Bildnerische Begabung - Phil.-So.
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Bildnerische Begabung - Phil.-So.
Kostenfrei und werbegesponsert PDF drucken und direkt per E-Mail versenden >Test it free www.pdfmailer.de PDFMAILER.DE www.pdfmailer.de Bildnerische Begabung Monika Miller Der vorliegende Text ist ein Auszug aus der unveröffentlichten Magister Arbeit „Perspektive in der Kinderzeichnung ein Indikator für zeichnerische Begabung. Eine empirische Untersuchung zur bildnerischen Begabung. Augsburg 2004 . 1. Bildnerische Begabung- Forschungsgeschichte .................................................. 1 1.1 Untersuchungen zur bildnerischen Begabung ................................................... 8 1.2 2. Die zweite Generation der Forschung zur bildnerischen Begabung ........... 11 Neuere Untersuchungen zur bildnerischen Begabung....................................... 17 2.1 Bildnerische Begabung nach Frank Schulz ................................................ 17 2.2 Mehrebenenmodell der bildnerischen Begabung von Schütz und Wichelhaus............................................................................................................ 20 3. Untersuchungen zur bildnerischen Begabung von Ellen Winner ....................... 24 3.1 Neurologische Grundlagen der Begabung nach Winner Ellen und Mitarbeitern............................................................................................................ 25 3.2 Fallstudie über den zeichnerisch talentierten Peter von Ellen Winner ........ 26 4. Die Kindheit des Künstlers ................................................................................. 29 5. Zusammenfassung und Diskussion zur bildnerischen Begabung ...................... 32 1. Bildnerische Begabung- Forschungsgeschichte Nachdem im ausgehenden 19. Jh. die spontane, „freie“ Kinderzeichnung entdeckt wurde, war Georg Kerschensteiner (1905) der erste, der sich mit der zeichnerischen Begabung bei den Heranwachsenden befasst hat. Er wertete mehr als 10 500 Zeichnungen von Schulkindern aus und fasste seine Ergebnisse in einer abbildungsreichen Publikation zusammen.1 Nur ein paar Jahre später bemüht sich C. Kik (1909) um die Erstellung von Persönlichkeitsprofilen von zeichnerisch begabten Kindern.2 Clara Stern und William Stern (1909) wie auch wenige Jahren später Walther Krötzsch (1917), Gustav Hartlaub (1930)3 und Oskar Wulff (1927) widmen sich ausschließlich den Zeichnungen ihrer bildnerisch 1 Vgl. Kerschensteiner, Georg: Die Entwicklung der zeichnerischen Begabung. München 1905. Kik, C.: Die übernormale zeichnerische Begabung bei Kindern. in: Zeitschrift für angewandte Psychologie und psychologische Sammelforschung Bd. 2/1909. 3 Hartlaub 1930, S. 9: Hartlaub gibt im Vorwort seines Buches an, dass er auf die zeichnerische Entwicklung seines künstlerisch hochbegabten Sohnes Felix im zweiten Band „Die Kindheit des Künstlers“ eingehen wird. Nach Wissen des Verfassers wurde diese Band nie publiziert. Erst spätere Publikationen (Hartlaub 1955, Kraus/ Hartlaub 1958) widmen sich posthum der Sonderbegabung von Felix Hartlaub. 2 PDFMAILER.DE www.pdfmailer.de Kostenfrei und werbegesponsert PDF drucken und direkt per E-Mail versenden >Test it free www.pdfmailer.de außergewöhnlich begabten Söhne. Sie alle begründen die Begabung mit einer früh entwickelten Fähigkeit dieser Kinder zur illusionistischen Darstellung. Noch etwa zur selben Zeit verschiebt sich das Interesse von der im Vordergrund stehenden perspektivischen Raumdarstellung, die bis dahin auch in der Kinderzeichnung für die vollkommenste Darstellungsform gehalten wurde, auf alle anderen Kinderzeichnungen. Getragen wurde diese Interessenverschiebung vor allem von der romantischen Vorstellung, in jedem „anschaulich fest gewordenen Gebilde von Kinderhand“4 eine künstlerische Leistung zu sehen. Da aber die Zuschreibung einer bildnerischen oder zumindest einer zeichnerischen Begabung bis dahin stets an die Fähigkeit perspektivisch zeichnen zu können, gekoppelt war, hatte dies nun zur Folge, dass die Problematik der bildnerischen Begabung nicht mehr zum Gegenstand umfassender Untersuchungen gemacht wurde. Infolgedessen wurde die bildnerische Begabung zu einem Randthema in der kunstpädagogischen Forschung verdrängt. Diese Tendenz änderte sich auch nach dem Zweiten Weltkrieg nicht. In der Bundesrepublik Deutschland wurde die Problematik der bildnerischen Begabung seit dem Erscheinen von Günther Mühles „Entwicklungspsychologie des zeichnerischen Gestaltens“5 im Jahr 1955 nicht mehr umfassend wissenschaftlich untersucht. Eine Ausnahme bildet die Untersuchung zum Zusammenhang von Studienplatzvergabe in bildkünstlerischen Fächern und der Begabung6 von Diethelm Jungkunz (1983,1986). Nachdem allgemein die Förderung von Begabten zunehmend zum bildungspolitischen Ziel gemacht wurde,7 bemühte man sich eine interdisziplinäre Begabungsforschung voranzutreiben.8 Untersuchungen zu Begabungen in einem bildnerischen Bereich blieben aber auch weiterhin aus. Erst seit wenigen Jahren gibt es wieder einzelne Bemühungen, Interesse an diesem Forschungsgegenstand zu wecken. Eine umfassende Literaturauswertung wurde von Norbert Schütz und Barbara Wichelhaus (1996) zusammengestellt. Die Grundlage der Erörterung stellt dabei hauptsächlich die Literatur zur bildkünstlerischen Begabung aus dem angloamerikanischen Raum dar. Außerdem wurde 2003 auf die Initiative des Bayerischen Staatsministeriums für Kultus und 4 Hartlaub, Gustav C.: Der Genius im Kinde. Breslau 1927, S. 30. Vgl. Mühle, Die Entwicklungspsychologie des zeichnerischen Gestaltens 1975. 6 Vgl. Jungkunz, Diethelm: Untersuchung zur künstlerischen Begabung und zum Studienerfolg in künstlerischen Studienfächern. Braunschweig Bd. 5 1983. Vgl. auch Jungkunz, Diethelm: Die Probe des Talents. Wie läßt sich künstlerische Begabung messen. in: DUZ 12/1985, S. 15-17 und DUZ 12/1985, S. 21-22. Vgl. auch Jungkunz, Diethelm: Kunststudium und künstlerische Begabung. Ein besonderes Problem des Hochschulzugangs. in: Schriften der Hochschule für bildende Künste Braunschweig. Braunschweig Bd. 10 1986, S. 106-121. 7 Vgl. Urban, Klaus K.: Zur Förderung besonders Begabter in der Bundesrepublik Deutschland. in: Mehlhorn, Hans-Georg; Urban, Klaus K. (Hrsg.): Hochbegabtenförderung international. Köln 1989. Urban liefert einen umfassenden Bericht über den allmählichen Anstieg des Stellenwertes der Begabungsförderung und der eng damit im Zusammenhang stehenden Begabungsforschung in der Bundesrepublik Deutschland. Aus seinem Bericht geht auch hervor, dass die Bundesrepublik Deutschland am Ende der 70er Jahre in Bezug auf die Hochbegabtenerziehung ein „unterentwickeltes Land“war. Vgl. hiezu Urban 1989, S. 150. 8 Als Beispiel soll hier auf die von Kurt Heller in München umfassend angelegte Längsschnittstudie zur Begabung verwiesen werden. Heller stellt ein mehrdimensionales Begabungskonzept vor. Vgl. Heller, Kurt A.: Hochbegabung in Kindes- und Jugendalter. Göttingen 1992. 5 Kostenfrei und werbegesponsert PDF drucken und direkt per E-Mail versenden >Test it free www.pdfmailer.de PDFMAILER.DE www.pdfmailer.de des Bayerischen Bundes der deutschen Kunsterzieher in Würzburg ein Symposium zum Thema „Bildnerische Begabung und Interesse“ abgehalten, in der Erwartung brauchbare Erkenntnisse für den Kunstunterricht zu gewinnen wie auch dem seit der Veröffentlichung der Pisa-Studie allgemein vernehmbaren Aufruf zur gesteigerten Aktivität bei der Begabungserkennung und -förderung gerecht zu werden. Im Unterschied zur Bundesrepublik Deutschland nahm die Früherkennung und Förderung von Begabungen in der ehemaligen DDR bildungspolitisch einen sehr hohen Stellenwert ein und wurde mit großem Ehrgeiz und personellem Engagement vorangetrieben.9 Die bildnerische Begabung wurde in die allgemeine Begabungsförderung mit eingeschlossen.10 In Leipzig wurde ein umfangreiches Archiv zur Dokumentation der bildnerischen Entwicklung von Künstlern angelegt11, dessen Auswertung schließlich Frank Schulz (1987) die Grundlage lieferte, ein Entwicklungsmodell mit vier wesentlichen Verlaufsphasen der Talententwicklung vorzuschlagen.12 Damit wurde an die Tradition des beginnenden 20. Jahrhunderts angeknüpft, denn das Psychologische Institut der Universität Leipzig war damals ein bedeutendes Zentrum der Entwicklungspsychologie, das sich intensiv mit dem Phänomen des kindlichen Raumerlebens- und Raumdarstellens befasste.13 In diesem Rahmen wurde auch dem zeichnerischen Gestalten des Kindes besondere Aufmerksamkeit geschenkt (Levinstein 1904, Krötzsch 1917, Eng 1927), u.a. auch den besonderen zeichnerischen Begabungen (Kik 1909, Stern 1909).14 Einen bedeutend angloamerikanischen höheren Stellenwert Sprachraum bekommt zugewiesen. die Das Begabungsforschung Hauptinteresse an im diesem Forschungsgegenstand geht in erster Linie von der Psychologie aus. Zahlreiche empirische Untersuchungen versuchen das Phänomen einer bildnerisch-künstlerischen Begabung differenziert zu erklären. Dabei sind u.a. die Künstlerpersönlichkeit, der künstlerische Prozess, 9 der Expertiseerwerb sowie die Suche nach Unterschieden im Vgl. Mehlhorn, Gerlinde; Mehlhorn, Hans-Georg: Begabungen entdecken, entwickeln und fördern. in: Einheit 5/1989, vgl. auch Mehlhorn, Gerlinde; Mehlhorn, Hans-Georg: Die Entwicklung und Förderung begabter Kinder und Jugendlicher in der DDR. in: Mehlhorn, Hans-Georg; Urban, Klaus K. (Hrsg.): Hochbegabtenförderung international. Köln 1989, S. 84-105. Gerlinde Mehlhorn und Hans-Georg Mehlhorn bringen einen ausführlichen Bericht über den Stellenwert der Begabtenentwicklung und -förderung in der DDR. 10 Vgl. Mehlhorn, Hans-Georg: Nachdenken über künstlerische Begabungen. Materialien der wissenschaftlichmethodischen Konferenz des Ministeriums für Kultur zur Entwicklung, Diagnose und Förderung künstlerischer Begabungen. Leipzig 1988. Vgl. auch Karlavaris, Bogomil: Zum Problem der bildnerischen Fähigkeit und ihrer Entwicklung. Greifswald 1969. 11 Vgl. Schulz, Frank: Das bildnerische Talent und seine Ausprägung in der Ontogenese. Eine Studie zur Ausprägung der Künstlerpersönlichkeit. Leipzig 1987, S. 7. 12 Vgl. Schulz, 1987, S. 146-171. 13 Vgl. Volkelt (1930) 1968, S. III im Vorwort der Herausgeber. 14 Kik (1909), Stern (1909), Eng (1927) wurden in der Zeitschrift für angewandte Psychologie und psychologische Sammelforschung und in deren Beiheften publiziert. Krötzsch (1917) erschien auch in einem Leipziger Verlag. Zudem finden sich bei Wulff (1927) genügend Hinweise dafür, dass das historische Institut der Universität Leipzig eine umfangreiche Sammlung von Kinderzeichnungen wie auch Plastilinarbeiten besaß. Vgl. Wulff 1927, Abb. 37, 56-72, 77-81. PDFMAILER.DE www.pdfmailer.de Kostenfrei und werbegesponsert PDF drucken und direkt per E-Mail versenden >Test it free www.pdfmailer.de Informationsverarbeitungssystem zwischen Künstlern und Nicht-Künstlern wie auch die genetischen Voraussetzungen einer Begabung die Themenbereiche, in denen intensiv geforscht wird. Neben diesem Forschungsbereich, bei dem Künstler und Kunststudenten die Untersuchungsgruppe stellen, setzen sich einige Psychologen und Psychologinnen, u.a. Lorna Selfe (1977), L.T. Goldsmith (1989), Claire Golomb (1992a) und Ellen Winner (1998) mit der außergewöhnlichen bildnerischen Fähigkeit einzelner Kinder auseinander. Aus den Fallanalysen werden Begabungsmerkmale ermittelt, die großteils unkritisch als allgemeingültige Begabungsmerkmale übernommen werden. Es stellt sich die Frage, warum gerade bildnerische Begabung im Vergleich zu anderen Begabungsfeldern als Forschungsgegenstand vernachlässigt wurde. Vier wesentliche Gründe werden von Timo Bautz (2003) aufgeführt: Seiner Meinung nach konnte die Kunstpädagogik das Thema Begabung deswegen vernachlässigen, weil die bildnerische Praxis nur noch einer von fünf Lernbereichen ist, die der Lehrplan für das Fach Kunsterziehung vorschreibt. Solange außergewöhnliche Leistungen nur beim Zeichnen oder Malen berücksichtigt und alle anderen lehrplanmäßigen Gebiete wie visuelle Medien, Kunstbetrachtung oder ästhetische Spielformen außen vor gelassen werden, können nicht alle fachinternen Begabungen erfasst werden. Folglich hat die bildnerische Begabungsforschung versäumt mit dem Fach Kunst Schritt zu halten. Einen weiteren Grund für die Vernachlässigung der Begabungsforschung sieht Bautz in der „programmatischen Ausrichtung der Fachkonzepte...Indem die musische Erziehung jedes Kind für begabt hält, solange es sich unverstellt zum Ausdruck bringt, entspricht die Begabungsausnahme eigentlich der Regel oder dem allgemeinen Ziel ganzheitlicher und ursprünglicher Gestaltungspraxis.“15 Zudem stellt die Ausrichtung der ästhetischen Erziehung auf die zeitgenössische Kunst letztlich auch die Notwendigkeit von inneren Voraussetzungen in Frage. Genauso ist es fraglich, ob in Anbetracht der künstlerischen Prozesse im 20. Jh. überhaupt konstante Begabungsmerkmale ermittelt werden können. Überdies gibt es für die Begabten zumindest im zeitgenössischen Kunstbetrieb keine berufsspezifischen Nachfragen mehr. Einen bildnerisch Begabten erwartet im Gegensatz zu mathematisch Begabten „keine systematische Förderung und keine planbare Berufsausicht.