Teil II. Zum Stand der philosophischen Semantik 1. Naturalismus
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Teil II. Zum Stand der philosophischen Semantik 1. Naturalismus
Teil II. Zum Stand der philosophischen Semantik 1. Naturalismus oder Erste Philosophie? W.V. Quine und Donald Davidson § 15. Naturalismus und Empirismus Audiatur et altera pars. Daß die Erste Philosophie als eine Reflexion a priori auf das Faktum und den Begriff der Wahrheit möglich ist, war die Grundannahme von Teil I. Daß eine Erste Philosophie unmöglich ist, ist die Grundannahme des Naturalismus, jedenfalls des Naturalismus Quinescher Prägung. Hören wir den Vertreter der Gegenseite. Quine preist es als Meilensteine der Philosophie, insbesondere der empiristischen, der er sein eigenes Denken zurechnet, daß sie von der Betrachtung von Vorstellungen („Ideen“ im Sinne Lockes, nicht Platons) zur Betrachtung von Wörtern und dann zur Betrachtung von Sätzen übergegangen sei.1 Er preist damit die Wendung zur Sprache, die für die sprachanalytische Philosophie definitorisch ist. Daß aber darin allein noch keine Abkehr vom Apriorismus liegt, zeigt Teil I, wo gerade die Wahrheit von Sätzen, realistisch aufgefaßt, zum Ausgangspunkt von Überlegungen gemacht wurde, die als Proben einer apriorischen Philosophie empfohlen wurden. Der Naturalismus neigt demgegenüber erwartungsgemäß einer eher nominalistischen, nicht-realistischen Auffassung der Wahrheit zu. ‘Wahr’, so kann man diese Auffasung in eine englische Redensart kleiden, sei bloß ein Vierbuchstabenwort. Wenn ‘wahr’ bloß ein Vierbuchstabenwort ist, dann ist es auch um Bedeutung als philosophischen Begriff schlecht bestellt. Um dies zu begründen, vorab ein Wort über den Realismusstreit in der Bedeutungstheorie. Sätze sind wahr oder falsch, wahr unter bestimmten Bedingungen, falsch unter anderen. „Schnee ist weiß“ ist wahr, wenn Schnee weiß ist, und falsch im anderen Fall. Eine Äußerung von „Ich habe Hunger“ ist wahr dann und nur dann, wenn die äußernde Person zum Zeitpunkt der Äußerung Hunger hat. Für eine realistische Bedeutungstheorie machen die Wahrheitsbedingungen eines Satzes seine Bedeutung aus; die Bedeutung eines Wortes ist dann sein Beitrag zu den Bedeutungen (Wahrheitsbedingungen) der Sätze, in denen es vorkommt. Abgerundet zu einer realistischen Semantik wird diese Lehre durch eine realistische Auffassung der Wahrheit, der zufolge „wahr“ kein bloßes Vierbuchstabenwort ist, sondern ein Prädikat, das über die Sprache hinausweist. Falk hat zu bedenken gegeben, daß die Bindung von Bedeutung an Wahrheit die einzige Möglichkeit ist, eine genuin philosophi- 1 Vgl. den Aufsatz „Fünf Marksteine des Empirismus“, in: Theorien und Dinge, 89-95. Näheres dazu weiter unten im Paragraphen. 2 sche (also apriorische) Theorie der Bedeutung zu entwickeln.2 Zumindest gilt das dann, wenn Wahrheit der Grundbegriff der Ersten Philosophie ist. Statt an Wahrheit binden nicht-realistische Bedeutungstheorien den Begriff der Bedeutung an faktisches menschliches Verhalten, und zwar insbesondere an unsere Verfahren der Rechtfertigung und Widerlegung von Sätzen. Die Bedeutung eines Satzes erscheint, so gesehen, als die Art und Weise seiner Verifikation oder Falsifikation. Das ist der Kern der Verifikationstheorie (bzw. Falsifikationstheorie) der Bedeutung. Für sie spricht oder scheint zu sprechen, daß sie die Bedeutung grundsätzlich im Bereich dessen ansiedelt, was wir verifizieren, falsifizieren, erkennen können. Denn Bedeutung ist ein kognitiver Begriff. Die Natur zwar mag ihre dunklen, grundsätzlich verborgenen Seiten haben. Vieles über den Weltlauf werden wir nie herausfinden. Viele Sätze haben Wahrheitsbedingungen, deren Erfülltsein wir nicht überprüfen können. Nicht nur gibt es unbeweisbare mathematische Wahrheiten, sondern wir wissen auch nicht, was wir tun sollten, um beispielsweise herauszufinden, ob es am 1.1.3000 n. Chr. an einem gegebenen Ort schneien wird, oder ob es am 1.1.3000 v. Chr. an dem Ort geschneit hat. Was hingegen ein Wort in unserem je eigenen Munde bedeutet, kann uns nicht verborgen bleiben; denn ein jeder ist Herr seiner persönlichen Mundart. Soviel zur vorläufigen Motivation der Verifikationstheorie der Bedeutung. Daß sie andererseits, mit oder ohne Bedacht, einer Philosophie der Bedeutung das Wasser abgräbt, folgt aus dem rein faktisch-empirischen Charakter menschlichen Rechtfertigungs- und Widerlegungsverhaltens. Wenn Bedeutung die Methode der Verifikation ist, dann gibt es über sie a priori nichts zu sagen. Aber vielleicht gibt der Verifikationismus dem Apriori an anderer Stelle Raum. Bedeutung selber mag immerhin ein empirischer, nicht-philosophischer Begriff sein, so würden dennoch Sätze, die rein aufgrund der Bedeutungen der in ihnen vorkommenden Wörter, ohne Rücksicht auf den Weltlauf und den Gang unserer Erfahrung, wahr wären, a priori gelten. Seit Kant heißen solche Sätze analytisch; diejenigen Sätze hingegen, die wahr sind nicht nur aufgrund der Bedeutungen ihrer Wörter, sondern auch aufgrund außersprachlicher Faktoren, heißen synthetisch. „Alle Körper sind ausgedehnt“ ist ein Kantisches Beispiel für einen analytischen Satz, weil in diesem Fall das Prädikat - Ausdehnung - durch bloße Analyse des Begriffes des Körpers bzw. durch bloße Reflexion auf die Bedeutung von „Körper“ erkannt werden könne; und „Alle Körper sind schwer“ ist ein Beispiel für einen synthetischen Satz, weil die Schwere nicht zum Begriff des Körpers bzw. zur Bedeutung von „Körper“ gehöre. Oder nehmen wir den vielzitierten Beispielsatz: „Alle Junggesellen sind ledig“. Es bedarf keiner statistischen 2 W&S, S. [...]. 3 Erhebungen, um einzusehen, daß es sich so verhält. Der Satz gilt a priori, ist ein analytischer Satz. Wenn die Verifikationsmethode für einen Satz α die Verifikation eines Satzes β einschließt, wenn also nichts den Satz α verifizieren kann, was nicht auch β verifiziert, dann gilt das Konditional ‘wenn α, so β’ a priori, unabhängig vom Gang möglicher Erfahrungen; dann ist es (sofern man anders als Kant nicht mit synthetischen Wahrheiten a priori rechnet) ein analytischer Satz. Der sogenannte Logische Empirismus, vertreten etwa durch den Wiener Kreis und insbesondere durch Rudolf Carnap, hoffte, mit derlei Überlegungen ein Apriori retten zu können (in der Logik, der Mathematik, der Wissenschaftstheorie), ohne sich auf Metaphysik (Erste Philosophie) einlassen zu müssen. Doch Quine hat vor einem halben Jahrhundert diese Hoffnung zunichte gemacht, indem er zwei Lehren des Empirismus als unhaltbare Dogmen kritisierte: eben die Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Sätzen und den mit dieser Unterscheidung verwandten sogenannten Reduktionismus.3 Um diese Kritik nachzuvollziehen, sei etwas weiter ausgeholt. Quine betrachtet die Philosophie ihrem Gegenstand nach als Erkenntnistheorie und ihrer Methode nach als „naturalisiert“, d.h. eingereiht unter die (Natur-)Wissenschaften. Das darf man nicht so verstehen, als wolle Quine die Philosophie zu einer Teildisziplin der Biologie oder Neurologie oder Psychologie oder zu einem interdisziplinären Wanderfach erklären. Auch Mathematik und Logik gelten ihm als naturalisiert und bleiben dennoch Lehnstuhl- oder Schreibtischwissenschaften, die ohne Versuche, ohne Befragungen, ohne Quellenstudium auskommen. Die Philosophie gehört in diese Ecke des Spektrums der Wissenschaften, nämlich - in einem anderen Bild - in das hochtheoretische Zentrum des Systems unseres Wissens. Unbeschadet seines Naturalismus hält Quine daran fest, daß die Philosophie nicht die faktische Genese unserer Erkenntnis zu untersuchen, sondern Geltungs- und Rechtfertigungsfragen zu klären und dazu die logischen Beziehungen zwischen einer Theorie und den Daten oder Belegen, die sie stützen, zu analysieren hat. Logische Beziehungen bestehen - zunächst und zumeist - zwischen Sätzen. Von der sprachanalytischen Wende profitiert die Erkenntnistheorie in dem Maß, in dem es ihr gelingt, das, was sie in Beziehung zu setzen hat, in Satzform zu bringen. Für die Seite der Theorie ist das unproblematisch, denn Theorien sind in Sätzen formuliert; aber die Daten oder Belege könnten sich als sperrig erweisen. Quine löst dieses Methodenproblem, indem er durch Daten, Be3 In „Zwei Dogmen des Empirismus“ [...]. 4 lege, Beobachtungen kürzt und Beobachtungssätze betrachtet. Was ein Beobachtungssatz ist, wird nicht erklärt mit Bezug auf bestimmte Kategorien von Ausdrücken, die in ihnen vorkommen. Auf die interne Struktur eines Beobachtungssatzes kommt es für die Definition gar nicht an, sondern auf folgende beiden Bedingungen: Ein Beobachtungssatz muß erstens unmittelbar und fest mit unseren Sinnesreizungen verknüpft sein, so daß ein Sprecher ihm unter Sinnesreizungen aus einem bestimmten Bereich des Spektrums seiner Sinnesreizungen ohne weiteres zustimmt und unter Reizungen aus einem anderen Bereich ihn ohne weiteres zurückweist; zweitens muß er intersubjektiv in dem Sinne sein, daß alle „sprachkompetenten Zeugen des betreffenden Anlasses“ dieselbe Stellungnahme abgeben.4 Alle Beobachtungssätze sind Gelegenheitssätze, d.h. Sätze mit variablem Wahrheitswert: wahr bei einigen, falsch bei anderen Gelegenheiten (wie „Es regnet“). Aber nur die Gelegenheitssätze, die ohne weitere Nachforschungen eine und bei allen Sprechern einer gegebenen Gruppe dieselbe Stellungnahme auslösen, sind Beobachtungssätze für diese Gruppe - und wenn die Gruppe die ganze Sprachgemeinschaft ist, Beobachtungssätze schlechthin. Der Gelegenheitssatz: „Das ist der Dekan der Philosophischen Fakultät“, etwa ist kein Beobachtungssatz, es sei denn man beschränkte die maßgebliche Sprachgemeinschaft künstlich auf eine kleine Eingeweihtenrunde. Die Sätze einer Theorie sind keine Gelegenheits-, sondern stehende Sätze, d.h. Sätze mit festem Wahrheitswert (immer wahr oder, ungünstigenfalls, immer falsch). Theorien implizieren daher keine Beobachtungssätze, wohl aber Verknüpfungen von Beobachtungssätzen der Form „Sobald dies, dann auch das“ („Sobald es regnet, wird die Erde naß“), die in der deutschen Übersetzung etwas unglücklich kategorische Beobachtungssätze heißen5 - unglücklich, weil kategorische Beobachtungssätze keine Beobachtungs- oder Gelegenheits-, sondern stehende Sätze sind, was der englischen Terminus „observation categorical“ gegenüber „observation sentence“ auch offenläßt. Bei einer früheren Gelegenheit hat Quine die Übersetzung „Ureinschluß“ für „observation categorical“ ausprobiert6, bei der ich im folgenden bleiben möchte. Ureinschlüsse also sind aus Beobachtungssätzen zusammengesetzte stehende Sätze, zu denen eine Theorie in logischen Beziehungen stehen und anhand deren sie überprüft werden kann. Faktisch mag durch einen Versuch eine strittige Hypothese vor dem Hintergrund unstrittiger Theoreme überprüft werden. Logisch aber bilden die strittige Hypothese und die unstrittigen Theoreme eine Satzmenge, die grundsätzlich als ganze auf dem Prüfstand steht. Denn eine Hypothese oder ein Theorem für sich impliziert noch keinen Ureinschluß, es bedarf dazu wei4 5 Unterwegs zur Wahrheit, S. 4. Vgl. ebd. S. 13. 5 terer Sätze, insbesondere auch, wenn die Theorie mathematisch formuliert ist, mathematischer Lehrsätze. Es ist also keineswegs so, daß jedes Theorem sein eigenes Bündel von Ureinschlüssen mit sich führte, auf die sein empirischer Gehalt bzw. seine empirische Bedeutung zurückgeführt werden könnte. Dies hat der Sache nach schon der französische Physiker und Wissenschaftstheoretiker Pierre Duhem (1861-1916) erkannt, auf den Quine sich gern beruft. Man spricht daher bisweilen von der These von Duhem und Quine. Sie ist holistische Gegenthese zu dem oben erwähnten zweiten Dogma des Empirismus, dem des Reduktionismus. Der Reduktionismus betrachtete einzelne Sätze als die Einheiten der Verifikation und des empirischen Gehaltes. Demgegenüber besagt Duhems und Quines Holismus der Verifikation und des empirischen Gehaltes, daß Sätze im allgemeinen zu kleine Einheiten für eine unabhängige empirische Bedeutung sind, daß unabhängige empirische Bedeutung nur auf der einen Seite den Beobachtungssätzen und auf der anderen Seite einer Theorie als ganzer eignet. Mit dem Reduktionismus fällt nach Quines Ansicht auch das andere, erstgenannte Dogma des Empirismus: die Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Sätzen. Aus dem Holismus leitet er einen Monismus der Methode ab, der den Gegensatz von empirischem und apriorischem Verfahren aufhebt: Der Holismus läßt den Gegensatz verschwimmen, der angeblich besteht zwischen dem synthetischen Satz mit seinem empirischen Gehalt und dem analytischen Satz mit seinem Nullgehalt. Die systematische [formale, theoriestrukturierende] Rolle, die den analytischen Sätzen zugedacht war, fällt, wie man jetzt erkennt, den Sätzen generell zu, und der empirische Gehalt, der als Eigentümlichkeit der synthetischen Sätze galt, ist, wie nunmehr ersichtlich, über das ganze System verteilt.7 Sofern die Erste Philosophie durch ihre Methode, den Apriorismus, definiert wird, folgt aus dem Monismus der Methode, daß es eine Erste Philosophie nicht geben kann. Eben das besagt der Quinesche Naturalismus, der sich also unmittelbar aus der Kritik der beiden Dogmen des Empirismus ableiten läßt, und zwar zirkelfrei, weil Quine die philosophische Erkenntnistheorie eben nicht von vornherein auf Fragen der faktischen Genese unserer Meinungen festlegt. Zwar setzt die Erklärung der Beobachtungssätze mit Bezug auf unsere sinnlichen Reizungen (unsere sensorischen Körperoberflächen) den Naturalismus insofern voraus, als es eine innerwissenschaftliche Lehre ist, daß unser Austausch mit unserer Umgebung durch unsere Körperoberflächen vermittelt wird. Aber von dieser besonderen Erklärung der Beobachtungssätze 6 7 Vgl. [...] Theorien und Dinge, S. 94. 6 ist das Argument für den Holismus und den Methodenmonismus unabhängig. Man kann mit einem unterbestimmten, zwischen körperlichen Sinnesreizungen und geistigeren Vorgängen (z.B. inneren Empfindungen) möglichst neutralen Begriff des Beobachtungssatzes beginnen und erst die Herleitung des Naturalismus zum Anlaß nehmen, Beobachtungssätze nachträglich an Sinnesreizungen zu binden. Eine ganz andere Frage ist es, ob Quine sich nicht dogmatisch auf den Empirismus - einen Empirismus abzüglich der beiden kritisierten Dogmen - festlegt, und wieder eine andere Frage, ob er sich darauf festlegen muß, um die Trias des Holismus, des Methodenmonismus und des Naturalismus zu begründen. Auf die zweite Frage komme ich im folgenden Paragraphen zurück; die erste kann man getrost bejahen. Die empiristische Grundüberzeugung, daß Begriffe ihren Gehalt und Meinungen ihre Rechtfertigung ausschließlich in Beziehung auf Sinneseindrücke erhalten („daß nur das Sinnliche Sinn hat“8), so unbestimmt sie vor der Wendung zur Sprache auch sein mochte, ist die von Quine nicht hinterfragte Ausgangsbasis für eine philosophische Erfolgsgeschichte, die er an fünf Meilensteinen festmacht. Der erste Meilen- oder Markstein war der Übergang der Erkenntnistheoretiker von Vorstellungen (Ideen im Sinn des britischen Empirismus, nicht Platons) zu Wörtern, der zweite Markstein der Übergang von Wörtern zu Sätzen als den Grundeinheiten, an denen die Erkenntnistheorie ihren Halt gewinnt. Auf diesem Stand bewegte sich der Logische Empirismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es folgt die genuin Quinesche Trias: drittens der Holismus, viertens der Methodenmonismus und fünftens, als Krönung des Empirismus, die Preisgabe des Ziels einer Ersten Philosophie, d.h. der Naturalismus.9 Wer freilich über unabhängige Gründe oder wenigstens unabhängige theoretische Motive für den Naturalismus, etwa über ein unangefochtenes Vertrauen in die Alleinzuständigkeit der exakten Wissenschaften, verfügte, könnte auch umgekehrt argumentieren: aus dem gegenwärtigen Stand etwa der Neurologie für einen naturalisierten Empirismus, d.h. für die These, daß alle Informationen, die ein Organismus über seine räumliche Umgebung gewinnen kann, seine sensorischen Körperoberflächen passieren müssen. So stützen sich der Empirismus und der Naturalismus wechselseitig. Wer diesen akzeptiert, legt sich auf jenen fest - und umgekehrt. Das ist keine zwingende, geschweige denn apriorische Argumentation für eine der beiden Positionen. Aber sie gilt ad hominem; und Quine gibt sich mit ihr im großen und ganzen zufrieden. 8 9 Ebd. S. 89. Vgl. ebd. S. 89ff. 7 § 16. Quines Kritik der Bedeutungen Offen ist noch die Frage, ob es tatsächlich einer empiristischen Prämisse bedarf, um die beiden Dogmen des Empirismus zu kritisieren und den Naturalismus zu begründen. Zunächst müssen wir den Empirismus noch etwas genauer fassen. Er ist eine erkenntnistheoretische Lehre, und zwar die Lehre, daß die Gegenstände, auf die wir in unseren Beobachtungssätzen bzw. in den Wahrnehmungsmeinungen, die wir in den Beobachtungssätzen zum Ausdruck bringen, Bezug nehmen, nicht die Gegenstände sind, in Beziehung auf die unsere Meinungen in letzter Instanz gerechtfertigt (und unsere Begriffe erklärt) werden. Die wahrnehmbaren Gegenstände zeigen sich uns nicht unmittelbar an ihnen selber, sondern vermittelt durch eine Schnittstelle: Was von ihnen - Menschen, Tieren, Pflanzen usw. - im epistemisch relevanten Sinn zu uns durchdringt, muß unsere psychologisch oder physiologisch verstandene Sinnlichkeit passieren, die nicht viel von der echten Ware durchläßt. So kommt es, daß unsere Meinungen über unsere räumliche Umgebung nicht in Beziehung auf letztere selber, sondern auf Gegebenheiten in unserem Bewußtsein bzw. auf unseren sensorischen Körperoberflächen zu rechtfertigen sind. Und darin liegt natürlich eine Einladung zu einer lokalen Skepsis bzw. zu einem lokalen Antirealismus: Gibt es überhaupt eine Außenwelt jenseits unserer Reizungen oder Empfindungen? Oder gibt es sie zwar, aber nur als ein logisches Konstrukt aus den Reizungen bzw. Empfindungen? Quine weist diese Art von Skepsis bzw. Antirealismus weit von sich. Die letzte Instanz der Rechtfertigung unserer Meinungen sind unsere Beobachtungssätze, und in denen ist typischerweise nicht von Sinnesreizungen, sondern von Menschen, Dingen und Ereignissen in unserer räumlichen Umgebung die Rede. Nicht wir als einfache Teilnehmer am Wahr-falsch-Spiel berufen uns auf Sinnesreizungen oder Sinneseindrücke, um unsere Meinungen über Dinge und äußere Ereignisse zu rechtfertigen, sondern der empiristische Erkenntnistheoretiker führt dergleichen ein, um dasjenige an unseren Wahrnehmungsmeinungen begrifflich zu fassen, das ihnen, noch vor aller begrifflichen Fassung, ihre rechtfertigende Kraft verleiht: ihr reiner, vorbegrifflicher empirischer Gehalt. Dieser theoretische Schlenker macht die Sache indes nicht viel besser. Die Skepsis kehrt wieder in Gestalt der Frage: Mit welchem Recht haben wir uns vortheoretisch dann für diese bestimmte Konzeptualisierung entschieden? Mit welchem Recht nehmen wir die Realität als eine Welt mittelgroßer Dinge und Vorgänge an diesen Dingen wahr? Könnte man dem zugrundeliegenden Gehalt nicht auch in einer ganz anderen Konzeptualisierung, einem ganz anderen Begriffsschema Rechnung tragen? 8 Davidson nennt die Unterscheidung zwischen empirischem Gehalt und begrifflichem Schema, die hier am Werke ist, das dritte und finale Dogma des Empirismus, final, weil nach seiner Preisgabe nichts vom Empirismus übrigbliebe. Und er empfiehlt die Preisgabe. Darauf wird zurückzukommen sein. Hier aber geht es zunächst nur um die Frage, ob die Kritik der beiden ersten Dogmen des Empirismus und des Zieles einer Ersten Philosophie auf empiristische Prämissen verzichten kann. Wenn wir versuchsweise Verzicht üben, stellen wir sogleich fest, daß die Holismusthese von Duhem und Quine unberührt bleibt; denn sie betrifft, in der Formulierung Quines, nur das logische Verhältnis von theoretischen Sätzen und Ureinschlüssen. Wenn es aber gelänge, unabhängig von erkenntnistheoretischen Erwägungen, etwa rein logisch oder semantisch, zwischen analytischen und synthetischen Sätzen zu unterscheiden, dann ließe sich der Holismus auf die synthetischen Sätze einer Theorie beschränken, und die analytischen Sätze blieben unangetastete Grenzfälle: Sätze mit Nullgehalt, deren Funktion es etwa wäre, unser Begriffsschema, das sonst den empirischen Gehalt strukturiert, rein für sich zu formulieren. Wenn Bedeutungen reifizierbar wären, dann wäre dieser Weg gangbar. Dann könnte man von Bedeutungen im Plural als von klar umrissenen Entitäten sprechen und analytische Sätze definieren als Sätze, die wahr sind ausschließlich kraft der Bedeutungen der in ihnen vorkommenden Ausdrücke. Die Verifikationstheorie freilich, die Bedeutung als empirische Bedeutung faßt, verbindet sich geradewegs mit dem Holismus, dem zufolge es nicht möglich ist, verschiedenen Sätzen (und in der Folge Wörtern) trennscharf ihre je eigenen Bedeutungen zuzuordnen. Soll man es also mit einer realistischen Bedeutungstheorie versuchen? Die Bedeutungen von Sätzen wären dann ihre Wahrheitsbedingungen; letztere also müßten sich zu wohlumrissenen Entitäten reifizieren lassen. Nun kann man die Wahrheitsbedingungen eines Satzes den Worten nach als den Sachverhalt zusammenfassen, den der Satz ausdrückt. Denn dann und nur dann, wenn die Wahrheitsbedingungen eines Satzes erfüllt sind, besteht der Sachverhalt, den der Satz ausdrückt, und ist der Satz wahr. Aber wir haben in Teil I gesehen, daß um unserer Fehlbarkeit und der Objektivität unserer Geltungsansprüche willen Sachverhalte nicht reifiziert werden können. Also kann auch eine realistische Semantik uns keine Bedeutungen im Plural, sondern allenfalls die Kategorie der Bedeutung als solche, und in der Folge kein allgemeines Merkmal der analytischen Sätze liefern, sondern wiederum allenfalls die schiere Kategorie des analytischen Satzes, der man dann durch Verweis auf paradigmatische Fälle („Kein Junggeselle ist verheiratet“) tatsächliche Anwendung sichern müßte. 9 Quine selber hat sich um semantische Neutralität bemüht, und das in zweifacher Weise. Zum einen hat er in dem frühen Aufsatz „Zwei Dogmen des Empirismus“ untersucht, ob eine rein formale intensionale Semantik, wie sie Carnap vorschwebte, die gesuchten Kategorien bereitstellen kann, und zum anderen ist er, in seinem Hauptwerk Wort und Gegenstand und in späteren Veröffentlichungen, der Frage nachgegangen, ob es hilfreich ist, Bedeutung als dasjenige zu fassen, was in Übersetzungen konstant bleibt - beide Male mit negativem Resultat. In Bedeutung und Notwendigkeit hatte Carnap einem sprachlichen Ausdruck (Terminus oder Satz) zwei semantische Werte, seine Extension und seine Intension, zugeordnet. Die Extension ist, grob gesprochen, der Weltbezug, die Intension, ebenso grob gesprochen, die Bedeutung des Ausdrucks. Die Extension eines Namens ist der benannte Gegenstand, die Extension eines Prädikates die Klasse der Gegenstände, auf die das Prädikat zutrifft, und die Extension eines Satzes sein Wahrheitswert. Die extensionale Semantik hat es, kurz gesagt, mit Wahrheit und Bezugnahme (Referenz) zu tun. Die Intension andererseits ist so etwas wie der mit einem Ausdruck verbundene begriffliche Gehalt, im Fall eines Namens bzw. einer Individuenkonstante so etwas wie ein Individuenbegriff, im Falle eines Prädikates eine Eigenschaft und im Falle eines Satzes eine Proposition. Diese Grundbegriffe der extensionalen und intensionalen Semantik lassen sich in formalen Systemen präzisieren und aufeinander beziehen, und es lassen sich weitere Begriffe, etwa ein Synonymiebegriff und der Begriff eines analytischen Satzes mit ihrer Hilfe definieren. Soweit, so gut. Doch wie kann man sicherstellen, daß die Theorie formaler intensionaler Systeme nicht nur irgendein Zweig der reinen Mathematik, sondern Semantik ist? Gewiß, die Intuitionen, die das Unternehmen motivierten, waren semantische Intuitionen. Aber von ihnen muß nicht viel übrigbleiben im Prozeß des Erarbeitens einer formalen Theorie der Extensionen und Intensionen. Um sich des genuin semantischen Charakters der fertigen Theorie zu versichern, müssen sich ihre Grundbegriffe oder zumindest ein ausgezeichneter Grundbegriff auf mögliches Sprachverhalten beziehen lassen. Es muß beispielsweise allgemein angegeben werden können, was es für einen Sprecher einer beliebigen Sprache heißt, einen im Sinn der Theorie analytischen Satz zu äußern. Nichts dergleichen aber findet Quine von den Vertretern der intensionalen Semantik geleistet. Der extensionale Grundbegriff, Wahrheit, ist im Sprecherverhalten insofern verankert, als das schiere Äußern eines Aussagesatzes irgendeiner uns möglicherweise unverständlichen Sprache bei unterstellter Ehrlichkeit und Ernsthaftigkeit des Sprechers immerhin ein Beleg dafür ist, daß der Sprecher ihn für wahr hält. Und Wahrheit führt uns dann auf Tarskis Wegen zu dem semantischen Hilfsbegriff 10 der Erfüllung bzw. der Referenz. Das verleiht der extensionalen Semantik ein begriffliches Fundament. Mit nichts dergleichen kann die intensionale Semantik aufwarten. Sie kann ihre Grundbegriffe immer nur in Zirkeln einen durch den anderen, aber keinen unabhängig erklären: Ein Satz ist analytisch wahr, wenn er wahr ist allein kraft der Bedeutungen seiner Termini. Zwei Termini haben dieselbe Bedeutung, wenn sie synonym sind. Zwei Termini sind synonym, wenn die Ersetzung des einen durch den anderen in einem Satz einen synonymen Satz liefert. Zwei Sätze sind synonym, wenn ihr Bikonditional eine notwendige Wahrheit ist. Ein Satz ist eine notwendige Wahrheit, wenn er analytisch wahr ist. Wir sind im Kreis gegangen. Es lohnt sich nicht, uns bei dieser Problematik, die lang und breit diskutiert worden ist, aufzuhalten. Denn wir verfügen aus Teil I über ein unabhängiges Argument gegen die Reifizierung von Bedeutungen und damit gegen das Programm einer intensionalen Semantik, und wir wollen überdies noch kurz auf Quines - ebenfalls unabhängige - Argumente aus dem Wesen der Übersetzung eingehen. Auch das ist eine bekannte Geschichte, bei deren Nacherzählung ich mich kurz fassen darf. Quine erwägt den Fall einer radikalen oder Urübersetzung, in dem ein Sprachforscher mit einer bislang völlig unbekannten Sprache zu tun bekommt. Die Syntax bereitet keine prinzipiellen Schwierigkeiten. Der Forscher wird in den Sätzen der Fremden wiederkehrende Segmente (ungefähr: Wörter) entdecken. Aber selbst wenn er hinter die syntaktischen Regeln kommt, nach denen die Fremden ihre Sätze bilden, wird er sie zunächst nicht verstehen und sie nicht übersetzen können. Was kann er tun, um ein Übersetzungsmanual zu erstellen? Wenn die Bedeutung eines Satzes die Methode seiner Verifikation bzw. sein empirischer Gehalt ist, müßte er untersuchen, wie die Fremden ihre Sätze verifizieren und falsifizieren. Das ist aussichtslos, solange er sie noch nicht versteht. Wenn die Bedeutung eines Satzes seine Wahrheitsbedingungen sind, müßte er den fremdsprachigen Sätzen ihre Wahrheitsbedingungen zuordnen. Aber auch dazu müßte er sie bereits verstanden haben. Es zeigt sich also, daß das Gedankenexperiment der radikalen Übersetzung in der Tat neutral ist zwischen einer nichtrealistischen und einer realistischen Bedeutungstheorie. Weder die Verifikationsmethoden noch die Wahrheitsbedingungen sind dem Forscher ohne weiteres zugänglich. Was ihm als Leitfaden bleibt, sind die Zustimmungsbedingungen der fremdsprachigen Sätze, die gleichsam für die Wahrheitsbedingungen einspringen müssen. Für Beobachtungssätze lassen sie sich eruieren, denn in ihrem Fall variiert das Zustimmungs- und Ablehnungsverhalten der Fremden mit Faktoren, die der Forscher isolieren kann. Dem Satz „Manchmal schneit es in 11 unseren Breiten“ werden die meisten Deutschsprecher unter beliebigen Bedingungen zustimmen. Das ist nicht hilfreich für einen auswärtigen Forscher, der uns radikal übersetzen will. Aber dem Satz „Da, ein Kaninchen!“ stimmen wir gewöhnlich dann und nur dann zu, wenn etwas Kaninchenartiges in unserem Gesichtsfeld auftaucht. Die Zustimmungsbedingungen differieren ein wenig von den Wahrheitsbedingungen, denn wahr ist der Satz nicht schon dann, wenn etwas Kaninchenartiges, sondern nur, wenn ein Kaninchen zur Stelle ist. Aber dem Forscher bleibt nichts anderes übrig, als von dieser Differenz zunächst zu abstrahieren und die Zustimmungsbedingungen bis auf weiteres - vorbehaltlich späterer Korrekturen - mit den Wahrheitsbedingungen gleichzusetzen. Das gibt ihm die Möglichkeit, ein endliches Corpus von Beobachtungssätzen jeweils holophrastisch, als semantisch unanalysierte Blöcke zu übersetzen. Syntaktisch mögen sie analysiert sein, aber der Forscher weiß noch nicht, welchen Beitrag die Wörter zu den Wahrheitsbedingungen der Sätze leisten. Die Fremden etwa stimmen dem - vielzitierten - fiktiven Beispielsatz „Gavagai“ dann und nur dann zu, wenn sich ein Kaninchen in ihrem Wahrnehmungsfeld befindet. Also darf man „Gavagai“ holophrastisch übersetzen mit „Da, ein Kaninchen!“ - Oder mit: „Da sind unabgetrennte Kaninchenteile“; denn immer und nur dann, wenn ein Kaninchen präsent ist, sind auch unabgetrennte Kaninchenteile präsent. Oder vielleicht haben die Fremden eine radikal andere Weltsicht als wir, glauben nicht an Festkörper, sondern nur an Ereignisse und Prozesse. Dann wäre - wenn wir einmal ein Kaninchen als Hasen durchgehen lassen - vielleicht „Es häselt“ nach dem Modell von „Es nieselt“ die einfühlsamste Übersetzung. Wie gesagt: Der Forscher kennt vorerst nur die Zustimmungsbedingungen der ganzen Beobachtungssätze, nicht die Beiträge, die ihre Bestandteile dazu leisten, und kann zwischen den erwähnten Alternativen noch nicht mit Gründen unterscheiden. Noch einmal sei auf die semantische Neutralität des Quineschen Gedankenexperimentes hingewiesen. Die Beobachtungssätze, als deren Wahrheitsbedingungen der Forscher die Zustimmungsbedingungen gelten läßt, sind zugleich diejenigen Sätze, die ihre Verifikationsmethode offen zur Schau tragen. Denn viel Methode ist hier gar nicht am Platz; einfaches Aufmerken und Äußern bzw. Zustimmen ist Verifikation genug - gleichsam der Grenzfall der Nullmethode. Und noch einen Schritt weiter kommt der Übersetzer (im Rahmen der üblichen Fallibilität alles empirischen Forschens): Er kann die wahrheitsfunktionalen Verknüpfungen erkennen und übersetzen. Wenn die fremden Sprecher einem Satz immer und nur dann zustimmen, wenn sie einen etwas komplexeren Satz ablehnen, dann ist der komplexere Satz die Vernei- 12 nung des ersteren. Wenn die Sprecher einem aus zwei Sätzen gebildeten Satz immer und nur dann zustimmen, wenn sie jedem der beiden Teilsätze zustimmen, dann ist der komplexe Satz die Konjunktion der beiden Teilsätze - usw. für die anderen wahrheitsfunktionalen Verknüpfungen. Soweit also kommt der Forscher - mit der gewöhnlichen empirischen Unsicherheit. Und dann verließen sie ihn. Um all die vielen Nichtbeobachtungssätze der Fremdsprache übersetzen zu können, muß er einen Sprung ins Ungewisse wagen und den fremdsprachigen Wörtern Wörter der eigenen Sprache als Übersetzungen zuordnen. Beispielsweise muß er sich entschließen, dem Wort „gavagai“ (wir nehmen an, „Gavagai!