); Beratung im Bundesrat am 29. September 2000 (Plenarprotokoll 754, S. 344-349).
Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung und zur Änderung des Kindesunterhaltsrechts vom 2.
November 2000, in: Bundesgesetzblatt, Teil I 2000, Nr. 48 (7. November 2000), S. 1479.
6.2 Juristische Literatur
Hans-Jörg Albrecht, Die Entwicklung des Züchtigungsrechts, in: Recht der Jugend und des Bildungswesens (1994), 198-207.
Kai-D. Bussmann, Verbot familialer Gewalt gegen Kinder. Zur Einführung rechtlicher Regelungen sowie
zum (Straf-)Recht als Kommunikationsmedium, Habil.-Schr. Univ. Bielefeld 1997 (aktualis. Fass.),
Heymanns, 2000.
Michael Coester, Elternautonomie und Staatsverantwortung bei der Pfege und Erziehung von Kindern,
in: Zeitschrift für das gesamte Familienrecht (FamRZ) 43 (1996), 1181-1187.
Peter Derleder, Das Kindeswohl als Prinzip der Familiensteuerung, in: Familie der Zukunft, 227-243.
Klaus Ehringfeld, Eltern-Kind-Konflikte in Ausländerfamilien. Untersuchung der kulturellen Divergenzen
zwischen erster und zweiter Ausländergeneration und der rechtlichen Steuerung durch das nationale
und internationale Familienrecht (= Schriften zum bürgerlichen Recht, Bd. 202), Berlin 1997.
Hans-Uwe Erichsen, Elternrecht – Kindeswohl – Staatsgewalt. Zur Verfassungsmäßigkeit staatlicher
Einwirkungsmöglichkeiten auf die Kindeserziehung durch und aufgrund von Normen des elterlichen Sorgerechts und des Jugendhilferechts (= Münstersche Beiträge zur Rechtswissenschaft, Bd.
14), Berlin 1985.
Helfen mit Risiko. Zur Pflichtenstellung des Jugendamtes bei Kindesvernachlässigung, hrsg. v. Thomas
Mörsberger, Jürgen Restemeier, Neuwied: Luchterhand, 1997.
Matthias Jestaedt, Staatliche Rollen in der Eltern-Kind-Beziehung, in: Deutsches Verwaltungsblatt
112 (1997), 693-697.
Alexander Lüderitz, Familienrecht. Ein Studienbuch, 27. wesentlich überarb. Aufl., München 1999.
Roger Prott, Rechtshandbuch für Erzieherinnen, 6. neu bearb. Aufl., Neuwied-Berlin 1999.
Ursula Schneider, Körperliche Gewaltanwendung in der Familie. Notwendigkeit, Probleme und Möglichkeiten eines strafrechtlichen und strafverfahrensrechtlichen Schutzes (= Münstersche Beiträge
zur Rechtswissenschaft, Bd. 28), Berlin 1987.
324
L I T E R AT U R H I N W E I S E
SGB VIII. Kinder- und Jugendhilfe, erl. v. Reinhard Wiesner, Thomas Mörsberger, Helga Oberloskamp
u. a., 2., überarb. Aufl., München: Beck, 2000.
6.3 Soziologische Literatur
Autoritarismus. Kontroversen und Ansätze der aktuellen Autoritarismusforschung, hrsg. v. Susanne
Rippl, Christian Seipel, Angela Kindervater, Opladen 2000.
Kai-D. Bussmann, Familiale Gewalt gegen Kinder und das Recht. Erste Ergebnisse aus einer Studie zur
Beeinflussung von Gewalt in der Erziehung durch Rechtsnormen, in: Familie der Zukunft, 261-279.
Gudrun Cyprian, Kritische Bestandsaufnahme der sozialwissenschaftlichen Forschung zum Thema:
Familie und Erziehung in Deutschland von 1960 bis 1994. Expertise (= Schriftenreihe des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Bd. 177), Stuttgart-Berlin-Köln 1995.
Barbara Dietz/Renate Holzapfel, Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund. Kinder in Aussiedlerfamilien und Asylbewerberfamilien, alleinstehende Kinderflüchtlinge (= Materialien zum 10. Kinder- und Jugendbericht, hrsg. von der Sachverständigenkommission Zehnter Kinder- u. Jugendbericht, Bd.2), Opladen 1999.
Familie der Zukunft. Lebensbedingungen und Lebensformen, hrsg. von Uta Gerhardt/Stefan Hradil/
Doris Lucke/Bernhard Nauck, Opladen 1995.
Familien ausländischer Herkunft in Deutschland, hrsg. von der Sachverständigenkommission 6. Familienbericht, Bd 1: Empirische Beiträge zur Familienentwicklung und Akkulturation; Bd. 2: Lebensalltag; Bd. 3: Rechtliche Rahmenbedingungen, Opladen 2000.
Family Violence Against Children: A Challenge for Society. Ed. by Detlev Frehsee, Wiebke Horn and
Kai-D. Bussmann. Prevention and Intervention in Childhood and Adolescence, Special Research
Unit 227 Vol. 19, Gruyter, 1996.
Jürgen Friedrichs, Jörg Blasius, Leben in benachteiligten Wohngebieten, Opladen 2000.
Peter Gay, Kult der Gewalt. Aggression im bürgerlichen Zeitalter (= Siedler Taschenbuch Bd.75554),
2000.
Uta Gerhardt, Die Familie und die soziale Pathologie der Gewalt. Denkmodelle für die Theorie der
modernen Gesellschaft, in: Familie der Zukunft, 113-127.
Gewalt in der Familie und gesellschaftlicher Handlungsbedarf. Tagungsdokumentation, hrsg. v. Laszlo
A. Vaskovics (= Materialien 4-99, hrsg. v. Staatsinstitut für Familienforschung an der Universität
Bamberg), Bamberg 1999. (sekretariat@ifb.uni-bamberg.de)
Alberto Godenzi, Gewalt im sozialen Nahraum, 3. Aufl., Basel 1996.
Wilfried Gottschalch, Männlichkeit und Gewalt. Eine psychoanalytisch und historisch soziologische
Reise in die Abgründe der Männlichkeit, Weinheim 1997.
L I T E R AT U R H I N W E I S E
325
H.G. Holtappels u.a. (Hrsg.), Forschung über Gewalt an Schulen, Weinheim/München 1999.
