Die_Neue_Wir-Kultur - Sport-Job-Blog
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TRENDSTUDIE DIE NEUE WIR-KULTUR Wie Gemeinschaft zum treibenden Faktor einer künftigen Wirtschaft wird DIE NEUE WIR-KULTUR Wie Gemeinschaft zum treibenden Faktor einer künftigen Wirtschaft wird IMPRESSUM Herausgeber Zukunftsinstitut GmbH Kaiserstr. 53, 60329 Frankfurt Tel. + 49 69 2648489-0, Fax: -20 info@zukunftsinstitut.de Chefredaktion Thomas Huber Autorin Kirsten Brühl Redaktionelle Mitarbeit Verena Muntschick, Silvan Pollozek Graik-Design Ksenia Pogorelova Lektorat Franz Mayer ISBN 978-3-938284-94-0 © Zukunftsinstitut GmbH, Januar 2015. Alle Rechte vorbehalten. Zukunftsinstitut I Die neue Wir-Kultur INHALT 4 Intro Mehr Wir: Aufbruch ins Zeitalter der Kollaboration? 8 Die Landkarte des Wir Ein Realitätscheck für Pragmatiker 50 Aus „Wir“ wird Peer-to-Peer Gemeinschaft als Treiber für Führungskräfte 68 Die Evolution des Wir Soziale Innovationen prägen das Bild der Zukunft 80 Der Homo Socialis Wissenschaftliche Perspektiven für Theorieafine 96 Der „Wir“-Imperativ To-dos für die Zukunft. Für Macher und Umsetzer 112 Literaturliste 3 INTRO Mehr Wir: Aufbruch ins Zeitalter der Kollaboration? 4 Zukunftsinstitut I Die neue Wir-Kultur 2012 lädt die deutsche Bundeskanzlerin das ganze Land zu einem Dialog über die Zukunft ein (dialog-ueber-deutschland.de). Gleichzeitig bestimmen erste Unternehmen ihre Chefs nicht mehr „von oben“, sondern lassen sie von ihren Mitarbeitern demokratisch wählen (umantis.com). Andere schafen Hierarchien gleich ganz ab: Eine Berliner Innovationsagentur installiert ein Führungskollektiv und gewinnt damit einen New Work Award (thedarkhorse.de). Weitere Firmen probieren alternative Formen von Mitbestimmung aus. Mitarbeiter entscheiden selbst über ihr Gehalt, stellen eigenständig Kollegen ein und verantworten selbstverantwortlich auch große Budgets, ohne sich nach oben absichern zu müssen. Wer in Frankfurt wohnt, kann unterdessen auch Einluss auf die Politik nehmen. Auf der Website „FFM Frankfurt fragt mich“ (fm.de) können Bürger direkt ihre Ideen einreichen. Bei mehr als 200 Unterstützern werden sie umgehend geprüft und von der Stadt mit einem Vorschlag zur Umsetzung versehen. Auch im Privaten entstehen neue KollektivKonstrukte und alternative Organisationsformen: Mittdreißiger bewirtschaften vor den Toren deutscher Städte gemeinsam mit Rentnern und Familien Felder und legen Gemüsegärten an (meine-ernte.de). Nachbarn teilen sich ihre Werkzeuge, statt neue eigene zu kaufen, bestücken aus dem eigenen Literaturbestand öfentliche Bücherschränke und füllen für die Allgemeinheit zugängliche Kühlschränke mit Lebensmitteln auf. Privatleute leisten im Kollektiv Taxidienste und werden zu Getränke- und Lebensmittellieferanten. Bürger engagieren sich in „Social Impact Labs“, um aktiv neue Ansätze für selbstverantwortetes Wirtschaften zu entwickeln. Geschäftsinhaber wie die der BioSphäre in Berlin entwickeln 5 INTRO alternative Geschäftsmodelle, um Bio für alle anzubieten. Wer wenig verdient, zahlt wenig. Besserverdienende und ehrenamtliche Verkäufer subventionieren sie (enorm-magazin.de). „Mischt Euch ein“ und „macht mit“ heißt es unterdessen auf den Titeln alternativer Wirtschaftsmagazine wie „brand eins“ oder „enorm“. Die GLS Bank wirbt mit dem Slogan „Share Dich drum“ um neue Kunden, und die Cebit stellt 2013 die gesamte Messe unter den Leitgedanken der „Share Economy“. Überall klingt es nach „Wir“. Nach Zusammenhalt, nach dem Wunsch, mehr oder neue Gemeinschaft zu spüren, zu erzeugen, zu formen. Am besten alle sollen künftig mitmachen, „mitgenommen werden“, dabei sein und gefragt werden. Hängen all diese Phänomene zusammen? Wir glauben ja. Sollte sich dies bewahrheiten, stünde ein gewaltiger Wandel bevor. Denn der große Treiber der vergangenen Jahrzehnte war auf diesem Feld das vermeintliche Gegenteil: der Individualismus. Vermeintlich deswegen, weil es natürlich schon immer um die Balance ging zwischen Durchreglementierung und überbordenden Freiräumen, von „Normcore“ und Atomisierung. Dennoch: Die neuen Wirs verweisen auf einen Phasensprung, denn sie verkörpern im Sinne der Trendlogik die Umorientierung und Ausrichtung auf etwas, was als Leerstelle, Mangel oder Sehnsuchtsfeld empfunden wird. Selbstverständlich werden wir nicht aufhören, individuell zu leben und zu fühlen – und das auch einzufordern. Aber nicht umsonst hat ein durch und durch digitales Zeitalter den Begrif der „Community“ mit gänzlich neuem deinitorischem Leben gefüllt. 6 Und so zeigt sich auch am Wir-Phänomen die trendgetriebene Logik moderner Gesellschaften: Während das System im mathematisch-wissenschaftlichen Sinne immer „diskreter“ wird – die Digitalisierung macht immer mehr Bereiche abgrenzbar als Zustände von Null und Eins, an und aus, ja oder nein –, während wir also immer „digitaler“ werden, schaft sich die Gesellschaft innerhalb dieser digitalen Umfelder Überlagerungen des „Kontinuierlichen“, wo es um Übergänge, Interpretationen und Kontexte geht. Wachsende Komplexität ist die spürbarste Folge solcher Trend-RekursionTrendanpassungs-Logiken. Die neuen Wirs sind insofern nicht eine Abkehr vom Individualismus, sondern eine Organisationsform temporärer Zugehörigkeit als komplexe Reaktion auf erweiterte Bindungspotenziale. Mehr Kollaboration scheint an vielen Stellen in Wirtschaft und Gesellschaft der Versuch zu sein, sich in einer komplexen Welt neu und anders zu organisieren. Mit mehr Innovation, mehr Eizienz, mehr Sinn – und manchmal auch mit mehr „Kuschel-Faktor“. Doch die neuen Kollektive, die neuen „Wirs“, nehmen ein weites Feld ein. Sie reichen von echten Kollektiven, die alternative Lebensformen aufbauen wollen, bis hin zu temporären Gemeinschaften, die eigentlich nur ihr eigenes Leben etwas angenehmer und unkomplizierter gestalten wollen. Beides hat seine Berechtigung. Doch kommt es dadurch leicht zum Clash von Wertewelten, denn gesellschaftlich noch lange nicht geklärt ist die Frage, was das Wir in seinem Inneren ausmacht, welche Formen echtes, berechtigtes Wir sind und wo Wir-Hochstapelei beginnt. Die Hofnung auf mehr „Wir“, auf Teilen, auf mehr Solidarität und eine andere, bessere Spontanes Wir: Helfer beim Oder-Hochwasser Zukunftsinstitut I Die neue Wir-Kultur Foto: Istockfoto Welt prallt an etlichen Stellen auf eine andere, schmucklosere Realität. In ihr geht es zwar auch um Kollektive, aber vor allem um durch Digitalisierung getriebene Angebote und technologische Vernetzung. Zeit innezuhalten also und zu überprüfen, welche der neuen Wirs Ausdruck welcher genauen Sehnsucht sind, welche Formen von Wir tatsächlich existieren und dank Internet und Apps vielleicht schon fest in unser Leben integriert sind. Die vorliegende Studie versucht eine Inventur des Wir an der Nahtstelle von Spätindividualismus und neuem Kollektivismus: In Kapitel 1 wenden wir uns an die Pragmatiker und vermessen das Terrain für unsere Gesellschaft. Welche Wir-Modelle gibt es und wo zeigen sich neue Formen von Kollaboration und Kooperation schon heute im Alltag? Wir wagen den weiten Blick und clustern die Phänomene des Wir. Kapitel 2 ist für Führungskräfte gedacht und für die, die an der Welt der Wirtschaft interessiert sind. Welche Rolle spielt das Wir im Business – und was verändert sich gerade? Denn ob Crowdfunding oder Collaborative Leadership, immer mehr Firmen öfnen ihre Prozesse in nie gekannter Weise und experimentieren mit neuen Strukturen des Wir. In Kapitel 3 ordnen wir die Evolution des „Wir“ ein und sprechen damit vor allem Überblicks- und Langfristdenker an: Welche Treiber gibt es für diese Entwicklung? Warum ist das Wir gerade jetzt ein hema – und wie wird es diskutiert? In Kapitel 4 schauen wir hinter die Phänomene und bohren in die Tiefe. Denn das wird alle interessieren, die heorie für sinnvoll halten: Was hat die Wissenschaft zum Wir zu sagen? Welche Disziplinen beschäftigen sich mit Kooperation und Kollaboration und welche spannenden Forschungsergebnisse gibt es? In Kapitel 5 werden wir pragmatisch und fragen uns, ob wir wirklich bereit sind für das „Wir“, vor allem in Umgebungen, die stark von Konkurrenz geprägt sind, wie klassische Unternehmen und Märkte westlichkapitalistischer Prägung. Das ist der Teil für die Macher unter uns. Wir schauen, was auf der Agenda für die Zukunft steht – und was wir lernen müssen, um bereit zu sein für die Ära der neuen Wirs. 7 DIE LANDKARTE DES WIR Ein Realitätscheck für Pragmatiker 8 Zukunftsinstitut I Die neue Wir-Kultur Das „Wir“ steht hoch im Kurs. Teilen und „sharen“, tauschen und gemeinsam nutzen, Kollaboration und Gemeinschaft, all das hat Konjunktur. Doch an welchen Stellen unserer Gesellschaft kristallisiert sich welche Form des Wir? Wer proitiert davon und was sind die Motive? Eine einführende Übersicht. Leben wir in einem neuen Zeitalter der Kollaboration und Gemeinschaft? Diese Frage wird derzeit unter dem Stichwort „Sharing Economy“ heftig und kontrovers diskutiert. Die einen sagen klar ja und interpretieren die schöne neue Tauschwelt als eine Gesellschaft voller Gemeinschaft und Nachbarschaftshilfe, in der ein wohltätiger Kapitalismus entsteht. Die anderen wollen genau das Gegenteil erkennen, indem die Sharing Economy nur zu noch mehr (Selbst-)Ausbeutung führt und selbst Nachbarschaft und Gemeinschaft ökonomisiert. Ob euphorischer Lobgesang oder pessimistische Kulturkritik – an einem besteht kein Zweifel mehr: Die Welt hat sich mittlerweile so vernetzt wie nie zuvor und Personen sind in vielfache Kommunikationszusammenhänge verwickelt. Daraus entstehen zwar nicht zwangsläuig neue Gemeinschaften, aber doch viele neue Formen sozialer Netzwerke, die zumindest das Potential besitzen, Wir-Gefühle und Gruppenidentiizierungen hervorzurufen. Wenn heute von Gemeinschaft gesprochen wird, geht es nicht mehr nur um Horte hochpersönlicher Beziehungen wie Familie oder Freundeskreis. Denn mit dem Megatrend der Konnektivität haben sich nicht nur 9 zahlreiche Communitys gebildet, die den lokalen Rahmen von physischer Interaktion sprengen – es wurde vielmehr das vermeintlich klare Verhältnis von „realen“ PräsenzBeziehungen und „virtuellen“ Kontakten untergraben. Bahn bricht – und nicht nur im Teilbereich der Ökonomie, wie es der mediale Diskurs über die Sharing Economy suggeriert. Vielmehr indet sich die Lust am Wir in Strömungen an unterschiedlichsten Stellen und Orten der Gesellschaft. Unsere Gegenwart erzeugt immer mehr hybride Gemeinschaften, die sich oline und online vernetzen und sich auf unterschiedlichsten Kanälen miteinander austauschen. Unsere Untersuchungen dulden keinen Zweifel: ‚Wirs‘ sind ein hochrelevanter, breitenwirksamer gesellschaftlicher Trend, der sich auf alle Teilbereiche der Gesellschaft auszuwirken beginnt. Wo genau das passiert und wo nicht, wollen wir zu Beginn unserer Studie etwas systematischer betrachten. In den letzten Jahren sind wir im Zuge unserer Recherchen an allen Ecken und Enden der Gesellschaft auf verschiedenste neue Wir-Phänomene gestoßen. Da wird der klassische Manager alter Schule zum ‚Alpha-Softie‘ und Teamplayer, überall in den Organisationen entstehen vernetzte Teams, Menschen tauschen Kleider, Nahrung, Fahrräder oder Autos mitten in der Konsumkultur, Weltverbesserer errichten ganze Öko-Dörfer und vieles andere mehr. Es scheint, dass sich tatsächlich eine verstärkte Wir-Orientierung der Menschen 10 Ob wir ein Zeitalter der Kollaboration heraufziehen sehen oder denken, dass Share Economy & Co. nur temporäre Erscheinungen sind, hängt davon ab, aus welcher Perspektive wir die Welt betrachten. Der Traditionalist mit Festanstellung und ohne Facebook-Konto nimmt mit Sicherheit eine andere Welt wahr als der Selbstständige, der die neuen Netzwerke stündlich in seinem Alltag nutzt. Deswegen starten wir den Blick Zukunftsinstitut I Die neue Wir-Kultur Ein Schulfest im Gemeinschaftsdorf Tempelhof auf das Wir mit einem Realitätscheck. Wir wollen wissen, welche neuen, kollektiven Organisationsformen Menschen in Gesellschaft und Unternehmen im Jahr 2015 gefunden haben, wie sie aussehen, wie sie sich anfühlen – und wie sich die Wir-Konstruktionen unserer Zeit von traditionellen Gemeinschaften unterscheiden. Die dabei entstehende „Landkarte des Wir“ soll einen Überblick schafen, das „Big Picture“ zeichnen. Wir ziehen den Fokus sehr weit auf: Wir beschreiben ein rundes Dutzend „Wir-Cluster“, hinterlegt mit Beispielen. Jedes einzelne Cluster ist „ein bisschen Wir“ – bei genauer Analyse zeigen sich dabei jedoch unterschiedlichste Ziele, Wünsche und Vorstellungen. Die „DNA“ der neuen Kollektiv-Konstrukte ist also äußerst divers, und die beschriebenen Wirs haben viele Funktionen und viele Gesichter – von neu entstehenden Wertegemeinschaften bis hin zu temporären Zusammenschlüssen für mehr Eizienz. Und sie scharen Menschen mit unterschiedlichsten Motivationen um Foto: © Tempelhof sich. Einige Aspekte scheinen zunächst überraschend: Nicht alle Wirs zum Beispiel sind zum Beispiel wirklich Gemeinschaften. Manche entstehen schlicht und einfach aus ökonomischen Notwendigkeiten, während andere getrieben sind von der Suche nach neuen Lebens- und Konsumformen und damit von einem maximalen Wunsch nach Zusammenhalt. Trotzdem gehören sie alle auf eine Karte. Denn erst wenn wir Querverbindungen herstellen zwischen all den Punkten in unserer Gesellschaft, an denen intensive oder auch eher lockere Kooperation und Kollaboration stattindet, bekommen wir ein Gespür davon, wie die Zukunft aussehen könnte und ob wir tatsächlich auf so etwas zusteuern wie ein „kollaboratives Zeitalter“. Um die vielfältigen Wir-Phänomene unserer Zeit – vom Tauschladen über die OpenSource-Bewegung bis zu den neuen Nachbarschaftswebsites – zu sortieren, haben wir zwei Unterscheidungsmerkmale gewählt. 11 DIE LANDKARTE DES WIR 1. Zum einen markieren wir den Grad der Vergemeinschaftung. Dafür nutzen wir eine Erkenntnis der Soziologie: WirGemeinschaften entstehen erst dann, wenn die Beteiligten Interessen und Werte teilen, ein tatsächliches ‚Wir-Gefühl‘ ausbilden und sich von anderen ‚Nicht-Wirs‘ abgrenzen können; außerdem müssen sie immer wieder miteinander Zeit verbringen (Hitzler/Honer/Pfadenhauer 2008). Für die eine Koordinatenachse unserer Landkarte wählen wir deshalb den „Gemeinschaftsgrad“ als Diferenzierungsfaktor. 2. Als Zweites nehmen wir das Engagement hinzu, das das jeweilige Wir vom Einzelnen verlangt: Wie viel Zeit, Geld und/ oder inneres Engagement muss ich investieren, um Teil eines speziischen Wir zu werden? Oder mit anderen Worten: Wie viel kostet mich das Wir? Diesen Wert tragen wir auf der X-Koordinaten-Achse ein. Die Topograie des Wir Am Ende entsteht eine überaus spannende Topograie des Wir: Es gibt ziemlich „dicht besiedelte“ Landstriche im linken unteren Bereich der Karte. Diese spiegeln allerdings einen eher zweckrationalen Austausch mit wenig Wir-Gefühl und geringem persönlichem Investment. Was wir schon 2012 unter dem Begrif der Shareness deiniert haben, fällt zum allergrößten Teil in diese Kategorie. Seither sind unzählige neue Varianten und Spielarten dazugekommen: Wir nennen sie die „fruchtbaren Gärten“ der Share Economy. Wer will, loggt sich ein, macht mit – und ist schwuppdiwupp wieder draußen, ohne zu einer Gemeinschaft im klassischen Sinn gehört zu haben. 12 Dagegen stehen eher karg besiedelte Flächen, auf denen wenig los ist, auch wenn die Ideen, die in diesen Feldern verfolgt werden, umso intensiver wirken. Die „Treibhäuser der sozialen Neuordnung“ gehören für uns dazu. Diese Initiativen und Projekte sind in höchstem Maße wertegetrieben, wollen Verbindungen schafen in unserer Gesellschaft und verlangen somit ein gehöriges Maß an Engagement und im Gegenzug viel echte Gemeinschaft. Manche der Phänomene entziehen sich allerdings der klaren Einteilung, die der zweidimensionale Raum der Landkarte fordert. Einige der Beispiele fühlen sich an, als wären sie gleichzeitig hier und dort. Das gilt besonders für einige Beispiele der Share Economy: Nicht wenige Projekte sind ursprünglich aus einem Impuls des Teilens und Schenkens geboren worden und könnten ihren Platz auf den „Lichtungen der Großzügigkeit“ haben. Inzwischen haben sie sich aber über den „Pfad der Ökonomisierung“ in Richtung der härter kalkulierenden Share Economy bewegt. Hier haben wir im Sinne einer besseren Trennschärfe eindeutige Zuordnungen vorgenommen. Doch bei unserer Landkarte geht es weniger um den Einzelfall als um das Big Picture. Wir bringen hier zusammen, was auf den ersten Blick nicht zwingenderweise zusammengehört. Denn genau das ist der Mehrwert eines weiten Fokus: Wir können Mustererkennung betreiben und prüfen, inwieweit Kollaboration, Kooperation und mehr Wir ein übergreifendes Phänomen ist, das an vielen Stellen von Wirtschaft und Gesellschaft sichtbar wird, oder ob wir nur von temporären Ausnahmeerscheinungen sprechen. Zukunftsinstitut I Die neue Wir-Kultur Die Quadranten der Gemeinschaft Um die Landkarte besser lesbar zu machen, haben wir in einem weiteren Verdichtungsschritt daher eine klassische Vier-Felder-Matrix gebildet. Als Lesehilfe für die Karte dient folgende Einteilung: Grad der Vergemeinschaftung Grad der Vergemeinschaftung Engagement Engagement Die Zone von Weltverbesserungs-Wirs. Die Zone von Optimierungs-Wirs. Hier geht es um Wertegemeinschaften. Erscheinungsform sind hierbei temporäre Höchster Wert: Solidarität Entwicklungsgruppen. Wir-Absicht: alternative Formen des Zusam- Höchster Wert: Zusammenhalt menlebens und -arbeitens inden und mit zur gegenseitigen Förderung ihnen experimentieren Wir-Absicht: persönliches Wachstum durch Vergleich und Sparring Grad der Vergemeinschaftung Grad der Vergemeinschaftung Engagement Engagement Die Zone der Efizienz-Wirs. Die Zone der Sympathie-Wirs. Gebildet durch Thema sind alternative Tausch- und lockere Lerngemeinschaften. Organisationsgemeinschaften. Höchster Wert: Offenheit Höchster Wert: Efizienz Wir-Absicht: allen die Ressourcen zur Wir-Absicht: schneller, lexibler und mit mehr Verfügung stellen und mehr Selbstbestim- Abstimmung in einer komplexen Welt handeln mung generieren können 13 14 Die Landkarte des Wir xxx Wir ist nicht gleich Wir: Die Verbindlichkeit hängt von den Faktoren Vergemeinschaftung und individuelles Engagement ab. Zusammengehörigkeit/ geteilte Werte Grad der Vergemeinschaftung hoch niedrig hoch Privatopias/Gated Communities individuelles Engagement • Ecovillage Findhorn, Schottland • Disney-Planstadt Celebration, USA • Freetown Christiania, Kopenhagen, Dänemark zunehmend gemeinsame Interaktionszeiträume Warmer App-Regen Gruppenbezug Wir/Nicht-Wir Spielwiesen gemeinschaftlicher Körperund Gesundheitsoptimierung Bootcamps, App-Wettbewerbe, Online-Screenings gemeinsam Spaß haben! Lagerfeuer spontaner Wir-Ereignisse Flashmobs, Riot Clean-Ups geteilte Interessen Die fruchtbaren Gärten des Teilens, Tauschens und Verleihens Collaborate Consumption, Share Economy zweckrationaler Austausch kein/wenig Aufwand (Anmeldung, sonst nichts) Die Einlasspforte: eigener Besitz Die Sümpfe der Vermarktung zeitl. oder finanziell geringe Investition Inseln des alternativen Lebens1 5 Zukunftsinstitut I WIR Strom der Gesellschaftskritik Öko-Dörfer, nachhaltige Lebensgemeinschaften Hochplateau der Weltverbesserung Siedlung der Kollektivisten Mehr-Generationen-Häuser Lichtungen der Großzügigkeit Umsonstläden, Bücherboxen, öffentliche Kühlschränke, Kleidertausch Lager der Gestaltungs-Guerillas Urban Gardening, Gestaltung öffentlicher Räume, Hacking, Labs Kuschel-Schollen Lokale Nachbarschaftsnetzwerke, kochen und essen in Gemeinschaft Treibhäuser der sozialen Neuordnung Irrgarten der Transparenz ! ! ? ? !! Baumhäuser politischer Partizipation Künstlerinitiativen, neue soziale Choreographien, „soziale Plastiken“ Online-Campaigning, Internet-Petitionen, Watch-Blogs ?? ? Co-Working-Quartiere Fluss der gemeinsamen Kreativität Open Shore Open Education, Open-SourceProdukte, Fab Labs… Wall des Misstrauens Gestrüpp der Konkurrenz substanzielle zeitl./ persönl. Ressourcen investieren Gräber der verlorenen Zeit persönliche Veränderung/ Transformation notwendig CLUSTER 1 Die folgenden zwölf Cluster sind die Wir-Formen, Sonntagsfeiern mit denen wir es in den kommenden Jahren als Gesellschaft zu tun bekommen werden. Das Leben feiern, in der Wärme der Gruppe, Im Detail werden wir der Frage nachgehen, ohne Doktrin und ohne Gott. Das kann man welche dieser „Formate“ an welchen Stellen in seit Anfang 2013 unter anderem in London, unserer Gesellschaft zu treibenden Faktoren Berlin und anderen Städten. Das Motto der werden und wie sich das auf die Praxis der Quasi-Gemeinden lautet „live better, help often, Ökonomie und ihrer Organisationen auswirken wonder more“. Energetisiert, vitalisiert, wieder- wird. Wir-Formate sind als Antwort auf die aufgeladen und erfrischt soll man sich fühlen, Unzulänglichkeiten des Individualismus in sehr wenn man an den Wir-Events teilnimmt und die unterschiedlicher Weise anzusehen. Sie werden Energie der Gruppe spürt (sundayassembly.com). uns in vielen Formen innerhalb kultureller wie wirtschaftlicher Kontexte begegnen. Temporäre Kommune Kuschel-Schollen Auf den Dächern der Stadt campen. Ganz wie früher, ohne Strom und Internet, mit einem ge- In vielen westlichen Großstädten beginnen sich jenseits traditioneller Strukturen wie Kirche, Familie und Gemeinde alternative Wir-Strukturen herauszubilden, in denen sich ein Halt gebendes Gefühl von Gemeinsamkeit spüren und menschliche Nähe kultivieren lässt – in aller Freiheit und meist ohne große Verplichtung. Das Hauptmotiv dieser „Kuschel-Schollen“ ist die Sehnsucht nach Wärme, gemeinsamem Erleben und Verbundenheit. Doch nicht nur im Westen, auch in den Wirtschaftsmetropolen Asiens ist man inzwischen auf der Suche nach Kontakt und Shareness-Feeling, wie das Beispiel Seoul zeigt. Wie sich die Kuschel-Schollen in der Realität anfühlen, zeigen folgende Beispiele. meinsam zubereiteten Mahl am Gaskocher, das am großen Holztisch zusammen eingenommen wird. Sieben Zelte unter freiem Himmel stehen den modernen Großstadt-Clans zur Verfügung. Zutritt bekommt, wer sich in eine Mailingliste einträgt – und etwas zum gemeinsamen Essen beisteuert. Das urbane Camping in New York wird somit zu einer sehr ursprünglichen Ofline-Oase mit Gemeinschaftsanschluss (bivouacnyc.com). Gemeinschaftsgenuss Hobbyköche sind in Küchen auf der ganzen Welt zuhause, wenn sie sich über die Plattform „ComeCookandEat“ kennenlernen und miteinander verabreden. Wer sich online registriert, kann sich bei mehr als tausend potentiellen Gastgebern zum gemeinsamen Kochen einladen und selbst Gäste empfangen. Die Idee, Kochen als Verständigung zwischen Kulturen einzusetzen, hatte ein deutsch-italienisches Paar, das in Norditalien lebt und seitdem die Idee des Non-Proit-Projekts weiterträgt (comecookandeat.org). 16 Zukunftsinstitut I Die neue Wir-Kultur Polly & Bob verbindet die Nachbarschaft Foto: Volker Siems Nachbarschaftsnetze Sharing-Vorbild Seoul Bei Nextdoor oder Niriu liegt das Wir vor der Sharing in jeder Hinsicht gibt es in Seoul. San eigenen Haustür. Die neuen Nachbarschafts- Francisco war die Inspiration – jetzt will man netze sind ein Beispiel für die Kombination von Vorreiter in Asien werden. „Seoul Sharing City“ digitaler Plattform und dem „New-Local-Trend“. heißt das Projekt, aus der Taufe gehoben 2012 Bei Niriu in Hamburg zum Beispiel bieten vom städtischen Innovationsbüro. Die Stadt un- Nachbarn sich seit 2011 bewusst gegenseitig terstützt großlächig Leihplattformen, Mitwohn- Unterstützung an. Neben tatkräftiger Hilfe im projekte, gemeinsames Gärtnern, den Tausch Alltag geht es aber auch ums Kennenlernen. Die von Kinderkleidung, Mitkoch-Clubs und vieles Aktivitäten reichen vom gemeinsamen Grillen mehr. Das alles soll Geld sparen, Ressourcen über den Nachbarschaftsstammtisch bis zu besser verteilen – aber auch mehr Kontakt, Koch- und Weinabenden (niriu.tumblr.com). menschliche Wärme und soziale Bindung Doch auch solche Netze können ökonomisiert schaffen, sagt der Bürgermeister Seouls. Ein werden. Der Nachbarschaftsdienst Nextdoor Beispiel: Alte Häuser werden bei „WooZoo“ zu in den USA zum Beispiel wächst rasant, und es sozialen Wohnprojekten für Studenten umge- gibt feste Mitarbeiter, Venture Capital und ein staltet. Die mehr als 30 WGs sind nach Themen Businessmodell, das auf den Verkauf lokaler wie „Kochen“, „Filme schauen“ oder „Start-ups Werbung setzt. 