“16 Darüber hinaus wirkt die Komplexität der bildnerischen Prozesse hemmend auf die Begabungsforschung. Die Erwartung aus dem künstlerischen Produktionsprozess neue Erkenntnisse über bestimmte Begabungsmerkmale zu gewinnen, setzt voraus, dass dieser systematisch analysiert wird. Es lassen sich aber nur voneinander abgegrenzte Teilaspekte methodisch untersuchen und 15 16 Vgl. Bautz 2003, S. 38. Bautz 2003, S. 38. PDFMAILER.DE www.pdfmailer.de Kostenfrei und werbegesponsert PDF drucken und direkt per E-Mail versenden >Test it free www.pdfmailer.de das ist bei oft sehr vielschichtigen gestalterischen Prozessen nach Meinung von Bautz nur bedingt möglich.17 Außerdem sind sich die wenigen Forscher, die sich mit der bildnerischen Begabung befasst haben, keinesfalls einig, wie sie überhaupt die außergewöhnlichen Leistungen in einem bildkünstlerischen Bereich bezeichnen sollen. Nach wie vor konnte kein einheitlicher Begriff gefunden werden, mit welchem diese Befähigung benannt wird. So reicht nach wie vor die Bandbreite der Bezeichnungen von „bildnerischer Begabung“und „künstlerische Begabung“ bei Norbert Schütz und Barbara Wichelhaus (1996) über „bildkünstlerische Begabung“bei Diether Huth (1987) bis hin zu „bildnerischem Talent“oder „bildnerische Hochbegabung“bei Frank Schulz (1987) und „bildkünstlerisches Talent“ bei Bernd Linder und Jochen Hahn (1989). Wenn es zudem um die Kinder mit außergewöhnlicher zeichnerischer Fähigkeit geht, ist die Bandbreite an unterschiedlichen Bezeichnungen noch weitaus reicher. Georg Kerschensteiner (1905) wählt für diese Kinder die Bezeichnung „zeichnerische Begabung“, C. Kik (1909) spricht sogar von einer „übernormalen zeichnerischen Begabung“. HansGünther Richter (1987) bezeichnet diese Fähigkeit als „ungewöhnliche künstlerische Fähigkeit“oder als „verfrühte realistische Darstellungsfähigkeit“, aber auch als „übernormale Zeichenbegabung“. Noch komplexer erscheint die Sachlage, wenn mitberücksichtigt wird, dass einige Autoren die Meinung vertreten, dass bei Kindern trotz außergewöhnlicher Befähigung in einem der bildkünstlerischen Bereiche noch keinesfalls von einer Begabung die Rede sein kann.18 Nur wenige Autoren waren bis jetzt bemüht, eine Begriffsdifferenzierung vorzunehmen. Ein außerordentlicher Beitrag, den Frank Schulz (1987,2000) für die Begabungsforschung liefert, ist der Versuch einer Begriffsklärung. Schulz grenzt deutlich die Begriffe Talent, Begabung und Genie voneinander ab. Er weist auf die enge Beziehung dieser drei Begriffe hin und macht aufmerksam auf ihre synonyme Verwendung in der Alltags- wie auch in der Wissenschaftssprache. Insbesondere ist die Austauschbarkeit bei den zwei Begriffen Talent und Begabung möglich, während Genie immerhin als eine Steigerung der beiden ersten Begriffe verstanden wird.19 Im Zusammenhang mit dem Begriff Begabung spricht man gewöhnlich sowohl von Durchschnittsbegabung, von Minderbegabung wie auch von Sonderbegabung oder Hochbegabung. Das bedeutet aber, dass die Disposition für die ausgeübte Tätigkeit nicht ein besonders hohes Niveau mit einschließt. Dagegen bleibt, so Schulz, der Talentbegriff immer gleichgestellt mit einer Sonder- und Hochbegabung.20 17 Bautz 2003, S. 38. Vgl. Mühle (1955) 1975, S. 15, vgl. auch Malraux (1949) 1958, S. 115, vgl. auch Linder/ Hahn 1989, S. 20. 19 Vgl. Schulz, Das bildnerische Talent und seine Ausprägung in der Ontogenese 1987a, S. 50. 20 Vgl. Schulz, Frank: Eine Frage des Talents ? in: Kunst und Unterricht 246/247/2000, S. 66. 18 PDFMAILER.DE www.pdfmailer.de Kostenfrei und werbegesponsert PDF drucken und direkt per E-Mail versenden >Test it free www.pdfmailer.de Dass es noch zu keiner Übereinstimmung bei der Begriffsanwendung für eine außergewöhnliche Fähigkeit kam, ist nicht nur für die deutsche Sprache charakteristisch. Auch die angloamerikanischen Wissenschaftler verwenden unterschiedliche Begriffe „gifted“ oder „talented“. Dabei entspricht „talented“eher dem deutschen Wort “talentiert“. Zum Begriff „gifted“ schreibt Rudolf Arnheim (1995): „To be gifted means to have been given something.”21 Damit kann „gifted“mit dem deutschen Begriff „begabt”(von Begabung, Gabe) übersetzt werden. Eine weitere Begriffsdifferenzierung unternimmt Ellen Winner (1998). Sie betont in ihrem Buch über die hochbegabten Kinder (gifted children)22, dass man bei den Kindern mit außergewöhnlichen Fähigkeiten in der bildenden Kunst oder Musik „eher von Talent als von Hochbegabung spricht.“23 Der Begriff Hochbegabung ist ihrer Meinung nach normalerweise nur für die Kinder mit einer besonderen intellektuellen Befähigung vorbehalten.24 Auffallend ist, dass der Begriff „gifted“im Gegensatz zu „Begabung“keine gesteigerte Form besitzt und ins Deutsche sowohl mit Begabung als auch mit Hochbegabung übersetzt wird. Während das Thema „bildnerische Begabung“in unserem Sprachraum seit Jahrzehnten, bis auf wenige Ausnahmen, als Forschungsgegenstand gemieden wurde, konnte die allgemeine Begabungsforschung zahlreiche neue Beiträge verzeichnen, insbesondere im Rahmen der Pädagogischen Psychologie. H. Roth (1969) hat noch den Begabungsbegriff zusammenfassend definiert: „Begabung als Anlage wird in dieser Sicht zu einem Bedingungsfaktor in einem Feld von Variablen, die alle durch Lehren, Lernen, Unterricht und Erziehung beeinflussbar sind… Man darf also, wenn man von Begabung spricht, nicht an eine isolierte statische Größe denken, die es als solche nicht gibt, sondern an eine dynamische Veränderliche in einem Netz von Bezugsgrößen, die alle mitentscheiden, ob Potentialitäten entwickelt werden oder nicht entwickelt werden.“25 In der heutigen Diskussion über den Begabungsbegriff wird die Auffassung von Roth erweitert und im Wesentlichen spezifiziert. Die Begabung wird als geistige Leistungsmöglichkeit in Verbindung mit Intelligenz gesehen, die das spezifische Interesse und den Leistungswillen mit einschließt und die immer einer auf das Individuum abgestimmten Förderung bedarf.26 Zudem wird die Begabung als ein stabiles personales Merkmal gesehen, das relativ früh zu diagnostizieren ist und leistungsprognostische Aussagen in Aussicht stellt. Da die Begabung als ein 21 Arnheim, Rudolf im Vorwort in: Golomb, Claire (Ed.): The Development of Artistically Gifted Children. Selected Case Studies. Hillsdale 1995, S. vii. 22 Die Originalausgabe erschien unter dem Titel „Gifted Children. Myths and Realities”. 23 Winner, Ellen: Hochbegabt: Mythen und Realitäten von außergewöhnlichen Kindern. Stuttgart 1998, S. 58. 24 Vlg. Winner, Ellen: Hochbegabt. Stuttgart 1998, S. 58. 25 Vgl. Roth, H. (Hrsg.): Begabung und Lernen. Gutachten und Studien der Bildungskommission der Deutschen Bildungsrates (4). Stuttgart 1969, S. 65, zitiert nach Schütz, Norbert; Wichelhaus, Barbara: Künstlerische Begabung und Entwicklung. Köln 1996, S. 3. 26 Schütz/ Wichelhaus 1996, S. 3. PDFMAILER.DE www.pdfmailer.de Kostenfrei und werbegesponsert PDF drucken und direkt per E-Mail versenden >Test it free www.pdfmailer.de dynamisches Zusammenspiel von mehreren personalen Komponenten gesehen wird, sollte die Förderung kognitive, emotionale und soziale Aspekte des Individuums mit einschließen.27 Im Folgenden wird überprüft, inwieweit diese Definition von Begabung auf die bildnerische übertragbar ist oder diese eine wesentliche Spezifizierung erfordert. Nachdem zunächst die älteren wie auch die neueren Untersuchungen zur bildnerischen Begabung vorgestellt werden, wird anschließend auf das Mehrebenenmodell der künstlerischen Begabung von Norbert Schütz und Abb.1: New York City, Eitan 7,10 J. (Golomb 1995, S. 188) Barbara Wichelhaus (1996) eingegangen. Dabei können aber nur wesentliche Aspekte des Modells berücksichtigt werden. Zum einen aus dem Grund, weil sich dieses fast ausschließlich mit der künstlerischen Begabung befasst und die besondere bildnerische Befähigung im Kindesund Jugendalter nicht explizit behandelt. Zum anderen auch, weil das Modell sehr umfassend ist. Trotzdem wird dem theoretischen Mehrebenenmodell der Begabung im Rahmen der vorliegenden Arbeit ein wichtiger Stellenwert zugestanden, weil hier wichtiges Potential für die zukünftige Begabungsforschung vermutet wird. Anschließend widmet sich das letzte Kapitel dem Beitrag zur bildnerischen Begabungsforschung von der Psychologin Ellen Winner von dem Bostoner College. In ihrer Arbeit können zwei Hauptrichtungen unterschiedene werden. Zum einen versucht sie mit experimentellen Untersuchungen neurale Grundlagen der Begabung näher zu bestimmen. Zum anderen ist sie bemüht anhand von qualitativen Fallstudien die unterschiedlich-en Hochbegabungen bei Kindern zu beschreiben. Allerdings ist Winner nicht die einzige Vertreterin der letzen Forschungsrichtung, denn genauso bekannt sind die Untersuchungen von Lorna Selfe (1977, 1995) über die besonderen zeichnerischen Leistungen des autistischen Mädchens Nadia28 (Abb. 36) sowie die Fallanalyse über den zeichnerisch begabten Eitan29 (Abb.36) von Claire Golomb 27 Vgl. Schütz/ Wichelhaus 1996, S. 3f, vgl. auch Hany, Ernst A.; Nickel, Horst (Hrsg.): Begabung und Hochbegabung. Theoretische Konzepte- Empirische Befunde- Praktische Konsequenzen. Bern 1992, S. 1f. 28 Vgl. Selfe, Lorna: A single case study of an autistic child with exceptional drawing ability. in: Butterworth, Georg (Ed.): The Child’ s Representation of the World. New York 1977, S. 31-44, vgl. auch Selfe Lorna: Nadia Reconsidered. in: Golomb, Claire: The Development of Artistically Gifted Children: Selected Case Studies. Hillsdale 1995, S. 197-236, vgl. auch Golomb, Claire: The Child’ s Creation of Pictural World. Berkeley 1992, S. 253-264, 29 Vgl. Golomb. Claire: Eitan: The early development of a gifted child artist. in: Creativity Research Journal, 5(3)/ 1992, S. 265-279, vgl. auch Golomb, Claire: The Child’ s Creation of Pictural World. Berkeley 1992, S. 230-253, vgl. auch Golomb Claire: The Development of Artistically Gifted Children: Selected Case Studies. Hillsdale 1995. PDFMAILER.DE www.pdfmailer.de Kostenfrei und werbegesponsert PDF drucken und direkt per E-Mail versenden >Test it free www.pdfmailer.de (1992a,1995) und über die herausragende Malerin, der jungen Chinesin Yani30 (Abb. 37) von L.T. Goldsmith (1989,1992). Winners (1998) Fallstudie über den zeichnerisch hochbegabten Peter wird in der vorliegenden Arbeit nur exemplarisch die Problematik derartiger Untersuchungen aufzeigen. Die Entscheidung fiel auf diese Fallanalyse, weil gerade Winner im Gegensatz zu Selfe und Golomb mit mehreren experimentellen Versuchen viele Aspekte der bildnerischen Begabung aufzuzeigen versucht. Abb.2: Nadia 4 J. (Selfe 1995, S. 202) Abb.3: Wang Yani (Ho 1989, S. 21) 1.1 Untersuchungen zur bildnerischen Begabung Georg Kerschensteiner (1905) hat als erster eine umfangreiche Untersuchung zur bildnerischen Begabung durchgeführt. Kerschensteiner sammelte etwa eine Million Kinderzeichnungen der 6- 14jährigen Volksschüler der Stadt München, davon hat er etwa 300 000 für die Untersuchung selbst verarbeitet. Er hat eine Kategorisierung der Zeichnungen vorgenommen, um eine Aussage darüber zu bekommen, wie viele der Heranwachsenden überhaupt zu einer „formgemäßen Darstellung“greifen und welche Art von Begabung diesen Übergang von der frühen schematischen Zeichnung beeinflusst. Dafür hat Kerschensteiner den Schülern unterschiedlichste Themen (Menschen, Tiere, Pflanzen und Gegenstände, Schneeballschlacht und Ornamente) aus der Erinnerung wie nach einem Modell als Zeichenaufgabe gestellt.31 Die Auswertung der großen Anzahl der Zeichnungen erlaubte schließlich Kerschensteiner einige Überlegungen bezüglich einer zeichnerischen Begabung vorzutragen. Er nimmt an, dass die Nachahmung fertiger Darstellungen, also das Abzeichen von Zeichnungen, einen vorteilhaften Einfluss auf die Entwicklung der zeichnerischen Darstellungsfähigkeit ausübt. Als Argumentation weist er zum einen auf die in vielen Jahrhunderten übliche Ausbildung 30 Vgl. Goldsmith, L.T.; Feldman, D.H.: Wang Yani: Gifts well given. in: HO, W.C. (Ed.): Yani: The Brush of Innocence. New York, 51-62, vgl. auch Goldsmith, L.T.: Stylistic development of a Chinese painting prodigy. in: Creativity Research Journal 5(3)1992, S. 281-293. 