Michael-Sebastian Honig, Verhäuslichte Gewalt. Sozialer Konflikt, wissenschaftliche Konstrukte, Alltagswissen, Handlungssituationen. Eine Explorativstudie über Gewalthandeln von Familien, Frankfurt
a.M. 1992.
Annette Lepenies, Gertrud Nunner-Winkler, Gerd E. Schäfer u. a., Kindliche Entwicklungspotentiale.
Normalität, Abweichung und ihre Ursachen (= Materialien zum 10. Kinder- und Jugendbericht,
hrsg. von der Sachverständigenkommission Zehnter Kinder- u. Jugendbericht, Bd.1), Opladen
1999.
Herbert Marcuse u.a., Aggression und Anpassung in der Industriegesellschaft, Frankfurt 1969.
Angela Minssen, Ursula Müller, Attraktion und Gewalt. Psycho- und Soziogenese männlicher Gewaltbereitschaft (= Geschlecht und Gesellschaft, Bd. 12), Opladen 2000.
Rosemarie Nave-Herz, Familie heute. Wandel der Familienstrukturen und Folgen für die Erziehung,
Darmstadt 1994.
Friedolf Ossyssek/Susanne Böcker & Désirée Giebel, Alltagsbelastungen, Ehebeziehungen und elterliches Erziehungsverhalten, in: Familie der Zukunft, 245-260.
Christian Pfeiffer/Peter Wetzels, Zur Struktur und Entwicklung der Jugendgewalt in Deutschland. Ein
Thesenpapier auf Basis aktueller Forschungsbefunde, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 26/99,
3-22.
Spannungsfeld Familienkindheit. Neue Anforderungen, Risiken und Chancen, hrsg. v. Alois Herlth,
Angelika Engelbert, Jürgen Mansel, Christian Palentien (= Kindheitsforschung, Bd. 14), Opladen
2000.
Klaus Wahl, Studien über Gewalt in Familien. Gesellschaftliche Erfahrung, Selbstbewußtsein, Gewalttätigkeit, 2. Aufl., Weinheim-München 1996.
Sabine Walper, Familiäre Konsequenzen ökonomischer Deprivation, München 1988.
-
Auswirkungen von Armut auf die Entwicklung von Kindern, in: Annette Lepenies, Gertrud NunnerWinkler, Gerd E. Schäfer u. a., Kindliche Entwicklungspotentiale, 291-360.
Wege zu einer gewaltfreien Erziehung. Anstöße für Eltern, Jugendhilfe und Politik. Dokumentation
der Tagung am 27. Oktober 1999 im Roten Rathaus von Berlin, hrsg. v. Kinderschutz-Zentrum
Berlin e.V., Berlin 2000. (www.kinderschutz-zentrum-berlin.de)
Peter Wetzels, Gewalterfahrungen in der Kindheit. Sexueller Mißbrauch, körperliche Mißhandlung und
deren langfristige Konsequenzen (= Interdisziplinäre Beiträge zur kriminologischen Forschung,
Bd. 8), Baden-Baden 1997.
326
L I T E R AT U R H I N W E IS E
6.4 Pädagogische und psychologische Literatur
Aggression und Gewalt. Phänomene, Ursachen, Interventionen. Hrsg. v. Hans W. Bierhoff u. Ulrich
Wagner, Kohlhammer, 1997.
Anti-Gewalt-Report. Handeln gegen Aggressionen in Familie, Schule und Freizeit. Hrsg. v. Klaus
Hurrelmann, Christian Palentien u. Walter Wilken, Weinheim/Basel, Beltz Grüne Reihe, 1995.
Albert Bandura, Aggression. Eine sozial-lerntheoretische Analyse. Einf. v. Rolf Verres. Stuttgart: KlettCotta, 1979.
Günther Deegener, Die Würde des Kindes. Plädoyer für eine Erziehung ohne Gewalt, Weinheim 2000.
Konrad Fees, Werte und Bildung. Wertorientierung im Pluralismus als Problem für Erziehung und
Unterricht, Leverkusen: Leske + Budrich, 2000.
Helmut Frank, Wege aus der Gewalt. Vom Einfluß der Erziehung auf die Aggressivität des Menschen,
Luchterhand, 1996.
Manfred Gerspach, „Willst’n paar aufs Maul?“ Die Reaktivierung der narzisstischen Wut in der Adoleszenz, in: H. Krebs u.a. (Hrsg.), Lebensphase Adoleszenz. Junge Frauen und Männer verstehen,
Mainz 1997, 148-172.
Manfred Gerspach, Einführung in pädagogisches Denken und Handeln, Stuttgart/Berlin/Köln 2000.
R. Göppel, Ursprünge der seelischen Gesundheit. Risiko- und Schutzfaktoren in der kindlichen Entwicklung, Würzburg 1997.
Günther Gugel, Uli Jäger, Gewalt muss nicht sein. Eine Einführung in friedenspädagogisches Denken
und Handeln, 2. Aufl., Tübingen: Verein für Friedenspädagogik, 1995.
Werner Helsper/Hartmut Wenzel (Hrsg.), Pädagogik und Gewalt. Möglichkeiten und Grenzen pädagogischen Handelns (= Studien zur Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung, Bd. 5), Opladen
1995.
Angelika Henschel, Geschlechtsspezifische Sozialisation. Zur Bedeutung von Angst und Aggression in
der Entwicklung der Geschlechtsidentität. Eine Studie im Frauenhaus. Edition Psychologie und
Pädagogik. Mainz: Mattias Grünewald, 1993.
Lothar R. Martin, Gewalt in Schule und Erziehung. Grundformen der Prävention und Intervention, Bad
Heilbrunn/Obb. 1999.
K. Mollenhauer, Vergessene Zusammenhänge. Über Kultur und Erziehung, Weinheim/München 1991.
Gertrud Nunner-Winkler, Zum frühkindlichen Moralverständnis, in: Annette Lepenies, Gertrud NunnerWinkler, Gerd E. Schäfer u. a., Kindliche Entwicklungspotentiale, 53-151.
J. Piaget, Intelligenz und Affektivität in der Entwicklung des Kindes, Frankfurt 1995.
Udo Schmälzle (Hrsg.), Mit Gewalt leben. Arbeit am Aggressionsverhalten in Familie, Kindergarten
und Schule, Frankfurt a.M. 1993.