2012 ist man mit 3.500 Stadt- gründen“ sortiert – und mittlerweile heiß be- vierteln online gegangen; mittlerweile sollen es gehrt, denn die Bewohner wissen die Nähe der 40.000 sein (nextdoor.com). Gemeinsamkeit zu schätzen (ourworld.unu.edu/ en/is-seoul-the-next-great-sharing-city). 17 CLUSTER 2 Siedlung der Kollektivisten Ökodorf Gemeinsam nachhaltig leben wollen die Be- Zusammenleben, um etwas zu bewegen. Das möchten viele der neuen Wohn- und Lebensgemeinschaften, die seit ein paar Jahren aus dem Boden schießen. In der konkreten Zielsetzung unterscheiden sie sich allerdings sehr. Während manche ökologisch nachhaltig leben, basisdemokratisch entscheiden und sich solidarisch unterstützen, suchen andere gemeinsam nach der zündenden Idee für das nächste Start-up oder eine neue App. Doch sie alle teilen eine Überzeugung: Innovation entsteht durch Interaktion. Ein Trefpunkt der Kollektivisten ist zum Beispiel die KarmaKonsum-Konferenz. Initiator Christoph Harrach hat dort einen Platz geschafen für eine „Wertegemeinschaft von Menschen, die sich für die sozio-ökologische Transformation der Gesellschaft und insbesondere der Wirtschaft engagieren“ (karmakonsum. de/konferenz). Wie kollektive Lebensformen heute aussehen und welche Träume dort geträumt werden, zeigen folgende Beispiele: wohner des Ökodorfs Sieben Linden. Das Motto der Werte- und Lebensgemeinschaft: „Let’s do it ourselves!“ Die rund 120 BewohnerInnen bauen Häuser vorwiegend aus Holz, Lehm und Stroh. Obst, Gemüse und Getreide werden auf den dorfeigenen Feldern gezogen. Ob Strom, Wasser oder Beheizung, das Dorf kommt beinahe ohne Hilfe von außen aus. So viel wie möglich wird geteilt oder wiederverwertet. Kleidung wird weitergegeben, Werkzeug und Autos gemeinschaftlich genutzt. Jeder Dorfbewohner ist in zahlreichen Arbeitsgemeinschaften, Foren und Nachbarschaften aktiv. Viele verdienen sich ihr Geld in den von der Gemeinschaft gegründeten Vereinen. Alle werden mit grundlegenden Nahrungs- und Haushaltsmitteln versorgt und können in der Gemeinschaftsküche essen. Entscheidungen werden entweder in der Vollversammlung oder durch gewählte Räte getroffen. So intensiv und lebendig die Gemeinschaft gelebt und geplegt wird, so schwer ist es, als Mitglied aufgenommen zu werden. Interessierte müssen einen Gemeinschaftskurs absolvieren, ein Probejahr vor Ort leben, die Bewohner für sich gewinnen und schließlich 13.800 Euro für ihre Genossenschaftsanteile zahlen (siebenlinden.de). 18 Zukunftsinstitut I Die neue Wir-Kultur Wohngemeinschaft auf Zeit Co-Living als Netzwerkschmiede Einfach und schnell vergleichsweise günstigen Rainbow Mansion, The Glint oder The Embassy Wohnraum inden – etwa wenn man projektbe- heißen Wohnprojekte rund um das Silicon Valley, zogen in einer Stadt arbeitet oder dort studiert. in denen junge Leute zusammenleben, um Das bietet das Co-Living-Konzept der Students innovative und rentable Business-Ideen auszu- Lodge. Und: Man lernt dabei neue Leute kennen. brüten. Wohlhabende junge Akademiker wohnen In der Students Lodge Hamburg (Eigenwerbung: dort, um zu kochen, zu feiern, sich gegenseitig „Die größte WG Hamburgs“) kann man zwischen Projekte vorzustellen und sich mit anderen „awe- einem und sechs Monaten ein Zimmer zwischen some people“ zu vernetzen (embassynetwork. 300 und 500 Euro anmieten. Seit 2013 hat man com). In den USA gibt es mittlerweile Dutzende das Konzept aber noch mal angepasst: Die Hälfte solcher ‚intentional communities‘. Für die der 60 Zimmer soll an Menschen gehen, die zumeist luxuriös ausgestatteten Häuser zahlen länger als ein halbes Jahr lang bleiben möchten, IT’ler, Kreative und Ökonomen hohe Mieten. In das gilt auch für Nicht-Studenten (students- den neuartigen Kommunen ist jeder schwer mit lodge.de). seinen Projekten beschäftigt. Hier verschwimmt die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit wie auch der Status der anderen: Sind sie Kollegen, Wett- Ähnlichkeit hilft bewerber oder Freunde – oder alles in einem? Die Idee macht sich auch in Europa breit: In Italien (Casa Neutral), Kroatien (Zagreb Cohousing), Gemeinsame Dachgärten, Küchen, Partyräume. Schweden (Hus24) und Spanien (Surf Ofice) sind Auch in Eigentumswohnungen in der Stadt bereits Co-Living-Communitys entstanden, in kann man inzwischen zusammenwohnen, ein Berlin ist man auf dem Weg (colivingberlin.com). bisschen zumindest – zum Beispiel in den Münchner Wohntürmen mit dem vielsagenden Namen „Friends“. Doch die Architekten wissen inzwischen, dass nicht alles funktioniert: Gemeinschaftsküchen werden wenig genutzt, ebenso wenig innenliegende und einsehbare Gemeinschaftsgärten wie in der Wiener Wohnanlage „Gestapelte Kleingärten“. Je ähnlicher Einstellungen und Werte der Bewohner sind, desto besser funktioniert dagegen das Gemeinschaftswohnen, sagt die Wiener Architekturwissenschaftlerin Silvia Forlati. Gemeinschaft entsteht eben nicht allein nur dadurch, dass man Räume dafür baut (Oberhuber 2014). 19 DIE LANDKARTE DES WIR Bewusstheit entwickeln Einen Traum erfüllten sich auch 20 Städter im Jahr 2010. Sie kauften für 1,5 Millionen Euro das Dorf Tempelhof in der Nähe von Schwäbisch Hall, um miteinander nachhaltig und naturverbunden zu leben. Mit von der Partie sind Unternehmer, Freiberuler und Berufstätige, die in die angrenzenden (Groß-)Städte pendeln. Die Gemeinschaft unterhält diverse Produktionsbetriebe wie Käserei, Bäckerei und Imkerei, eigene Felder und Nutztiere sowie eine freie Schule. Die dort Beschäftigten erhalten ein „Bedarfseinkommen“. Neben Nachhaltigkeit und basisdemokratischer Partizipation legt die Gemeinschaft Wert auf eine spirituelle Entfaltung, die nicht konfessionsgebunden ist. Jeder soll seine „geistig-spirituellen Wege“ gehen und ein „bewusstes Ich“ ausbilden können. Der „Wir-Prozess“ der Gruppe wird von Begleitern unterstützt (schloss-tempelhof.de). 20 Zukunftsinstitut I Die neue Wir-Kultur 21 Fotos: © Tempelhof CLUSTER 3 Co-WorkingQuartiere Flexibel arbeiten Es gibt einen aufgeräumten Schreibtisch und Platz, um gleich mit der Arbeit loszulegen. Die Co-Worker sind meist ein bisschen mehr auf Eizienz getrimmt als die Kollektivisten, die gleich ihr ganzes Leben teilen. Spontan, einfach und vergleichsweise günstig einen Arbeitsplatz mieten ist daher die zentrale Idee bei vielen Co-Working Spaces. Ein Raum mit Internetanschluss, den man für ein paar Stunden, einen Tag oder monatsweise buchen kann – das reicht vielen Freiberulern und Selbstständigen. Andere dagegen sind auf Verbindungen, Inspiration und Netzwerken aus. Denn eine wachsende Zahl freier Projektarbeiter (vorzugsweise mit vielfältigen Slash/Slash-Biograien, also mehreren parallelen Karrieren zur gleichen Zeit) merkt, dass immer allein zu projektieren keine Lösung für ein ganzes Berufsleben ist. Für sie gibt es mittlerweile eine steigende Zahl von Angeboten in Social Labs, kreativen Hubs und durchdesignten Gemeinschaftsbüros. Besonders spannend: Auch Unternehmen mieten sich mit ihren Innovationsteams in Co-Working Spaces ein, um ein wenig vom Geruch der Freiheit und Kreativität solcher neu entstehender Wir-Gemeinschaften mitzubekommen. Anbieter wie meetnwork.de oder worklabs.de vermieten in deutschen Großstädten Bürolächen, mit mehr oder weniger Design. Weltweit dagegen operiert die Plattform sharedesk.net. Wer heute in San Francisco, morgen in Abu Dhabi und übermorgen in London unterwegs ist, indet überall schnell einen Platz zum Arbeiten. Kreative Kollaboration Das Berliner Betahaus ist unter Kreativen bekannt für das „Socializing“ vor Ort. Ein Café, ein „Innospace“ für Veranstaltungen, eine Werkstatt und beinahe tägliche Veranstaltungen gehören dazu (betahaus.com). Auch Unternehmen sind gerne hier. Sie mieten Teams, die auf neue Ideen kommen wollen, gerne mal ins Umfeld der sowieso gelebten Kollaboration ein. Social Impact Labs Gleichgesinnte treffen sich auch in den Social Impact Labs, die es mittlerweile in Berlin, Hamburg, Leipzig oder Frankfurt gibt. Sie bieten neben einem Raum zum Arbeiten auch Vernetzung und Austausch. Das Gespräch in der Kaffeeküche, Veranstaltungen mit Gästen, aber auch professionelles Consulting gehören dazu. In den Labs sind außerdem geförderte Programme für Social Entrepreneurship wie Social Impact Start, AndersGründer und ChancenNutzer zuhause (socialimpact.eu/lab). 22 Zukunftsinstitut I Die neue Wir-Kultur Social Impact Labs bieten einen Raum zum Arbeiten und Vernetzung für Gleichgesinnte 23 Fotos: Christian Klant, Kontakt: Bernd Janning, socialimpact.eu DIE LANDKARTE DES WIR Lifestyle-Gemeinschaften Fast wie Clubs muten die Räume an, die auf der Website von wework.com präsentiert werden. Hier geht es nicht nur um Platz, sondern auch um Stil und ein gemeinsames Lebensgefühl mit viel Austausch. „Listen, think, converse, discuss, create, invent or just relax and meet some cool new people. WeWork events come in all shapes and sizes.“ Die WeWorker verbringen Zeit miteinander, laden zum Beispiel inspirierende (Business-)Vorbilder ein und organisieren sogar ein gemeinsames Sommercamp. Gemeinsamkeit wird auch an anderen Orten angeboten. „Grind ist mehr als nur ein Co-Working Space. Grind ist eine Community talentierter Menschen, die beschlossen haben, auf eine andere Art zu arbeiten“, heißt es bei dem Co-Working Space in New York. Das Ganze kommt daher wie ein Club („Members-only“), der damit wirbt, alle Frustrationen alter Arbeitsweisen umzudrehen. „A space that caters to free radicals like you“, heißt das zugehörige Motto (grindspaces.com). Heimatzonen Der Heimathafen in Wiesbaden adressiert schon allein mit seinem Namen die Sehnsucht nach einem (temporären) Zuhause. Das angeschlossene Café bietet Gemütlichkeit mit Kuscheleffekt. Ähnlich, aber doch anders kuschelig geht es in Dresden zu: Der „Rockzipfel“ ist eines der neuen Eltern-Kind-Büros, in denen sich Mütter und Väter die Betreuung ihres Nachwuchses teilen (rockzipfel-leipzig.de). 24 Zukunftsinstitut I Die neue Wir-Kultur Nicht nur Platz zum Arbeiten, sondern auch Gemeinsamkeit mit Stil wird den Club-Mitgliedern bei WeWork angeboten 25 Fotos: © WeWork CLUSTER 4 Fluss der gemeinsamen Kreativität Agiles Projektmanagement „Scrum“ und „Agile“ heißen neue Methoden für das Managen von Projekten. Sie erlauben eine Im Fluss der gemeinsamen Kreativität entwickeln sich neue und innovative Strukturen für kollaboratives Arbeiten. Solche gemeinschaftlichen Kreativprozesse sind ofen für die Energien aller Beteiligten, wollen das jeweils bestmögliche, aber oft nicht planbare Ergebnis erzielen und beinhalten Raum für Kehrtwenden, Verbesserungen und Überraschungen. Das macht es nötig, bisweilen auch den Anschluss an ein tröstendes Gemeinschaftsumfeld zu schafen, wenn sich ein Ideenansatz mal wieder in Luft aulöst. Für die gemeinsame Arbeit braucht man daher zugleich genügend Struktur und gleichzeitig ausreichend Freiraum für innovative Ideen. Methoden für kollaboratives Arbeiten inden derzeit auf Grund von immer noch recht aufwendigen Softwarelösungen ihren Platz meist in Unternehmen – ein kleiner Fluss ließt aber auch auf unserer Gesellschafts-Landkarte. Denn das Arbeiten im „Wir-Raum“ indet oft auch im Umfeld von Selbstständigen, bei NGOs oder anderen privaten Organisationen statt. schnelle Taktung, iteratives Arbeiten und orientieren sich immer wieder neu an den tatsächlichen Ergebnissen statt an geplanten Milestones (iapm.net). Das Projektmanagement passt sich somit dem tatsächlichen Fluss der Projekte an und sorgt für luide Abläufe. Agiles Arbeiten und schnelles Prototyping sind das Ergebnis. Doch Schnelligkeit und hohe Selbststeuerung beruhen immer auch auf Autonomie und Vertrauen, im Team gekoppelt. Scrum und ähnliche Lösungen einsetzen zu können bedeutet deswegen auch immer, gemeinsam die Phasen von Unsicherheit umarmen zu lernen und Nicht-Vorhersagbarkeiten zu akzeptieren. Book Sprint Bei einem Book Sprint geht es darum, mit einer Handvoll Menschen gemeinsam Wissen zu erarbeiten und zu strukturieren. Eine Gruppe von CoAutoren und ein Facilitator (Vermittler) kommen zusammen und schreiben in drei bis fünf Tagen gemeinsam ein Buch. Der Facilitator ist für die Entwicklung des Inhalts zuständig, kümmert sich um die Gruppendynamik, tritt bei Uneinigkeit als Mediator auf und behält die Deadline im Blick. Er ist zwar Mitglied der Gruppe, schreibt aber nie selbst. Stattdessen ist seine Rolle die eines „Enablers“, der ein Umfeld schafft, in dem Kollaboration und Kreativität gedeihen können. Er stellt sicher, dass alle ihre Ideen in die Gruppe geben und engagiert bleiben (booksprints.net). 26 Zukunftsinstitut I Die neue Wir-Kultur Ein Buch schreiben kann man bei einem Book Sprint in drei bis fünf Tagen 27 Fotos: © Book Sprints Ltd (www.booksprints.net) CLUSTER 5 Baumhäuser politischer Partizipation Kollaborations-Kompetenz Strukturen, Prozesse und Kompetenzen für Kollaboration zu entwickeln hat sich das Institut für partizipatives Gestalten auf die Fahnen geschrieben. Die Projekte sind breit gefächert. „Gesellschaft verändern“ lautet das Motiv, um das zahlreiche der neuen Kollektive kreisen. Politische Partizipation will das durch direkte Teilhabe erreichen – beschränkt sich dabei aber nicht auf den Politikbetrieb im engeren Sinne. Zahlreiche Initiativen ‚von unten‘ setzen sich für ganz unterschiedliche hemen ein: Wissen für alle, Recht auf Wahrheit oder das Monitoring unserer Demokratie wie etwa bei abgeordnetenwatch.de. Politische Partizipation hat sich zudem durch die neuen Medien verändert. Mit einem Mausklick wird eine Online-Petition unterschrieben oder ein Tweet retweetet. Auch werden spontane Versammlungen möglich, wie sich etwa bei den Protesten von Occupy oder während des Arabischen Frühlings zeigte. „Der Bürger von morgen nimmt teil. Seine Kraft ist die vierte Macht im Staat – die Partizipative“, bringt es Stephan Breidenbach, Koordinator beim Zukunftsdialog der Kanzlerin für den hemenstrang „Wie werden wir lernen?“, bei der Ankündigung eines Vortrags für die Konferenz „Tomorrows Citizen“ auf den Punkt (dai-heidelberg.de). Keine Frage, dass solche partizipativen Ansätze grundlegend auf dem Wir-Efekt aufsetzen. Für die Stadt Frankfurt betreut das Institut einen breit angelegten öffentlichen Beteiligungsprozess, um den Schulentwicklungsplan für die Jahre 2015 bis 2019 zu erstellen, an der Uni Kiel geht es um innovative Lernräume und ein neues Raumprogramm für einzelne Institute (partizipativ-gestalten.de). Campaigning Politische Durchschlagskraft durch die Masse, durch eine Wir-getriebene Menge von Menschen mit kurzzeitig geteilten Zielen, liegt hoch im Kurs. Campaigning kann heutzutage viel einfacher und kostengünstiger als früher eingesetzt werden, um Druck auf politische Institutionen auszuüben. Verschiedene Plattformen setzen regelmäßig Petitionen auf und lassen sie im Netz zirkulieren. Dass eine Million Unterschriften gesammelt werden, ist längst keine Seltenheit mehr. Neben Plattformen, auf denen jeder Petitionen starten kann (openpetition.de, change.org/de), gibt es solche, bei denen wenige einzelne Vorschläge umgesetzt werden. Bei campact.de etwa werden politische Kampagnen gestartet, begleitet und unterstützt, die sich zum Beispiel für ökologische Nachhaltigkeit, demokratische Teilhabe oder mehr Gleichberechtigung einsetzen. Die Plattform startet dabei nicht nur eine Petition, sondern hält die Interessierten mit Informationen zu Veranstaltungen und Artikeln sowie zu bisher Erreichtem auf dem Laufenden. 28 Zukunftsinstitut I Die neue Wir-Kultur Collaboration for Impact Recht auf Wahrheit Nach innovativen Co-Creation-Projekten sucht Wissen, was wirklich passiert. Zugang zu Daten, ein neuer Wettbewerb der Zermatt Summit Dokumenten und Quellen haben. All das braucht Stiftung, der Guilé Stiftung von DPD, Ashoka und man, um als mündiger Bürger in der modernen Boehringer Ingelheim. Bei den Projekten sollen Gesellschaft navigieren zu können. Gemein- soziale Organisationen mit privatwirtschaft- nützige Investigativ-Büros wie das Essener lichen Akteuren zusammenarbeiten, um eine „CORRECT!V“ bieten genau das an: hinter- nachhaltigere Wirtschaft zu schaffen, Organi- gründige Recherche. Finanziert wird sie über sationsstrukturen zu ändern, zu einem aktiven Spenden und Stiftungsgelder. Ab zehn Euro im Engagement für Veränderungen zu motivieren Monat kann jeder in ein Stück mehr Transparenz und Probleme in Chancen umzuwandeln (chan- investieren (correctiv.org). gemakers.com/co-creation). Mitmachen von Kindesbeinen an Ob Partizipationsprojekte für die Kita („Wir planen unsere Rutsche selbst“) oder Bilderbücher für kleine Demokraten („Jelena im Kinderparlament“) – das Institut für Partizipation und Bildung entwickelt, erforscht und verbreitet geeignete Wege für die demokratische Beteiligung von Kindern und Jugendlichen. Denn auch das Lernen von Demokratie ist in erster Linie ein Bildungsprozess, so das Institut. Demokratische Kompetenzen können kaum von außen „theoretisch“ vermittelt, sondern müssen von Kindern und Jugendlichen immer wieder handelnd erfahren werden (partizipation-und-bildung.de). 29 DIE LANDKARTE DES WIR Zukunfts-Labs Die bestehende Realität „hacken“ wollen Labs zu gesellschaftlichen Fragen wie Social-Innovation-Labs, Bürger-Labs oder Innovation-Labs. Existierende Institutionen sind oft schlecht ausgestattet für die massiven Herausforderungen, aber auch Chancen des 21. Jahrhunderts, heißt es in dem 2014 erschienenen Buch „Labcraft“ (Tiesinga/Berkhout 2014), das die Arbeit der neuen „Bottom up“Organisationen beschreibt. Weil für viele der anstehenden komplexen Aufgaben Standardlösungen nicht mehr greifen, will man gemeinsame Räume schaffen, in denen Innovationen entstehen können, die auch partikuläre und lokal bezogene Umsetzungen oder Problemlösungen möglich machen. Die Arbeit in „Labs“ ist dabei immer ein Prozess mit offenem Ausgang: Niemand kann zu Anfang das Ergebnis vorhersagen (vgl. ebd., S. 26ff). Auch die Grenzen des Labs, die Deinition, wer dazugehört und wer nicht, sind durchlässig und verändern sich im Lauf des Projekts. Menschen und Organisationen nehmen zum Teil nur temporär teil. Der Kreis der Beteiligten koniguriert sich je nach Fragestellung neu (vgl. ebd., S. 48). Mit Spannungsfeldern und Ambiguität umzugehen gehört deshalb in einem solchen Kontext zur Arbeit dazu. Vorgestellt werden im Buch Labs zu verschiedenen Themen und aus verschiedensten Regionen der Welt, wie zum Beispiel die Kennisland’s Education Pioneers, La 27e Région, inCompass, das Human-Centered Innovation Lab, InSTEDD’s iLab Southeast Asia & Latin America, Rocky Mountain Institute’s Electricity Innovation Lab (eLab), The Finance Innovation Lab und das UNICEF Innovations Lab Kosovo. 30 Kennisland’s Education Pioneers diskutieren über die Möglichkeiten, Lehrer bei der Umsetzung innovativer Ideen zu unterstützen Zukunftsinstitut I Die neue Wir-Kultur 31 Fotos: Flickr, Kennisland Inderwijs, CC-BY-SA-2.0 CLUSTER 6 Lager der GestaltungsGuerillas Guerilla Gardening Urban Gardening oder auch Guerilla Gardening ist in Großstädten fast schon so etwas wie ein Dauerbrenner geworden. Ob auf Brachlächen, Dächern, in Grünstreifen oder verwahrlosten Ein Hauptmotiv der „Gestaltungs-Guerillas“ lautet Selbstermächtigung. Sie gehen selbst in die Verantwortung und kümmern sich um ihr unmittelbares Lebensumfeld. Oft ist das die Umwelt, manchmal geht es aber auch um größere gesellschaftliche Fragen. Die Gestaltungs-Guerillas lassen sich nicht von Konventionen aufhalten, haben meist keine explizite politische Agenda und erschafen – oft gewürzt mit einer Prise Rebellentum – ihre eigenen neue Realitäten und Welten. Dabei haben sie es so leicht wie nie, Gleichgesinnte zu inden. Per Internet können sich die neuen „Sozialaktivisten“ ohne Mühe vernetzen und andere einladen, mitzumachen. Sie gewinnen dadurch enorm an Durchschlagskraft. Kleine Initiativen können sich in rasender Geschwindigkeit zu Flächenbränden auswachsen, die sich in ungeahnter Schnelligkeit durch die Welt bewegen und das Engagement anderer befeuern. In die Hände spielt ihnen auch die Produktionstechnologie. In Fablabs oder Hacking-Laboren sind sie längst nicht mehr nur Ideengeber, sondern werden selbst zu Produzenten. Beeten – für ein bisschen Grün in der Stadt ist überall Platz. „Samenbomben“ verwandeln Erdstreifen in Blumenwiesen und Verkehrsinseln in Miniaturoasen und demonstrieren gleichzeitig so etwas wie zivilen Ungehorsam. Dass das städtische Gärtnern, erlaubt oder nicht, sich bereits etabliert hat, zeigen Bücher wie „Mit Samenbomben die Welt verändern: Für GuerillaGärtner und alle, die es werden wollen“ (Jeffery 2012), „Urban Gardening: Über die Rückkehr der Gärten in die Stadt“ (Müller 2011) oder Severin Halder et al.: „Wissen wuchern lassen. Ein Handbuch zum Lernen in urbanen Gärten“ (2014). Solidarisches Ernten Sich die Ernte teilen und unabhängig wirtschaften. Das ist die einfache Idee des Netzwerks Solidarische Landwirtschaft. Egal ob jemand eine Hofgemeinschaft gründen will, einen Hof sucht oder die eigene Gärtnerei umstellen will – das Netzwerk unterstützt ihn. Das Ziel: Gesunde, frische Nahrungsmittel in einem eigenen, durchschaubaren Wirtschaftskreislauf herzustellen. Jede Wirtschaftsgemeinschaft verplichtet sich, einen meist monatlich ixen Betrag an einen Solidarhof zu zahlen – die Landwirte können eigenständig und abseits des Marktdrucks wirtschaften (solidarischelandwirtschaft.org). 32 Zukunftsinstitut I Die neue Wir-Kultur Urban Gardening: Großstadt-Ernte im Prinzessinengarten in Berlin 33 Fotos: Flickr, SnippyHolloW, CC BY-SA Gemeinsames Tüfteln im FabLab Magdeburg 34 Fotos: Flickr, Mitch Altman, CC BY-SA Zukunftsinstitut I Die neue Wir-Kultur Essbare Stadt Riot Cleanups Der öffentliche Raum verwandelt sich an vielen Soziales Engagement bekommt im Zeitalter von Stellen zurück in Platz, der ganz offensichtlich Social Media ein neues Gesicht. in Großbritan- der Gemeinschaft gehört. Ein Beispiel indet nien fanden sich 2011 durch Aufrufe von Twitter- sich in Andernach: die essbare Stadt. „Plücken pages oder Blogs lashmobartig tausende von erlaubt“ statt „Betreten verboten“ heißt es dort. Menschen in den Straßen britischer Großstädte Auf Gemeinschaftslächen erblühen Obstbäume, zusammen, um als Aufräumtrupps die Schäden, Kräutergärtchen und Gemüsebeete. Alles gehört die bei dortigen Jugendaufständen entstanden allen, Regeln für die Verwertung gibt es nicht. waren, zu beseitigen. Schadensbeseitigung Dafür aber Impulse für das eigene Selbstver- anderer Art indet derweil im großen Stil statt: ständnis als Bürger. „Eine urbane Erfahrung, bei Beim „Ocean Cleanup“ kann man sich am der das vertraute Terrain der Stadt mit einem Aufräumen des Ozeans beteiligen. Mehr als zwei Mal auf verführerische Weise fremd erschien“, Millionen Euro Spendengelder kamen bislang schreibt Die Zeit. „Es gab und gibt keine Regeln, zusammen, über 38.000 Menschen haben sich jeder muss sich selbst ins Verhältnis setzen: zu engagiert. Der Initiator ist ein – mittlerweile – anderen und zu dem, was dort vor den Augen 19-Jähriger, der beim Tauchen in Griechenland aller heranwächst. Wie viel darf ich nehmen? Was mehr Plastik als Fische entdeckte und eigen- soll ich teilen?“ (Rauterberg 2013) händig aning, diesen Missstand zu bekämpfen. Ganz offensichtlich traf er einen Nerv der Zeit: Mittlerweile sind rund 100 Menschen ix im 3D-Druck und Fab Labs Selbstorganisiert und gemeinsam produzieren – das ist in FabLabs (Fabrication Laborato- Projekt beschäftigt (theoceancleanup.com). Bio Hacking ries) oder Hackerspaces möglich. Hier haben Privatpersonen Zugang zu 3D-Druckern und oft Die Do-it-yourself-Bewegung hat auch die auch Laser-Cuttern oder CNC-Fräsen. Die Idee Biologie erreicht. Die neuen Biobastler und Bio- kam Anfang des Jahrtausends am MIT (Massa- tüftler, wie sie sich nennen, forschen in privaten chusetts Institute of Technology) auf. Inzwischen Laboren. Rüdiger Trojok ist einer von ihnen, gibt es in vielen Städten Labs, oft organisiert als er experimentiert als Biohacker mit lebenden Verein oder an der Uni, die sich über Mitglieds- Organismen und Erbinformationen. Wie die beiträge, Sponsoren oder öffentliche Zuschüsse Computerhacker sind auch die Biohacker unter- inanzieren (3druck.com/fablabs-liste). Das einander gut vernetzt – und schaffen sich ohne breite Publikum kann sich aber auch auf allzu große Ehrfurcht vor der wissenschaftlichen „Maker-Messen“ schlau machen, die es in den Nomenklatura ihre eigene Realität (openbiopro- USA schon zuhauf gibt. In Deutschland bedient jects.net). die Make Munich, zu der im vergangenen Jahr rund 2.500 Menschen kamen, die Selbstmachgelüste der Besucher (make-munich.de). 