31 Vgl. Kerschensteiner, Georg: Die Entwicklung der zeichnerischen Begabung. München 1905, S. 9-14, vgl. auch Kerschensteiner 1905, S. XIII-XV. PDFMAILER.DE www.pdfmailer.de Kostenfrei und werbegesponsert PDF drucken und direkt per E-Mail versenden >Test it free www.pdfmailer.de eines Künstlers in einer Meisterwerkstatt hin. Zum anderen betont er, dass die begabtesten Zeichner seiner Untersuchung auch die eifrigsten Abzeichner sind. Zudem sieht Kerschensteiner einen Zusammenhang zwischen einer zeichnerischen Begabung und der Intelligenz. Er stellt fest, dass die besten Zeichnungen seiner Untersuchung von Kindern angefertigt wurden, die sonst auch gute schulische Leistungen hervorbringen.32 Außerdem vertritt er die Überzeugung, dass diese zeichnerisch begabten Kinder meistens „aus Familien in ausgezeichneten Lebensstellungen und mit hoher geistiger Kultur“33 stammten. Ein Vergleich der Zeichnungen seiner zeichnerisch begabten Kinder mit Zeichnungen anderer Kinder veranlasst schließlich Kerschensteiner einen akzelerierten Entwicklungsverlauf bei den Begabten anzunehmen. Die einzelnen Stufen werden von diesem schneller durchlaufen, so dass einzelne bereits mit sechs Jahren die Stufe der erscheinungsgemäßen Darstellung erreichen und bereits mit 10 Jahren formgemäß zeichnen.34 Letztlich musste aber Kerschensteiner feststellen, dass nur wenige Kinder eine formgemäße Darstellung auf die Zeichenfläche bringen und dass in einer „Massenuntersuchung“, wie er sie durchgeführt hat, zeichnerische Begabungen eher zufällig entdeckt werden. Er konnte nur „zwei, alle Kinder der Stadt überragende Talente“35 (Abb. 38) ausfindig machen, keines davon war ein Mädchen. Nur wenige Jahre später lieferte C. Kik (1909) eine weitere Untersuchung zur bildnerischen Begabung. Er wendet aber eine andere Untersuchungsmethode als Kerschensteiner an. Statt Begabungen innerhalb einer wesentlich größeren Untersuchungsgruppe auszumachen, suchte er im Vorfeld nur vierzehn zeichnerisch begabte Kinder aus, 36 Fallstudien zu erstellen. um von ihnen Diese Kinder interessierten Kik nicht wegen eines großen Talentes, sondern wie er das Abb. 4: Junge 13 J. (Kerschensteiner 1905, S. 99) 32 Vgl. Kerschensteiner 1905, S. 483-485 Kerschensteiner 1905, S. 485. 34 Vgl. Kerschensteiner 1905, S. 312. 33 35 36 Kerschensteiner 1905, S. 478, vgl. auch S. 96-103. Vier Kinder hatte Kik an der Kinderkunstausstellung im November 1905 im Breslauer Kunstgewerbemuseum entdeckt, weitere vier über die Zeitschrift Kind und Kunst, Verl. Alexander Koch in Darmstadt, wie auch durch die Vermittlung seitens seiner früheren Schüler. Vgl. Kik, C.: Die übernormale Zeichenbegabung bei Kindern. in: Zeitschrift für angewandte Psychologie und psychologische Sammelforschung 2/1909, S. 92f. PDFMAILER.DE www.pdfmailer.de Kostenfrei und werbegesponsert PDF drucken und direkt per E-Mail versenden >Test it free www.pdfmailer.de betont, wegen der speziellen Eigenart ihrer Begabung.37 Kik schreibt dazu: „Unter übernormalen Begabungen sind nicht immer künstlerische Begabungen zu verstehen. Zumindest handelt es sich bei übernormalen Begabungen um eine Betätigung von Fähigkeiten, die in allerdings elementarer Form auch beim normalen Durchschnitt anzutreffen sind… Das Übernormale liegt in einem besonders frühen Auftreten oder in einer ganz besonderen Intensität des graphischen Ausdrucks, das spezifisch Künstlerische in einer Beteiligung des Gefühlslebens bei der Produktion.“38 Kiks Erörterungen über die übernormalen Begabungen zeichnen sich dadurch aus, dass er den Abbildungen kurze Biografien von den Kindern gegenüberstellt und auf diese Weise eine Art von Persönlichkeitsprofil zu erstellen versucht.39 Um eine Unterscheidung zwischen verschiedenen zeichnerischen Begabungen vornehmen zu können, fokussiert er zunächst die einzelnen zeichnerischen Prozesse und unterscheidet dabei grundsätzlich zwei Gruppen. In die erste Gruppe ordnet er die Zeichnungen ein, die von Kindern nach einem Objekt gezeichnet oder von einer Vorlage abgezeichnet wurden. Im ersten Fall hat das Kind seiner Meinung nach nur eine Begabung für Naturwiedergabe, im zweiten Fall ist das Kind ganz einfach nur ein „Kopist“. Hat das Kind aber keine Vorlage für seine Zeichnung benutzt, dann hat es aus der Vorstellung gezeichnet. Bei dieser zweiten Gruppe von Zeichnungen differenziert Kik weiter, indem er zwischen einem Vorstellungsbild von früher empfangenen Bildeindrücken, einem Vorstellungsbild von früher gesehenen Gegenständen, aber auch zwischen Gegenstandsvorstellungen, die von zweidimensionalen Abbildungen herstammen, unterscheidet.40 Die zuletzt aufgeführte Begabungsart hat nach dem Kopieren (Abzeichnen einer Vorlage) bei Kik den geringsten Stellenwert. Den höchsten Stellenwert hat nach der realistischen Wiedergabe eines Modells die Fähigkeit aus der Vorstellung zu zeichnen (Abb. 39). Abb. 5: Rudi B. 6 J, Phantasiebegabung (Kik 1909, Tafel 2, Figur 1) 37 Vgl. Kik, Die übernormale Zeichenbegabung 1909, S. 92f. Kik 1909, S. 117f. 39 Vgl. Richter H.-G. (1987) 1997, S. 324. 40 Vgl. Kik 1909, S. 118. 41 Vgl. Kik 1909, S. 132. 38 41 PDFMAILER.DE www.pdfmailer.de Kostenfrei und werbegesponsert PDF drucken und direkt per E-Mail versenden >Test it free www.pdfmailer.de Kik geht von einer angeborenen Fähigkeit für die Flächenauffassung und Flächendarstellung aus, die er aber für eine seltenere Art zwischen den Begabungen hält, weil sie neben den linearen Werten auch formale Werte wie Ton-, Farb- und Beleuchtungsverhältnisse bei der Wahrnehmung und dem daraus resultierenden Vorstellungsbild mit berücksichtigen.42 Er erklärt es auf die folgende Weise: „Vorstellungsbegabung ist von eminenter Bedeutung für die Kunst. Sie ist zunächst die Grundlage jeder Phantasiedarstellung, muss aber auch andererseits bei der Naturwiedergabe tätig sein, wenn das Resultat mehr als Naturkopie sein will.“43 1.2 Die zweite Generation der Forschung zur bildnerischen Begabung Fast zur gleichen Zeit kann ein Methodenwechsel in der Kinderzeichnungsforschung beobachtet werden, wenn es um die Entwicklung der Darstellungsformen geht. Statt großen Querschnittsuntersuchungen wurden nun Längsschnittuntersuchungen durchgeführt, die genauere Einsicht in die zeichnerische Entwicklung eines oder nur weniger Kinder ermöglichten. Dieser Methodenwechsel ist auch bei den Untersuchungen, die sich mit besonders begabten Zeichnern befassen, beobachtbar. Die neuen Untersuchungen intendierten wissenschaftliche prospektive Beobachtungen an dem Begabungsphänomen. Zu den wohl bekanntesten wissenschaftlichen Vorhaben dieser Art zählen die Untersuchungen von Oskar Wulff (1927) und Gustav F. Hartlaub (1922), die neben umfangreichen Untersuchungen zu bildnerisch begabten Kindern auch den „individuellen zeichnerischen Ausdruck“ihrer Söhne untersuchten.44 Oskar Wulff konnte bei seiner Untersuchung zur zeichnerischen und bildnerischen Begabung seines Sohnes Reimund vergleichend vorgehen. Als er anfing die Zeichnungen und die Plastilinarbeiten ab dem 4. Lebensjahr des Kindes kontinuierlich zu sammeln, waren die wichtigen Publikationen zur bildnerischen Begabung, wie die von Kerschensteiner (1905), Kik (1909) und Hartlaub (1922) bereits in Fachkreisen ausführlich diskutiert. Zudem konnte Wulff (1927) mindestens auf zwei Fallanalysen von zeichnerisch außergewöhnlich begabten Jungen zurückgreifen, auf die vom Psychologenehepaar Clara und William Stern (1909), die die Entwicklung ihres drei- bis siebenjährigen Sohnes beobachtet und beschrieben haben, 42 Vgl. Kik 1909, S. 121. Kik 1909, S. 121. 44 Vgl. Wulff, Oskar: Die Kunst des Kindes. Stuttgart 1927, S. 119, Vgl. Hartlaub, Gustav F.: Der Genius im Kinde. Breslau 1930, S..9 Hartlaub gibt im Vorwort seines Buches an, dass er auf die zeichnerische Entwicklung seines künstlerisch hochbegabten Sohnes Felix im zweiten Band „Die Kindheit des Künstlers“ eingehen wird. Nach Wissen des Verfassers wurde diese Band nie publiziert. Erst spätere Publikationen (Hartlaub 1955, Kraus/ Hartlaub 1958) widmen sich posthum der Sonderbegabung von Felix Hartlaub. 43 PDFMAILER.DE www.pdfmailer.de Kostenfrei und werbegesponsert PDF drucken und direkt per E-Mail versenden >Test it free www.pdfmailer.de wie auf die von Walther Krötzsch (1917), der auch nur über die zeichnerische Entwicklung seines Sohnes bis zur Ausbildung des Schemas berichtet.45 Von dieser wissenschaftlichen Basis ausgehend, konnte Wulff einerseits eine kritische Zusammenfassung und eine Auswertung der Literatur liefern, andererseits hatte er die Möglichkeit einen umfangreichen Forschungsbeitrag zu leisten, da er die zeichnerische und bildnerische Entwicklung seines Sohnes vom 4. bis 14. Lebensjahr verfolgte, wesentlich länger also als die anderen Forscher vor ihm. Oskar Wulff geht auch wie bereits Georg Kerschensteiner (1905) von einem akzelerierten Stufenverlauf bei den zeichnerisch begabten Kindern aus. Er kann bei diesen Kindern im sechsten Lebensjahr einen Übergang zur erscheinungsgemäßen Darstellungsweise beobachten, der seiner Meinung nach durch Wirklichkeitsbeobachtungen und von Bildeindrücken angeregt wird. Genauso sind parallelperspektivische Ansichten und Flächenverkürzungen bei der Darstellung von einfachen Körpern üblich. Im gleichen Alter benutzen die Kinder für eine Landschaftsdarstellung das Raumschema (Bodenstreifen).46 Zudem geht Wulff von einer genetisch determinierten Anlage der künstlerischen Begabung aus, die sich aber stärker ausprägt, wenn das Kind oder der Jugendliche bereits in der frühen Kindheit eifrig zeichnet oder malt sowie die Möglichkeit hat sein „Auge auch von früh auf an den Arbeiten“ der Kunst zu schulen.47 Von dieser Überzeugung ausgehend, sucht Wulff auch im Zusammenhang mit seinem Sohn nach Vorfahren, die durch besondere künstlerisch Leistungen auffielen.48 Die zeichnerische Aktivität steht für Wulff im direkten Zusammenhang mit zwei verschiedenen Vorstellungsweisen, die bei jedem Kind bemerkbar sind, bei den Begabten jedoch stärker zum Vorschein kommen.49 Zum einen unterscheidet er die visuelle Verarbeitung, die auf die Ausprägung der „Sehform“zurückzuführen ist. Mit Sehform meint er ein gutes visuelles Gedächtnis gekoppelt an eine „lebhafte Ausdrucksfähigkeit“. Mit diesem Verarbeitungstypus greift er den von Gustav F. Hartlaub beschriebenen Begriff „Gesichte“ auf, über die zeichnerisch begabte Kinder verfügen, weil sie, während sie zeichnen, auf ein Abbild des Objektes in der Vorstellung zurückgreifen können, das zwar 45 Vgl. Wulff, Die Kunst des Kindes 1927, S. 60f. Vgl. Stern, Clara; Stern, William: Die zeichnerische Entwicklung eines Knaben vom 4. bis 7. Jahre. in: Zeitschrift für angewandte Psychologie und psychologische Sammelforschung. Bd. 3/1909. Vgl. Krötzsch, Walther: Rhythmus und Form in der freien Kinderzeichnung. Leipzig 1917. 46 Vgl. Wulff 1927, S. 60f. 47 Wulff 1927, S. 67. 48 Vgl. Wulff 1927, S. 281-284. 49 Vgl. Wulff 1927, S. 70. PDFMAILER.DE www.pdfmailer.de Kostenfrei und werbegesponsert PDF drucken und direkt per E-Mail versenden >Test it free www.pdfmailer.de leicht verschwommen ist, aber bereits auf eine zweidimensionale Fläche reduziert ist.50 Das Kind zeichnet sozusagen Konturen des Objekts aus dem Gedächtnis ab. Wulff veranschaulicht diese Begabung an dem Beispiel mehrerer Jungendlicher, die meisterhafte Scherenschnitte fertigten. Für die Technik des Scherenschnittes sind nämlich die äußeren Konturenlinien von größter Bedeutung. Zum anderen führt Wulff den Begriff „Sehvorstellung“ als den zweiten Verarbeitungsstil ein, der wiederum über eine Art von räumlichem Vorstellungsvermögen verfügt. Ausgestattet mit diesem Vermögen, kann sich der zeichnerisch Begabte einen Körper oder einen Raum gleichzeitig von mehreren oder sogar von allen Seiten vorstellen. Dieser Vorstellungsart schreibt Wulff mehr Wirksamkeit zu.51 Sie lässt sich zudem durch „eifrige Beobachtung (… ) zu Vollkommenheit“52 entwickeln. Trotzdem erreichen nach Meinung von Wulff auch die zeichnerisch begabten Kinder nur selten die letzte Stufe der zeichnerischen Entwicklung und zeichnen realitätstreue, dreidimensionale Darstellungen großteils nur von einzelnen, individuell bevorzugten und nur aus diesem Grund sehr aufmerksam betrachteten Objekten.53 Ihnen sind auch die so genannten Spezialisten zuzurechnen, wie z.B. die hervorragenden Pferdezeichner.54 Die Mehrzahl der Kinder kann aber nicht einmal das.55 Bemerkenswert ist, dass bereits Wulff darauf aufmerksam machte, dass erst eine unmittelbare Beobachtung des Zeichenprozesses bei Kindern eine Aussage darüber erlaubt, ob eine Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen zeichnerischen Verfahren vielleicht sinnvoll wäre, wenn man bedenkt, dass zwei verschiedene Vorstellungsweisen den Zeichenprozess bedingen.56 Die „zwei grundverschiedenen Typen guter Zeichner“ermittelt Wulff in Anlehnung an die von B. Meßmer getroffene Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen Lesertypen.57 Im Folgenden verdeutlicht er den Unterschied in der Vorgehensweise zwischen den zwei Typen der guten Zeichner zu den schwachen Zeichnern: 50 Vgl. Wulff 1927, S. 62, vgl. auch S. 50. Vgl. zur Bezeichnung „Gesichte“Hartlaub 1930, S. . Statt auf Schemata greift ein zeichnerisch begabtes Kind auf diese flächenhafte Abbilder in der Vorstellung zurück. Je begabter das Kind ist, desto mehr „Gesichte“stehen ihm zur Verfügung. Nach Wulff verfügt der von Krötzsch beschriebene Junge über ein gutes Gedächtnis für die „Sehform“. 51 Vgl. Wulff 1927, S. 50. Als Beispiel für die Ausprägung von der „Sehvorstellung“als visuelle Verarbeitungsstil führt Wulff die Zeichnungen eines Mädchens aus der Sammlung des Leipziger Universalhistorischen Instituts auf, die im Alter von 4 bis 6 ½ entstanden sind. Es trägt die Nummer D.72 und auf dem Umschlag den Namen Joh. Hoffmann, Leipzig. Petersstr.33, III. Vgl. hierzu Anmerkung 13 im fünften Kapitel. 52 Wulff 1927, S. 69. 