L. Schon, Entwicklung des Beziehungsdreiecks Vater-Mutter-Kind, Stuttgart/Berlin/Köln 1995.
L I T E R AT U R H I N W E I S E
327
Wilfried Schubarth, Gewaltprävention in Schule und Jugendhilfe. Theoretische Grundlagen, Empirische Ergebnisse, Praxismodelle, Neuwied-Kriftel 2000.
Die sozialpädagogische Ordnung der Familie. Beiträge zum Wandel familialer Lebensweisen und sozialpädagogischer Interventionen, hrsg. v. Maria Eleonora Karsten, Hans-Uwe Otto, 2. Aufl., Weinheim 1996.
Otto Speck, Erziehung und Achtung vor dem Anderen. Zur moralischen Dimension der Erziehung,
München-Basel 1996.
Peter Struck, Erziehung gegen Gewalt. Ein Buch gegen die Spirale von Aggression und Haß, NeuwiedKriftel-Berlin 1994.
-
Familie und Erziehung. Pädagogik zum Anfassen für Eltern, Lehrer und Erzieher, 3. Aufl., NeuwiedKriftel-Berlin 1995.
Donald W. Winnicott, Aggression. Versagen der Umwelt und antisoziale Tendenz. Konzepte der Humanwissenschaften, 3. Aufl., Klett-Cotta, 1996.
Astrid Woog, Soziale Arbeit in Familien. Theoretische und empirische Ansätze zur Entwicklung einer
pädagogischen Handlungslehre, Weinheim 1998.
6.5 Literatur zu Familien-, Kinder- und Jugendpolitik
Konrad Adam, Für Kinder haften die Eltern. Die Familie als Opfer der Wohlstandsgesellschaft. QUADRIGA, 1996.
Vera Birtsch; Klaus Münstermann; Wolfgang Trede, Handbuch der Erziehungshilfen. Leitfaden für Ausbildung, Praxis und Forschung, Münster 2001.
Irina Bohn/Dieter Kreft/Gerhard Segel (Hrsg.), Kommunale Gewaltprävention. Eine Handreichung für
die Praxis (= Das Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt, Bd. 5), Münster 1997.
Lothar Böhnisch/Karsten Fritz/Thomas Seifert (Hrsg.), Die wissenschaftliche Begleitung. Ergebnisse
und Perspektiven (= Das Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt, Bd. 2), Münster 1996.
Andreas Borchers, Familien- und Kinderfreundlichkeitsprüfung in den Kommunen. Erfahrungen und
Konzepte (= Schriftenreihe des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Bd.
165), Stuttgart-Berlin-Köln 1999.
Peter Bringewat, Sozialpädagogische Familienhilfe und strafrechtliche Risiken, Kohlhammer, 2000.
Familien in Not. Wie kann Sozialarbeit helfen?, hrsg. v. Hilde von Balluseck, Lambertus-Verlag, 1999.
Gerd Gehrmann; Klaus D. Müller, Familie im Mittelpunkt. Mehr Schutz für Kinder und Familien. Soziale
Arbeit als Krisenintervention (= Walhalla Ratgeber), Walhalla & Praetoria, 1998.
Annemarie Gerzer-Sass, Familienselbsthilfe und ihr Potential für eine Reformpolitik von „unten“, in:
Deutsches Jugendinstitut (Hrsg.), Das Forschungsjahr 1999, München 2000, 56-68.
328
L I T E R AT U R H I N W E IS E
Gewalt in der Familie – ein polizeiliches Problem?, hrsg. v. Thomas Feltes (= Texte, hrsg. v. der
Fachhochschule Villingen-Schwenningen, Hochschule für Polizei, Nr. 10), Villingen-Schwenningen
1997.
Richard Günder, Hilfen zur Erziehung. Eine Orientierung über die Erziehungshilfen im SGB VIII, Freiburg: Lambertus, 1999.
Handbuch der örtlichen und regionalen Familienpolitik. Institut für Entwicklungsplanung und Strukturforschung GmbH im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend,
Stuttgart-Berlin-Köln 1996.
Anita Heiliger, Männergewalt gegen Frauen beenden, Opladen: Leske + Budrich, 2000.
-
Die Wissenschaftliche Begleitung der Münchner Kampagne gegen Männergewalt, in: Deutsches
Jugendinstitut (Hrsg.), Das Forschungsjahr 1998, München 1999, 113-125.
Hilfen für Kinder: Konzepte und Praxiserfahrungen für Prävention, Beratung und Therapie, hrsg. v.
Gerd Romeike u. Horst Imelmann. Eine Veröffentlichung der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung, Weinheim 1999.
Andreas Hundsalz, Die Erziehungsberatung. Grundlagen, Organisation, Konzepte und Methoden, Weinheim 1995.
Reinhold Schone, Ullrich Gintzel, Erwin Jordan, Kinder in Not. Vernachlässigung im frühen Kindesalter
und Perspektiven sozialer Arbeit, Münster: Votum, 1997.
Kinder und ihre Kindheit in Deutschland. Eine Politik für Kinder im Kontext von Familienpolitik (=
Schriftenreihe des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Bd. 154),
Stuttgart-Berlin-Köln 1998.
Günther Koch/Rolf Lambach, Familienerhaltung als Programm. Forschungsergebnisse, Münster 2000.
Johannes Münder/Barbara Mutke/Reinhold Schone, Kindeswohl zwischen Jugendhilfe und Justiz.
Professionelles Handeln in Kindeswohlverfahren, Münster 2000.
Ursula Schneider, Gewalt in der Familie, in: Hans-Dieter Schwind/J. Baumann u.a. (Hrsg.), Ursachen,
Prävention und Kontrolle von Gewalt. Analysen und Vorschläge der Unabhängigen Regierungskommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt (Gewaltkommission), Bd. 3: Sondergutachten, Berlin 1990, 503-573.
Hans-Dieter Schwind/J. Baumann u.a. (Hrsg.), Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt. Analysen und Vorschläge der Unabhängigen Regierungskommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt (Gewaltkommission), 4 Bde., Berlin 1990.
Übersicht über die gesetzlichen Maßnahmen in den EU-Ländern bei Erziehung von Kleinkindern (=
Schriftenreihe des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Bd. 158),
Stuttgart-Berlin-Köln 1998.