“ sei ein Einwortsatz) entweder das Wort „Kaninchen“ oder die Wortfolge „unabgetrennter Kaninchenteil“ oder das Kunstverb „häseln“ oder sonst etwas zuzuordnen. Diese Wort-Wort-Zuordnungen sind keine gewöhnlichen Hypothesen mehr, die empirisch bestätigt werden könnten, sondern Hypothesen einer besonderen Art. Quine nennt sie analytische Hypothesen (weil sie die semantische Analyse der fremdsprachigen Sätze leisten). Das Besondere an ihnen ist, daß es Fälle geben kann, in denen zwei konkurrierende Hypothesen in ein logisches Patt gebracht werden, etwa nach folgendem Muster. Linguist A übersetzt „gavagai“ mit Kaninchen, Linguist B mit „unabgetrennter Kaninchenteil“. Linguist A hat ein bestimmtes Prädikat der Fremdsprache als „ist identisch mit“ übersetzt und kann den fremden Informanten nun in dessen Sprache fragen, ob dieses Kaninchen (er zeigt auf den Kopf eines Kaninchens) mit jenem Kaninchen (er zeigt auf eine Pfote desselben Kaninchens) identisch sei. Der Informant stimmt zu, und Linguist A sieht sich bestätigt: Wenn „gavagai“ „Kaninchenteil“ bedeutete, dann hätte der Informant verneinen müssen! Doch Linguist B kann kontern, indem er den Ausdruck, den A als Identitätsprädikat behandelt hat, seinerseits übersetzt durch „hängt zusammen mit“. So aufgefaßt, wäre der Informant gefragt worden, ob der eine Kaninchenteil mit dem anderen zusammenhängt. Kein Wunder, daß er zustimmte!10 Dieses Kontern, das die alternative Übersetzung des einen Terms durch eine alternative Übersetzung eines anderen Terms kompensiert, hat System; es läßt sich ausbauen zu einem kompletten Übersetzungsmanual für eine Sprache, das mit einem gegebenen anderen Manual einerseits unverträglich ist, weil es Übersetzungen vorschreibt, die dieses verwirft, und das dennoch in einem prinzipiellen Patt hinsichtlich empirischer Überprüfung zu ihm steht. Da nun aber Bedeutung nicht ohne unser Zutun in der Natur vorkommt, da vielmehr wir, indem wir sprechen, Lautfolgen Bedeutung erst verleihen, kann die Unverträglichkeit gleich- 13 wertiger Übersetzungsmanuale nicht so aufgefaßt werden, als gäbe es Bedeutungstatsachen, die sich unserer Kenntnis gänzlich entzögen. An Bedeutung ist nicht mehr, als wir lernen können. Der radikal übersetzende Sprachforscher aber ist bezüglich der Bedeutungen der Ausdrücke der fremden Sprache in keiner ungünstigeren Lage als die neugeborenen Mitglieder der Sprachgemeinschaft selber. Alles, was die fremden Sprecher über die Bedeutungen ihrer Ausdrücke wissen, kann auch er herausfinden. Die Bandbreite der Variation zwischen empirisch gleichwertigen Übersetzungsmanualen - die Unbestimmtheit der Übersetzung - zeigt also eine Unbestimmtheit nicht nur für uns, sondern an sich, in der Sache - den Bedeutungen - selber an. Folglich läßt sich die Bedeutung nicht quasidinglich fixieren als das, was von einer richtigen Übersetzung konstant gehalten wird. Denn zwei gleichermaßen „richtige“ Übersetzungen können just in dieser Frage dissentieren. Es gibt da nichts Nennenswertes konstant zu halten. § 17. Die These der ontologischen Relativität Die Unbestimmtheit der Übersetzung von „gavagai“ ist ein Beispiel, das nicht nur die intensionale, sondern auch die extensionale Semantik berührt. Denn die Extension von „Kaninchen“ ist eine andere als die von „Kaninchenteil“. Quine hat neben dem fiktiven „gavagai“ auch ein wirkliches Beispiel für die Unbestimmtheit der Termübersetzung angegeben: einen japanischen Klassifikator, der in verschiedenen Formen zu einem Zahlwort hinzugefügt wird, je nachdem was gezählt werden soll.11 Der Klassifikator ist ein anderer für dünne Gegenstände wie Eßstäbchen als für Tiere und wieder ein anderer für Abstrakta usw. Wir haben also eine japanische Trias aus Zahlwort, Klassifikator und Terminus zu übersetzen, die wir im Deutschen unvollkommen nachahmen können durch Ausdrücke wie „Drei Stück (Rind-)Vieh“ oder „Zwei Eimer Wasser“, wobei natürlich nicht unterstellt werden soll, daß „Stück“ und „Eimer“ bloße Zählklassifikatoren sind. Der Übersetzer hat im Fall einer solchen Trias die Wahl, dem japanischen Terminus entweder einen Stoff (eine Masse) als Bezugsobjekt zuzuordnen, wie Vieh oder Wasser, und den Klassifikator als einen Operator zu verstehen, der zusammen mit einem Massenterminus einen Zählterminus ergibt (einen Terminus mit gestükkelter Referenz, der auf viele Einzelne zutrifft), oder den Klassifikator dem Zahlwort als einen Modifikator zuzuschlagen und den Terminus von vornherein als einen Terminus für Zählbares aufzufassen. Die Trias: Zahlwort - Klassifikator - Terminus, wird im ersten Fall gedeutet als eine Trias: Zahlwort - Termoperator - Massenterminus („Vieh“), im zweiten Fall als eine 10 11 Vgl. „Ontologische Relativität“, S. [...]. In „Ontologische Relativität“. S. [...]. 14 Trias: Zahlwort - Zahlwortmodifikator - Zählterminus („Rind“). Im ersten Fall hat der Terminus also einen anderen Bezug als im zweiten Fall, nämlich alles Vieh (Rindvieh) bzw. alles Wasser dieser Welt, jeweils als Masse genommen, im zweiten Fall hingegen die einzelnen Rinder bzw. die einzelnen eimergroßen Portionen Wasser. Wie sich der Übersetzer zu entscheiden hat, läßt sich objektiv nicht bestimmen. Die - fiktiven oder wirklichen - Beispiele der Unbestimmtheit der Termübersetzung ergänzt Quine durch ein modelltheoretisches Argument. Die Modelltheorie ist der semantische Zweig der mathematischen Logik, der durch Tarskis Arbeit über den Wahrheitsbegriff begründet wurde. Wir haben, als wir uns mit diesem Thema beschäftigten (§ 13), gesehen, daß man im allgemeinen einen zweistelligen semantischen Hilfsbegriff braucht, den man zunächst definieren muß, wenn man das Wahrheitsprädikat für eine bestimmte Sprache definieren will, also einen Referenzbegriff für die betreffende Sprache. Aber die Referenz steht ganz im Dienst der Wahrheitsbedingungen. Sie muß so definiert werden, daß die Wahrheitsbedingungen der Sätze richtig angegeben bzw. die Sätze richtig übersetzt werden können. Eben das läßt den skizzierten Spielraum zwischen Kaninchen und Kaninchenteilen, zwischen Vieh und Rind usw., aber nicht nur diesen Spielraum, sondern einen noch viel erstaunlicheren. Man kann nämlich die Referenz der Termini einer Sprache mit einer sogenannten Stellvertreterfunktion unbeschadet der Wahrheitsbedingungen der Sätze auf vielerlei Weise variieren. Nehmen wir an, wir haben die Referenz der Termini einer Sprache S irgendwie bestimmt, und betrachten wir nun speziell die beiden Termini „a“ und „G“. Der singuläre Terminus „a“ möge Sokrates bezeichnen und der generelle Terminus „G“ weise Menschen. Der Satz „Ga“ bedeutet dann soviel wie: „Sokrates ist weise“. Eine Stellvertreterfunktion bildet nun einfach jeden Gegenstand, über den S zu sprechen erlaubt, eindeutig auf einen anderen ab. Wenn wir annehmen, daß in S auch vom Mond gesprochen werden kann, dann gibt es z.B. eine Stellvertreterfunktion f, die Sokrates auf den Mond abbildet. Es gilt dann also: f(Sokrates) = der Mond. Nun können wir mittels der Funktion f die Referenz neu bestimmen, ohne daß dies irgendwelche Auswirkungen auf das Verhalten der Sprecher von S hätte. Der singuläre Terminus „a“ bezeichnet jetzt den f-Wert von Sokrates, also den Mond, und der generelle Terminus „G“ bezeichnet jetzt die f-Werte von weisen Menschen. „Ga“ bedeutet demnach soviel wie: „Der Mond ist der f-Wert eines weisen Menschen“ - ein Satz, der dann und nur dann wahr ist, wenn auch der Satz „Sokrates ist weise“ wahr ist. Die Wahrheitsbedingungen von „Ga“ sind insofern von der Neufestlegung unberührt; und dies gilt ebenso für die Wahrheitsbedingungen al- 15 ler übrigen Sätze von S. Nur die Referenz hat sich geändert. Möglich ist dies, weil das Sprachverhalten direkte Hinweise auf die Wahrheitsbedingungen und Hinweise auf die Referenz der Termini nur auf dem Weg über die Wahrheitsbedingungen der Sätze gibt. Also ist die Referenz mindestens in dem Rahmen objektiv unbestimmt, der durch die Klasse aller Stellvertreterfunktionen ausgeschöpft wird. Das aber sind unübersehbar viele. Die Unbestimmtheit der Termübersetzung, ihre Variierbarkeit durch Stellvertreterfunktionen, hat Quine früher als Unerforschlichkeit der Referenz bezeichnet. Da die Unerforschlichkeit aber nicht in unserem unzureichenden Erkenntnisvermögen, sondern in der Natur der Sache begründet liegt, spricht Quine neuerdings lieber von der Unbestimmtheit der Referenz. Diese Unbestimmtheit betrifft die extensionale Semantik. Es stellt sich also die Frage, ob die Kritik der intensionalen Semantik über ihr Ziel hinausgeschossen und zu einer Grundsatzkritik auch der extensionalen Semantik geworden ist. Man kann die Frage getrost verneinen. Die Unbestimmtheit der Übersetzung widerstreitet dem Ziel einer intensionalen Semantik insofern, als der Begriff der Intension bzw. der Bedeutung mangels anderweitiger Bestimmungsmöglichkeiten als der Begriff dessen empfohlen wurde, was eine richtige Übersetzung konstant hält. Die Unbestimmtheit zeigt dann, daß, was konstant bleibt, zu wenig hermacht für Bedeutung. Der Begriff der Extension aber ist unabhängig davon erklärbar. Wir setzen den Wahrheitsbegriff als bekannt voraus und erhalten so die beiden Wahrheitswerte, Wahr und Falsch, als Extensionen der Sätze; und wir führen im Zuge einer Tarskischen Wahrheitstheorie für eine Sprache S eine Wort-Welt-Beziehung ein, die zwischen den Termini von S auf der einen und Objekten bzw. Klassen von Objekten auf der anderen Seite besteht. Der objektiven Unbestimmtheit dieser Beziehung tragen wir, Quine folgend, Rechnung durch eine Relativitätsthese. Quine nannte sie einst die These der ontologischen Relativität.12 Sie folgt aber so unmittelbar aus der These der Unbestimmtheit der Referenz, daß er sie inzwischen von dieser gar nicht mehr terminologisch unterscheidet: Die Schlußfolgerung, die ich daraus [aus der Möglichkeit, die Bezugnahme der Termini mit Stellvertreterfunktionen zu variieren] ziehe, ist die Unerforschlichkeit der Bezugnahme [bzw. die Unbestimmtheit der Referenz]. Wenn man sagt, über welche Gegenstände jemand spricht, sagt man lediglich, wie man die Terminologie des anderen in die eigene zu übersetzen gedenkt; es steht uns frei, die Entscheidung mittels einer Stellvertreterfunktion zu variieren. Die freischwebende Bezugnahme der fremden Termini wird durch die angenommene Übersetzung nur relativ [hier kommt die ontologi- 16 sche Relativität andeutungsweise zur Sprache] zur freischwebenden Bezugnahme unserer eigenen Termini festgelegt, indem sie die beiden verknüpft.13 Inwiefern kann man die Relativität der Bezugnahme auf eine gewählte Übersetzung bzw. auf eine Stellvertreterfunktion als eine ontologische Relativität bezeichnen? Was hat die Bezugnahme mit der Ontologie zu tun, und was versteht Quine unter „Ontologie“? Diese Fragen geben Gelegenheit, den Paragraphen mit einem Exkurs über Quines Position zur Ontologie zu beschließen. Sein im Sinne von objektiver Existenz, so lautet eine geläufige Quinesche Formel, heißt, der Wert einer Variablen zu sein.14 Den theoretischen Hintergrund der Formulierung liefert - einmal mehr - Tarskis semantische Konzeption der Wahrheit bzw. die Reflexion darauf, wie die Wahrheitsbedingungen für die Sätze einer Sprache rekursiv angegeben werden können. In § 13 haben wir gesehen, daß um der generellen Sätze willen ein zweistelliges semantisches Prädikat bzw. eine Sprache-Welt-Beziehung - und zwar zunächst die Erfüllung offener Sätze durch Folgen von Objekten - eingeführt werden muß, wobei die Variablen diejenigen Ausdrücke in offenen Sätzen sind, die mit Objekten „belegt“ werden. Die Objekte, über die eine Sprache zu sprechen erlaubt bzw. die eine Theorie als existent voraussetzen muß, damit ihre Sätze wahr sind, bilden in ihrer Gesamtheit den Wertebereich für mögliche Belegungen der Variablen. Insofern heißt ein von einer Theorie als existent anerkanntes Objekt zu sein, im Wertebereich der Variablen der Theorie zu liegen. Dies ist das von Quine propagierte Kriterium der ontologischen Verpflichtung einer Theorie. Wenn man wissen will, auf die Existenz welcher Objekte eine Theorie festgelegt oder verpflichtet ist (welche Objekte existieren, wenn ihre Sätze wahr sind), so betrachte man den Wertebereich ihrer Variablen! Dies freilich tun wir dann von außerhalb der Theorie, auf dem Standpunkt einer Metatheorie und mittels eines Übersetzungsmanuals, zu dem es Alternativen gibt. Die Frage, worauf eine Theorie ontologisch verpflichtet ist, läßt sich also von außerhalb nur relativ zu einem Übersetzungsmanual beantworten. Insofern folgt die ontologische Relativität aus der Unbestimmtheit der Bezugnahme. Die Theorie selber drückt ihre ontologischen Verpflichtungen schlicht durch den Existenzquantor aus. Der Allquantor ist nicht diskriminativ in Beziehung auf ihren Gegenstandsbereich, nur mittels des Existenzquantors können wir den Gegenstandsbereich in verschiedene 12 In „Ontologische Relativität“. Theorien und Dinge, S. 33. 14 Vgl. u.a. Unterwegs zur Wahrheit, S. 35. 13 17 Kategorien existierender Objekte unterteilen; mittels seiner also können wir innerhalb unserer eigenen Theorie sagen, welche Sorten von Entitäten wir anerkennen. Allerdings hat Quines ontologisches Kriterium und hat das Ausdrucksmittel des Existenzquantors einen - echten oder vermeintlichen - Mangel, nämlich die Beschränkung auf logisch reglementierte Sprachen, konkret auf Sprachen der Prädikatenlogik erster Stufe, und auf Sprachen, die sich in Sprachen erster Stufe übersetzen lassen. Natürliche Sprachen in ihrer Ausdrucksfülle gehören nicht dazu; sie sind nicht (jedenfalls nicht offenkundig) extensional; d.h. Ausdrücke mit gleichem Weltbezug bzw. Wahrheitswert lassen sich nicht unbeschadet der Wahrheit in einbettenden Kontexten einer für den anderen ersetzen. Unsere vorwissenschaftliche Alltagsontologie hingegen hält Quine daher für unbehebbar „vag und liederlich“.15 Die Mathematik hingegen läßt sich rein extensional, in einer Sprache erster Stufe, wenn nicht direkt formulieren, so doch mengentheoretisch rekonstruieren; und daran knüpft sich die natürliche Hoffnung, daß alle exakten Wissenschaften, sofern das Kriterium der Exaktheit gerade die Mathematisierbarkeit ist, sich ebenfalls prinzipiell in einer rein extensionalen Sprache erster Stufe ausdrücken lassen. Für die Wissenschaft wären dann ein präzises ontologisches Kriterium und ein eindeutiges Ausdrucksmittel der ontologischen Festlegung gefunden. Aber auch der präzise formulierte wissenschaftliche Diskurs unterliegt der Unbestimmtheit der Übersetzung und, wie insbesondere das Argument aus den Stellvertreterfunktionen zeigt, der Unbestimmtheit der Referenz und somit der ontologischen Relativität. Auch die ontologischen Verpflichtungen einer wissenschaftlichen Theorie lassen sich nämlich mittels Stellvertreterfunktionen variieren. 15 Theorien und Dinge, S. 20. Strawson hat die These einer ontologischen Ordnung vertreten: Unter den Entitäten, die wir annehmen, gibt es grundlegende, paradigmatische und andererseits nachgeordnete, analog zu den grundlegenden eingeführte Fälle; und die grundlegenden Einzeldinge, auf die wir immer schon festgelegt sind, sind die raumzeitlichen Einzelnen, die Partikularien, gegenüber den nicht-raumzeitlichen und unter diesen wiederum die körperlichen Dinge (und Personen) gegenüber den Ereignissen (in Individuals und „Ontologische Ordnung“ [...]). Quine erkennt an, daß sich bezüglich unserer lebensweltlichen Ontologie und der Alltagssprache, in der wir uns auf sie festlegen, keine eindeutige Grenzlinie zwischen Existenz und Nichtexistenz ziehen läßt: „Körper werden [in unserer Alltagsontologie] vorausgesetzt, das stimmt - zunächst und in erster Linie sind sie die Dinge. Nach ihnen kommt eine Abfolge verblassender Analogien. Allmählich [in der kollektiven wie individuellen Sprachentwicklung] werden verschiedene Ausdrücke in etwa ebenso verwendet wie die Termini für Körper, und man hat [dann] das Gefühl, daß gleichzeitig damit auch entsprechende Gegenstände [...] angenommen [gesetzt] werden; doch der Versuch, dem immer blasser werdenden Parallelismus eine ontologische Grenze zu ziehen, hat keinen Zweck. [Absatz] Mir geht es nicht darum, daß die Alltagssprache schludrig ist, obwohl sie das durchaus sein mag. Wir müssen diese graduelle Entwicklung [der verblassenden Analogien] in ihrer Gegebenheit hinnehmen und einsehen [anerkennen], daß der Alltagssprache eben keine abgegrenzte Ontologie innewohnt. Der Gedanke einer Grenze zwischen Sein und Nichtsein ist eine philosophische Idee, eine Idee der Expertenwissenschaft im weiten Sinne. [...] Ontologisches Interesse ist keine Korrektur [verbessernde Fortsetzung] laienhaften Denkens und laienhafter Praxis; es entspringt der Kultur des Laien, ist dieser aber fremd.“ (Theorien und Dinge, S. 20. Erläuternde Zusätze in eckigen Klammern von mir, AFK.) 18 An Fragen der Existenz kann der Wissenschaft demzufolge nicht allzu viel gelegen sein. In dem Aufsatz „Dinge und ihr theoretischer Ort“16 führt Quine unter anderem aus, wie man eine Ontologie von physikalischen Objekten, worunter er nicht dreidimensionale Körper, die zeitlichem Wandel unterliegen, sondern vierdimensionale materielle Füllungen der Raumzeit versteht, durch eine geeignete Umdeutung gegen eine rein mathematische Ontologie eintauschen kann. „Ontologie“ - das wird nebenbei deutlich - ist hier nicht der Name einer philosophischen Disziplin. Da Quine für eine Disziplin Ontologie keine Funktion mehr erkennt, fühlt er sich frei, das vermeintlich arbeitslos gewordene Wort zur Bezeichnung des Gegenstandsbereiches einer jeweiligen Theorie neu in Dienst zu nehmen. Die vorgeschlagene Ablösung der Gegenstandsontologie durch eine rein mathematische Ontologie bedient sich nicht einer Stellvertreterfunktion, sondern einer begrifflichen Reduktion; d.h. sie besteht darin, daß man die Wahrheitsbedingungen der Sätze über physikalische Gegenstände in einer Sprache angibt, die nur noch über reelle Zahlen quantifiziert. Dazu betrachtet man statt der vierdimensionalen physikalischen Objekte die von ihnen jeweils gefüllten Raumzeitgebiete und schreibt diesen direkt die Eigenschaften zu, die man sonst den Objekten zuschrieb. Ein Raumzeitgebiet aber läßt sich auffassen als eine Menge von Quadrupeln reeller Zahlen, die die Koordinaten der Punkte des Gebietes relativ zu einem willkürlich gewählten Koordinatensystem sind. Gegeben irgendein solches Koordinatensystem, kann man also die Wahrheitsbedingungen einer Theorie physikalischer Objekte in einer Sprache angeben, die nur über relle Zahlen und Mengen bzw., da reelle Zahlen ihrerseits als Mengen rekonstruierbar sind, die ausschließlich über Mengen quantifiziert. Für die Physik reicht insofern als „schöne neue Ontologie“ eine Teilklasse des reinen Mengenuniversums aus. Quine zieht aus der Möglichkeit dieser Umdeutung den Schluß, daß die wissenschaftliche Gesamttheorie nicht eine bestimmte, sondern nur überhaupt eine Ontologie braucht, und zwar als ein vergleichsweise neutrales Mittel der Darstellung dessen, worauf es der Theorie letztlich ankommt: der Struktur der Realität. Die Unbestimmtheit der Bezugnahme verleiht dieser Schlußfolgerung zusätzliche Legitimation. §. 18 Unbestimmtheit der Übersetzung und Unterbestimmtheit der Theorie Da die Unbestimmtheit der Übersetzung vor Extensionen nicht Halt macht, sind auch die Satzextensionen, also die Wahrheitswerte, in Gefahr. Sollten sie mitbetroffen sein, sollte es 16 In: Theorien und Dinge, 11-38. 19 also Fälle geben, in denen ein fremdsprachiger Satz sich einmal mit einem wahren und zum anderen ebensogut mit einem falschen deutschen Satz übersetzen ließe, so wäre dies die Unbestimmtheit in Vollendung. Wie die schwächere Übersetzungsunbestimmtheit, die nur Intensionen und Termextensionen betrifft, um der letzteren willen eine ontologische Relativität zur Folge hat, so hätte diese starke Übersetzungsunbestimmtheit, weil sie Satzextensionen (Wahrheitswerte) einschlösse, eine Relativität der Wahrheit zur Folge, in der Quine eine willkommene Beglaubigung seines Naturalismus erblicken dürfte. Denn wenn Fälle eintreten können, in denen es keine Tatsachenfrage mehr ist, sondern eine Frage der Auswahl unter gleichwertigen Übersetzungsmanualen, ob ein gegebener fremdsprachiger Satz mit einem bestimmten wahren Satz oder mit einem bestimmten falschen Satz der eigenen Sprache zu übersetzen ist, dann ist es auch keine Tatsachenfrage mehr, ob der übersetzte Satz im Munde eines fremden Sprechers bzw. ob die Meinung, die der Sprecher damit ausdrückt, wahr oder falsch ist. Die Wahrheitswerte abhängig von der Wahl des Übersetzungsmanuals - das wäre Wasser auf die Mühlen des Wahrheitsnominalismus („’Wahr’ ist bloß eine Vierbuchstabenwort“) und in der Folge auch des Naturalismus („Es gibt keinen Raum für eine Erste Philosophie“). Doch weder aus dem Gedankenexperiment der radikalen Übersetzung noch aus der Existenz von Stellvertreterfunktionen folgt die starke Übersetzungsunbestimmtheit; denn die Nichtbestimmbarkeit von Intensionen und die nur relative Bestimmbarkeit von Termextensionen werden in beiden Argumenten gerade in Beziehung auf gegebene Wahrheits- bzw. Zustimmungsbedingungen sichtbar gemacht. Insbesondere dürfen die Wahrheitswerte der Beobachtungssätze nur mit den Beobachtungsumständen, nicht mit den Übersetzungsmanualen variieren. Aber auch unter den übrigen Sätzen hat Quine kein Beispiel, kein fiktives und erst recht kein wirkliches, für die starke Unbestimmtheit ausfindig machen können; und das ist kein Wunder. Denn angenommen, jemand böte einen Beispielskandidaten, irgendeinen fremdsprachigen Satz mit zwei wahrheitswertverschiedenen Übersetzungen, auf. Wie wollte er nun zeigen, daß die Manuale mit diesen konkurrierenden Übersetzungsvorschriften dem Sprachverhalten der Fremden eines so gut wie das andere Rechnung tragen? Die Beispiele für die Unbestimmtheit der Bezugnahme sind erfolgreich, weil die Wahrheitsbedingungen der Sätze (und deshalb das Sprachverhalten) ersichtlich unberührt bleiben. Nach Voraussetzung gilt dies für die starke Unbestimmtheit der Übersetzung gerade nicht. Begründen läßt sich die starke These daher nicht „von unten“, nicht durch Beispiele und Gedankenexperimente, sondern allenfalls „von oben“, allenfalls aus einer anderen, ihrerseits hochtheoretischen Lehre, und zwar konkret aus 20 einer Quineschen These, die unter dem Namen „Unterbestimmtheit der Theorie durch Erfahrung“ bekannt geworden ist. Diese These besagt, daß es empirisch äquivalente, aber logisch nicht miteinander verträgliche Theorien geben kann. Der Holismus der Verifikation mag dies in der Tat nahelegen, doch Quine hat sich, wie er selber berichtet, von Davidson überzeugen lassen, daß die logische Unverträglichkeit zweier Theorien nie heillos ist, sondern stets wie folgt behoben werden kann: Man nehme einen Satz S, den die eine Theorie impliziert und die andere bestreitet. Da die Theorien empirisch äquivalent sind, muß S von einem theoretischen Term abhängen, der nicht an Beobachtungskriterien festgemacht ist. Wir können dann seinen empirischen Spielraum ausnützen und den Term als zwei Terme behandeln, die in den beiden Theorien verschieden geschrieben werden. S weicht so zwei voneinander unabhängigen Sätzen S und S’. Wenn wir so fortfahren, können wir die beiden Theorien logisch verträglich machen.17 Freilich kann eine solche systematische Umformulierung einer Theorie zur Folge haben, daß nun die eine Theorie von Termen Gebrauch macht, die nicht mehr auf die Terme der anderen zurückgeführt, nicht mehr in sie übersetzt werden können. Dafür daß mit diesem Fall auch unabhängig zu rechnen ist, gibt Quine ein Beispiel, eines, das auf Poincaré zurückgeht: Wir haben einerseits unsere gewöhnliche Vorstellung eines unendlichen Raumes und fester Körper, die sich frei bewegen, ohne zu schrumpfen oder sich auszudehnen, und andererseits die Vorstellung eines endlichen kugelförmigen Raumes, in dem diese Körper gleichförmig schrumpfen, wenn sie sich vom Mittelpunkt wegbewegen. Beide Vorstellungen sind mit allen möglichen Beobachtungen vereinbar; sie sind empirisch äquivalent. [... Aber:] Die Theorie mit dem endlichen Raum macht wesentlichen Gebrauch von einem theoretischen Term, für den es kein Gegenstück in der Theorie mit dem unendlichen Raum geben kann - nämlich ‘Mittelpunkt des Raumes’.18 Das Poincarésche Universum schrumpfender Körper, das uns übrigens in einem anderen Zusammenhang wiederbegegnen wird (vgl. § ...), ist ein Beleg immerhin für eine abgeschwächte Form der Unterbestimmtheitsthese, in der diese besagt, daß es empirisch äquivalente Alternativen zu einer Theorie, insbesondere zu unserer Gesamttheorie der Welt, geben kann, die von unübersetzbar fremdartigen Termen Gebrauch machen. Wenn wir je mit einer solchen Alter17 Pursuit of Truth 97f. Vgl. Unterwegs zur Sprache 136. Pursuit of Truth 96f. Vgl. Unterwegs zur Sprache 134f. Poincaré hat den endlichen kugelförmigen Raum in Wissenschaft und Hypothese, Kap. 4, beschrieben. 18 21 nativtheorie konfrontiert werden, haben wir - in Quines Worten - die Wahl, uns „ökumenisch“ oder „sektiererisch“ zu verhalten.19 Die ökumenische Haltung heißt alles Unvertraute der fremden Theorie, also ihre Sätze mit fremdartigen Termen, als Ergänzung der eigenen Theorie willkommen; die sektiererische Haltung weist diese Sätze als sinnlos ab. Für die Ökumene spricht, angesichts der empirischen Äquivalenz beider Theorien, der Empirismus. Für die Sekte sprechen Erwägungen der theoretischen Ökonomie und Eleganz; denn aufgrund der empirischen Äquivalenz der Theorien bringt ein Tandem aus beiden keine neuen Erklärungs- und Voraussagemöglichkeiten, sondern nur zusätzliches Begriffsgepäck. Für die Sekte spricht laut Quine auch, daß er, wenn schon nicht das Gütesiegel der Wahrheit, so doch das der begründeten Behauptbarkeit beiden Theorien gleichermaßen zubilligen und insofern dem Empirismus Rechnung tragen und daß er außerdem nach Belieben die Sekte wechseln kann.20 (Pragmatistischen Versuchungen, Wahrheit als begründete Behauptbarkeit zu definieren, muß der Sektierer dann freilich widerstehen.) Soviel zur Unterbestimmtheit der Theorie durch Erfahrung. Zur (starken) Unbestimmtheit der Übersetzung kommen wir von ihr durch den Zusatzgedanken, daß sich die empirische Unterbestimmtheit zweier Theorien bei der Übersetzung von der einen in die andere zur semantischen Unbestimmtheit potenziert: Wer Unterbestimmtes auf Unterbestimmtes projiziert, erntet Unbestimmtheit. Betrachten wir den Fall eines Gesamtsystems der Welt, G, formuliert in einer Sprache S, und eines Übersetzers, der ein Übersetzungsmanual für S erstellen und G in sein eigenes Gesamtsystem der Welt übersetzen will. Nun besagt die Unterbestimmtheitsthese in ihrer ursprünglichen Form, daß in S empirisch äquivalente, aber logisch unverträgliche Alternativen G’, G’’ usf. zu dem Gesamtsystem G formuliert werden können. Das aber bedeutet für den Übersetzer, daß er vor der Erstellung des Übersetzungsmanuals in einem gewissen Sinn noch gar nicht issen kann, mit welchem aus einer Klasse von empirisch äquivalenten, aber logisch unverträglichen Gesamtsystemen er es überhaupt zu tun hat. Er wird es auch nie empirisch herausfinden können; denn die empirische Bestimmtheit reicht nicht aus, um die konkurrierenden Gesamtsysteme in semantisch relevanter Weise zu unterscheiden, da sie nach Voraussetzung empirisch äquivalent sind. Das gilt in der Gegenrichtung natürlich nicht minder. Auch in der Sprache des angenommenen Übersetzers lassen sich empirisch äquivalente, aber logisch unverträgliche Gesamtsysteme formulieren, die für die Sprecher der Sprache S semantisch gleichwertig wären. Das aber bedeutet, daß jedes Manual richtig wäre, das irgendein Gesamtsystem aus der einen Äquivalenzklasse zur Übersetzung irgendeines Ge19 Pursuit of Truth 99. 22 samtsystems aus der anderssprachigen Äquivalenzklasse erklärte. Damit wäre wegen der logischen Unverträglichkeit der Elemente jeder Äquivalenzklasse die starke Unbestimmtheit der Übersetzung nachgewiesen. Wäre. Denn wir haben gesehen (Quine hat es selbst gezeigt), daß die logische Unverträglichkeit effektiv behebbar ist - wenn zwischen empirisch äquivalenten Theorien innerhalb ein und derselben Sprache, dann ebenso zwischen Theorien verschiedener Sprachen, die mittels konkurrierender Übersetzungsmanuale aufeinander abgebildet werden. Die starke Unbestimmtheitsthese ist zu stark, um wahr zu sein. Es bleibt, ganz unabhängig von der Problematik der radikalen Übersetzung, der sektiererische Umgang mit fremdartigen Theorien. Wenn der Sektierer nach einem geeigneten Lernprozeß zwischen seiner einheimischen und der anfangs fremdartigen Theorie nach Belieben hin und herspringen kann, dann wird seine jeweilige Versicherung, er verstehe auf dem gerade eingenommenen Standpunkt das Extravokabular der anderen Theorie nicht, unglaubwürdig. Er braucht nur zu springen, um es alsbald zu verstehen (und um dann angeblich das Extravokabular der just verlassenen Theorie nicht mehr zu verstehen). Zutreffender ist die Situation beschrieben, wenn man den springenden Sektierer nach seinem Lernprozeß eine umfassende Sprache sprechen läßt, in der beide Theorien formuliert sind. Dann wird er vom Standpunkt der jeweils einen Theorie die Extrasätze der anderen Theorie nicht als sinnlos, sondern als falsch zurückweisen müssen, und dies nicht, weil sie mit seinem gerade eingenommenen Theoriestandpunkt logisch unverträglich wären, sondern schlicht aus Gründen der theoretischen Ökonomie. Wir müssen uns dann aber fragen, ob die schiere Ökonomie soviel Wahrheitsrelativismus aufwiegt. Als Alternative steht ja die ökumenische Haltung zur Verfügung, die Davidson uns empfiehlt. Es ist, um ihn zu zitieren, in der Tat nicht leicht zu sehen, wie derselbe Satz (ohne indexikalische Elemente), bei unveränderter Interpretation, für eine Person wahr sein kann und für eine andere nicht oder für eine gegebene Person wahr zu einer Zeit und nicht zu einer anderen. Die Schwierigkeit geht wohl auf den Versuch zurück, erkenntnistheoretische Überlegungen in den Wahrheitsbegriff einzuführen.21 20 21 Ebd. 100. Vgl. dt. 139f. SCT 306. Meine Übersetzung. 23 Gegen diese Diagnose würde Quine sich allerdings verwahren: Erkenntnistheoretische Überlegungen seien angemessen für die begründete Behauptbarkeit, die er aber von der Wahrheit scharf unterscheide. Daß er es zumindest nominell tut, sahen wir; es steht ganz außer Frage. 22 Aber vielleicht tut er es nicht konsequent genug oder nicht an der rechten Stelle. Die erkenntnistheoretischen Überlegungen, auf die Davidson anspielt, sind diejenigen, die zum DuhemQuineschen Holismus führten: Welche empirisch überprüfbaren Folgen ein Satz hat, hängt davon ab, welche anderen Sätze ich als mögliche Zusatzprämissen gelten lasse, d.h. für wahr halte. Soviel Holismus ist unstrittig. Wenn ich nun, in Ermangelung eines a priori legitimierten Bedeutungsbegriffes, Bedeutung mit empirischer Bedeutung bzw. empirischem Gehalt gleichsetzen muß, dann verschwimmt mir der Grundsatzunterschied zwischen Sprache und Theorie. Was meine Worte bedeuten, hängt dann davon ab und variiert damit, welche Sätze ich für wahr halte. Jeder Sinneswandel ist dann ein Wandel des Sinnes. Daß Sprache und Theorie wesentlich aufeinander bezogen sind, soll gar nicht bestritten werden. Aber wenn die Bedeutungskategorie, wie bei Quine, ganz preisgegeben wird, dann fallen (interpretierte) Sprache und Theorie ununterscheidbar zusammen. Ein Satz kann dann allenfalls als syntaktisches Gebilde, aber strenggenommen nicht mehr in einer gegebenen Interpretation zweiwertig, wahr-oder-falsch, sein. Denn mein Sinneswandel, mein Übergehen vom Fürwahrhalten zum Fürfalschhalten seiner oder umgekehrt, würde, wie gesagt, schon einen, wie auch immer geringfügigen, Wandel seines Sinnes, seiner Interpretation und damit einen Themawechsel bedeuten. Natürlich kann Quine kontern, daß diese Argumentation ihr Beweisziel insofern voraussetzt, als sie den Bedeutungsbegriff braucht, um zu zeigen, daß er unverzichtbar ist. Aber warum eigentlich nicht? Warum soll die Unverzichtbarkeit von etwas nicht dargetan werden können, indem man es gebraucht? Ohne den Bedeutungsbegriff müssen wir zu folgendem Bild unsere Zuflucht nehmen: Die Sätze einer Sprache, rein syntaktisch genommen, verhalten sich neutral gegen die Differenz der Wahrheitswerte. Sie sind jeweils wahr-oder-falsch; denn ob ein Satz wahr ist oder falsch, ändert nichts an seiner syntaktischen Identität; Sinneswandel läßt die Syntax unberührt. Anders die Semantik. Einen Satz interpretieren heißt (idealiter), allen Sätzen Wahrheitswerte zuzuordnen. Die Sätze, die den Wert „wahr“ erhalten, bilden insofern meine Theorie. Meine Theorie, als soundso interpretierte, kann dann trivialerweise nicht falsch sein. Also kann ich, im semantischen Sinn, weder mir noch anderen widersprechen. Widerspruch ist eine rein syntaktische Operation. 22 Vgl. Pursuit of Truth, § 39: „Truth versus warranted belief“. 