53 Vgl. Wulff 1927, S. 70. 54 Vgl. Wulff 1927, S. 77. 55 Vgl. Wulff 1927, S. 70. 56 Vgl. Wulff 1927, S. 70f. 57 Vgl. Meßmer, B. : Der zeichnerische und der sachliche Blick, D. Schr. XVII, zitiert nach Wulff 1927, S. 71. PDFMAILER.DE www.pdfmailer.de Kostenfrei und werbegesponsert PDF drucken und direkt per E-Mail versenden >Test it free www.pdfmailer.de „Sie (zwei Typen der guten Zeichner, Anm. d. Verf.) entsprechen anscheinend den von Meßmer ermittelten beiden Arten der Leser, von denen die eine die Gesichtsbilder mit starrer Fixation und gesammelter Aufmerksamkeit (… ), die andere mit bewegtem Blick und schweifender Aufmerksamkeit. Jene halten sich streng an den Eindruck des Vorbildes, während diese es zergliedern und gleichsam wieder zusammensetzen (analysieren und rekonstruieren). Beiden Gruppen aber steht eine dritte schwacher Zeichner gegenüber, die überhaupt keine deutlichen Gesichtsbilder erfaßt, sondern ihre flüchtigen Eindrücke nur durch angespannte Vorstellungstätigkeit wiederzugeben vermag und deshalb leicht Zutaten in die Zeichnung hineinträgt.“58 Um eine allgemeine zeichnerische Entwicklung voranzubringen, sollte ein Ausgleich zwischen den zwei Vorstellungsarten, der Sehform und der Sehvorstellung, angestrebt werden, denn nur die Vorstellungsbildung, die gleicherweise auf ein auf eine Fläche reduziertes Gedächtnisbild des Objekts wie auf die unterschiedlichen Ansichten desselben Objekts zurückgreifen und diese zudem sinnvoll kombinieren kann, bildet die Grundlage für Abb.6: Reinhold 8 ½ -9 J. (Wulff 1927, Tafel LIV) Abb.7: Reinhold 9 ¾ -10 J. (Wulff 1927, Tafel LIV) die künstlerische Vorstellungsbildung.59 Wulff bezeichnet dies als die „ergänzende Vielseitigkeit“60. In Bezug auf die allgemeine bildnerische Begabung unterscheidet Wulff zwischen den verschiedenen Begabungsausprägungsarten. So differenziert er, wie oben beschrieben, 58 Wulff 1927, S. 71. Vgl. Wulff 1927, S. 74. 60 Vgl. Wulff 1927, S. 82. 59 Kostenfrei und werbegesponsert PDF drucken und direkt per E-Mail versenden >Test it free www.pdfmailer.de PDFMAILER.DE www.pdfmailer.de zwischen einer plastischen Begabung als der Grundlage für Bildnerei61 und einer Begabung für die Malerei.62 Zudem thematisiert Wulff den wesentlichen Unterschied zwischen den Zeichnungen eines künstlerisch Begabten und den Zeichnungen anderer Jugendlicher, die ebenso als gute Zeichner auffallen. Er kommt zur Überzeugung, dass ein ästhetischer Gestaltungstrieb oder eine Gestaltungsabsicht nicht der einzige Faktor sein kann, der den Unterschied ausmacht, denn auch ein Kopist wird dadurch vorangetrieben. Er handelt aber hauptsächlich aus seinem Gefallen an einem Kunstwerk heraus. Somit kann seine zeichnerische Leistung niemals als eine künstlerische verstanden werden. Der qualitative Unterschied ist nach Wulff in der stärkeren Gefühlsbetonung der eigenen Erzeugnisse zu sehen.63 Mit dieser Begründung bestätigt Wulff die von Kik (1909) geschaffte Differenzierung zwischen den verschiedenen zeichnerischen Begabungen. Nicht nur das Abzeichnen eines Erinnerungsbildes, sondern die Fähigkeit zur freien Einbildung ist ausschlaggebend für das Hervorbringen künstlerischer Leistungen. Als Beispiel führt Wulff die zeichnerischen Auseinandersetzungen eines 6- bis 7jährigen Jungen mit dem Motiv eines Vogels an: „In diesem Jahre beschäftigt den Knaben besonders der fliegende Kranich. Er wird bald in voller oder abgeschwächter Aufsicht auf die ausgebreiteten Flügeln wiedergegeben, bald in Seitenansicht mit übertriebener Verschiebung derselben nach hinten oder mit Überschneidung eines vor – und eines zurückgebogenen und gekrümmten, manchmal jedoch mit gestrecktem Halse (vielleicht in Verwechslung mit dem Storch). So wandelt die Einbildungskraft die zweifellos irgendwo aufgenommenen Bildeindrücke mannigfach ab.“64 Günther Mühle (1955) geht im Gegensatz zu Oskar Wulff bei seiner Auseinandersetzung mit dem Begabungsbegriff nicht nur von einer außergewöhnlicher zeichnerischen Leistung weniger Kinder aus, sondern versucht unter anderem gerade den qualitativen Unterschied zwischen der „Kunst des Kindes“und der Kunst aufzuzeigen.65 Seiner Meinung nach wirken im Kind nicht die gleichen Gestaltungsantriebe wie bei einem Künstler. Er stellt zudem fest, dass es Kinder gibt, die „späterhin niemals mehr zu irgendwelchen als Kunst anzusprechenden Leistungen gelangen, gelegentlich aber wie in einem glücklichen Wurf bildnerisch gültige Formulierungen finden, die in ihrer „künstlerischen“ Qualität überraschen.“66 Mühle nimmt an, dass es sich hierbei um versteckte oder unterdrückte Begabungen handelt. Wenn aber eine „rückständige“ oder „verschüttete“ bildnerische 61 Vgl. Wulff 1927, S. 93-116. Im sechsen Kapitel geht Wulff im Besonderen auf die plastische Begabung bei Kindern ein. Die von ihm aufgestellte Entwicklung der plastischen Begabung nimmt Bezug auf die ihm bekannten, veröffentlichten- und unveröffentlichten Untersuchungsberichte über die Bildnerei der Kinder wie auch auf das Material aus der Sammlung des Univ. historischen Instituts in Leipzig. 62 Vgl. Wulff 1927, S. 75. 63 Vgl. Wulff 1927, S. 78f. 64 Wulff 1927, S. 85. 65 Vgl. Mühle (1955) 1975, S. 5. 66 Mühle (1955) 1975, S. 5f. PDFMAILER.DE www.pdfmailer.de Kostenfrei und werbegesponsert PDF drucken und direkt per E-Mail versenden >Test it free www.pdfmailer.de Fähigkeit vorliegt, dann ist es gut möglich, dass diese selbst noch im Erwachsenenalter zum Durchbruch kommt.67 Es liegt nahe zu vermuten, dass Mühle im Ausdruck einer Zeichnung, die wesentliche künstlerische Leistung sieht. Als die Grundlage nimmt er ein „ausgeprägtes rhythmisches Einfühlungsvermögen“68 an. Jedes Individuum zeichnet ein Eigenrhythmus aus, das vom Kritzeln über das Schreiben bis hin zum Zeichnen erhalten bleibt. Der Ausdruck einer Zeichnung wird aber nicht von diesem Rhythmus determiniert, sondern vom Grade der Fähigkeit des Zeichnenden, „dem ihm verliehenen Rhythmus die Regel des Äußerungsfeldes einzuschmelzen“.69 Das Hauptmerkmal einer bildnerischen Begabung ist nach Meinung von Mühle eine speziell künstlerische Befähigung, die zu produktiv schöpferischen Leistungen führt. Unter diesem Gesichtspunkt engt sich der Kreis der „Begabten“nach Meinung von Mühle außerordentlich stark ein.70 Im Weiteren schreibt er, dass „der Begabte nicht nur etwas besser kann als ein anderer, sondern daß er etwas kann und auch erlebt, was dem dafür nicht begabten versagt bleibt.“71 Außerdem bestreitet Mühle, dass in der eidetischen Fähigkeit die Grundlage für bildnerische Begabung zu sehen ist. Er ist vielmehr der Meinung, dass „sie einer Entfaltung der künstlerischen Anlagen und Fähigkeiten hindernd im Wege“72 steht. Zwar gibt er an, dass diese Veranlagung recht nützlich ist beim originaltreuen Kopieren von anderen Zeichnungen, andererseits hindert eine stark ausgeprägte eidetische Fähigkeit gerade den Ausdruck der zeichnerischen Leistung, weil es dem Zeichner Schwierigkeiten bereitet eine gewisse Distanz zum Anschauungsbild aufzubauen. Mühle stimmt dem zu, dass das künstlerische Schaffen auf bestimmten angeborenen Fähigkeiten beruht, wie z.B. einer überdurchschnittlichen visuellen, akustischen oder motorischen Sensibilität. Hinzu kommen noch eine ausgeprägte „bilderkräftige“ Fantasie sowie schließlich eine besondere Ausdrucks- und Gestaltungskraft. Diese drei Komponenten reichen aber seiner Meinung nach immer noch nicht aus, um wirklich ein Künstler zu werden. Was „aus dem Nicht-Künstler den Künstler macht, ist die Art der Auseinandersetzung mit und der Grad der Teilhabe an der Kunst als solcher“.73 Deswegen vertritt Mühle die 67 Vgl. Mühle (1955) 1975, S. 8. Mühle (1955) 1975, S. 11. 69 Mühle (1955) 1975, S. 11. 70 Vgl. Mühle, Günther: Entwicklungspsychologie des zeichnerischen Gestaltens. Berlin (1955) 1975, S. 8. 71 Vgl. Mühle (1955) 1975, S. 8. 72 Mühle (1955) 1975, S. 10. 73 Mühle (1955) 1975, S. 14. 68 PDFMAILER.DE www.pdfmailer.de Überzeugung, Kostenfrei und werbegesponsert PDF drucken und direkt per E-Mail versenden >Test it free www.pdfmailer.de dass sich die künstlerische Gestaltung nicht aus den kindlichen Darstellungsformen entwickelt, sondern „sie bildet sich in der Auseinandersetzung mit der Tradition, mit fremder, gereifter oder eigener, bereits erreichter Form.“74 Damit gibt Mühle unmissverständlich zu verstehen, dass nach ihm frühestens ab der Pubertät die Zuschreibung einer bildnerischen Begabung vertretbar ist.75 2. Neuere Untersuchungen zur bildnerischen Begabung 2.1 Bildnerische Begabung nach Frank Schulz An der Universität Leipzig fand zwischen den Jahren 1972 und 1986 ein Forschungsprojekt „Bildnerische Entwicklung in der Ontogenese“unter der Leitung von Günter Regel statt,76 das sich zunächst mit aktuellen und ontogenetischen bildnerischen Prozessen und anschließend mit der Ontogenese der Künstlerpersönlichkeit befasste. 77 Für die retrospektive Untersuchung wurde Archivmaterial mit Selbstzeugnissen von sechzig Künstlern der ehemaligen DDR angelegt. Zudem wurde eine Fotodokumentation von Kinder- und Jugendzeichnungen der betreffenden Künstler erstellt, soweit diese noch vorhanden waren.78 Frank Schulz (1987) bearbeitete den größten Teil dieser Archivmaterialsammlung (42 bildende Künstler)79 als Quelle für seine Untersuchung zur Entwicklung des bildnerischen Talents.80 Die Auswertung der Untersuchungsdaten veranlasste Schulz für die Entwicklung des bildnerischen Talents ein Phasenmodell aufzustellen.81 Er geht von vier wesentlichen Verlaufsphasen aus. Die erste Phase, die sogenannte „konstitutive Phase“, ist in der frühen Kindheit anzusetzen. In dieser Phase werden bereits die ersten kreativen Gestaltungen gemacht und auf diese prägenden Grunderfahrungen hin wird dann später, meistens unbewusst, zurückgegriffen. Allerdings gibt es aber auch bildende Künstler, die sich in ihren Werken bewusst mit bestimmten Kindheitserfahrungen auseinandersetzen.82 74 Mühle (1955) 1975, S. 20. Vgl. Mühle (1955) 1975, S. 15. 76 Vgl. Schulz, Frank: Das bildnerische Talent und seine Ausprägung in der Ontogenese. Eine Studie zur Ausprägung der Künstlerpersönlichkeit. Leipzig 1987, S. 6. 77 Vgl. Schulz, Das bildnerische Talent und seine Ausprägung in der Ontogenese 1987a, S. 45f. 78 Vgl. Schulz 1987a, S. 7. 79 Bei der Auswahl der Künstler wurde darauf geachtet, dass in die Untersuchungsgruppe gleichermaßen Künstler aufgenommen wurden, die in verschiedenen Gattungen arbeiten und verschiedenen Generationen angehören, die sich aber alle unter gleichen gesellschaftlichen Bedingungen entwickelt haben. 80 Vgl. Schulz 1987a, S. 7. 81 Vgl. Schulz 1987a, S. 145. 82 Vgl. Schulz 1987a, S. 146f. 75 PDFMAILER.DE www.pdfmailer.de Kostenfrei und werbegesponsert PDF drucken und direkt per E-Mail versenden >Test it free www.pdfmailer.de Auf die „konstitutive Phase“folgt die „Phase des Dilettierens“. In dieser Phase erfährt das bildnerische Talent bestimmte Schlüsselerlebnisse und Begegnungen, die für seine weitere Entwicklung prägenden Einfluss haben. Die bildende Kunst wird als Betätigungsfeld entdeckt, es kommt zu eigenartigen bildnerischen Aktivitäten. In dieser Phase werden Kitsch-Postkarten oder Comics abgemalt oder kunsthandwerkliche Arbeiten erstellt, weil das bildnerische Talent in das Domänewissen83 noch nicht involviert ist. Schulz betont aber, dass diese Aktivitäten keineswegs als „Irrtümer“ anzusehen sind, die unbedingt zu vermeiden sind.84 Vielmehr sieht Schulz in ihnen „ernstzunehmende und achtbare Zeugnisse des Ringens, um auf dem Weg zur Kunst zu finden.“85 In der darauffolgenden „Ausbildungsphase“86 unterzieht sich das bildnerische Talent jeglicher Form einer speziellen bildnerischen Ausbildung, die aber keineswegs ein Studium an der Hochschule sein muss, sondern im Allgemeinen eine Ausbildung beim „Lehrer“ meint. Schulz konnte feststellen, dass die bildnerischen Talente „ihre spezielle Ausbildung (...) oft aufgrund eines außerordentlich starken Evidenzerlebens herbeigesehnt und nicht selten mit wiederholtem Anlauf regelrecht erzwungen“87 haben. Zudem konnte Schulz die von Oswald (1919) formulierte These88, dass es mit dem Beginn der Ausbildungsphase bei dem bildnerischen Talent nach einem „mäßigen Anfang“ bald zu „Höchstleistungen“ kommt, bestätigen.89 Die Hauptaufgabe für das bildnerische Talent in der Phase der Ausbildung besteht darin, mit Hilfe eigener Erfahrungen einen Einblick in die Strukturen der Schaffensprozesse zu gewinnen. Es bedarf aber einer Führung und einer gekonnten Lenkung durch die lehrende Person, um dabei sicher gehen zu können, dass in der Ausbildungsphase auch tatsächlich solche Erfahrungen gemacht werden.90 Nach der Ausbildung folgt in der Entwicklung des bildnerischen Talents die „Phase der Selbstidentifikation“. 83 Zu den in der Ausbildungsphase vom Lehrer unbewusst Begriff Domäne für ein bestimmtes Wirkungs- und Wissensfeld wurde von Csikszentmyhalyi eingeführt. Vgl. Csikszentmihalyi, Mihaly: The Domain of Creativity. in: Feldman, D.H.; Csikszentmihalyi, Mihaly; Gardner, Howard (Eds.): Changing the World. Westport 1994, 135-158. Vgl. auch Csikszentmihalyi, Mihaly: Kreativität. Stuttgart 1997. 