L I T E R AT U R H I N W E I S E
329
6.6 Fachdidaktische Beiträge zur familienbezogenen politischen
Bildung
Eva-Maria Antz, Leitbilder in der Familienerziehung, in: Vaskovics/Lipinski, Familiale Lebenswelten
und Bildungsarbeit, Bd. 3, 115-122.
Dies., Familien brauchen Werte, in: Vaskovics/Lipinski, Familiale Lebenswelten und Bildungsarbeit,
Bd. 3, 135-146.
Dagmar Bickmann, Selbständigkeit und Verantwortung, in: Vaskovics/Lipinski, Familiale Lebenswelten
und Bildungsarbeit, Bd. 3, 203-214.
Helmut Lukesch, Leitbilder in der Familienerziehung, in: Vaskovics/Lipinski, Familiale Lebenswelten
und Bildungsarbeit, Bd. 1, 153-184.
Peter Paul König, Ablösungsprozeß Jugendliche – Elternhaus, in: Vaskovics/Lipinski, Familiale Lebenswelten und Bildungsarbeit, Bd. 3, 197-202.
Ders., Dialog der Generationen, in: Vaskovics/Lipinski, Familiale Lebenswelten und Bildungsarbeit,
Bd. 3, 215-222.
Klaus Jürgen Reinbold/Bernhard Jans (Hrsg.), Handbuch zur Gewaltprävention – Handlungsmodelle
für die Praxis mit Beiträgen u.a. von Maria Braun, Dietmar Mieth, Jochen Korte, Grafschaft: Vektor-Verlag, 1998.
Laszlo A. Vaskovics, Ablösungsprozeß Jugendliche – Elternhaus, in: Vaskovics/Lipinski, Familiale
Lebenswelten und Bildungsarbeit, Bd. 2, 15-50.
Laszlo A. Vaskovics/Heike Lipinski (Hrsg.), Familiale Lebenswelten und Bildungsarbeit, 3 Bde., Opladen
1996-1998.
Werte und Normen – Konflikte und Gewalt. Konzepte, Analysen, Erfahrungen für die politische Jugendbildung (= aksb-werkstatt 1), Bonn 1999.
330
Projektträger
Projektgruppe
Autorinnen und Autoren
K o n t a k t e
331
332
7.1
K O N TA K T E
Projektträger
7.1.1 Projektleitung
Arbeitsgemeinschaft katholischsozialer Bildungswerke in der
Bundesrepublik Deutschland (AKSB)
Heilsbachstr. 6
53123 Bonn
Tel.
(02 28) 2 89 29-30
Fax:
(02 28) 2 89 29-57
E-Mail:
info@aksb.de
Homepage: http://www.aksb.de
Projekthomepage: http://www.aksb.de/
familie-und-gewalt
7.1.2 Weitere Projektträger
Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten
(AdB)
Mühlendamm 3
10178 Berlin
Tel.:
(030) 400 401 00
Fax:
(030) 400 401 22
E-Mail:
geschaeftsstelle@
adbildungsstaetten.de
Homepage: http://
www.adbildungsstaetten.de
Deutscher Volkshochschul-Verband
(DVV)
Obere Wilhelmstr. 32
53225 Bonn
Tel.:
(0228) 97 56 90
Fax:
(0228) 97 56 930
E-Mail:
info@dvv-vhs.de
Homepage: http://www.vhs-dvv.de
Verband Ländlicher Heimvolkshochschulen (HVHS)
Alte Dorfstraße 87
70599 Stuttgart
Tel.
(0711) 4 59 99 09-0
Fax:
(0711) 4 59 99 09-9
E-Mail:
info@verband-hvhs.de
Homepage: http://www.verband-hvhs.de
PROJEKT
7.2
333
Projektgruppe
Bildungsstätte
Alte Schule Anspach e.V.
Dr. Stephan Bundschuh
Schulstr. 3
61267 Neu-Anspach (Taunus)
Tel.:
(0 60 81) 4 17 72
Fax:
(0 60 81) 96 00 83
E-Mail:
info@AlteSchuleAnspach.de
URL:
www.alteschuleanspach.de
Franziskanisches Bildungswerk e.V.
Bernward Bickmann
Niederwaldstr. 1
63538 Großkrotzenburg
Tel.:
(0 61 86) 9 16 80-0
Fax:
(0 61 86) 9 16 80-7
E-Mail:
bernward.bickmann@fbw.
kreuzburg.de
URL:
www.kreuzburg.de/fbw
Heimvolkshochschule
„Gottfried Könzgen“ KAB/CAJ
Annette Seier
Annaberg 40
45721 Haltern
Tel.: (0 23 64) 1 05-0
Fax:
(0 23 64) 1 05-100
E-Mail: seier@hvhs-haltern.de
URL: www.hvhs-haltern.de
Seit 2001
Kath. Landvolkshochschule Feuerstein
Birgit Engelhardt-Schwaab
Behringersmühle 23
91327 Gößweinstein
Tel.: (0 92 42) 74 02-0
Fax:
(0 92 42) 74 02-36
E-Mail: schwaab@klvhs-feuerstein.de
URL: www.klvhs-feuerstein.de
Ludwig-Windthorst-Haus
Dr. Simeon Reininger
Gerhard-Kues-Str. 16
49808 Lingen-Holthausen
Tel.: (05 91) 61 02-0
Fax: (05 91) 61 02-135
E-Mail: reininger@lwh.de
URL: www.lwh.de
Sozialinstitut für Erwachsenenbildung
der KAB Süddeutschlands
Hofgartenstr. 2
93449 Waldmünchen
Tel.: (0 99 72) 94 14 67
Fax: (0 99 72) 94 14 65
E-Mail: verwaltung@kab-sozialinstitute.de
URL: www.sozialinstitut.de
bis 2001
Überregionale
Frankfurter Sozialschule
c/o Bonifatiushaus
Dr. Antonius Gescher
Neuenbergerstr. 3-5
36041 Fulda-Neuenberg
Tel.: (06 61) 83 98-118
Fax: (06 61) 83 98-136
E-Mail: bonifatiushaus@mail.regio.net
URL: www.bistum.fulda.net
bis 2001
Verein für Jugend- und Kulturarbeit e.V.