24 Wenn man auf diese Weise erkenntnistheoretische, nämlich holistische Erwägungen in die Semantik einführt, dann kann man den Wahrheitsbegriff nur dadurch rein und vom Begriff der begründeten Behauptbarkeit getrennt halten, daß man ihn syntaktisch trivialisiert. Darin liegt Quines Wahrheitsnominalismus. Um eine Ecke herum hat Davidson also recht, wenn er den Versuch, erkenntnistheoretische Erwägungen in den Wahrheitsbegriff zu bringen, für den Wahrheitsrelativismus verantwortlich macht. Der Versuch führt nämlich zu einer Auflösung und Preisgabe des reichhaltigen Wahrheitsbegriffs zugunsten eines nominellen Ersatzes. Festzuhalten bleibt, daß bislang in der Hauptsache noch nichts entschieden ist. Wenn Quines Bedeutungskritik nicht nur als Kritik der Reifikation von Bedeutungen, sondern als Kritik der Kategorie der Bedeutung gültig ist, dann folgt der Naturalismus. Wenn umgekehrt der Naturalismus unabhängig begründbar ist, dann folgt aus der Kritik der Bedeutungen (im Plural), weil keine Quelle apriorischer Begriffsbildung fließt, eine Kritik der Bedeutung (im Singular). Dann gilt - und das ist ja ganz im Sinne des Naturalismus -, daß es relativ zum einmal festgelegten Wahrheitswert eines Satzes, nicht mehr möglich ist, daß der Satz wahr-oder-falsch ist. Im Wahr-oder-falsch-Sein, d.h. im Falschseinkönnen trotz angenommenem Wahrsein bzw. Wahrseinkönnen trotz angenommenem Falschsein nämlich macht sich der Sinn (die Bedeutung) eines Satzes als Überschuß über den Wahrheitswert bemerkbar - wenn es denn so etwas gibt wie sprachliche Bedeutung. § 19. Vom Naturalismus zum Relativismus Die Unbestimmtheit der Übersetzung zeigt schon in ihrer schwachen und haltbaren Form, daß Bedeutungen nicht als theoretische Entitäten einer semantischen Theorie reifizierbar sind. Mit dem Naturalismus als Zusatzprämisse folgt, daß sich auch die Kategorie der Bedeutung nicht rechtfertigen läßt. Denn außer über Bedeutungen im Plural wäre sie allenfalls a priori zu rechtfertigen. Hätten wir nun wenigstens diesen apriorischen Singular, dann könnten wir, uns mit Strawson auf eine Ordnung des Seienden berufend (vgl. § 18, Anm. 14), Bedeutungen als nachgeordnete Entitäten mit unscharfer Identität gelten lassen. Doch wenn weder a priori der Singular noch a posteriori der Plural zu haben ist, wird die Rede von Bedeutung(en) sinnlos. Der Naturalismus im Verein mit der schwachen Unbestimmtheit der Übersetzung läßt keine Möglichkeit der Reduktion des Bedeutungsbegriffes auf wissenschaftlich akzeptablere Begriffe. Durch die Kritik der Bedeutungen legt Quine somit den Naturalismus auf dessen eli- 25 minative Spielart fest. Das ist ein wichtiges Ergebnis, aus dem sich eine Grundsatzkritik der reduktiven Spielart des Naturalismus ableiten läßt. Und was den Bedeutungen recht ist, ist der Bezugnahme billig. Die Unbestimmtheit der Bezugnahme zeigt, daß es entweder keinen objektiv bestimmten - keinen nicht auf ein Übersetzungsmanual relativierten und nicht mittels Stellvertreterfunktionen austauschbaren - sprachlichen Bezug gibt oder daß dessen Bestimmtheit irgendwie im Rahmen einer Ersten Philosophie gerechtfertigt werden müßte. Auch in der Referenztheorie ist der Naturalismus demnach auf eine eliminative Variante festgelegt, nämlich auf die Quinesche Variante, der zufolge Referenz nur relativ zur Wahl eines Übersetzungsmanuals bestimmt, objektiv aber unbestimmt ist. Es gibt keine objektivierbare, wissenschaftlich beschreibbare semantische Wort-Welt-Beziehung. Das sollte alle reduktionistischen Hoffnungen bezüglich des Referenzbegriffs zuschanden machen. Aber die Unbestimmtheit der Bezugnahme ist schwer zu akzeptieren; denn sie würde auch für die Muttersprache und für den je eigenen Fall gelten. Was ein Sprachforscher prinzipiell nicht objektiv bestimmen (und was man mit einer Stellvertreterfunktion ohne Folgen für das Sprachverhalten verändern) kann, das konnten auch die Informanten des Forschers in ihrem eigenen Spracherwerb nicht erlernen. Auf uns selber angewandt, heißt das, daß auch wir nicht wissen, worauf wir uns mit unseren muttersprachlichen Termini beziehen. Der Schein der Objektivität verdankt sich bloß dem binnensprachlichen Manöver der Zitattilgung in Beziehung auf unsere zweistelligen semantischen Prädikate wie „bezeichnen“, „sich beziehen auf“ und ähnliche: Wenn wir einen Terminus links neben einem „bezeichnet“ erwähnen (mittels Anführungszeichen) und rechts daneben gebrauchen (ohne Anführungszeichen), dann schreiben wir ganz sicher etwas Wahres auf, z.B. „Kaninchen“ bezeichnet Kaninchen. Aber diese Wahrheit verhilft uns angesichts der Unbestimmtheit der Bezugnahme und der Möglichkeit von Stellvertreterfunktionen nur zu einer binnensprachlichen, nicht zu einer Sprache-Welt-Zuordnung. Denn die Nachfrage, was der rechts gebrauchte Terminus denn seinerseits bezeichnet, ist nicht objektiv, sondern sicher und trivialerweise wiederum nur durch Zitattilgung (durch eine Wiederholung von: „’Kaninchen’ bezeichnet Kaninchen“) beantwortbar. Klar ist nur, daß das links erwähnte und das rechts gebrauchte Wort dasselbe bezeichnen was immer es sein mag. 26 Viele betrachten diese Konklusion als eine Reductio ad absurdum. 23 Doch welche Quinesche Prämisse könnte ad absurdum geführt worden sein? Welche steht zur Disposition? Meine These ist, daß nichts anderes in Frage kommt als der Naturalismus selber. Doch gewöhnlich werden als preiswertere Alternativen Quines - vermeintlicher oder echter - Behaviorismus und Verifikationismus gehandelt. Eine Art Behaviorismus könnte darin liegen, daß das öffentlich beobachtbare Verhalten, insbesondere das Sprachverhalten, den Bezugspunkt der Unbestimmtheit bildet: Das Gedankenexperiment der radikalen Übersetzung, das Beispiel des japanischen Klassifikators und die Möglichkeit der Permutation der Bezugsgegenstände mittels einer Stellvertreterfunktion zeigen, daß das Verhalten der Sprecher den sprachlichen Bezug nicht eindeutig bestimmt.24 Ein liberaler Naturalist aber wird vielleicht noch zusätzliche Anhaltspunkte für die Bestimmung des Bezugs in Erwägung ziehen wollen, z.B. Gehirnvorgänge oder genetisch geprägte Gehirnstrukturen. Quine würde ihn darauf hinweisen, daß wir unsere Muttersprache nicht lernen, indem wir unseren Eltern ins Gehirn schauen. Aber schenken wir das. Gewähren wir im Gedankenexperiment dem radikal übersetzenden Sprachforscher alle Hilfsmittel einer fern zukünftigen Neurowissenschaft und -technik. Es ist offenkundig, daß eine Permutation der Bezugsgegenstände mittels einer Stellvertreterfunktion die Strukturen und Vorgänge im Gehirn eines Sprechers so wenig berührt wie dessen allgemein beobachtbares Verhalten. Auch der Verifikationismusverdacht führt im gegenwärtigen Zusammenhang zu nichts. Wer diesen Verdacht gegen Quine hegt, wird ihm zugeben, daß wir Aussagen über den Gegenstandsbezug nicht objektiv verifizieren können, aber hinzufügen, daß dies keineswegs heiße, solche Aussagen seien nicht objektiv wahr oder falsch. Siehe etwa Aussagen über entfernt vergangene oder entfernt zukünftige Einzelheiten: „Am 1.5.3000 wird der Rhein bei Köln Hochwasser führen.“ Wenn aber der Kritiker Naturalist ist, kommt er nicht weit mit diesem Einwand. Er ist sich einig mit Quine, daß es an sich, wenn auch nicht für uns, eine zutreffende wissenschaftliche Gesamtbeschreibung der Welt gibt und daß diese Gesamtbeschreibung die Frage entscheidet, ob der Rhein am 1.5.3000 bei Köln Hochwasser führen wird. Der Witz von Quines Argumenten für die schwache Unbestimmtheit der Übersetzung bzw. für die Unbe- 23 Z.B. Rosenberg und Searle [...]. Für dieses Ausmaß an „Behaviorismus“ kann man auch a priori, nämlich aus dem Faktum und Begriff der Wahrheit argumentieren: Die Objektivitätsansprüche in unseren Wahrheitsansprüchen bringen es mit sich, daß sprachliche Ausdrücke in Beziehung auf Objekte erklärbar und lernbar sein müssen. Durch eine Ausführung dieser Argumentskizze würde der Behaviorismus als Prämisse überflüssig. Da Quine sich aber auf den Naturalismus festlegt, bekennt er sich zu einer behavioristischen Prämisse. Diese sei aber anders als in der Psychologie in der Sprachtheorie nicht optional, sondern zwingend geboten, da Sprache eine soziale Kunstfertigkeit sei. 24 27 stimmtheit der Bezugnahme ist es aber gerade, daß Informationen über den Weltlauf dem Linguisten nicht weiterhelfen, sobald er von Fragen des Weltlaufs, konkret Fragen, unter welchen Bedingungen gegebene Sprecher bestimmten Sätzen zustimmen, zu Fragen der Bezugnahme übergeht, deren korrekte Beantwortung durch Stellvertreterfunktionen variierbar ist. Objektiv entscheidbar wären Fragen der Bezugnahme, wenn objektiv entscheidbar wäre, was ein Sprecher mit einem Satz bzw. mit einem Terminus meint. Wenn er mit „gavagai“ Kaninchenteile meint, dann ist die Übersetzung „Kaninchen“ insofern unangemessen. Man kann, was ein Sprecher mit einem Terminus meint, als intentionale Referenz von dem, was eine Übersetzung oder Interpretationstheorie diesem Terminus zuordnet, als der semantischen Referenz unterscheiden.25 Läßt sich nun gegen Quine einwenden, daß die semantische Referenz nur so lange unbestimmt ist, wie man nur den objektiven Weltlauf und nicht auch die intentionale Referenz zu Rate zieht? Ja und nein. Zunächst ja, denn die intentionale Referenz würde die semantische allen möglichen Stellvertreterfunktionen zum Trotz eindeutig bestimmen. Nein jedoch insofern, als die intentionale Referenz ihrerseits unbestimmt ist, weil ein Sprecher selber nicht wissen kann, was er „objektiv“ mit einem Terminus meint. Ein Naturalist hat hier keine Handhabe gegen Quine. Wenn er die Intentionalität (das denkende Sich-Beziehen auf Gegenstände) als Bestimmtheitsquelle ins Spiel bringt, so mit der Maßgabe, daß Intentionalität ein objektives Phänomen ist, das sich wissenschaftlich beschreiben (z.B. auf neurologische Sachverhalte reduzieren) läßt. Dann aber greift wieder Quines Argumentation aus der radikalen Übersetzung und den Stellvertreterfunktionen. Aus Quines Argumentation folgt, mit anderen Worten, daß intentionale Sachverhalte keine objektiven Sachverhalte sind. Dem Naturalisten bleibt nur die eliminative Spielart des Naturalismus übrig. Auch der Anhänger des Unternehmens Erste Philosophie darf aus Quines Argumentation die Lehre ziehen, daß Intentionalität nicht objektivierbar ist. Eine dualistische Lehre, die sich einerseits auf körperliche und andererseits auf geistige Entitäten ontologisch festlegen möchte, ist damit abgewiesen. Aber von einem solchen Dualismus bringt sich die Erste Philosophie, wie wir in Teil I gesehen haben, bereits selber ab. Völlig unabhängig von Quine wurde dort gezeigt, daß psychische Tatsachen (was jemand meint, wünscht, hofft usw.) keine objektiven Tatsachen sind. Quines Argumentation für die Unbestimmtheit der Übersetzung und der Referenz bestätigt dieses Ergebnis bzw. wird umgekehrt von ihm bestätigt. Die philosophische Grundsatzentscheidung wird zu treffen sein zwischen einem eliminativen Naturalismus und einer nicht-objektivierenden Ersten Philosophie. 25 Vgl. Falk, W&S, [...]. 28 Vielleicht kann man die Grundsatzentscheidung noch einen Schritt weiter ins Grundsätzliche verlagern; denn der eliminative Naturalismus ist eine instabile, schwer zu haltende Position. Zum einen steht die These von der Unbestimmtheit der Bezugnahme, angewendet auf den eigenen Fall, wenn sie nicht von einer nicht-naturalistischen, nicht-objektivierenden Theorie der intentionalen Referenz aufgefangen wird, im Verdacht der Absurdität. Doch selbst wenn man davon absieht, hat es der Naturalist nicht leicht, den Wissenschaften, insbesondere der Physik, diejenige Dignität theoretisch zu sichern, von der seine Lehre zehrt. Was für ein Gütesiegel vergibt jemand den Wissenschaften (einschließlich seiner eigenen naturalisierten Erkenntnistheorie), der sie für wahrheitsfähig und die Erste Philosophie für nicht wahrheitsfähig erklärt, wenn er im selben Atemzug „wahr“ zu einem bloßen Vierbuchstabenwort erklären muß? Was ist dieses Gütesiegel dann noch wert? Eine falsche Frage, könnte man vielleicht mit Richard Rorty sagen. Denn sie unterstellt, daß das Gütesiegel der Wahrheit ein Fundamentum in re besitzt, während es sein Fundament doch schlicht in unseren hiesigen und heutigen Vorlieben haben könnte. Indem wir eine Theorie, sagen wir die allgemeine Relativitätstheorie, für wahr (oder annähernd wahr) erklären, empfehlen wir sie. Aber wir empfehlen sie nicht als in irgendeinem objektivierbaren Sinn mit der Realität übereinstimmend. Wir empfehlen sie, weil halt, wie die Kinder sagen, oder, erwachsener gesprochen, weil wir sie halt so oder so gebrauchen können. Würden wir, würden die Gebildeten und Wohlinformierten unter uns, würden schließlich gar die Kultusbürokratien das Interesse an der theoretischen Physik so gründlich verlieren, wie viele es schon an der Ersten Philosophie verloren haben, dann würde ihr das Gütesiegel der Wahrheit schließlich durch keinen Lehrplan und an keinem Lehrstuhl mehr, sondern allenfalls noch von ein paar hartnäkkigen Liebhabern zugebilligt werden - ein Schicksal, das in den Augen vieler die Erste Philosophie bereits erlitten hat. Der Naturalist meint, es müsse Gründe außerhalb unserer Vorlieben in den Sachen selber geben, aus denen die Erste Philosophie dieses Schicksal verdient und die theoretische Physik es, sollte es ihr je widerfahren, nicht verdienen würde. Doch wenn Wahrheit nicht über die Sprache hinausweist, wenn sie nicht in irgendeinem Sinn realistisch gefaßt werden kann, ist diese Meinung unbegründet. Der Naturalismus treibt zu seiner Selbstaufhebung in einem umfassenden Relativismus, dem zufolge Theorien und ganze Weltbilder nicht objektiv widerlegt werden, sondern aus der Mode kommen, wenn wir zu neuen Ufern aufbrechen. So gesehen bleibt Quine, wie konsequent er sonst auch seinen Argumenten folgt (etwa bis zur Unbestimmtheit der Bezugnahme im je eigenen Fall), einen Schritt zu früh stehen. Rorty vollzieht den fälligen Schritt: hin zum Relativismus; auch wenn er sich, eingedenk der 29 eher abschreckenden als empfehlenden Wirkung dieses Wortes, nicht selbst Relativist, sondern lieber „’Anti-Platoniker’ oder ‘Anti-Metaphysiker’ oder Gegner der Letztbegründung“26 nennen möchte. Zwei große relativistische bzw. anti-metaphysische Traditionen unterscheidet Rorty: einerseits „die europäische Philosophietradition nach Nietzsche“ und andererseits den „Pragmatismus der amerikanischen Philosophie“, dem er sich zugehörig fühlt und dessen Mitbegründer John Dewey er am meisten unter allen Philosophen bewundert, weil er sechzig Jahre lang versucht habe, „den Bann Platons und Kants zu brechen“, den Bann, heißt das, der „aufs Denken der Griechen zurückgehende[n] Unterscheidung (...) zwischen den Dingen als solchen und ihren Relationen zu anderen Dingen, insbesondere zu menschlichen Bedürfnissen und Interessen.“27 Rortys relativistischer bzw. anti-metaphysischer Pragmatismus scheint mir die angemessene Konsequenz zu sein, die in der Fluchtlinie von Quines Einreihung der Philosophie unter die Wissenschaften zu ziehen ist. Unsere grundsätzliche Alternative spitzt sich demnach zu auf die Wahl zwischen dem Relativismus und einer Ersten Philosophie, die theoretisch gehaltvoll sein müßte, ohne theoretische Entitäten (z.B. Bedeutungen) postulieren zu dürfen. § 20. Die philosophische Semantik im Gewand einer Methodologie der linguistischen Semantik bei Davidson Wenn der Naturalismus nur in seiner eliminativen Spielart und nur als Übergangsposition auf dem Weg zu einem durchgängigen Relativismus haltbar ist, stellt sich dringlicher als je die Aufgabe, eine Erste Philosophie ohne genuin philosophische (metaphysische) Entitäten zu entwickeln. Da sich Quines Denken als ebenso konsequent wie fruchtbar erwiesen hat und sich weiter nichts an ihm zu kritisieren fand als entweder ein unausgewiesener Restempirismus, der den Naturalismus, oder ein unausgewiesener Naturalismus, der den Empirismus stützt, sollten sich Elemente der gesuchten Ersten Philosophie schon in seinem Umkreis finden lassen. Diese Erwartung wird zum einen durch Donald Davidson erfüllt, der in nächster theoretischer Nähe zu Quine dessen Empirismus verwirft und den Naturalismus jedenfalls nicht bekräftigt, zum anderen aber durch Hans-Peter Falk, der Davidsons Lehren aus der Schwebe zwischen Naturalismus und Erster Philosophie bringt, indem er sie in seine eigene, entschieden nicht-naturalistische Theorie integriert. Davidson und Falk sollen daher in den nachfolgenden Paragraphen eingehender besprochen werden. 26 InfoPhil 1/97, S. 5 30 Wer Wahrheit als den Ausgangspunkt der Ersten Philosophie betrachtet und eine philosophische Bedeutungstheorie für möglich hält, wird die Bedeutungen der Sätze als ihre Wahrheitsbedingungen fassen müssen. Davidson kommt zu dem gleichen Ergebnis, ohne sich ausdrücklich auf die Möglichkeit einer apriorischen Bedeutungstheorie festzulegen, auf dem Wege methodologischer Überlegungen zu empirischen Bedeutungstheorien für je bestimmte Sprachen. Die philosophische (apriorische) Bedeutungstheorie tritt hier gleichsam verschämt auf als Methodologie linguistischer (empirischer) Bedeutungstheorien. Wenn der Aprioriker über die Grenzen der Philosophie einmal hinaus ins Gebiet der Linguistik schaut und dabei zur Kenntnis nimmt, daß die syntaktische Theorie einer Sprache S eine rekursive Charakterisierung des Prädikates „ist ein Satz von S“ zu geben hat, so wird er der semantischen Theorie von S ohne weiteres die Aufgabe zuweisen, eine rekursive Angabe der Wahrheitsbedingungen der Sätze von S zu liefern. Die semantische Theorie von S muß, mit anderen Worten, die Wahrheitsbedingungen langer Sätze systematisch auf die Wahrheitsbedingungen kurzer Sätze zurückführen und die Wahrheitsbedingungen kurzer Sätze entweder in einer endlichen Liste einzeln angeben oder sie, wenn das nicht möglich ist, auf die Erfüllungsbedingungen einer endlichen Liste offener Sätze zurückführen. Genau das leistet eine Tarskische Wahrheitsdefinition für S. Der Aprioriker kommt also geradewegs zu dem Ergebnis, daß eine rekursive Semantik einer gegebenen Sprache die Form einer Tarskischen Wahrheitstheorie für diese Sprache annehmen muß - wenn denn eine rekursive Semantik einer natürlichen Sprache überhaupt möglich ist. Davidson, wie gesagt, legt sich nicht auf den Apriorismus, nicht auf die Möglichkeit einer Ersten Philosophie, sondern ersatzweise auf die optimistische Behauptung fest, daß rekursive Bedeutungstheorien für natürliche Sprachen in der Tat möglich sind. Eine solche Theorie hätte das Wissen zu explizieren (oder zu ersetzen oder zu imitieren), das eine Person hat, die eine bestimmte Sprache versteht. Es ist aber keineswegs ausgemacht, daß sich das Verstehen einer Sprache theoretisch explizieren, ersetzen, imitieren läßt. Wenn nicht, so läuft die Methodologie rekursiver Bedeutungstheorien natürlicher Sprachen ins Leere. Davidson aber geht optimistisch von der Möglichkeit rekursiver Bedeutungstheorien für natürliche Sprachen aus und zeigt dann, ohne Bedeutungen a priori als Wahrheitsbedingungen zu fassen, in einer unabhängigen methodologischen Argumentation, daß eine solche Theorie die Form einer Tarskischen Wahrheitstheorie annehmen muß und daß Bedeutungen deshalb nicht reifizierbar, sondern schlicht Wahrheitsbedingungen sind. Im Ergebnis trifft er sich mit dem Aprioriker, der 27 Ebd. 31 seinerseits nichts über die Möglichkeit rekursiver Bedeutungstheorien unterstellen muß, sondern im Irrealis reden darf: Wenn sie für natürliche Sprachen möglich wären, dann - da Bedeutungen Wahrheitsbedingungen sind - nur in der Form von Tarskischen Wahrheitstheorien. Tarski selber war der Auffassung, daß die Antinomie des Lügners hinreichend zeigt, daß der Wahrheitsbegriff einer natürlichen Sprache nicht definiert werden kann. Nun verlangt Davidson von einer Bedeutungstheorie etwas weniger: statt einer expliziten Definition nur eine rekursive Charakterisierung des Wahrheitsbegriffs der betreffenden Sprache. Aber selbst wenn man von der Problematik des Lügners vorerst absieht, so stellen sich einer rekursiven Angabe der Wahrheitsbedingungen der Sätze einer natürlichen Sprache schier unüberwindliche Hindernisse in den Weg. Zwar kann Davidson sich darauf berufen, daß die logisch reglementierte Sprache, in der die Mengenlehre formuliert werden kann, ein Teilsystem der englischen bzw. in unserem Fall deutschen Sprache bildet und daß für dieses Teilsystem die bedeutungstheoretische Arbeit durch Tarski schon geleistet ist. Aber ansonsten überwiegen die ungelösten Probleme, wie Davidsons eigenen Problemliste am Ende des Aufsatzes „Wahrheit und Bedeutung“ anzeigt. Die Bedeutung des langen Satzes: „Davidson glaubt, daß eine rekursive Bedeutungstheorie des Deutschen möglich ist“, muß erklärt werden mit Beziehung auf die Bedeutung des kürzeren Satzes: „Eine rekursive Bedeutungstheorie des Deutschen ist möglich“ (und mit Beziehung auf die Bedeutung von „Davidson glaubt, daß“). Aber die Wahrheitsbedingungen des längeren Satzes sind unabhängig von denen des kürzeren Satzes. Wie also soll man jene auf diese zurückführen können? Nicht, daß es keine Lösungsversuche für diese und viele andere Probleme der rekursiven Semantik natürlicher Sprachen gäbe. Davidson selber hat im gegebenen einen Vorschlag unterbreitet.28 Aber es ist bisher bei höchst problematischen Programmen geblieben; eine rekursive Semantik einer natürlichen Sprache liegt nirgends vor. Bleiben wir dennoch bei Davidson und bei derjenigen philosophischen Semantik, die im Gewand der Methodologie der linguistischen Semantik auftritt. In den sechziger Jahren hat Noam Chomsky in der Linguistik großen Widerhall mit seiner These gefunden, daß die Syntax einer natürlichen Sprache in Form einer generativen Transformationsgrammatik gegeben werden müsse. Eine Grammatik hat das Ziel, den Begriff des (wohlgeformten) Satzes für eine gebenene Sprache zu präzisieren, und zwar so, daß damit ein Aufzählungs- und Entscheidungsverfahren für die Sätze der Sprache verbunden ist. Von einer erfolgreichen Grammatik wird mit anderen Worten verlangt, daß man auf ihrer Grundlage ein Programm für einen 32 Rechner schreiben kann, das jeden der potentiell unendlich vielen Sätze der Sprache aufzählt, wenn man es lange genug laufen läßt, und ein Programm, das für jede beliebige Lautfolge entscheidet, ob diese Lautfolge ein Satz der betreffenden Sprache ist. Eine Grammatik, die solche Programme ermöglicht, muß „generativ“ sein, weil sie mit endlichen Mitteln (einem endlichen Lexikon und endlich vielen Form- und Umformungsregeln) potentiell unendlich viele Sätze erfassen muß. Diese Generativität hat nichts mit schöpferischer Kraft und Erfindungsgabe zu tun, sondern wird einfach im rekursiven Charakter der Grammatik bestehen. Wir haben ja gesehen (§ 13), daß rekursive oder induktive Definitionen im gewünschten Sinn generativ sind. (Chomsky meinte im übrigen, daß eine Grammatik für eine natürliche Sprache in zwei Schichten gegliedert werden müsse: Zuerst müßten die grammatischen Tiefenstrukturen erzeugt werden, durch die generativen Regeln, und dann müßte dieses Zwischenergebnis noch in Form gebracht werden, in die vertraute Oberflächenstruktur der betreffenden Sprache nämlich, und zwar durch Transformationsregeln.) Ich erwähne dies um des Kontrastes zur Semantik willen. Die Grammatik im Sinne der Syntax nämlich ist ein vergleichsweise klares und einfaches Unternehmen. Sie erfordert zwar viel mühevolle Kleinarbeit, weil im Falle einer natürlichen Sprache ein großes Lexikon und eine Vielzahl grammatischer Regeln erfaßt werden müssen. Aber das Prinzip schien jedenfalls klar zu sein. Wie hingegen eine generative, also rekursive, Semantik für eine natürliche Sprache auszusehen hätte, war völlig unklar. Offenkundig mußte man mehr verlangen als ein bloßes Übersetzungsmanual. Denn Bedeutungsangaben und Übersetzungen mögen nahe Verwandte sein, doch identisch sind sie nicht. Technisch gesehen gehört ein Übersetzungsmanual zur Syntax, wenn auch nicht zur Syntax einer einzigen, sondern vielmehr zweier Sprachen, also zu einer zwischensprachlichen (interlinguistischen) Syntax. Ein Übersetzungsmanual ordnet jedem Satz einer Quellensprache einen Satz der Zielsprache zu. Die Motivation dieser Zuordnung mag semantisch sein, und dies mag man dadurch andeuten, daß man zwischen einen Satz der Quellensprache und seine Übersetzung jeweils ein „bedeutet soviel wie“ schreibt: „Snow is white“ bedeutet soviel wie „Schnee ist weiß“. Aber die Absichtserklärung, die im „bedeutet soviel wie“ liegt, ist wirkungslos angesichts dessen, daß eine Übersetzung nur eine relative Bedeutungsangabe ist. Dies kommt darin zum Ausdruck, daß auch der Satz der Zielsprache, der das „bedeutet soviel wie“ rechts flankiert, nur angeführt oder erwähnt, nicht unmittelbar gebraucht wird. Es wird nur gesagt, daß ein 28 Vgl. „On Saying that“ [...] 33 Satz (der Quellensprache) soviel bedeutet wie ein anderer Satz (der Zielsprache); es wird nicht schlechthin gesagt, was er bedeutet. Eine semantische Theorie soll die Sätze der Quellensprache nicht übersetzen, sondern deuten (interpretieren), d.h. sie nicht auf Sätze der Zielsprache, sondern in irgendeiner geeigneten Form auf die Realität beziehen. Wir haben gesehen, daß eine Tarskische Wahrheitsdefinition die Sätze einer (formalen) Quellensprache insofern auf die Realität bezieht, als sie mit einem zweistelligen semantischen Hilfsbegriff, dem der Erfüllung, operiert. Die Wahrheitsbedingungen langer Sätze werden im allgemeinen auf die Wahrheitsbedingungen kürzerer Sätze zurückgeführt; aber man gerät schließlich an Sätze, deren Wahrheitsbedingungen auf Erfüllungsbedingungen von sogenannten offenen Sätzen bzw. auf den Bezug von Termini zurückgeführt werden müssen. Und da zeigt sich dann eine Sprache-Welt-Beziehung: das Erfülltwerden eines offenen Satzes durch ein Objekt bzw. durch eine Folge von Objekten. Eine Tarskische Wahrheitstheorie ist also eine Interpretationstheorie für eine gegebene formale Sprache, kein bloßes Übersetzungsmanual. Daß eine rekursive Semantik, wenn sie denn eine Interpretationstheorie sein soll, gar keine andere Form annehmen kann als die einer Tarskischen Wahrheitstheorie, versucht Davidson wie folgt zu zeigen.29 Wir verlangen, jedenfalls auf den ersten Blick, von einer rekursiven Semantik bzw. Interpretationstheorie, daß sie, auf endlicher axiomatischer Grundlage, für jeden der potentiell unendlich vielen Sätze der Quellensprache ein Theorem der Form s bedeutet b enthält, wobei für „s“ der Name eines Satzes (gebildet etwa mittels Anführungszeichen) und für „b“ der Name von dessen Bedeutung einzusetzen wäre. Für „snow is white“ müßte die Interpretationstheorie des Englischen ein Theorem der Form „snow is white“ bedeutet XYZ enthalten. Das sieht nach einer Reifizierung von Bedeutungen aus. Aber man muß kein Quinescher Verdinglichungskritiker sein, um davon wieder abzukommen. Denn für die Bedeutungen der unendlich vielen Sätze der Quellensprache hätten wir nicht genügend Namen, wenn wir nicht irgendeine Kombinatorik in das System der Benennung der Bedeutungen einbauten. Diese Kombinatorik liegt auf der Hand: Wir benutzen rechts neben dem „bedeutet“ denjenigen Satz der Zielsprache, der die Übersetzung des links genannten Quellensatzes ist, aber wir 29 Vgl. „Wahrheit und Bedeutung“, S. [...]. 34 benutzen ihn nicht als Übersetzung, nicht zwischen Anführungszeichen, sondern wir gebrauchen ihn, und zwar als Teilsatz in folgendem Kontext: „snow is white“ bedeutet, daß Schnee weiß ist, bzw. allgemein: s bedeutet, daß p. Wenn wir keine Aprioriker sind, verfügen wir freilich noch nicht über die Kategorie der Bedeutung. Vielmehr soll diese erst dadurch legitimiert werden, daß sich für natürliche Sprachen Interpretationstheorien (rekursive Semantiken) aufstellen lassen. Wir verstehen also das Füllsel „bedeutet, daß“ zwischen „s“ und „p“ noch gar nicht; und wenn wir uns bezüglich seiner auf unsere vortheoretischen Intuitionen berufen, so führt das nicht weiter. Unserem vortheoretischen Verständnis zufolge ist „bedeutet, daß“ jedenfalls ein intensionaler Operator, d.h. der Wahrheitswert von „s bedeutet, daß p“ ist unabhängig vom Wahrheitswert des Satzes, der jeweils für „p“ eingesetzt wird. Wenn aber unsere Interpretationstheorie unendlich viele Theoreme der Form „s bedeutet, daß p“ implizieren soll, dann muß sie diese Form logisch gliedern und irgendeine Operation an „p“ in Ansatz bringen. Nicht weil wir gegen Intensionen voreingenommen wären, sondern weil die gesuchte Interpretationstheorie eine rekursive Semantik sein soll, muß man sich eine theoretisch handhabbare, wahrheitsfunktionale Operation an der betreffenden Stelle wünschen. Und nun kommt Davidsons Grundgedanke: Die beste, weil einzig in Frage kommende wahrheitsfunktionale Näherung an die Bedeutungsgleichheit ist das Bikonditional. Wir schreiben also statt „bedeutet, daß p“ einfach „↔ p“. Dann können wir auf der linken Seite freilich keinen singulären Terminus („s“) stehen lassen, sondern brauchen auch dort einen Satz. Wir müssen also in Beziehung auf den singulären Terminus irgendeine Prädikation vornehmen: „s ist B ↔ p“. Statt des intensionalen Kontextes „bedeutet, daß“ haben wir nun als Füllsel zwischen „s“ und „p“ den extensionalen Kontext „ist B ↔“; statt des bekannten vortheoretischen Begriffes des Bedeutens haben wir das unbekannte theoretische Prädikat „B“, das irgendwie für den Bedeutungsbegriff einzuspringen scheint. Die Aufgabe einer Bedeutungs- oder Interpretationstheorie für eine Sprache S kann dann schlicht so angegeben werden: Die Theorie muß die Extension des Prädikates „B“ bezüglich der Sätze von S rekursiv bestimmen. Solange wir das Prädikat „B“ als eine unbekannte Nachfolgerin der Bedeutung führen, können wir dem Interpretationstheoretiker nicht hinreichend erklären, was wir von ihm verlangen. Aber der Kontext „s ist B ↔ p“ läßt bezüglich des Prädikates „B“ zum Glück gar keine Zwei- 35 fel aufkommen: Wenn für „p“ stets die Übersetzung des mit „s“ jeweils bezeichneten Satzes eingesetzt wird, dann ist „B“ das Wahrheitsprädikat der betreffenden Sprache! Wir verlangen von einer Interpretationstheorie für S also, daß sie für jeden der unendlich vielen Sätze von S ein Theorem der Form (W) s ist wahr in S ↔ p enthält. Diese Forderung aber ist nichts anderes als Tarskis Konvention W. Wir verlangen also von einer Interpretationstheorie, daß sie eine Tarskische Wahrheitstheorie. Quod erat demonstrandum. Mit dieser Überlegung hat Davidson sich geschickt auf neutralem Gelände zwischen dem philosophischen Apriorismus und Quines Naturalismus positioniert. Einerseits hat er die Kategorie der Bedeutung gerettet, und zwar als den Inbegriff dessen, was eine Tarskische Wahrheitstheorie eigentlich leistet, indem sie das Wahrheitsprädikat für eine gegebene Sprache rekursiv bestimmt: Sie ist eine Bedeutungstheorie für diese Sprache. Andererseits kann er zum einen Quines Kritik der Bedeutungen aus unabhängigen Gründen mittragen: Eine Bedeutungstheorie in Gestalt einer Tarskischen Wahrheitstheorie postuliert keine Bedeutungen, sondern gibt die Wahrheitsbedingungen der Sätze an. Und zum zweiten ist diese Auskunft - daß die Wahrheitsbedingungen schon die Bedeutung eines Satzes sind - ohne ausdrückliche Anleihen bei einer Ersten Philosophie gewonnen worden. § 21. Radikale Interpretation und die Anomalie des Mentalen Das Unternehmen einer rekursiven Semantik einer natürlichen Sprache hat sowohl auf der theoretischen wie auf der empirischen Seite mit vielerlei Schwierigkeiten zu kämpfen. Um die beiden Seiten getrennt zu betrachten, empfiehlt es sich, zwei verschiedene Aufgaben zu erwägen. Die erste, leichtere Aufgabe möge darin bestehen, in deutscher Sprache eine Interpretationstheorie des Deutschen zu formulieren, die für alle deutschen Sätze rekursiv die Wahrheitsbedingungen angibt (etwa in Form eines Rechenprogramms). Wer sich an die Lösung dieser Aufgabe macht, nimmt nicht nur wegen des großen Wortschatzes und der verwickelten Grammatik des Deutschen viel Mühe auf sich, sondern muß auch knifflige Probleme der logischen Form lösen: Wie geht man mit Massentermen wie „Schnee“ und „Wasser“ um, die sowohl an der Subjektstelle („Schnee ist weiß“) als auch an der Prädikatstelle („Das ist Wasser“) auftreten können; wie mit Adverbien und adverbialen Bestimmungen, durch die aus einfachen Prädikaten („läuft“) komplexe („läuft schnell“) und immer komplexere („läuft mit roten Turn- 36 schuhen schnell und kurzatmig am Fluß entlang ...“) erzeugt werden können; wie mit Zuschreibungen von Meinungen und Wünschen; wie mit der Lügnerantinomie (usw.)