84 Vgl. Schulz 1987a, S. 160-164, vgl. Schulz 1991, S. 23f. 85 Vgl. Schulz, Frank: Vom Werden des Talents. Ergebnisse von Fallstudien zur Entwicklung der Künstlerpersönlichkeit. in: Bildnerisches Volksschaffen 1/1989, S. 17. 86 Vgl. Schulz 1987a, S. 165-169. 87 Schulz 1987a, S. 165. 88 Oswald, Wilhelm: Große Männer. Leipzig 1919, S. 346, zitiert nach Schulz, Frank: Eigenart und Entwicklung des bildnerischen Talents. Kreativitätsforschung und „Talentologie der Kunst“. in: karlsruher pädagogische beiträge 41/1997, S. 166. 89 Vgl. Schulz 1987a, S. 167. 90 Vgl. Schulz 1997, S.165f. PDFMAILER.DE www.pdfmailer.de Kostenfrei und werbegesponsert PDF drucken und direkt per E-Mail versenden >Test it free www.pdfmailer.de übernommenen Gestaltungskonzeptionen wird während dieser Phase Distanz geschaffen, bis sie schließlich überwunden werden.91 In seiner Untersuchung stellt Schulz außerdem verschiedene gemeinsame Merkmale der bildnerischen Talente fest. Sie zeichnen sich durch eine ausgeprägte Imaginationsfähigkeit aus, d.h. bildnerische Talente besitzen die Fähigkeit, sich Bilder in Form und Farbe vorzustellen. Bei diesem Imaginationsprozess wird ihnen ein noch nicht existierendes Ergebnis bereits geistig präsent.92 Zudem ist den bildnerischen Talenten ein starkes Bedürfnis nach form- und farbsprachlichen Gestaltungen gemeinsam, aufgrund dessen sie ihr spezifisches Erleben ausdrücken und für andere in einer vorher noch nicht existierenden Form sichtbar machen.93 Sie benutzen also für ihre Kommunikation mit der Umwelt eine Form- und Farbsprache.94 Zudem geht Schulz davon aus, dass in der Künstlerpersönlichkeit innere Voraussetzungen „für die Erzielung besonderer Leistungen im Bereich der bildenden Künste“95 vorhanden sind. Diese inneren Voraussetzungen können mit einem „ganz besonderen Zusammenspiel spezifischer Fähigkeiten und Bedürfnisse“96 verstanden werden. Insgesamt unterscheidet Schulz drei wesentliche in der Persönlichkeit des Künstlers verankerten Dispositionen: Leistungsdisposition, Richtungsdisposition Dispositionsniveau.97 und Die Leistungsdisposition besagt, dass der Künstler aufgrund seiner inneren Voraussetzungen produktiv-schöpferische Leistungen98 vollbringen kann. Die Richtungsdisposition beschreibt den Aspekt, dass die Persönlichkeit auf einen oder zumindest nur wenige miteinander zusammenhängende Bereiche der Kunst gerichtet ist. Der dritte Bestimmungsaspekt ist das Dispositionsniveau. Damit meint Schulz, dass die 99 überdurchschnittlich hohen Niveau hervorgebracht wird. Leistung immer auf einem Insofern kann Talent im Sinne eines Potentials und seiner Realisierung in einer überdurchschnittlichen Leistung verstanden werden. 91 Vgl. Schulz 1987a, S. 169-171. Vgl. auch Regel Günter: Probleme der Herausbildung einer eigenen Gestaltungskonzeption der Studierenden. in: Theoretische Grundlagen der bildkünstlerischen Gestaltung (Konferenzmaterialien). Berlin 1978, S. 28. 92 Vgl. Schulz 1987a, S. 129f. 93 Vgl. Schulz, Frank: Die Eigenart des bildnerischen Talents. Aspekte einer Begriffsbestimmung. in: Weimarer Beiträge 34/1988, S. 1369. 94 Vgl. Schulz, Frank: Bildnerisches Talent- auf das Ganze der Persönlichkeit gerichtet. in: Kunsterziehung 11/1989, S. 224. 95 Vgl. Schulz 2000, S. 66. 96 Schulz 1997, S. 153 97 Vgl. Schulz, 1988, S. 1364-1367. 98 Im Zusammenhang mit der Leistungs- und Richtungsdisposition erklärt Schulz, dass ein Talent immer auf die produktive Tätigkeit eingestellt ist, nie nur auf die rezeptive. Dabei dürfen rezeptive und produktive Tätigkeit auf keinen Fall als Gegensätze verstanden werden, wie z.B. unschöpferisch und schöpferisch. So kann man bei einem Kunstbetrachter- oder Kunsttheoretiker nur von rezeptiv- schöpferischer Tätigkeit sprechen und keineswegs vom Talent. In diesem Zusammenhang kann eher von Begabung für Kunstrezeption, vom begabten Kunsthistoriker oder Kunstpädagogen die Rede sein. Vgl. Schulz 1987a, S. 59-62. 99 Vgl. Schulz 1988, S. 1364. PDFMAILER.DE www.pdfmailer.de Kostenfrei und werbegesponsert PDF drucken und direkt per E-Mail versenden >Test it free www.pdfmailer.de Für die vorliegende Arbeit ist wohl der bedeutendste Beitrag, den Schulz für die Begabungsforschung geleistet hat, seine retrospektive Untersuchung der Kindheit der Künstler. Schulz befasste sich mit der Frage, ob nicht schon in der Kindheit der Künstler gewisse gemeinsame Anzeichen auszumachen sind, die eine Aussage darüber erlauben, dass bereits zu diesem Zeitpunkt eine „Eignung“für die bildnerische Tätigkeit vorlag. Seine Untersuchungsergebnisse werden im Kapitel 9 „Die Kindheit des Künstlers“diskutiert. 2.2 Mehrebenenmodell der bildnerischen Begabung von Schütz und Wichelhaus Das Mehrebenenmodell von Schütz und Wichelhaus (1996) wurde im Rahmen des Projekts „Künstlerische Begabung und Entwicklung“der Heilpädagogischen Fakultät der Universität Köln entwickelt, das von Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie gefördert wurde. Die Aufgabe der Projektgruppe war, eine Literaturzusammenfassung über die bildnerische Begabung der letzten zwanzig Jahre zu erstellen. Berücksichtigt wurde neben der deutschsprachigen Literatur von allem die angloamerikanische Literatur der Psychologie, die auf diesem Gebiet differenzierte Ergebnisse aufweist.100 Genauso wurde die Kreativitätsforschung mit einbezogen, Die theoretische Übertragung gelang Norbert Schütz und Barbara Wichelhaus in einem Mehrebenenmodell der künstlerischen Begabung. Beim Aufbau ihres integrierenden Mehrebenenmodells für die Analyse der künstlerischen Begabung orientierten sich Norbert Schütz und Barbara Wichelhaus andem Konzept der amerikanischen Wissenschaftler Howard Gardner und C. Wolf (1994), die ein Modell entwickelten, um eine strukturierte Darstellung von Kreativität zu erzielen. Gardner und Wolf veranschaulichten das Konstrukt exemplarisch an der Person von Pablo Picasso und der Entstehung des Kubismus.101 Das Mehrebenenmodell von Schütz und Wichelhaus verknüpft wissenschaftliche Erkenntnisse interdisziplinär. Auf der ersten Ebene werden die neurobiologischen Grundlagen der künstlerischen Begabung diskutiert, dabei rücken das kreative Denken und Handeln in den Mittelpunkt des Interesses.102 Darauf folgen zwei personale Ebenen, die ihrerseits die kognitiven103 und die motivationalen Aspekte104 der künstlerischen Begabung 100 Schütz, Norbert; Wichelhaus, Barbara: Künstlerische Begabung und Entwicklung. Köln 1996, S. 1f. Vgl. Gardner, Howard; Wolf, C.: The Fruits of Asynchrony: A Psychological Examination of Creativity. in: Feldman, D.H:; Csikszentmihalyi, Mihaly; Gardner, Howard: Changing the World. Westport 1994, S. 47-68. 102 Vgl. Schütz/ Wichelhaus 1996, S. 93-99. 103 Vgl. Schütz/ Wichelhaus 1996, S. 100f. 104 Vgl. Schütz/ Wichelhaus 1996, S. 101-106. 101 PDFMAILER.DE www.pdfmailer.de Kostenfrei und werbegesponsert PDF drucken und direkt per E-Mail versenden >Test it free www.pdfmailer.de durchleuchten. Die vierte Ebene ist die impersonale Ebene,105 die sich inhaltlich mit dem spezifischen Wissen der Domäne der bildenden Kunst auseinandersetzt. Auf der fünften multipersonalen Ebene,106 wird das Feld, also das Fachgebiet der bildenden Kunst untersucht. Der einzige Unterschied im Modell von Schütz und Wichelhaus zum Modell von Gardner und Wolf ist die deutliche Schwerpunktlegung auf die personalen Ebenen.107 Abb.8: Mehrebenenmodell (Schütz/ Wichelhaus 1996, S. 103) Auf der subpersonalen Ebene werden auf Basis der neurobiologischen Untersuchungen genetische Determinanten für eine künstlerische Begabung gesucht, insbesondere die Strukturen und Funktionen des neuronalen Systems, die eine Person zu künstlerischen Aktivitäten veranlassen. Bei den Ansätzen sind grundsätzlich zwei Sichtweisen vertreten. Die erste Gruppe nimmt keinen genetisch determinierten Unterschied zwischen herausragenden und weniger herausragenden Personen im Bereich der Kunst wahr. Für sie entstehen die Unterschiede erst im Bereich der Motivation. Die zweite Gruppe hingegen vertritt eine neurologische Theorie der Begabung, schließt aber trotzdem die Motivationskomponente und vor allem die Notwendigkeit der Übung nicht aus.108 Eine wichtige Rolle bei der Suche nach den neurologischen Grundlagen der Begabung nimmt die Untersuchung der Gehirnlateralitäten ein, insbesondere der rechten Hemisphäre. Hierzu gibt es zwei Hypothesen. Zum einen führen die Wissenschaftler die meisten speziellen Begabungen auf die neurologischen Defizite der linken Hemisphäre und auf eine uneingeschränkte Funktion der rechten Hemisphäre zurück. So weist der bildende Künstler nach einer Studie von Ellen 105 Vgl. Schütz/ Wichelhaus 1996, S. 106f. Vgl. Schütz/ Wichelhaus 1996, S. 108-110. 107 Vgl. Schütz/ Wichelhaus 1996, S. 92f. 108 Vgl. Schütz/ Wichelhaus 1996, S. 93f. 106 PDFMAILER.DE www.pdfmailer.de Kostenfrei und werbegesponsert PDF drucken und direkt per E-Mail versenden >Test it free www.pdfmailer.de Winner und Beth Casey (1992) visuell-räumliche Talente auf, hat aber dafür linguistischsprachliche Defizite. Weil die Person mit diesen Grundlagen ausgestattet ist, wendet sie sich zwangsläufig der nonverbalen Ausdrucksweise hin, um das schwache Verbalvermögen auszugleichen.109 Auf der ersten Ebene des Modells versuchen Schütz und Wichelhaus die Erkenntnisse der Neurogenese mit der pädagogischen Förderung zu verknüpfen.110 Dabei rückt der Gehirnbalken (Corpus callosum) in das Blickfeld, denn die erstaunliche menschliche Lernfähigkeit in der frühen Kindheit wird auf das neurophysiologische Wachstumspotential des Gehirnbalkens zurückgeführt. Die Myelinisierung der Balkennervenfaser wird erst im Alter von 11- 13 Jahren abgeschlossen. Bis zu diesem Zeitpunkt arbeiten beide Gehirnhälften auf der ihnen gemäßen Art nebeneinander, ohne dass sie sich stören. Bereits kurz vor dem Schuleintritt kommt es zu einer beginnenden Kooperation der Gehirnhälften. Gegen das Ende der Grundschulzeit wird schon von einer Dominanz der linken Hemisphäre ausgegangen. Nun ist der Balken in der Lage den Informationsfluss zwischen den Gehirnhälften zu unterbrechen, wenn eine Aufgabe besser von einer der Hälften gelöst werden kann. Es kommt zur Koordination der Hemisphären, die für das ausgewachsene Gehirn charakteristisch ist.111 Die Untersuchungen zur Hemisphärendominanz zeigen aber, dass bei künstlerisch Tätigen im Vergleich zu anderen Untersuchungsgruppen die neocorticalen Hemisphären ausbalancierter sind.112 Schütz und Wichelhaus weisen darauf hin, dass nun entsprechende Forschungsansätze erarbeitet werden müssen, die genau klären sollen, ob die zum künstlerischen Arbeiten notwendige neocorticale interhemisphärische Balance wirklich im Kunstunterricht gefördert werden kann oder ob diese eher durch „Kompensation von Defekten in der Neurogenese“entsteht.“113 Die personale Ebene der Kognition ist die zweite Ebene des integrierenden Modells. Es gibt zwar nach Howard Gardners (1991) Theorie der multiplen Intelligenz keine eigenständige künstlerische oder bildnerische Intelligenz, jedoch nimmt er an, dass für die bildenden Künstler vielmehr ein Intelligenzprofil in einer Kombination aus räumlicher und körperlichkinästhetischer Intelligenz existiert.114 109 Vgl. Vgl. Vgl. Winner, Ellen; Casey, Beth M.: Cognitive Profiles of Artist. in: Cupchik, Gerald C.;Lászlo János (Ed.): Emerging Visions of the Artist Process. Cambrige 1992, S. 168. 110 Vgl. Schütz/ Wichelhaus 1996, S. 99. 111 3 Vgl. Birbaumer, Niels; Schmidt, Robert f.: Biologische Psychologie. Berlin (1990) 1996 . 112 Vgl. Schütz/ Wichelhaus 1996, S. 95. 113 Vgl. Schütz/ Wichelhaus 1996, S. 99. 114 Gardner, Howard: Frames of mind: The theory of multiple intelligences. London 1985. Deutsche Übersetzung: Abschied vom IQ: Die Rahmen-Theorie der vielfachen Intelligenz. Stuttgart 1991. PDFMAILER.DE www.pdfmailer.de Kostenfrei und werbegesponsert PDF drucken und direkt per E-Mail versenden >Test it free www.pdfmailer.de Außerdem wird auf dieser Ebene die Künstlerpersönlichkeit näher untersucht. Eine bekannte Längsschnittstudie im Rahmen der Erforschung der Persönlichkeitseigenschaften bei Künstlern liefern Jakob Getzels und Mihaly Csikszentmihalyi (1976). Aus ihrer Untersuchung geht hervor, dass die Kunststudenten sozial distanziert sind, ernsthaft und introspektiv erscheinen und stark geneigt sind ihren eigenen Wünschen zu entsprechen. Zudem werden dem Künstler Experimentierfreude und Selbstgenügsamkeit zugeschrieben. Außerdem stellten Getzels und Csikszentmihalyi geschlechtsspezifische Unterschiede fest. So sind die Kunststudentinnen dominanter als andere Frauen ihrer Altersgruppe, während sich die Kunststudenten als sensibler, fantasievoller und effeminierter im Vergleich zu ihrer Bezugsgruppe zeigen.115 Eine ähnliche Untersuchung, bei der die Mitglieder des Deutschen Künstlerverbandes mit Nicht-Künstlern116 sowie erfolgreiche Künstler mit weniger erfolgreichen Künstlern verglichen wurden117, führten in Deutschland Karl Otto Götz und Karin Götz (1979a,1979b) durch. Die dritte Ebene des Modells befasst sich mit der Motivation. Howard Gardner und C. Wolf (1994) stellen fest, dass sich kreative Persönlichkeiten im Profil ihrer Intelligenz stark voneinander unterscheiden, in allen anderen nicht kognitiven Bereichen, wie Persönlichkeit, Motivation, Emotion weisen sie eher Ähnlichkeiten auf. In diesem Zusammenhang ist jedoch noch nicht geklärt, welche Wirkung bei den Einzelnen das Selbstkonzept von der eigenen bildnerischen Begabung auf die Entscheidung hat, für sich einen künstlerischen Beruf zu wählen. Es wird aber angenommen, dass verschiedene Sozialisierungsvariablen den Entschluss determinieren, indem sie ihn hemmen oder fördern. Die vierte Ebene des Modells umfasst die Domäne118 des Wissens. Auf dieser impersonalen Ebene bekommt die Kunstpädagogik eine wichtige Rolle zugewiesen, da sie entscheidend zur Wissensvermittlung beitragen kann, indem sie die „Novizen“ in den Stand eines „Experten“versetzen kann. Dabei ist mit dem Prozess der Wissensvermittlung keineswegs die Erziehung einer Person zum Künstler gemeint, sondern vielmehr eine allgemeine ästhetische Erziehung. Dabei repräsentiert sich der aktuelle Stand des „Wissens“ nach Schütz und Wichelhaus am deutlichsten in den Ateliers und Werkstätten der Künstler, in großen Ausstellungen wie auch in der Kunstkritik.119 115 Vgl. Getzels, Jakob W.; Csikszentmihalyi, Mihaly: The Creative Vision. A Longitudinal Study of Problem Finding in Art. New York 1976, S. 38f. 116 Vgl. Götz, Karl Otto; Götz, Karin: Personality Characteristics of Professional Artist. in: Perceptual and Motor Skill, 49/1979, S.327-344. 