Jugendbildungsstätte „Mühle“
An der Trave 1-3
23795 Bad Segeberg
Tel.: (0 45 51) 95 91-0
Fax: (0 45 51) 95 91-15
E-Mail: info@vjka.de
URL: www.lkj-sh.de/muehle
bis 2001
334
Volkshochschule Hildesheim
Magdalena Zerrath
Pfaffenstieg 4-5
31134 Hildesheim
Tel.: (0 51 21) 93 61-0
Fax: (0 51 21) 93 61 66
E-Mail: zerrath@vhs-hildesheim.de
URL: www.vhs-hildesheim.de
Volkshochschule Neustadt
Dorothea Frey
Hindenburgstr. 14
67433 Neustadt / Weinstraße
Tel.: (0 63 21) 39 05 10
Fax: (0 63 21) 39 05 39
E-Mail: Frey-Neustadt@t-online.de
URL: http://www.vhs-nw.de
Volkshochschule Wilhelmshaven
Christina Heide
Virchow-Str. 29
26382 Wilhelmshaven
Tel.: (0 44 21) 16 14 49
Fax: (0 44 21) 16 18 96
E-Mail: christina.heide@vhs-whv.de
URL: www.vhs-whv.de
KONTAKTE
AUTORINNEN
7.3
UND
AUTOREN
335
Autorinnen und Autoren
Bernward Bickmann, Dipl. pol., Dipl. rel. päd., Supervisor (DGSv), Leiter des Franziskanischen Bildungswerks, Großkrotzenburg
Dagmar Bickmann, Dipl. theol., Dipl. päd., Familientherapeutin, Großkrotzenburg
Andreas Borchers, Dr., Soziologe, Institut für Entwicklungsplanung und Strukturforschung,
Hannover
Kai-D. Bussmann, Prof. Dr. jur., Professor für Strafrecht an der Universität Halle
Mounira Daoud-Harms, Dr. phil., Diplomsoziologin, Hessisches Landesinstitut für Pädagogik, Frankfurt
Birgit Engelhardt-Schwaab, Dipl. psych., Pädagogische Mitarbeiterin an der Katholischen Landvolkshochschule Feuerstein, Gössweinstein
Dorothea Frey, Pädagogin, Neustadt a.d.W., Leiterin von Qualifizierungslehrgängen für
Tagespflegepersonen; Vorsitzende des Tageselternvereins Vorderpfalz e.V.
Joachim Fuß, Familienrichter, Köln
Manfred Gerspach, Prof. Dr. phil., Diplompädagoge, Professor für Pädagogik am Fachbereich Sozialpädagogik der Fachhochschule Darmstadt
Rainer Hartel, Dr., Pädagogischer Mitarbeiter an der Bildungsstätte Alte Schule Anspach
e.V., Neu-Anspach (Taunus)
Meinolf Hartmann, Psychotherapeut (HPG), Verein Jedermann e.V., Heidelberg
Christina Heide, Dipl. psych, Dozentin an der Volkshochschule Wilhelmshafen
Heinz Holzhauer, Prof.em. Dr. jur., Institut für Deutsche und Europäische Rechtsgeschichte an der Universität Münster
Heike Lipinski, Diplomsoziologin, Ludwigsburg
Klaus Münstermann, Prof. Dr., Diplompädagoge, Honorarprofessur im Fachbereich Erziehungswissenschaften (Sozialpädagogik)
Simeon Reininger, Dr. theol., seit August 2001 Projektleiter; Pädagogischer Mitarbeiter
des Ludwig-Windthorst-Haus, Katholische Akademie und Heimvolkshochschule der
Diözese Osnabrück
336
KONTAKTE
Barbara Rendtorff, Dr. phil., Soziologin und Erziehungswissenschaftlerin, Privatdozentin
für Allgemeine Pädagogik, Frankfurt
Lukas Rölli, Dr. phil., bis Juli 2001 Projektleiter; seit 2001 Geschäftsführer des Forums
Hochschule und Kirche, Bonn
Udo F. Schmälzle, Prof. Dr. theol., Professor für Praktische Theologie an der Universität
Münster
Hans Schmidt, Dipl. psych., Dipl. soz. päd., Verein Jedermann e.V., Heidelberg
Achim Schröder, Prof. Dr. phil., Pädagoge, Fachbereich Sozialpädagogik an der Fachhochschule Darmstadt
Karin Weiß M.A., Deutsches Jugendinstitut, München
337
Inhalt – Langfassung – *
1. Simeon Reininger
Vorwort ................................................................................................ 7-9
2. Lukas Rölli, Simeon Reininger
Projektbeschreibung ........................................................................... 10-43
2.1
Anlass ......................................................................................... 12
2.2
Planung ....................................................................................... 14
2.3
Konzeption ................................................................................... 18
2.3.1 Projektziel ................................................................................... 19
2.3.2 Lernziele ...................................................................................... 19
2.3.4 Zielgruppen .................................................................................. 20
2.3.5 Themenbereiche ............................................................................ 20
2.3.6 Veranstaltungsformen .................................................................... 21
2.3.7 Leitende Erkenntnisziele für die Evaulation ...................................... 22
2.3.8 Arbeitsstruktur ............................................................................. 22
2.3.9 Zeitplan ....................................................................................... 23
2.3.10 Förderung .................................................................................... 25
2.4
Durchführung ............................................................................... 25
2.4.1 Aufbau der Projektstrukturen .......................................................... 26
2.4.2 Entwicklung, Erprobung und Evaluation innovativer Kurse .................. 27
2.4.3 Fachdidaktischer Austausch über Kurskonzepte ................................. 29
2.4.4 Erprobung von Werbemaßnahmen .................................................... 29
2.4.5 Vermittlung von Projektergebnissen über das Internet ....................... 30
2.4.6 Weitere Schwerpunkte der Projektgruppe .......................................... 31
2.5
Ergebnisse ................................................................................... 33
2.5.1 Strukturelle Ebene ......................................................................... 33
2.5.2 Konzeptionelle Ebene .................................................................... 34
2.5.3 Inhaltliche Ebene .......................................................................... 35
2.5.4 Ausblick und Forderungen .............................................................. 37
2.5.5 Abschließende Reflexion der Projektgruppenmitglieder ...................... 41
Anmerkungen ......................................................................................... 43
* Die Langfassung ist in der Printversion nicht verfügbar
338
3. Expertisen ........................................................................................ 44-111
Andreas Borchers
Politische und zivilgesellschaftliche Handlungsfelder zur
Erleichterung familialen Erziehungshandelns und
zur Prävention von Gewalt in der Erziehung ............................................ 46-75
0.