35 CLUSTER 7 Open Shore Demokratisierung durch partizipative Verfahren ist ein wesentliches Motiv der Open-Source-Bewegung. Mittlerweile gibt es viele temporäre und oftmals lose Interessensgemeinschaften, die kollaborativ Wissen und Software generieren und weitergeben. Wikipedia ist sicherlich die bekannteste. Andere Kollektive arbeiten gemeinsam an ofenen, oftmals kostenfreien SoftwareProgrammen. Freier Zugang zu Wissen wird auch von klassischen Bildungsinstitutionen vorangetrieben. Universitäten ilmen Vorlesungen, machen Bibliotheken zugänglich und digitalisieren Texte. Experten- und Geheimwissen transformiert sich auf diese Weise in kollektives Wissen. Die Digitalisierung ist auch hier natürlich ein wesentlicher Treiber. Im Herbst 2014 startete die Minerva Universität in San Francisco als erste EliteUni, die nur digital lehrt, ein Pilotprogramm (minervaproject.com). Free Education Immer mehr Universitäten bieten frei zugängliche und kostenlose Online-Kurse an. Das MIT ist hier mit seinem Projekt MIT OpenCourseWare klarer Vorreiter: Mehr als 2.200 Kurse aus 33 Fachbereichen wurden bis jetzt online gestellt und sind für jeden mitverfolgbar (ocw.mit. edu). In Großbritannien ist 2013 das Projekt futurelearn.com angelaufen, das in Zusammenarbeit mit der Open University entwickelt und von etwa vierzig Universitäten – überwiegend britischen – unterstützt wird. Da das Angebot an sogenannten MOOCS (Massive Open Online Courses) fast unüberschaubar wird, versuchen Meta-Listen wie die MOOC-List Überblick zu verschaffen (mooc-list.com). Auch das Team von Openculture.com sammelt Links zu „high-quality cultural & educational media“ (openculture. com) und bietet Zugang zu tausenden Hörbüchern aus Wissenschaft und Literatur, Filmen, mitgeschnittenen Vorlesungen und Universitätskursen. Open Education wird aber nicht nur ‚von oben‘, sondern auch ‚von unten‘ organisiert. Auf skillshare.com etwa werden persönliche Erfahrungen und Wissen geteilt. Ob Einführung in die Kalligraphie oder in Fashion Design, jeder kann Fotos: Minerva Founding Class Der Gründer Ben Nelson stellt Studenten der Minerva Uni36 versität in San Francisco das digitale Pilotprogramm vor Zukunftsinstitut I Die neue Wir-Kultur seine eigenen ‚Video-Classes‘ hochladen. Be- (publicdomainreview.org) – sein Experiment mit kannt geworden ist auch die „Khan-Akademie“, frei nutzbaren Rechten und der Produktion in eine private Initiative von Salman Khan, die gemeinschaftlichen Labs war erfolgreich. Sein inzwischen rund 4.000 Lehrilme aus Fachbe- „Year of Open Source“ hat er in einem Videoblog reichen wie Mathematik, Naturwissenschaften, dokumentiert (yearofopensource.net, siehe auch: aber auch aus Geschichte und Wirtschaft, dazu Gurk 2014). Übungsaufgaben und Peer-to-Peer-Tutorials anbietet und über Spenden inanziert wird (khanacademy.org). Auch die Schulen werden zum „Open Shore“. Mit seinem Projekt „School in the Cloud“ will der indische Professor Sugata Mitra die Neugier und die Selbstorganisation Freiheit mit Creative Commons von Kindern nutzen und sie zum Selbstlernen Digitales Urheberrecht vereinfachen wollte anregen (theschoolinthecloud.org). Das erste Lab der Stanford-Jurist Lawrence Lessig und öffnete Ende 2013 seine Türen in England, sechs entwickelt seit 2001 zusammen mit vielen weitere sollen in England und vor allem Indien Freiwilligen in aller Welt die Creative Com- entstehen. mons. Jeder Produzent kann so seine eigenen Inhalte maßgeschneidert schützen oder für eine Weiterverwertung freigeben. Mit dem The Year of Open Source Baukasten-Lizenzsystem lässt sich für digitale Bilder, Texte, Musikstücke und Videos einfach und unkompliziert festlegen, unter welchen Ein Jahr lang leben, ohne Produkte zu nutzen, Bedingungen sie im Netz weitergegeben und die unter Copyrights oder Lizenzen hergestellt weiterbearbeitet werden dürfen. Mittlerweile werden. Das war der Plan von Sam Muirhead. gibt es Anpassungen an die jeweils nationalen Von der Open-Source-Unterhose bis hin zu Urheberrechte in über 50 Staaten der Welt (de. Experimenten mit 3D-Druckern und Strick- creativecommons.org). vorlagen aus öffentlich zugänglichen Quellen Fotos: Khan Academy In der Khan-Akademie wird durch Lernilme und Peer-toPeer-Tutorials gelernt 37 CLUSTER 8 Treibhäuser der sozialen Neuordnung Räume zum Miteinander-Sein, gesellschaftliche Experimente und soziale Skulpturen sind Formen des Wir, in denen es vornehmlich um Begegnung und Durchmischung gesellschaftlicher Schichten geht. Initiatoren sind vor allem Künstler, die derzeit mit ihren Arbeiten die soziale Dimension neuer Gemeinschaften erkunden. Aber nicht nur. Auch ein Kafeehausbesitzer wollte mehr schafen als einen Konsumort und lädt mitten in der Schweiz zum Verweilen ein. Die Faszination der neuen Gemeinschaften hat durch den Boom der Communitys deinitiv einen neuen Schub erhalten, der nun auch auf „reale“ Umfelder übertragen wird. Institut für soziale Choreographie Neues kulturelles Terrain will das Institut für soziale Choreographie erschließen. Mit seiner Arbeit stellt es sich den sozio-kulturellen Herausforderungen unserer Zeit und experimentiert mit neuartigen Kooperationen und Prototypen für ein anderes, sinnstiftendes Miteinander. So beteiligte man sich zum Beispiel am Festival Resonanz*Körper für den geplanten Frankfurter Kulturcampus. Die Crossover-Veranstaltung mit Kunst und Musik, Sprache, Tanz, aber auch wissenschaftlichen Themen und künstlerischen Formaten lud die Bürger zu direktem Erleben ein und dazu, in Schwingung und in Resonanz zu gehen. Ein anderes Projekt soll 2016 in NYC stattinden. Einen Sommer lang soll in einer Post die kreative Avantgarde der Stadt zusammen mit Sustainability-Experten ein öffentliches Wohnzimmer bewohnen und bespielen. Initiatoren des Instituts sind Steve Valk, ehemals Dramaturg der Forsythe Company, und Heiner Blum, der als Professor an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach das Studienfeld „Experimentelle Raumkonzepte“ betreut (heinerblum.de/arbeiten/situative-projekte/ institut-fuer-soziale-choreographie). Grandhotel für Flüchtlinge Das Grandhotel Cosmopolis in Augsburg ist ein ehemaliges Plegeheim und ein schmuckloses Gebäude. Aber es hat einen Concierge, einen roten Teppich – und einen Anspruch. Asylbewerber sind hier willkommene Gäste und wohnen zusammen mit zahlenden Hotelgästen unter einem Dach. 27 Flüchtlingszimmer gibt es, und 18 für Hotelgäste. Fixpreise dafür gibt es 38 Zukunftsinstitut I Die neue Wir-Kultur Installation Duif (Dove) vom Künstlernetzwerk Nieuwe Helden (Company New Heroes) in Amsterdam nicht, „pay as much as you can“ heißt die Devise. Foto: Tom Janssen Künstler Encounter Veranstaltungen und ungewohnte Gemeinsamkeit inklusive. Als „soziale Plastik“ bezeichnen Mit Kunstprojekten und „urbanen Aktionen“ will die Veranstalter selbst ihr Experiment, das bei das Künstlernetzwerk Stiching Nieuwe Helden der Initiative „Deutschland – Land der Ideen“ (Amsterdam) den öffentlichen Raum wieder zu bereits geehrt wurde (Die Zeit 2014b, grand- einem Ort der Begegnung machen. Der Bedarf an hotel-cosmopolis.org). Begegnung steige besonders deswegen, weil wir in einer Welt lebten, in der es nicht länger eine gemeinsame Wahrheit gäbe oder eine vorherr- Einfach gemeinsam sein schende Ideologie, sagt Gründer Lucas De Man. Deswegen wollen die „Neuen Helden“ Momente schaffen, in denen man sich selbst begegnen Ein Kultur- und Kaffeehaus ohne Konsumzwang kann, dem anderen oder auch der Welt. Mit allen gründete Daniel Häni zusammen mit zwei Part- Projekten wollen die Helden den öffentlichen nern im Jahr 1999 in Basel. Das „unternehmen Raum von einem konsumgetriebenen Markt- mitte“ ist ein beliebter Treffpunkt mitten in platz in einen Raum verwandeln, der verbindet, der Stadt. Die Halle, eine ehemalige Filiale der erstaunt, überrascht und verwirrt – und durch Volksbank, haben Häni und seine Mitstreiter all das echte Begegnung schafft (company- den Bürgern mithilfe einer Stiftung öffentlich newheroes.com). Ein Beispiel der Arbeit: Bei der zugänglich gemacht. Rund 1.000 Gäste kommen Installation „DUIF 2013“ schuf man mit Beteili- pro Tag. „Nicht müssen, sondern können, das gung der Bewohner eine riesige Friedenstaube ist der Grundsatz, mit dem wir das Kaffeehaus aus den Kopfkissen dreier holländischer Dörfer. gestalten. Als Raum der Möglichkeiten, mit uns Nach zwei Wochen bekam jeder, der ein Kissen als Gastgebern, die wir den Raum frei halten und abgegeben hatte, das Kissen eines anderen moderieren“, heißt es auf der Website (mitte.ch). zurück (siehe auch Brunner 2014). 39 CLUSTER 9 Spielwiesen gemeinschaftlicher Ich-Optimierung App-Verabredung mit Runtastic Nach einem ähnlichen Prinzip funktioniert auch Runtastic (runtastic.com). Ob Joggen, Radfahren, Wintersport oder Fitness – man kann alleine Sport ist in unserer spätindividualistischen Gesellschaft längst zur Arbeit am Körper und am Selbst geworden, um it, vital und gesund zu werden und zu bleiben, wie wir bereits im Frühjahr 2014 in unserer Studie „Sportivity“ beschrieben haben. Zudem entwickelt er sich auch zu einer Präventionsstrategie gegen Leiden und Krankheit, für die der Einzelne selbst verantwortlich wird. Außerdem verspricht sportliche Aktivität, sich selbst zu spüren, zu erfahren und seine Grenzen zu überwinden. Sport wird somit zu einem wichtigen Sinnlieferanten. Und nicht zuletzt ist Sport mitsamt der milliardenschweren Freizeitindustrie zu einer Arena für Selbstinszenierung und Imageplege geworden (vgl. Zukunftsinstitut 2014). Ich bin, was ich kaufe und laufe! Sport war und ist aber immer auch eine gemeinschaftliche und gemeinschaftsfördernde Praxis: Jeder dritte Deutsche gibt an, dass das Zusammensein mit Freunden ein Grund für körperliche Betätigung ist (Spezial-Eurobarometer 2010). 18 Prozent der erwachsenen Deutschen sagen sogar, dass sie keinen Sport treiben, weil ihnen der Trainingspartner fehlt (Schulte-Hülsmann 2013). Doch die Optimierung hört nicht beim Sport auf: Auf Online-Plattformen wie Diet-Bet, Fatbet oder HealthyWage kann man jetzt auch gemeinsam abnehmen – und Wetten abschließen, wie viel Gewicht man in welcher Zeit verliert. Dabei geht es um echtes Geld; die Wetteinsätze werden unter denen verteilt, die ihr Ziel erreicht haben. 40 trainieren oder sich via App mit Gleichgesinnten schnell und einfach verabreden. Die RuntasticApp kann mit einem Tracker synchronisiert werden, so dass man Schritte und Distanz, verbrannte Kalorien, Schlafdauer, Schlafzyklen und anderes messen und mit anderen vergleichen kann. Auch hier trifft Gemeinsamkeit auf Individualität: sich treffen und gemeinsam trainieren, um gleichzeitig seinen eigenen Körper individuell zu optimieren. Gemeinsam im Bootcamp „Worauf wartest Du noch? Sei kein Weichei“ lautet der Slogan von Fitness Bootcamp (fitnessbootcamp.de). Ursprünglich als Begriff für ein Trainingslager für Soldaten bzw. in den USA als Umerziehungsmaßnahme für jugendliche Straftäter eingeführt, soll man jetzt auch im Fitness-Bootcamp über seine körperlichen Grenzen hinaus getrieben werden. Die Teilnehmer wollen ihren inneren Schweinehund überwinden – und zwar im Team. Gemeinsame Fitnessübungen, regelmäßiges Abklatschen und ‚Gruppencheering‘ ist angesagt. Manche Anbieter setzen auf Military Style, bei dem eine Gruppe von einem Trainer in Militärklamotten durch einen Parcours gescheucht wird. Andere verzichten auf diese Art der Inszenierung und setzen auf gemeinschaftliche Fitnessübungen im Park (original-bootcamp.com). Zukunftsinstitut I Die neue Wir-Kultur „The World is your Gym“ heißt der Slogan von Freeletics. Man braucht kein Fitnessstudio, sondern nutzt öffentliche Parks und Wiesen. Foto: Freeletics Gruppenfeeling bei Freeletics bekommt einen Trainingsplan mit verschiedenen Übungen körperlicher Ertüchtigung – und los Gemeinsamkeit zählt. „Wir machen Freele- geht’s. Der Vorteil: Man braucht keine Geräte und tics zusammen. Wir treten gegeneinander kein Fitnessstudio, sondern nutzt öffentliche an. Wir feuern uns gegenseitig an. Deswegen Parks und Wiesen. Das Besondere an Freele- ist Freeletics der motivierendste Weg, einen tics ist, dass man sich per App mit anderen gesunden Lebensstil zu führen“, heißt es auf Sporttreibenden ‚connecten‘ und deren tägliche freeletics.com. Das 2013 von einer kleinen Übungsergebnisse und -zeiten abrufen kann. Münchner Gruppe entwickelte Programm hat So hat man einen permanenten Vergleich und sich in nur einem Jahr wie ein Lauffeuer in ganz kann sich weiter pushen. Gleichzeitig kann man Deutschland verbreitet. Mittlerweile machen sich mit anderen Freeleticern per App in seinem über 300.000 Menschen zusammen Freeletics. Viertel verabreden oder sich einer der zahlrei- Seit einiger Zeit gibt es auch in der Türkei, in chen Gruppen anschließen. Dort feuert man Österreich und in den USA Trainingsgruppen. sich gegenseitig an und gibt sich gegenseitig Weitere folgen. Man meldet sich online an, Hilfestellung. 41 CLUSTER 10 Lagerfeuer spontaner WirEreignisse Flashmobs Ein Event scheinbar aus dem Nichts heraus. Bei den mittlerweile schon zum Allgemeingut gewordenen Flashmobs versammeln sich Menschen auf öffentlichen Plätzen zum ge- Wohlige Wärme und emotionale Verbundenheit herrschten traditionell an Lagerfeuern, so zumindest stellt sich das der zeitgenössische Mensch vor. Wer sich in der Moderne spontan zusammeninden möchte, sucht vermutlich Ähnliches mit anderen Mitteln. Apps und das Web schalten Menschen zusammen, die kurzfristig etwas miteinander erleben möchten, ohne dabei gleich zu tief einsteigen oder sich gar binden zu müssen. meinsamen Tanzen, zum Beispiel anlässlich des Tods von Michael Jackson, zum Singen, Musizieren oder im Sinne einer Performance (2009 erstarrten rund 200 Menschen in der New Yorker Grand Central Station, 2013 wurde das berühmte Rembrandt-Gemälde „Nachtwache“ anlässlich der Wiedereröffnung des Amsterdamer Rijksmuseums zum Leben erweckt). Das Prinzip der Flashmobs wird auch für gesellschaftliche Zwecke genutzt, dann heißen sie Smart Mobs oder Carrot Mobs (ein Beispiel: Menschen gehen alle in einen bestimmten Bio-Laden, damit der den Mehr-Umsatz für energiesparende neue Kühltruhen investieren kann). Die FlashmobManie, die um 2009 einen Höhepunkt fand, hat Spontan zusammen auch die Werbung ergriffen. Marken wie TMobile (Tanzen im Bahnhof Liverpool, 2009) oder Ferrero (Freundschafts-Überraschungs-Mission, Die Internetplattform Spontacts bringt unkom- 2014) inszenieren breitenwirksam Wir-Events pliziert Leute zusammen, die gemeinsam etwas mit und hoffen vermutlich auf ein bisschen unternehmen wollen. Per App oder online im Web emotionales Gänsehautfeeling. kann man sich unterschiedlichsten Interessensgemeinschaften anschließen oder selbst welche gründen. Oder ganz spontan nachfragen: „Wer kommt heute Abend mit ins Kino?“ 2013 hatte Spontacts – das sich aus den Begriffen „spontan“ und „Aktivitäten“ zusammensetzt – schon 200.000 Nutzer, die sich vor allem in Großstädten wie München, Berlin oder Düsseldorf verabredeten. Weitere Städte sollen in den nächsten Jahren hinzukommen (spontacts.com). 42 Zukunftsinstitut I Die neue Wir-Kultur Flashmobs erzeugen ein starkes „Wir“: Viele Menschen werden in einem kurzen Moment zu einer großen Einheit Foto: Flickr, Alberto Varela, CC-BY 43 CLUSTER 11 Die (fruchtbaren) Gärten des Teilens, Tauschen und Verteilens Die Share Economy ist eine blühende Landschaft. Und sie hat ihren eigenen Propheten, Jeremy Rifkin. Teilen statt besitzen, lautet das oft von ihm zitierte Motto. Und er hat eine große Hypothese im Gepäck: Der Kapitalismus geht seinem Ende entgegen. Nach einer Übergangszeit bis 2050, in der Share Economy und Creative Commons in einer Hybridwirtschaft koexistieren, wird er sterben. In seinem im Herbst 2014 auf Deutsch erschienenen Buch „Die NullGrenzkosten-Gesellschaft“ analysiert er, warum: Die Preise für das Produzieren von Waren fallen – bis es keine Gewinne mehr gibt. Die sogenannten Grenzkosten, also die Kosten für eine zusätzlich produzierte Einheit, liegen dann fast bei Null. Seine Gegner sehen den Kapitalismus nicht schwinden, im Gegenteil. Wer sich an der Share Economy beteiligen möchte, muss etwas besitzen, wer teilen will, erst einmal etwas haben, lautet ihr Argument. Digital-Experte Sascha Lobo (2014) formuliert sogar: „Was man Sharing-Ökonomie nennt, ist nur ein Aspekt einer viel größeren Entwicklung, einer neuen Form des digitalen Kapitalismus: Plattform-Kapitalismus.“ Plattformen kontrollierten Zugang und Prozesse und bestimmten die Regeln des Spiels. Sie seien ökonomische Ökosysteme, die Geld verdienen, indem sie Dritten ermöglichen, Geld zu verdienen. Doch Rifkin argumentiert, dass das alles nur eine Übergangsphase sei; in einer neuen Wirtschaftsordnung werde man sie nicht mehr 44 brauchen. Noch allerdings sind die Gärten der Share Economy in ihrer jetzigen Form fruchtbar: Unzählige Plattformen versuchen ihren Anteil am großen Tauschen, Leihen und Verteilen zu sichern. Die Branche hat es sogar schon zu eigenen Magazinen gebracht: Unter shareable.net gibt es zum Beispiel internationale Informationen zu Peer-to-Peer-Energie, der Share Week in Holland oder Technologietrends, die die Dezentralisierung unterstützen. In Deutschland muss man noch nicht mal mehr online gehen, um mehr über das Teilen zu lernen – „Let‘s Share“ erscheint auch in gedruckter Form und porträtiert die Helden der neuen Start-ups, beschreibt Crowdfunding-Projekte und gibt – ganz klassisch – Modetipps. Wie viel Wunsch und wie viel Wirklichkeit stecken aber nun in der Share Economy? Das amerikanische Magazin Wired konstatierte im Oktober 2014, dass der Hang zum Teilen erstmals das Geschäft von Amazon und Apple beeinträchtigt. Die jährliche Wachstumsrate bei Amazon sei mit fünf Prozent so niedrig ausgefallen wie noch nie. Ein Grund dafür: Lehrbücher werden zunehmend getauscht statt gekauft, wie zum Beispiel beim Verleihservice campusritter.de. Das ist ein Fakt, den das Unternehmen selbst durch seine transparente Plattform für Gebrauchtes begünstigt hat. Auch mit seinen Streaming-Lösungen habe Amazon das Prinzip des Nicht-Besitzens gefördert. Streaming wird auch für Apple zur Herausforderung. Der Verkauf von Musik über iTunes sackte seit Jahresanfang um rund 13 Prozent ab. Auch Apple sei dafür selbst mitverantwortlich: Musik zu streamen sei erst durch die neuen tragbaren Player möglich geworden, die mit großen Bandbreiten Zugrif auf Streaming-Websites haben (Wohlsen 2014). In Deutschland Zukunftsinstitut I Die neue Wir-Kultur dagegen scheint die Share Economy noch in den Kinderschuhen zu stecken. Im Auftrag des Spiegel hat die GfK bei 2.000 Personen nachgefragt. Das Ergebnis: 84 Prozent konnten noch nicht einmal etwas mit den Begrifen Share Economy oder Co-Konsum anfangen, das galt selbst für die Jüngeren. Bei näherem Nachfragen kannten zwar etwas mehr als die Hälfte der Befragten Carsharing-Angebote, doch nur rund 30 Prozent hatten schon von Vermittlungsplattformen für Übernachtungen wie AirBNB, Netzwerken wie Couchsuring oder Fahrdiensten wie Uber gehört. Teilen auf neuem Level Gartengeräte, ein Zelt, eine Bohrmaschine, Filme, Sportgeräte und Spiele. Die Liste der Dinge, die man nicht mehr länger kaufen muss, sondern leihen kann, ist lang. Über Internet und Apps öffnen sich Speicher und Keller von Privatpersonen für alle, die daran Interesse haben. Die dazugehörigen Plattformen heißen leihdirwas.de, frents.com, whyownit.com oder usetwice.at. Daneben entstehen unendlich viele spezialisierte Verteiler-Websites wie der Kleiderkreisel (kleiderkreisel.de), die Kleiderei (kleiderei-hamburg.de), aber auch Zwar inden mehr als 77 Prozent aller Befragten, dass „leihen statt kaufen“ ein nachhaltiger Ansatz ist. Bei den Jüngeren ist die Zustimmung sogar noch höher. Doch weniger als ein Viertel der Befragten hat bisher selbst eine digitale Tauschbörse oder eine Mitfahrgelegenheit genutzt. Auch die Bereitschaft mitzumachen ist gering: Nur 42,9 Prozent möchten selbst etwas anbieten – und nur 46 Prozent würden gerne leihen oder mieten. „Bei Share Economy handelt es sich derzeit noch um ein intellektuelles Großstadtphänomen, das in weiten Teilen Deutschlands noch in den Kinderschuhen steckt“, kommentiert daher auch GfK-VereinGeschäftsführer Raimund Wildner (Marquart/Braun 2014). Welche Angebote es heute schon gibt, haben wir in folgenden Beispielen zusammengestellt. Vermietstationen für Lego-Sets (pley.com) und andere Spielsachen. Selbst Hunde kann man inzwischen „sharen“, wobei es zugegebenermaßen hier eher um das Wohl der Tiere geht, denen man ein sicheres Zuhause schaffen will (citydogshare.org). Wie kommerziell die verschiedenen Plattformen ausgerichtet sind, unterscheidet sich stark. Während manche Plattformen nahe der Lichtungen der Großzügigkeit verortet sind oder sein wollen – also das Schenken und Geben im Vordergrund steht oder stand –, werben andere Plattformen offensiv damit, zusätzliche Einnahmequellen zu erschließen, indem man das eigene Hab und Gut nicht brachliegen lässt. Foto: Kleiderkreisel 45 DIE LANDKARTE DES WIR Citybike-Station in New York wirbt zum Beispiel die bekannteste amerikanische Crowdlending-Plattform Lending Club. Diejenigen, die Geld verleihen, erhalten relativ hohe Zinsen bei geteiltem Risiko. Die Kreditnehmer bekommen auch bei schwacher Bonität Geld. Der Lending Club inanziert sich über eine Gebühr für Kreditnehmer und Anlagegebühren für die Anleger (lendingclub.com). Das englische Pendant Zopa funktioniert genauso (zopa.com). In Deutschland erhält man über auxmoney.com private Kredite. Auch wer seine Projekte über Crowdfunding inanzieren möchte, hat reiche Auswahl (siehe Teilkapitel Unternehmen – Crowdfunding). Foto: Jim Henderson Handverlesene Dienstleister Lokale Helfer und Dienstleister vom Handwerker bis zum Hausmädchen, alle persönlich getestet Leihbar – so lautet das Angebot von zaarly.com. Das Start-up möchte Vermittlung mit persönlichem Touch anbieten und ist bislang in San Francisco Vollautomatisierte Verleihschränke wollen die und Kansas City aktiv. Gründer der Leihbar entwickeln. Die Boxen sollen in etwa so groß sein wie zwei Kleiderschränke. Über eine Computeroberläche und gegen eine stundenbasierte Leihgebühr soll Komplementärservice man sich holen können, was man braucht. Ein erster Leihschrank soll im Studentendorf Eba51 Um die Vertrauenswürdigkeit von Nutzern unab- in Berlin stehen. Die Gründer wollen auch mit hängig von den jeweiligen Seiten darzustellen, Unternehmen kooperieren. Der Musikgeräteher- hat das 2009 gegründete New Yorker Start-up steller Pokketmixer, der Kamerastativproduzent Trust Cloud ein Reputationssystem aufgebaut, Luuv, Acer und Siemens sind bereits dabei das über Facebook, Twitter oder LinkedIn misst, (Hasenheit 2014). wie vertrauenswürdig eine Person ist. Die eigene Recherche, wer denn genau das Apartment für einen Kurzurlaub mieten oder sich das Auto für Neue Geldquellen einen Trip quer durch Deutschland leihen will, soll entfallen. Trust Cloud bietet über das Netz verteilte, gesammelte Informationen zu Per- 46 Selbst Geld gibt es inzwischen im Peer-to-Peer- sonen, mit denen man gerne etwas teilen würde Modus. Mit dem Slogan „Better rates. Together“ (trustcloud.com). Car2go ist mittlerweile in mehreren Ländern präsent Zukunftsinstitut I Die neue Wir-Kultur Megamobil Mobil sein und trotzdem frei. Von der OnlineMitfahrzentrale (blablacar.de, mitfahrgelegenheit.de) über kommerzielles Car-Sharing wie Car2go (car2go.com, von Daimler und Europcar) bis zum Autoverleih in der Nachbarschaft (getaround.com) gibt es jede Menge Möglichkeiten, kollektiv mobil zu sein. Das spart immer auch Geld. So lautet der Slogan von Getaround: „Earn up to $10,000 per year renting your car when you aren‘t using it“. Natürlich gibt es auch Fahrräder zu leihen, kommerziell von der Deutschen Bahn (callabike.de, seit 1998!) oder als städtisches Konzept wie in Aachen, wo es rund 1.000 Räder an 100 Stationen geben soll (velocity-aachen. de), oder beim Vorreiter Velib in Paris (velib.paris. fr). „Shared Mobility“ nennen das die Unternehmensberater von Roland Berger. Sie schätzen, dass der Markt für Carsharing bis 2020 voraussichtlich um 30 Prozent jährlich auf 5,6 Milliarden Euro Umsatz weltweit wachsen wird. Doch auch der weltweite Markt für Fahrradverleih soll bis 2020 um rund 20 Prozent jährlich weiterwachsen (Roland Berger 2014). Mit-Wohnen AirBnB und Couchsuring gehören wohl zu den meistzitierten Share-Beispielen der vergangenen Monate und Jahre. Während das Übernachten-Lassen von Gästen auf der eigenen Couch meist ohne Bezahlung vor sich geht, ließt bei AirBnB richtig Geld. So viel sogar, dass das Vermieten von Wohnraum für einige schon zum Hauptberuf geworden ist – was umgehend die Gerichte sowie in immer mehr Städten auch Hotellobbyisten und Politiker auf den Plan rief (couchsurfing.org, airbnb.de). Fotos: car2go 47 CLUSTER 12 Lichtungen der Großzügigkeit Im Gegensatz zu den fruchtbaren Gärten des Teilens, in denen sich die Logik des Marktes durchsetzt und das Teilen zum Geschäft wird, geht es auf den Lichtungen der Großzügigkeit um Solidarität, Solidarität und Solidarität. Umsonst und geschenkt heißt hier die Devise, im Wissen, dass Ressourcen endlich sind und aus einem Werteverständnis heraus, dass Verschwendung und Überproduktion kein angemessener Lebensstil für unsere Zeit sind. Ähnliche Werte indet man zwar auch bei den Nutzern „kommerzieller“ Plattformen, und nicht immer ist die Unterteilung trennscharf, doch auf den Lichtungen der Großzügigkeit ist das Motiv des Gebens und des Austauschs stärker ausgeprägt. Hier geht es darum, etwas zu verändern, der Logik des klassischen Kapitalismus etwas Neues, eine andere Haltung entgegenzusetzen. Nicht umsonst sprechen die Bewohner der Lichtungen deswegen oft nicht von „Shareness“ sondern von „Solidarökonomie“ oder „Gemeinwohlökonomie“. Foto: Foodsharing Berlin Foodsharing in Berlin-Kreuzberg Umsonstläden Was der eine nicht mehr gebrauchen kann, ist für den anderen wertvoll. Umsonstläden sind Orte des Tausches, die ohne Geld funktionieren. Hinter solchen Konzepten stehen oft ganze Weltanschauungen. So heißt es zum Beispiel beim „Kost nix Laden“: „Wir wollen mit diesem Projekt (und anderen) versuchen, der Vergesellschaftung durch Geld-, Waren- und Tauschbeziehungen etwas entgegenzustellen. Weder die Vorstellung noch die Umsetzung von Alternativen zum Kapitalismus kann sich aus rein geistiger Abstraktion entfalten. Es bedarf eines Lernprozesses von Versuch und Irrtum. Daher sind Kost-Nix-Projekte nicht nur als wissenschaftliche Mikro-Experimente zu verstehen. Sie sollen bereits ein direkter Beitrag zu einem selbstbestimmteren Leben sein, mittelfristig helfen, die ökonomischen Zwänge zu reduzieren und die menschlichen Vereinzelungen zu überbrücken.