117 Vgl. Götz, Karl Otto; Götz, Karin: Personality Characteristics of Successful Artist. in: Perceptual and Motor Skill, 49/1979, S. 919-924. 118 Der Begriff „Domäne“wurde von Mihaly Csikszentmihalyi eingeführt. Vgl. Csikszentmihalyi, Mihaly: Kreativität. Stuttgart 1997. 119 Vgl. Schütz/ Wichelhaus 1996, S. 107. Kostenfrei und werbegesponsert PDF drucken und direkt per E-Mail versenden >Test it free www.pdfmailer.de PDFMAILER.DE www.pdfmailer.de Die fünfte Ebene des Modells ist die multipersonale Ebene des Feldes120. „Im Feld sind jene Personen zusammengeschlossen, die im betreffenden Fachgebiet arbeiten, und über ihre Tätigkeit regulativ-ordnend auf die Domäne Einfluß nehmen,“121 u.a. Kunstkritiker, Galeriebesitzer, Kunstliebhaber, Kunstkollegen usw.. Darüber hinaus dürfen nach Schütz und Wichelhaus jene Personen nicht ausgeschlossen sein, „die sich dem offiziellen Weg nicht stellen.“122 Besonders brisant ist dabei die Frage, aus welchem Grund sich „potentielle Künstler dem Feld des Marktes verweigern, warum künstlerisch Begabte in benachbarten Fachfelder ansiedeln und welche Wege künstlerisch Interessierte gehen.“123 Schütz und Wichelhaus nehmen an, dass die Diskussion auf der Basis der Analyse der unterschiedlichen „Selbstkonzepte künstlerischer Begabung“erfolgen sollte. Damit schreiben sie den motivationalen Komponenten die zentrale Rolle im Konstrukt der „künstlerischen Begabung“zu. In ihrem Mehrebenenmodell sehen Schütz und Wichelhaus vor allem ein Instrumentarium, mit dessen Hilfe in zukünftigen Forschungsarbeiten die Entwicklungsgrundlagen künstlerischer Begabung weitreichend zu erschließen wären.124 3. In Untersuchungen zur bildnerischen Begabung von Ellen Winner der Forschungsarbeit von Ellen Winner können zwei richtungsweisende Forschungsansätze ausgemacht werden. Zu einem trägt sie im Wesentlichen dazu bei, die Begabungsfrage aus der psychologischen Sicht zu thematisieren, indem sie nach den besonderen neuralen Grundlagen der Begabung fragt und die Art der Informationsverarbeitung bei Künstlern und Kunststudenten untersucht. Zum andern ist sie bemüht mit Fallstudien die Hochbegabung bei Kindern zu illustrieren, wie auch ausführlich ähnliche Fallstudien zu diskutieren.125 120 Der Begriff „Feld“ wurde ebenfalls von Mihaly Csikszentmihalyi eingeführt. Vgl. Csikszentmihalyi, Mihaly: Society, culture, and person: A system view of creativity. in: Starnberg R.J. (Ed.): The nature of creativity. Cambridge 1988, S. 325-339. 121 Schütz/ Wichelhaus 1996, S. 108. 122 Schütz/ Wichelhaus 1996, S. 109. 123 Schütz/ Wichelhaus 1996, S. 109. 124 Vgl. Schütz/ Wichelhaus 1996, S. 11. 125 Vgl. Winner, Ellen; Martino, Gail: Giftedness in the Visual Arts and Music. in: Heller, Kurt A.; Mönks, Franz J.; Passow, Harry A. (Ed.): International Handbook of Research an Development of Giftedness and Talent. Oxford 1993, S. 253-282. Kostenfrei und werbegesponsert PDF drucken und direkt per E-Mail versenden >Test it free www.pdfmailer.de PDFMAILER.DE www.pdfmailer.de 3.1 Neurologische Grundlagen der Begabung nach Winner Ellen und Mitarbeitern Ellen Winner geht davon aus, dass die Begabung genetisch determiniert ist. Sie nimmt also an, dass die Gehirnorganisation von Künstlern oder Kunststudenten Unterschiede zu anderen bildnerisch nicht auffallenden Personen aufweist. In einer Untersuchung versuchen Winner und Casey (1992) zu klären, ob es einen Unterschied in den Mustern der kognitiven Verarbeitung zwischen Künstlern und anderen Menschen gibt. Da sie von vornherein die bevorzugten kognitiven „Module“ beim bildenden Künstler im Bereich der visuellen Repräsentation vermuteten, untersuchten sie überwiegend Module in diesem Bereich. Drei visuelle Teilfunktionen wurden untersucht: (1) Das visuelle Erinnerungsvermögen (visual memory), (2) die Umwandlung von inneren Bildern (image transformation), (3) die Erzeugung von Bildern (image generation). Als Vergleichsgruppe wurden Mathematik- und Naturwissenschaftsstudenten sowie Studenten der Geisteswissenschaften herangezogen. Überraschenderweise erreichten die Kunststudenten im ersten Teilbereich niedrigere Werte als ihre Vergleichsgruppen. Winner und Casey ziehen aus diesem Ergebnis den Schluss, dass sich Künstler nicht durch ihr visuelles Gedächtnis für einfache Muster auszeichnen, sondern sich deutlich besser an interessante Bilder erinnern. Im zweiten Teilbereich schnitten die Kunststudenten Mathematikab, und aber Geisteswissenschaftsstudenten. Im Naturwissenschaftsstudenten deutlich am dritten Teilbereich, wieder besser als schwächsten waren die Erzeugung mentaler Bilder, überzeugten ebenso die Kunststudenten.126 Sie konnten am besten Aufgaben lösen, bei denen sie zweidimensional gezeichnete Figuren in der Vorstellung zu dreidimensionalen Gebilden überführen sollten, um anschließend die abbildungsgleichen Seiten zu identifizieren. Anhand dieser Ergebnisse konnten sie bestätigen, dass die Kunststudenten über ein hohes Potential für räumliche Transformationsprozesse verfügen.127 Im Zusammenhang mit der visuell-räumlichen Stärke der Kunststudenten wird häufig die Händigkeit gebracht. Im Tätigkeitsbereich der bildenden Kunst besteht ein überdurchschnittlich hoher Anteil an Linkshändern. Es gibt einige Belege, dass bei den Linkshändern die Koordination der Hemisphären im Bereich der Neocortex weniger lateralisiert ist, als das bei den Rechtshändern der Fall ist. Winner und Casey vermuten, dass die weniger lateralisierten Menschen visuelle Strategien effektiver anwenden und dass sich ihre kognitive Verarbeitung durch „Denken in Bildern“auszeichnet.128 126 Vgl. Vgl. Winner, Ellen; Casey, Beth M.: Cognitive Profiles of Artist. in: Cupchik, Gerald C.;Lászlo János (Ed.): Emerging Visions of the Artist Process. Cambrige 1992, S. 168. 127 Vgl. Winner, Ellen; Casey, Beth M.; DaSilva, Dan; Hayes, Ron: Spatial Abilities and Reading Deficits in Visual Art Students. in: Empirical Studies of the Art, 9(1)/1991, S. 51-63. 128 Vgl. Winner/ Casey 1992, S. 163. PDFMAILER.DE www.pdfmailer.de Kostenfrei und werbegesponsert PDF drucken und direkt per E-Mail versenden >Test it free www.pdfmailer.de In einer weiteren Untersuchung wollten Casey, Winner, Hurwitz und DaSilva (1991) den Anteil der „Visualisierer“ in einer Stichprobe von 215 Kunststudenten ausmachen. Sie konnten feststellen, dass 69% der Kunststudenten den visuellen Verarbeitungsstil benutzten. Bei der Vergleichsgruppe war die Aufteilung der „Visualisierer“und „Verbalisierer“in etwa gleich.129 Winner und Casey stellten fest, dass es ein Zusammenhang zwischen verbalen Defiziten und räumlicher Begabung bei Kunststudenten besteht.130 Winner geht also davon aus, dass die bildnerische Begabung auf einer genetischen Veranlagung beruht und meistens mit rechtshemisphärischen Defekten im Zusammenhang steht.131 Sie nimmt auch an, dass bei Künstlern in Bereich der Neocortex eine geringere Lateralisierung vorzufinden ist. Bildnerische Begabungen zeichnen sich ihrer Meinung nach durch einen kognitiven Stil aus, der sich durch „Denken in Bildern“ charakterisiert. Grundsätzlich vertritt sie damit die gleiche Meinung wie Schulz (1987), der bei den Künstlern eine Formund Farbsprache als Kommunikationsträger annahm. 3.2 Fallstudie über den zeichnerisch talentierten Peter von Ellen Winner Hochbegabte Kinder stehen im Mittelpunkt der Untersuchung Abb.9: Peter 5 ½ J. (Winner 1998, S. 60) von Ellen Winner (1997). In Fallbeispielen illustriert sie unterschiedlichste Formen der Hochbegabung, geht dabei auch auf Peter ein, den sie als einen außergewöhnlich talentierten Zeichner beschreibt.132 Er erzielte bereits mit 5 ½ Jahren im Draw–a-Person-Test von Goodenough (1926) weitaus bessere Ergebnisse als ein durchschnittlich entwickelter 14jähriger. Winner vertritt die Meinung, dass sich dieser Test aufschlussreich bei der Erkennung vom Grad der zeichnerischen Talente zeigt, auch wenn er über die Höhe des IQ ihrer 129 Abb.10: Peter6,9 J. (Winner 1998, S. 74) Vgl. Casey, Beth; Winner, Ellen; Hurwitz, E.; DaSilva, Dan: Does processing style affect recall of the ReyOsterrieth or Taylor Complex Figures? Journal of Clinical and Experimental Neuropsychology 13(4)/1991, S. 600606. 130 Vgl. Winner, Ellen: Hochbegabte, Wunderkinder und „Savants“. in: Spektrum der Wissenschaft 1/2002, S. 44f, vgl. auch Winner/Casey 1992, S. 168. 131 Vgl. Winner/ Casey 1992, S. 165. 132 Vgl. Winner 1998, S. 58-57. Kostenfrei und werbegesponsert PDF drucken und direkt per E-Mail versenden >Test it free www.pdfmailer.de PDFMAILER.DE www.pdfmailer.de Meinung nach keine relevante Aussage macht.133 Peters Zeichnung aus diesem Test (Abb. 43) belegt durch „ein außergewöhnliches Maß an Perspektive, Dimension und Details“134 sein zeichnerisches Talent. Im Weiteren beschreibt sie Peter als einen Jungen, der vom Zeichnen wie besessen schien und ununterbrochen zeichnete. Sie stellt zudem fest, dass er schon sehr früh, früher als die Kinder ohne besonderes bildnerisches Talent, zu zeichnen begann. Zudem beobachte sie bei ihm eine akzelerierte zeichnerische Entwicklung. In seinen Zeichnungen konnte sie ein breites Repertoire an Motiven ausmachen. Sie beschreibt, dass bei Peter oft sind längere Phasen auszumachen sind, in denen Peter nur an der Vervollkommnung eines Motivs arbeitete. Dabei zeichnete er nur aus der Beobachtung, was sie in diesem Alter für außergewöhnlich hält.135 Peter schuf sich immer schwierigere Aufgaben, indem er immer komplexere Motive zeichnete, z.B. Menschen in Bewegung oder in ungewöhnlichen Stellungen (Abb. 44). Sie be-richtet, dass Peter sogar seine Zeichnungen animierte.136 Über Peters intellektuelle Fähigkeiten stellt Winner fest, dass diese keine Auffälligkeit aufwiesen, außer wenn sie im Dienste seiner zeichnerischen Aktivitäten standen. Zum Beispiel konnte Peter mit zwölf Monaten die Gegenstände mit Grundfarben bezeichnen, mit 1 ½ Jahren beherrschte er die Bezeichnungen für Farbzwischentöne. Mit 2 ½ Jahren konnte er sogar jede Farbe benennen.137 Mit zwei Jahren zeichnete Peter sogar die Buchstaben, die er wie auch die Zahlen alle kunstvoll verzierte. Er wollte aber nicht normal schreiben und konnte nicht immer die aufgeschriebenen Zahlen richtig erkennen. Lobend äußert sich Winner über das Verhalten der Lehrerin von Peter, die Verständnis für sein Zeichenbedürfnis hatte und ihn nicht vom Zeichnen abhielt, da er auch in der Schule fast ununterbrochen Abb.11: Peter 6,5 J. (Winner 1998, S. 69) zeichnete.138 Von Peters Fallstudie wie auch von anderen ähnlichen Untersuchungen anderer Autoren139 ausgehend, macht Winner „einige allgemeine Feststellungen über Zeichnungen 140 hochbegabter Kinder.“ Sie schreibt: „Die Kernfähigkeit von zeichnerisch begabten Kindern ist ein früh entwickeltes visuell-räumliches Vorstellungsvermögen, wodurch sie Konturen von 133 Vgl. Winner 1998, S.59. Winner 1998, S. 59. 135 Vgl. Winner 1998, S. 59-61. 136 Vgl. Winner 1998, S. 69f. 137 Vgl. Winner 1998, S. 74f. 138 Vgl. Winner 1998, S. 75f. 139 Winner geht im Zusammenhang mit der zeichnerischen Hochbegabung auf die Untersuchung von Claire Golomb über den zeichnerisch Hochbegabten Eitan ein. (Golomb 1992, 1995). Zudem beschreibt sie die Chinesin Wang Yani (Goldsmith1992, Goldsmith/ Feldman 1989). 140 Winner 1998, S. 76. 134 PDFMAILER.DE www.pdfmailer.de Kostenfrei und werbegesponsert PDF drucken und direkt per E-Mail versenden >Test it free www.pdfmailer.de dreidimensionalen Objekten auf zweidimensionalen Oberflächen wiedergeben können.