Vorbemerkung ................................................................................ 46
1.
Gewalt in der Erziehung: Definition und Erscheinungsformen ............... 47
1.1
Abrenzung von Gewalt .................................................................... 48
1.2
Erscheinungsformen von Gewalt ....................................................... 49
1.3
Verbreitung von Gewalt in der familialen Erziehung ............................ 50
1.4
Gewaltbereitschaft und -akzeptanz: Multikausales Bündel von Faktoren ... 51
2.
Familienleben heute ....................................................................... 53
2.1
Wandel im System Familie ............................................................... 54
2.2
Gesellschaftliche Rahmenbedingungen der familialen Erziehung und
„strukturelle Rücksichtslosigkeiten“ .................................................. 56
3.
Gesellschaftliche Handlungsziele und -möglichkeiten .......................... 62
3.1
Ansätze von Gewaltprävention ......................................................... 62
3.2
Ziele von Familien- und Kinderfreundlichkeit ..................................... 63
4.
Möglichkeiten vernetzten Handelns .................................................. 65
4.1
Ausrichtung auf ein gemeinsames Ziel .............................................. 68
4.2
Klärung der Aufgaben ..................................................................... 68
4.3
Arbeitsformen und Arbeitsteilung ..................................................... 68
4.4
Kooperationspartner und Beteiligte am Netzwerk ............................... 69
5.
Ansatzpunkte für die Bildungsarbeit ................................................. 70
5.1
Perspektive A: Gesaltpräventive Arbeit mit Familien ........................... 70
5.2
Perspektive B: Mitarbeit an einem gewalt-ablehnenden
gesellschaftlichen Klima ................................................................. 71
Anmerkungen .......................................................................................... 72
Literatur ................................................................................................. 73
Udo F. Schmälzle
Gewaltfreie Erziehung: Theorie und Praxis
eines pädagogischen Leitbildes ........................................................... 76-111
0.
Vorbemerkung ................................................................................ 76
1.
Wahrnehmung von Gewalt als Grundlage einer gewaltfreien Erziehung .. 77
1.1
Tabuisierung und Verdrängung ......................................................... 77
1.2
Auf den Spuren eines Faszinosums: Das Schicksal gewaltfreier
Erziehungsperspektiven in einer Kultur der Gewinner .......................... 79
1.3
Das Geschäft mit dem Faszinosum „Gewalt“ ....................................... 81
1.4
Die Bedeutung medialer Gewaltdarstellungen ..................................... 82
2.
Was macht die Menschen zu dem, was sie sind?
Zur Stifterfunktion anthropologischer Leitbilder ................................. 85
339
2.1
Der Mensch: Bestie oder Gott? ......................................................... 86
2.2
Der Mensch als Ware ....................................................................... 87
2.3
Zur Reichweite verschiedener Erklärungsmodelle ................................ 88
2.4
Gewalt erzeugt Gewalt – Frieden erzeugt Frieden ................................ 90
3.
Konsequenzen für die Bildungsarbeit ................................................ 92
3.1
Konzepte gegen Hass und Gewalt ..................................................... 93
3.2
Prävention mörderischer Hassgefühle und destruktiver Aggressivität ..... 94
3.3
Hilfen für gewaltbelastete Familien .................................................. 95
3.4
Prävention von Gewalt: zwischen Utopie und Resignation ................... 98
3.5
Die Verantwortung von Religion und Kirche ..................................... 100
Anmerkungen ........................................................................................ 107
Literatur ............................................................................................... 107
4.
Fachtagungen ........................................................................ 112-272
4.1
Gewaltfreie Erziehung – Eine Herausforderung für
die politische Bildung
27. Oktober 1999 in Bonn ............................................................. 114-
4.1.1 Lukas Rölli
Zusammenfassung .................................................................. 114-117
1.
Ziel der Tagung, Beteiligung und Konzeption ................................... 114
2.
Vertiefung der Kenntnisse, Erörterung der politischen Problemstellung .. 115
3.
Perspektiven für ein trägerübergreifendes Projekt ............................ 117
4.
Ergebnis der Fachtagung ............................................................... 117
4.1.2 Lukas Rölli (Zusammenfassung des Einführungsreferats)
Der gesellschaftliche und politsiche Rahmen für die Beschäftigung
mit dem Thema „Erziehung und Gewalt“ in der plitischen Bildung .. 118-121
1.
Veränderte Sensibilität gegenüber Gewalt in der Familie ..................... 119
2.
Veränderte Erziehungsstile ............................................................ 119
3.
Erschwerte Rahmenbedingungen für die Erziehung in Familien ........... 120
4.1.3 Lukas Rölli (Expertengespräch mit Heinz Holzhauer/Zusammenfassung)
Rechtliche und politische Implikationen des Rechtes auf eine
gewaltfreie Erzeihung ............................................................. 122-124
1.
Grundgesetzlicher Rahmen von Erziehung in der Familie .................... 122
2.
Familienrechtliche Bestimmungen des BGB ...................................... 123
3.
Begriffsbestimmung von § 1631 Abs. 2 BGB .................................... 123
4.
Rechtspolitische Absichten hinter dem Gesetzesentwurf .................... 124
5.
Folgen eines Rechtes auf gewaltfreie Erziehung ............................... 124
4.1.4 Heike Lipinski
Gewaltfreie Erziehung – Perspektiven für die politische Bildung ... 125-135
1.
Ist Erziehung Privatsache? ............................................................ 125
340
2.
2.1
2.2
2.3
2.3.1
2.3.2
2.4
2.5
2.6
3.