? Die zweite, noch anspruchsvollere Aufgabe möge darin bestehen, die skizzierte theoretische Leistung für eine bislang völlig unbekannte Sprache zu erbringen. D.h. wir stellen uns nun als Analogon der radikalen Übersetzung die Situation der radikalen Interpretation vor. Hier treten zu den theoretischen Problemen (denen der logischen Form der Sätze) die Probleme der empirischen Bestätigung bzw. Widerlegung der Interpretationstheorie, die im ersten Fall als trivial vernachlässigt werden konnten, weil dort der Interpret die zu interpretierenden Sätze schon unabhängig von seiner Theorie verstand, seine Theorie daher ohne weiteres an seinem intuitiven Sprachverständnis messen und korrigieren konnte. Im zweiten Fall hingegen hat er es nun mit Lautfolgen zu tun, deren Wahrheitsbedingungen (Bedeutungen) er gar nicht kennt. Was er stattdessen kennt bzw. empirisch herausfinden kann, sind, wie wir aus dem parallelen Fall der radikalen Übersetzung wissen, die Bedingungen, unter denen die fremden Sprecher bestimmten Lautfolgen zustimmen. Zustimmungsbedingungen aber sind ob unserer Fehlbarkeit keine Wahrheitsbedingungen, sondern - sofern Wahrheit ins Spiel kommen soll - allenfalls Bedingungen des Für-wahr-Haltens. So kommt der Interpret zu einer Datenbasis seiner Theorie, die Sätze folgender Form enthält: (FWH) s wird für wahr gehalten ↔ p wobei für „s“ die Bezeichnung einer Lautfolge (und zwar eines Beobachtungssatzes der fremden Sprache) und für „p“ die Angabe der Bedingungen einzusetzen ist, unter denen die fremden Sprecher die Lautfolge für wahr halten (ihr zustimmen). Wenn wir den vertrauten, mittlerweile weltumspannenden, angelsächsischen Ableger des Niederdeutschen zu Erläuterungszwecken einmal in die Rolle einer unverwandten und unbekannten Urwaldsprache schlüpfen lassen, so würde man unter den Daten des Interpreten etwa folgendes finden: (FWHi) Eine Äußerung von „It is raining“ wird von einem Sprecher des Englischen für wahr gehalten dann und nur dann, wenn es in der Umgebung des Sprechers zum Zeitpunkt der Äußerung (erkennbar) regnet. Als Zielvorgabe, auf die hin er seine Interpretationstheorie entwickeln kann, benötigt der Interpret aber ein Corpus von Daten der Form (W) s ist wahr ↔ p, z.B.: 37 (Wi) Eine Äußerung von „It is raining“ ist wahr im Englischen dann und nur dann, wenn es in der Umgebung des Sprechers zum Zeitpunkt der Äußerung regnet. Um von (FWH) nach (W) zu gelangen, bleibt dem Interpreten nichts übrig, als von der menschlichen Fehlbarkeit zeitweilig zu abstrahieren und so zu tun, als täuschten sich die Fremden nicht. Hier hat das Prinzip der wohlwollenden Interpretation seinen systematischen Ort, dem zufolge Verstehen weitgehende Übereinstimmung mit den zu Verstehenden voraussetzt: Wenn ich jemandem zuviel Irrtum zuschreibe, bleibt am Ende nichts übrig, bezüglich dessen er oder sie sich irren könnte. Wir haben in Teil I gesehen, daß die Möglichkeit des Irrtums an die Bifunktionalität von Bezugnahme und Prädikation gebunden ist und daß die Bezugnahme auf Einzelnes empirisch voraussetzungsvoll ist. Wer keine wahren Meinungen hätte, könnte letzterem zufolge auf nichts bezugnehmen und hätte somit ersterem zufolge auch keine falschen Meinungen, hätte also überhaupt keine Meinungen (kein Bewußtsein). Dies zeigt sich nun in anderer Gestalt in der radikalen Interpretation. Die Rohdaten der Form (FWH) sind von der zu erstellenden Interpretationstheorie logisch unabhängig und können sie insofern weder bestätigen noch widerlegen. Sie bedürfen also der Aufarbeitung, nämlich der Überführung in die Form (W). Diese Überführung ist aber nur insoweit legitim, als die Informanten sich nicht irren (nach unseren Standards, d.h. mit uns in der Sache übereinstimmen). Der menschlichen Fehlbarkeit wird aber im nachhinein wieder Rechnung getragen, wenn die Theoriebildung unter der Annahme der Fehlerlosigkeit der zu Interpretierenden zu mühsam oder gar widerspruchsvoll wird. Dann nämlich kann es von Fall zu Fall angezeigt sein, daß die werdende Theorie ihre Daten korrigiert bzw. daß sie Daten aus dem (W)-Corpus in das (FWH)-Corpus zurückverweist: Die Fremden halten zwar eine bestimmte Lautfolge unter den und den Bedingungen für wahr, aber sie täuschen sich, d.h. die Lautfolge ist unter diesen Bedingungen nicht wahr. Eine Interpretationstheorie andererseits, die sich ständig gegen ihre aufbereiteten Daten wenden und sie in die Form (FWH) relegieren müßte, verlöre, was immer sie an Kredit zunächst besessen hätte. Das Prinzip der wohlwollenden Interpretation erklärt den Irrtum zur Ausnahme, die wahre Meinung zur Regel: Meinungen sind im Normalfall wahr. Oder in Davidsons Formulierung: Die meisten Meinungen eines Sprechers sind wahr (relativ zu den Standards eines beliebigen Interpreten), obwohl jede einzelne auch falsch sein kann. Die Kohärenz einer Meinung mit vielen anderen Meinungen, ihr Passen in ein System von Meinungen, ist folglich ein epistemisches Gütesiegel. 38 So hat Davidsons Methodologie der linguistischen Semantik Konsequenzen nicht nur für die philosophische Semantik („Bedeutungen sind Wahrheitsbedingungen“), sondern auch für die Erkenntnistheorie; und das unterstreicht ihren philosophischen Charakter. Sie hat ferner Konsequenzen für die Philosophie des Geistes (oder des Bewußtseins). Davidson hat sie unter dem Stichwort „anomaler Monismus“ gezogen. Der Monismus ist in diesem Zusammenhang eine vergleichsweise unstrittige Gegenthese zum Leib-Seele-Dualismus, die besagt, daß geistige Vorgänge keinen eigenständigen Bereich der Realität bilden, sondern mit bestimmten physischen Vorgängen, etwa mit bestimmten Gehirnvorgängen, identisch sind. Statt vom Monismus kann man daher auch von der These der psychophysischen Identität sprechen. Von ihr gibt es zwei Grundversionen, zum einen die stärkere These, die eine generelle oder Typusidentität, und zum anderen die schwächere These, die eine partikulare oder Exemplaridentität des Geistigen (Mentalen, Psychischen, Bewußtseins) mit dem Physischen behauptet. Wie es etwa von einem Buch, einem Buchstaben, einer Drucktype usw. vielerlei gedruckte Exemplare gibt, so gibt es von einem geistigen Vorgang eines bestimmten Typus, etwa dem Gedanken, daß der Mond die Erde umkreist, vielerlei gedachte Exemplare. Alle diese Gedankenexemplare sind der Identitätsthese zufolge physische Ereignisse. Die generelle Identitätsthese fügt hinzu, daß dem Gedankentypus, daß der Mond die Erde umkreist, ein physischer Typus entspricht, etwa ein bestimmter, neurologisch beschreibbarer Gehirnzustand, von dem es zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Gehirnen vielerlei Exemplare gibt. Wann immer ein solches Exemplar vorliegt, d.h. wann immer das Gehirn einer Person in diesem Zustand ist, denkt die Person, daß der Mond die Erde umkreist, und wann immer ein Exemplar dieses geistigen Zustands vorliegt, d.h. wann immer eine Person dies denkt, ist ihr Gehirn in diesem Zustand. Man braucht aber nur ein wenig mit der Vorstellung außerirdischer Intelligenzen zu liebäugeln, um an der Typusidentität zu zweifeln. Die Außerirdischen haben vielleicht eine ganz andere Physiologie als unsereins - vielleicht keine Nerven, sondern Drähte - und können dennoch den Gedanken fassen, daß der Mond die Erde umkreist. Wenn ein Außerirdischer dies denkt, dann ist das jeweilige Gedankenexemplar zwar ein physisches Ereignis, aber keines, daß zu irgendeinem neurologisch beschreibbaren Typus gehörte. Und was den Außerirdischen recht ist, ist uns selber billig. Mein Gehirnzustand, als ich gestern dachte, daß der Mond die Erde umkreist, mag keine neurologisch signifikante Ähnlichkeit mit meinem Gehirnzustand heute aufweisen, da ich dies wiederum denke. Doch auch dann bleibt die partikulare Identitätsthese unberührt. Denn auch ohne Typusidentität mag gelten, daß jeder einzelne geistige Vorgang ein einzelner physischer Vorgang ist. 39 Mit Davidsons anomalem Monismus wird die Identitätsthese durch eine Anomaliethese ergänzt, die mit der Typusidentität unverträglich ist. Die Anomaliethese besagt, daß es keine strengen psychophysischen Gesetze, sondern nur psychophysische Faustregeln gibt. Gesetze sind allgemein, sie betreffen einzelne Exemplare nicht als Einzelne, sondern als Exemplare eines Typus („Für alle Exemplare des Typus T gilt: wenn dies, dann das“). Wenn es nun der Anomaliethese zufolge nicht einmal strenge gesetzmäßige Korrelationen zwischen psychischen (mentalen) und physischen Typen gibt, dann erst recht keine Typusidentität. Der anomale Monismus ist also eine besonders schwache Version der Identitätsthese. Auf Davidsons Argumentation für diese Position will ich nur ganz summarisch eingehen. Der Monismus folgt aus der Anomaliethese und zwei weiteren Prinzipien, dem der psychophysischen Wechselwirkung und dem des nomologischen Charakters der Kausalität. Psychophysische Wechselwirkungen finden in der Wahrnehmung und im Handeln statt; in der Wahrnehmung haben physische Vorgänge psychische Wirkungen, im absichtlichen Handeln umgekehrt. Das Prinzip des nomologischen Charakters der Kausalität besagt, daß jede Verursachung auf ein strenges Gesetz verweist, als dessen Anwendungsfall sie beschreibbar ist. Wenn also ein Ergeignis a ein Ereignis b verursacht, dann gibt es ein Gesetz und zwei Typen von Ereignissen, T1 und T2, derart, daß a zum Typus T1 und b zum Typus T2 gehört und Ereignisse des Typus T2 dem Gesetz zufolge unweigerlich auf Ereignisse des Typus T1 folgen. Wenn es dem Prinzip der Wechselwirkung zufolge psychophysische Kausalverhältnisse gibt, dann muß es gemäß dem Prinzip des nomologischen Charakters der Kausalität Beschreibungen von psychischen und physischen Ereignissen geben, unter denen sie strenge Naturgesetze instantiieren. Die Anomaliethese aber schließt aus, daß es sich dabei um mentale Beschreibungen (der mentalen Vorgänge) handelt. Also müssen mentale Vorgänge auch nicht-mental beschreibbar sein. Also sind sie physische Vorgänge. Für die Anomaliethese ihrerseits spricht, daß mentale Zustände Sprechern durch Interpreten, also im Rahmen von Interpretationstheorien zugeschrieben werden und daß Interpretationstheorien ganz anderen Anforderungen unterliegen als Naturwissenschaften. Das Prinzip des Wohlwollens verlangt, eine zu interpretierende Person möglichst rational erscheinen zu lassen, und die menschliche Fehlbarkeit schließt aus, daß dieses Ziel je vollständig erreicht wird. Welche Abstriche vom Ideal der Rationalität unter welchen Bedingungen fällig sind, dafür gibt es keinen Algorithmus, da inkommensurable Güter gegeneinander abgewogen werden müssen. Eine Theorie, die auf solch unberechenbare Weise gewonnen und bestätigt wird, teilt die Realität in Typen ein, zu denen sich keine genauen Entsprechungen in naturwissenschaft- 40 lichen Theorien finden, die von solchem Abwägen unter dem Prinzip der wohlwollenden Interpretation unberührt sind. Auf die Details der Davidsonschen Argumentation kann deswegen verzichtet werden, weil die Anomaliethese der Sache nach schon doppelt hergeleitet ist. Zum einen folgt sie aus der Nichtreduzierbarkeit mentaler Zustände auf objektive Sachverhalte (vgl. Teil I), zum anderen auch aus Quines Kritik der Bedeutung. Quine hat sich denn auch ausdrücklich zu Davidsons anomalem Monismus bekannt.30 Welche mentalen Prädikate ich einer Person zuschreibe, hängt von dem Übersetzungsmanual (bzw. der Interpretationstheorie) ab, das ich auf ihre Äußerungen anwende. Die Unbestimmtheit der Übersetzung zeigt dann, daß es wohlumrissene mentale Typen gar nicht gibt. (Gäbe es sie, so dürften auch Bedeutungen nicht fehlen.) Erst recht gibt es demnach keine streng gesetzmäßigen Korrelationen zwischen mentalen und physischen Typen, also keine psychophysischen Gesetze. In dieser Frage sind Quine und Davidson nicht gegeneinander auszuspielen. § 22. Die Frage des Empirismus Getrennte Wege gehen Quine und Davidson in der Erkenntnistheorie, insbesondere in der Frage des Empirismus. Charakteristisch für den Empirismus ist die Annahme sinnlicher Belege, relativ zu denen unsere Meinungen gerechtfertigt und unsere Begriffe eingeführt (bzw. die Bedeutungen unserer Sätze und Terme bestimmt) werden müssen. Vom klassischen britischen Empirismus bis zum logischen Empirismus unseres Jahrhunderts bestand die Tendenz, die sinnlichen Belege als kognitive, also selber wahrheitsfähige Entitäten zu fassen - als Sinneseindrücke oder Empfindungen, die nicht nur Ursachen für Vorstellungen (kognitive Zustände wie etwa Wahrnehmungsmeinungen), sondern selber schon Vorstellungen seien. Der epistemische Endverbraucher war sich ihrer demnach irgendwie bewußt und konnte eben deswegen bei Rechtfertigungsbedarf bis zu ihnen zurückgehen („Mit welchem Recht ich behaupte, daß da etwas Rotes ist? Weil ich eine Rotempfindung habe und weder farbenblind bin noch unter Drogen stehe“). Quine ist erstens reduktionistischen Hoffnungen entgegengetreten, die einige Jahrzehnte zuvor noch Carnaps Logischen Aufbau der Welt beflügelt haben mochten: Der Inhalt einer Meinung oder eines Begriffes, die Bedeutung eines Satzes oder eines Terminus kann nicht für sich auf Mengen möglicher bestätigender und widerlegender sinnlicher Belege zurückgeführt werden 30 Unterwegs zur Wahrheit, § 29. 41 (und es kann daher auch nicht den Grenzfall eines Satzes geben, der wahr ist unabhängig vom möglichen Auftreten sinnlicher Belege: Quines Kritik der beiden Dogmen des Empirismus). Zweitens hat Quine die sinnlichen Belege naturalisiert. Sie sind nach seiner Lehre keine kognitiven Entitäten mehr, sondern natürliche Ereignisse und Zustände, über die unsere Gesamttheorie der Welt Auskunft erteilt, konkret: Aktivierungsmuster unserer sensorischen Oberflächen. Der epistemische Endverbraucher muß von diesen sinnlichen Belegen nichts wissen, so wenig wie von den Impulsen, die den Bildschirm seines Rechners aktivieren. Nur der Theoretiker, nämlich der Erkenntnistheoretiker, nimmt auf die naturalisierten Belege Bezug, wenn er den Endverbraucher beschreibt. Der Erkenntnistheoretiker kann etwa feststellen, daß der Endverbraucher in Beziehung auf Reizungen seiner Nervenendungen, von denen er anfangs gar nichts weiß, eine Gesamttheorie der Welt aufbaut, in der von Menschen, Tieren, Pflanzen, Natur- und Gebrauchsdingen und schließlich eben auch von Nerven, ihren Endungen und deren Reizungen die Rede ist. Aber auch wenn der Normalverbraucher nicht von Nervenendungen bzw. sensorischen Oberflächen redet, so findet die Rechtfertigung seiner Meinungen und die Bestimmung seiner begrifflichen Gehalte nach der Diagnose des naturalistischen Erkenntnistheoretikers nichtsdestoweniger in Beziehung auf die Reizungen der Nervenendungen statt. Dem Empirismus, dem alten wie dem neuen, könnte widersprochen werden durch die These, daß es neben den sinnlichen noch weitere, nicht-sinnliche Belege für die Rechtfertigung von Meinungen und Bestimmung von Begriffen gibt. Davidson aber geht anders vor. Er bestreitet, daß es sinnliche Belege gibt. Natürlich soll damit nicht geleugnet werden, daß z.B. die Reizungen der Netzhaut eine wesentliche kausale Rolle für die visuelle Wahrnehmung spielen. Das ist heutzutage eine Binsenweisheit und jedenfalls keine erkenntnistheoretische These. „Beleg“ aber ist ein erkenntnistheoretischer Terminus, und Davidson bestreitet, daß Sinnesreizungen Belege, daß sie erkenntnistheoretisch relevant sind. Wie der klassische Empirismus hält er am kognitiven Charakter von Belegen fest, aber mit dem Zusatz, daß es keine kognitiven Vorgänge unterhalb der Satzebene, unterhalb des Propositionalen, geben kann. Wenn a ein Beleg für b ist, dann muß es sich bei a wie bei b um Meinungen handeln, also um etwas, das propositional gegliedert ist, in einem Satz zum Ausdruck gebracht werden und in logischen Beziehungen stehen kann. Während der Quinesche Erkenntnistheoretiker den epistemischen Endverbraucher als jemanden beschreibt, der seine Meinungen über gewöhnliche äußere Gegenstände und Ereignisse faktisch mit Bezug auf nahe, proximale Ereignisse auf seinen sensorischen Oberflächen bildet und bewährt, beschreibt ihn der Davidsonsche Erkenntnistheoretiker als jemanden, der seine 42 Meinungen mit Bezug auf eben jene entfernteren, distalen Entitäten bildet und bewährt, die auch die gewöhnlichen Gegenstände seiner Meinungen sind. Ein Quinescher Erkenntnistheoretiker kann also leicht, obwohl Quine das keineswegs beabsichtigt, ein skeptisches oder begriffsrelativistisches Szenarium entwerfen. Denn zwischen den Oberflächenreizungen und den gewöhnlichen Gegenständen unserer Meinungen klafft eine begriffliche Lücke, die auf mehr als eine Weise gefüllt bzw. überbrückt werden könnte - wenn aber auf alternative Weise, dann mit dem Ergebnis, daß am Ende nicht mehr von unseren lebensweltlichen Dingen und Ereignissen, sondern von ganz anders- und fremdartigen Entitäten und in der Folge auch nicht mehr von unseren sensorischen Oberflächen die Rede wäre. Die sinnlichen Belege, die die Eingabe in unser Erkennen darstellen, könnten zu einer ganz andersartigen Ausgabe verarbeitet werden, in deren Licht auch die Eingabe neu beschrieben werden müßte. Mit anderen Worten, wir müssen damit rechnen, daß der sinnliche Gehalt, den wir auf die uns vertraute Weise konzeptualisieren, durch ein alternatives Begriffssystem oder Begriffsschema auf radikal andere Weise konzeptualisiert würde. Davidson hat den Dualismus von Begriffsschema und zu begreifendem Gehalt als ein unhaltbares Dogma, als das dritte und letzte Dogma des Empirismus kritisiert, nach dessen fälliger Preisgabe deswegen nichts spezifisch Empiristisches mehr übrig bleibe, weil mit diesem Dualismus auch die proximale Theorie der Rechtfertigung und Begriffsbildung zugunsten der distalen Theorie und damit die Vorstellung sinnlicher Belege preisgegeben werden müsse. In seinem Aufsatz „Was ist eigentlich ein Begriffsschema?“31 unterscheidet Davidson, den verschiedenen Vorgaben der Verfechter des Schema-Gehalt-Dualismus folgend, zwei mögliche Leistungen von Begriffsschemata und zwei mögliche Sorten von Gehalt, also insgesamt vier Fälle: Begriffsschemata (1) ordnen (systematisieren, teilen ein usw.) oder (2) erklären (sagen vorher, decken ab usw.) (a) die Realität (Universum, Welt, Natur) oder (b) die Erfahrung (Erlebnisstrom, Reizungen unserer sensorischen Oberflächen, Sinnesdaten usw.).32 Mit (1) wird unsere Aufmerksamkeit auf den referentiellen Apparat der Sprache gelenkt. Geordnet, eingeteilt, systematisiert werden Mannigfaltigkeiten, deren Einzelheiten demnach be31 32 In. Wahrheit und Interpretation, 261-282. Ebd. S. 272ff. 43 reits unabhängig zugänglich sein müssen. Damit aber ist sowohl für den Fall (1a) wie für den weniger interessanten Fall (1b) einer radikalen - Unübersetzbarkeit erzeugenden - Verschiedenheit von Einteilungsschemata schon widersprochen. Im Falle von (2) geht es nicht um den referentiellen Apparat (um identifizierende Bezugnahme), sondern um ganze Sätze. Denn mit Sätzen erklären wir etwas, sagen wir etwas voraus, werden wir einer Erfahrung gerecht usw. Hier tritt mit Fall (2b) der Empirismus auf den Prüfstand, der ja eigens Entitäten einführt, denen unsere Sätze gerecht zu werden haben. Allen möglichen Belegen gerecht zu werden (2b), heißt aber ebenso, wie der Realität gerecht zu werden (2a), für eine Theorie oder ein Begriffsschema nichts anderes, als wahr zu sein. Ein alternatives Begriffsschema wäre demnach ein System von Sätzen, die - wenigstens größtenteils - wahr, aber nicht in unsere Sprache übersetzbar wären. (Wären sie nämlich übersetzbar, so würden sie nur eine alternative Theorie, die mit der unsrigen vergleichbar wäre, nicht ein alternatives, inkommensurables Begriffsschema bilden.) Wahr, aber nicht übersetzbar: damit hat Davidson sein Argumentationsziel im wesentlichen erreicht; denn nun kann er auf seine Methodologie der linguistischen Semantik zurückgreifen und darauf hinweisen, daß wir den Wahrheitsbegriff eines Systems von Sätzen (einer Sprache) nur insoweit verstehen, als wir sie übersetzen können. Eine rekursive Charakterisierung des Wahrheitsprädikates einer Sprache ist zugleich eine Interpretation dieser Sprache; daher findet sich, wo Interpretation unmöglich ist, für den Wahrheitsbegriff keine Anwendungsmöglichkeit. Und wo Interpretation nur teilweise möglich ist? Davidson widmet der Vorstellung einer teilweise unübersetzbaren Sprache (eines partiell inkommensurablen Begriffsschemas) ein eigenes Gegenargument, dessen Grundlage das Prinzip der wohlwollenden Übersetzung bildet. Um einer Person hinreichend differenzierte Meinungen (und Wünsche) zuschreiben zu können, muß man die Bedeutungen ihrer Verlautbarungen kennen. Um aber die Bedeutungen kennenzulernen, müßte man die Meinungen (und Wünsche) kennen. Diese Gleichung mit zwei Unbekannten läßt sich, wie wir im vorigen Paragraphen sahen, nur lösen, wenn man eine der Unbekannten, die Meinungen der betreffenden Person, durch Anwendung des Prinzips der wohlwollenden Übersetzung zur Bekannten macht: Die fremde Person meint im großen und ganzen dasselbe wie wir. Die Methodologie des Interpretierens bzw. Übersetzens schließt also aus, daß andere „Begriffe oder Überzeugungen [haben], die von unseren eigenen grundverschieden sind“.33 33 Ebd. S. 281. 44 Quine vertritt einen Schema-Gehalt-Dualismus der Variante (2b): In unserer Gesamttheorie tragen wir unseren Oberflächenerregungen Rechnung. Wir tun es, indem wir äußere Naturund Gebrauchsdinge postulieren und schließlich auch theoretischere Entitäten wie erregbare Nervenendungen. Ungeachtet der Davidsonschen Kritik hält Quine an diesem Restbestand des Empirismus fest. Als Theorie der Wahrheit zwar sei der Empirismus fehl am Platz, denn Wahrheit sei streng zu unterscheiden von Verifizierbarkeit oder verbriefter Überzeugung; aber als Theorie der Belege (als Erkenntnistheorie) bleibe er in Kraft.34 Er meint nun gerade Davidson bei einer Verquickung von Wahrheit und (verbriefter) Überzeugung zu ertappen, wenn dieser die Gesamtheit der Erfahrung und die Oberflächenreizungen in einem Atemzug mit den Tatsachen und der Welt nenne.35 Daß Davidson diese beiden Kandidaten für den zu schematisierenden Gehalt nur anfänglich unterscheidet, dann aber sagt, das Den-Oberflächenreizungen-Rechnung-Tragen laufe schlicht auf Wahrheit und Tatsächlichkeit hinaus, heißt aber nicht, daß er Wahrheit als verbriefte Behauptbarkeit auszulegen gedächte, sondern nur, daß er keine Möglichkeit sieht, der Rede vom Den-Oberflächenreizungen-Rechnung-Tragen irgendeinen anderen, unabhängigen Sinn zu verleihen. In „Bedeutung, Wahrheit und Belege“ führt Davidson „die Auseinandersetzung auf dem von Quine selbst gewählten Gebiet“, also mit Bezug auf die Vorstellung eines uninterpretierten empirischen Gehaltes fort, dem unsere Theorien (Begriffsschemata) Rechnung zu tragen hätten, und entdeckt eine gewisse Unentschiedenheit in Quines eigener Lehre.36 Nicht immer und nicht durchgängig siedelt Quine die Reize, die für die Bedeutungen unserer Termini und Sätze konstitutiv sind, in unmittelbarer Nähe, d.h. auf unseren Körperoberflächen an, sondern bisweilen läßt er auch die äußeren, entfernteren Gegenstände als die Reize gelten, auf die wir sprechend und denkend reagieren. Kurz, Quines Verlautbarungen schwanken zwischen einer offiziellen proximalen und einer alternativen distalen Theorie der Bedeutung und der Belege. Den Ausschlag zugunsten der distalen Theorie gibt schließlich folgende Überlegung. Der Schema-Gehalt-Dualismus ginge viel tiefer als die Unterbestimmtheit der Theorie durch Erfahrung. Letztere betrifft nur Terme, die nicht in Beobachtungssätzen auftreten. Logische Unverträglichkeit oder vielmehr nur Fremdartigkeit (§ 18) in diesem Bereich aber würde allenfalls zu einer milden Relativierung der Wahrheit führen, zu einer Relativierung nur der Wahrheit beobachtungsferner Theoreme, nicht der Wahrheit alltäglicher vortheoretischer Überzeugungen. Der Schema-Gehalt-Dualismus hingegen, wenn er sich denn verständlich machen 34 35 Vgl. „Der Kerngedanke eines dritten Dogmas“. Ebd. S. 56. 45 ließe, würde auch die Wahrnehmung bzw. die Beobachtungssätze betreffen; denn auch in den Beobachtungssätzen ist schon von Entitäten die Rede (z.B. Kaninchen), die relativ zu den angenommenen Belegen (Oberflächenreizungen) Setzungen, postulierte Entitäten sind. Der Schema-Gehalt-Dualismus besagt ja gerade, daß sich dieselben Belege auch ganz anders konzeptualisieren ließen. Zwar wird der Spielraum der Andersartigkeit im Fall der Wahrnehmung eingeschränkt durch den Grundsatz, daß die Wahrheitsbedingungen von Wahrnehmungsmeinungen (bzw. von Äußerungen von Beobachtungssätzen) die normalen Ursachen dieser Meinungen sind. Die Meinung, daß es regnet, ist wahr dann und nur dann, wenn es in der Umgebung der Person, die die Meinung hat, zu der Zeit, zu der sie sie hat, regnet. Das gilt allgemein. Aber diese Meinung ist eine Wahrnehmungsmeinung nur in dem besonderen Fall, wenn sie durch den Regen selber und nicht z.B. durch den Wetterbericht verursacht wurde, wenn also ihre Wahrheitsbedingung: daß es zur rechten Zeit am rechten Ort regnet, zugleich ihre kausale Bedingung ist. Doch diese Einschränkung läßt noch vieles offen. Denn in einer normalen Wahrnehmungssituation finden wir nicht eine einzige Ursache, sondern eine ganze Kette von immer ferneren Ursachen vor. Unmittelbar wurde die Wahrnehmungsmeinung, daß es regnet, verursacht von bestimmten Gehirnvorgängen; dem vorgeschaltet sind Vorgänge in den Nervenbahnen; noch etwas entfernter liegen die Reizungen der Nervenendungen an der Körperoberfläche; noch weiter draußen sind die Regentropfen; und die Kausalkette bzw. die sich vielfach verzweigenden Kausalketten haben auch dort kein Ende bzw. keinen Anfang, sondern gehen weiter zurück zu bestimmten meteorologischen Vorgängen und enden bzw. beginnen zuguterletzt im Urknall. Was also zeichnet die relevante Ursache, diejenige, die den Inhalt der Wahrnehmungsmeinung bestimmt, konkret: den Regen, vor allen vor- und nachgeschalteten Ursachen aus? Wenn diese Frage unbeantwortbar wäre, dann könnten wir nie sicher sein, ob wir nicht, wenn wir sehen, daß es regnet, in Wahrheit einen Vorgang in unserem Gehirn oder einen Vorgang auf unserer Netzhaut sehen oder eine Wolkenkonfiguration oder ein Tiefdruckgebiet usw. Indem ich diese Ausdrücke in ihrer gewöhnlichen Bedeutung verwende, ist die Frage zwar entschieden. Aber welchem entscheidenden Umstand verdanken die beteiligten Termini ihre gewöhnliche Bedeutung? Solange diese Frage keine Antwort erhält, droht hier ein Skeptizismus bezüglich der Bedeutungen meiner Termini und ipso facto bezüglich des Inhaltes meiner Wahrnehmungsgedanken, der zu Ende gedacht darauf hinauslaufen würde, daß es gar kein wohlbestimmtes Denken und Wahrnehmen geben kann. 36 „Bedeutung, Wahrheit und Belege“, S. 42 ff. 46 Davidsons Antwort, die sich der Sache nach schon bei Quine findet, wenn er der distalen Theorie das Wort redet, firmiert als Triangulation. Es geht im gegebenen Fall, wie bei der Feldvermessung, um die Bestimmung einer Entfernung, nämlich der Entfernung der inhaltskonstitutiven Ursache von den Gehirnvorgängen, die einer Wahrnehmungsmeinung kausal am nächsten oder sogar mit ihr identisch sind. In der geometrischen Triangulation wird eine Entfernung zu einem Punkt B, die vom eigenen Standpunkt A aus nicht oder nur schwer direkt gemessen werden kann, indirekt bestimmt, indem man die Entfernung von A zu einem dritten Punkt C und die Winkel BAC und ACB mißt und daraus die Entfernung AB berechnet. A und C sind hier zwei Meßpunkte, die abwechselnd zum eigenen Standpunkt gemacht werden, damit die Entfernung zu einem B bestimmt werden kann. In der begrifflichen Triangulation, die mit der Entfernung der relevanten Ursache zugleich den Inhalt unserer Wahrnehmungsmeinungen bzw. die Bedeutungen unserer Beobachtungssätze festlegt, entspricht die relevante Ursache dem Punkt B, die wahrnehmende Person dem Meßpunkt A und eine zweite Person dem Meßpunkt C. Wohlbestimmte Wahrnehmungsmeinungen gibt es nur, wenn die Ursachenketten zweier Wahrnehmender sich in einem Punkt B, d.h. in einer bestimmten Ursache treffen können, die eben dadurch als die relevante, d.h. inhaltsbestimmende Ursache ausgezeichnet ist. Davidson beschreibt diese Triangulation mit Blick auf den Spracherwerb wie folgt: Eine Linie verläuft vom [spracherwerbenden] Kind aus hin zu dem Tisch [der hier als Wahrnehmungsobjekt fungiert], eine weitere Linie verläuft von uns aus zum Tisch hin, und eine dritte Linie geht von uns hin zum Kind. Der betreffende Reiz [die inhaltskonstitutive Ursache] befindet sich dort, wo die Linie vom Kind zumTisch sich schneidet mit der Linie von uns zum Tisch.37 Diese Linien sind einerseits Kausalketten, andererseits aber auch Linien in einem öffentlichen Raum, den verschiedene Wahrnehmende sich teilen: Wenn wir ein einzelnes Lebewesen allein betrachten, können seine Reaktionen - egal, wie komplex sie sind - nicht zeigen, daß sich seine Reaktionen oder Überlegungen auf Ereignisse beziehen, die sich in einer gewissen Entfernung von ihm abspielen, und nicht etwa auf seiner Haut. Die Welt des Solipsisten kann jede beliebige Größe annehmen, was nichts anderes besagt, als daß sie keine Größe hat und gar keine Welt ist.38 37 38 Der Mythos des Subjektiven, S. 12. Ebd. S. 13. 47 Eine proximale Theorie der Belege und der Bedeutung ist darauf festgelegt, uns als Solipsisten der skizzierten Art zu porträtieren, mit der Konsequenz, daß sie uns eine Welt und einen Weltbezug, daß sie uns Kognitivität, also Belege und Bedeutung, am Ende gar nicht mehr einräumen kann. Die distale Theorie aber, die somit als die richtige erwiesen wäre, nimmt, indem sie den Reiz (die relevante Ursache) und den Inhalt einer Wahrnehmung konvergieren läßt, dem Schema-Gehalt-Dualismus seinen Ansatz- und Ausgangpunkt. 2. Wahrheit, Bedeutung und Subjektivität § 23. Wahrheit und Subjektivität (Hans-Peter Falk) Gottlob Frege hat die apriorische Semantik begründet und damit, beinahe unabsichtlich, denn er war Logiker und Mathematiker, der sprachanalytischen Philosophie, d.h. der Erhebung der Semantik in den Rang der Ersten Philosophie, den Weg bereitet. Wittgenstein hat mit seiner frühen und seiner späten Philosophie die beiden wesentlichen Etappen dieses Weges zurückgelegt. Vielleicht wird man einmal sagen können, daß Hans-Peter Falk das dank Wittgenstein schon nahegerückte Ziel erreicht, die Fregesche Semantik als philosophische Lehre vollendet und sie in die philosophia perennis eingegliedert, nämlich mit der einstmals im Rang der Ersten Philosophie stehenden Erkenntnistheorie bzw. Transzendentalphilosophie verbunden und damit letztere teilweise in ihre alten Rechte wiedereingesetzt hat. Von diesem Programm kündet der Titel seines Buches Wahrheit und Subjektivität. Für den nicht-naturalistischen Strang der analytischen Tradition sind offenbar kontinentale Autoren maßgebend, vielleicht weil ihnen empiristische, pragmatistische und szientistische Neigungen von Hause aus fremder sind als ihren Kollegen jenseits des Kanals oder des Atlantiks. Doch Falk beruft sich ausdrücklich auch auf Davidson, wenn er sich in zwei entscheidenden Punkten vom späten Wittgenstein löst, indem er sowohl dessen Sympathien für die Redundanztheorie der Wahrheit als auch seinen theoretischen Quietismus als Überreaktionen auf das Scheitern der Lehre der Logisch-philosophischen Abhandlung herabstuft und die Ausarbeitung einer semantischen Theorie für möglich hält, die Bedeutung auf Wahrheit und Wahrheit, obschon realistisch verstanden, auf Intentionalität und Subjektivität bezieht. Es gibt stets viele Wege, eine philosophische Lehre zu porträtieren. Ich beginne das Porträt der Falkschen bei ihren Gemeinsamkeiten mit der Fregeschen Lehre. Dazu gehören (1) der Antipsychologismus, (2) das Theorem von der Undefinierbarkeit der Wahrheit, (3) die Orientierung der Bedeutungstheorie (bzw., in Freges Terminologie: der Theorie des Sinnes) an den 48 Wahrheitsbedingungen und (4) die These von der Kognitivität der Bedeutung (bzw. des Sinnes). Zu (1). Der Psychologismus ist das alte, dem vorigen Jahrhundert entstammende Programm der Naturalisierung der Erkenntnistheorie, das wir in einer neuen und milden Version von Quine her kennen. Mild ist Quines Version insofern, als er Fragen der Entstehung und Rechtfertigung von Erkenntnis „mit wenig mehr als den Mitteln der logischen Analyse“ behandeln möchte39 und nur die Vorstellung abwehrt, die Mittel der logischen Analyse seien grundsätzlich anderer Natur als die Mittel der empirischen Wissenschaften. D.h. Quine beläßt es faktisch beim Lehnstuhlcharakter der Philosophie und bestreitet nur, daß dieser sich als Apriorität der philosophischen Erkenntnis methodologisch adeln lasse. In früheren Jahren gab er sich allerdings mitunter weniger liberal und kam dann dem klassischen Psychologismus sehr nahe, so in dem Aufsatz „Naturalisierte Erkenntnistheorie“, in dem es etwa heißt: Die Erkenntnistheorie oder etwas Ähnliches erhält [im Rahmen der Naturalisierung] ihren Platz innerhalb der Psychologie und somit innerhalb der empirischen Wissenschaften. Sie studiert ein empirisches Phänomen, nämlich ein physisches menschliches Subjekt.40 Dies kann als eine Programmformel des Psychologismus gelesen werden (den Quine dann übrigens im Sinne einer behavioristischen Psychologie auslegt). Die Logik untersucht Fragen der relativen Geltung, der Geltung eines Satzes relativ zu anderen Sätzen, aus denen er gegebenenfalls folgt. Fragen der Geltung oder Wahrheit eines Satzes, einer Meinung, eines Erkenntnisanspruches aber hat Frege in aller wünschenswerten Klarheit von Fragen der Genese von Erkenntnisansprüchen unterschieden. Diese sind Thema der Psychologie und der Neurophysiologie, jene Thema der Logik bzw., wenn nicht nur relative Geltung, sondern Wahrheit überhaupt zur Debatte steht, der Ersten Philosophie. Falk fügt die aus Teil I (und auch sonst) vertraute These hinzu, daß nur durch die grundsätzliche Unterscheidung von Fragen der Geltung und Fragen der Genese und durch Konzentration auf erstere, also durch Konzentration auf den Begriff und das Faktum der Wahrheit, die Philosophie sich als ein theoretischer Diskurs a priori etablieren kann. Zu (2). Tarski hat gezeigt, wie Wahrheit unter gewissen Bedingungen für eine je bestimmte Sprache, S, definiert wird. Definierbar ist, mit anderen Worten, der Ausdruck „x ist wahr-in- 39 40 Vgl. Pursuit of Truth, S. 1f. S. 115. 