“141 Zudem führt sie mehrere Merkmale an, die für die Zeichnungen von zeichnerisch begabten Kindern charakteristisch sind. Hochbegabte Kinder zeichnen, so Winner bereits mit zwei Jahren erkennbare Formen, bedeutend früher als die anderen Kinder. Statt Schemata zeichnen sie Objekte nur mit einer flüssigen und sicheren Umrisslinie (Abb. 45). Zudem sind die Zeichnungen detailreich und erscheinen aus diesem Grund realistischer als die Zeichnungen der Gleichaltrigen. Es kommt auch vor, dass sich die zeichnerisch hochbegabten Kinder die notwendige Information zur Erschienungsform bestimmter Gegenstände, die sie zu zeichnen beabsichtigen, aus Büchern beschaffen.142 Winner ist zudem der Überzeugung, dass diese Kinder vom frühesten Alter an in der Lage sind alle Techniken zur Erzeugung der Tiefenwirkung wie Verkürzungen, Überschneidungen, Größenstaffelung, Volumenmodellierung und sogar lineare Perspektive in der Zeichnung einzusetzen. Winner nimmt an, dass diese Kinder „dabei 143 Wahrnehmungsstrategie als eine begriffliche Strategie anwenden.“ eher eine figurale Das bedeutet, diese Kinder sehen die Formen samt Verzerrungen, die entstehen, wenn sich ein Objekt in die Tiefe des Raumes erstreckt. Sie müssen keine Regeln der Perspektive lernen, sie beherrschen diese einfach aus der Eigeninitiative.144 Winner stellt aber fest, dass zunächst die angewendeten Perspektivetechniken noch recht einfach und nur auf einzelne Objekte der Darstellung begrenzt sind. Sie werden aber immer komplexer. Außerdem verfügen zeichnerisch begabte Kinder ihrer Meinung nach über ein ausgezeichnetes visuelles Langund Kurzzeitgedächtnis.145 Es kommt vor, dass diese Kinder Szenen realistisch zeichnen, die sie vor längerer Zeit betrachteten, und trotzdem bereitet ihnen die zeichnerische Wiedergabe keine Schwierigkeiten.146 Zeichnerisch talentierte Kinder zeichnen Objekte in schwierigen Positionen und variieren die Ausrichtung der Figuren (Abb. 46). Winner meint sogar, dass in den Zeichnungen von Kindern wie Peter bereits eine Komposition steckt.147 Diese detaillierte 141 Winner 1998, S. 76. Vgl. Winner 1998, S. 76-79. 143 Winner bezieht sich bei der Unterscheidung zwischen einer figuralen und einer begrifflichen Strategie auf die Erkenntnisse der Gehirnforschung, vor allen auf die Arbeiten von Sperry (1968). Sperry führte Untersuchungen an dem Gehirn von Split-Brain-Patienten (gespaltenes Hirn) durch und kam zur Erkenntnis, dass das menschliche Gehirn in seiner kognitiven Verarbeitung zwei grundlegend verschiedene Denkmodi benutzt. Die linke Hemisphäre benutzt bei der Informationsverarbeitung einen verbal-analytischen Modus (Winner: begriffliche Strategie) und die rechte einen visuell-ganzheitlichen Verarbeitungsstil (Winner: figurale Strategie). Somit ist das sprachliche, analytische Denken in der linken Hemisphäre angesiedelt, das visuelle Denken in der rechten. Vgl. Sperry, Roger W.: Hemisphere Disconnection and Unity in Conscious Awareness. in: American Psychologist 23/1968, S. 723-733. Auf diese wissenschaftlichen Erkenntnisse von Sperry baute Betty Edwards in den 70er Jahren ihren Zeichenkurs auf. Betty Edwards vertritt die Meinung, dass die Fähigkeit zeichnen zu können eng verbunden ist mit der Fähigkeit von dem Arbeitsmodus der linken Gehirnhälfte auf die rechte umzuschalten, weil die rechte Hemisphäre eindeutig besser mit zeichnerischen Aufgaben umgehen kann. Vgl. Edwards 2001, S. 1323. 144 Winner 1998, S. 79. 145 Vgl. Winner 1998, S. 105f, vgl. auch Winner, Ellen: Wenn ein Pelikan den Seehund küsst. in: Psychologie heute 14/1987, S. 35. Diese Auffassung vertritt auch Claire Golomb. Vgl. Golomb, Claire: Child Art in Context. Washington DC 2002, S. 134. 146 Vlg. Winner 1998, S. 70. 147 Vgl. Winner 1998, S. 82f. 142 Kostenfrei und werbegesponsert PDF drucken und direkt per E-Mail versenden >Test it free www.pdfmailer.de PDFMAILER.DE www.pdfmailer.de Beschreibung von den Fähigkeiten zeichnerisch talentierter Kinder ergänzt sie aber mit der Anmerkung: „However, not all children who show such skill in drawing become artist as adults; nor do all adults artist begin as child virtuosi.”148 Ohne Frage, mit der ausführlichen Beschreibung der zeichnerischen Entwicklung von Peter bringt Winner zwar den Beitrag, auf den zumindest begabungs-interessierte Kunstpädagogen seit langem warten, trotzdem kann er nicht hinwegtäuschen über bestimmte Problematiken, die mit der Forschungsmethode von Winner verbunden sind. Zum einen geht Winner nur deskriptiv vor, versäumt aber dabei gänzlich darauf hinzuweisen, welche Untersuchungsergebnisse sie zu diesen Annahmen geführt haben. Es finden sich im Buch keine Hinweise darauf, ob mit den Eltern und Lehrern von Peter Interviews durchgeführt wurden, ob überhaupt und über welchen Zeitraum Peter beim Zeichnen eventuell beobachtet wurde. Lediglich weist sie darauf hin, dass seine Zeichnungen analysiert wurden. Zwar ist diese Vorgehensweise eine für die Abb.13: Peter 7,4 J. (Winner 1998, S. 72) angloamerikanischen Publikationen keine untypische, trotzdem weckt sie den Zweifel an der Richtigkeit der Ergebnisse. Zum anderen muss die Verallgemeinerung der Begabungsmerkmale, die Winner bei Peter feststellte, als allgemeingültig bei allen anderen zeichnerisch außergewöhnlichen Kindern stark in Frage gestellt werden. Denn es ist davon auszugehen, dass bei den bildnerisch Begabten wie auch bei den Begabten in anderen Feldern starke individuelle Unterschiede eher die Regel als die Ausnahme sind.149 4. Die Kindheit des Künstlers Die Beiträge von Winner (1997), Golomb (1992,1995), Goldsmith (1992), Goldsmith und Feldman (1989) und Selfe (1977, 1995) sind wohl die einzigen, die sich mit einer außergewöhnlichen bildnerischen Begabung im Kindesalter befassen. In den betreffenden Fallanalysen beschreiben die Autoren zwar detailliert die bildnerischen Hochleistungen dieser Kinder, sie können aber keine Aussage darüber machen, ob sich diese Kinder tatsächlich zum Künstler hin entwickeln. Dafür fehlen weitere Längsschnittsuntersuchungen, die über derartige Entwicklungen berichten könnten. Da keine prospektiven Untersuchungen 148 Winner, Ellen; Pariser, David: Giftedness in the Visual Art. in: Item 12/1985, S. 67. Vgl. Bautz 2003, S. 41. Er unterscheidet zwischen einer expressiven Begabung (Ausdruck der Innenwelt), einer mimetischen (Einfühlung in Außen- und Innenwelt) und einer konstruktiven (die Abstraktion und Rekonstruktion der Außenwelt). 149 PDFMAILER.DE www.pdfmailer.de vorliegen, Kostenfrei und werbegesponsert PDF drucken und direkt per E-Mail versenden >Test it free www.pdfmailer.de muss diesbezüglich auf retrospektive Untersuchungen von Künstlern zurückgegriffen werden, die über deren bildkünstlerische Aktivitäten im Kindes- und Jugendalter berichten. So war das Anliegen von Frank Schulz (1987) zu klären, ob „doch gewisse Anzeichen einer Talententwicklung schon in der Kindheit nach außen dringen, (und ) ob spätere bildende Künstler in ihrer Kindheit eine besondere Eignung für die bildnerische Tätigkeit verrieten,“150 insbesondere deswegen, weil die Meinung weit verbreitet ist, die Künstler hätten in ihrer Kindheit bereits anders, ja sogar besser gemalt, gezeichnet, geformt als die anderen Gleichaltrigen.151 Mit dieser Überzeugung geht man davon aus, dass bereits in der Kindheit besondere innere Voraussetzungen vorhanden sind, die besondere künstlerische Leistungen hervorsagen können.152 Aus den retrospektiven Fallstudien geht aber eindeutig hervor, dass die untersuchten Künstler in ihrer Kindheit überhaupt nicht von Anfang an ersichtlich anders bildnerisch gestaltet haben als die anderen Kinder.153 Tatsächlich konnten bei den meisten von Schulz (1987) untersuchten Künstler, erste bildnerisch auffällige Arbeiten erst im beginnenden oder späteren Jugend ausgemacht werden.154 Auffallend viele Künstler aber berichten darüber, dass sie in ihrer Kindheit mit sehr großer Leidenschaft gebastelt zu haben, d.h. dass sich das Bedürfnis irgendwie etwas Kreatives zu machen wesentlich früher ausgeprägt hat als zeichnen zu wollen.155 Einige der Künstler kamen erst über eine musikalische Betätigung zur bildenden Kunst.156 Damit muss die frühzeitige Gerichtetheit auf den bildnerischen Ausdruck als einem der Hauptmerkmale des bildnerischen Talents in Frage gestellt werden.157 Die empirischen Daten sprechen, so Schulz, „gegen die verbreitete Legende, aber auch bisweilen theoretisch verfochtene These, bildnerische Talente würden von Beginn ihrer Entwicklung an einem inneren Zwang unterstehen und seien wie behext, sie müssten ihren bildnerischen Trieben folgen.“158 Aus der Untersuchung von Bernd Lindner und Jochen Hahn (1989) geht hervor, dass der Entschluss ein Studium der bildenden oder angewandten Kunst aufzunehmen, von Studierenden erst mit einem Durchschnittsalter von 17 Jahren gefasst wird. Jedoch ergab die Untersuchung, dass die Studierenden schon im Alter von 10 Jahren wegen ihrer über 150 Schulz 1997, S. 158 Vgl. Schulz, Frank: Das bildnerische Talent. Neues zu einem alten Thema? 158/1991, S. 20f. Vgl. auch Schulz 1997, S. 159 und Schulz 1987a, S. 249f. 152 Vgl. Schulz 1987a, S. 148. 153 Vgl. Schulz 1987a, S. 154. 154 Vgl. Schütz 1987a, S. 153. 155 Vgl. Schulz 1991, S. 22. 156 Vgl. Schulz 1987a, S. 157f. 157 Nach Karl Mierke (1963) sind wesentliche Komponenten der zeichnerischen Begabung eine auffällige Objektionsbereitschaft und Objektionsfähigkeit. Zeichnerisch talentierte Jugendliche fühlen sich seiner Meinung nach „gedrängt, subjektive Erlebnisqualitäten in die Objekte und Akte ihres Schaffens zu projizieren“. Vgl. Mierke, Karl: Begabung, Bildung und Bildsamkeit. Bern 1963, S. 101. 158 Schulz 1987a, S. 155. 151 PDFMAILER.DE www.pdfmailer.de Kostenfrei und werbegesponsert PDF drucken und direkt per E-Mail versenden >Test it free www.pdfmailer.de den Schulunterricht hinausgehenden Leistungen aufgefallen sind.159 Aus der Analyse der Kinder- und Jugendzeichnungen der Künstler konnte Schulz (1987) feststellen, dass viele bildnerische Talente verschiedene Schemata für ein und dasselbe Objekt, z.B. für „Wiese“, „Wasser“ und „Raum“, in ihrem Repertoire hatten, die sie je nach der beabsichtigten Aussage einsetzen.160 Außerdem konnte Schulz auch feststellen, dass in erster Linie die Eltern die Entwicklung eines bildnerischen Talents beeinflussen. Aus den Biografien der Künstler ging hervor, dass diese in der Regel Eltern hatten, die mehr oder weniger erkennbare, oft sogar verdrängte künstlerische Neigungen zeigten. Nur wenige Künstler hatten aber Eltern, die ebenfalls als Künstler tätig waren. Die Eltern hatten jedoch eine positive Einstellung zur Kunst, meistens standen sie sogar mit „mehr oder minder verständnisloser Bewunderung“161 der Kunst gegenüber. Es kam aber zu keiner aktiven Förderung. In einigen Fällen stellten die Eltern die Materialien zur Verfügung und ließen die Kinder ihr Verlangen gewähren, was sie zu unmittelbaren Förderern des bildnerischen Talents erklären könnte. Auch Lindner und Hahn (1989) betonen die Wichtigkeit eines kulturell aktiven Elternhauses für die Entwicklung der bildnerischen Talente. Aus ihrer Untersuchung geht hervor, dass das Klima im Elternhaus ein günstiges Umfeld für die Entwicklung des bildnerischen Talents schuf. Die künstlerischen Interessen der Kinder wurden aber weniger durch „Anhäufen“ der kulturellen Güter unterstützt, sondern vielmehr „durch das Beispiel der eigenen aktiven Beziehung zu den Künsten“162. Die Kinder wurden schon früh zu kulturellen Aktivitäten veranlasst, indem sie gemeinsam mit ihren Eltern Museen, Konzerte und Theater besuchten.163 Die Auffassung, dass die zeichnerischen Talente in ihrer Wahrnehmung zweifellos Visualisten sind, wurde von Mierke (1963) vertreten. Er war der Überzeugung, dass ihr Talent auf ein ausgeprägtes visuelles Gedächtnis für Farb-, Form- und Anordnungsverhältnis zurückzuführen ist und dass die optischen Erlebnisse die zentrale Rolle in ihrer Vorstellungs, Interessen- und Wertwelt einnehmen.164 Sie besitzen demnach visuelle Grundlagen, die zwar unumgängliche Voraussetzung für zeichnerische Orientierung an der Fläche sind, die aber nicht eine künstlerisch- schöpferische Entfaltung voraussetzen. Diese angeborene visuelle Begabung schreibt ebenso Ellen Winner (1992, 1998) den zeichnerischen Talenten zu.165 Schulz (1987) hingegen vertritt die Meinung, dass den bildnerisch Talentierten diese 159 Vgl. Linder, Bernd; Hahn, Jochen: „Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen...“ Entwicklungswege bildkünstlerischen Talents. in: Bildnerisches Volksschaffen 1/1989, S. 20. 160 Vgl. Schulz 1987, S. 1987, S. 152. 161 Schulz 1991, S. 22. 162 Linder/ Hahn 1989, S. 21. 163 Vgl. Linder/ Hahn 1989, S. 21. 164 Vgl. Mierke 1963, S. 102. 165 Vgl. Winner/ Casey 1992, s. 163, vgl. auch Winner 1998, S. 105. PDFMAILER.DE www.pdfmailer.de Kostenfrei und werbegesponsert PDF drucken und direkt per E-Mail versenden >Test it free www.pdfmailer.de Art von Begabung erst zuzuschreiben wäre, wenn dies prospektiv angelegte Studien eindeutig belegen könnten, die aber zumindest die Entwicklung eines bildnerischen Talents bis zur Ausprägung der Künstlerpersönlichkeit verfolgen müssten. Damit könnte festgestellt werden, ob es sich tatsächlich um eine angeborene Fähigkeit handelt. Es könnte aber genauso sein, dass sich die visuelle Begabung erst „in einem längeren Prozeß und vor allem in Einheit mit erhöhten bildnerischen Aktivitäten entwickelt (...) und möglicherweise in Kindheit und früher Jugend noch gar nicht in auffallendem Maße entwickelt war“166. 