“ (umsonstladen.de, kostnixladen.at) 48 Zukunftsinstitut I Die neue Wir-Kultur Reparaturcafé in Deutschland Foto: Martin Waalboer Reparaturcafés Öffentliche Schränke Ein kaputtes Fahrrad, ein defekter Toaster, ein Ähnlich wie Umsonstläden funktionieren auch Pulli mit einem Loch. In Reparaturcafés sind all öffentliche Bücherschränke und Kühlschränke. das Dinge, die zu schade sind zum Wegwerfen. Wer etwas übrig hat, bestückt sie. Wer etwas Gemeinsam wird repariert, geklebt und getüf- braucht, nimmt etwas heraus. Während die telt. Seit einiger Zeit entstehen in Deutschland Bücherschränke in vielen Großstädten schon und ganz Europa Orte, an denen man sich treffen zum vertrauten Straßenbild gehören, sind die kann, um Altes wiederherzustellen (repaircafe. Kühlschränke relativ neu. Das für jeden zugäng- org/de). liche Foodsharing gibt es in Berlin-Kreuzberg in einem ehemaligen Kiosk, aber auch an den Hochschulen in Fulda, Mainz sowie in Zusam- Suspended Coffee menarbeit mit dem Asta an der Technischen Universität Darmstadt. Wer mitmachen möchte oder andere Möglichkeiten zum Teilen sucht, Mit einer kleinen Geste einen anderen Men- kann sich unter foodsharing.de informieren. schen glücklich machen. Das ist die Idee hinter „Suspended Coffee“. Wer möchte, kann im Café Geld für jemanden hinterlegen, der gerade nicht lüssig ist, und ihn einladen. Wer ein Café besitzt und mitmachen möchte, kann sich bei der Initiative suspendedcoffee.de schlau machen, wie das Ganze funktioniert. 49 AUS „WIR“ WIRD PEERTO-PEER Gemeinschaft als Treiber für Führungskräfte 50 Zukunftsinstitut I Die neue Wir-Kultur Die Neubewertung von Gemeinschaft geht auch an den Unternehmen nicht spurlos vorüber. Auf allen Ebenen wackeln die bewährten Kommandostrukturen im Angesicht einer Workforce, die Community-orientiert heranwächst, einer Crowd, die diverse Innovationen bietet, und eines Führungsnachwuchses, der mit ganz anderen Prinzipien die Karriereleiter in Angrif nimmt. Bekannt geworden ist Peer-to-Peer mit einem Modell jenseits der Legalität: In den frühen 2000er-Jahren wurde Peer-toPeer (oder P2P) vor allem verbunden mit Napster, der Tauschbörse für Musik, wo es alles gab, was man hören und herunterladen wollte, ohne sich um vermeintliche Formalitäten wie das Urheberrecht zu kümmern. Das ging bekanntermaßen nicht allzu lange gut. Die Grundidee jedoch, dass sich Nutzer direkt mit Nutzern verbinden konnten, um Dinge über das Netzwerk zu tauschen oder gemeinsam zu nutzen, war nicht mehr aus der Welt zu schafen. Peer-to-Peer gehört heute zu den selbstverständlichen Grundformen des Netzes. Das Peer-to-Peer-Prinzip hat aber längst nicht nur Plattformen für privaten Tauschhandel, Verleihstationen, Co-WorkingCommunitys und Nachbarschaftsnetze hervorgebracht. In immer stärkerem Maße erfasst es auch das Business. Ein wichtiger Treiber ist auch hier die Digitalisierung. 51 Mitbestimmung und Transparenz: Die Mitarbeiter des IT-Unternehmens Haufe-umantis wählen ihren CEO und gestalten Strategie und Geschäftsplan aktiv mit. Im Zukunftsprojekt Industrie 4.0, das zur Hightech-Strategie der deutschen Bundesregierung gehört, wird das deutlich: Informations- und Kommunikations-, Automatisierungs-und Produktionstechnologien werden enger vernetzt, die Einbindung von Kunden und Geschäftspartnern erleichtert. Seit 2013 haben die großen Wirtschaftsverbände BITKOM, ZVEI und VDMA eine gemeinsame Plattform geschafen, die Grundlage der „vierten industriellen Revolution“ sein soll. Aber auch abseits der großen strategischen Projekte öfnen Unternehmen immer öfter ihre Tür für Externe, seien es Kunden, Lieferanten, Wettbewerber oder die mehr oder weniger anonyme „Crowd“: Mittelständler und Start-ups inanzieren sich zum Beispiel über Crowdfunding, das ein oder andere neue Produkt wird per Crowd-Innovation entwickelt, und auch in HR und Marketing weichen die Unternehmensgrenzen auf. Das hat massive Rückkopplungsefekte auf die Unternehmenskultur. Wer sich als 52 Unternehmen für mehr Kooperation und Kollaboration mit Kunden, Lieferanten, Partnern, aber auch Wettbewerbern entscheidet, muss auch kulturell dazulernen. Denn es geht um nichts weniger als um einen radikalen Paradigmenwechsel. Die neuartigen Formen von Zusammenarbeit über Grenzen hinweg verlangen meist ein neues Level an Ofenheit und Transparenz. Vormals fest deinierte Grenzen und Zuständigkeiten werden durchlässig, erste „luide“ Organisationen entstehen. Das verlangt ein völlig neues Denken in den Unternehmen. Wo man bisher gewohnt war, durch Regelsetzungen top-down zu strukturieren, beginnen nun mit einem Mal Wir-orientierte Ansätze nach teamorientierten und gemeinschaftssanktionierten Vorgehensweisen zu verlangen. Wie viel „Wir“ in den neuartigen Kooperationen enthalten ist, ist von Fall zu Fall unterschiedlich. Während beim Crowdfunding einfach ein neuer Marktplatz entsteht, ist Zukunftsinstitut I Die neue Wir-Kultur Foto: © Haufe-umantis der Grad der Kooperation und das Community-Feeling bei vielen Formen der CrowdInnovation um ein Vielfaches höher. Kollaboration und neue „Wir-Konstrukte“ entwickeln sich nicht nur im Austausch der Unternehmen mit dem Außen. Gerade im „Innen“ von Unternehmen formen sich zunehmend vielfältige neue, zum Teil temporäre bis kurzlebige Kollektive. In den ersten Firmen gibt es statt Chefs Führungskollektive, andere öfnen ihre Strategieplanungsprozesse für einen großen Kreis von Mitarbeitern und suchen so nach neuer Gemeinsamkeit, wieder andere beseitigen die Grenzen unternehmensinterner Silos, um gemeinsam zu lernen, bilden Lernpartnerschaften und Mentoring-Tandems. Welchen Stellenwert das hema inzwischen hat, zeigt unter anderem, dass die altehrwürdige Deutsche Gesellschaft für Personalführung (DGFP) im September 2014 erstmalig ein „Lab“ unter dem Motto „Participate! Mitreden, Mitdenken, Mitgestalten im Unternehmen von morgen“ anbot. Eine der dort erarbeiteten hesen: „Verantwortung teilen, Vertrauen haben: Das Erfolgskonzept des Mitarbeiters von morgen ist das Denken im ,Wir‘. Er fordert aktiv andere Meinungen ein, nutzt sie und tritt anderen wertschätzend gegenüber. Er erwartet, dass andere das gleiche Grundverständnis haben“ (www.lab.dgfp.de). Ähnlich wie bei unserer Landkarte für gesellschaftliche Wir-Phänomene wollen wir im Folgenden auch für Unternehmen die Bandbreite deutlich machen, in denen „die Crowd“ und Mitarbeiter neu und vermehrt Einluss auf diverse Prozesse in Unternehmen nehmen und so unsere Logik des Wirtschaftens tiefgreifend verändern. Das zeigt, an welchen unterschiedlichen Stellen inhaltlich wie strukturell Wir-Konstrukte künftig zu treibenden Kräften in den Organisationen werden und welche Kraft sie entfalten können. 53 54 Die Landkarte des Wir xxx Best Practices für Unternehmer: Firmen, Angebote und Netzwerke, die gesellschaftliche Wir-Phänomene als Prinzip schon heute nutzen. Zusammengehörigkeit/ geteilte Werte Grad der Vergemeinschaftung hoch • Best Practices niedrig hoch Privatopias/Gated Communities individuelles Engagement • Findhorn, Schottland • Celebration, USA • Christiania, Kopenhagen, Dänemark zunehmend gemeinsame Interaktionszeiträume Warmer App-Regen • original-bootcamp.com • freeletics.com • fitnessbootcamp.de Gruppenbezug Wir/Nicht-Wir • runtastic.com Spielwiesen gemeinschaftlicher Körperund Gesundheitsoptimierung Bootcamps, App-Wettbewerbe, Online-Screenings • Flashmobs • spontacts.com gemeinsam Spaß haben! • Verleihschränke • couchsurfing.org • airbnb.de • getaround.com • blablacar.de Lagerfeuer spontaner Wir-Ereignisse • velib.paris.fr • velocity-aachen.de • callabike.de geteilte Interessen Flashmobs, Riot Clean-Ups • pley.com • car2go.com • mitfahrgelegenheit.de • kleiderkreisel.de • kleiderei-hamburg.de • whyown.it • leihdirwas.de • usetwice.at • zopa.com zweckrationaler Austausch • citydogshare.org • zaarly.com Die fruchtbaren Gärten des Teilens, Tauschens und Verleihens Collaborate Consumption, Share Economy • www.greenboxtop.com • frents.com • auxmoney.com • trustcloud.com • lendingclub.com kein/wenig Aufwand (Anmeldung, sonst nichts) Die Einlasspforte: eigener Besitz Die Sümpfe der Vermarktung zeitl. oder finanziell geringe Investition • students-lodge.de Zukunftsinstitut I WIR Strom der Gesellschafts• kritik • www.rainbowmansion.com 5 • theglint.com solidarische-landwirtschaft.org • embassynetwork.com • make-munich.de • siebenlinden.de • theoceancleanup.com • Maker-Messen • suspendedcoffee.de • Guerilla Gardening • foodsharing.de • Andernach • repaircafe.org/de • Riot Cleanups • umsonstladen.de • 3D-Druck und Fab Labs • kostnixladen.at • Sunday Assembly • colivingberlin.com • schloss-tempelhof.de Siedlung der Kollektivisten Mehr-Generationen-Häuser • comecookandeat.org • bivouacnyc.com Lichtungen der Großzügigkeit • niriu.tumblr.com • nextdoor.com Umsonstläden, Bücherboxen, öffentliche Kühlschränke, Kleidertausch Lager der Gestaltungs-Guerillas Urban Gardening, Gestaltung öffentlicher Räume, Hacking, Labs • Institut für soziale Choreographie • grandhotel-cosmopolis.org • Zukunfts-Labs Kuschel-Schollen • companynewheroes.com • Labcraft Lokale Nachbarschaftsnetzwerke, kochen und essen in Gemeinschaft • mitte.ch • partizipativ-gestalten.de • openpetition.de • changemakers.com/co-creation • change.org/de • socialimpact.eu/lab • partizipation-und-bildung.de • wework.com • campact.de • rockzipfel-leipzig.de Treibhäuser der sozialen Neuordnung • correctiv.org • meetnwork.de • sharedesk.net ! • betahaus.com • grindspaces.com ! ? ? !! Baumhäuser politischer Partizipation Künstlerinitiativen, neue soziale Choreographien, „soziale Plastiken“ Online-Campaigning, Internet-Petitionen, Watch-Blogs ?? ? Co-Working-Quartiere • iapm.net • booksprints.net Fluss der gemeinsamen Kreativität • Wikipedia • Open Government • Whistleblower • yearofopensource.net • futurelearn.com • theschoolinthecloud.org Open Shore Open Education, Open-SourceProdukte, Fab Labs… Wall des Misstrauens • skillshare.com • minervaproject.com • openculture.com • opengovpartnership.de Gestrüpp der Konkurrenz Gräber der verlorenen Zeit • ocw.mit.edu • commonlibraries.cc • GovData.de • publicdomainreview.org • de.creativecommons.org substanzielle zeitl./ persönl. Ressourcen investieren persönliche Veränderung/ Transformation notwendig 5 Fotos: Flickr, © 52masterworks WIR-TREIBER 1 Finanzierung: Crowdfunding als Vorbild für Projektinanzierung Professionalisierung Technologie-Start-ups können sich künftig ihre Investoren über die Crowd suchen. Anbieter ist Investable VC in Hongkong. Das Minimuminvestment potenzieller Kapitalgeber liegt bei 10.000 US-Dollar. Um sein Projekt vorstellen zu können, muss man eingeladen werden. Die Bewerbungen Crowdfunding ist eine der großen Erfolgsgeschichten, die mit dem Megatrend Konnektivität einhergehen. Über die technische Vernetzung wird es möglich, neue Marktplätze zu installieren und Finanzierungen für einen großen Kreis von Investoren zu öfnen. Den Anfang machten Plattformen wie Kickstarter. 2009 mit einem Startgeld von zehn Millionen US-Dollar gegründet, hatte das Unternehmen bis März 2014 mehr als eine Milliarde Dollar von privaten Investoren eingesammelt. Rund 5,7 Millionen Menschen waren daran beteiligt; einzelne Projekte bekamen Zusagen von mehreren Millionen Dollar. Inzwischen wird die Crowdfunding-Szene erwachsen und diferenziert sich weiter aus. Selbstständige, Freiberuler oder auch Privatleute kommen weiterhin über zahlreiche verschiedene Plattformen an Geld für ihre Projekte; parallel entwickeln sich jedoch auch Finanzierungsmärkte für Unternehmen. 56 werden ausgewählt, die Website kuratiert; weniger als zehn Prozent der Bewerber, so die Aussage von Investable, werden akzeptiert (Investors vs. Backers: Crowdfunding for Equity, June 14, bigthink.com). Auch in Deutschland wird das Crowdfunding erwachsen. Es entstehen Plattformen, über die sich neben der Gründerszene auch der Mittelstand Geld von Investorengemeinschaften holen kann (z.B. companisto. com/de/). Wie genau das funktioniert und was Unternehmen beachten müssen, ist Thema eigener Konferenzen, wie zum Beispiel des zum zweiten Mal stattindenden „Crowd Dialog“ (crowddialog.de). Zukunftsinstitut I Die neue Wir-Kultur In zeitgenössische Kunst ohne Vorstandsgehalt investieren: die Crowdfunding-Plattform 52masterworks macht es möglich. Public Funding öffentlichen Ausstellungen. Ab einer Beteiligung von 20 Prozent pro Werk können sich die Investoren bestimmte Bilder auch für ein halbes Jahr aus- Auch bei der Vergabe von Fördergeldern hat die leihen. Nach fünf Jahren werden die Werke wieder Crowd inzwischen ihren Auftritt. „Kulturmut“ verkauft, die Investoren werden an der Wertent- heißt zum Beispiel eine Initiative der Aventis wicklung beteiligt. Wer Literatur fördern will, kann Foundation und der deutschen Crowdfunding- auch das tun: bei unbound.co.uk. Hier stellen Experten von Startnext. Gefördert werden Autoren ihre Ideen für mögliche Bücher vor. Was Kulturprojekte aus den Bereichen Musik, inanziert wird, erscheint. darstellende und bildende Kunst, Literatur oder audiovisuelle Medien aus dem Rhein-MainGebiet. „Gemeinsam entscheiden. Gemeinsam fördern. Kultur stärken“, heißt das Motto. Wer Sinn-Funding von den insgesamt 200.000 Euro Fördergeldern proitiert, entscheiden die User (startnext.de/ Eine „neuartige Form der nachhaltigen Geld- pages/kulturmut). anlage“ bietet Bettervest an. Die Betreiber suchen Partner aus, die in eine energieefiziente Zukunft investieren möchten. Die Geldgeber werden an den Special-Interest-Funding Einsparungen beteiligt, bekommen gute Renditen und tun etwas Sinnvolles für die (Um-)Welt. Im Projektportfolio sind bislang Druckereien, Bau- Auch das Spektrum für potenzielle Kapitalgeber märkte, Handels- und Fitnessketten sowie Hotels erweitert sich. Spezialisierte Crowdfunding- (bettervest.com). Plattformen bieten zum Beispiel ausschließlich Immobilien-Investments an (kapitalfreunde.de) – oder ermöglichen es, auch ohne Vorstandsgehalt zum Sammler zeitgenössischer Kunst zu werden (52masterworks.com). Ab 250 Euro kann man mitmachen; gezeigt werden die Werke im Münchner Kunsthaus Maximilian und in 57 AUS „WIR“ WIRD PEER-TO-PEER WIR-TREIBER 2 Forschung & Entwicklung: Crowd-Innovation als Quelle gemeinschaftlicher Ideen Crowd gegen Interne Was kann die Crowd eigentlich beim Thema Innovation beitragen? Kann es gelingen, über das berüchtigte NIH-Syndrom (Not Invented Here) zu triumphieren? Das untersuchten die zwei Harvard-Professoren Kevin J. Boudreau und Karim R. Lakhani (2013). Sie starteten einen Wettbewerb für eine schwierige Programmierfrage in Biologie für das Harvard Clinical and Die Crowd inanziert, sie produziert – und sie sorgt für Innovationen. Erfolgsgeschichten von Crowd-Innovation tauchen immer häuiger auf: Apple, Lego und viele andere laden mittlerweile Externe zur gemeinsamen Entwicklungsarbeit ein. Zwar gab es Zusammenarbeit über Unternehmensgrenzen hinweg schon immer, die Technologie eröfnet aber auch hier neue Dimensionen. Auch unabhängige Plattformen wie Innocentive (innocentive.com), Idea Connection (ideaconnection.com) oder Entwicklergemeinschaften wie Aipitree oder Greenovation expandieren und bieten jede Menge öfentliche „Challenges“ an. Idea Connection wirbt mit einem durchschnittlichen Umsatz von 4.000 Dollar pro gelöstem Problem. Trotzdem ist Crowd-Innovation auch heute noch für viele Unternehmen Neuland. Denn ob und wie weit man die Türen des eigenen Unternehmens öfnet, hängt auch davon ab, wie viel Transparenz man wirklich möchte, wie gut sich die Ideen von außen nach innen in die Organisation integrieren lassen. Translational Science Center, die unmittelbare Folgen für die weitere Entwicklung und für das Business hatte. Als Mittler schaltete man die Firma TopCoder ein, die Programmierwettbewerbe organisiert. Innerhalb von zwei Wochen lieferte die Crowd 122 brauchbare und sehr unterschiedliche Lösungen. Aber nicht nur im Hinblick auf Ausmaß und die Diversität hatten die Lösungen mehr zu bieten als die der internen Experten und Wissenschaftler. Die Externen bringen noch mehr mit. Sie beziehen ihre Energie oft aus intrinsischer Motivation, wie zum Beispiel dem Wunsch dazuzulernen und sich weiterzuentwickeln. Für interne Crowd-Formate wie „Jams,“ „Marktplätze für Ideen“ und „interne Unternehmerprojekte“ bedeutet das, dass sie zwar die Flexibilität und die Bandbreite neuer Lösungen erhöhen können, mit externen Crowds aber nicht mithalten können. Klassische Kunden-Kooperation Die Intelligenz der Vielen kann auch ofline angezapft werden. Der Werkzeughersteller Wera zum Beispiel hat über einen Zeitraum von mehreren Jahren ein Anwenderforum mit Proihandwerkern und Industrieschraubern aufgebaut. Gewonnen hat man die Kontakte auf 58 Zukunftsinstitut I Die neue Wir-Kultur sollen – sich die Nutzer auch untereinander vernetzen und die Ideen anderer kommentieren und bewerten. Bei Lego zum Beispiel darf man ab 10.000 Unterstützern die eigene Produktidee vor einem Lego-Board von Designern und Marketing-Experten vorstellen. Aber auch im B-to-B-Bereich wächst die Zahl der internen Co-Creation-Communitys in allen Branchen. Beiersdorf ist seit mehr als vier Jahren mit Pearlinder aktiv (pearlfinder.beiersdorf.de), Bei dem Werkzeughersteller Wera können die Kunden direkt mit den Produktentwicklern Kontakt aufnehmen SAP lädt seine Partner in das Netzwerk Global SAP Co-Innovation Lab (COIL) ein (scn.sap.com/ Foto: Wera community/coil), Procter&Gamble nennt seine Open-Innovation-Plattform „Connect and Develop“ (pgconnectdevelop.com), und bei Shell be- Messen – und bei Beschwerden. Die Anwender treut ein 12-köpiges Team das „Game Changer kommunizieren nicht etwa mit einem Kunden- Programm“, das innovative Ideen zur Zukunft der dienst, sondern direkt mit den Produktentwick- Energie sucht und fördert. lern. Inzwischen testen mehr als 60 Handwerker die Prototypen des Unternehmens. Das bringt ihnen Vergünstigungen beim Einkauf bzw. eine direkte Vergütung, wenn ihr Input Entwicklungsgrundlage für ein neues Produkt ist. Die Kunden werden so zu Mitarbeitern des Unternehmens. IdeenEntwicklungsverbund Michael Bartl, Vorstand des Innovationsdienst- Mitte 2014 wurden in Aachen die ersten leisters Hyve, sagt sogar: „Open Innovation ist „Streetscooters“ produziert. Das Elektroauto auch eine Rekrutierungsmethode. Das geht so ist jetzt serienreif; 3.000 pro Jahr sollen aus- weit, dass in einigen Unternehmen die besten geliefert werden. Begonnen hatte das Projekt Ideengeber in der Entwicklungsabteilung ange- 2009 mit einem großen Entwicklungsverbund. 80 stellt werden“ (Senfter 2012). mittelständische Firmen hatten zusammen mit der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen (RWTH) geforscht und entwickelt Co-Creation-Dialoge – eine für die Branche einzigartig umfassende Kooperation. „Wenn ich Wissen teile, wird es ja nicht weniger. Ganz im Gegenteil“, bekräftigt Ein Zwischending zwischen Kundendialog, Professor Achim Kampker, Geschäftsführer von Beschwerdeplattform und Innovations-Hub Streetscooter, den Sinn der Mega-Kooperation bieten mittlerweile einige Unternehmen an, (Firmenauto 2014). die mit ihren Produkten direkt die Endkunden bedienen. Beispiele sind Dell (ideastorm.com), Starbucks (mystarbucksidea.force.com) oder auch Lego (ideas.lego.com). Hier können – und 59 AUS „WIR“ WIRD PEER-TO-PEER Globales Community-Projekt FabLabs und 3 D-Drucker machen Garagen zu Fabriken und lassen die Grenzen zwischen professioneller Produktion und privatem Experiment verschwimmen. Das zur Zeit prominenteste Proi-Beispiel: Local Motors ließ ein Auto von einer globalen Community entwickeln und designen – und druckte das Chassis im Juli 2014 innerhalb von nur wenigen Tagen im 3D-Drucker aus. Der „Strati“ ist ein Zweisitzer, besteht aus weniger als 50 Bauteilen und hat eine Reichweite von nahezu 300 Kilometern. Ab 2015 soll er in einer kleinen Serie hergestellt werden. Kosten soll er zwischen 15.000 und 25.000 Euro (localmotors.com). Local Motors stellt sein 3D-gedrucktes Auto „Strati“ vor – entworfen von einer globalen Community 60 Zukunftsinstitut I Die neue Wir-Kultur 61 Foto: ©Local Motors AUS „WIR“ WIRD PEER-TO-PEER WIR-TREIBER 3 Führung: Collaborative Leadership Holacracy – das Kreismodell Wie muss sich ein Netzwerkunternehmen aufstellen, um gute Entscheidungen treffen zu können? Das fragte sich Brian Robertson, ein Unternehmer aus der Software-Industrie. Die Türen des eigenen Unternehmens für neue Ideen und alternative Finanzierungen zu öfnen macht Sinn. Doch kollektive Entscheidungsprozesse greifen noch viel weiter in die Unternehmens-DNA ein. Wir stehen am Beginn einer Revolution im Business, die genauso tiefgreifend sein könnte wie die demokratische Revolution in der Politik. Das sagt homas Malone, Professor an der Sloan School of Management des MIT, in seinem Buch „he Future of Work“ (2004). Malone hat am MIT das Center for Collective Intelligence gegründet und die MITInitiative „Inventing the Organizations of the 21st Century“ mitgestartet. Seine Prognose lautet: Wir werden es in Zukunft mit Unternehmen zu tun haben, in denen Macht und Kontrolle breiter gestreut sind, als es altgediente Manager des Industriezeitalters je ahnen konnten. Erste Anzeichen neuer Unternehmens-Demokratien sind vor allem in kleinen Unternehmen der IT-Branche und bei den Vorreitern der Internet-Companies sichtbar. Dort sind vom Kollektiv gewählte Chefs und Mitarbeiter, die ihr Gehalt und ihren Urlaub selbst bestimmen und auch bei der Strategie ein Wort mitzureden haben, schon heute Realität. Entstanden ist ein Modell für „dynamische Steuerung“, bei dem die Verantwortung über das ganze Unternehmen verteilt und durch miteinander verbundene Kreise organisiert wird. Die Verbindungen entstehen dadurch, dass jeder Kreis Vertreter in höher liegende Kreise mit mehr Entscheidungsbefugnis und in tiefer angesiedelte Kreise entsendet. Neben der operativen Arbeit gibt es in jedem Kreis sogenannte „Steuerungstreffen“. Dort wird die Zusammenarbeit relektiert und dafür gesorgt, dass Zuständigkeiten und Rollen klar deiniert sind. Der Online-Händler Zappos ist das bekannteste Unternehmen, das Holacracy lebt. Anfang 2014 entschied man sich, das Modell in der eigenen Organisation umzusetzen (holacracy.org, zapposinsights.com/about/holacracy). Führungs-Kollektiv Viel zitiert und mit einem New Work Award ausgezeichnet wurde das Berliner Start-up Dark Horse. 