49 S“ für je konstantes „S“. Eine ganz andere Frage ist es, ob Wahrheit überhaupt, d.h. Wahrheit für beliebige Sprachen, d.h. der Ausdruck „wahr-in-S“ für variables „S“ definiert werden kann. Schon Kant hat bestritten, daß es ein allgemeines und sicheres Kriterium der Wahrheit geben könne, nachdem er zuvor die „Namenerklärung der Wahrheit, daß sie nämlich die Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstande sei“, „geschenkt und vorausgesetzt“ hatte.41 Nun ist ein Kriterium im Sinne eines allgemeinen und sicheren Erkennungszeichens sicher mehr, als man von einer Definition verlangen kann. Frege jedoch gibt auch der schieren Definition, also der begrifflichen Reduktion, der Wahrheit keine Chance: Denn in einer Definition [der Wahrheit, z.B. als Übereinstimmung in einer gewissen Hinsicht] gäbe man gewisse Merkmale an. Und bei der Anwendung auf einen besonderen Fall käme es dann immer darauf an, ob es wahr wäre, daß diese Merkmale zuträfen. So drehte man sich im Kreise. Hiernach ist es wahrscheinlich, daß der Inhalt des Wortes ‘wahr’ ganz einzigartig und undefinierbar ist.42 Mit einer Definition, wenn sie keine bloße sprachliche Festlegung, sondern die Erklärung eines Begriffes durch andere ist, wird ein Wahrheitsanspruch erhoben. Um eine derartige Definition zu verstehen, muß ich also Wahrheitsansprüche erheben können. Das aber setzt ein implizites Vorverständnis der Wahrheit voraus. Also ist Wahrheit unhintergehbar, nicht auf andere Begriffe zurückführbar; und jeder Definitionsvorschlag ist zirkulär. Falk setzt den Grund der Zirkularität noch etwas tiefer an, in der „Verflechtung von Wahrheit und Bedeutung“, um den sonst naheliegenden Einwand zu entkräften, das implizite Wissen darum, was es heiße, einen Wahrheitsanspruch zu erheben, betreffe nur die allgemeinen Artikulationsbedingungen der Definition als eines Wahrheitsanspruchs, nicht aber ihren besonderen Inhalt: Die Definition, d.h. ihre Bedeutung [nicht nur ihren allgemeinen Charakter als Wahrheitsanspruch], verstehen, heißt ihre Wahrheitsbedingungen kennen [...]; insofern betrifft die Zirkularität nicht nur, wie es zunächst schien, die Artikulationsbedingungen der Definition, sondern deren propositionalen Gehalt. Wenn eine philosophische Theorie der Bedeutung eine Theorie der Wahrheitsbedingungen ist [...], kann die ‘Bedeutung’ des Wahrheitsprädikats nicht durch eine Definition angegeben werden.43 41 Kritik der reinen Vernunft, A 58 /B 82. „Der Gedanke“, S. 32. 43 W&S, S. 17f. 42 50 „Wenn eine philosophische Theorie der Bedeutung eine Theorie der Wahrheitsbedingungen ist“: auf diese Bedingung wird sogleich unter (3) zurückzukommen sein. Hier soll nur nachgetragen werden, daß auch in Davidsons semantischer Theorie Wahrheit als unhintergehbarer Grundbegriff fungiert. Wenn ich eine Sprache bereits verstehe, kann ich zwar mein Verständnis benutzen, um das Wahrheitsprädikat für diese Sprache zu definieren (siehe Tarski). Wenn ich aber eine Sprache allererst radikal zu interpretieren habe, dann bedarf es meines Vorverständnisses der Wahrheit, damit ich den Eingeborenen das Fürwahrhalten von Lautfolgen zuschreiben und so eine Datenbasis für meine beabsichtigte Interpretations- bzw. Wahrheitstheorie gewinnen kann. Wenn aber Wahrheit undefinierbar ist, so muß eine Theorie der Wahrheit die Bedeutung von „wahr“ auf irgendeine andere Weise erklären. Zu (3). Ohne näher auf die Fregesche Semantik einzugehen, sei nur festgehalten, daß Frege dem Sinn, wir sagen: der Bedeutung, eines Ausdrucks unter anderem die Aufgabe zuweist, die Referenz (den Bezug), Frege sagt: die Bedeutung, des Ausdrucks zu bestimmen. Im Fall eines Satzes nennt Frege den Sinn den Gedanken (den der Satz ausdrückt) und bestimmt den Bezug als einen der beiden Wahrheitswerte. Der Sinn bzw. die Bedeutung eines Satzes bestimmt also, ob sich der Satz auf das Wahre oder auf das Falsche als auf seinen Gegenstand bezieht, kurz: ob er wahr oder falsch ist. Die Bedeutung bestimmt dies im allgemeinen freilich nur relativ zum Weltlauf, nicht absolut. Gegeben den Stand der Dinge, folgt aus der Bedeutung von „snow is white“, daß dieser englische Satz wahr ist. Denn gemäß seiner Bedeutung ist dieser Satz dann und nur dann wahr, wenn Schnee weiß ist, und gemäß dem Stand der Dinge ist Schnee weiß. Kurz, die Bedeutung eines Satzes zu kennen, heißt, die Bedingungen zu kennen, unter den er wahr (bzw. falsch) ist. Die Wahrheitsbedingungen eines Satzes sind mit anderen (nicht Freges) Worten der objektive Sachverhalt, auf den der Satz sich bezieht (wir wissen aus Teil I, daß dies keine reale Beziehung und der Sachverhalt kein reales Bezugsobjekt ist), und die Bedeutung legt fest, auf welchen Sachverhalt der Satz sich bezieht. Falks Argument für diese These, den Realismus in der Bedeutungstheorie, ist schon erwähnt worden: Wenn es überhaupt eine genuin philosophische, also apriorische, Bedeutungstheorie geben kann, dann muß sie den Begriff der Bedeutung an den Grundbegriff der Ersten Philosophie, den der Wahrheit, binden. Würde hingegen die Bedeutung nicht-realistisch verstanden, konkret etwa als die Methode der Verifikation bzw. Falsifikation eines Satzes, dann wäre sie naturalisiert als ein Aspekt faktischen menschlichen Verhaltens und fiele aus dem Gegenstandsbereich der Ersten Philosophie heraus. 51 Zu (4). Die Bedeutung eines Ausdrucks kann erklärt, bedeutungsvolle Ausdrücke können verstanden werden; Bedeutungen sind grundsätzlich erkennbar, epistemisch zugänglich; es gibt sie nur relativ zu Akten des Verstehens; es gäbe keine Bedeutungen, wenn es nicht denkende, erkennende, verstehende Wesen gäbe, die bestimmten Ereignissen und Gegenständen (Verlautbarungen, Inschriften usw.) durch ihr Verhalten Bedeutung verliehen. Dies ist die Kognitivität der Bedeutung. Sie stellt eine gewisse Hürde für den bedeutungstheoretischen Realismus dar. Der Realismus legt sich, indem er Bedeutungen als Wahrheitsbedingungen (bzw. objektive Sachverhalte) faßt, darauf fest, daß jene ebenso objektiv sind wie diese. Objektivität aber ist der epistemischen Zugänglichkeit abträglich. Bezüglich eines Objektes kann ich mich täuschen, und es gibt vermutlich Objekte im Universum, auf die als je einzelne kein Mensch jemals wird Bezug nehmen können. Je einzelne Bedeutungen hingegen gibt es, wie gesagt, nur relativ zum Verstehen. Nun könnte man dies als ein weiteres Argument für die schon hinlänglich befürwortete These benutzen, daß Bedeutungen (Sinne), Wahrheitsbedingungen, Sachverhalte eben keine Objekte, keine Entitäten eigenen Rechtes sind. Frege allerdings behandelt sie als solche. Er konzipiert die Sinne, nach den Vorgaben des Universalienrealismus, als intersubjektive, im Denken erfaßbare (epistemisch restlos zugängliche), abstrakte Objekte. Sie bieten sich, soweit auf den ersten Blick erwünscht, der Logik und der apriorischen Semantik als ein Gegenstandsbereich dar, dessen besondere Verfassung allen psychologistischen Versuchungen entgegenwirkt. Allerdings macht Frege dann keinerlei Anstalten, die restlose epistemische Zugänglichkeit der Sinne mit ihrer Objektivität in Einklang zu bringen. Nun wissen wir ohnehin, daß eine Reifizierung der Sinne bzw. Bedeutungen sich verbietet. Es geht also unter dem Stichwort der Kognitivität der Bedeutungen um die epistemische Zugänglichkeit nicht von gewissen Objekten, sondern von objektiven Wahrheitsbedingungen bzw. Sachverhalten. Betrachten wir ein Beispiel, das gegen den bedeutungstheoretischen Realismus ins Feld geführt werden könnte. Nehmen wir z.B. an, daß es ausgeschlossen ist herauszufinden, ob es zum Zeitpunkt der nördlichen Sonnenwende im Jahr 50000 v. Chr. am Schnittpunkt des 51. Grades nördlicher Breite und des 10. Grades östlicher Länge bewölkt war. Ist dieser Sachverhalt deswegen epistemisch unzugänglich? Erinnern wir uns daran, daß die „Existenz“ eines Sachverhaltes von seinem Bestehen als Tatsache (seinem Der-Fall-Sein) unterschieden werden muß. Die „Existenz“ eines Sachverhaltes ist, sofern man denn hier von Existenz überhaupt reden will, vielmehr sein Bestehen-oder-nicht-Bestehen. Der antirealistische Verdacht, mit dem wir uns abmühen, könnte sich nun darauf berufen, daß uns ein Sach- 52 verhalt, wenn wir nichts unternehmen können, um uns seines Bestehens, und nichts, um uns seines Nicht-Bestehens zu versichern, epistemisch unzugänglich ist. Doch was heißt hier „epistemisch unzugänglich“? Wir können ja entgegnen, daß wir von der „Existenz“ des Sachverhaltes a priori wissen, weil wir a priori, nämlich gemäß dem Grundsatz der Zweiwertigkeit, wissen, daß der Sachverhalt jedenfalls besteht-oder-nicht-besteht, gleichviel, ob er besteht oder ob er nicht besteht. Der Antirealist und der Realist sind also in folgender Pattsituation: Wenn man im Geiste einer empiristischen Erkenntnistheorie voraussetzt, daß die Bedeutung die Methode der Verifikation bzw. Falsifikation ist, dann ist der gedachte nicht verifizierbare und nicht falsifizierbare Satz sinnlos, und einen entsprechenden Sachverhalt gibt es dann gar nicht. Wenn man aber voraussetzt, daß Sachverhalte epistemisch zugänglich sein können, auch wenn es keine Methode der Verifikation oder Falsifikation der entsprechenden Sätze gibt, dann läßt sich die realistische Gleichsetzung von Bedeutungen und Wahrheitsbedingungen mit der Kognitivität der Bedeutung vereinbaren. Die fragliche Voraussetzung ist die des Realismus in der Erkenntnistheorie. Wir haben uns sachlich in Teil I auf sie festgelegt. Auch Falk legt sich auf sie fest. Und die Pattsituation lösen wir mit ihm zugunsten des Realismus dadurch auf, daß wir darauf hinweisen, daß eine apriorische Bedeutungstheorie keine andere Wahl hat, als Bedeutung an Wahrheit zu binden. Die Bindung der Bedeutung an Wahrheit ist der erste Schritt in einer Zwei-Schritte-Strategie, um sowohl den Kognitivismus wie den Realismus in der Theorie der Bedeutung zu begründen. Der zweite, schwierigere Schritt besteht darin, den Begriff der Wahrheit, freilich nicht durch eine Definition, so zu erklären, daß einerseits der Unabhängigkeit der Verteilung der Wahrheitswerte von unseren Meinungen, also dem Realismus, und andererseits der Kognitivität der Wahrheit und damit indirekt der Bedeutung Genüge getan, d.h. Wahrheit an Subjektivität gebunden wird. Das ist Falks Programm in Wahrheit und Subjektivität. § 24. Der Primat von Wahrheit gegenüber Bedeutung und die Bedeutung von „wahr“ Zwar ist Wahrheit undefinierbar, aber eine partielle Bestimmung des Wahrheitsbegriffs ergibt sich aus dem Schema der Zitattilgung, das den Anführungsnamen eines Satzes mit dem Satz selber verknüpft. Gäbe es keine andere als die deutsche Sprache, so würde das Schema „...“ ist wahr gdw ... 53 die Extension von „wahr“ eindeutig festlegen; denn es würde uns für jeden Satz die notwendige und hinreichende Bedingung seiner Wahrheit angeben. (Für indexikalische Sätze stimmt die Behauptung nicht buchstäblich, wohl aber dem Geiste nach: „Es regnet jetzt“ ist nicht dann und nur dann wahr, wenn es jetzt während ich dies schreibe oder Sie dies lesen, regnet, sondern dann und nur dann, wenn es zum Zeitpunkt der Äußerung des Satzes in der Umgebung der äußernden Person regnet. Davidson zeigt, wie dem von einer Tarskischen Wahrheitstheorie technisch Rechnung getragen werden kann.) Die Redundanztheorie der Wahrheit, vertreten etwa von Quine, lehrt, daß mit dem Schema der Zitattilgung und mit Tarskis allgemeiner Methode, dem Schema, d.h. der Konvention W, in einer expliziten Definition der Wahrheit für eine je bestimmte Sprache Rechnung zu tragen, alles Wesentliche über den Begriff der Wahrheit mitgeteilt ist. Nun weist Falk zu Recht darauf hin, daß es unbestimmt viele Prädikate gibt, die dem Schema der Zitattilgung genügen und die dann bezüglich fremder Sprachen divergieren, daß also entweder der Redundanztheorie widersprochen und ein Verfahren zur Aussonderung des „richtigen“ Wahrheitsprädikates gefunden werden muß oder daß, wenn die Redundanztheorie recht behält, unser Wahrheitsbegriff schematisch, unterbestimmt und in viele verschiedene Wahrheitsprädikate ausdifferenzierbar ist.44 Die Aussonderung geschieht de facto im Rückgriff auf die Übersetzung: Ein Satz einer beliebigen Sprache, etwa des Skatspielerlateins, ergibt, zwischen Anführungszeichen gesetzt, einen deutschen Namen eben dieses Satzes, z.B. „Quod lumen, lumen“. Man trage nun im Schema der Zitattilgung auf der rechten Seite nicht diesen - unzulässigen, weil fremdsprachigen - Satz, sondern seine Übersetzung ins Deutsche ein: „Quod lumen, lumen“ ist wahr in SL gdw was liegt, liegt, und schon ist das Schema der Zitattilgung innerhalb des Deutschen auf die fremde Sprache ausgedehnt. Allgemein lautet die Ausdehnungsanweisung: Der Satz, der links bezeichnet wird, muß rechts übersetzt werden. Zitattilgung und Übersetzung legen somit die Extension von „wahr“ für beliebige Sprachen fest. Es ist klar, woran diese Vorschrift krankt: Zur Methodologie des Übersetzens gehört der Grundsatz der Billigkeit, der besagt, daß die Äußerungen der Fremden mehrheitlich wahr sind. Wahr im Deutschen? Natürlich nicht („Karl’s hand is up“ ist nicht dann und nur dann wahr, wenn Karls Hand ab is’). Also wahr in der fremden Sprache bzw. schlicht und einfach wahr. Wenn wir, wie Davidson gegen den Begriffsrelativismus anführt, Wahrheit nicht unab44 W&S, S. 21. 54 hängig von Übersetzung (bzw. Interpretation) verstehen, so auch umgekehrt Übersetzung (Interpretation) nicht unabhängig von Wahrheit. Mit anderen Worten, wir investieren in das Unternehmen radikale Interpretation unseren reichhaltigen, wohlbestimmten und unhintergehbaren Wahrheitsbegriff, der weit über das hinausgeht, was im Schema der Zitattilgung an Information enthalten ist. Falk bezieht dieses Ergebnis wie folgt auf die Problematik des Begriffsrelativismus.45 Ein Redundanztheoretiker, der sich gegen einen reichhaltigen, wohlbestimmten und unhintergehbaren Wahrheitsbegriff sperrt, kann, als gleichwertige Alternative zur Annahme vieler möglicher Begriffsschemata, viele karge, durch das Schema der Zitattilgung unterbestimmte, alternative Wahrheitsbegriffe annehmen. Gegen diese Version des Relativismus ist Davidsons antirelativistisches Argument machtlos, da es auf der Voraussetzung ruht, daß wir das „richtige“ Wahrheitsprädikat immer schon ausgesondert haben und es mittels des Gedankens der Übersetzung auf Fremdsprachen anwenden; für einen Relativismus der Begriffsschemata ist dann in der Tat kein Raum mehr. Wenn aber grundsätzlich damit zu rechnen ist, daß Sprecher einer Fremdsprache über einen anderen Wahrheitsbegriff verfügen als wir, so daß der Grundsatz der Billigkeit nicht auf sie anzuwenden ist, könnte der Begriffsrelativismus in neuer Gestalt wieder aufleben. Falk zieht aus dieser Möglichkeit die Konsequenz, daß der Grundsatz der Billigkeit über seine methodologische Rechtfertigung bei Davidson hinaus noch einer sachlichen Rechtfertigung bedarf. Nicht nur, weil wir interpretieren wollen, müssen wir Billigkeit walten lassen, sondern es muß unabhängig davon gezeigt werden, daß Meinungen oder vielmehr eine identifizierbare Teilklasse der Meinungen im Normalfall wahr sind, und zwar wahr im vollen und „richtigen“ Sinne, der zugleich der unsrige ist. Ja, es muß sich nachgerade so verhalten, daß die betreffenden Meinungen den Wahrheitsbegriff erst zu dem machen, was er ist, daß er also durch sie seine volle Bestimmtheit erhält. Viele Gedankenfäden laufen an diesem Punkt zusammen oder werden vielmehr durch Falks Lösungsvorschlag miteinander verknüpft. Ich versuche, einige von ihnen zu isolieren. (1) Die empiristische Grundintuition, „daß nur das Sinnliche Sinn hat“46, enthält gewiß ein Körnchen Wahrheit, dem z.B. Kant mit bekannten Wendungen Tribut zollt: Alles denkende Erkennen von Gegenständen ist Mittel für („zweckt ab auf“) die unmittelbare Gegenstandsbeziehung der sinnlichen Anschauung.47 Und: „Gedanken ohne [sinnlich-anschauli- 45 Ebd. S. 22. Quine, Theorien und Dinge, S. 89. Vgl. oben, § 15. 47 KrV A 19/ B 33. 46 55 chen] Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind [nicht-kognitiv]“.48 Kritisiert haben wir den Empirismus (im Anschluß an Davidson) nicht für seine Betonung der Wichtigkeit der sinnlichen Anschauung bzw. Wahrnehmung, sondern für seine Hypostasierung des Sinnlichen zu einem Gegenstandsbereich eigenen Rechtes, sei es zu mentalen, kognitiven Empfindungen oder (wie bei Quine) zu körperlichen, natürlichen Sinnesreizungen. Im Sinne dieser Kritik, ebenso im Sinne Kants und auch dessen, was in § 9 über das sinnliche Anscheinen gesagt wurde (daß es von den erscheinenden Objekten so wenig gelöst und für sich genommen werden könne, wie der Zwischenraum aus einem Lattenzaun), betrachtet Falk das Sensorische nicht als einen eigenen, ungewöhnlichen Gegenstandsbereich, sondern als einen ebenso unverzichtbaren wie unselbständigen Aspekt unserer epistemischen Beziehung auf ganz gewöhnliche Gegenstände. Ein sinnliches, phänomenales Rot etwa ist ein Aspekt meiner Wahrnehmung einer reifen Kirsche: keine Entität eigenen Rechtes, sondern Aspekt einer kognitiven Beziehung und als solcher selber kognitiv. Wenn nun etwas daran ist, daß nur das Sinnliche Sinn hat, dann sollte man, wenn man nach der Bestimmung der Sinne (Bedeutungen) von sprachlichen Ausdrücken fragt, die Wahrnehmung und deren sensorisches Moment untersuchen. (2) Der Empirismus reifiziert das Sinnliche, und der Empirismus vor Quine, aber ebensosehr Frege, reifizierte die Sinne (Bedeutungen). Wenn es Bedeutungen gibt, als Entitäten eigenen Rechtes, so kann man sie erfassen und sich dann so oder so zu ihnen verhalten. In der Rede von den sogenannten propositionalen Einstellungen, obwohl sie nicht so verstanden werden muß und ihr eine durchaus legitime Verwendung gegeben werden kann, findet sich ein Nachhall dieser Reifikation. Es gibt da eine Proposition, z.B. daß das Essen serviert wird, und ferner meine möglichen Einstellungen dazu: Ich sehe, glaube, weiß etwa, daß das Essen serviert wird, oder ich wünsche oder hoffe es, oder ich beschließe es und sorge dafür (trage auf aufzutragen oder trage selber auf), oder ich frage mich, ob das Essen serviert wird usw. Nahegelegt wird durch diese Redeweise die Fregesche Vorstellung, daß zum neutralen Erfassen der Satzsinne (Propositionen, Frege nennt sie Gedanken) dann noch ein besonderer Akt, etwa des Behauptens (Fürwahrhaltens) oder der Willensbestimmung usw., hinzukommt. Falk hingegen lehrt den „Primat von Wahrheit gegenüber Bedeutung“49 bzw. den Primat der Paxis des Fürwahrhaltens von Sätzen gegenüber den Satzbedeutungen. Er folgt darin Wittgenstein, dem frühen wie dem späten, gegen Frege. Der frühe Wittgenstein 48 49 KrV A 51/ B 75. W&S, S. 43. 56 faßt den Gedanken, d.h. den Sinn des Satzes, als „das logische Bild der Tatsachen“.50 Ein solches Bild ist nicht neutral zwischen seiner Wahrheit und Nichtwahrheit, Erwünschtheit und Unerwünschtheit usw., also zwischen verschiedenen Einstellungen, die ich zu ihm einnehmen kann, sondern es ergreift, schlicht um das Bild sein zu können, das es ist, Partei zugunsten seiner eigenen Wahrheit, es stellt sich als wahr dar. Der Wahrheitsanspruch, nicht natürlich dessen Einlösung, gehört somit zum Sinn des Satzes. Immerhin rechnet der frühe Wittgenstein noch mit logischen Bildern als Bedeutungsentitäten, auch wenn der Wahrheitsanspruch, anders als bei Frege, gleichsam in sie eingebaut ist und nicht eigens hinzukommen muß. Später hat sich Wittgenstein von der Bildtheorie des Satzes und vielleicht auch von einer realistischen Konzeption der Wahrheit verabschiedet. Noch viel weniger als in seiner frühen Lehre kann er nun annehmen, daß wir zunächst Bedeutungen lernen und dann Meinungen und Wünsche äußern. Vielmehr lernen wir (durch „Abrichtung“), bestimmte Sätze für wahr zu halten, und in Beziehung auf diese für wahr gehaltenen Sätze können dann die Bedeutungen der in ihnen vorkommenden Ausdrücke bestimmt und gelernt werden. Zur Bedeutung eines Prädikates, etwa „rot“, gehört, daß bestimmte Anwendungen des Prädikates wahr sind, sogenannte paradigmatische Fälle der Anwendung, anhand deren das Prädikat erklärt und erlernt werden kann. Das ist gemeint mit dem Primat des Fürwahrhaltens von Sätzen gegenüber Bedeutungen. (3) Davidson hat, da seine distale Theorie der Belege und Bedeutungen den Sinnesreizungen keine philosophisch signifikante Rolle zuerkennt, keinen Platz für die Kategorie des Beobachtungssatzes im Quineschen Sinn (als eines fest mit Sinnesreizungen verknüpften Satzes). Aber es ist klar, daß auch er den indexikalischen Sätzen im Präsens, die sich auf die wahrnehmbare Umgebung des Sprechers beziehen, einen bevorzugten Status im Unternehmen radikale Interpretation einräumt. Seine oben skizzierte Lehre von der Triangulation in der Bestimmung des Gehaltes von Wahrnehmungsmeinungen unterstreicht dies noch einmal eigens: Die Wahrnehmung öffentlicher Gegenstände und Ereignisse liefert dasjenige Fürwahrhalten, in Beziehung worauf sich in der radikalen Interpretation wie auch im ursprünglichen Spracherwerb (der Muttersprache) die Bedeutungen der Ausdrücke bestimmen lassen. Weil das Kind die Wahrnehmungsberichte der Älteren zunächst nicht hinterfragt, weil der Interpret die mit Wahrnehmungssituationen korrelierten Lautfolgen der Fremden zunächst als wahr gelten läßt, gelingt es dem einen wie dem anderen, sich ein Verständnis der betreffenden Sprache zu erarbeiten. Freilich ist hier grundsätzlich Raum 50 LPA 3: „Das logische Bild der Tatsachen ist der Gedanke.“ 57 für gemeinschaftlichen Irrtum. Die Methodologie der Interpretation stellt nur sicher, daß Interpretierte(r) und Interpret(in) weitgehend in ihren Meinungen (und Wünschen) übereinstimmen, nicht, daß die geteilten Meinungen wahr (die geteilten Wünsche rational) sind. Hier gewinnen wir wieder Kontakt zu dem Ausgangsproblem des Begriffs- bzw. Wahrheitsrelativismus und zu der Aufgabe, dem methodologischen Grundsatz der Billigkeit ein sachliches Fundament zu verschaffen. Theoretisch zu wünschen wäre, daß sich die Wahrheit bestimmter Wahrnehmungsmeinungen a priori garantieren ließe, so daß in Beziehung auf diese sowohl Bedeutungen im allgemeinen als auch die Bedeutung von „wahr“ im besonderen festgelegt und die Wahrheit gegen den Relativismus gesichert werden könnte. Das Sensorische hat im klassischen Empirismus eine Rolle von der hier geforderten Art gespielt, sofern die Sinneseindrücke oder Empfindungen als kognitive und näher irrtumsimmune kognitive Vorgänge galten. Auch darin mag man ein Körnchen Wahrheit finden; Falk findet es und lehrt, daß in der Tat das Sensorische einen Bereich irrtumsimmuner Erkenntnis bereitstellt, an dem der Grundsatz der Billigkeit sich sachlich legitimieren läßt. Allerdings sind sensorische Vorgänge kognitiv und irrtumsimmun nur als Aspekte umgreifender irrtumsanfälliger Wahrnehmungen äußerer Gegenstände und nicht wirklich isolierbar als Vorgänge eigenen Rechtes. Sie eignen sich daher auch nicht als Fundament des empirischen Wissens, wie es in der (deswegen so genannten) fundamentalistischen Erkenntnistheorie gesucht wird. Vielmehr erreichen wir den irrtumsimmunen sensorischen Aspekt der Wahrnehmung nur auf dem Weg der Abstraktion, der Abstraktion nämlich von denjenigen Aspekten, die für die Irrtumsanfälligkeit der Wahrnehmung verantwortlich sind. Nach §§ 9-11 wäre das der mit den Wahrnehmungsmeinungen verbundene Objektivitätsanspruch; Falk macht aber deutlich, daß es sich dabei nicht um den Objektivitätsanspruch überhaupt, sondern um den je bestimmten Objektivitätsanspruch handelt, der mit den Termini des Satzes erhoben wird, der die Wahrnehmungsmeinung ausdrückt. Termini als solche sind theoretischer Diskurs, nicht Beobachtungsdiskurs, wenn man wie Quine den Beobachtungsdiskurs auf unanalysierte Beobachtungssätze beschränkt sieht. Die mit den Termini verbundenen objektiven Referenzansprüche sind dann der Quell der Irrtumsmöglichkeit. Die Abstraktion von ihnen in Beziehung auf eine gegebene Wahrnehmungsmeinung, etwa daß es gerade regnet, führt nicht zu einem begrifflich kargeren Satz, in dem das Sensorische, der sinnliche Anschein, rein für sich zur Sprache käme, sondern zu dem begrifflich reicheren, nämlich durch ein vorangestelltes „Es scheint mir, daß“ angereicherten Satz: „Es scheint mir, daß es regnet“. Die begriffliche Anreicherung geht hier einher mit 58 einer Minderung des Wahrheits- und Erkenntnisanspruches und dem Eintritt der Unfehlbarkeit. (4) Wir haben in Teil I (§§ 9-11) gesehen, daß das Erheben von objektiven Geltungsansprüchen die Fähigkeit zum Vollzug der Epoché und zugleich transzendentale Subjektivität voraussetzt. Falk zeigt nun, daß die Bedeutung von „wahr“ und der Sinn (der Witz, die Pointe) der Wahrheit, aufgrund dessen sie mehr ist als ein Vierbuchstabenwort, das bestimmten Verwendungsregeln unterliegt, durch die Sätze festgelegt wird, in denen sich die transzendentale Subjektivität artikuliert („Es scheint mir, daß p“). Die Wahrheit dieser Sätze ist a priori garantiert; es bedarf also keiner Prüfung, ob die Wahrheitsbedingungen eines solchen Satzes erfüllt sind, damit seine Wahrheit eingesehen werden kann, sondern indem ich ernsthaft und aufrichtig äußere, daß es mir so scheint, als regne es, weiß ich, daß es mir so scheint, daß also die Wahrheitsbedingungen - welche immer es sein mögen - erfüllt sind. Das Prädikat „wahr“ ist daher nicht nur einer von zwei Wahrheitswerten, der sich völlig symmetrisch zu dem anderen Wahrheitswert, „falsch“, verhält, sondern es ist positiv dadurch charakterisiert, daß in seine Extension als paradigmatische Fälle eine Reihe von Meinungen bzw. Sätzen, die jene Meinungen ausdrücken, fallen, die einfachhin und garantierterweise wahr sind. Jemanden als Sprecher anerkennen heißt, ihm Wahrnehmungsmeinungen dieser irrtumsimmunen Art zuzubilligen. Freilich führt keine zwingende Schlußfolgerung, sondern allenfalls normisches Schließen, d.h. ein schlußfolgerndes Sich-Berufen auf den Normalfall, von irrtumsimmunen Meinungen zur Bestimmungen von objektiven Wahrheitsbedingungen: Normalerweise regnet es, wenn es jemandem scheint, daß es regnet; und die Skepsis, die sich zwischen den sinnlichen Anschein („mir scheint, daß p“) und den objektiven Sachverhalt (die objektiven Wahrheitsbedingungen von „p“) schieben kann, ist keine philosophische, sondern nur eine detektivische. Das bedeutet, daß es, wenn ich unter dem sinnlichen Anschein stehe, daß p, und mich darin täusche, grundsätzlich Möglichkeiten gibt, meinen Irrtum und seine Ursache empirisch zu entdecken. Das legitimiert den Grundsatz der Billigkeit bei der Übersetzung von Sätzen, mit denen Objektivitätsansprüche verbunden sind. Allerdings gilt dies nur unter der Voraussetzung, daß im sinnlichen Anschein ein Objektivitätsanspruch überhaupt bzw. irgendein möglicher unbekannter Objektivitätsanspruch immer schon eingelöst ist. Wäre ich im sinnlichen Anschein nicht auf objektive Realität als solche epistemisch bezogen, so daß es nur darauf ankäme, die Einzelheiten dieses Bezugs richtig zu erkennen (ob ich beispielsweise eine rote Wand im Tageslicht oder eine weiße Wand in roter Beleuchtung sehe oder ob ich halluzinierend ei- 59 nen Rotzustand meines Gehirns als Wand in einigen Metern Entfernung von mir mißkenne), so würde auch kein normisches Schließen vom subjektiven Scheinen zu objektiven Wahrheitsansprüchen führen können. Falks Bestimmung der Bedeutung von „wahr“, die den Sinn von Wahrheit gegen deflationäre und redundanztheoretische Tendenzen hervortreten läßt, steht also unter der Bedingung, daß sich mit Bezug auf das Sensorische bzw. den Wahrnehmungsanschein eine allgemeine Objektivitätsthese rechtfertigen läßt. Die zuletzt erwähnte Objektivitätsthese begründet Falk (in Teil C von Wahrheit und Subjektivität) in Orientierung an Kants transzendentaler Deduktion der reinen Verstandesbegriffe. Davon soll im gegenwärtigen Zusammenhang abgesehen werden (vgl. aber Band IV). Festzuhalten ist abschließend, daß Wahrheit nunmehr an Kognitivität (theoretische Subjektivität) gebunden ist, ohne daß sie, im Geiste eines unhaltbaren Empirismus, mit Verifizierbarkeit oder begründeter Behauptbarkeit oder mit dem, was die Mehrheit meint, identifiziert worden wäre. Der realistische und der kognitive Aspekt, primär von Wahrheit und mittelbar dann auch von Bedeutung, sind durch Falks semantische Theorie miteinander in Einklang gebracht. § 25. Eine nicht-ontologische Theorie des Mentalen Das undefinierbare Wahrheitsprädikat wird teilweise erklärt durch Verweis auf das Schema der Zitattilgung. Diese teilweise Erklärung läßt ein deflationäres, redundanztheoretisches Verständnis der Wahrheit offen, dem zufolge der Sinn von Wahrheit sich darin erschöpfen würde, bestimmte innersprachliche Operationen zu ermöglichen und es zum Beispiel zu erlauben, auf dem Wege des semantischen Aufstiegs in der Dimension der Sätze zu verallgemeinern („Alle Sätze der Arithmetik sind wahr“) oder analog zu den Pronomina (Fürwörtern) sogenannte Prosentenzen (Fürsätze) zu bilden.51 Wenn aber die Erklärung der Wahrheit durch die Angabe paradigmatischer Fälle von Wahrheit ergänzt wird, nämlich durch Verweis auf Sätze der Form „Es scheint mir, daß p“, durch die Meinungen geäußert werden können, die einfachhin wahr (und zugleich Fälle irrtumsimmunen Wissens) sind, dann wird ein tieferer Sinn von Wahrheit sichtbar, der dem realistischen Aspekt von Wahrheit unter der Bedingung Rechnung trägt, daß wir sogar noch im Mir-so-Scheinen auf objektive Realität bezogen sind. Gesetzt, daß dies gezeigt werden kann, so ist durch die Bindung von Wahrheit an das Mir-so-Scheinen bzw. an die Subjektivität, die sich in den Sätzen dieser Form artikuliert, der Sinn (die Pointe) von Wahrheit angegeben und die Bedeutung von „wahr“ festgelegt. 60 Doch nicht nur die Theorie der Wahrheit profitiert von der Bindung der Wahrheit an Subjektivität. Falk legt vielmehr großen Wert auf die Umkehrung: Die Theorie der Subjektivität bezieht sich einerseits auf ein Grundphänomen von überwältigender Evidenz, das andererseits in der Gefahr steht, theoretisch brachzuliegen, weil es sich seiner Natur nach der Objektivierung und damit der umstandslosen Thematisierung entzieht. Die Bindung dieses Phänomens an die Wahrheitsproblematik erlaubt seine indirekte Thematisierung auf dem Wege des semantischen Aufstiegs; denn die Sätze, in denen sich Subjektivität artikuliert, sind thematisierbar und mittels des Wahrheitsbegriffes charakterisierbar, etwa als paradigmatisch wahr, unangesehen ihrer Wahrheitsbedingungen. So profitiert die Theorie der Subjektivität bzw. die Transzendentalphilosophie von der Wende zur Sprache und läßt diese als einen unumkehrbaren Fortschritt der Philosophie erscheinen. Direkt thematisierbar sind selbstverständlich die einzelnen Subjekte, also unsereins; und der Philosophie des Mentalen obliegt es, das, was uns zu Subjekten bzw. zu Personen macht, theoretisch zu explizieren. Pauschal könnte man sagen, dies sei eben die Subjektivität; doch es kommt auf die Details von deren Vermittlung mit körperlichen Wesen an. Zunächst nämlich, wenn wir uns am irrtumsimmunen Scheinen orientieren, ist von objektiver Bezugnahme, auch von der Bezugnahme auf die Person, die ich je selber bin, abstrahiert (vgl. §§ 9-11). Was den Übergang vom irreferentiellen zum referentiellen „ich“-Gebrauch, von der schieren Artikulation von Subjektivität zur Selbstzuschreibung von mentalen Zuständen legitimiert, muß im Rahmen der Begründung der erwähnten Objektivitätsthese abgehandelt werden. Die Philosophie des Mentalen ist von diesem eher erkenntnistheoretischen Thema dispensiert. Sie nimmt es als Faktum, daß das „ich“ im Subjektgebrauch unweigerlich auch eine referentielle Nebenrolle spielt, sich nämlich auf den jeweiligen Sprecher bezieht. Falk unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen intentionaler und semantischer Referenz: Intentional nehme ich im Subjektgebrauch nicht Bezug auf mich. Aber ich kann es nicht vermeiden, daß sich das Personalpronomen der ersten Person Singular semantisch auch dann noch auf mich bezieht. Indem ich sage: „Es scheint mir, daß p“, gebe ich, ob ich will oder nicht, meinen Zuhörern Anlaß und Berechtigung, den mentalen Zustand des Anscheins, daß p, der konkreten Person zuzuschreiben, die ich bin. Die Außenperspektive, in der einer Person, z.B. mir selber, bestimmte mentale Zustände und Akte zugeschrieben werden, nicht die Binnenperspektive, in dem mir als transzendentalem 51 So läßt sich etwa „das ist wahr“ als ein Fürsatz auffassen, der seinen Gehalt von dem Sprachvorkommnis erbt, auf welches „das“ sich bezieht. Vgl. Brandom, Making It Explicit, S. 303-305. 