Welche konkreten Themen kommen für die politische Bildung infrage? .. 126
Politische Bildung verdeutlicht Wertoptionen ................................... 127
Information über den Ist-Zustand ................................................... 127
Darstellung der Ursachen von Gewalt .............................................. 128
Gesellschaftliche Ursachen ............................................................ 129
Individuelle Ursachen ................................................................... 129
Folgen von Gewalt ........................................................................ 130
Transfer in den eigenen Lebenskontext ermöglichen ......................... 131
Konkrete Handlungsmotivation erzeugen/Hilfsangebote präsentieren ... 132
Welche Aspekte sind bei der Umsetzung dieses Themas in die
politische Bildung zu beachten? – Einige didaktische Hinweise .......... 133
3.1
Zielgruppen ................................................................................. 133
3.2
Wie mache ich das Thema attraktiv? ............................................... 133
3.3
Art der Veranstaltung .................................................................... 134
3.4
Persönlichkeitsbildung und politische Bildung ................................. 135
Anmerkungen ........................................................................................ 135
4.2
Gewaltfreie Erziehung – Zu Theorie und Praxis
eines pädagogischen Leitbildes
24./25. Oktober 2000 in Neu-Anspach/Taunus ............................. 136-211
4.2.1 Lukas Rölli
Zusammenfassung .................................................................. 136-137
4.2.2 Manfred Gerspach
Zum Leitbild „Gewaltfreie Erziehung“: seine anthropologischen,
moralischen, sozialen und pädagogischen Grundlagen ................ 138-170
1.
Allgemeine Aussagen über das Paradoxon von Erziehung und
Gewaltfreiheit .............................................................................. 138
2.
Der Einfluss struktureller Gewalt auf die Erziehung ........................... 148
3.
Konzept für eine gewaltfreie Erziehung ........................................... 156
Anmerkungen ........................................................................................ 164
Literatur ............................................................................................... 166
4.2.3 Mounira Daoud-Harms
Gewaltfördernde und gewalthemmende kulturelle Einflüsse in
Migrantenfamilien – Der Einfluss soziokultureller Milieus
auf die Erziehungsstile ........................................................... 171-182
1.
Lebensgeschichte A ...................................................................... 173
2.
Lebensgeschichte B ...................................................................... 175
3.
Lebensgeschichte C ...................................................................... 177
4.
Lebensgeschichte D ...................................................................... 179
5.
Auswertung ................................................................................. 180
Literatur ............................................................................................... 182
341
4.2.4 Barbara Rendtorff
Geschlecht, Erziehungshandeln und Gewalt ................................ 183-194
Anmerkungen ........................................................................................ 193
Literatur ............................................................................................... 194
4.2.5 Achim Schröder
Bildungsarbeit und „Gewaltfreie Erziehung“
– Ideen zur Umsetzung – Wie man durch Bildungsarbeit die
Herausbildung gewaltfreier Erziehung unterstützen kann ............. 195-211
1.
Einleiung .................................................................................... 195
2.
Konflikte im Erziehungsprozess ...................................................... 196
3.
Lernen und Erfahrung ................................................................... 200
4.
Methode „Szenisches Spiel“ am Beispiel von Seminaren zur
Gewalt- und Konfliktverarbeitung ................................................... 204
5.
Abschließende Gedanken .............................................................. 208
Anmerkungen ........................................................................................ 209
Literatur ............................................................................................... 210
4.3
Gewaltfreie Erziehung in der Tagespflege
8./9. Mai 2001 in Neustadt/Bergstraße ...................................... 212-256
4.3.1 Dorothea Frey
Zusammenfassung .................................................................. 212-214
4.3.2 Kai-D. Bussmann
Gesetzliches Gewaltverbot nach § 1631 Abs. 2 BGB
in der Erziehung und Betreuung im familiären
Betreuungssystem .................................................................. 215-234
1.
Kurze Geschichte der Prügelstrafe ................................................... 215
1.1
Historisches Material .................................................................... 215
1.2
Gegenwärtige Studien ................................................................... 216
1.2.1 Maskierung der Gewalt in kleinen und anderen „Dosierungen“ ............ 217
1.2.2 Neben der Maskierung der Gewalt erfolgt bei den Eltern eine
gefährliche Immunisierung gegen Kritik .......................................... 219
2.
Die Schwedische Strategie ............................................................. 220
3.
Gründe für ein rechtliches Verbot ................................................... 223
3.1
Differenzierter Gewaltbegriff ......................................................... 223
3.2
Pädagogische Aufklärung (Selbstkontrolle) ...................................... 226
3.3
Stimulierung der sozialen Kontrolle (Fremdkontrolle) ........................ 226
3.3.1 Publizität professioneller Ansprechpartner ...................................... 226
3.3.2 Bereitschaft und tatsächliches Interventionsverhalten ...................... 227
3.3.3 Die Privatheit der Familie und ihre Gewalt ....................................... 228
4.
Das Modell Recht als Kommunikationsmedium .................................. 230
Literatur ............................................................................................... 233
342
4.3.3 Karin Weiß M.A.
Gewaltfreie Erziehung und Gewalt gegen Kinder als Themen
in der Qualifizierung ............................................................... 235-245
1.
Das Modellprojekt im DJI .............................................................. 235
1.1
Die Arbeit im Modellprojekt ........................................................... 236
1.2
Ergebnisse: Die Praxis der Tagespflege/Qualifizierung im Modellprojekt . 236
1.3
Das DJI-Curriculum ....................................................................... 237
1.4
Der Themenbaustein „Erziehung“ innerhalb des DJI-Curriculums ......... 237
2.
Curriculare Elemente zur Qualifizierung in der Tagespflege ................. 240
2.1
Die Inhalte der Veranstaltungen zum Thema Erziehung ...................... 240
Anmerkungen ........................................................................................ 245
4.3.4 Wege zur gewaltfreien Erziehung: Vorstellung des Modellprojekts
„Starke Eltern – starke Kinder“ des Deutschen Kinderschutzbundes 246-251
1.
Ziele, Inhalte und Anwendung ....................................................... 247
2.
Theorien und Methoden ................................................................ 249
3.
Anwendungsbereiche und Dauer der Kurse ....................................... 249
4.
Multiplikatorenschulung ................................................................ 250
5.
Aufbau der Schulung .................................................................... 250
4.3.5 Hans Schmidt, Meinolf Hartmann
Männer- und Jungenarbeit des Vereins Jedermann e.V. Heidelberg .. 252-256
4.4
Zwischen Prävention und Intervention
12./13. Juni 2001 in Hildesheim ............................................... 257-272
4.4.1 Lukas Rölli
Zusammenfassung .................................................................. 257-259
4.4.2 Joachim Fuß
Zwischen Prävention und Intervention
Das Recht auf gewaltfreie Erziehung – Grundlagen einer rechtlichen
Norm und deren Auswirkungen auf Familien- und Jugendhilfe ...... 260-270
1.