33 Menschen arbeiten dort gleichberechtigt als Partner. Statt Chef-Betreuung haben die Kunden „nur“ Ansprechpartner, und neben einem Jour ixe für das Plenum wurde ein „Harmonieteam“ eingeführt, das sich um die gute Stimmung kümmert. Das ist Gemeinschaft pur und für Unternehmensverhältnisse ziemlich radikal (thedarkhorse.de). 62 Zukunftsinstitut I Die neue Wir-Kultur Unternehmens-Demokratie Kultur auf Augenhöhe Das Team des IT-Unternehmens Haufe-umantis Unternehmenskultur auf Augenhöhe – wie geht wählte 2013 zum ersten Mal seinen CEO. Das das? Der Film AUGENHÖHE wird das dokumen- Vorgehen des Anbieters von Talentmanage- tieren und zum Dialog darüber anregen. Die ment-Software war so erfolgreich, dass inzwi- Idee entstand auf dem 12. intrinsify!me-Event schen auch andere Führungskräfte demokra- in Berlin. Das Ziel: Die Werte der Arbeitswelt tisch legitimiert sind. Doch die Mitbestimmung des 21. Jahrhunderts an lebendigen Beispielen geht noch weiter: Seit sechs Jahren sind die zeigen. Geld für das Projekt wurde – natürlich – Mitarbeiter bei der Deinition von Strategie über Crowdfunding gesammelt. Jetzt sind die und Geschäftsplan mit einbezogen. Auch die potenziellen Zuschauer aufgefordert, Orte für inanziellen Ziele sind transparent. Jede Menge die Vorführung und Dialogveranstaltungen zu Selbstverantwortung gibt es auch beim Rec- inden und sich mit anderen Interessierten zu ruiting: Die Mitarbeiter deinieren selbst ihren vernetzen (mitmachen.augenhoehe-film.de). Personalbedarf, suchen nach potenziellen Direkt nach der Premiere am 30.1.15 wird der Kollegen und treffen Entscheidungen über die Film unter Creative-Commons-Lizenz für nicht- Einstellung (umantis.com). kommerzielle Zwecke online frei verfügbar sein. P2P-Leadership: Netzwerkorganisationen Unternehmen, die nach dem Prinzip des „Peerto-Peer-Leadership“ geleitet werden, verzichten auf starre „Command and Control“-Hierarchien. Im Netzwerk herrschen lexible Verbindungen, und Führungskräfte werden zu Netzwerkknoten. Jeder davon hat gleich viel Autorität, Macht und Verantwortung, um sich mit anderen zu verbinden und sowohl als „Lieferant“ als auch als „Kunde“ zu agieren (Baker 2014). Unternehmen, die sich auf diesen „P2P Path“ begeben haben, so die Autorin, verstehen, dass die Welt sich durch Technologie tiefgreifend verändert hat – und bauen ihre Organisationen proaktiv um. Beispiele dafür sind Unilever, Airbnb, Giant Hydra, BMW Group Designworks USA (siehe auch: Ancowitz 2014). 63 AUS „WIR“ WIRD PEER-TO-PEER We rules: Selbstorganisation Unternehmensentwicklung demokratisch Einheiten mit nicht mehr als 50 Menschen Barcamps oder auch „Un-Konferenzen“, bei empiehlt der Management-Psychologe Charles denen das Programm vorab nicht feststeht, Handy für eine schlagkräftige Firmenstruktur. sondern gemeinsam von allen Teilnehmenden Damit ließen sich Organisationen entwickeln, in entwickelt wird, haben Konjunktur. Und das denen nicht mehr formale Strukturen, son- nicht nur in der IT- und Digital-Szene. Der dern funktionsfähige, produktive Beziehungen Südwestrundfunk SWR nutzt solche Formate dominieren. „In einer derartigen Umgebung kann seit 2011 für die Unternehmensentwicklung. alles lean gehalten werden. Jeder kennt jeden, Ein- bis zweimal im Jahr sitzen die Mitarbeiter Werte werden auch ohne formalen Kodex gelebt“ gleichberechtigt mit der Geschäftsführung im (Managerseminare 2013). Allerdings gibt es für Kreis; bis zu 200 Teilnehmer machen mit. Auch Handy auch Stolpersteine: Die Chefetage muss unternehmensübergreifend gibt es jede Menge ertragen lernen, dass Mitarbeiter Informationen interessanter Barcamps. So auch eine Reihe von selbst deuten. Das sei Voraussetzung für eine Camps zum Thema Projektmanagement. Mitte wirksame Selbstorganisation. Für Führungs- 2014 ging es dort in Berlin zum Beispiel um die kräfte bedeutet das aber auch, zu akzeptieren, Zusammenarbeit im 21. Jahrhundert. Format dass es nicht nur einen Weg zum Ziel gibt, den und Thema passten bestens zusammen, denn von ihnen gewünschten, sondern viele. bei der PM Camp-Bewegung geht es um Themen wie Hierarchie vs. Heterarchie, Fremdorganisation vs. Selbstorganisation, Führung, Manage- Finanztransparenz als Wir-Faktor Bei HCLT bekommen die Mitarbeiter regelmäßig detaillierte Finanzdaten zur Performance auf ment, Agilität, Motivation, Arbeitskultur und Zusammenarbeit (berlin.pm-camp.org). Kollaborativ besser lernen den Tisch. Daraus entwickelten sich neue Handlungsimpulse: Mitarbeiter stellten mehr Auch Lernen war lange Zeit ausschließlich Fragen, entwickelten mehr Ideen und forderten hierarchisch organisiert: vorne der Seminar- Führungskräfte in ihrem Handeln öfter heraus. leiter, im Raum die Mitarbeiter. In den letzten So fällte man bessere Entscheidungen (Kleiner/ Jahren bilden sich jedoch vermehrt kollabora- Sehgal 2010). tive Formen des Lernens heraus: Gemeinsame Lernreisen und selbstorganisierte Formate kollegialer Beratung haben Konjunktur. Der Vorteil: Schüler, Studenten, Mitarbeiter und Chefs können sich miteinander entwickeln – vorausgesetzt, sie gehen offen in den Kontakt, entwickeln Vertrauen in ihre Lernpartner und können auch einmal eigene Schwächen zugeben. 64 Zukunftsinstitut I Die neue Wir-Kultur Ein Barcamp hat keine Besucher – nur Teilnehmer. Im Wissenschaftszentrum Kiel treffen sich seit fünf Jahren Entscheider und Kreative aus allen Bereichen der IT- und Kreativ-Wirtschaft. Die Veranstaltung ist kostenlos, die Plätze sind limitiert. Foto: Sebastian Schack 65 Bookbridge: Wir für Manager Service Learning Etwas für andere tun und dadurch selbst etwas Fotos: Capability Bookbridge Führungskräfte trainieren durch Gemeinnützigkeit lernen. Das ist das Prinzip von Service Learning. Nicht wirklich neu, aber immer wieder mit Erfolg In Deutschland gibt es das sowohl an Schulen aufgelegt werden Programme zur Führungs- wie auch an Universitäten. Am „Netzwerk Lernen kräfteentwicklung, bei denen man an einer ge- durch Engagement“ sind mehr als 100 Schulen meinsamen Herausforderung lernt. Zum Beispiel beteiligt; auch die Hochschulen haben sich in beim Capability-Programm von Bookbridge. einem „Netzwerk Bildung durch Verantwortung“ Eine „Bücherbrücke“, bei der englische Bücher zusammengeschlossen. Auf der Plattform des aus Deutschland zur Verfügung gestellt werden, Projekts „Campus vor Ort“ kann man sehen, sollte für mehr Bildung in der Mongolei sorgen. was das konkret heißt (campus-vor-ort.de). Um vor Ort Lernzentren errichten zu können, Studenten organisieren zum Beispiel ein etablierte man ein Führungskräftetraining in den Biochemie-Schülerlabor, andere konstruieren Bereichen strategische Planung, Projektmanage- Maschinen für eine Behinderteneinrichtung. Die ment und Leadership. Sechs Monate lang planten Schüler bieten Vorlesetage für Kindergarten- Mitarbeitern globaler Konzerne im Rahmen des kinder an, kochen für Obdachlose und über- Capability-Programms die Zentren und richteten nehmen Patenschaften für Denkmäler. Auch in sie innerhalb von zehn Tagen vor Ort ein. Mittler- der Ausbildung zukünftiger Führungskräfte hat weile wurden zehn Lernzentren in der Mongolei Service Learning seinen Platz. Zum Beispiel am und in Kambodscha aufgebaut, die sich über Institut für Unternehmensethik der European Kunden wie Klett, Hilti, Kühne+Nagel und andere Business School mit seinen Service-Learning- inanzieren (leadership.bookbridge.org). Programmen „Do it!“ und den „Educare“-Projekten. Während es beim ersten vor allem um den direkten Kontakt zu Menschen, Mitarbeitern und ihren Bedürfnissen in gemeinnützigen Projekten Tandem-Lernen und Initiativen geht, werden beim Educare- 66 Programm bereits erworbene Kompetenzen ein- Etwas weitergeben können Schüler, Studenten, gebracht, zum Beispiel beim Erstellen sozialer Mitarbeiter und Führungskräfte in vielfältigen Geschäftspläne, dem Einrichten von Websites für Lern-Tandems. Bei der Initiative „Rock your Vereine oder beim Fundraising für Stiftungen. Life“ coachen Studenten zum Beispiel seit Zukunftsinstitut I Die neue Wir-Kultur 2009 Schüler, die aus sozial, wirtschaftlich oder Trend-Learning familiär benachteiligten Verhältnissen kommen. Sie wollen ihnen helfen, das eigene Potenzial zu erkennen. 40 Standorte gibt es mittlerweile in Deutschland und der Schweiz, 5.000 Menschen haben mitgemacht (rockyourlife.de). Im Business haben sich Lernpartnerschaften in vielfältigen Mentoring-Programmen etabliert. Besonders interessant: unternehmensübergreifendes Mentoring, wie zum Beispiel bei den Programmen von CrossConsult. Hier teilen Mentoren aus einem Unternehmen ihre Erfahrung und Einsichten mit dem Führungsnachwuchs aus anderen Firmen (crossconsult.de/leistungen/cross-mentoring). Einen Rollentausch gibt es beim „Reverse Mentoring“. Hier sind es die Jungen im Unternehmen, die den Älteren etwas beibringen – meist Fähigkeiten im Umgang mit IT oder Social Media. Gruppenlernen durch Austausch Geteilte Werte und ähnliche Herausforderungen im Geschäftsalltag bilden die Grundlage der verschiedensten „Lernzirkel“. CEOs, Geschäftsführer und Unternehmer bleiben beim globalen Netzwerk „Vistage“ unter sich. Mehr als 14.000 sind es weltweit, seit 2003 gibt es einen Ableger auch in Deutschland (germany.vistage.com). Monatliche Roundtables mit einem Moderator und Einzelcoachings dienen dem „Sparring“ untereinander. Besprochen werden Fragen zu Unternehmensführung, Strategie, Entscheidungsprozessen, aber auch zu persönlichen Führungsherausforderungen. Als „Business-Netzwerk mit Herz und Haltung“ positionieren sich dagegen die Heartleaders. Ihr Motto: Wertschöpfung entsteht aus Wertschätzung. Hier sind alle zum Austausch eingeladen, vom Selbstständigen bis zum Konzernmitarbeiter, Hauptsache, die Crowdfunding und Crowd-Innovation, kollaboratives Lernen und eine demokratisierte Führung machen deutlich, wie das Peer-to-PeerPrinzip im Unternehmensalltag Fuß fasst. Weitere Anwendungsmöglichkeiten gibt es aber auch in anderen Unternehmensbereichen. Wie sich zum Beispiel das Recruiting die Vernetzung und das „Prinzip der Kreise“ zunutze machen kann, zeigte der OnlineHändler Zappos im Mai 2014. Weder auf der Unternehmenswebsite noch bei Jobbörsen sind seitdem Jobangebote zu inden. Stattdessen können sich Interessenten direkt beim Unternehmen vorstellen und Teil des Sozialen Netzwerks „Zappos Insider“ werden. Die Interessenten werden zu „Halbexternen“, können sich auf Karriereseiten über alle Bereiche informieren und über „Google Hangouts“ das HR-Team kontakten. Der Recruitingprozess ähnelt damit mehr einer langen Verlobungszeit als einem klassischen Anstellungsprozedere, wie es das Unternehmen selbst formuliert. Der Vorteil: Die Talent-Pipeline bleibt gefüllt – und der „cultural it“ gewährleistet (Auriemma 2014). Haltung stimmt (heartleaders.de). 67 DIE EVOLUTION DES WIR Soziale Innovationen prägen das Bild der Zukunft 68 Zukunftsinstitut I Die neue Wir-Kultur Die Sache mit dem Wir ist natürlich nicht neu. Historisch gab es schon immer Gemeinschaftskonstrukte und Kooperationsformen in Wirtschaft und Gesellschaft. Was neu ist, ist der Schub, den Wir-Optionen durch die rein technologische Vernetzung bekommen – und die Intensität, mit der wir uns damit beschäftigen. Begrife wie Kollaboration und Kooperation, Share Economy und Gemeinwohlökonomie sind derzeit in aller Munde. Sie ziehen ihre Kreise in immer mehr Büchern, Artikeln und Zeitschriften und werden auf Konferenzen heftig diskutiert. Wird 2015 das Jahr des Wir? Formt sich eine Gegenbewegung zur treibenden Kraft der vergangenen Jahrzehnte, die auf immer mehr Bedeutung für den Einzelnen zielte? Wie viel neue Gemeinschaft kann in einer individualistischen Welt entstehen? Auf welche Ziele steuert eine Suche nach „neuem Konsens“ zu? Nach vielen ersten Phänomenen in den vergangenen Jahren wird 2015 zumindest sicher eines: ein Jahr, um das Modethema „Community“ neu zu sortieren. Sortieren zwischen rein technischen Vernetzungsphänomenen und echten Wir-Gemeinschaften, wie wir es in unserer Landkarte tun. Und eine Unterscheidung zu inden zwischen realen Phänomenen, dem was wirklich ist und funktioniert und dem, was wir als „Sehnsuchtsraum des Wir“ bezeichnen. Ein Raum, nach dem wir suchen, der für eine Hofnung steht auf eine neue und andere Welt, aufgeladen mit dem Wunsch, Lösungen zu inden für die zunehmende Komplexität, die uns umgibt. 69 DIE EVOLUTION DES WIR Soziale Innovationen sind die Zukunft Soziale Innovationen werden die Zukunft prägen, nicht technische. So lautete bereits vor einigen Jahren die hese des Zukunftsinstituts. Neue kollektive Organisationsformen gehören dazu. Dahinter steht auch ein emotionales Bedürfnis: „Es gibt eine tiefe Sehnsucht nach kollektiven Identitäten und nach einer Kultur, die Beziehungen schaft. Dieses neu erwachende Vergemeinschaftungsbedürfnis kann von Handel und Industrie gar nicht ernst genug genommen werden. Marken werden zukünftig nicht mehr nur ihre Einzigartigkeit nach vorne stellen, die Konsumenten erwarten eine kollektive Vision“, schrieben wir 2009 im Zukunftsletter. Sich im Kollektiv wiederzuinden, so formulierten wir, und nach Identitäten zu suchen, die über das eigene Ich hinausgehen, werde zu einem zentralen Trend in der Gesellschaft, aber auch auf unseren Märkten. Als ein Indikator diente uns der Wertemonitor des Zukunftsinstituts, „Wie geht’s der Welt?“ (2008), der in Zusammenarbeit mit GfK Roper entstand. Menschen in 25 Nationen wurden dort nach den für sie wichtigen Werten befragt. Zu den Top-10Werten gehörten überall Familie, stabile soziale Beziehungen und Freundschaft, wohingegen Werte wie Macht (Platz 53), Status (Platz 49) und Egoismus (Platz 52) auf den hinteren Plätzen landeten. Währenddessen rief man in den USA gleich eine ganz neue Ära des Wir aus. Eric Greenberg gab 2008 ein Buch mit dem Titel „Generation We: How Millennial Youth Are Taking Over America and Changing Our World Forever“ (Greenberg/Weber 2008) heraus. Den 70 Millennials sprach er darin nicht nur eine progressive Haltung sowie wirtschaftliche und soziale Macht zu, sondern auch das Potenzial, sich dieser gemeinsamen Macht bewusst zu sein und sie zu nutzen. „Wir müssen den Prozess der Restauration und der Transformation starten. Es gibt eine klare Agenda, unser Erbe und den Planeten wieder in Ordnung zu bringen“, hieß es vollmundig und hofnungsvoll in dem mit „We-Declaration“ überschriebenen Schlusskapitel (gen-we.org). Der aufkommende Fokus auf das „Wir“ zeigte sich auch in einem neuen Megatrend, den wir am Zukunftsinstitut 2007 unter dem Namen „Konnektivität“ etabliert hatten. Gemeint waren damit nicht nur die sich ausbreitende technologische Vernetzung, sondern auch soziale Zusammenschlüsse, d.h. die grundsätzlich zunehmend netzwerkartige Organisation in Wirtschaft und Gesellschaft. Bis heute ist Konnektivität für uns ein echter „Blockbuster“ unter den insgesamt elf Megatrends, die alle großen Veränderungswellen in Wirtschaft und Gesellschaft beschreiben. Denn Konnektivität steht in unmittelbarer Wechselwirkung mit den anderen Megatrends wie Urbanisierung, Globalisierung, Female Shift, New Work, neues Lernen etc. – und er bringt ein gutes Stück Destabilisierung in unsere Welt. Durch die zunehmende Vernetzung wird der sogenannte „Schmetterlingsefekt“ auf einmal im Alltag spürbar. Wenn an einer Ecke der Welt etwas passiert, kann sich das innerhalb kürzester Zeit auf andere Bereiche und Orte übertragen und massive Aufschaukelungsbewegungen auslösen. Wie das geht, haben uns Finanzkrise und unzählige Shitstorms im Internet gezeigt. Gemeinsam sind wir stark: Diesen Leitspruch hat die Generation der Millennials verinnerlicht und verlangt nach ihrer Gültigkeit in allen Lebensbereichen. Auch als Freiwillige beim SandsackSchleppen. Zukunftsinstitut I Die neue Wir-Kultur 71 Foto: Istockphoto DIE EVOLUTION DES WIR VUCA-Welt: Fünf Treiber der Veränderung Natürlich darf man technische Vernetzung nicht mit dem Formen sozialer Verbindungen gleichsetzen. Während Technologien nur die Möglichkeit zur Verbindung schafen, verlangt soziale Vergemeinschaftung jede Menge Investitionen, damit eine tragfähige gemeinsame Kultur entsteht. Erst dann entstehen echte Wirs. Trotzdem ist der Schub, den das Internet gibt, nicht zu unterschätzen: So manches Unternehmen hat durch die Beschäftigung mit Open Innovation und Enterprise 2.0, dem vernetzten Unternehmen, wertvolle Impulse bekommen, sich auch in Bezug auf die eigene Kultur in Frage zu stellen und weiterzuentwickeln. Welche Treiber die Bewegung hin zu mehr Kollaboration in Zukunft unterstützen und fördern, zeigt folgende Übersicht: TREIBER 1 Technologische Vernetzung als Impuls Im Jahr 2015 sind wir dauernd miteinander verbunden, wenn wir das wollen. Highspeed-Internet-Access, hohe Bandbreiten, mobile Endgeräte, eine Vielzahl von Apps und das Internet der Dinge, also Vernetzung über diverse Produkte, gehören für immer mehr Menschen zur Grundausstattung. Wir können uns damit schnell, eizient und meist ohne Zusatzkosten zusammenschließen und zumindest oberlächlich Bande knüpfen. In kürzester Zeit können somit lose gekoppelte und ortsunabhängige 72 (Interessens-)Gemeinschaften entstehen. Das gilt natürlich auch umgekehrt: Die Entkopplung wird leichter, mit manchmal nur einem Mausklick ist man „draußen“. Manche (Zweck-)Gemeinschaften, zum Beispiel zum gemeinsamen Kauf (Collective Buying), entstehen sogar „on the spot“ und vergehen ebenso schnell wieder. TREIBER 2 Die Dauerfrage – wie mit Komplexität umgehen? Wir entwickeln gerade ein neues Verständnis von der Umwelt, in der wir leben, und von der Tiefe, in der wir miteinander verbunden sind. VUCA heißt ein derzeit viel zitiertes Akronym. Erfunden wurde es zwar bereits in den 90er-Jahren beim US-Militär, jetzt aber ist es großlächig auch in Managementkreisen angekommen. Die Abkürzung steht für Volatilität, Unsicherheit, Komplexität (Complexity) und Ambiguität. Das beschreibt ein Umfeld, in dem alles in ständiger Bewegung ist, hoch vernetzt und äußerst volatil. Die weltweite Finanzkrise ab 2007, ausgelöst durch Immobilienspekulationen in den USA, war das beste Beispiel dafür. Wir werden uns also bewusst, dass wir mit einer Welt konfrontiert sind, in der niemand das Morgen voraussagen, geschweige denn planen kann. Eine Welt, in der der Einzelne sich weniger denn je an sicheren und Halt gebenden Konstrukten wie Familie, Kirche und Staat orientieren kann. Eine Welt, die leicht als Bedrohung und Überforderung erlebt werden kann und in der sich eine wesentliche Frage stellt: Was können wir tun, um gut in ihr zu leben? Näher zusammenzurücken scheint eine Lösung zu sein. Zukunftsinstitut I Die neue Wir-Kultur TREIBER 3 Hoffnung auf Kollaboration als Innovationsmotor Wir brauchen einen Paradigmenwechsel, heißt es in den letzten Jahren an vielen Stellen in Unternehmen, in der Gesellschaft und in der Politik. Denn um entspannt in der VUCA-Welt zu leben, fehlen uns praktikable Ansätze. Selbstorganisation und Kollaboration wecken neue Hofnungen. So entstanden in den letzten fünf bis sieben Jahren in Unternehmen, im Privaten und in der Politik zahlreiche Initiativen, die auf die Kraft des Kollektivs setzen. Eine davon ist die Idee einer Bundeswerkstatt, die Jascha Rohr, Gründer des Instituts für Partizipatives Gestalten, in seinem Buch „In unserer Macht“ vorstellt (think-oya.de/buch/ in_unserer_macht.html). Sie könnte nach Meinung Rohrs eine dritte Kammer neben dem Bundestag und dem Bundesrat darstellen, in der Vertreter der Zivilgesellschaft gemeinsam Zukunftskonzepte entwickeln. Mit dem Internet als neues Kollaborationswerkzeug sollen so neue Lösungen für die komplexen Herausforderungen der heutigen Zeit gefunden und eine kollaborative Demokratie etabliert werden. Diese Hofnung auf das Wir als Impuls für echte Innovation ist exemplarisch für viele Bereiche in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Soziale Bindungen wichtiger als Unabhängigkeit Was die Deutschen 2014 in ihrem Leben für besonders wichtig und erstrebenswert halten (TOP-5, Angaben in Prozent) 85% Gute Freunde haben, enge Beziehungen zu anderen Menschen 78% Für die Familie da sein, sich für die Familie einsetzen 75% Eine glückliche Partnerschaft 66% Unabhängigkeit, sein Leben weitgehend selbst bestimmen können 65% Soziale Gerechtigkeit deutsche Bevölkerung ab 14 Quelle: IfD Allensbach 2014 73 Auf dem Vision Summit konzentrieren sich die Menschen auf die Macht der Wir-Qualitäten Foto: Christian Klant / www.christian-klant.de 74 TREIBER 4 TREIBER 5 Sehnsucht nach neuen inneren Qualitäten Erfahrung mit kollektiven Experimenten Unsere Suche nach Neuem, nach etwas anderem bezieht sich meist nicht nur aufs Außen – und drückt sich oft auch in neuen Begrifen aus. Einer davon machte im Herbst 2014 zum ersten Mal seine Runde. „WeQ meint Wir-Qualitäten – im Unterschied zu Ich-Qualitäten (IQ)“, formulierten die Macher des Vision Summit, einer internationalen Konferenz für Social Innovation, Social Entrepreneurship und Social Impact Business, die 2007 ins Leben gerufen wurde und 2014 mit „WeQ“ an den Start ging (www.visionsummit.org). Wir-Qualitäten, so hieß es dort, seien die gemeinsame DNA von Social Innovation, Social Entrepreneurship und Social Business, aber auch von Design hinking, Co-Creation, Co-Working Spaces, Wikipedia oder Carsharing. Anfang 2015 soll die Initiative ihren Ausdruck in einem WeQManifest inden. Neue Wir-Konstrukte sind im Jahr 2015 für eine wachsende Zahl von Menschen im Alltag spürbar geworden. Je jünger und je vernetzter, desto mehr. Viele erfahren auf einmal ganz konkret, wie sich die Welt anfühlt, wenn sie auf neue, kollektive Organisationsformen setzen. Ob klassische Gemeinschaft oder temporäres Kollektiv: Der Nutzen der Gemeinsamkeit wird deutlich. So bekommt der Selbstständige Geld für das neue Unternehmen von einer Crowdfunding-Plattform statt von der Bank, das Auto wird nicht mehr gekauft, sondern im Nachbarschafts-Carpool ausgeliehen, man lebt in einem MehrgenerationenWohnprojekt, arbeitet im Co-Working Space, lernt neue Menschen bei „Eat and Meet“-Dinnern kennen, geht zusammen zu Freeletics, bucht sein Zimmer bei AirBNB und unterschreibt Online-Petitionen bei einer NGO, die sich für den sozialen Wandel einsetzt. Kollaboration kann zum ersten Mal einem Alltagstest unterzogen werden. Zukunftsinstitut I Die neue Wir-Kultur Die DNA der Wir-Qualität Social Innovation Design Thinking Wikipedia Social Business Social Entrepreneurship Co-Laboration Co-Creation Sharing Quelle: Vision Summit Endet der Individualismus? Wie aber passt der Schub in Richtung Wir zusammen mit dem Megatrend Individualisierung? Zwar gab es schon immer Zusammenschlüsse, Kooperationen und Gemeinschaftsunternehmen, um den Anforderungen der Welt etwas Kraftvolles entgegenzusetzen. Von der Allmende, dem landwirtschaftlichen Gemeinschaftsbesitz, über Genossenschaftsbanken bis hin zu kirchlichen und sozialen Hilfsverbänden, Gewerkschaften, Betriebsräten usw. hat der Schulterschluss der Gemeinschaft Tradition. Diese Tradition hat in den letzten Jahrzehnten in westlichen Industrieländern allerdings an vielen Stellen Platz gemacht für eine Form von Individualismus, in der vor allem persönliche Stärke, der Einzelne und seine Leistungen zählte. Heldengeschichten hatten in Politik und Wirtschaft Konjunktur. und einer Kombination aus wegleitender Sehnsucht und starkem Innovationsdruck im Rücken scheint das Wir wieder salonfähiger zu werden. Das Pendel schlägt um – statt den Einzelnen mitsamt seinen Leistungen und seinem Gestaltungsspielraum zu überhöhen, wandert der Fokus zurück, wie die Landkarte des Wir eindrucksvoll zeigt. Wir bauen somit „soziales Kapital“ auf – und zwar in zweifacher Hinsicht, wie Robert Putnam und Lewis Feldstein in „Better Together“ (2004) argumentieren. Sie sprechen zum einen von „verbindendem sozialen Kapital“ in Netzwerken, die Menschen zusammenbringen, die sich ähnlich sind und miteinander etwas machen. Zum anderen gibt es soziale Netzwerke, die Brücken nach außen schlagen und verschiedene Gruppierungen zusammenbringen und umfassen. Und sie haben herausgefunden, dass der Grad der Bildung ein Indikator dafür ist, wie viel „soziales Kapital“ entsteht. Doch das Blatt scheint sich zu wenden. Mit neuen Technologien in der Tasche 75 DIE EVOLUTION DES WIR Wir und Ich: Lernen von der Soziologie Doch auch in Zukunft wird das „Wir“ nicht das „Ich“ ersetzen – und der Megatrend Individualisierung nicht zu Grabe getragen. Ich und Wir sind keine Gegensätze – das eine braucht das andere, um sich auszubilden, wie die Soziologie schon lange weiß. Jedes Kind entwickelt sich erst durch