61 Subjekt, auf das ich dabei nicht Bezug nehme und das nicht Teil meiner Welt, sondern, mit dem frühen Wittgenstein gesprochen, deren Grenze ist52, ist die für die Theorie des Mentalen maßgebliche. Freilich mag sich die Binnenperspektive als aufschlußreich für die Beantwortung der Grundfrage der Theorie des Mentalen erweisen: Was für Zustände und Vorgänge sind die mentalen (intentionalen und sensorischen) Zustände und Vorgänge? Man könnte z.B. versuchen, sich auf Descartes (und auf dessen Berufung auf die besondere epistemische Zugänglichkeit des binnenperspektivisch Präsenten) zu berufen, um einen eigenen Seinsbereich für Mentales zu postulieren. Neben dem Bereich des physisch Realen gäbe es demzufolge einen zweiten Bereich des mental Realen. Die klassische Alternative zu einer derartigen mentalistischen und dualistischen Ontologie ist der Materialismus, der einen genuin mentalen Wirklichkeitsbereich neben dem Bereich des physisch Realen bestreitet. Hier gilt es nun zu unterscheiden, erstens, zwischen eliminativem und reduktivem Materialismus und, zweitens, innerhalb des letzteren zwischen (a) dem logischen Behaviorismus, (b) der starken Typidentitätstheorie, (c) dem Funktionalismus als einer abgeschwächten Typidentitätstheorie und (d) der schwächsten Form des Materialismus, die in einem gewissen, zu erläuternden Sinn gar kein Materialismus mehr ist, nämlich der partikularen Identitätstheorie, die in der Davidsonschen Variante des anomalen Monismus in § 21 kurz betrachtet wurde. Der eliminative Materialismus, um mit ihm zu beginnen, ist die These, daß Sätze über Mentales grundsätzlich nicht wahr sind, weil sie entweder gar keine oder prinzipiell unerfüllbare Wahrheitsbedingungen haben, also entweder sinnlos sind oder auf fiktiven Voraussetzungen beruhen, verbunden mit dem Vorschlag, den mentalistischen Diskurs früher oder später preiszugeben. Dem scheint aber entgegenzustehen, daß wir in mentalistischem Vokabular zutreffende Erklärungen geben und Voraussagen machen können („Gleich wird er sich umdrehen, weil er glaubt, daß er verfolgt wird“). Außerdem ist die Einübung in die Sprache und ist die Bestimmung des Inhalts unserer Meinungen nur möglich dank Triangulation: Eine Person A muß in beiden gedachten Fällen nicht nur ein Objekt O, sondern auch die Perspektive einer Person B auf O, d.h. den Wahrnehmungszustand von B erkennen und somit der Person B einen Bewußtseinszustand (mentalen Zustand) zuschreiben können. Daher ist der reduktive Materialismus im allgemeinen die beliebtere Variante des Materialismus in der Theorie des Mentalen. Die reduktive These besagt, daß die Wahrheitsbedingungen der Sätze über Mentales nichts mit genuin mentalen Entitäten zu tun haben. Womit aber sonst? Dem logischen Behavioris52 LPA [...]. 62 mus zufolge mit Dispositionen zu bestimmtem sprachlichem und nichtsprachlichem Verhalten. Zu glauben, daß es gleich regnen wird, heißt: ein Sprecher des Deutschen zu sein und disponiert zu sein, auf die Lautfolge „Wird es gleich regnen?“ den Laut „Ja“ zu produzieren oder den Kopf kurz nach unten und wieder in die Normalposition zu bewegen oder ..., oder ein Sprecher des Englischen zu sein und ..., oder (unter denen und den Bedingungen) einen Regenschirm zur Hand zu nehmen oder ... . Die Aussichtslosigkeit behavioristischer Analysen, nicht so sehr wegen ihrer unüberschaubaren Komplexion, sondern vor allem wegen der ständig drohenden Zirkularität (man nimmt den Regenschirm zur Hand, wenn man Regen erwartet und nicht naß werden möchte und wenn man glaubt, daß der Regenschirm ein geeignetes Mittel dazu ist), d.h. wegen des Holismus des Mentalen, und die fest verwurzelte Intuition, daß am Mentalen auch etwas Okkurentes, Episodisches ist, etwas, das wirklich ein- oder auftritt und das nicht in Dispositionen zu Verhalten aufgeht, hat dann zur Typidentitätstheorie geführt, die nicht mehr an Übersetzungen der mentalistischen Termini, sondern an Identifikationen nach dem Vorbild der Naturwissenschaften („Wasser = H2O“) interessiert ist, und sodann die Reflexion auf mögliche außerirdische Intelligenzen zu deren Abschwächung (vgl. § 21) zu einer Behauptung bloß partikularer Identitäten zwischen mentalen und physischen Ereignissen und Zuständen. Daraus resultierte der Standardmaterialismus der sechziger und siebziger, teils noch der achtziger, Jahre: der sogenannte Funktionalismus (der in verschiedenen Spielarten vorkam). Die Grundthese besagte in diesem Fall, daß mentale Typen funktionale Typen (bestimmte kausale Rollen) sind, die in verschiedenen Individuen verschiedener Spezies verschieden physikalisch realisiert werden können. Mein Gedanke, daß es gleich regnen wird, hat in meinem Verhalten die gleiche kausale Rolle wie der Gedanke eines außerirdischen Gastes, daß es gleich regnen wird: Wenn ich nicht naß werden möchte und wenn er nicht naß werden möchte und wenn ich meine, der Regenschirm sei ein geeignetes Mittel, im Regen trocken zu bleiben, und wenn er das meint, dann nimmt jeder von uns einen Regenschirm zur Hand (soweit vorhanden). Insofern spielt sein Gedanke, daß es gleich regnet, in seinem Verhalten die gleiche kausale Rolle wie mein Gedanke, daß es gleich regnet, in meinem Verhalten. Aber die physische Realisierung dieser kausalen Rolle mag in beiden Fällen stark differieren. In meinem Fall wird die kausale Rolle durch Nervenendungen, Nervenbahnen, Neuronen usw. realisiert, in seinem Fall durch Metalldrähte, Glühlampen und wer weiß was sonst noch. Der Funktionalismus hält daran fest, daß sich über mentale Typen in nichtmentalistischem (etwa kausalem) Vokabular sprechen läßt bzw. daß es gesetzmäßige Beziehungen zwischen mentalen Typen und ihren verschiedenen physischen Realisierungen gibt. 63 Der anomale Monismus aber bestreitet auch noch diese indirekte Möglichkeit der (nomologischen) Reduktion des Mentalen: Über mentale Typen läßt sich nur in mentalistischer Sprache reden, auch wenn jedes einzelne mentale Exemplar ein physischer Vorgang oder Zustand ist, über mentale Exemplare sich daher sehr wohl in der Sprache der Neurochemie oder letztlich der Physik sprechen läßt. Bestritten wird also die Möglichkeit, eine materialistische Theorie des Mentalen zu entwickeln53; materialistisch am anomalen Monismus ist lediglich noch die allgemeine These, daß es keinen eigenen mentalen Seinsbereich neben dem physischen gibt. Insofern könnte man sagen, daß mit dem anomalen Monismus die Alternative von Materialismus und Dualismus in der Philosophie des Mentalen bereits unterlaufen ist. Falk will und gegeben seine Bindung von Wahrheit an Subjektivität - muß sie unterlaufen. Davidsons Anomaliethese und Wittgensteins Kriterienbegriff bieten dafür geeignete Anknüpfungspunkte. Andererseits bewegt sich Falk von beiden Anknüpfungspunkten dann wieder weg. Davidson behauptet „die Irreduzibilität des Mentalen bzw. Intentionalen (...) nur im Sinne eines methodologischen Prinzips für empirische Theorien der intentionalen Zustände einzelner Personen“, während Falk diese Irreduzibilität der Sache nach und in einer philosophischen Theorie sichert, und zwar „als die Realität des mir-Scheinen-daß, dessen intentionaler Charakter nicht ontologisch reinterpretierbar ist.“ 54 Wie die philosophische Semantik als Methodologie der linguistischen Semantik, so tritt bei Davidson die Philosophie des Mentalen als Methodologie der empirischen Theorie der mentalen Zustände einer Person auf. Die Erwägung der radikalen Interpretation zeigt, daß diese beiden Methodologien aus einem Guß sind und daß die Angabe der Bedeutungen der Ausdrücke eines Sprechers zusammen mit der Zuschreibung mentaler Zustände erfolgen muß. Die methodologischen Erwägungen lassen einen holistischen Zug des Mentalen hervortreten, der nicht nur einer Typidentität, sondern auch einer nomologischen Typus-Typus-Zuordnung des Mentalen und des Physischen im Wege steht. Soweit Davidson. Falk geht, wie in der Semantik, so in der Theorie des Mentalen, über die Methodologie empirischer Theorien hinaus und legt sich in einer genuin philosophischen Theorie des Mentalen auf die Realität des Mir-Scheinen-daß als den sachlichen Grund der Irreduzibilität des Mentalen fest, eine Realität, die gleichwohl nicht ontologisch gefaßt werden könne. Die Realität des Intentionalen als solchen ist die Realität der Subjektivität55: Was einzelne mentale Vorgänge, die als einzelne durchaus mit physischen Vorgängen identisch sein mögen, zu intentionalen Vorgängen macht, ist eben diese ontologisch nicht faßbare Realität des Mir-Scheinen53 Vgl. Falk, W&S, S. 152. Ebd. S. 200. 55 Ebd. S. 201. 54 64 daß. (Realität und Ontologie treten hier also in gewissem Sinn auseinander, nämlich in zwei Wahrheits- bzw. Realitätssinne.) Wenn aber Falk in einem Sinn über Davidson hinausgeht - indem er nämlich eine nichtontologische Konzeption des Mentalen anbietet, die eine nicht ontologisch faßbare Realität ins Spiel bringt, während Davidson nur zwei Begrifflichkeiten annimmt, um eine einzige Realität zu fassen, somit Realität und Ontologie nicht auseinandertreten läßt -, so gibt es einen anderen Sinn, in dem es sich umgekehrt verhält; denn Falk kann der Sache nach mit der Davidsonschen Anomaliethese nichts anfangen. Der Holismus des Mentalen, den er wie Davidson anerkennt, genügt vielleicht für die Abwehr des Gedankens, die mentalen Typen seien Entitäten eigenen Rechtes (und in diesem schwachen Sinn für eine nicht-ontologische Konzeption des Mentalen), nicht aber für die Abwehr des Gedankens strenger psychophysischer Gesetze. Falk läßt zu der physikalisch - idealiter vollständig - beschreibbaren, ontologisch faßbaren Realität die Subjektivität als deren - Heideggerisch gesprochen - Offenbarkeit oder Unverborgenheit hinzutreten, die ihrerseits nicht objektivierbar, ontologisch (als Wert einer Variablen, als Bezugsobjekt eines echten Designators) faßbar ist. Sie tritt hinzu, indem einige der physikalisch beschreibbaren Objekte außerdem Personen sind: Die irreduzible Personalität einiger Entitäten ist korreliert, ja identisch mit der Unverborgenheit (epistemischen Zugänglichkeit) aller Entitäten. Soweit habe ich gegen diese Konzeption nichts einzuwenden. Aber der Verdacht läßt sich nicht leicht von der Hand weisen, daß Falk das Hinzutreten der Subjektivität bzw. Unverborgenheit zur physischen Realität zu äußerlich denkt. Mir scheint z.B. da etwas Rotes zu sein; d.h. ich habe eine Rotempfindung. Gemäß der Exemplaridentitätsthese findet dann irgendein neuraler Prozeß in mir statt, der diese Rotempfindung (dieses Mir-Anscheinen von etwas Rotem) ist. Was den neuralen Prozeß zu einem mentalen Vorgang aufwertet, ist nun die Intentionalität als solche, also das Auftreten von Subjektivität. Warum soll aber durch dieses Hinzutreten von irreduzibler und nicht objektivierbarer Subjektivität der neurale Vorgang, der nun als mentaler Vorgang faßbar ist, als so gefaßter aus dem Netz der strengen Naturgesetze fallen? Wie kann die Addition von etwas nicht Objektivierbaren diese Konsequenz haben? Um dieser Anfrage noch mehr Nachdruck zu verleihen, sei nun auf den zweiten, zuvor erwähnten Punkt, den Kriterienbegriff, eingegangen. Zunächst einige Differenzierungen. Ein festes oder definierendes Kriterium möge ein Erkennungszeichen heißen, das eine notwendige und hinreichende Bedingung für das Vorliegen dessen ist, wofür es ein Kriterium ist. Am ent- 65 sprechenden Schiedsrichterverhalten erkennt man das gültige (zählende) Tor. Ein Symptom möge etwas heißen, das eine typische Folge (oder Begleiterscheinung) dessen ist, wofür es ein Symptom ist. An den entsprechenden Reaktionen des verletzten Spielers erkennt der Arzt den Kreuzbandriß. Das sind die beiden hier uninteressanten Fälle. Zwischen ihnen, zwischen festem Kriterium und Symptom, ist Platz für den interessanten Fall, den des losen Kriteriums: Anders als ein Symptom steht es nicht nur in einer kausalen, sondern in einer begrifflichen Beziehung zu dem, wofür es Kriterium ist; aber anders als ein festes Kriterium ist es keine notwendige oder hinreichende Bedingung dafür. (Durch Sprachwandel, d.h. durch die Bildung neuer und die Preisgabe alter Begriffe, kann ein vormaliges Symptom zum losen Kriterium auf- bzw. ein vormaliges loses Kriterium zum Symptom abgewertet werden. Die Unterscheidung ist zwar eine prinzipielle, philosophische, aber die konkrete Demarkationslinie muß jeweils faktisch gezogen werden.) Nun weiß ich im eigenen jeweils selber ohne Rückgriff auf Kriterien und unfehlbar, was mir sinnlich anscheint, etwa daß ich eine Rotempfindung oder daß ich Schmerzen habe. Um der Sicherung des Wahrheitssinnes willen, so haben wir gesehen, muß gezeigt werden können, daß ich selbst im sinnlichen Anscheinen noch auf Objektivität bezogen bin; andererseits kann das je konkrete Anscheinen selber kein objektiver Sachverhalt sein, da ich sonst nicht irrtumsimmun erkennen könnte. Unfehlbar bin ich im sinnlichen Anschein auf Objektivität überhaupt bezogen, aber nicht unfehlbar auf eine bestimmte Portion der Objektivität. Das reale Rot etwa kann die Oberfläche einer Wand sein oder die ungewöhnliche Beleuchtung oder ein Vorkommnis in meinem zentralen Nervensystem. In jeder dieser Zuordnungen, etwa wenn ich sage: „Da ist eine rote Wand“, oder „Die Wand sieht in diesem Licht rot aus“, oder: „Ich halluziniere Rot“, bin ich fehlbar. Die Unfehlbarkeit stellt sich nur insofern ein, als ich auf eine bestimmte objektive Bezugnahme verzichte, indem ich den „Mir-scheint-daß“-Operator benutze: „Mir scheint, daß da eine rote Wand ist (aber vielleicht halluziniere ich auch)“. Nun können andere den Sachverhalt, daß mir scheint, da sei eine rote Wand, an meinem Verhalten (insbesondere natürlich an meinem Sprachverhalten) erkennen. Mein Verhalten ist ein (loses) Kriterium für den sinnlichen Anschein, unter dem ich jeweils stehe. Je nachdem, um was für einen sinnlichen Anschein es sich handelt, wird mein Verhalten auffälliger oder unauffälliger sein. Wenn der sinnliche Anschein den Charakter eines unbändigen Schmerzes hat, werden andere das im allgemeinen leichter erkennen können, als wenn er den Anschein einer gewöhnlichen Farbempfindung hat. Die anderen nun sind, wenn sie mir Empfindungen zuschreiben, fehlbar. Sie müssen also irgendwelche objektiven Sachverhalte erkennen, um mir Empfindungen zuzuschreiben. Andererseits ist mein Haben 66 der Empfindung selber kein wohlbestimmter objektiver Sachverhalt, denn sonst wäre ich bezüglich seiner nicht unfehlbar. Also bedarf es objektiver Sachverhalte, die lose Kriterien, nicht aber notwendige und hinreichende Bedingungen für das Haben einer bestimmten Empfindung sind. Gäbe es feste objektive Kriterien, so wäre mein Haben der Empfindung objektiviert und ich könnte hier nicht unfehlbar sein. Gäbe es nur Symptome, so könnten andere nur vermutungsweise von meinen Empfindungen wissen; es wäre dann eine Hypothese ihrerseits, mir überhaupt Empfindungen zuzusprechen. Das Problem des Fremdpsychischen wäre unlösbar. Lose Kriterien sind demnach unhintergehbar. Genau das aber kann Falk nicht gelten lassen. Die Realität meiner Empfindung (des sinnlichen Mir-Scheinens) ist gleichsam zusammengesetzt aus der nicht objektivierbaren Realität der Subjektivität und der objektiven Realität desjenigen Vorganges, der meine Empfindung als Naturvorgang ist. Relativ zu meiner Subjektivität ist dann aber dieser Naturvorgang notwendig und hinreichend für das Auftreten der Empfindung (er ist ja die Empfindung gemäß der These der Exemplaridentität). Dann aber ist mein äußeres Benehmen, das faktisch als Kriterium der Empfindung fungiert, prinzipiell aus dieser Rolle vertreibbar. Gegeben eine phantastische Entwicklung der Neurowissenschaft und der Neurotechnologie, könnte eines Tages der Naturvorgang, der meine Empfindung ist, selbst öffentlich zugänglich und somit zum Kriterium werden, dann aber zu einem festen Kriterium. Es wäre hier einfach kein Raum mehr für lose Kriterialität bzw. für Davidsonsche Anomalie. Die immergleiche Subjektivität könnte durch ihren Hinzutritt nicht den einen neuralen Vorgang zur Rotempfindung und einen qualitativ gleichen neuralen Vorgang unter gleichen Randbedingungen zur Blauempfindung machen. Der Ausweg aus dieser Schwierigkeit, die darin besteht, daß wir einerseits mit Davidson auf der Anomalie des Mentalen und außerdem auf der Nichtobjektivität mentaler Sachverhalte beharren müssen und daß andererseits das, was mentale Sachverhalte zu solchen macht, die Subjektivität, nicht objektivierbar ist, ist folgender. Durch den Hinzutritt der Unverborgenheit bzw. Subjektivität zur physischen Realität wird diese von Grund auf umgeformt, „verklärt“. (Oder vielmehr ist die physische Realität ohne Unverborgenheit nur eine nachträgliche Abstraktion, durch die das Unternehmen der modernen Physik konzipierbar wurde.) Die einzelnen mentalen Vorgänge sind insofern nicht mit einzelnen rein physikalisch beschreibbaren Vorgängen identisch. D.h. von der Exemplaridentität, nicht aber vom Monismus (also von Davidsons Position, seinem „Geist“, nicht aber von seinem „Buchstaben“) muß Abschied genommen werden. Eine Rotempfindung ist prinzipiell und unbehebbar „verschmiert“ zwischen verschiedenen physikalischen Vorgängen, ohne daß zu dem, was die Physik beschrei- 67 ben kann, noch eine neue Realität hinzutreten müßte. (Das gilt übrigens wie für psychophysische, so für theoretische Identifikationen. Auch die theoretischen Identifikationen, etwa von lebensweltlich vorgefundenem Wasser mit H20, erscheinen in neuem Licht, vgl. dazu unten, § [...].) Andererseits kann die Subjektivität selber, die Falk als eine neue Realität gelten läßt, nun in einem gewissen Sinn physikalisch heimgeholt werden: Sie ist der physikalisch jeweils noch unerfaßte, der noch unobjektivierte Rest der Realität. Daß sie nicht objektivierbar ist, bedeutet nunmehr, daß die objektivierende Erfassung der Realität wesentlich eine Aufgabe ist, und zwar eine unendliche Aufgabe (ein Sollen im pejorativen Sinn, das in kein Sein überführbar ist). Jede natürliche Zahl ist in einem endlichen Zählvorgang erreichbar; es gibt keine unerreichbare natürliche Zahl. Jeder Aspekt der Realität ist physikalisch beschreibbar; es gibt keine physikalisch unerreichbaren Aspekte der Realität. Aber das Zählen kann prinzipiell nicht mit einer letzten natürlichen Zahl ans Ziel kommen; ebensowenig kann die physikalische Theoriebildung mit einer letztgültigen Unierten Theorie über Alles ans Ziel kommen. Es gibt keine Weltformel. Unter dieser Bedingung ist die Anomaliethese und ist die irreduzible Nichtobjektivität einzelner mentaler Sachverhalte verständlich. Dies soll im folgenden Paragraphen näher ausgeführt werden. § 26. Der anomale Monismus: leicht oder stark? Der anomale Monismus, wie Davidson ihn begründet hat und wie er einerseits von dem Naturalisten Quine und andererseits von dem Antinaturalisten Falk vertreten wird, verbindet eine Anomaliethese mit einer Identitätsthese. Jene besagt, daß es keine strengen psychophysischen Gesetze gibt, und diese fügt hinzu, daß mentale Einzelvorgänge mit physikalischen Einzelvorgängen identisch sind. Im folgenden soll ein anomaler Monismus entwickelt werden, der ohne Identitätsthese auskommt. An ihre Stelle tritt die schwächere physikalistische These, daß die gesamte Realität der physikalischen Theoriebildung zugänglich ist, daß es keine Phänomene oder auch nur Epiphänomene gibt, die nicht in einer physikalischen Theorie beschrieben werden könnten. Das ergibt zunächst einen abgeschwächten anomalen Monismus, eine Theoriegattung, von der die namensgebende Davidsonsche Lehre eine Spielart ist. Die ins Auge gefaßte alternative Spielart erhält man durch Bestreitung der Identitätsthese: Kein mentaler Vorgang - kein mentales Exemplar und erst recht kein Typ - ist mit einem Vorgang (Exemplar 68 oder Typ) identisch, den irgendeine gegenwärtig bekannte oder zukünftige physikalische Theorie beschreibt. Die apriorische Philosophie muß sich hüten, den empirischen Wissenschaften in die Quere zu kommen, weil sie im Konfliktfall immer den Kürzeren ziehen würde. Die skizzierte Spielart des anomalen Monismus mag, so gesehen, als eine unzulässig starke philosophische These erscheinen, nämlich als empirisch widerlegbar durch eine zukünftige physikalische Theorie. Für zu stark mag man sie auch aus einem anderen, noch drastischeren Grund halten, nämlich für widerspruchsvoll, weil die psychophysische Nichtidentität, wie man zugeben muß, auf den ersten Blick nicht gut zum Physikalismus paßt. Der anvisierte Monismus ist also jedenfalls eine starke These. Ich nenne sie daher kurzerhand den starken Monismus und möchte im folgenden zeigen, daß sie nicht zu stark, also weder empirisch widerlegbar noch widerspruchsvoll, ist. Hier noch einmal eine Formulierung der These. Der starke Monismus besagt, (1) daß mentale Vorgänge real sind (Realismus bezüglich des Mentalen), (2) daß es keine strengen psychophysischen Gesetze gibt (Anomaliethese), (3) daß alles Reale physikalisch erreichbar ist (Physikalismus), (4) daß kein mentaler Vorgang mit einem physikalisch beschriebenen Vorgang identisch ist (Nichtidentitätsthese). Der Realismus bezüglich des Mentalen, These (1), ist eigens hinzugefügt, weil er sich, wenn die Identitätsthese entfällt, nicht mehr von selbst versteht. Die Nichtidentitätsthese (4) würde, um das werbend vorwegzunehmen, die Anomaliethese (2) verständlich machen, ein Desiderat, das bei Davidson und, wie mir scheint, auch bei Falk unerfüllt bleibt. Im Fortgang soll dies als ein Vorzug des starken Monismus herausgestellt werden. Fürs erste freilich haben wir es mit dem Problem zu tun, daß die Nichtidentitätsthese, gegeben den Realismus bezüglich des Mentalen, der physikalistischen These (3), zu widersprechen scheint. Außerdem muß gezeigt werden, daß der bloße Physikalismus das leisten kann, wofür Davidson die Identitätsthese herangezogen hatte: den nomologischen Charakter der Kausalität mit der psychophysischen Wechselwirkung vor dem Hintergrund der Anomalie des Mentalen zu vereinbaren. Nähern wir uns den Problemen auf einem Umweg. Was zeichnet die Physik unter den Wissenschaften aus? Auf diese Frage antwortet, quasidefinitorisch, der Physikalismus. Seine Antwort besagt nicht - ich zitiere zustimmend Quine -, daß alles, was sich zu sagen lohnt, in das technische Vokabular der Physik übersetzt werden kann; ja nicht einmal, daß sich alle einwandfreie Wissenschaft in dieses Voka- 69 bular übersetzen läßt. Die Antwort ist vielmehr, daß in dieser Welt nichts geschieht kein Augenzwinkern und kein Aufflackern eines Gedankens -, ohne daß eine Umverteilung mikrophysikalischer Zustände stattfindet. Gewöhnlich ist es aussichtslos und witzlos festzustellen, genau welcher mikrophysikalische Zustand vergangen und welcher schließlich eingetreten ist, doch irgendeine Umgruppierung auf dieser Ebene muß stattgefunden haben; mit weniger kann sich die Physik nicht abfinden. Hätte der Physiker den Verdacht, es gäbe ein Ereignis, das nicht in einer Umverteilung der Elementarzustände besteht, die von seiner Theorie in Betracht gezogen werden, würde er eine Möglichkeit suchen, seine Theorie zu ergänzen. Vollständige Berücksichtigung in diesem Sinne ist die eigentliche Aufgabe der Physik und nur der Physik."56 Quine fügt hinzu (und auch das kann ich, wie sich zeigen wird: sogar leichteren Sinnes als Quine selber, unterschreiben): Jeder, der sagt: „Da, wo die Physik am Platze ist, ist nichts an ihr auszusetzen“ (und wer wird sich dagegen sträuben?), ist dann schon zumindest auf einen Physikalismus der oben angesprochenen nichtreduktiven, keine Übersetzbarkeit beanspruchenden Art festgelegt. Daher meine spezielle Hochachtung vor der physikalischen Theorie als Weltversion und vor der physikalischen Welt als der Welt.“57 Offenkundig hat die Physik ihre Aufgabe noch nicht erledigt, sondern ist nach wie vor unterwegs zu einer Weltformel, aus der alle spezielleren Naturgesetze hergeleitet und alle physikalischen Phänomene erklärt und der insbesondere die allgemeine Relativitätstheorie und die Quantenphysik als bedingt gültige Grenzfälle untergeordnet werden können. Doch nehmen wir an, eine Unierte Theorie für Alles (UTA) oder Weltformel werde früher oder später aufgestellt, vielleicht als eine ausgefeilte Spielart des gegenwärtig vieldiskutierten Mikrosaitenoder Superstrang-Modells. Die Materie ist also ein Art Mikromusik, ein Schwingen sehr kleiner Saiten oder Fäden, eben jener Superstränge (englisch superstrings), die dem Modell seinen Namen geben; und zu unserem Universum gehören außer der Zeit und den drei Abmessungen des Raumes noch sechs oder sieben weitere, allerdings unkenntlich eng eingerollte, Dimensionen. Auf Einzelheiten kommt es hier nicht an.58 Worauf es ankommt, ist, daß die Theorie mathematisch formuliert sein wird und daß in ihren Axiomen, den Grundgleichungen, neben mathematischer Begrifflichkeit auch ein paar genuin physikalische Begriffe vorkom- 56 Quine, Theorien und Dinge, S. 125. Meine Hervorhebungen (AFK). Ebd. Hervorhebung im Original. 58 Sie sind nachzulesen z.B. bei Kaku und Trainer, Jenseits von Einstein; vgl. bes. S. 25ff. 57 70 men werden, darunter vielleicht der Begriff des Superstrangs, gerade so, wie in den drei Grundgleichungen der Newtonschen Mechanik - dem Trägheitsgesetz, dem Gesetz der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung und dem Bewegungsgesetz („Kraft = Masse mal Beschleunigung“, formaler: „F = m(d2xi / dt2)“) - die physikalischen Grundbegriffe der Kraft, der Masse, des Ortes und der Zeit vorkommen. Irgendeine derartige Theorie wäre auch die angenommene physica triumphans, nur daß sie im Gegensatz zur Newtonschen Mechanik lücken- und ausnahmslos und genau zuträfe als die allumfassende Weltformel. Doch der triumphale Abschluß der physikalischen Theoriebildung würde sich sehr bald als zweischneidig, nämlich als eine Einladung zur Metaphysik, erweisen. Die Physik wäre nach Voraussetzung mit ihren Gleichungen am Ende; aber natürlich würden wir weiterfragen. Die Grundgleichungen wären ja keine begrifflichen, logisch notwendigen Wahrheiten. Warum also, so wäre zu fragen, gelten gerade diese und keine anderen Gleichungen? Unsere Wißbegierde hätte, wenn wir uns nur auf die Physik stützten, das Ende einer Sackgasse erreicht. Die Versuchung, uns nicht nur auf die Physik zu stützen, sondern die Wand am Ende der Sackgasse mit postphysikalischen bzw. metaphysischen Mitteln zu durchbrechen, wäre dementsprechend groß. Denkbar, wenn auch nicht wahrscheinlich, ist freilich noch ein anderer Ausgang der Geschichte der Physik. Die einmal gefundene Weltformel könnte sich bei genauerem Hinsehen als eine logisch-begriffliche, also ihrerseits schon metaphysische Wahrheit entpuppen. Das widerspräche zwar den Erwartungen aller gängigen Wissenschaftstheorie. Aber es schadet nichts, wenn wir diese Möglichkeit der Form - gleichsam der Höflichkeit - halber erwähnen. Lessing hat einst, in der „Erziehung des Menschengeschlechts“, etwas Ähnliches für die Offenbarungsreligion angenommen: Sie sei eine Erziehung der Menschen zu reiner Vernunft, könne also, wenn sie ihr pädagogisches Werk getan habe, in einer reinen Vernunftreligion aufgehoben werden. Ebenso wäre im angenommenen Fall die experimentelle Phase der Physik nur eine Hinführung zur eigentlichen, apriorischen Physik gewesen und würde in ihr aufgehoben werden. Nur zur Unterhaltung oder zu Unterrichtszwecken würde man noch physikalische Versuche durchführen, wie manchmal Mathematiklehrer die Winkelsumme im Dreieck nachmessen lassen. Bewiesen hingegen würden die physikalischen Lehrsätze mit rein logischen und mathematischen Mitteln auf der Grundlage, vielleicht, des metaphysischen Ausgangsfaktums, daß wir objektive Wahrheitsansprüche erheben. Dies sind die beiden Grundmöglichkeiten, wie die Physik ihr Ziel erreichen kann. Aber es gibt auch zwei Grundmöglichkeiten, wie sie stängi auf ihr Ziel zugehen kann, ohne es jemals zu 71 erreichen: nämlich in einem gutartigen bzw. einem bösartigen unendlichen Fortgang von einem Weltformelprätendenten zu seiner jeweiligen Nachfolgertheorie. Gutartig ist der Fortgang, wenn die einander ablösenden Theorien eine konvergente, bösartig, wenn sie keine konvergente (sondern etwa eine divergente) Folge bilden. Die Metapher einer konvergenten Folge ist wissenschaftstheoretisch sehr verheißungsvoll. Einerseits kommt die Vorstellung, daß die Forschung endlos weitergeht, den Anforderungen des Fallibilismus entgegen, andererseits aber ist die Vorstellung des Fortschritts, insbesondere des Fortschritts der Erkenntnis, mit der Vorstellung der Annäherung an ein Ziel verknüpft. Nun lassen sich beide Seiten, endloser Fortschritt und Fortschritt auf ein Ziel hin, miteinander vereinbaren, wenn das Ziel die Natur eines Grenzwertes und die Annäherung asymptotische Form hat. Das Unternehmen theoretische Physik wäre, so gesehen, keine intellektuelle Sackgasse, deren gutes Ende - die endgültige Weltformel - wir erreichen könnten, auch keine Endlosstraße mit immer neuen Überraschungen, so daß von geregeltem, zielbezogenem Fortschritt gar keine Rede sein dürfte, sondern eine Nichtstandard-Sackgasse, deren seltsamem Ende oder vielmehr deren Grenzwert wir uns in gutem, wenn auch unendlichem Fortgang beliebig nähern. Der Grenzwert ließe sich deuten als die objektive Realität, und das echte oder vermeintliche Phänomen der Konvergenz der Nachfolgertheorien, d.h. der Sachverhalt, daß jede Theorie in der Theoriefolge ihrer Nachfolgerin „näher“ ist als ihrer Vorgängerin, ließe sich durch den sogenannten internen Realismus, d.h. durch den Realismus als empirische Hypothese, erklären. Allerdings hat Quine gegen die Vorstellung der Theoriekonvergenz eingewendet, daß Konvergenz für Zahlenfolgen, nicht aber für Theoriefolgen definiert sei.59 Doch dem kann man vielleicht abhelfen, indem man mit Jay Rosenberg darauf hinweist, daß Theorien zwar keine Zahlen sind, daß aber physikalische Theorien Zahlen generieren und daß die Korrektur einer Theorie durch eine Nachfolgertheorie wesentlich auch numerische Aspekte hat.60 Die Theoriekonvergenz könnte also vielleicht als eine Konvergenz der numerisch ausgedrückten Korrekturen dargestellt werden, die jede Theorie an ihrer Vorgängerin vornimmt. Doch selbst wenn es auf diese Weise gelingen sollte, den Gedanken der Theoriekonvergenz von seinem metaphorischen Charakter zu befreien, wäre nicht viel gewonnen. Denn für die begrifflichen, nicht-numerischen Korrekturen läßt sich der Begriff der Konvergenz nicht präzisieren. Für die begriffliche Seite wird man ohnehin Konvergenz gar nicht erwarten, sondern hier vielmehr 59 60 Wort und Gegenstand, S. 55. Vgl. Rosenberg, Linguistic Representation, S. 92f. 72 den Spielraum für wissenschaftliche Revolutionen ansetzen. Nichts hindert, daß eine Theorie wegen numerisch geringfügiger Anomalien einer Nachfolgertheorie Platz macht, die eine völlig neue Begrifflichkeit einführt bzw. alte Begriffe entscheidend ummodelt. Kurz, begriffliche Konvergenz in der Aufeinanderfolge wissenschaftlicher Theorien läßt sich weder präzise fassen noch erwarten. Auch wenn man numerische Theoriekonvergenz in Rosenbergs Sinn unterstellt, so ist begriffliche Divergenz (in einem metaphorischen bzw. intuitiven Sinn) damit nicht ausgeschlossen. Um immer kleinerer numerischer Korrekturen willen könnten immer größere begriffliche Korrekturen notwendig sein. Eine numerisch unbedeutende Anomalie etwa zwingt uns, die Mikrosaiten bzw. Superstränge begrifflich in Mikro-Mikro-Staub aufzulösen, der einer - bis dahin - ausgefallenen Nebengleismathematik gehorcht. Und die Staubkörner zerfallen uns bei der nächsten Anomalie in noch kleinere, noch ausgefallenere Weißnichtwasse usf. Wegen der Kontinuität des Raumes (und der Zeit) gibt es keine begriffliche Untergrenze für Mikrostrukturen der Realität. Jede vorgestellte Untergrenze ist faktischer Natur, jeweils ein Lehrstück einer Theorie in der Theorienfolge, und steht somit zur Disposition der Nachfolgertheorien. Ginge hingegen die numerische Konvergenz mit begrifflicher ‘Konvergenz’ einher, so wäre die Physik eine gutartig offenendige Sequenz von (immer erfolgreicheren) Erklärungsversuchen. Und das ist zweifellos Rosenbergs theoretische Hoffnung. Sollte sie sich erfüllen, so wären beispielsweise die Mikrosaiten das Ende der begrifflichen Fahnenstange. Man würde an ihnen weiterfeilen. Aber es gäbe keinen Nebengleis-Staub unterhalb, erst recht keine Weißnichtwasse und schon gar kein Undsofort. Dieses Szenarium unterscheidet sich nicht wesentlich von jenem zuvor angenommenen, in dem mangels Anomalien die Theorieentwicklung ganz zum Stillstand kommt. Beide Male wäre die Frage, woraus denn wohl die Mikrosaiten bestehen, ein postphysikalischer (metaphysischer) Luxus. Von ihrer Beantwortung hinge nichts mehr ab für die Erklärung und Vorhersage von Naturprozessen. Dennoch würden sich solche Luxusfragen - nicht zuletzt wegen der schon erwähnten Kontinuität des Raumes und der Zeit - weiterhin stellen lassen und uns, vermutlich, in alte und neue Antinomien und Paralogismen der Metaphysik verstricken. Die Physik ist unterhaltsam, solange man an der Lösung des Welträtsels zu arbeiten meint. Spräche sie aber je ihr letztes Lösungswort, so würde sich zeigen, daß es gar nicht auf das Welträtsel paßte, sondern auf etwas anderes, das man dann deflationär als die Fragestellung der Physik bezeichnen könnte. Quine hat die Physik außer in der oben angeführten noch in einer anderen Weise auszuzeichnen versucht: Sie erforsche „die wesentliche Natur der Welt“, die Biologie hingegen beschreibe nur eine örtliche 73 Beule und die Humanpsychologie eine Beule auf der Beule.61 Diese Formulierung des Physikalismus ist unhaltbar für die physica triumphans, weil unvereinbar mit der Annahme eines guten Endes oder guten Fortgangs. Haltbar ist sie nur dann, wenn die „wesentliche Natur der Welt“ nicht nur für uns, sondern ebensosehr an ihr selber bodenlos und die Physik infolgedessen durch die Natur der Sache zu einem bösartig offenen Ende (zu begrifflicher ‘Divergenz’ der Nachfolgertheorien) bestimmt ist. Nur so nämlich wäre garantiert, daß Fragen über den Horizont einer physikalischen Theorie hinaus („Woraus bestehen die Mikrofäden?