Bestandsaufnahme ....................................................................... 260
1.1
Gewalt und Agressionen in Staat und Gesellschaft ............................ 260
1.2
Vom Züchtigungsrecht der Erziehungsberechtigten über das Verbot
entwürdigender Erziehungsmaßnahmen, insbesondere körperlicher
und seelischer Misshandlungen bis hin zum Recht der Kinder
auf gewaltfreie Erziehung .............................................................. 261
2.
Rechtliche Einordnung der Neufassung des § 1631 BGB ..................... 261
2.1
Der verfassungs- und völkerrechtliche Kontext der Neuformulierungen
von § 1631 b Abs. 2 BGB .............................................................. 261
2.2
Der strafrechtliche Kontext ............................................................ 262
3.
Die Ausgestaltung des § 1631 b Abs. 2 BGB ..................................... 263
3.1
Erziehung .................................................................................... 263
343
3.1.1 Ziele .......................................................................................... 263
3.1.2 Mittel der Erziehung ..................................................................... 263
4.
Durchführung von Ermittlungs- und Strafverfahren im Falle von
Verstößen gegen das Verbot der gewaltfreien Erziehung und das
Verbot von entwürdigenden Erziehungsmaßnahmen .......................... 265
5.
Familienrechtliche und Jugendhilferechtliche Konsequenzen von
Verstößen gegen das Gebot der gewaltfreien Erziehung bzw. das
Verbot entwürdigender Erziehungsmaßnahmen ................................. 267
6.
Möglichkeiten von Hilfe und Beratung ............................................ 269
7.
Zusammenfassung ........................................................................ 270
4.4.3 Klaus Münstermann
Gewaltfreie Konfliktlösungen fördern, Gewalt verhindern
Handlungsmöglichkeiten und notwendige Kompetenzen sowie
Ressourcen der freien und öffentlichen Familien- und Jugendhilfe . 271-272
5. Seminar-Bausteine .......................................................................... 273-319
5.1
5.1.1
5.1.2
5.1.3
5.1.4
5.2
5.2.1
5.2.2
5.2.3
5.2.4
5.3
Dagmar und Bernward Bickmann
„Wo, bitte, geht’s denn lang wo ich hin will?“ (Karl Valentin)
Familie als prägende Instanz von Wertorientierungen im
gesellschaftlichen „Zusammenspiel“ mit Schule, Arbeitswelt
Medien und politischer Teilhabe ............................................... 274-278
Seminarkontext bzw. Seminarhintergrund ........................................ 274
Ausschreibungstext ...................................................................... 274
Bausteine ................................................................................... 275
Resümee, Folgerungen, Perspektiven .............................................. 276
Birgit Engelhard-Schwaab
„Was ist los, wenn ich wild werde?“
Bildungswoche für Alleinerziehende in der
Katholischen Landvolkshochschule Feuerstein, Ebermannstadt ....... 279-286
Seminarkontext bzw. Seminarhintergrund ........................................ 279
Ausschreibungstext ...................................................................... 280
Bausteine ................................................................................... 280
Resümee, Folgerungen, Perspektiven .............................................. 284
Dorothea Frey
„Gewaltfreie Erziehung in der Tagespflege
Gewalt gegen Kinder – Rechte der Kinder“
Semiartag im Rahmen der Qualifizierung von Tagesmüttern ........... 287-296
5.3.1 Seminarkontext bzw. Seminarhintergrund ........................................ 287
5.3.2 Ausschreibungstext ...................................................................... 288
5.3.3 Bausteine ................................................................................... 288
344
5.3.4 Resümee, Folgerungen, Perspektiven .............................................. 290
Anhang ................................................................................................ 291
5.4
5.4.1
5.4.2
5.4.3
5.4.4
Rainer Hartel
Jugend – Gewalt – Familie / Bildungswoche für Jugendliche
in der Bildungsstätte Alte Schule Anspach (basa), Neu-Anspach ..... 297-304
Seminarkontext bzw. Seminarhintergrund ........................................ 297
Ausschreibungstext ...................................................................... 298
Bausteine ................................................................................... 299
Resümee, Folgerungen, Perspektiven .............................................. 300
5.5
Christine Heide
Gewalt in der Erziehung
Eine Fortbildung für Erzieher/innen und Grunschullehrer/innen ..... 305-313
5.5.1 Seminarkontext bzw. Seminarhintergrund ........................................ 305
5.5.2 Ausschreibungstext ...................................................................... 306
5.5.3 Bausteine ................................................................................... 306
5.5.4 Resümee, Folgerungen, Perspektiven .............................................. 308
Literatur ............................................................................................... 311
Anhang ................................................................................................ 311
5.6
5.6.1
5.6.2
5.6.3
5.6.4
Simeon Reiniger
„Starke Kinder – Starke Eltern“©
Seminar für Familien, Alleinerziehende und Interessierte in
Zusammenarbeit mit dem Kinderschutzbund Lingen (Ems) ............. 314-319
Seminarkontext bzw. Seminarhintergrund ........................................ 314
Ausschreibungstext ...................................................................... 315
Bausteine ................................................................................... 316
Resümee, Folgerungen, Perspektiven .............................................. 318
6. Lukas Rölli
Ausgewählte Literaturhinweise .......................................................... 320-329
6.1
Gesetzgebung: Bundestags Drucksachen, Berichte Gesetzesvorlagen ..... 322
6.2
Juristische Literatur ..................................................................... 323
6.3
Soziologische Literatur ................................................................. 324
6.4
Pädagogische und psychologische Literatur ..................................... 326
6.5
Literatur zu Familien-, Kinder- und Jugendpolitik ............................. 327
6.6
Fachdidaktische Beiträge zur familienbezogenen politischen Bildung .... 329
7. Kontakte ......................................................................................... 330-336
7.1
Projekträger ................................................................................ 332
7.1.1 Projektleitung ............................................................................. 332
7.1.2 Weitere Projektträger .................................................................... 332
7.2
Projektgruppe .............................................................................. 333
7.3
Autorinnen und Autoren ............................................................... 335