seine Eltern, Geschwister, Freunde, Kindergarten und Schule zu einem sich selbst erfahrenden Ich. Doch wie steht es um das moderne Ich, das oft mit einem zur Selbstverwirklichung entschlossenen Macher assoziiert wird? Braucht es das Wir überhaupt noch? Der Soziologe Ulrich Beck (1994) hat dazu mit seiner berühmt gewordenen Individualisierungsthese Folgendes herausgefunden: Mit dem Übergang zu einer funktional diferenzierten Gesellschaft verändern sich die ‚Ich‘- und ‚Wir‘-Verhältnisse. Während in vormodernen Gesellschaften der Einzelne durch soziale Gebilde wie Religion, Familie und Stand auf seinem Platz gehalten wurde, haben sich diese starren ‚Schicksalsgemeinschaften‘ in der Moderne aufgelöst. Wo früher das Leben vorgezeichnet schien und man in unumstößliche Gruppen eingebettet war, muss man nun aktiv entscheiden und sein Leben in die Hand nehmen: welcher Job, welche Partei, welche Partnerin, welche Stadt? Das ‚Wir‘ ist dabei nicht weniger wichtig geworden. Im Gegenteil. Die zahlreichen Subkulturen und Szenen (Hitzler/Niederbacher 2010), die Interessensgemeinschaften, von politischem Engagement über Sportund Musikgruppen bis hin zu eingeschworenen Fangemeinschaften, oder auch die 76 teils verzweifelte Suche nach der großen Liebe (Beck 2001) sind nur einige Beispiele für das kontinuierlich tiefe Bedürfnis der Menschen, in Wir-Konstellationen aufzugehen. Allerdings macht sich das individualisierte ‚Ich‘ unserer Zeit selbst auf die Suche nach neuen Gemeinschaften und ‚Wirs‘. Diese bestehen aber nur noch auf Zeit – und man muss sie am Laufen halten (vgl. Hitzler/Honer/Pfadenhauer 2008). Der Einzelne macht damit die Erfahrung, dass mit quasi-endloser, unhinterfragter Gemeinschaftlichkeit nicht mehr wirklich zu rechnen ist. Spannungsfeld: Teilen Sie noch oder optimieren Sie schon? Kein Wunder also, dass sich der öfentliche und mediale Diskurs um das Wir schnell erhitzt. Der kühle Blick auf Kollaborationen, Kollektivprozesse und Partizipationsansätze fällt gerade deshalb nicht leicht, weil es bei all dem auch um Grundsätzliches geht, um gesellschaftliche Tiefenbewegungen. Die momentan sichtbaren Veränderungen sind aufs Engste verknüpft mit impliziten Wertvorstellungen und Bewertungen; sich dem Normativen der Wir-Diskussion zu entziehen ist so kaum möglich. Während für die einen der Begrif des „Wir“ aufgeladen ist mit einer Vision einer besseren Welt von Post-Wachstum und der gemeinsamen Arbeit an innovativen sozialen Lösungen, sind andere „nur“ auf der Suche nach neuer Eizienz. Letztere Konstruktionen wären dann keine Kollektive, sondern „Konnektive“, wie Gesa Ziemer sie in ihrem 2013 erschienenen Buch „Komplizenschaften“ bezeichnet. Beim Konnektiv, so sagt sie, rücken homogene Gruppendeinitionen zugunsten von Interessengemeinschaften sind Ausdruck des grundlegenden Bedürfnisses der Menschen, in Wir-Konstellationen aufzugehen Zukunftsinstitut I Die neue Wir-Kultur 77 Foto: Flickr, Steven Gerner, CC-BY-SA-2.0 „Im kommenden Zeitalter treten Netzwerke an die Stelle der Märkte, und aus dem Streben nach Eigentum wird Streben nach Zugang“ Jeremy Rifkin, Das Verschwinden des Eigentums, 2007 Foto: Flickr, Oesterreichs Energie/Martin Vandory, CC-BY-SA-2.0 überraschenden Neuverkettungen noch stärker als beim Konzept des Kollektivs in den Hintergrund. Die Lockerheit und weniger die Stärke der Beziehungen wird als konstruktiv bewertet – und damit treten Bindungseigenschaften hervor, die nicht auf Stabilität abzielen und trotz ihrer Fragilität eine hohe situative Wirkung erzielen. „Komplizenschaft“ bedeutet dann, dass es um das intelligente Kombinieren verschiedener Elemente, das aktive Verbinden geht, um die Welt neu zu gestalten (2013, 70f.). Wo also haben wir es mit Kollektiven und wo mit Konnektiven zu tun? Mit dieser Frage ringt auch die Debatte um die Share Economy. Den Begrif „Shareness“ prägte übrigens der Harvard-Ökonom Martin Weitzman schon Mitte der 80er-Jahre. Im Zukunftsinstitut kommentierten wir diese Entwicklung im TREND UPDATE 9/2011 folgendermaßen: „Wer allein bestimmen möchte, anstatt kooperative Lösungen zu suchen, wird in Zukunft immer weniger 78 Chancen haben, zu bestehen. Das betrift den Einzelnen ebenso wie Unternehmen und Organisationen.“ Doch um was geht es in der Share Economy heute? Um Tauschen, Spenden, Schenken, großzügig sein, Ressourcenschonung inklusive, oder um ein neues ökonomisches Kalkül? Harsche Kritik war zum Beispiel im Frühjahr 2013 in der „Zeit“ zu lesen: „Die Erwartungen an die Ökonomie des Teilens sind (...) oft so naiv und oft dermaßen übersteigert, dass sie sich kaum erfüllen werden. Stärker als den Beginn einer neuen Wirtschaftsordnung symbolisiert der neue Sharing-Hype eine Form der Realitätslucht.“ Ähnlich abwehrend äußert sich die FAZ 2013: „Bläst man die Luft (...) aus der Share Economy hinaus, kommt etwas ganz anderes heraus: Nicht Teilen statt Haben ist der springende Punkt, sondern ganz im Gegenteil ein Zugewinn des eigenen Habens, das einen sich vom anderen unterscheiden lässt. Conspicious Consumption Zukunftsinstitut I Die neue Wir-Kultur (demonstrativ Individualität zeigen) dominiert die vermeintliche Collaborative Consumption (Gemeinschaftskonsum)“ (Hank/ Petersdorf 2013). Reinhard Loske, Professor für Kulturrelexion an der Uni Witten/Herdecke, formuliert die „Anti-Vision“ so: „Das marktwirtschaftliche System wird diese soziokulturelle Innovation als Frischzellenkur nutzen“ (Loske 2014). Auch der Philosoph und Kulturwissenschaftler Byung-Chul Han (2014) setzte unlängst zur Entzauberung an: „Die Sharing-Ökonomie führt letzten Endes zu einer Totalkommerzialisierung des Lebens. Der von Jeremy Rifkin gefeierte Wechsel vom Besitz zum ,Zugang‘ befreit uns nicht vom Kapitalismus. Wer kein Geld besitzt, hat eben auch keinen Zugang zum Sharing. Auch im Zeitalter des Zugangs leben wir weiterhin im ,Bannoptikum‘, in dem diejenigen, die kein Geld haben, ausgeschlossen bleiben. ,Airbnb‘, der Community-Marktplatz, der jedes Zuhause in ein Hotel verwandelt, ökonomisiert sogar die Gastfreundschaft. Die Ideologie der Community oder der kollaborativen Commons führt zur Totalkapitalisierung der Gemeinschaft. Es ist keine zweckfreie Freundlichkeit mehr möglich. In einer Gesellschaft wechselseitiger Bewertung wird auch die Freundlichkeit kommerzialisiert. Man wird freundlich, um bessere Bewertungen zu erhalten. Auch mitten in der kollaborativen Ökonomie herrscht die harte Logik des Kapitalismus. Bei diesem schönen ,Teilen‘ gibt paradoxerweise niemand etwas freiwillig ab. Der Kapitalismus vollendet sich in dem Moment, in dem er den Kommunismus als Ware verkauft. Der Kommunismus als Ware, das ist das Ende der Revolution.“ Trend-Learning Die Bewertung des Wir-Gedankens der Share Economy oszilliert also zwischen einer Einschätzung als Heilsbringer für eine neue Welt und der Angst vor weiterer Pervertierung des Ökonomischen, das auch noch den letzten Rest (echter) Gemeinschaftlichkeit zerstört. Damit wird auch klar: Die neuen „Wirs“ schließen vielleicht viele ein – aber andere auch aus. Wenn es so viele Wirs gibt, wie es Peer-Groups in einer Gesellschaft der Individualisten gibt, ist die naheliegende nächste Frage, wie es weitergehen kann mit dem großen „Wir“. Dieser Frage wollen wir im nächsten Kapitel noch etwas tiefer nachspüren. Aus unterschiedlichsten Disziplinen kommen derzeit wissenschaftliche Ansätze, die sich genau mit der Frage beschäftigen, was die Menschen antreibt, Gemeinschaften zu bilden. 79 DER HOMO SOCIALIS Wissenschaftliche Perspektiven für Theorieafine 80 Zukunftsinstitut I Die neue Wir-Kultur Zu den Aha-Erlebnissen der letzten Jahre gehört, dass Kooperation ein zutiefst menschlicher Zug ist – und Ratio nicht alles. Und das Beste: Unter geeigneten Bedingungen können Menschen ihr Wir-Potenzial als soziale Wesen entfalten. Selbst im Business. Ein Blick auf die Wissenschaft zeigt, wie und warum. In der Wissenschaft der letzten Jahre indet ein Paradigmenwechsel statt. Das Bild vom Menschen und seinem „natürlichen“ Verhalten wandelt sich. Wissenschaftler unterschiedlichster Fachrichtungen machen eine Menge spannender Experimente rund um das Wir. Neue Forschungsvorhaben sammeln theoretische Erkenntnisse rund um Kollaboration, Kooperation und Partizipation. Eine heorie des Wir entsteht. Denn einfach „mehr Wir“ zu wollen reicht nicht: Die Bedingungen für Kooperation müssen bewusst geschafen und entwickelt werden, darüber sind sich die Experten einig. Daher gilt es, mehr zu lernen. In der Gesellschaft ebenso wie im wettbewerbsorientierten Umfeld der Unternehmen. Immer mehr Forscher und Unternehmer versuchen genauer zu verstehen, was es mit Kollaboration und Kooperation auf sich hat und welche Voraussetzungen Menschen brauchen, um zusammenzuhalten. Erst dann können wir funktionsfähige Wirs auch gestalten, so der Tenor. Der folgende Abstecher in die Wissenschaft hat also einen sehr pragmatischen Hintergrund: Was weiß zum Beispiel die Verhaltensökonomie über den „Homo Socialis“, den Gegenentwurf zum rein rationalen Homo Oeconomicus? Nach welcher Logik agiert er und wie können wir sie nutzen? 81 Wir Das neu erwachte Interesse am Wir hat aber nicht nur in der Verhaltensökonomie seine Spuren hinterlassen, wo man dies automatisch vermuten würde – auch Soziologie, Biologie und die Organisationspsychologie liefern frische Perspektiven auf unsere WirKapazitäten. Daneben sind Disziplinen wie Kybernetik, Systemtheorie und Netzwerkforschung wichtig. Sie bieten Weltbilder an, die das große Ganze in den Blick nehmen, auf Vernetzungen und Wechselwirkungen fokussieren und den Einzelnen vor allem in seinen Beziehungen und als Teil des Gesamtsystems abbilden. Zeit, sich damit zu befassen. Neues Denken: Integrativer Pluralismus Welches Denken brauchen wir für unsere Zukunft? Und welche Rolle spielt die Wissenschaft dabei? Sandra Mitchell ist Professorin für Wissenschaftstheorie und beschäftigt sich insbesondere mit dem 82 hema Komplexität. Ihr Ansatz ist so einfach wie einleuchtend: Wir brauchen einen „integrativen Pluralismus“ in unserer Art, die Welt zu sehen. Das bedeutet: Viele parallele Erklärungen sind möglich – und haben nebeneinander Platz. Der alte Newtonsche Ehrgeiz, alles auf einfache, grundlegende Eigenschaften und Bewegungen zurückzuführen, werde in Zukunft abgelöst durch eine Welt der vielschichtigen kausalen Wechselwirkungen und der Emergenz, sagt sie in ihrem Buch „Komplexitäten. Warum wir erst anfangen, die Welt zu verstehen“ (2008). Und: „Das Universelle hat dem Kontextbezogenen, Lokalen Platz gemacht, und das Streben nach der einen, einzigen, absoluten Wahrheit wird verdrängt durch den demütigenden Respekt vor der Pluralität der Wahrheiten, die unsere Welt partiell und pragmatisch abbilden“ (ebd., S.152). Übersetzt bedeutet das: Für eine stark vernetzte Welt, die so komplex und volatil ist, dass sie schnell verschiedenste Gestalten annehmen kann und uns immer wieder mit Zukunftsinstitut I Die neue Wir-Kultur Für eine komplexe, volatile und stark vernetzte Welt, die uns immer wieder mit Veränderungen konfrontiert, brauchen wir ebenso vielfältige Erklärungen wie auch komplexe Strategien. Veränderungen konfrontiert, brauchen wir Erklärungsmuster, die ebenso vielfältig sind wie das, was wir betrachten. Für unser Handeln hat das weitreichende Konsequenzen. Denn die Hofnung auf eine einfach und schnell prognostizierbare Zukunft, die sich in deinierten Schritten erreichen lässt, zerfällt damit zu Staub. „Wir müssen das Prinzip ,Vorhersagen und Handeln‘ für unsere Interaktionen mit der Welt auf den Prüfstand stellen“, sagt Mitchell klipp und klar. Stattdessen plädiert sie für eine neue Form von Pragmatismus. Dazu gehören auch wiederholte Feedbackschleifen zwischen Erkennen, Handeln und Überprüfen. „Wenn man in einer komplexen Welt zu einem gewünschten Ergebnis gelangen will, muss man für eiziente Interaktionen mit dieser Welt auch komplexere Strategien entwickeln.“ Mehr oder bessere Informationen zu sammeln macht in diesem Kontext nur begrenzt Sinn. Denn Wissen vermindert Unsicherheit nicht unbedingt. Im Gegenteil, häuig ist es laut Mitchell sogar unvernünftig, auf übereinstimmende Ansichten oder zuverlässige, quantitative Aussagen über die Wahrscheinlichkeit möglicher Ergebnisse zu warten. Denn sonst warte man unter Umständen so lange, dass es zum Handeln oder zur Vermeidung unerwünschter Folgen zu spät sei (ebd., S.113). Die Zukunft könnte einen dann schon überholt haben. In diesem Sinne kombinieren wir im Folgenden mehrere Erklärungsansätze zum hema Wir. Pragmatisch werfen wir einen Multiperspektiven-Blick auf die Fundamente von Kollaboration, Kooperation und Partizipation. Das Ziel: besser zu verstehen, warum und wie sich Wirs konstellieren, welche Kräfte dahinter wirken – und welche Bedingungen wir schafen können, um die Vorteile der Gemeinsamkeit gut für uns zu nutzen. 83 Die anthropologische Frage: Sind Affen kooperativ? 84 Foto: Flickr, Tambako The Jaguar, CC-BY-ND-2.0 Zukunftsinstitut I Die neue Wir-Kultur PERSPEKTIVE 1 Kooperieren ist zutiefst menschlich. Evolutionäre Anthropologie und Soziologie Grundemotionen wie Angst, Freude und Wut haben wir mit den Afen gemein. Die Freude, etwas mit anderen zu teilen und gemeinsam zu tun, ist dagegen ein menschliches Gefühl. Das sagt Michael Tomasello, Direktor am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie. Für ihn ist der Mensch „das Tier, das Wir sagt“ (Grefrath 2009). Zwar zeigen Tomasellos neuere Forschungen, dass auch Afen durchaus Mindreading beherrschen, also wissen, welche Absichten andere haben. Doch sie nutzen diese Fähigkeit ofensichtlich vor allem für eines – ihren eigenen Vorteil. Menschen dagegen haben ein anderes Wir-Gefühl. Sie beschafen, anders als die meisten Afen, ihre Nahrung gemeinsam. Auf diese Weise entwickelten sich beim Menschen Altruismus und gegenseitiges Helfen – mitsamt bestimmter Regeln, sagt Tomasello. Zum Beispiel diese: Wer nicht verlässlich kooperiert, der ist verloren. Der Einzelne, so Tomasello, hängt von den anderen ab. Gegenseitige Hilfe ist damit die natürliche Konsequenz gegenseitiger Abhängigkeit (FAZ 2011). Tomasellos Bild vom Menschen unterscheidet sich damit von dem vieler anderer Wissenschaftler. Die Entwickler mathematischer Modelle, die meisten Evolutionstheoretiker und Ökonomen, so sagt er, arbeiteten meist mit der Annahme, dass Menschen sich nicht um andere kümmern (Tomasello 2010). Dem widerspricht er vehement: „In einer Situation gegenseitiger Abhängigkeit kann ich mich in einer Weise um (andere) kümmern, die in meinem Selbstinteresse gründet. Zudem muss ich darauf achten, ein guter Kooperationspartner zu sein. Andernfalls würde mich niemand als Partner wählen. Wir sind also in einem tieferen Sinn sozial, als diese Modelle und heoretiker meinen“ (FAZ 2011). Siegt das unkooperative Ich? Was muss man tun, damit sich Kooperation durchsetzt? Diese Frage stellt der amerikanische Soziologe Richard Sennett. In seinem Buch „Zusammenarbeit: Was unsere Gesellschaft zusammenhält“ (2012) zeigt er, dass sich positive Formen des Miteinanders nicht von selbst einstellen. Im Gegenteil. Die Geschichte sei voll von (kriegerischen) Auseinandersetzungen und dem Herabsetzen anderer. Bis heute sei das Leben stark von Konkurrenz geprägt. Sennett spricht in diesem Zusammenhang vom „unkooperativen Ich“ (ebd., S.241), von wettbewerbswütigen Narzissten und von Überforderten mit Abstiegs- und Versagensängsten. All das sei in der nachmodernen Gesellschaft ein weitverbreitetes Phänomen. Um das zu ändern, muss man aktiv Bedingungen für ein friedliches und konstruktives Miteinander schafen. Dazu bedarf es einer Kultur der Anerkennung und des wechselseitigen Respekts, des Vertrauens sowie des gemeinsamen Bearbeitens von Problemen – sowohl in Unternehmen als auch im Privaten. Zentral seien in diesem Zusammenhang Rituale. Sie können laut Sennett gemeinsames Handeln ‚choreographieren‘, Unsicherheit reduzieren und ein Gefühl von Gemeinsamkeit und Gemeinschaft hervorrufen, etwa bei Feiern, Festen oder in Kafeepausen (vgl. ebd., S.122). Dafür muss es allerdings genügend Möglichkeiten zum Miteinander 85 DER HOMO SOCIALIS geben: Teams zum Beispiel sollten nicht zu oft umgestellt und neu besetzt werden und Verantwortung nicht nur auf den Schultern von Einzelnen lasten (ebd., S.213f.). PERSPEKTIVE 2 Gute Chancen für den Homo Socialis. Soziologie und Verhaltensökonomie Die Idee, dass der Mensch kein unverbesserlicher Egoist ist, sondern in bestimmten Umfeldern gerne und gut kooperiert, ist inzwischen bis in die Wirtschaftswissenschaften vorgedrungen. Viele Ökonomen stellen mittlerweile die Alleingültigkeit des Leitbilds des „Homo Oeconomicus“ in Frage. Die Verhaltensökonomie, aber auch die experimentelle Wirtschaftsforschung und die Neuroökonomie orientieren sich zunehmend an der beobachtbaren Realität statt an den Modellen der „reinen Lehre“. Das betrift vor allem die dort unterstellte strenge Rationalität. „Menschen besitzen keine unbeschränkten kognitiven Ressourcen … ein großer Teil der wirtschaftlichen Akteure (ist) durch beschränkte Rationalität und eingeschränkte Willenskraft gekennzeichnet“, sagt zum Beispiel Ernst Fehr (2002), einer der bekanntesten Verhaltensökonomen der neueren Zeit. Und: Viele Menschen legten nicht nur Wert auf materiellen Eigennutz, sondern ließen ihr Handeln auch von dem Bedürfnis nach Fairness und Gerechtigkeit leiten. „Im entschiedenen Gegensatz zur bloßen Maximierung des eigenen Einkommens legen die meisten Menschen überall auf der Welt hohen Wert auf Fairness“ (Sigmund/Fehr/ Nowak 2002: 54). 86 Aufsehen erregte in diesem Zusammenhang vor Jahren ein Aufsatz von Axel Ockenfels zur experimentellen Wirtschaftsforschung: „ERC – A heory of Equity, Reciprocity and Competition“ (Bolton/Ockenfels 2000). Hier wird Verhalten mathematisch formuliert und anhand von Spielen wie dem „Ultimatumspiel“ getestet: Spieler A bekommt 100 Euro, die er mit Spieler B teilen muss. Falls Spieler B ablehnt, bekommt er nichts, akzeptiert er, behalten beide ihren Teil. Rein rationale Menschen würden ihren Gewinn maximieren, 99 Euro behalten und dem anderen nur einen Euro übrig lassen. Für Spieler B ist das immer noch besser als nichts. In der Realität kommt Gerechtigkeit ins Spiel: Selbst bei 90 zu 10 Euro schlägt Spieler B das Angebot aus. Da sich Spieler A dessen bewusst ist, macht er erst gar keine „unfairen“ Angebote. Die Erkenntnis, die daraus folgt: Menschen orientieren sich auch am Gewinn anderer und fühlen sich schlecht, wenn diese nichts bekommen. Der Vergleich mit den anderen ist uns also wichtig, und unsere relative Position spielt eine große Rolle. Simuliert man allerdings ein „Auktionsspiel“, sieht die Sache anders aus. Bei einem anonymem Markt und extremem Wettbewerb bildet sich die Fairness der Einzelnen nicht ab. Eigennutz scheint weiterhin das bestimmende Element zu sein – selbst wenn sich die einzelnen Spieler eine gerechtere Verteilung wünschen. Damit lässt sich folgern: Anonymität schadet dem Wir, Bezug zueinander nützt ihm. Aber kann sich der „Homo Socialis“, der altruistisch geprägte Mensch, langfristig überhaupt in der Welt durchsetzen? Dieser Frage gingen homas Grund und Dirk Helbing am Lehrstuhl für Soziologie der ETH Zürich Zukunftsinstitut I Die neue Wir-Kultur nach. Mit ihrem Modell simulieren sie eine Welt, in der es zwar ein paar Altruisten gibt, aber ansonsten Bedingungen vorherrschen, die Kooperation nicht unterstützen (vgl. Grund/Waloszek/Helbing 2013). Trotzdem machen die Altruisten mit der Zeit Boden gut. Schon nach wenigen Generationen gewinnen sie die Oberhand – allerdings nur, wenn sie sich vernetzen. „Wenn durch Zufall einige von ihnen zeitlich und räumlich nahe aneinander geboren werden, genießen sie aufgrund ihrer Zusammenarbeit beachtliche evolutionäre Vorteile. Es bilden sich ,clusters of cooperators‘“ (Mounk 2013). Zwar gibt es im Modell einige Regionen, in denen weiterhin der Homo Oeconomicus das Sagen hat, in weiten Teilen der simulierten Welt jedoch herrscht Großzügigkeit und Kooperation. Der Grund: Die Altruisten geben ihre Haltung an ihre Nachkommen weiter. Das Fazit des Forscher-Duos lautet deshalb, dass wir den Homo Socialis besser erforschen müssen und eine ergänzende ökonomische heorie für die „Networked Minds“ brauchen. Neuere psychologische und neurowissenschaftliche Forschungen schließen mittlerweile an solche Erkenntnisse an. So gibt es zum Beispiel ein Forschungsprojekt zu „Caring Economics“, das vom Institute for New Economic hinking (INET) gefördert wird. Das Projekt ist eine gemeinsame Initiative des Max-Planck-Instituts for Human and Cognitive Brain Sciences, Leipzig, und des ifw Kiel Institute for the World Economy (caring-economics.org). Gemeinsam will man erforschen, wie man das relativ neue Wissen über menschliche Motivation, über Emotionen und reales soziales Verhalten in Modelle zur Entscheidungsindung einließen lassen kann. Das Projekt soll eine neue Generation ökonomischer Modelle entwickeln, die kooperative, soziale und nachhaltige Verhaltensweisen integrieren. PERSPEKTIVE 3 Großzügigkeit sichert Erfolg. Organisationspsychologie Wie es mit dem „Caring“ und dem „Geben und Nehmen“ schon heute in der (Unternehmens-)Praxis aussieht, untersucht Adam Grant in seinem gleichnamigen Buch (2013). Damit scheint er einen Nerv der Zeit zu trefen, denn das Buch schafte es bis in den Bestsellerlisten der New York Times und des Wall Street Journal. Der Professor für Organisationspsychologie an der Wharton School der Universität von Pennsylvania unterscheidet drei grundsätzliche Interaktionsstile: Geben, Nehmen und Tauschen. Der typische Nehmer versucht, größtmöglichen Nutzen für sich zu erzielen. Ein Tauscher dagegen gibt zwar, aber nur wenn er dafür eine Gegenleistung bekommt. Geber dagegen geben erst einmal rückhaltlos. Im Privatleben ist das Geben durchaus verbreitet. Doch viele Menschen, die im Privatleben als Geber auftreten, verwandeln sich im berulichen Kontext zu Tauschern, sagt Grant. Diese Strategie sollten sie noch einmal überdenken. Denn Grant verknüpft unseren bevorzugten Interaktionsstil mit einer Prognose über den zu erwartenden Erfolg. Seine Forschungen zeigen, dass Geber überproportional oft eine sehr gute „Leistungsbilanz“ haben, das heißt, im Arbeitsalltag 87 Bei Southwest Airlines werden die Mitarbeiter prämiert, die dabei geholfen haben, gute Arbeit zu leisten Foto: Stephen M. Keller produktiver sind und sowohl quantitativ als auch qualitativ gesehen bessere Arbeitsergebnisse liefern (ebd.: S.17f.). Nehmer und Tauscher dagegen landen oft im Mittelfeld. Wer nun wissen möchte, zu welchem Stil er sich selber zählen muss, kann dazu einen Test zum eigenen Stil durchführen, unter www.giveandtake.com. Geben ist aber leider keine sichere Strategie für alle Bedingungen, denn Geber inden sich nicht nur an der Spitze, sondern auch am unteren Ende der Erfolgsskala. „Geben kann jederzeit inkompatibel mit Erfolg sein“, sagt Grant (ebd., S.31). Und er speziiziert: In Nullsummenspielen und Interaktionen, bei denen es um Sieg oder Niederlage geht, zahle sich Geben selten aus. Wie sich eine Kultur des Gebens, die für viele im Privaten schon geübt ist, in Unternehmen kultivieren lässt, zeigen bereits erste Beispiele: Bei Southwest Airlines zum Beispiel gibt es einen Preis für den „Agent of the month“. Prämiert werden die Mitarbeiter, die anderen dabei geholfen haben, gute Arbeit zu machen. Auch Google hat ein Peer-to-Peer-Bonussystem, das Mitarbeitern erlaubt, Dankbarkeit auszudrücken und unterstützendes Verhalten von Kollegen zu „entlohnen“. Die eigene Entlohnung kann eingesetzt werden, um wiederum andere anzuerkennen (Inc. 2014). Aber das Leben sei in weiten Teilen kein Nullsummenspiel, argumentiert er. „Unter dem Strich ernten Menschen, die das Geben als Hauptform der Reziprozität wählen, am Ende Belohnungen“ (ebd.). Und: Geber müssen ihr Verhalten modiizieren können. Sobald sie ihre Aufgaben nicht mehr bewältigen können, sollten sie umschalten auf Tauschen oder gar Nehmen. 