5. Zusammenfassung und Diskussion zur bildnerischen Begabung Im Gegensatz zur allgemeinen Begabungs- und vor allem Hochbegabungsforschung, die umfassend erforscht wurde und nach wie vor zum Gegenstand zahlreicher Untersuchungen gemacht wird, gibt es zur bildnerischen Begabung nur wenige wissenschaftliche Erörterungen und kaum empirische Untersuchungen. Diese Tendenz wird sich mit großer Wahrscheinlichkeit auch nicht ändern, solange eine bildkünstlerische Begabung für eine besondere angeborene Fähigkeit gehalten wird, die im Verlauf der Entwicklung auf jeden Fall zum Ausdruck kommt. Die Talentbeschreibung von Karl Scheffler (1919) als „das Einmalige, Einziggeartete, (...) ein kleines Wunder, das in Erstaunen setzt. Man tut auch am besten, es als ein solches hinzunehmen, denn man tut ihm Unrecht, wenn man ihm Vorschriften macht...“167 entspricht heute noch der weit verbreiteten Auffassung über die bildnerische Begabung. Dieses „Klischee vom geborenen Künstler“168 wirkt noch heute zum Teil hemmend auf die Begabungsforschung, auch wenn in mehreren empirischen Forschungen bewiesen werden konnte, dass die meisten Künstler in ihrer Kindheit nicht außerordentlich bildnerisch tätig waren.169 Man könnte fast behaupten, dass dieser Mythos vom Künstler heute wissenschaftlich mit dem neurobiologischen Begabungsansatz zu erklären versucht wird. Mit aufwendigen Tests möchten die Neuropsychologen im menschlichen Gehirn zumindest ähnliche Muster ausmachen, die eine mögliche Erklärung dafür liefern könnten, was wohl eine außergewöhnliche Begabung in einer Person hervorbringt. Sie gehen also davon aus, dass bestimmte Strukturen und Funktionen des neuralen Systems eine Person zu künstlerischen Aktivitäten veranlassen. Da zudem die meisten Vertreter dieser Forschungsrichtung, eine überdurchschnittliche Motivation in ihr Begabungsverständnis mit einschließen, entsprechen sie damit gänzlich der im Alltag verbreiteten Meinung, eine bildnerische Begabung beruhe auf Anlage wie auch auf Fleiß und Handwerk.170 166 Schulz 1987a, S. 149. Scheffler, Karl: Talente. Berlin 1921. 168 Schulz 1989a, S. 15. 169 Schulz 1989a, S. 15. 170 Vgl. Schulz 1987b, S. 840. 167 Kostenfrei und werbegesponsert PDF drucken und direkt per E-Mail versenden >Test it free www.pdfmailer.de PDFMAILER.DE www.pdfmailer.de Andererseits wirkt der für das 20. Jh. charakteristische Kunstbetrieb genauso blockierend auf die Begabungsforschung. Anders als das in früheren Jahrhunderten üblich war, verlangt der zeitgenössische Kunstmarkt vom Künstler nicht vorrangig eine außerordentlich entwickelte Fähigkeit zur realistischen Wiedergabe der Natur. Er ist vor allem an anderen Persönlichkeitsmerkmalen interessiert, wie z.B. an der Kreativität.171 Ein Künstler, der sich erfolgreich dem Kunstmarkt stellen möchte, sollte Selbstmanagement, Durchhaltevermögen, Intelligenz, Sensibilität für öffentliche Wahrnehmungsmoden als personale Merkmale mitbringen.172 Ein derartiger Kunstbetrieb kommt ohne eine frühe Begabtenförderung aus, vor allem ohne eine, die sich in erster Linie nur um die Vervollkommnung der verschiedenen praktischen bildnerischen Fähigkeiten bemüht. Damit wird auch eindeutig verständlich, dass die allgemeine Begabungsauffassung, die davon ausgeht, dass die Begabung ein stabiles personales Merkmal ist, das relativ früh diagnostiziert werden kann und aus dem auf spätere Leistungen zu schließen ist, nicht uneingeschränkt auf die bildnerische Begabung übertragbar ist.173 Im Gegensatz zu Musikern oder Sportlern, bei denen die besondere Eignung sehr früh feststellbar ist und damit schon in der Kindheit mit der für die spätere Höchstleistung wichtigen frühen Ausbildung begonnen werden kann,174 kann bei den bildenden Künstlern meistens die besondere Eignung erst mit dem Beginn der Pubertät, oder auch später, festgestellt werden. Jedoch erfolgt anschließend bei den bildnerischen Begabungen unter günstigen Bedingungen eine beschleunigte Entwicklung, bei der „die Sprache der Formen und Farben“175 erlernt wird, sodass sie bald genauso Höchstleistungen hervorbringen können wie auch die Begabten in anderen Feldern nach einer wesentlich längeren Ausbildungsphase. Bei der Begabungsforschung wurde meistens die retrospektive Untersuchungsmethode eingesetzt. Auf die Defizite dieser Methode macht Frank Schulz (1987) aufmerksam.176 Auch Hans-Günther Richter (1987) äußert Zweifel an der Genauigkeit dieser Untersuchungsmethode. Seiner Meinung nach versuchen viele Autoren allzu oft eine Tendenz der Entwicklungslinie aufrechtzuerhalten, wenn sie die Künstlerbiografien studieren. Ebenso ist diese Absicht auch bei Untersuchungen von Kinderzeichnungen der bekannten 171 Schulz 1997, S. 153. Talent könnte als eine Spezifizierung von Kreativität, als gerichtete Kreativität verstanden werden. 172 Vgl. Bautz 2003, S. 38. 173 Weinert (1992) macht darauf aufmerksam, dass eine frühe “Etikettierung als “hochbegabt”, die unvermeidlichen Probleme falscher Erwartungsbildung und die Grenzen aller entwicklungspsychologischen Prognosen in sich Gefahr birgt und aus diesem Grund bedacht werden muss. Vgl. Weinert, Franz: Wird man zum Hochbegabten geboren, entwickelt man sich oder wird man dazu gemacht? in: Hany, Ernst A.; Nickel, Horst: Begabung und Hochbegabung. Bern 1992, S. 199. 174 5 Vgl. Oerter/ Montada (1982) 2002 , S. 788. 175 Vgl. Schulz 2000, S. 68. 176 Vgl. Schulz 1987a, S. 157f. PDFMAILER.DE www.pdfmailer.de Kostenfrei und werbegesponsert PDF drucken und direkt per E-Mail versenden >Test it free www.pdfmailer.de Künstler zu befürchten. Jedenfalls führt dies zu verfälschten Untersuchungsergebnissen.177 Wesentlich mehr Informationen über die bildnerische Begabung könnten prospektiv angelegte Studien bringen, insbesondere wenn es um die Untersuchung bildnerisch begabter Kinder geht. Doch diese Untersuchungsmethode fand bis jetzt keine Anwendung. Dabei ist die enorme Zeitspanne, die diese Untersuchungen in Anspruch nehmen, nicht der einzige Grund. Viel problematischer erweist sich in diesem Zusammenhang die Auswahl der Untersuchungsgruppe. Bis jetzt fehlen vor allem Kriterien, nach denen die entsprechende Auswahl der Kinder erfolgen sollte. Allerdings kann dabei die Erwartung, die in bestimmte allem Anschein nach zum Zeitpunkt der Zusammenstellung der Untersuchungsgruppe bildnerisch begabte Kinder gesetzt wurde, mehr als enttäuscht werden, wenn sie später keine vergleichbaren Leistungen bringen. Anderenfalls können gerade die Kinder, bei denen nie eine Begabung vermutet wurde, diese später unter Beweis stellen.178 Jedenfalls könnte das Mehrebenenmodell von Schütz und Wichelhaus (1996) einen möglichen Untersuchungsplan für die zukünftige Forschung liefern. Auf diese Weise könnten die verschiedenen Begabungsaspekte, die auch bei einer bildnerischen Begabung zu erwarten sind, interdisziplinär verknüpft werden.179 Die Kunstpädagogik kann inzwischen bei der Klärung des bildnerischen Begabungsphänomens nicht auf die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit der Psychologie, Soziologie und Medizin verzichten.180 Diese Vorgehensweise ist insbesondere deswegen wichtig, weil gerade die Motivation für einen wichtigen Aspekt der bildnerischen Begabung gehalten wird, sowohl in früheren wie auch in aktuelleren Forschungen zur bildnerischen Begabung. Der Motivationsgrad steht wiederum im direkten Zusammenhang mit dem Selbstkonzept der eigenen Begabung wie auch mit der Zuschreibung einer Begabung durch andere Personen.181 Vor allem der Kunstunterricht und die Kunstlehrer wie auch die Eltern bekommen die führende Rolle bei diesen Attribuierungsprozessen zugesprochen.182 Dabei wird gerade in der Pubertät häufig die Begabungsfrage thematisiert. Einerseits ist das die Lebensphase, der nach Mühle (1955) und Huth (1987) tatsächlich eine bildnerische Begabung überhaupt zugesprochen werden darf.183 Andererseits ist das aber auch die Lebensphase, in der die eigene bildnerische Begabung stark angezweifelt wird und die meisten Jugendlichen ihre bildkünstlerische Aktivität einschränken oder sogar vollkommen aufgeben.184 Somit wird es verständlich, 177 Vgl. Richter H.-G. (1987) 1997, S. 333. Vgl. Schulz 1987b, S. 846. 179 Vgl. Schütz/ Wichelhaus 1996, S. 92-110. 180 Vgl. Schütz/ Wichelhaus 1996, S. 119f. 181 Schütz/ Wichelhaus 1996, S. 27. 182 Linder/ Hahn 1989, S. 21. Vgl. auch Schulz 1991, S. 22. 183 Linder/ Hahn 1989, S. 20, vgl. auch Mühle 1955, S. 15. 184 Vgl. Glas, Alexander: Form- und Symbolverständnis in der Zeichnung am Beginn des Jugendalters. in: Kunst und Unterricht 246/247/2000, S. 28. 178 PDFMAILER.DE www.pdfmailer.de Kostenfrei und werbegesponsert PDF drucken und direkt per E-Mail versenden >Test it free www.pdfmailer.de warum Schütz und Wichelhaus (1996) im Rahmen ihres Mehrebenenmodells die Grundschulzeit als die Lebensphase sehen, in der besonders zur Entwicklung der künstlerischen Interessen beigetragen werden kann.185 Zudem rücken die den künstlerischen Prozess leitenden Metakognitionen ins Blickfeld der bildnerischen Begabungsforschung. Es wird angenommen, dass sich bessere Zeichner durch höher entwickelte metakognitive Strategien auszeichnen, die den Zeichenprozess leiten.186 Dabei kann die Metakognition als ein geistiger Gesamtplan verstanden werden, bei dem einzelne innere (das Vorstellungsbild) und äußere Handlungen (die Ausführung des Vorstellungsbildes), zu einem hierarchischen System vereint und strukturiert werden.187 Um einen besseren Einblick in die Strukturen des bildnerischen Prozesses zu bekommen, müsste dieser systematisch beobachtet werden. In einer visuellen Begabung wird nach wie vor die Grundlage einer bildnerischen Begabung gesehen. Diese ausgebildete Fähigkeit wurde von den ersten Begabungsforschern noch sehr einfach beschrieben, aber trotzdem äußerst treffend auf ein gutes visuelles Gedächtnis zurückgeführt.188 Heute wird diese Begabung weitgehend spezifiziert, indem sie nicht nur auf Umrisse und verschiedene Ansichten eines Objektes in der Vorstellung reduziert wird, sondern vielmehr als eine allgemeine Imaginationsfähigkeit aufgefasst, die das bildnerische Talent ermöglicht, bis dahin noch nicht existierende Bilder sich geistig präsent zu machen.189 Zudem werden die form- und farblichen Gestaltungen als bedeutende Kommunikationsmittel angesehen, sowohl für die bildnerischen Begabungen wie auch später für den Künstler. Jedoch konnte noch nicht eindeutig festgestellt werden, ob es sich bei dieser Begabungsform um eine angeborene Fähigkeit handelt190 oder ob sie eher als das Resultat einer intensiven bildnerischen Aktivität anzusehen ist.191 Schließlich geben viele der bis jetzt untersuchten Zeichner an, diese Fähigkeit aus der unmittelbaren Beobachtung der Umwelt und der Kunstwerke erworben zu haben. Inwieweit aber diese visuell-räumliche Begabung im Zusammenhang mit linguistisch-sprachlichen Schwächen steht, wie dies Winner und Casey (1992) annehmen192, sollte u.a. auch bei den Kindern, die wegen ihrer außergewöhnlichen bildnerischen Leistungen auffallen, überprüft werden. 185 Vgl. Schütz/ Wichelhaus 1996, S. 117f. Schütz 1990, S. 190. 187 Vgl. Poddjakow, Nikolai: Die Denkentwicklung beim Vorschulkind. Beiträge zur Psychologie. Berlin 1981, S. 21. 188 Vgl. Wulff 1927, S. 50. Vgl. Hartlaub 1922, S. 43. 189 Vgl. Kik 1909, S. 132. Vgl. Schulz 1988, 1369. Vgl. auch Winner/ Casey 1992, S. 163. 190 Vgl. Winner 1998, S. 105. 191 Vgl. Schulz 1987a, 149. 192 Vgl. Winner/ Casey 1992, 165ff. 186 PDFMAILER.DE www.pdfmailer.de Kostenfrei und werbegesponsert PDF drucken und direkt per E-Mail versenden >Test it free www.pdfmailer.de Der aktuelle Forschungsstand zur bildnerischen Begabung erlaubt nur eine Aussage, die mit relativer Sicherheit zu vertreten ist: Bei den frühen Formen einer bildnerischen Begabung handelt es sich um eine seltene Form der Begabung. Dies musste bereits der Vater der bildnerischen Begabungsforschung Georg Kerschensteiner (1905) feststellen, als er nur 14 begabte Zeichner zwischen 4000 Schülern ausmachen konnte.193 Trotzdem sollte die Kunstpädagogik das Begabungsthema intensiver erforschen, nicht nur mit dem Ziel fachinterne Begabungen auszumachen, um diese fördern zu können, sondern sie sollte in diesem Forschungszweig vor allem die Potenziale sehen, von denen eine wesentlich größere Anzahl von Subjekten profitieren könnte, indem sie die Kunst als ein Aktivitätsfeld entdecken und nutzen, aus dem sie dann wertvolle Erfahrungen in andere Lebensbereiche transformieren können. 193 Vgl. Kerschensteiner 1905, S. 315. PDFMAILER.DE www.pdfmailer.de 7. Kostenfrei und werbegesponsert PDF drucken und direkt per E-Mail versenden >Test it free www.pdfmailer.de LITERATURVERZEICHNIS Aissen-Crewett 1985 Aissen-Crewett, Meike: Zeichnen Kinder, was sie sehen oder was sie wissen? 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