“) auch dann, wenn noch kein physikalischer Anlaß erkennbar ist, sie zu stellen, grundsätzlich physikalische, nicht metaphysische, Fragen sind, deren Relevanz durch Nachfolgertheorien sichtbar gemacht werden könnte. Aber wir sind nicht auf Postulate und theoretische Hoffnungen angewiesen. Vielmehr folgt der bösartig unendliche Fortgang der Physik aus dem anomalen Monismus, und zwar schon aus dem generischen anomalen Monismus, der noch neutral ist zwischen der identitätstheoretischen und der starken Spielart. Die Anomaliethese besagt, daß es keine strengen psychophysischen Gesetze gibt. Wohl aber gibt es psychophysische kausale Interaktionen und gesetzesartige Formulierungen, die freilich Ausnahmen zulassen, also Faustregeln, die solche Interaktionen betreffen: Wenn jemand Schmerzen und ein Medikament hat, von dem er meint, daß es ohne gravierende Nebenwirkungen die Schmerzen lindern wird, wird er es einnehmen. Nennen wir physikalische Prädikate, weil sie Körperliches betreffen, kurz K-Prädikate und mentale Prädikate, weil sie Geistiges betreffen, G-Prädikate. G-Prädikate kommen der Anomaliethese zufolge nicht in strengen Gesetzen vor, treffen aber der Monismusthese zufolge auf Ereignisse zu, die im Bereich der körperlichen Welt stattfinden und auf die der Identitätsthese zufolge auch K-Prädikate zutreffen. Freilich wird mit den G-Prädikaten die Realität anders eingeteilt als mit den K-Prädikaten. Wenn nun die Realität an ihr selbst aus einer Vielzahl diskreter Basisentitäten besteht, dann gilt die These der Exemplar-Identität, denn dann werden mit den G- und K-Prädikaten in letzter Analyse eben diese Basisentitäten eingeteilt, und zwar einerseits jeweils so verschieden, daß es keine strengen G-K-Gesetze und auch keine strengen G-Gesetze, wohl aber strenge K-Gesetze geben kann, andererseits jedoch so aufeinander abgestimmt, daß es immerhin G-K-Faustregeln gibt. Die Herausforderung an die Anomalie-undIdentitäts-These ist nun, den Sinn des G-Vokabulars zu benennen. Warum gibt es über das KVokabular hinaus ein zweites, nomologisch irreduzibles Vokabular, und wie kann es das geben? Davidsons unmittelbare Antwort könnte im Verweis auf unser Interesse an Interpretation 61 Quine, Theorien und Dinge, S. 119. 74 bestehen; denn das G-Vokabular wird jeweils im Zuge der Interpretation eines Sprechers durch einen anderen Sprecher eingeführt. Doch damit ist die Frage nur verschoben: Was ist der Sinn und was das begriffliche Prinzip der Interpretation und des Vokabulars, das sie generiert? Eine naturalistische bzw. naturalisierende Antwort scheidet aus, weil sie die nomologische Irreduzibilität des G-Vokabulars nicht erklären kann, und wenn der Naturalist sich dafür ausspricht, sie als unerklärbares, kontingentes Faktum hinzunehmen, so redet er de facto der Überwindung der mentalistischen Alltagspsychologie durch eine künftige wissenschaftliche Psychologie des Wort. Wir haben aber gesehen, daß das G-Vokabular nicht nur irreduzibel, sondern auch unverzichtbar ist. Offenbar beschreibt es eine Realität, die anders nicht beschreibbar ist. Wir haben auch gesehen welche: das Faktum der Subjektivität. Wir können die Herausforderung an die Anomalie-und-Identitäts-These auch anders formulieren. Wenn es dieselben Basisentitäten sind, die mit dem G-Vokabular und dem K-Vokabular verschieden eingeteilt werden, wie ist es dann denkbar, daß im G-Vokabular, selbst bei gehöriger Verfeinerung, keine strengen Gesetze formulierbar sind? Zu erwarten wäre allenfalls, daß eine alternative Einteilung derjenigen Entitäten, die strengen Gesetzen gehorchen, zu alternativen, nämlich womöglich sehr umständlichen und verklausulierten Gesetzesformulierungen führt. Wie aber kann der prinzipiell nicht-nomologische Charakter des G-Vokabulars verständlich gemacht werden? Zu beachten ist auch folgendes. Wegen der Irrtumsimmunität der Selbstzuschreibungen bestimmter mentaler Prädikate können mentale Sachverhalte keine objektiven Sachverhalte sein. Physikalische Sachverhalte hingegen sind objektiv. Wie ist diese Differenz denkbar, wenn an der Basis mentaler und physikalischer Sachverhalte die nämlichen Entitäten, nur in je verschiedener Einteilung, liegen? Der starke Monismus beantwortet diese Fragen, indem er auf die Möglichkeit eines infiniten Regresses im Aufbau der Realität verweist, der sich im bösartig unendlichen Fortgang der physikalischen Theoriebildung spiegelt. Jeder Aspekt der Realität ist dieser Antwort zufolge der physikalischen Theoriebildung ebenso zugänglich, wie jede natürliche Zahl dem Zählen zugänglich ist. Wie jeder mögliche Stand eines Zählvorgangs aber unendlich viele natürliche Zahlen jeweils noch nicht erreicht hat, so hat jeder mögliche Stand der physikalischen Theoriebildung unendlich viele Aspekte der Realität noch nicht erreicht, und zwar begrifflich noch nicht erreicht. Das kann man sich, gegeben die Kontinuität von Raum und Zeit, mit der Annahme einer relativen Mikroebene zum je erreichten Stand der Theoriebildung vor Augen führen. Die jeweils noch unberücksichtigte Mikroebene kommt für Anomalien auf und ebenso 75 dafür, daß eine alternative Einteilung der Realität der physikalischen Einteilung auf dem aktuellen Stand der Theoriebildung in gewissen Hinsichten überlegen ist. Die mentalen Entitäten sind auf jedem Stand der physikalischen Theoriebildung gleichsam prinzipiell verschmiert zwischen den auf diesem Stand beschreibbaren physikalischen Entitäten. Das läßt einerseits psychophysische Faustregeln und kausale Interaktionen, aber keine strengen Gesetze zu. Oder anders formuliert: Nur im Transfiniten, nur wenn der unendliche Progreß der physikalischen Theoriebildung abgeschlossen wäre, würden strenge Gesetze überhaupt gültig werden. Auf dem unendlich langen Weg zu diesem transfiniten Fluchtpunkt hingegen ist die Strenge von Gesetzesformulierungen durch Abstriche beim Zutreffen auf Reales erkauft, d.h. durch nichttriviale Abstraktion. Die Physik abstrahiert wesentlich von der Subjektivität; und da diese real ist, von etwas Realem, das sie nur im Transfiniten wieder einholen könnte. Daher die Anomalie des Mentalen und die psychophysische kausale Interaktion. Daher der Monismus. Daher andererseits keine psychophysische Identität. Diese Argumentation für den starken Monismus ist nicht deduktiv, etwa ausgehend vom metaphysischen Grundfaktum der Wahrheit, sondern in gewissem Sinn hypothetisch. Es ging darum, die Irreduzibilität und Realität des Subjektiven mit dem Totalitätsanspruch der Physik in Einklang zu bringen, und der starke Monismus hat sich als eine Möglichkeit erwiesen, die den verschiedenartigsten theoretischen Anforderungen Genüge tut, und dies insbesondere besser als der identitätstheoretische anomale Monismus Davidsons. Psychophysische Faustregeln, die nicht zu strengen Gesetzen verfeinert werden können, bzw. - was letztlich das gleiche Faktum ist - äußere Kriterien (im Wittgensteinschen Sinn) für innere, mentale Vorgänge, die grundsätzlich nicht zu notwendigen und hinreichenden Bedingungen taugen, weisen darauf hin, daß die Subjektivität dasjenige ist, was sich, ohne den Rahmen der physikalischen Realität zu sprengen, in einem unendlichen Progreß der physikalischen Theoriebildung jeweils entzieht. (Es wird sich in einem späteren Teil zeigen, daß es die Subjektivität qua Freiheit ist, die sich der Berechenbarkeit durch eine mathematisch formulierte Theorie entzieht.) Da aber kein Anspruch auf Deduktion dieses Ergebnisses erhoben wird, muß offenbleiben, ob alternative theoretische Konstruktionen das nämliche zu leisten imstande sind. Insbesondere wäre zu prüfen, wie es in dieser Hinsicht mit einer physikalischen Fundamentaltheorie steht, die irreduzibel statistische Gesetze anerkennt. Die Motivation für diese Prüfung liegt auf der Hand: Die Quantenphysik erkennt solche Gesetze an. Vielleicht also kann man die Annahme eines bösartig unendlichen Theoriefortschritts vermeiden, wenn man stattdessen annimmt, daß die physikalische Letzttheorie in diesem entscheidenden Punkt wie die gegenwärtige Quantentheorie 76 verfaßt ist. In Teil V wird diese Prüfung mit Blick auf die Freiheitsproblematik durchgeführt mit einem im wesentlichen negativen Ergebnis. § 27. Wahrheit und Wissen Kehren wir noch einmal zur Frage nach der Wahrheit zurück. Quines Naturalismus beantwortet sie deflationär, nämlich im wesentlichen redundanztheoretisch: an Wahrheit sei nicht mehr, als die Zitattilgung und deren Ausarbeitung im Rahmen Tarskischer Wahrheitstheorien zu erkennen gäben, und nimmt einen damit verbundenen Wahrheitsrelativismus in Kauf. Falk auf der anderen Seite verbindet das scheinbar Unzusammengehörige: eine realistische mit einer kognitiven Konzeption der Wahrheit, zu einer Ersten Philosophie neuer Art. Diese erlaubt es, im Rahmen des sprachanalytischen Paradigmas die Einsichten der klasssischen Subjektivitäts- bzw. Transzendentalphilosophie unverkürzt zur Geltung zu bringen, zumal dann, wenn man Falks Geltenlassen der Exemplar-Identitäts-These durch eine stark monistische Einbettung der Subjektivität in die physikalische Realität ersetzt. Im gegenwärtigen Paragraphen sollen nun einige erkenntnistheoretische Konsequenzen aus Falks Semantik und Subjektivitätstheorie gezogen werden, bevor in den nachfolgenden Paragraphen dieser Teil der Gesamtuntersuchung durch eine kurze Betrachtung des ganzen Spektrums möglicher Positionen in der Wahrheits- und Realismusfrage, von dem bisher nur ein kleiner, wenn auch signifikanter Ausschnitt unser Gegenstand war, abgerundet wird. Die realistisch-kognitive Wahrheitskonzeption läßt Wahrheit und Wissen in der Subjektivität, genauer: im sinnlichen Mir-Scheinen-daß, zusammentreffen. Wahr ohne Bezug auf objektive Wahrheitsbedingungen und ohne Kontrast zu möglicher Falschheit sind bestimmte Sätze, sofern sie Äußerungen bestimmter unfehlbarer Meinungen sind, die als unfehlbar zugleich Fälle von Wissen, und zwar von begründungsunbedürftigem und -unfähigem Wissen sind. „Es zeigt sich darin“, so Falk, „daß Wahrheit und Falschheit nicht gleichursprünglich sind, sondern ein Primat der Wahrheit ausweisbar ist“62, ein Primat, auf den übrigens in völlig anderen Zusammenhängen Heidegger mit großem Nachdruck hingewiesen hat und dem wir bei der Betrachtung der Probleme der klassischen Ontologie in Teil III wiederbegegnen werden. Der Gegensatz von Wahrheit und Falschheit ist gleichsam zweigeschossig und nur im zweiten Geschoß ein unmittelbarer. Im Erdgeschoß finden wir die Wahrheit des Mir-Scheinens, die nicht im unmittelbaren Gegensatz zur Falschheit steht, wohl aber in einem Gegensatz zur objektiven 62 Wahrheit und Subjektivität, S. 285. 77 Wahrheit im Obergeschoß, die dort ihrerseits in einem unmittelbaren Gegensatz zur Falschheit steht. Durch Verweis auf die erwähnten irrtumsimmunen Wahrnehmungsmeinungen als paradigmatische Anwendungsfälle wird, wie Falk gezeigt hat, Wahrheit erklärt. Wir können hinzufügen, daß Wissen auf die gleiche Weise zu erklären ist. Wissen ist ebensowenig definierbar wie Wahrheit. In Platons Dialog Theaitetos wird gefragt, was Wissen sei, und unter anderem die Antwort erwogen, Wissen sei wahre Meinung mit einem Logos (einer Erklärung oder Begründung).63 Damit sind drei Wissensbedingungen genannt, deren jede einzelne notwendig und die zusammen hinreichend sein müssen, wenn dieser Definitionsvorschlag erfolgreich sein soll. Jedes Wissen ist erstens ein Fürwahrhalten, eine Meinung oder Überzeugung. Zweitens muß diese Meinung wahr sein, damit man sie als Wissen bezeichnen kann; denn „Wissen“ ist ein Erfolgswort, d.h. einen Irrtum nennt man nicht „Wissen“, auch wenn der Irrende seinen Irrtum für Wissen halten mag. Er irrt dann doppelt, einmal in der Frage, ob p, und zweitens in der Frage, ob er weiß, daß p. Drittens schließlich ist nicht jede wahre Meinung schon ein Fall von Wissen. Ich kann leichtfertigerweise glauben, daß mir in der Kurve kein Auto entgegenkommen wird, und zum Überholen ansetzen. Meine Meinung erweist sich als wahr - ich habe Glück gehabt, aber nicht gewußt. Wenn eine wahre Meinung ein Fall von Wissen sein soll, darf der Glücksfaktor keine Rolle spielen. Die Meinung muß vielmehr begründet sein. Ich oder, wenn der sogenannte erkenntnistheoretische Externalismus64 recht hat, notfalls andere an meiner Stelle müssen gute Gründe für die betreffende Meinung angeben können. Obwohl Platons Dialog aporetisch endet, Platon also den erwogenen Definitionsvorschlag nicht als das letzte Wort gelten läßt, konnte dieser zur Standardanalyse des Wissens avancieren, zu der bisweilen so genannten BWM-Analyse („Begründete-wahre-Meinungs-Analyse“, englisch „JTB-analysis“ für „justified true belief“). Seine Problematik liegt eigentlich ganz offen zutage. Auch der leichtfertige Autofahrer kann sich mit irgendwelchen Gründen herausreden („Ich hatte ein gutes Gefühl, war mir ganz sicher, ...“). Die Frage ist also, wie gut die mehr oder weniger guten Gründe für eine Meinung sein müssen, damit sie als Fall von Wissen bezeichnet werden kann. Edmund Gettier hat diese Lücke in der BWM-Analyse 1963 in einem spektakulären Drei-Seiten-Aufsatz zur Konstruktion eines Gegenbeispiels ausgenutzt.65 Wenn einmal eines konstruiert ist, lassen sich viele weitere konstruieren, zum Beispiel folgendes. Nehmen Sie an, Sie sind bei Freunden eingeladen und sehen bei der Ankunft vor dem 63 64 201c,d. Vgl. [...] 78 Haus der Gastgeber das Auto eines gemeinsamen Freundes parken. Später, beim Begrüßen, fragt dieser: „Na, überrascht, mich zu treffen?“ - „Ganz und gar nicht“, antworten Sie, „ich wußte schon vorher, daß du da bist; dein Auto parkt ja vor der Tür.“ Wäre die Geschichte hier zu Ende, so wäre alles in Ordnung. Ihre Meinung, daß der Freund anwesend ist, ist wahr, und Sie haben Gründe für sie, die normalerweise gut genug wären. Normalerweise hätten Sie also schon vor dem Betreten des Hauses gewußt, daß der Freund da ist. Aber die Geschichte geht weiter: „Was sagst du, mein Auto steht vor der Tür?“ ruft halb freudig, halb ungläubig der Freund. „Es ist mir doch heute morgen gestohlen worden!“ Der Zufall hat es so gefügt, daß der ahnungslose Dieb es vor dem Haus der Gastgeber abstellte. Ihre Meinung, der Freund sei anwesend, war wahr, Sie hatten auch vergleichsweise gute Gründe dafür, aber für dieses Mal waren sie nicht gut genug, nicht die richtigen Gründe. Ihre Meinung war kein Wissen, sondern trotz guter Gründe nur zufällig wahr. Durch Gegenbeispiele dieser Art gegen die BWM-Analyse hat Gettier einst eine angestrengte Suche nach der fehlenden vierten Bedingung des Wissens - eine regelrechte „Gettierologie“ ausgelöst. Als vierte Bedingung mußte diejenige gefunden werden, unter der die Gründe für eine Meinung gut genug sind, um Gettiersche Gegenbeispiele auszuschließen. Daß das Auto eines gemeinsamen Freundes vor dem Haus Ihrer Gastgeber parkt, ist zwar ein sehr guter, aber, wie das Beispiel zeigt, kein zwingender Grund für die Schlußfolgerung, daß der Freund unter den Gästen ist. Um Gettier-Beispiele auszuschließen, bedarf es zwingender, d.h. solcher Gründe, die die Wahrheit der begründeten Meinung verbürgen. Das lädt dazu ein, Wissen bzw. Erkenntnis in abstracto zu definieren als wahrheitsverbürgend begründete Meinung (der Zusatz „wahr“ wird hier überflüssig, weil er von „wahrheitsverbürgend“ schon abgedeckt ist), und der „Gettierologie“ die Aufgabe zuzweisen, dieses Definitionsschema zu konkretisieren, nämlich mitzuteilen, wie eine Begründung für eine Meinung beschaffen sein muß, damit sie die Wahrheit der Meinung und zugleich ihren Wissenscharakter verbürgt und Gettiersche Gegenbeispiele ausschließt. Nicht zufällig blieb dieses theoretische Unternehmen erfolglos, und zwar, wie man hätte wissen müssen, aus dem einfachen Grund, weil es keine wahrheitsverbürgenden Gründe gibt. Denn was die Wahrheit einer Meinung verbürgt, schließt die Möglichkeit des Irrtums aus. Objektives Wissen aber können nur solche Meinungen sein, bezüglich deren grundsätzlich die Möglichkeit des Irrtums besteht. Der Begriff des Wissens verlangt, sofern er objektives Wissen einschließt, daher, daß jede zutreffende Erklärung seiner allenfalls eine partielle Defini65 „Is Justified True Belief Knowledge“. 79 tion ist, eine, die Gettiersche Gegenbeispiele zuläßt. Wissen ist also ebensowenig definierbar wie Wahrheit. Wahrheit wird durch das Schema der Zitattilgung teilweise erklärt, Wissen ebenso teilweise durch die BWM-Analyse. Den Rest besorgt im Falle der Wahrheit, wie Falk uns gelehrt hat, der Verweis auf paradigmatische Fälle: auf die „Es scheint“-Sätze, sofern sie den Wahrnehmungsanschein ausdrücken. Falks Einsicht verdient breitere Anwendung: Auch Wissen muß durch Verweis auf paradigmatische Fälle erklärt werden, und es sind (beinahe) dieselben Fälle wie im Fall von Wahrheit. Die Differenz liegt lediglich darin, daß Fälle von Wissen Meinungen sind, während als Fälle von Wahrheit auch - und sofern Wahrheit ein semantischer Begriff ist, sogar zunächst und zumeist - Sätze bzw. Satzäußerungen zur Verfügung stehen. Die paradigmatischen Fälle von Wahrheit sind demzufolge Äußerungen von „Es scheint“-Sätzen, die paradigmatischen Fälle von Wissen sind die unfehlbaren Meinungen, die sie ausdrücken. Aber man kann die Wahrheit noch etwas näher an das Wissen heranholen, ihr kognitiver Aspekt gebietet dies sogar: Äußerungen von „Es scheint“-Sätzen sind paradigmatische Fälle von Wahrheit nämlich nicht schlechthin, sondern nur, wenn sie ernsthaft und ehrlich gemeint sind, d.h. wenn sie eine unfehlbare Meinung, einen Wahrnehmungsanschein als Anschein ausdrücken. Denn Äußerungen von „Es scheint“-Sätzen können selbstverständlich falsch, können Lügen oder Scherze sein, können Versprecher enthalten (wie im Fall jener Axel Hackeschen Gitta, die angesichts der dampfenden Zerealien in der Bratpfanne an ihren Freund die Worte richtete: „Mir scheint, mein Mösli ist gerüstet“) oder sinnentstellende sprachliche Fehler enthalten (wie wenn jemand, dem kalt ist, dies auf italienisch auszudrücken versucht durch: „Mi sembra che fa caldo“). Paradigmatisch wahr sind Äußerungen von „Es scheint“-Sätzen also nur dann und nur insofern, wenn bzw. als sie bestimmte Meinungen ausdrücken, nämlich diejenigen Meinungen, die den Wahrnehmungsanschein als Anschein ausmachen. Nirgendwo sonst zeigt sich der kognitive Charakter der Wahrheit (ist ihr kognitives Moment) deutlicher als hier: Die Wahrheit als der Grundbegriff der Semantik wird erklärt durch Verweis auf paradigmatische Anwendungsfälle, in denen bestimmte unfehlbare Meinungen, also Fälle von Wissen (und zwar paradigmatische Fälle von Wissen), die Hauptrolle spielen. Man sieht nun, nebenbei gesprochen, daß die BWM-Analyse des Wissens auch an ihrem anderen Ende wankt, nämlich als Angabe notwendiger Bedingungen. Gerade auf die als paradigmatisch angeführten Fälle des Wissens trifft es nämlich gar nicht zu, daß sie begründete wahre Meinungen sind. Sie sind vielmehr wahr schlechthin, ohne Bezug auf objektive Wahrheitsbedingungen, deren Erfülltsein Gegenstand von Zweifeln und Begründungsversuchen sein 80 könnte. Natürlich kann man, um die BWM-Analyse dem Wortlaut nach zu retten, jene Meinungen selbstbegründend nennen. Ein angemessenerer Rettungsversuch ist es aber, zwischen den paradigmatischen und den anderen, weniger paradigmatischen Fällen von Wissen zu unterscheiden und zu bemerken, daß das Entfallen der Paradigmatizität das Desiderat der Begründung aufkommen läßt: Gründe helfen uns, unsere Irrtumsanfälligkeit zu bewältigen, und ermöglichen objektives Wissen. Sie sind unverzichtbar für die scientia militans, aber irrelevant für die scientia triumphans, wenn man das Bewußtsein des Wahrnehmungsanscheins einmal hochstaplerisch so nennen will. Daß der Triumph dieses begründungsunbedürftigen Wissens leicht errungen ist und daß es nicht zum Fundament des empirischen Wissens taugt, darf nicht übersehen und nicht verschwiegen werden. Zu Beginn des Paragraphen war von einer Zweistufigkeit im Wahrheitsbegriff die Rede, und eine entsprechende Zweistufigkeit läßt sich nun auch im Begriff des Wissens entdecken. Wie die Wahrheit erster Stufe nicht in einem unmittelbaren, sondern nur in einem durch die Wahrheit zweiter Stufe vermittelten Kontrast zur Falschheit steht, so ist das Wissen erster Stufe (das unfehlbare Wissen) nicht unmittelbar, sondern nur durch die Vermittlung des Wissens zweiter Stufe (des objektiven Wissens) auf Gründe bezogen. Aber diese Zweistufigkeit (mit Primat der ersten Stufe) im Begriff der Wahrheit und im Begriff des Wissens bedeutet nicht, daß ein entsprechendes Fundierungsverhältnis für die einzelnen Anwendungsfälle dieser Begriffe bestünde. Der Begriff der Wahrheit hat Vorrang vor dem der Falschheit, weil die Wahrheit (der Aussage) im Kontrast zur Falschheit nicht aufgeht, sondern in der Wahrheit simpliciter der „Es scheint“-Sätze begrifflich fundiert ist. Der Begriff des Wissens hat Vorrang vor dem des Nichtwissens (des Irrtums, der zufällig wahren Meinung, der Unkenntnis), weil Wissen begrifflich in unfehlbaren Meinungen fundiert ist. Aber keine objektive Aussage und keine fehlbare Meinung kann durch Verweis auf das, was mir der Fall zu sein scheint, zwingend begründet werden. Nur normisches Schließen ist hier zulässig; denn im Normalfall, d.h. unter Standardbedingungen der Wahrnehmung, sind die Dinge tatsächlich so, wie sie sich mir in der Wahrnehmung zeigen. Dies aber sind sie per definitionem, denn die Standardbedingungen sind ihrerseits dadurch definiert, daß unter ihnen meine Wahrnehmungsmeinungen wahr sind. Es führt also, abgesehen von der Singularität des „cogito, ergo sum“, kein zwingender Schluß aus dem Bereich des „Mir scheint, daß“-Operators heraus. Mit anderen Worten, aus Sätzen der Form „Mir scheint, daß p“ folgen keine objektiv gültigen Sätze der einfachen Form „p“ (ohne vorgeschaltetes „Mir scheint, daß“). Auf das sinnliche Anscheinen als auf ein logisches Fundament läßt sich Erfahrungswissen also nicht gründen. Al- 81 lenfalls kann ein sinnlicher Anschein ein - im technischen Sinne loses - Kriterium für die objektive Gültigkeit dessen sein, was da anscheint. Denn gegeben, daß Standardbedingungen der Wahrnehmung vorliegen (dazu rechnen wir z.B. Tageslicht und gesunde, wache Sinne), folgt daraus, daß mir scheint, daß p, daß tatsächlich p. Die Wahrheit der Zusatzprämisse aber kann, wie gesagt, nicht unabhängig eingesehen werden. Sondern man kann umgekehrt, wenn klar ist, daß es sich so verhält, wie es mir in der Wahrnehmung scheint, darauf schließen, daß Standardbedingungen der Wahrnehmung vorliegen, daß also die kausalen Bedingungen meiner Wahrnehmungsmeinung im gegebenen Fall mit ihren Wahrheitsbedingungen identisch sind (daß nicht deswegen, weil ich träume oder weil ein mächtiger Dämon mich manipuliert, es mir scheint, als säße ich am warmen Ofen, sondern weil ich am warmen Ofen sitze). Freilich liegt im Begriff der Standardbedingung wie in dem des Normalfalls eine beabsichtigte Parteilichkeit: Normal ist das, womit man rechnen muß bzw. darf. - „Das ist ein Vogel? Also kann er fliegen.“ Und nur hin und wieder stelle ich fest, daß Zusatzbedingungen dem Vogel die Fähigkeit des Fliegens nehmen (er ist entkräftet, verletzt oder dergleichen). Ähnlich im Fall des Wahrnehmungsscheins: In den meisten Fällen, in denen mir scheint, daß sich ein roter Gegenstand in meinem Gesichtsfeld befindet, befindet sich tatsächlich ein roter Gegenstand in meinem Gesichtsfeld. Was aber rechtfertigt die Annahme, daß es Standardbedingungen des Wahrnehmens, daß es eine Normalität auch im Falle des Wahrheitswertes von Wahrnehmungsmeinungen gibt? Und was genau besagt diese Annahme, die leicht als diejenige des erkenntnistheoretischen Realismus identifizierbar ist? In diesen Fragen besteht eine subtile Differenz zwischen Davidson (und dem späten Wittgenstein) auf der einen und Falk auf der anderen Seite, auf die ich zum Schluß dieses Paragraphen noch kurz eingehen möchte. Der Erkenntnistheorie obliegt es nicht nur, den Begriff des Wissens oder der Erkenntnis zu erklären, sondern auch grundsätzlich die Frage zu beantworten, wie es möglich ist, Meinungen als Fälle von Wissen auszuweisen. Die auf den ersten Blick naheliegende Option des Fundamentalismus scheidet, wie wir gerade gesehen haben, aus: Begründungsunbedürftige wahre Meinungen gibt es zwar, aber sie liefern weder einzeln noch im Verein eine hinreichende logische Grundlage, um zwingend auf irgendeine begründungsbedürftige (fehlbare, objektive, empirische) Meinung zu schließen. Wir müssen also eine Alternative zum erkenntnistheoretischen Fundamentalismus suchen und finden als die gängige Alternative die Kohärenztheorie der Erkenntnis vor. Nun kann die Kohärenztheorie leicht für einen Gewaltstreich angesehen werden, durch den das erkenntnistheoretische Begründungsdilemma, das nach dem Ausscheiden des Fundamentalismus übrigbleibt, ins Unproblematische umgelobt werden soll. Das Di- 82 lemma besteht in der Wahl zwischen der Zulassung unendlicher Begründungsregresse und der Zulassung zirkulärer Begründungen. So wird etwa zur Begründung der Meinung, daß p, unter anderem die Meinung, daß q, herangezogen, zu deren Begründung die Meinung, daß r, usw. der infinite Regreß. Oder man kommt in der Kette der Gründe auf eine Meinung zurück, die in der Kette bereits aufgetreten ist: p, weil q; q, weil r; r weil p - der Zirkel. Die Kohärenztheorie will das Rätsel lösen mit Hilfe des Charmes des Holismus: Das Kohärieren in einem ganzheitlichen Gefüge von Meinungen soll das Surplus liefern, das notwendig ist, um dem Regreß bzw. dem Zirkel der Begründungen von Meinungen die vitiöse Schärfe zu nehmen. Allein daß eine Meinung anderen Meinungen, die ich habe, widerspricht, soll sie unglaubwürdiger, daß sie aus anderen Meinungen, die ich habe, folgt, soll sie glaubwürdiger machen können. Das klingt ein wenig nach Münchhausenscher Zauberei. Dem Baron von Münchhausen glauben wir nicht, daß er sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen hat. Aber wir sollen es für möglich halten, daß sich, wenn ein ganzes Ritterheer in die Sümpfe gerät, die meisten retten können, wenn sie ein Netz von "Schopfschaften“ bilden, in denen jeder möglichst zwei andere beim Schopfe packt und alle ziehen, so daß nur die Unglücklichen, die es nicht ins Schopfschaftsnetz schaffen (nicht kohärieren), untergehen. Doch wenn eine Person sich nicht selbst aus dem Sumpf ziehen kann, dann auch nicht unter mehreren eine die andere. Etwas technischer, in mengentheoretischer Analogie, gesprochen: Wenn a ∈ b und b ∈ a, dann sind a und b nicht minder unfundiert, als es eine Menge c ist, für die gilt: c ∈ c. Die Vertreter der Kohärenztheorie schulden uns also Aufschluß darüber, wie der Umstand, daß bestimmte logische Beziehungen zwischen den Meinungen einer Klasse bestehen, die Klasse insgesamt und damit jedes ihrer Elemente beglaubigen kann. Wir kennen diese Problematik aus § 10, wo sie angerissen und zu einer Zwischenlösung, aber noch nicht zu einem befriedigenden Abschluß geführt wurde. Die Zwischenlösung besagte, daß es zu jeder unserer Wahrnehmungsmeinungen eine begrifflich gehaltgleiche, aber deobjektivierte Cartesische Begleitmeinung gibt, in der wir auf Realität bezogen und dennoch unfehlbar sind. Die unbestreitbare begriffliche Nähe von „Mir scheint, daß p“ und „p“ erklärt aber noch nicht hinreichend, wie das Wissen, daß mir scheint, daß p, die Meinung, daß p, wahrscheinlich machen kann. Die oben angesprochene Differenz zwischen Davidson und Falk besteht nun darin, daß jener den erkenntnistheoretischen Realismus als die These formuliert (und begründet), daß die meisten meiner Überzeugungen, insbesondere die meisten meiner Wahrnehmungsmeinungen wahr sind, während dieser sich dagegen wendet, hier von Mehrheitsverhältnissen zu sprechen. 83 Falk will die detektivische Skepsis zulassen, auch wenn sie sich auf ein so außerordentliches Szenarium wie etwa das Putnamsche der Gehirne im Tank stützt. D.h. Falk läßt die Möglichkeit zu, daß die meisten meiner Wahrnehmungsmeinungen insofern falsch sind, als ich das Opfer eines bösartigen Superneurowissenschaftlers geworden bin, der mein Gehirn explantiert hat und es in einer Nährlösung am Leben hält und von einem genial programmierten Rechner so reizen läßt, daß ich mich als unversehrter Mensch unter meinesgleichen wähne. Falks Formulierung des erkenntnistheoretischen Realismus besagt, daß jeder Irrtum im Prinzip entdeckbar, daß seine Ursache empirisch identifizierbar ist. Wenn also gegenwärtig die meisten meiner Wahrnehmungsmeinungen falsch sind, so lassen sich doch Umstände denken (etwa das Auftreten eines noch mächtigeren und fähigeren Wissenschaftlers, der mein Gehirn in einen Körper reimplantiert und mir von meiner Zeit als Gehirn im Tank berichtet), unter denen ich meiner Irrtümer innewerde und sie berichtige. Aber wie will ich meiner gegenwärtigen Irrtümer innewerden, wenn ich nicht auch jetzt schon über sehr viele wahre Meinungen, auch Wahrnehmungsmeinungen verfüge? Zum Irrtum gehört gelingende Bezugnahme und falsche Prädikation. Betrachten wir nun ein Gehirn im Tank oder auch nur eine Person, die gerade halluziniert. „Dieser Baum ist eine Eiche“, durchfährt es sie; aber da ist keine Eiche. - Damit dies eine (falsche) Wahrnehmungsmeinung sein kann, muß in ihr denkende Bezugnahme gelungen sein. Das Muster dafür ist der referentielle Gebrauch von Kennzeichnungen („Dieser Baum“) nach dem Muster von Keith Donnellans berühmt gewordenem Beispiel („Dieser Mann mit dem Glas Martini“ - wobei in Wirklichkeit Wasser im Martiniglas ist).66 Es muß also etwas geben, was in der Kennzeichnung „Dieser Baum“ zusammengefaßt wird, das die Bezugnahme auf irgendetwas - etwa, im Fall der halluzinierenden Person, auf einen ihrer Gehirnzustände - gelingen läßt, das zwar kein Baum, geschweige denn eine Eiche, aber doch ein passables logisches Subjekt meines Urteils „Dieser Baum ist eine Eiche“ darstellt. Dieses Etwas muß ein Bündel wahrer Wahrnehmungsmeinungen sein, die zu verbalisieren ich mir nicht die Mühe gemacht habe. Wenn es sich aber so verhält, dann ist Falks Formulierung des erkenntnistheoretischen Realismus gegenüber Davidsons die nachgeordnete: Nur weil selbst im ungünstigsten Irrtumsszenarium noch viele - die meisten - meiner Wahrnehmungsmeinungen wahr sind, ist mein Irrtum als solcher von mir im Prinzip empirisch entdeckbar. Dann aber sind wir hier in einer Lage, die zum Vergleich mit dem Fremdzuschreibung mentaler Prädikate einlädt. Für Schmerzen etwa ist, wie Wittgenstein argumentiert hat, Schmerzbenehmen ein äußeres Kriterium, und zwar ein Evidenzkriterium, näher ein loses Kriterium, 66 Donnellan, [...] 