88 Zukunftsinstitut I Die neue Wir-Kultur PERSPEKTIVE 4 Kooperation als Komplexitätsbewältigung. Kybernetik und Systemtheorie Um Kooperation zu verstehen, braucht es auch den Blick auf das „große Ganze“. Den liefern Kybernetik und Systemtheorie. Sie betrachten Zusammenhänge und Logiken und richten den Blick auf den Umgang mit Komplexität. Eine recht abstrakte Erklärung für das Herausbilden neuer Vernetzungen und damit potenzieller neuer Wirs bietet zum Beispiel Ashbys Law. Es ist so etwas wie ein ehernes Gesetz im Umgang mit komplexen Systemen und besagt: Ein komplexes System muss mit ebenso komplexen Mitteln behandelt werden (vgl. zum Beispiel www. kybernetik.ch). Übersetzt bedeutet das: Wenn ein System, also zum Beispiel eine Organisation oder ein Unternehmen, mit einer zunehmend komplexen Umwelt konfrontiert ist, dann reichen ,Standardantworten‘ nicht mehr aus. Das System muss stattdessen ein vielfältiges Repertoire an Strukturen entwickeln/generieren, die es erlauben, sich schneller an sich verändernde Problemlagen anzupassen. Konkret kann das bedeuten, in einer Firma neue und ergänzende Organisationsformen parallel zur klassischen Hierarchie zu schafen, um „agil“, „luide“ und anpassungsfähig zu bleiben. Formuliert hat Ross Ashby sein Gesetz bereits in den 1950er Jahren. Als Kybernetiker befasste er sich schon früh mit der Wissenschaft von der Steuerung und Regelung von Systemen. Heute erlangen seine Forschungen neue Relevanz. Denn die an vielen Stellen entstehenden neuartigen „Wir-Konstruktionen“ könnte man als Antwort auf eine komplexe Welt verstehen. Um Innovation zu fördern, schneller am Markt reagieren zu können oder vorhandenes Wissen lexibler einzusetzen, werden beispielsweise in Unternehmen parallel zur Linienorganisation netzwerkartige Projektstrukturen eingeführt, selbstorganisierte Subsysteme wie Arbeitskreise und Spezialeinheiten installiert und bewusst die Vernetzung zwischen Unternehmens-Silos gefördert. Die Komplexität im Außen wird somit durch Komplexität im Innen gekontert und beantwortet. Das erlaubt lexibles Handeln und Innovation. Auch wenn als Nebenefekt natürlich zusätzliche Komplexität durch den exponentiell steigenden Kommunikationsbedarf entsteht. Revolutionärer Perspektivwandel Eng verwandt mit der Kybernetik ist die Systemtheorie. Auch sie hat in den letzten Jahrzehnten unser Bild von der Welt stark beeinlusst. Dahinter steht ein Perspektivwandel, der es verdient, als „revolutionär“ bezeichnet zu werden, sagt Fritz B. Simon, Professor für Führung und Organisation an der Universität Witten/Herdecke (Simon 2012). Die Welt wird aus systemtheoretischer Sicht nicht länger als eine Art Maschine angesehen, die mit einfachen Ursache-Wirkungs-Beziehungen arbeitet und auf eindeutigen Kausalitäten aufbaut. Jetzt rücken die Verknüpfungen in den Blick: „Statt isolierter Objekte werden die Relationen zwischen ihnen betrachtet“, so Simon (ebd., S.12). Die Folgen eines solchen Weltbilds sind weitreichend. Lineares 89 DER HOMO SOCIALIS Denken wird hinfällig; aus A folgt nicht mehr unbedingt B. Das sprengt jegliche Art von Planungs- und Kontrollideen. Einen Steuermann, ob Politiker oder Manager, der große Schife wie Gesellschaft oder Organisationen in vorhersehbarer Weise lenkt, gibt es in dieser Betrachtungsweise nicht mehr. Er (oder sie) wird stattdessen zu einer Art „Ermöglicher“, der zwar Impulse setzen kann, dann aber abwarten muss, wie das „System“, also sein Unternehmen, Team o.ä. reagiert. Die systemische Sicht der Welt ist in Berater- und Managerkreisen zwar schon an vielen Stellen etabliert. Der MainstreamLogik entspricht sie aber vielerorts noch nicht. Evolutionäre Organisationsstrukturen gewinnen Für die Etablierung neuer Wirs in Politik, Gesellschaft und Unternehmen bedeutet das, dass sie sich nicht einführen, sondern höchstens einladen lassen. „Organisationen verändern sich nach evolutionären Prinzipien. Viele in der gängigen Managementliteratur verbreitete Vorstellungen von Führung oder Change-Management müssen daher über Bord geworfen werden“, sagt Simon (2013: S.107f.). Wer Veränderungen herbeiführen will, kann nur indirekt arbeiten. Dafür gilt es, althergebrachte Muster bzw. Routinen zu unterbrechen, neue Variationen einzuführen – oder auch vollkommen neue organisatorische Einheiten zu gründen (ebd., S.110). Die zunehmende Vernetzung kann sich dann in mehr Wir niederschlagen. Beispiele wären ofene Kommunikation zwischen verschiedenen Hierarchieebenen über Intranets und Foren, ofene Formate für den Austausch wie Barcamps oder 90 auch eine Task Force, die sich aus verschiedensten Ebenen und Bereichen rekrutiert. Ob Führungskräfte mit zunehmender Vernetzung aber wirklich eine neue Stufe von Kollaboration zünden, hängt von den inneren Dynamiken des Systems ab. Was in einem Unternehmen funktioniert, kann in einem anderen wirkungslos bleiben. Allein aus diesem Grund lassen sich Elemente aus Start-ups nur bedingt in die Kultur von Großkonzernen übertragen. Systemisches Denken hilft uns, ein besseres Verständnis für die Prinzipien von Selbstorganisation zu entwickeln. Und es hilft uns, Umfelder zu schafen, in denen kraftvolle Wirs gedeihen können, die Antworten auf die Anforderungen einer komplexen Welt geben. An den Einzelnen stellt das hohe Anforderungen: Hochvernetzte Strukturen „verlüssigen“ sich, die Kommunikation nimmt exponentiell zu, und Führung kann ihre Orientierung gebende Funktion verlieren; wie Manager und Mitarbeiter in solchen Systemen arbeiten können, zeigen wir im folgenden Kapitel. Im Bestfall ergibt sich daraus ein Szenario wie das, das der Unternehmensberater Dr. Wolfgang Saaman skizziert: „Der Weg von der Organisationsstruktur hin zum Organisationssystem eröfnet eine Welt maximaler Anpassungsbeweglichkeit in einer ließenden Organisation. Keine steifen Stellenbeschreibungen, sondern kurzfristig anpassbare Rollenskripte. Keine Aufgabendelegation oder Zielvereinbarungen, sondern Netzwerke mit Rollenverantwortlichen, die aus der Identiikation mit ihrer Verantwortung die richtigen Konsequenzen ziehen“ (Organisation im Fluss – ein radikal neuer Ansatz für die Zukunft, unter: www.leistungskultur.eu). Zukunftsinstitut I Die neue Wir-Kultur Führung heißt, andere erfolgreich machen Dr. Wolfgang Saaman, Unternehmer und Autor 91 Das Neue entsteht an den Rändern BROKER Innovation entsteht besonders an den Rändern eines Netzwerks In in den Zentren der Netzwerke wird Unte neenuu geschaffen und weitergegeben BROKER Personen, die Netzwerke überbrücken, neue Kommunikationswege etablieren und somit verschiedene Wissensressourcen zusammenführen CENTRAL CONNECTOR Menschen, die am besten vernetzt sind und andere oft in Sachen Fachwissen oder Entscheidungshilfe beraten Quelle: University of Virginia, McKinsey PERSPEKTIVE 5 Das Ich als Knotenpunkt von Beziehungen. Netzwerkforschung Um mehr von der Welt der Netzwerke zu verstehen, hat sich in den letzten Jahren eine ganz neue und eigenständige Wissenschaft ausgebildet: die Netzwerkforschung. Sie hat sich zu einem interdisziplinären und internationalen Forschungsprogramm entwickelt. Soziologie, Ethnologie, Kognitionswissenschaften, Physik, Wirtschaftswissenschaft und andere Disziplinen erforschen theoretisch und empirisch Beziehungsgelechte zwischen individuellen und kollektiven Akteuren aller Größe und Art (Stegbauer/Häußling 2010, S.571; siehe auch Watts 2004). Die grundlegende Einsicht: Akteure existieren weder eindimensional noch isoliert. Sie sind vielmehr Knotenpunkte in Netzwerken (vgl. ebd., S.57). Ihre Handlungsfähigkeit und ihr Einluss ergeben sich maßgeblich aus ihrem Vernetzungsgrad 92 sowie aus ihrer Position im Netzwerk. Obwohl man vielmehr von Positionen und Netzwerken im Plural sprechen muss. Denn jeder Einzelne gehört parallel zahlreichen Netzwerken und somit mehreren ‚Wirs‘ gleichzeitig an. Damit werden den Individuen unterschiedliche Handlungsspielräume und Entfaltungsmöglichkeiten eröfnet. Zugleich führt das Vernetztsein aber auch zu Widersprüchen, Spannungen und Ambiguitäten. Etwa in Bezug auf die eigene Identität: „Wer bin ich und wenn ja wie viele?“ (Precht 2007) lautet die paradigmatische Frage. Wie viele Selbstbilder kann ich in Netzwerken am Laufen halten und inszenieren? Aktive Identitätsarbeit wird zu einer neuen Aufgabe in netzwerkainen und netzwerkbedingten Zeiten (Schroer 2010). Außerdem können Rollen- und Positionskonlikte entstehen, wenn sich verschiedene Netzwerke und Positionen überschneiden. So muss etwa ein Arzt lernen, mit unterschiedlichen Erwartungen umzugehen, die etwa von Zukunftsinstitut I Die neue Wir-Kultur Seiten des Krankenhauses, der Krankenversicherungen, seiner Patienten oder seiner Freunde an ihn gerichtet werden. Angemessenes „Beziehungsmanagement“ (Holzer 2009, S.269) zu betreiben ist deshalb eine zweite zentrale Anforderung, bei der sich das Individuum die verschiedenen Verlechtungen bewusst machen muss. Dies wird im Zuge technologischer Innovationen weiter verstärkt, die bis dato eindeutige Grenzziehungen verschwimmen lassen: Kann ich etwa meine Vorgesetzte auf Facebook ‚als Freundin‘ anschreiben? Oder wirken sich meine auf Facebook geposteten Fotos auf andere von mir betriebene Netzwerke aus? Das Neue entsteht an den Rändern Die Netzwerkforschung hat mittlerweile ein diferenziertes Analyseinstrumentarium entwickelt, um Netzwerke nach Dichte, Ausweitung und Qualität zu beschreiben und zu diferenzieren. So unterscheidet sie zwischen starken und schwachen Beziehungen (‚strong ties‘, ‚weak ties‘), einseitigen und wechselseitigen Verbindungen (‚Kanten‘), ,Knoten‘ und ,strukturellen Löchern‘. Eine wichtige Erkenntnis ist, dass sich Neues weniger in den Zentren von Netzwerken, sondern vielmehr an seinen Rändern entwickelt. Etwa, indem zwei Netzwerke durch einen ,Broker‘ überbrückt und neue Kommunikationswege etabliert werden. Auf diese Weise werden verschiedene Wissensressourcen zusammengeführt. Burt (2004) zeigte in einer Studie über ein größeres Elektrounternehmen, dass die Überbrückung von ‚strukturellen Löchern‘ – also Kommunikationsleerstellen zwischen Abteilungen – innerhalb eines Unternehmens kreative Prozesse begünstigt. Die Akteure, die an den neu entstandenen Schaltstellen saßen, konnten sich zudem einen strategischen Vorteil im Vergleich zum Rest der Belegschaft verschafen. Je wichtiger und präsenter soziale Netzwerke werden, desto stärker treten auch neue Dimensionen sozialer Ungleichheit in den Vordergrund. Heruntergebrochen könnte man sagen: ‚Wer hat, dem wird gegeben.‘ Kontaktchancen zwischen einzelnen Knotenpunkten sind nicht gleich, sondern ungleich verteilt (Holzer 2009, S.256). Wie Barabási (2002) mithilfe mathematischer Modelle herausarbeitete, inden Monopolisierungsprozesse statt, bei denen sich diejenigen noch mehr vernetzen, die ohnehin schon bestens vernetzt sind. Dabei spielt insbesondere das Netz von ‚weak ties‘ eine Rolle – also punktuelle Kontakte zu Akteuren aus verschiedensten ‚Informationszirkeln‘ (vgl. Granovetter 1973). Dies zeigt sich etwa an „kosmopolitischen Eliten“ (Beck 2004) wie der Digitalen Avantgarde, wie sie das Sinus Institut (2013) ermittelt hat. Diese seien „mental und geograisch mobil“ und „online und oline vernetzt“ (ebd.). Die Akteur-Netzwerk-heorie als eine Spielart der Netzwerkforschung untersucht nicht nur die Verbindungen zwischen Menschen, sondern auch die zwischen Mensch und Technik, die längst irreversible Einheiten bilden (Latour 2010). Telefon, Computer, Smartphones und Internet etwa haben sich nicht nur mit unserem Denken, Handeln, Spielen und Arbeiten verschaltet. Sie beeinlussen auch, auf welche Weise wir miteinander in Kontakt treten und welche Form von Beziehungen wir aufbauen (hielmann/Schüttpelz 2013). Andersherum bestimmt die Art, wie wir uns kulturell etwas aneignen, auch darüber, 93 DER HOMO SOCIALIS wie Technik weiterentwickelt wird. Technik und Menschen stehen somit in direkter Wechselwirkung und bilden in ihrem Zusammenspiel neue Formen von Sozialität aus. Wenn wir also über neue ‚Wir‘-Formen nachdenken, dann müssen wir über die Individuen hinaus auch materielle Vermittler wie Technik einbeziehen. Wie lässt sich Kooperation fördern? Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem Internet und dem menschlichen Geist beschäftigt auch den in Yale forschenden Medizin- und Soziologieprofessor Nicholas A. Christakis. Bekannt wurde er 2011 durch sein zusammen mit James Fowler publiziertes Buch „Connected: he Surprising Power of Our Social Networks and How hey Shape Our Lifes“. Christakis interessiert sich in seinen Forschungen vor allem dafür, welche tiefen Beziehungen es zwischen der Struktur eines sozialen Netzwerks und menschlichem Verhalten gibt. Gemeinsam mit David Rand und Sam Arbesman experimentierte Christakis damit, bis zu welchem Grad man die menschliche Grundtendenz zur Kooperation bewahren kann. Lässt man in einem Netzwerk nämlich einfach alles laufen, so die Erfahrung, kehren selbst kooperationswillige Teilnehmer schnell wieder zu Eigennutz zurück. Viele stellen ihre eigene Kooperation in Frage und beenden aus Angst, dass andere sie übervorteilen, die Zusammenarbeit. Die Mitspieler reagieren schnell genauso – so dass in kurzer Zeit gar niemand mehr kooperiert. In einem Experiment rekrutierten sie deshalb gegen Bezahlung Mitspieler über 94 die Online-Plattform Amazon Mechanical Turk. Die Mitspieler wurden dann in verschiedene virtuelle Welten eingeladen. In einer wurden sie rein zufallsgesteuert in ein Netzwerk eingebunden. Obwohl zu Beginn rund 65 Prozent von ihnen kooperierten, brach die Kultur von Kollaboration innerhalb kürzester Zeit in sich zusammen. Denn die Probanden konnten nicht kontrollieren, wer ihre „Nachbarn“ waren. In der anderen Variante dagegen bekamen die Mitspieler die Erlaubnis, den Kontakt zu Mitspielern abzubrechen, die sie über den Tisch gezogen hatten – und den Kontakt zu den Mitspielern zu verstärken, die mit ihnen kooperiert hatten. In dieser Variante des Experiments gedieh die Kultur der Kooperation auch über die Zeit hinweg. Das Fazit der Forscher: In einem Umfeld, in dem man Menschen erlaubt, ihre sozialen Bindungen zu steuern und aktiv auszubilden, kann Kooperation sich durchsetzen. Wie geht es weiter mit dem Wir? Was folgt nun aus all den Experimenten und Erkenntnissen der Wissenschaftler unterschiedlichster Couleur? Mit Blick auf die ganz reale Aufgabe als Unternehmen, Organisation oder auch als Einzelne, unsere Zukunft zu gestalten und dafür mit mehr Wir experimentieren zu wollen, können wir folgende Schlüsse ziehen: Zukunftsinstitut I Die neue Wir-Kultur Trend-Learning 1. Kooperation scheint ein natürliches menschliches Verhalten zu sein. Oder wie es der Hirnforscher Manfred Spitzer bei einem Vortrag über soziale Neurowissenschaften im September 2014 beim Symposium „turmdersinne“ formulierte: „Dass die Menschen besser als ihr Ruf zu sein scheinen ist nur eine der wichtigen neuen Erkenntnisse, die es in unser Menschenbild und unsere Institutionen einzugliedern gilt.“ Die Weiterentwicklung unserer Weltbildes ist also wichtige Basisarbeit. 2. Kooperationsbildung hängt von den Umweltbedingungen ab. Es macht einen wesentlichen Unterschied, ob die Kooperationspartner bekannt oder unbekannt sind und ob man sie sich aussuchen bzw. iltern kann. Eine gemeinsame Kultur ist ein wesentlicher Erfolgsfaktor für Kooperationen. Ressourcen zu investieren, um sie zu entwickeln, macht daher viel Sinn. 3. Besonders in wettbewerbsorientierten Umfeldern (wie in Unternehmen) lassen sich Wir-Formate nicht installieren, sondern höchstens einladen. Dafür muss sich auch unser Blick verändern: Statt den Einzelnen zu beobachten, geht es darum, den Fokus auf die Beziehungen und Vernetzungen zu erweitern. Welche informellen Verbindungen bestehen – und welche davon wachsen? Welche Abteilungen und Ebenen in einem Unternehmen stehen (noch) nicht miteinander im Austausch? Welche Überschneidungen und ggf. Rollenkonlikte ergeben sich damit an stark frequentierten Knotenpunkten, d.h. besonders vernetzten Positionen? 4. Einladungen zum Wir müssen auf mehreren Ebenen erfolgen. Dazu gehören Rituale, die Zusammenarbeit fördern, aber auch Orte für (informelles) Beisammensein. Im besten Fall sind diese informellen Ebenen mit den formellen widerspruchsfrei gekoppelt: Boni würde dann der erhalten, der zum Wir beiträgt und nicht nur Einzelerfolge erzielt. Funktionierende Wirs sind also voraussetzungsreiche und komplexe Gebilde, die mehr brauchen als rein technische Vernetzung. Um sich vom „Enterprise 2.0“-Unternehmen zu einem „kollaborativen Hub“ zu entwickeln, müssen Bewusstseinsprozesse, Entwicklungsimpulse und Feedbackschleifen gefahren werden. Wie das gelingen kann, zeigt das folgende Kapitel. 95 DER „WIR“IMPERATIV To-dos für die Zukunft. Für Macher und Umsetzer 96 Zukunftsinstitut I Die neue Wir-Kultur Mehr „Wir“ wird zur Grundlage eines neuen Innovationsund Arbeitsansatzes. Was aber ist zu tun, um aus Zufällen oder Einzelaktionen ein Wir-getriebenes Unternehmen zu machen? Ansätze für eine Wir-Gesellschaft der Zukunft. Die Liste von „Wir-Initiativen“ ist lang: Es werden Dialoge und Barcamps in Organisationen eingeführt, Vernetzung über Silos hinweg erprobt, gemeinsame Lernreisen gestartet, mit Open Innovation experimentiert und Kundenforen eingeführt. Viele der Initiativen führen jedoch nicht zum Ziel, jedenfalls nicht wie gedacht. Der Dialog erreicht die Mitarbeiter nicht. Open Innovation scheitert an der alten Gewohnheit, das eigene Wissen für sich zu behalten, und Co-Producing löst Kommunikationslawinen aus und fordert einen Grad von Transparenz, den man nicht zuzulassen bereit ist. Eine Ökonomie der Kollaboration ist an vielen Stellen ein frommer Wunsch, der die gewachsene Struktur traditioneller Unternehmen oft überfordert und von Mitarbeitern Kompetenzen erwartet, die sie nicht haben. Wie also kommen wir zu mehr Wir-Kompetenz? Wie können sich gute Wirs entwickeln? Wie lernen wir, gemeinsam zu lernen – in Organisationen und als Individuen? Punkt 1: Mehr Wir verspricht zwar Innovation und Schnelligkeit, braucht aber auch Investitionen. Da drängt sich schnell die Frage auf: Lohnt sich das? Sollten wir wirklich kollaborativer werden – oder ist es nicht kräftesparender, im alten Stil weiterzuarbeiten? Dass wir uns mehr Kollaborationskompetenz aneignen müssen, davon ist Terry Young, Gründer und CEO der Innovationsagentur Sparks & Honey, überzeugt. Er sieht die kollaborative Ökonomie als Blaupause für die Zukunft. 97 TO-DOS FÜR DIE ZUKUNFT Was wir gerade erleben, meint er, sei erst der Anfang. Die kollaborative Ökonomie stecke noch in den Kinderschuhen, sie sei heute gerade einmal so weit entwickelt wie Social Media vor zehn Jahren. Am Horizont sieht er deswegen schon einen neuen Prototyp von Mitarbeiter entstehen, der sich in der kollaborativen Ökonomie gut bewegen kann. Er ist beziehungsstark, ankopplungsfähig und kommt gut in Gemeinschaftskonstrukten zurecht. Dass das Eigenschaften sind, die längst nicht alle haben, ist Young klar. Daher sieht er einen Gap entstehen zwischen denen, die aktiv an der kollaborativen Ökonomie teilnehmen, und denen, die das nicht tun (siehe Young 2013). Dass die Fähigkeit zur Vernetzung und Ankopplung an viele Schnittstellen eine wichtige Zukunftskompetenz ist, glaubt auch Ursula Schwarzenbart. Sie verantwortet das Talent Management bei der Daimler AG und ist Chief Diversity Oicer des Konzerns. Im Interview mit dem Online-Magazin Saal Zwei sagt sie: „Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die unsere Unternehmen in Zukunft gestalten sollen, brauchen vor allem eines: Matrix-Fähigkeit.“ Denn Organisationen werden ihrer Ansicht nach zunehmend mehrdimensional. Mitarbeiter haben mehrere Weisungsbeziehungen und zusätzlich noch einen Chef im eigenen Bereich. Das notwendige Wissen und die nötige Flexibilität und Gewandtheit könne keiner mehr alleine aufbringen. Diese Aufgaben sind nur in Hochleistungs-Teams zu lösen: Teams, die gemeinsam ein Potenzial bilden, das größer ist als die Summe aller Individuen (Schwarzenbart 2014). Den Umschwung vom „Egosystem-Bewusstsein“, konzentriert auf das Eigenwohl, zum „Ökosystem-Bewusstsein“, ausgerichtet 98 auf das Wohl aller, das Gemeinwohl, hält auch MIT-Forscher Otto Scharmer für absolut notwendig. „Wenn wir aus einem Egosystem-Bewusstsein heraus handeln, werden wir von den Interessen und Zielen unseres kleinen Ego-Selbst gesteuert. Wenn unser Handeln auf einem ÖkosystemBewusstsein basiert, dann werden unsere Impulse von unserem werdenden oder höheren Selbst angetrieben – das heißt, von einem Interesse, das sich am Wohl des Ganzen orientiert“, schreibt er in seinem neuen Buch „Von der Zukunft her führen – von der Egosystem-Wirtschaft zur Ökosystem-Wirtschaft“ (Scharmer/Käufer 2014). Der Autor und Gründer des „Presencing Instituts“ entwickelt damit seine „heory U“ weiter, mit der er seit Jahren als Berater arbeitet. Einer ihrer Kernpunkte ist, dass es eine andere Bewusstheit braucht, um von der Zukunft her führen zu können und sich tatsächlich neu aufzustellen: das sogenannte „Presencing“. Das Wort setzt sich aus den englischen Begrifen „presence“ (Anwesenheit) und „sensing“ (fühlen) zusammen und beschreibt einen inneren Zustand von Bewusstheit, in dem sich Potenziale und Zukunftschancen gemeinsam erkennen und erschließen lassen. Fähigkeiten für die Netzwerkökonomie Punkt 2: Für die Netzwerkökonomie muss sich neben Organisationen und Teams auch jeder Einzelne neu aufstellen. Denn die mentale und emotionale Software aus dem Industriezeitalter mit seinen Hierarchien gerät an ihre Grenzen, wenn es um die Ofenheit, Transparenz und das notwendige Co-Creating in vernetzten Strukturen geht. Wovon müssen wir also mehr lernen? Kooperation, Kollaboration und Sharing sind im privaten Leben weit verbreitet. Die kollaborative Ökonomie hingegen steckt noch in den Kinderschuhen. Zukunftsinstitut I Die neue Wir-Kultur 99 Foto: Flickr, Kevin Krejci, CC-BY-2.0 TO-DOS FÜR DIE ZUKUNFT Daniel H. Pink schrieb schon 2008 in seinem Buch „Unsere kreative Zukunft: Warum und wie wir unser Rechtshirnpotenzial entwickeln müssen“: „Die Zukunft gehört einer anderen Sorte Mensch, mit anderer Denkweise; Gestaltern und Empathikern, Mustererkennern und Sinnstiftern“ (ebd., S.11). Die sechs Fähigkeiten, von denen berulicher Erfolg und persönliche Zufriedenheit in immer stärkeren Maß abhängen, sind für ihn Design, Erzählkunst, Symphonie, Empathie, Spiel und Sinn. Zwar schreibt er das nicht speziisch für die Netzwerkökonomie, aber die hier aufgelisteten Fähigkeiten für Kollaborativ-Arbeiter klingen sehr ähnlich. WIR-REGELN 1 Differenzierte Selbstwahrnehmung entwickeln Die Herausforderung: Kommunikation ist der Rohstof der Netzwerkökonomie. Sich mit anderen zu verbinden, Koalitionen einzugehen, gemeinsam schnell auf den Punkt zu kommen – auch über Status- und Hierarchiegrenzen hinweg – ist unabdingbar. Wer in seinem Arbeitsleben in traditionell hierarchischen Strukturen aufgewachsen ist, hat das oft anders gelernt und eher taktisches Vorgehen und politisch versiertes Karrieredenken geübt. Je mehr Koalitionen, Kooperationen und Co-Aktivitäten es in Zukunft gibt, desto klarer muss die eigene Kommunikation werden. Die Grundvoraussetzung dafür ist eine gute Selbstwahrnehmung sowie ein kongruentes Selbst- und Fremdbild. Das Lernfeld: Speziell Führungskräfte brauchen ein hohes Maß an Selbstkenntnis und Selbstrelektion. Das ist in der 100 Vernetzungsdichte des 21. Jahrhunderts noch wichtiger geworden. Das sagt Manfred Kets de Vries, Professor für Leadership Development & Organisational Change an der Kaderschmiede INSEAD in Fontainebleau. Manager müssen seiner Ansicht nach ein hohes Maß an Bewusstheit darüber haben, warum sie handeln, wie sie handeln, wie ihr Verhalten andere beeinlusst und wie es von ihnen wahrgenommen wird (Kets de Vries 2014). Dass Führungskräfte vermehrt an ihrer persönlichen Entwicklung arbeiten müssen, um für die Welt von morgen gewappnet zu sein, glaubt auch Berater Barret Brown. Für seine Studie „he Future of Leadership for Conscious Capitalism“ hat er vor allem mit denjenigen gesprochen, die sich mit komplexen Veränderungsprozessen beschäftigen. Viele von ihnen haben längst erkannt, dass das Gelingen ihrer Aufgabe vor allem eine Grundlage hat: Ich muss mich selbst verändern. Managern, die so arbeiten, ist es auch ein Anliegen, andere in ihrer Transformation zu unterstützen (Brown 2014). Die eigene Wahrnehmungskapazität in Bezug auf sich selbst und die Umwelt auszubauen und bewusst zu entwickeln ist auch ein hema bei der Welle der „Achtsamkeitstrainings“, die gerade durch die Wirtschaft läuft. Ein Beispiel ist das Netzwerk Achtsame Wirtschaft, das Schüler des ZenMeisters hich Nhat Hanh gegründet haben (achtsame-wirtschaft.de). „Gemeinsam eine achtsamere Wirtschaft zu schafen, jeder an seinem Platz und mit seinen Talenten, dazu lädt das Netzwerk Achtsame Wirtschaft ein“, heißt es auf der Website. Und: Achtsamkeit ist kein Konzept oder „Tool“. Es ist ein Geisteszustand, der unsere Perspektive auf die verschiedensten Prozesse des Wirtschaftens umfassend verändern kann. Zukunftsinstitut I Die neue Wir-Kultur Praxis-Check: Eine komplexe Welt braucht andere Führungskräfte mit neuen Fähigkeiten. Wer sich nicht entwickelt, fällt heraus. Doch trotz aller Anstrengungen von Veränderungsagenten, internen Beratern und Personalentwicklern bleibt in vielen Organisationen alles beim Alten – solange die Zahlen stimmen. Denn Selbstwahrnehmung, Selbstrelektion und die Arbeit am eigenen Ich ist nicht für jeden attraktiv. Vor allem dann nicht, wenn einem nicht gefällt, was man in sich entdeckt. Besonders narzisstisch inizierte Manager, Organisationen und Unternehmen stehen dem hema persönliche Weiterentwicklung deswegen kritisch gegenüber. WIR-REGELN 2 Empathie – die Kunst des Einfühlens üben Die Herausforderung: Mit je mehr Welten man bei Kooperationsprojekten und Kollaborationen in Kontakt kommt, desto besser müssen die eigenen Fähigkeiten zur Ankopplung werden. Für sinnvolle Zusammenarbeit muss es möglichst schnell gelingen, die Kommunikations- und Entscheidungskontexte der anderen zu erfassen und zu verstehen. Auch das ist kein Skill, der im klassischen Unternehmen gelernt wird. Im Gegenteil. Rekrutiert wird dort trotz aller Diversity-Beschwörungen oft nach dem Prinzip der Selbstähnlichkeit: In der Organisation ist genau der Typ Mensch willkommen, den es dort schon immer gab. Die Unternehmenskultur bleibt damit stabil, die Fähigkeit zur Anpassung an andere und fremde Denk- und Handlungsmuster dagegen unterentwickelt. Einfühlung und Empathie müssen dann erst gelernt werden. Das Lernfeld: Empathie lässt sich naturwissenschaftlich beobachten. Da ist dann von Spiegelneuronen die Rede, die Resonanzen auf das Fühlen und Wollen anderer Menschen erzeugen. Oder es lässt sich als trainierbarer Skill verstehen („Empathietrainings“). Zuhören kann dabei durchaus die erste Stufe von Empathie sein – vorausgesetzt, es geht nicht um ein „Herunterladen“ bestehender Muster und Urteile („ja, ja, ich weiß schon“) oder um rein faktisches Zuhören, sondern um „empathisches Zuhören“. Das ist die Fähigkeit, sich in die Rolle des Gesprächspartners zu versetzen. Man hört von einem anderen inneren Ort aus zu – und der Fokus verschiebt sich von Dingen und Fakten (der „Es-Welt“) hin zum lebenden und sich entwickelnden Selbst (der „Du-Welt“). Man „erspürt“ den Punkt, aus dem heraus der andere handelt (Bertelsmann-Stiftung o.J.). Wie das geht, erforscht die Soziale Neurowissenschaft. „Man untersucht nicht mehr, wie der Einzelne fühlt und denkt – sondern wie das Gehirn weiß, was andere fühlen und denken“, sagt Tania Singer, Direktorin des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig (Heuser 2013). „Wenn zum Beispiel im Laufe ökonomischer Geldspiele jemand unfair spielt oder wenn jemand nicht zur eigenen, sondern zu einer fremden Gruppe gerechnet wird, und diese Personen nun Schmerzen erleiden, zeigt sich eine verringerte mitfühlende Reaktion im Gehirn.“ Empathie, so weiß sie, lässt sich gut üben: „Bei Erwachsenen (kann man) Mitgefühl trainieren, was mit einer Steigerung des Wohlbeindens … einhergeht.“ Das reduziert dann auch Stress. Am hema geforscht hat Singer unter anderem 101 Führung meint: Eine Welt so zu gestalten, dass andere ihr gern angehören möchten. Daniel F. Pinnow, Führungsexperte und Autor 102 Zukunftsinstitut I Die neue Wir-Kultur mit dem Workshop „How to train Compassion“, der 2011 im Studio des bekannten Künstlers Olafur Eliasson in Berlin stattfand. Von Psychotherapeuten über buddhistische Mönche bis hin zu Künstlern kamen damals Menschen mit unterschiedlichsten Blickwinkeln zusammen, um Mitgefühlstraining in all seiner Relevanz für unsere heutige Zeit und in verschiedensten Bereichen zu diskutieren (www.compassion-training.org). Natürlich gibt es auch für das Entwickeln von Empathie schon eine App: 20daystranger.com heißt sie. Entwickelt haben sie die Forschungsgruppe des MIT Media Lab „Playful Systems“ und das MIT Dalai Lama Center for Ethics and Transformative Values. Zwei Fremde teilen miteinander Eindrücke aus ihrem Leben und bleiben doch anonym. 20 Tage lang sehen sie, wohin der andere geht, was er macht und was ihn beschäftigt. Vor zu viel Hofnung in Bezug auf Empathie warnt dagegen Jan Slaby (2014), Philosoph an der Freien Universität Berlin. Außer in sehr einfachen Fällen sei das empathische Perspektivenwechseln einfach unmöglich (Slaby 2014, siehe auch Lenzen 2014). Schon die eigenen Gedanken durch Introspektion zu erkennen sei sehr beschränkt, die eines anderen durch einen empathischen Perspektivenwechsel zu entdecken fast unmöglich. Empathie sei insofern kein Erkenntniswerkzeug, sondern eine soziale Praxis. Es gehe nicht darum, sich über den anderen, sondern sich mit ihm zusammen Gedanken zu machen (ebd.). Wenn Empathie aber eine soziale Praxis ist, muss sie gelernt und entwickelt werden. Rituale und Orte des empathischen Miteinanders müssen dann systematisch ins Unternehmen implementiert werden, damit diese Praxis zur alltäglichen Erfahrung und Realität wird. Dass man Empathie so früh wie möglich erlernen sollte, inden Daniel Golemann, Autor von „Emotionale Intelligenz“ und „Soziale Intelligenz“, und Peter Senge, Organisationsberater und Autor von „Die fünfte Disziplin“. In ihrem neuen gemeinsamen Buch „he Triple Focus: A New Approach to Education“ (2014) fordern sie, dass man Kindern möglichst früh Selbstwahrnehmung und Empathie beibringen müsse. Das resultiere in besseren schulischen Leistungen, schnellerer persönlicher Entwicklung und besseren Beziehungen. Der dritte Fokus liegt für sie übrigens darin, zu lernen, ein gutes Verständnis für den größeren Kontext zu entwickeln, in dem man agiert. Praxis-Check: Empathie war – und ist in den Köpfen vieler traditioneller Führungskräfte noch immer – eine Fähigkeit, die sich nur Schwache aneignen müssen. Alle anderen haben die Macht, ihre eigenen Vorstellungen durchzusetzen. Doch die alte Wirklichkeit bekommt Risse. Führungskräfte sollen beim Coach Einfühlungsvermögen lernen, Recruiter suchen bei der Einstellung vermehrt nach Menschen mit einer „Attitude“ statt nur mit guten Fachkenntnissen, und Personalentwickler haben zunehmend ein Auge auf die Ankopplungsund Kontaktfähigkeit derjenigen, die in Zukunft mehr Verantwortung tragen sollen. Während viele Sozialunternehmer, MikroEntrepreneure und Mitarbeiter in der neuen Netzwerkökonomie davon leben, sich schnell und gut auf andere Welten einstellen zu können (und zu wollen), herrscht in traditionellen Unternehmen oft noch das Motto „Ober sticht Unter“. 103 Klassisches Modell der Innovation UNTERNEHMEN Quelle: Zukunftsinstitut MARKT Umsetzungsentscheidung Forschung Entwicklung Zeit WIR-REGELN 3 Vertrauen in den ZwischenRaum gewinnen Die Herausforderung: Wir-Vertrauen ist nicht einfach. Ob beim selbstgesteuerten Lernen in Communities of Practice, Mentoring-Beziehungen, frei verfügbarer Arbeitszeit, um im Team neue Projekte anzuschieben, oder Open Innovation über die Unternehmensgrenzen hinweg: Wann immer Verantwortung an selbstorganisierte „Wir-Konstrukte“ übergeben wird, wächst zunächst die Unsicherheit. Je mehr Kontrolle man abgibt, desto mehr Fluss und Innovation kann entstehen. Gleichzeitig hat man es mit ergebnisofenen Prozessen zu tun, die oft keinen klaren Verantwortlichen mehr haben. Das steht im Widerspruch zur klassisch ökonomischen Logik, die eine eindeutige Zurechenbarkeit von Gewinn und Verlust fordert und persönliche Zuständigkeiten braucht. Solange 104 aber nur der eigene Umsatz zählt, machen sinnvolle Initiativen, wie zum Beispiel das in vielen Unternehmen geforderte „Cross Selling“, also das Verkaufen von Produkten und Dienstleistungen anderer Bereiche, nur bedingt Sinn. Das Denken in größeren Bezügen lohnt sich schlicht und einfach nicht – und das Scheitern von Gemeinschaftsinitiativen ist vorprogrammiert. Was wir deshalb alle gemeinsam entwickeln müssen, ist Vertrauen in die Intelligenz des Wir – allerdings kein blindes. Das Lernfeld: Vertrauen ist ein messbarer ökonomischer Erfolgsfaktor, sagt Stephen Covey in seinem Buch „Schnelligkeit durch Vertrauen – Die unterschätzte ökonomische Macht“ (2010, S.27). Und dabei geht es nicht nur um Soft Factors: Charakter, Integrität und die Motive, die man anderen gegenüber hegt. Vertrauen, so Covey, muss auch auf Kompetenz beruhen. Niemand vertraut jemandem, der keine Ergebnisse bringt (ebd., S.45). Zukunftsinstitut I Die neue Wir-Kultur Open-InnovationPrinzip Quelle: Zukunftsinstitut Freie Version CommunityInput Externe Entwicklung UNTERNEHMEN Beta-Version MARKT PatentEinkauf Forschung In Bezug auf Wir-Konstruktionen gilt das ganz besonders, denn ein ofener und vertrauensvoller Umgang mit dem Wir muss gelernt werden. Der Kodex der „OpenSource-Welt“ und reale Projekterfahrungen können dieses Lernen beschleunigen – und kulturverändernd wirken. Denn kollaborative Ansätze brauchen jede Menge Transparenz und Freigiebigkeit von Informationen; außerdem fördern sie Verantwortung, denn meistens entscheiden die, die am meisten beitragen. Das sind für viele Organisationen ungewohnte Spielregeln. In Open-Innovation-Projekten lassen sie sich gut studieren. IBM zum Beispiel instruierte seine Ingenieure in einem Open-Source-Projekt erst einmal, ein paar Wochen zu „lurken“, also passiv zuzuschauen, bevor sie aktiv wurden. Sie sollten die Kultur der Online-Community, an der sie sich beteiligen wollten, erst einmal verstehen und deren implizite und explizite Regeln erlernen (Gabor 2009). Umsetzungsentscheidung Lizenz für Weiterverwendung durch Dritte Entwicklung Zeit Vertrauen ins Wir entsteht auch daraus, dass man mehr darüber lernt, wie man die Potenziale von Gruppen hebt und ihre Intelligenz anzapft. Denn es gibt tatsächlich so etwas wie eine „Gruppenintelligenz“, die sich messen lässt. Das sagt der MITForscher homas Malone, der dort auch das Center for Collective Intelligence leitet. Die Gruppenintelligenz ist jedoch nur schwach geprägt von der Intelligenz der dazugehörigen Menschen. Eine Gruppe schlauer Menschen ist gemeinsam nicht unbedingt schlau. Drei Dinge, so fand das Forscherteam um Malone heraus, heben die Potenziale einer Gruppe, so dass sie intelligent wird. Erstens ist das der Grad an sozialer Wahrnehmungsfähigkeit. Gemessen wurde das mit einem Test, bei dem man Augen anderer Menschen sieht und einschätzen muss, was sie fühlen. Je mehr Leute in der Gruppe diese Fähigkeit hatten, desto intelligenter war sie. 105 TO-DOS FÜR DIE ZUKUNFT Zweitens korreliert die Gruppenintelligenz damit, ob sich die Mitglieder zu etwa gleichen Teilen an gemeinsamen Diskussionen beteiligt haben. Wenn nur ein oder zwei Mitglieder die Gruppe dominierten, war sie weniger schlau. im postheroischen Zeitalter angekommen. Die Motivation für Führung besteht nur allzu oft noch darin, etwas Besonderes zu sein und sich eine herausgehobene Stellung zu verschafen. In Deutschland allerdings scheint sich das Blatt langsam zu wenden. Eine signiikante Korrelation gab es auch zwischen der Gruppenintelligenz und dem Anteil der Frauen. Das hängt allerdings damit zusammen, dass die Frauen eben auch diejenigen sind, die im Allgemeinen eine geschultere soziale Wahrnehmungsfähigkeit haben (Malone 2013). Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) beauftragte unlängst eine Studie zu „Guter Führung“. Prof. Peter Kruse und sein Team von nextpractice befragten dazu 400 Führungskräfte. Das Ergebnis: „Sie hadern mit einer Kultur, die aus ihrer Sicht zu sehr auf hierarchischen Vorgaben und strikter Kontrolle beruht, in der Macht- und Gewinnstreben zu stark im Mittelpunkt steht“, schreibt Die Zeit im Oktober 2014 unter dem Titel „Macht Euch locker!“ Doch so einig man sich in der Kritik ist, so uneinig ist man sich in Bezug auf eine gemeinsame Vision. Die Vorstellungen von guter Führung gehen noch weit auseinander, zitiert Die Zeit aus der Studie. Führungskräfte, die die Intelligenz der Gruppe hervorlocken wollen, müssen allerdings mehr als nur vertrauen. Sie sind gefordert, sich selbst in einem neuen Licht zu sehen und ihre eigene herausgehobene Rolle in Frage zu stellen. Führungskräfte sind in neuen Organisationen unwichtiger und wichtiger zugleich, formuliert es Frederic Laloux, Ex-McKinsey-Berater, der 2015 sein Buch „Reinventing Organizations“ herausbringt. Zum einen, so Laloux, sind sie leichter wegzudenken, weil das System auf mehr Personen ruht als nur auf der einen Spitze und sie Prozesse der kollektiven Intelligenz mittragen und sich beteiligen müssen. Zum anderen spielen sie eine wesentliche Rolle, da sie ständig den Raum schafen und wahren müssen, damit diese Praktiken ihren Platz inden. Persönlich ist das eine herausfordernde Arbeit: „Für Führungskräfte stellt sich die Frage, wie sehr sie ihr Ego im Grif haben, wie angstfrei sie generell sind und wie viel Kontrolle sie bereit sind aufzugeben“ (Laloux 2014). Für viele ist das eine immense Herausforderung, denn der Mainstream ist noch längst nicht 106 Praxis-Check: Es gibt ökonomische Argumente gegen mehr Wir in Unternehmen, die nicht von der Hand zu weisen sind. Das hat mit der Verantwortlichkeit für Ergebnisse zu tun. Welche Kostenstellen zahlen Integratoren oder Konnektoren? Wer traut sich, in die Verantwortung zu gehen für kollaborative, ergebnisofene Prozesse? Und was passiert, wenn es nicht so läuft wie erwartet? Die Angst vor Kontroll- und Machtverlust ist nachvollziehbar und lässt sich nicht einfach wegwischen. Ein guter Grund, warum es in traditionellen Unternehmen in Sachen Kollaboration in der Realität oft nur bei Lippenbekenntnissen bleibt. Der Umgang mit Unsicherheit im Management ist nicht geübt. Wahrscheinlich brauchen wir da für die Zukunft noch ein bisschen Chaoskompetenz und Lust am Experimentieren. Was eine Gruppe schlau macht Zukunftsinstitut I Die neue Wir-Kultur SOZIALE WAHRNEHMUNGSFÄHIGKEIT Menschen, die kontaktfreudig sind und offen auf andere zugehen, sowie Gefühle und Reaktionen anderer gut einschätzen können, tragen wesentlich zur Gruppenintelligenz bei. GLEICHSTELLUNG Die Gruppe ist schlauer, wenn alle Mitglieder an gemeinsamen Diskussionen gleichberechtigt teilnehmen können. Wenn hingegen ein oder zwei Mitglieder die Gruppe dominieren, ist die Gruppenintelligenz niedriger. ANTEIL DER FRAUEN Frauen verfügen im Schnitt über eine ausgeprägtere soziale Wahrnehmungsfähigkeit und sind somit ein wichtiger Faktor für Gruppenintelligenz. NEUE FÜHRUNGSKRÄFTE Es geht nicht nur um die Abgabe von Kontrolle: Führungskräfte haben die Aufgabe, ständig Raum zu schaffen und zu wahren, damit die Wir-Praktiken in der Gruppe genügend Platz erhalten. 107 TO-DOS FÜR DIE ZUKUNFT WIR-REGELN 4 Vernetzungskraft stärken Die Herausforderung: Wenn der Chef nicht mehr der Anführer ist, sondern stärker in seiner Funktion als Gastgeber, Moderator und Vernetzer gefragt ist, bekommt er neue Verantwortlichkeiten. Er muss Gelegenheiten und Rahmen für sinnvollen Austausch und konstruktive Konfrontation schafen. Das sind nicht nur physische Orte und Events, sondern auch „Safe Places“ im psychologischen Sinn. Kreise, in denen man ofen, ohne Sanktionen und ohne Konkurrenz im Nacken sprechen kann und in denen auch mal Emotionen und gemeinsames Nicht-Wissen Platz haben. Das Lernfeld: Eine reine Macher-DNA, wie im Industriezeitalter üblich, ist für eine Gastgeberfunktion eher hinderlich. Es geht nicht nur darum, selbst zu pushen, sondern die vorhandenen Kräfte zu orchestrieren und intelligent zu verbinden. „Es gibt bei uns den starken Wunsch nach Settings, die Vernetzung ermöglichen, und zwar nicht nur auf der Sachebene“, berichtet eine interne Organisationsentwicklerin aus der Automobilbranche. Dort bemüht man sich, Organisationsformen so anzulegen, dass man gezwungen ist, mehr zusammenzuarbeiten. Das ist kein Einzelfall. So mancher Change-Prozess nimmt den bisherigen „Landesfürsten“ in Unternehmen ihre angestammten Herrschaftsbereiche weg und würfelt sie bewusst durcheinander, mit all dem Widerstand, der daraus entsteht. Mehr Vernetzung ruft daher auch nach einem neuen Prototyp von Führungskraft. Integer, emotional intelligent und authentisch, diese 108 Art of Hosting in Montreal Eigenschaften suchen zumindest manche Personalentwickler inzwischen bei denen, die als High Potentials eingestuft werden. Doch nicht nur für den Gastgeber ist mehr Wir eine Herausforderung, auch die Mitarbeiter zögern, wenn es um mehr Dialog, mehr Vernetzung und mehr Kollaboration geht. Die groß angelegte Dialoginitiative eines Dienstleistungskonzerns zum Beispiel stieß auf wenig Gegenliebe, denn sie war „nie die Sehnsucht der Mitarbeiter“, wie die zuständige Projektleiterin sagt. Vernetzungskraft besteht darin, angemessene Räume für Austausch zu schafen, aber auch die richtigen Menschen zu inden, mit denen das möglich ist. „It‘s Not the How or the What but the Who: Succeed by Surrounding Yourself with the Best“, heißt bezeichnenderweise das 2014 erschienene Buch von Claudio FernandezAaroz. Darin empiehlt er: „Um voranzukommen, muss man die besten Potenzialkräfte inden, sie auf die eigene Seite ziehen, Zukunftsinstitut I Die neue Wir-Kultur Foto: Flickr, percolabpaul CC-BY-NC-2.0 ins eigene Team bekommen, und ihnen helfen zu wachsen. Überraschenderweise kann das kaum jemand von uns.“ Wenn Raum und Gäste da sind, muss man gute Prozesse inden, mit denen sich ein partizipativer Führungsstil leben lässt. Wie man Menschen in einen guten Austausch bringt und kraftvolle Gespräche führt, kann man zum Beispiel bei „Art of Hosting“ lernen. Das global aufgestellte Netzwerk vermittelt Wege, um kollektive Weisheit anzuzapfen und die Fähigkeit zur Selbstorganisation von Gruppen jeglicher Größe zu nutzen (artofhosting.org/de). Wie man Austausch und Dialog gestalten kann, beschäftigt momentan viele Berater. Zumal eine solche Art der Verständigung durchaus im Widerspruch zu der Logik von Unternehmen steht. Hierarchische Umfelder sind für die Verwirklichung der Dialogidee äußerst ungünstig, sagt zum Beispiel der Berater Michael Rautenberg in seinem Buch „Der Dialog in Management und Organisation – Illusion oder Perspektive?“ Doch auch vordergründig wenig hierarchische Organisationen – da dürfe man sich keiner Illusion hingeben – könnten starke hierarchische Dynamiken entfalten, die ein „zartes Dialogplänzchen gegebenenfalls schnell eintrocknen lassen“ (2010, S.161). Praxis-Check: Vernetzungskraft hat viele Komponenten – die eigene Haltung, ein Gespür für Menschen und deren Potenziale und die Fähigkeit, gute Formate für Austausch und Zusammenarbeit zu inden. Besonders anspruchsvoll wird diese Arbeit, wenn man dafür zuständig ist, Menschen aus der alten hierarchischen und der neuen Netzwerkkultur zusammenzubringen und Weltbilder zu synchronisieren. Die ersten Berater machen damit schon Geschäfte. Der US-Dienstleister Crowdcompanies.com bringt zum Beispiel große Marken mit den innovativen kleinen Firmen der Crowd-Kultur zusammen und stellt Verbindungen her. 109 TO-DOS FÜR DIE ZUKUNFT WIR-REGELN 5 Kooperations-Gewohnheiten implementieren Die Herausforderung: Die Fähigkeit zu Kooperation und Kollaboration ist nichts, was man entweder hat oder nicht. Sie lässt sich erlernen und bewusst in Organisationen implementieren. Dazu ist allerdings ein umfassendes Bewusstsein für alle Faktoren nötig, die das Verhalten der Mitarbeiter beeinlussen – und die Weitsicht, auf allen Ebenen etwas zu verändern. Zum einen muss man an der Kultur der Organisation arbeiten, zum anderen ganz konkrete Praktiken und Prozesse wie zum Beispiel Boni für die Förderung anderer einführen. Erst dann wird Kooperation wirklich zu einer geltenden sozialen Norm. Sichtbar wird das unter anderem daran, dass sich mehr und mehr Wir-Redeweisen in der Sprache eines Unternehmens und in den Geschichten über sich selbst inden. Statt von „besiegen, punkten, bekämpfen und erobern“ ist dann vielleicht öfter die Rede von „gemeinsam, unterstützen, Cross-Selling und unsere Kunden“. Das Lernfeld: „Hot Spots“ nennt Lynda Gratton, Professorin für Management in London, Unternehmen, die vor Energie und Innovation nur so vibrieren. Damit ein Unternehmen in diesen Zustand kommt, braucht es mehrere Faktoren. Einer davon ist ein „Cooperative Mindset“, sagt Gratton. Darunter versteht sie die Erwartung, sich in unterstützender und kooperativer Art und Weise zu verhalten. Natürlich wäre es naiv zu glauben, dass man eine solche Kultur durch ein paar einfache Interventionen erzeugen kann. Im Gegenteil, sagt Gratton, erst indem 110 Annahmen, Praktiken, Normen, Sprache und Verhalten in einem andauernden Prozess sich untereinander bestärken, entsteht eine Kultur von Kooperation. Die Annahmen, die Führungskräfte über die Welt haben, sind besonders wichtig, weil sie ihr Verhalten beeinlussen und zu selbst erfüllenden Prophezeiungen führen: Wer an Wettbewerb als Steuerungsinstrument glaubt, wird Mitarbeiter zum Beispiel immer nur dann belohnen, wenn sie eigene Erfolge erzielen. Umgekehrt bedeutet das, so Gratton, dass man kooperatives Verhalten schlicht und einfach belohnen und letztlich bezahlen muss (Gratton 2007, S.43f.). Manager, die ihre Mitarbeiter zum Beispiel immer dann befördern, wenn sie brillante Einzelerfolge erzielen, brauchen sich nicht zu wundern, wenn die oizielle neue Unternehmensleitlinie zu mehr Wir-Kultur ergebnislos versandet. Auch das Recruiting wird vor diesem Hintergrund zu einer zentralen Aufgabe. Unternehmen, die zu „Hot Spots“ geworden sind, so Gratton, haben alle in lange Auswahlverfahren mit viel Feedback investiert, bei denen sowohl Senior Manager als auch Kollegen entscheidend mitreden durften (ebd., S.54). Ein anderer Erfolgsfaktor für ein „Cooperative Mindset“ indet sich oben in der Hierarchie: das Top-Management. Oder, wie es ein Organisationsentwickler aus seiner Erfahrung formuliert: Ohne Rollenvorbilder im Senior Management wird man keine Kultur der Kooperation „bauen“ können. Welche täglichen Aktionen eine kooperative Haltung unterstützen, beschreibt Gratton übrigens in ihrem Buch „Glow“ (2012). Dazu zählt zum Beispiel, realistische und positive Erwartungen an andere zu haben, bereit zu sein, Zukunftsinstitut I Die neue Wir-Kultur wertvolle Informationen mit ihnen zu teilen, diskret zu handeln, eine Sprache der Kooperation zu benutzen, konkrete Commitments zu geben und einzuhalten (ebd., S.11). Praxis-Check: Was zu tun ist, ist klar. Eine neue Kultur implementieren. Die Frage ist nur, wer den Anfang macht. „Das TopManagement muss Partizipation initiieren, kommunizieren und vorleben“, heißt zum Beispiel eine der 49 hesen, die 200 (Nachwuchs-)Personaler im Lab der Deutschen Gesellschaft für Personalführung im September 2014 erarbeiteten. Unter dem Motto „Participate! Mitreden, Mitdenken, Mitgestalten im Unternehmen von morgen“ ging es dort aber auch um neue Spielregeln. Eine weitere Forderung lautete deshalb: „Partizipative Steuerung braucht Spielregeln, die für alle gültig sind. Auch diese Spielregeln müssen partizipativ erarbeitet werden!“ Unser Fazit für Macher: WirKonstrukte in traditionell von Konkurrenz geprägten Settings aufzubauen ist nicht einfach und erfordert einen doppelten Fokus: zum einen auf die Weiterentwicklung der Organisationen selbst, zum anderen auf die Menschen, die in ihnen arbeiten. Selbstwahrnehmung, Empathie, Vertrauen und Vernetzungskraft sind Kompetenzen, die sich zwar schulen, aber am Ende nur durch langfristig angelegte Kulturarbeit verankern und entwickeln lassen. Nur so lassen sich konkrete Kooperations-Gewohnheiten implementieren. Im besten Fall fordert uns die Bewegung in Richtung Wir daher heraus, an mehreren Stellen gleichzeitig zu wachsen, persönlich und im Experiment mit frischen und ungewöhnlichen Organisationsformen. Lernen können wir dabei allemal. 111 – Literaturliste – 112 Zukunftsinstitut I Die neue Wir-Kultur Intro dialog-ueber-deutschland.de enorm-magazin.de ffm.de/frankfurt/de/home meine-ernte.de thedarkhorse.de umantis.com changemakers.com/co-creation change.org/de citydogshare.org colivingberlin.com comecookandeat.org companynewheroes.com correctiv.org couchsuring.org dai-heidelberg.de KAPITEL 1 de.creativecommons.org Die Landkarte des Wir 3druck.com/fablabs-liste airbnb.de auxmoney.com betahaus.com bivouacnyc.com blablacar.de booksprints.net B , L. L.: Begegnet euch! Das un- glaubliche Künstlernetzwerk Nieuwe Helden. In: Die Zeit, 24.04.2014. http://www.zeit.de/2014/18/kuenstler-netzwerk-nieuwe-helden Bruns, A.: Vom Gatekeeping zum Gatewatching. Modelle der journalistischen Vermittlung im Internet. In: Neuberger, C./Nuernbergk, C./ Rischke, M. 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