84 das keine notwendige oder hinreichende Bedingung darstellt. Im Einzelfall kann daher Schmerz ohne Schmerzbenehmen oder Schmerzbenehmen ohne Schmerz vorkommen. Aber es ist unmöglich, daß Schmerz immer ohne Schmerzbenehmen oder Schmerzbenehmen immer ohne Schmerz vorkommt. Auch hier also manifestiert sich die begriffliche Verknüpfung von Schmerz und äußerem Schmerzbenehmen äußerlich in einem Mehrheitsverhältnis. Ebenso im Fall des nicht empirischen, sondern begrifflichen Hangs der Wahrnehmungsmeinungen zur Wahrheit: Die Mehrheit meiner Wahrnehmungsmeinungen ist wahr. Wie das möglich ist, bleibt indessen immer noch ein Rätsel. Es wird erst in Teil IV, im Zusammenhang mit Descartes’ Auseinandersetzung mit der Skepsis bzw. mit Kants transzendentaler Deduktion zu lösen sein. 3. Realismus und Antirealismus § 28. Der metaphysische Realismus und der Antirealismus Die Frage des Realismus in Sachen Wahrheit wird gewöhnlich unter der Prämisse angegangen, daß eine realistische und eine kognitive Auffassung der Wahrheit einander unversöhnlich gegenüberstehen. Je einer der beiden Aspekte der Wahrheit wird also absolut gesetzt, im metaphysischen Realismus der realistische Aspekt auf Kosten des kognitiven, im Antirealismus der kognitive auf Kosten des realistischen. Der metaphysische Realismus aber ist, wie wir teilweise schon früher gesehen haben (§ 2), eine instabile Position, die so oder so über sich hinausweist. Der Antirealismus andererseits wird sich - strenggenommen - als eine Nicht-Position, nämlich als eine rein negative, kritische These erweisen, die nicht als positive Lehre formulierbar ist. Es bleibt drittens die Möglichkeit, die Alternative von metaphysischem Realismus und Antirealismus im Geiste des Antirealismus bzw. des Pragmatismus zu unterlaufen und eine deflationäre, relativistische Sicht der Wahrheit zu empfehlen. Richard Rorty ist für diesen Versuch bekannt geworden. Die vierte Option schließlich besteht in der Preisgabe der stillschweigenden Prämisse, daß der realistische und der kognitive Aspekt der Wahrheit einander widerstreiten. Auch hier wird also die Alternative des metaphyischen Realismus und Antirealismus unterlaufen, aber diesmal im Geiste des Realismus und näher so, daß Wahrheit nicht an je bestimmte menschliche Tätigkeiten (Verifikationsverfahren, Rechtfertigungspraktiken usw.), sondern nur an menschliche Tätigkeit überhaupt - an ihren invarianten Kern, an das, was Kant „Spontaneität“ nennt - gebunden wird. Diese vierte Position ergibt sich in der 85 theoretischen Fluchtlinie von Davidson zu Falk. Ich werde sie vorläufig den transzendentalphilosophischen Realismus nennen. Diese wahrheitstheoretischen Eckpositionen bilden, als zwei einander kreuzende Oppositionen, ein Viereck, das in seinem Inneren Raum für Vermittlungspositionen zu bieten scheint, etwa für Hilary Putnams internen oder für Wilfrid Sellars’ wissenschaftlichen Realismus, die beide auf der Linie vom Extrem des metaphysischen Realismus zum Extrem des Antirealismus liegen. Aber wir werden sehen, daß die Vermittlungspositionen die Aporien der Extreme, zwischen denen sie vermitteln sollen, weniger vermeiden als erben. Nach diesen Vorankündigungen nun zu den Positionen im einzelnen. Ich werde beim schon Bekannten, dem metaphysischen Realismus, beginnen und danach die Ecken 2 und 3 des wahrheitstheoretischen Vierecks (die des Antirealismus und Relativismus) abschreiten, um mich schließlich, nach einer Kritik von Vermittlungspositionen, für die verbleibende vierte Eckposition, den transzendentalphilosophischen Realismus, auszusprechen. Die Eckpositionen noch einmal im Überblick: 4. Transzendentalphilosophischer Realismus 1. Metaphyischer Realismus 2. Antirealismus 3. Relativismus Der metaphysische Realismus wurde in § 2 auf dreierlei Weise charakterisiert: erstens und vornehmlich als die Lehre, daß die Wahrheit nicht-kognitiv (nicht-epistemisch und nicht-doxastisch) ist, zweitens als die diese Lehre reformulierende These, daß möglicherweise alle unsere Meinungen - bis auf die Zufallstreffer, die unumgänglich sind, weil wir einander des öfteren und uns selbst bisweilen widersprechen und von „p“ und „-p“ eines wahr sein muß falsch sind; und drittens wurde er mit der Korrespondenztheorie der Wahrheit in Verbindung gebracht. Es ist aber nicht ohne weiteres klar, wie diese Lehren zusammenhängen und ob insbesondere die dritte mit den beiden zuvor genannten äquivalent ist. Betrachten wir zunächst kurz die beiden ersten. Sie werden motiviert, aber nicht wirklich gestützt durch den realistischen Aspekt der Wahrheit, den wir in die Platitüde fassen können, daß bloßes Fürwahrhalten im allgemeinen noch keine Wahrheit verbürgt.67 Weil jede einzelne objektive Meinung unabhängig von meinem Fürwahrhalten ist und daher falsch sein kann, wird unzulässigerweise ge- 67 Vgl. Davidson, „The Structure and Content of Truth“, S. 305. 86 schlossen, daß alle oder zumindest fast alle meine (objektiven) Meinungen falsch sein können. Gegen die sogenannte realistische Skepsis, die dazu einlädt, diese Möglichkeit einmal als wirklich zu denken, ist dann freilich kein Kraut mehr gewachsen - und so hat es der metaphysische Realist gewollt. Was er nicht hat wollen können, ist indes die weitere Folge, daß, wenn wahre Meinungen grundsätzlich Glücksache sind, die Grundlage für die Urteilspraxis, für das Erheben von Wahrheitsansprüchen, entfällt. Denn Ansprüche gibt es - aus begrifflichen Gründen - nur da, wo wenigstens prinzipiell die Möglichkeit besteht, sie auch einzulösen. Spätestens an dieser Stelle wird die Korrespondenztheorie anziehend für den metaphysischen Realisten. Selbst wenn die Praxis des Erhebens von Ansprüchen auf objektive Wahrheit der begrifflichen Grundlage entbehrt, läßt sich mittels der Korrespondenztheorie doch - so seine Hoffnung - sagen, was Wahrheit selber ist: Übereinstimmung eines Satzes oder einer Meinung mit der Realität. Die Wahrheit ist nicht-kognitiv; auf unsere Praxis des Fürwahrhaltens, oder welche weitere Praxis auch immer, kommt es demnach für die Frage, was Wahrheit ist, nicht an. Wahr ist, was übereinstimmt, ob das nun irgendeine praktische Bedeutung hat oder nicht. Wenn wir dem Realisten diese Einlassung und damit alle skeptischen Aporien schenken, wie Davidson es tut, müssen wir ihn also beim Gedanken der Übereinstimmung packen. Womit stimmen unsere wahren Meinungen (ob wir es im Einzelfall wissen können oder nicht) de facto überein? Sagt der Realist: mit der Realität als ganzer, so ist die Übereinstimmungsbeziehung trivialisiert. Denn wenn die Meinung, daß 2+2=4, und die Meinung, daß alle Junggesellen ledig sind, und die Meinung, daß Platon in Athen lebte, unterschiedslos mit ein und demselben: der Realität, übereinstimmen, dann kann ich durch dieses eine und selbe kürzen und komme so zurück zu meinem Ausgangspunkt, dem schlichten Wahrheitsprädikat: Alle diese Meinungen sind eben wahr, was immer das heißen mag. Also ist der Realist, da er Wahrheit ohne Bezug auf irgendeine Praxis erklären will, nun gezwungen, die Realität in wahrmachende Portionen, genannt Tatsachen, eingeteilt zu denken und folgendes zu sagen: Die Meinung, daß 2+2=4, ist wahr, weil sie einer bestimmten Tatsache korrespondiert, und die Meinung, daß Platon in Athen lebte, ist wahr, weil sie ebenfalls einer bestimmten Tatsache, freilich einer anderen, korrespondiert, und so fort für jede wahre Meinung. Nun lassen sich aber (Strawson hat darauf hingewiesen68) die angenommenen Portionen der Realität gar nicht unabhängig von den Meinungen angeben, die sie wahr machen sollen. Welche Tatsache ist es, die die Meinung wahr macht, daß Platon in Athen lebte? Eben diese: daß Platon in Athen lebte. Ohne semantischen Aufstieg (ohne „daß“-Konstruktion) läßt sie sich nicht spezifizieren. Wir müs- 87 sen über den sprachlichen Ausdruck unserer Meinungen reden, wenn wir die Tatsachen angeben wollen, denen diese Meinungen korrespondieren sollen. Tatsachen sind also keine echten, unabhängigen Relata einer Übereinstimmungsbeziehung. Im Grunde läuft der Vorschlag des Realisten darauf hinaus, die Wahrheitsbedingungen, also die Bedeutungen, der Sätze zu reifizieren; und wir haben in den vorigen Paragraphen gesehen, daß dies zum Scheitern verurteilt ist. (Einen auf den ersten Blick vielversprechenden Ausweg aus dieser Schwierigkeit hat übrigens Sellars gewiesen, indem er vorschlug, als die weltseitigen Relata der Übereinstimmungsbeziehung nicht Tatsachen, sondern Objekte anzusetzen. Aber dieser Vorschlag scheitert, wie wir im Fortgang sehen werden, aus anderen Gründen.) Als seien diese Schwierigkeiten noch nicht genug, steht der metaphysische Realist zudem vor der unlösbaren Aufgabe, Wahrheit einerseits als Korrespondenz erklären zu müssen, ohne sie andererseits definieren zu dürfen. Denn wir haben ja gesehen, daß Wahrheit, jedenfalls unter den Prämissen einer realistischen Semantik, undefinierbar ist. Auf paradigmatische Anwendungsfälle des Wahrheitsprädikates kann er sich andererseits auch nicht berufen, weil damit Wahrheit an Kognitivät gebunden würde. Kurz, der metaphysische Realismus, als die Verbindung einer nicht-kognitiven, korrespondenztheoretischen Konzeption der Wahrheit mit einer Tatsachen-Ontologie, erweist sich als eine unhaltbare Position. Derjenige Philosoph, der sie im Rahmen einer apriorischen Semantik, somit als eine genuin philosophische These, einst in klassischer Form vertreten hatte, Ludwig Wittgenstein in der Logisch-Philosophischen Abhandlung, hat sich denn auch später von ihr gelöst. (Wenn man andererseits die frühwittgensteinsche Bildtheorie des Satzes von der Tatsachen-Ontologie abkoppelt, wie Wilfrid Sellars es versucht, geht der philosophische Charakter der Bildtheorie verloren, und sie verwandelt sich in eine reduktiv-naturalistische Theorie, die z.B. den Argumenten, mit denen Quine seinen nicht-reduktiven Naturalismus empfiehlt, nicht standhält. Davon in der Folge mehr.) David Lewis bedauert im nachhinein, seine ontologische These, der zufolge es zahllose Welten gibt, modalen Realismus genannt zu haben, da der Terminus „Realismus“ an die ganz andersartige Problematik des metaphysischen Realismus denken lasse und insofern Verwirrung stiften könne.69 Um solcher Verwirrung vorzubeugen, sei daher an die Grundsatzdifferenz zwischen Realismen (bzw. Antirealismen) als ontologischen Thesen und andererseits dem wahrheitstheoretischen Realismus (bzw. Antirealismus) eigens erinnert. In einem gewissen Sinn kann man zwar sagen, jene Realismen seien lokal, dieser Realismus global; aber diese 68 69 „Truth“ [?] On the Plurality of Worlds, S. [...]. 88 Redeweise lenkt leicht vom Wesentlichen ab, nämlich davon, daß mehr im Spiel ist als eine Differenz der Reichweite.70 Ein lokaler Antirealismus ist z.B. der logische Behaviorismus, der die Existenz von inneren, geistigen Vorgängen bestreitet und positiv lehrt, daß die Rede von geistigen Vorgängen analysierbar ist in das Reden über Dispositionen zu öffentlich beobachtbarem Verhalten. Die Bedeutung von „wahr“ wird dabei konstant gehalten; sie ist nicht strittig zwischen dem Verfechter der Existenz geistiger Vorgänge und dem Behavioristen, die beide grundsätzlich eine realistische Wahrheitsauffassung vertreten mögen. Was sie trennt, ist nur die Frage, welche Wahrheitsbedingungen die Sätze über geistige Vorgänge haben. Der Realist beharrt darauf, daß diese Wahrheitsbedingungen nur unter Bezugnahme auf geistige Vorgänge formulierbar sind, während der Behaviorist dies bestreitet und die Bezugnahme auf Verhaltensdispositionen für ausreichend und angemessen hält. (Die Wahrheit liegt in dieser Sache übrigens auf keiner Seite; denn Sätze über geistige Vorgänge haben, wie wir sahen, gar keine objektiven Wahrheitsbedingungen, sondern sind in der Selbstzuschreibung ohne weiteres wahr und in der Fremdzuschreibung mit äußerem Verhalten durch Kriterien vermittelt.) Beide Seiten sind sich einig, daß es äußeres Verhalten gibt, und zumal die antirealistische, behavioristische Seite legt großen Wert auf diesen lokalen Realismus. Ihr Antirealismus bezüglich des Mentalen ist insofern parasitär gegenüber einem Realismus bezüglich des Verhaltens; und das ist typisch für die sogenannten lokalen Antirealismen: der Antirealismus bezüglich der einen Sorte von Entitäten geht Hand in Hand mit einem Realismus bezüglich einer anderen Sorte. Der globale Antirealismus hingegen, derjenige bezüglich der Wahrheit, hat keine Möglichkeit mehr, parasitär zu sein, und das macht ihn schwer verständlich und schwer formulierbar. Es geht ihm nicht mehr darum, daß bestimmte Sätze andere Wahrheitsbedingungen haben, als man auf den ersten Blick glauben möchte, gegeben eine bestimmte Bedeutung von „wahr“, sondern es geht ihm gerade um diese Bedeutung selber. Er behauptet, mit seinen Meinungen und Behauptungen ein anderes Spiel zu spielen, als der Realist spielen möchte, und natürlich stellt sich dann die Nachfrage: „behauptet“ in welchem Sinn, dem realistischen oder dem antirealistischen? Doch schauen wir uns, motiviert durch das Scheitern des metaphysischen Realismus, einige antirealistische Kernaussagen zunächst etwas näher an, bevor wir uns an die vertrackte Frage wagen, in welchem Sinn von „Aussage“ es sich hier um Aussagen handelt. Die antirealistische Gegenseite des metaphysischen Realismus umfaßt das Spektrum der Kohärenz- und Konsenstheorien der Wahrheit - sofern diese im Ernst als Theorien der Wahrheit, nicht als Theorien des Wissens (Erkenntnistheorien) gemeint sind -, deren gemeinsamer Kern 70 Vgl. dazu Putnam, Reason, Truth and History, S. 56f.; ferner Falk, Wahrheit und Subjektivität, S. [...]. 89 die Auffassung bildet, Wahrheit sei ein epistemischer Begriff, die aber so noch zu unspezifisch formuliert und näher als die Auffassung zu charakterisieren ist, die den Pragmatismus definiert: Wahrheit sei begründete bzw. durch gelungene Begründung verbürgte Behauptbarkeit; wobei das Behaupten, Begründen, Verbürgen als eine mehr oder weniger geregelte menschliche Praxis zugrunde gelegt wird. Reine Kohärenztheorien der Wahrheit, sofern sie nicht an menschliches Verhalten gebunden werden, sind im übrigen aussichtslos. Denn eine (in einem näher zu bestimmenden Sinn) kohärente, etwa widerspruchsfreie, Satzmenge kann selbstverständlich falsche Sätze enthalten. Wenn statt von einer kohärenten bzw. widerspruchsfreien Satzmenge von einem ebensolchen System von Meinungen gesprochen wird, nähern sich Kohärenz und Wahrheit einander zwar an; dies aber deswegen, weil unter dem Begriff der Meinung ein Aspekt menschlicher Praxis ins Spiel kommt, der dann freilich noch der theoretischen Aufklärung bedarf. Soll er im Sinne nicht des transzendentalphilosophischen Realismus (Davidsons und Falks), sondern des Antirealismus erklärt werden, so wird man auf menschliche Begründungspraktiken, einerseits forensische, andererseits wissenschaftliche, zurückgreifen und „wahr“ als ein Wort zur Bezeichung desjenigen in Ansatz bringen, worauf wir uns unter idealen (etwa herrschaftsfreien) Diskursbedingungen einigen würden, bzw. desjenigen, wogegen, als gegen einen Grenzwert, die wissenschaftliche Theoriebildung konvergiert. Die letztere, Peircesche, Variante hat gegenüber der ersteren, vielleicht Habermasisch zu nennenden, den echten oder vermeintlichen Vorzug, daß an die wissenschaftliche Theoriebildung eher als an politische Debatten die Vorstellung einer Konvergenz geknüpft ist, die ja auch in der Auffassung der Wahrheit als eines Grenzwertes ausdrücklich herangezogen wird. Aber sehen wir von dieser Differenz der Varianten zunächst ab, halten wir nur fest, daß in beiden Varianten Wahrheit als verbürgte Behauptbarkeit relativ zu bestimmten Begründungsverfahren gefaßt wird, und nennen wir dies die pragmatische Konzeption der Wahrheit. Michael Dummett ist derjenige Verfechter der pragmatischen Konzeption, der sie am konsequentesten zu einem durchgängigen Antirealismus entwickelt hat. Dummett weist darauf hin, daß die Realismusfrage, wie oben schon angedeutet, den Status unserer Aussagen berührt. 71 Der metaphysische Realist behauptet ja, daß unabhängig von unserer Fähigkeit, eine Aussage zu verifizieren oder zu falsifizieren, jede Aussage wahr oder, im anderen Fall, falsch ist; d.h. er legt sich auf die Zweiwertigkeit unserer Aussagen fest. Umgekehrt muß der Antirealist das Prinzip der Zweiwertigkeit zurückweisen und mit ihm den Satz vom ausgeschlossenen Dritten, dem zufolge Sätze der Form „p oder nicht p“ allgemeingültig (also logisch wahr) sind. 71 Vgl., auch fürs Folgende, Dummett, The Logical Basis of Metaphysics, London 1991, S. 8f. 90 Denn es gibt ja keine logische Garantie dafür, daß wir, für beliebige Aussagen, entweder die jeweilige Aussage oder ihre Negation verifizieren (und damit verbürgterweise behaupten) können. Wir haben im Gegenteil allen Grund zu glauben, daß dies in vielen Fällen nicht möglich ist. So dürfte es in den meisten Fällen nicht mehr möglich sein herauszufinden, ob es an einem gegebenen Punkt der Erdoberfläche vor genau 5000 Jahren regnete. Dann aber ist die entsprechende Aussage („Vor genau 5000 Jahren regnete es in (...)“), unter antirealistischem Vorzeichen, weder wahr noch falsch; und Entsprechendes gilt für Aussagen über Künftiges, die heute noch nicht verifizierbar sind („In genau 5000 Jahren wird es in (...) regnen“). Dummett kommt damit das Verdienst zu, die pragmatische Konzeption der Wahrheit theoretisch ausgeschöpft, nämlich bis zur Preisgabe des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten, also bis zu einer Revision der vertrauten zweiwertigen Logik fortgesponnen zu haben. Es ist diese konsequente Entfaltung der pragmatischen Wahrheitskonzeption, die den Namen „Antirealismus“ wirklich verdient. Man sieht nun auch deutlicher, was den globalen Realismus-AntirealismusGegensatz von jedem lokalen Realismus-Antirealismus-Gegensatz unterscheidet: In den letzteren Fällen streitet man um eine ontologische These, im ersteren Fall um die Logik. Vorschläge zur Revision der Logik (zur Revision des Wahr-Falsch-Spiels als solchen) aber sind nicht als Thesen innerhalb der bestehenden Logik (als Züge innerhalb des bestehenden WahrFalsch-Spiels) formulierbar.72 So wird der Antirealismus zu einem Plädoyer für eine andere, eine intuitionistiche Logik. § 29. Kritik des Antirealismus: Interner Realismus oder Relativismus? Wenn Wahrheit als begründete oder verbürgte Behauptbarkeit aufgefaßt wird, dann stellt sich die Frage, ob und in welchem Ausmaß unsere Begründungsverfahren idealisiert werden müssen. Zweifellos kann man, wenn man die Idealisierung weit genug treibt, an der pragmatischen Konzeption, zumindest dem Buchstaben nach, festhalten und dennoch alle Wahrheitswertlükken schließen, folglich zur Zweiwertigkeit, zum Satz vom ausgeschlossenen Dritten und zur realistischen Logik zurückkehren. Hilary Putnam etwa, der sich vor einem Vierteljahrhundert vom metaphyischen Realismus abwandte, nimmt, anders als Dummett, keine Wahrheitswertlücken an, sondern ist bestrebt, in einem nicht-metaphysischen Sinn Realist zu bleiben. Wenn aber durchgängig garantiert sein soll, daß entweder „p“ oder „nicht p“ verifizierbar ist, dann kann „verifizierbar“ nicht die faktische Verifizierbarkeit durch uns hier und heute, sondern muß eine Verifizierbarkeit unter Idealbedingungen bedeuten. 72 Vgl. Falk, Wahrheit und Subjektivität, S. [...]. 91 Auf derlei Idealbedingungen beruft sich der sogenannte Peircesche Realismus, worunter Putnam die Überzeugung versteht, daß es eine ideale Gesamttheorie gibt oder daß eine ideale Theorie zumindest als ein regulatives Ideal durch unseren Begriff der objektiven Wahrheit vorausgesetzt wird. 73 Putnam meinte (im Dezember 197674), er könne zeigen, daß der metaphysische Realismus in Unverständlichkeit zusammenstürzt, wenn er vom Peirceschen Realismus unterschieden werden solle.75 Der metaphysische Realist, der sich vom Peirceschen Realismus absetzen will, muß behaupten, eine Theorie könne objektiv unzutreffend und dabei in jeder sonstigen Hinsicht schlechthin ideal (vollständig, widerspruchsfrei, vorhersagekräftig, einfach, schön usw.) sein. Wenn die Theorie aber widerspruchsfrei ist, so Putnams Überlegung, dann hat sie ein Modell und dann wird sie insbesondere ein Modell von derselben Mächtigkeit wie die Welt (bzw. Realität) haben, so daß die Individuen des Modells eins zu eins auf die Weltgegenstände abgebildet werden können und die Theorie als eine zutreffende Theorie der Welt deutbar wird. Aber dagegen wird der metaphysische Realist zu Recht einwenden, daß, wenn zu den Tugenden der idealen Theorie die Vollständigkeit in dem Sinne gehört, daß für jeden Satz der Theoriesprache die Theorie entweder diesen Satz oder seine Negation enthält, der metaphysische und der Peircesche Realismus zwar tatsächlich ununterscheidbar werden mögen, dies dann aber so, daß es angemessener wäre zu sagen, der letztere werde unverständlich, sofern er vom metaphysischen Realismus unterschieden werden solle. Anders ausgedrückt: Wenn der metaphysische Realismus nicht vorausgesetzt wird, gibt es keinen Grund, die (Negations-)Vollständigkeit unter die idealen Theorieeigenschaften aufzunehmen. Putnams Argument führt also zu einer nur hypothetischen oder vielmehr sogar kontrafaktischen Konklusion: Wenn wir für jeden Satz entweder ihn oder seine Negation beweisen könnten (wenn wir ohne Voraussetzung des metaphyischen Realismus das Ideal der Vollständigkeit als prinzipiell erfüllbar aufstellen könnten), dann wäre ein metaphysischer Realismus, der sich vom Peirceschen Realismus abgrenzen will - und nicht dieser -, unverständlich. Daß der metaphysische Realismus unverständlich oder zumindest unhaltbar ist, wissen wir aber schon unabhängig. Andererseits wissen wir, daß wir viele Sätze weder verifizieren noch falsifizieren können. Insofern ist der Erkenntniswert des angedeuteten Argumentes vergleichsweise gering. Immerhin ist Putnam beizupflichten, wenn er einerseits den metaphysischen Realismus, also die These vom nicht-kognitiven Charakter der Wahrheit, preisgibt und andererseits den Dum73 Meaning and the Moral Sciences, S. 125. Vgl. ebd. S. 123, Fußnote. 75 Ebd. S. 125f. 74 92 mettschen Antirealismus, der Wahrheitswertlücken in Kauf nimmt, nicht akzeptiert. Gegen Dummett wendet Putnam zu Recht ein, daß dieser nicht nur Wahrheitswertlücken, sondern sogar den Verlust des Wahrheitswertes als Möglichkeit einkalkulieren muß, daß aber Wahrheit (ebenso Falschheit) im Gegensatz zu verbürgter Behauptbarkeit keine Eigenschaft ist, die ein (nicht-indexikalischer) Satz oder eine Meinung verlieren könnte.76 Relativ zu unseren heutigen Begründungsverfahren ist die These, daß das Universum vor einigen Milliarden Jahren in einem Urknall entstand, verbürgterweise behauptbar; relativ zu den Begründungsverfahren, die Newton und Leibniz zur Verfügung standen, war sie es nicht. Wenn faktische - nicht idealisierte - verbürgte Behauptbarkeit schon Wahrheit wäre, dann wäre die Lehre vom Urknall also vor 300 Jahren falsch gewesen, wäre heute wahr und könnte vielleicht in einer künftigen Epoche, gegeben deren Begründungsverfahren, wieder falsch sein - was abwegig ist. Mit Hilfe von derlei Szenarien läßt sich ein begrifflicher Keil zwischen die verbürgte Behauptbarkeit und die Wahrheit treiben, sofern jene nicht einer Idealisierung unterworfen wird, in welcher der metaphysische Realist seine eigene Auffassung zumindest so lange wiedererkennen darf, bis ihm eine zugleich realistische und kognitive Erklärung der Wahrheit angeboten wird. Diese Erklärung freilich bleibt Putnam schuldig. Er lehrt zwar die Kognitivität der Wahrheit, expliziert diese dann aber in Beziehung auf so ideale Begründungsverfahren, daß die Verbindung der Wahrheit zu unseren Meinungen und Wünschen, die ihre Kognitivität ausmacht, wieder abreißt. Und so ergibt sich hier eine schlechte Alternative zwischen Dummetts Weigerung, die wahrheitsrelevanten Begründungsverfahren durch Idealisierung von unseren faktischen Fähigkeiten zu trennen, mit der Folge, daß die Wahrheit zu einer verlierbaren Eigenschaft wird, und Putnams Idealisierung der Begründungsverfahren, die dem metaphysischen Realisten die Hintertür offenhält. Was Putnam braucht, um die Hintertür zu schließen, sind unabhängige (vom metaphysischen Realismus unabhängige) Gründe für die Überzeugung, daß unsere faktischen Begründungsverfahren schon hier und heute auf ein regulatives Ideal bezogen sind, das man im nachhinein als ein realistisches (aber eben nicht metaphysisch realistisches) auslegen kann. Wahrheit ist kognitiv - dabei soll es bleiben. Daß wir uns gleichwohl mit unseren Sätzen auf eine von unseren Meinungen und Wünschen unabhängige Realität beziehen, soll ebenfalls gelten, aber, so Putnams vermeintliche Lösung, nicht mehr als ein Lehrstück der Ersten Philosophie, da er diese in der schlechten Alternative von metaphysischem Realismus und Antirealismus gefangen wähnt, sondern als eine empirische Hypothese, die den Erfolg und Nutzen der Wissen76 [...]. 93 schaft und die Konvergenz wissenschaftlicher Theorien (die Tatsache, daß frühere Theorien mitunter Grenzfälle späterer Theorien sind) erklärt.77 Diese Hypothese nennt Putnam den internen Realismus (er würde sie inzwischen lieber den pragmatischen Realismus nennen78). Als empirische Hypothese liegt der interne Realismus außerhalb des Bereichs der Ersten Philosophie. Aber von philosophischem Interesse ist vielleicht die Frage seiner schieren Formulierbarkeit: Was genau soll die empirische Hypothese besagen? Ist der interne Realismus eine Lehre von den Beziehungen zwischen unseren Sätzen und der Welt? Wenn (wie auch Putnam anerkennt) Tatsachen als die weltseitigen Relata dieser Beziehung nicht in Frage kommen, muß es sich wohl um eine Beziehung zwischen Sätzen und Gegenständen handeln, die durch Termini vermittelt ist, also wohl um so etwas wie die Tarskische Erfüllungsrelation bzw. um Referenz. (Ein Alternativvorschlag, der auf Sellars zurückgeht, wird weiter unten diskutiert.) Doch Quine hat gezeigt, daß diese Beziehung nicht empirisch bestimmbar ist, daß Erfüllung und Referenz nur semantische Hilfsbegriffe sind, die eingeführt werden in Beziehung auf den Grundbegriff der Wahrheit (etwa um dessen Extension für eine gegebene Sprache in nicht-semantischem Vokabular zu bestimmen). Eine empirische, von semantischen Begriffen freie Theorie, die uns erklärte, was es für eine Konfiguration Druckerschwärze oder für ein paar Schallwellen oder für welches natürliche Ereignis auch immer heißt, z.B. den griechischen Philosophen Sokrates zu bezeichnen, ist eine Chimäre. Wenn also der interne Realismus das nicht leisten kann, so muß er vielleicht als eine modale Metathese im Rahmen unserer Gesamttheorie formuliert werden, die besagt, daß eben diese Gesamttheorie möglicherweise falsch ist, und er muß die betreffende Modalität (das „möglicherweise“) zugleich als eine nicht-metaphysische, nicht-begriffliche Modalität, nämlich als eine - zwar geringe, aber von Null unterschiedene - empirische Wahrscheinlichkeit spezifizieren. Doch selbst die erfolgreiche Formulierung der Realismushypothese würde, wie schon angedeutet, philosophisch nicht weiterhelfen; denn wenn der interne Realismus aus der Philosophie herausfällt (wenn über seine Wahrheit oder Falschheit der Gang der wissenschaftlichen Forschung entscheidet), bleibt es innerhalb der Philosophie bei der Alternative von metaphysischem Realismus und Antirealismus, die Putnam als eine schlechte erkannt hat. Ob er es will oder nicht - und er will es offenkundig nicht - begibt sich Putnam, wenn er Dummettsche Wahrheitswertlücken ebenso scheut wie die Abwegigkeiten des metaphysischen Realismus, auf die schiefe Bahn, die in den Diskursrelativismus führt. Das ist die dritte Eckposition im 77 78 Meaning and the Moral Sciences, S. 123. The Many Faces of Realism, La Salle 1987, S. 17. 94 Wahrheitsviereck; und von dort winkt freundlich Rorty, um Zögerliche wie Putnam zu beherztem Nähertreten zu ermuntern. Quine widersteht der Einladung, indem er sich, wie wir gesehen haben, dogmatisch auf den Naturalismus festlegt (dessen nicht-reduktive Spielart er dann überzeugend als die der reduktiven Spielart überlegene ausweist), d.h. indem er den Diskurs der Physik inkonsequenterweise so behandelt, als sei „wahr“ mehr als ein bloßes Vierbuchstabenwort. Rorty hebt diese Inkonsequenz auf und reiht den physikalischen wie überhaupt den naturwissenschaftlichen Diskurs in das Spektrum all unserer Diskurse ein. Wahrheit ist demzufolge überall nur ein Kompliment, das wir einer Ansicht machen, bzw. eine Art Empfehlungsschreiben zur freundlichen Aufnahme, das wir ihr mit auf den Weg geben: „Diese Ansicht ist freundlich und human, sie hat uns geholfen; probieren Sie es getrost mit ihr. Es wird Ihnen guttun.“ Was freundlich, was human ist, was hilft und was guttut, darüber besteht indes kein völliges Einvernehmen. Sozialliberale, Marktliberale, Nationalisten, Internationalisten, Menschenrechtler, Rassisten und religiöse Eiferer innerhalb unserer eigenen Kultur haben verschiedene Vorstellungen davon, ganz zu schweigen von der Vielfalt, die sich einstellt, wenn wir fremde Kulturen mit ins Spiel der Meinungen bringen. Rorty weigert sich standhaft, einen objektiven Sachverhalt als eine Berufungsinstanz anzuerkennen, an die Anhänger verschiedener Normensysteme und Angehörige verschiedener Kulturen appellieren könnten. Es gibt keinen objektiven Sachverhalt, der z.B. den Vorkämpfern der deutschen Republik, zunächst gegen die Fürsten des Deutschen Bundes, dann gegen die des zweiten Kaiserreiches, später, als die Republik eine Zeitlang bestand, gegen deren hochverräterische Feinde, schließlich gegen die nationalsozialistische Diktatur und zuletzt gegen das importierte Sowjetsystem, recht geben könnte. Wenn die gemeinsame liberale Kultur des Westens sich gleich in ihren Anfängen, in der englischen, französischen und deutschen Aufklärung, ein theoretisches Fundament zu legen versuchte, durch das ihre moralische Überlegenheit begründet werden sollte, so war das im Sinne effektiver Propaganda vielleicht richtig, mehr aber nicht; insbesondere war es nicht richtig im Sinn von „objektiv zutreffend“, denn von einem solchen Sinn kann hier keine Rede sein. Rorty scheut sich nicht, dies ausdrücklich auf das wohl krasseste Beispiel anzuwenden, wenn er in der Auseinandersetzung mit Putnam einräumt, daß er sich für seine Bevorzugung einer sozialliberalen gegenüber einer nationalsozialistisch-rassistischen Kultur auf einen objektiven Sachverhalt ebensowenig berufen kann, wie „eine Tierart, deren ökologische Nische durch eine andere Art gefährdet und die daher vom Aussterben bedroht ist, einen ‘Tatbestand’ ausfindig machen kann, um die Frage zu entscheiden, welche Art das Anrecht auf die fragliche 95 Nische besitzt“.79 Wir haben unseren Diskurs, die Nationalsozialisten hatten ihren. Daß wir die Gutmenschen sind und jene die Bösmenschen waren, versteht sich (für uns) von selbst (denn wir nennen „gut“, was unsere Normen erfüllt) und hat sich wahrscheinlich in Umkehrung für jene ebenso von selbst verstanden. Die auffälligste Asymmetrie zwischen ihnen und uns besteht darin, daß sie die Nische, in der sie (nach unseren Maßstäben) wüteten, 1945 räumen mußten und wir heute gut in ihr leben und überleben können. Wer, einmal hier angekommen, gleichwohl den Vorwurf des Kulturrelativismus von sich abhalten möchte, der sollte sich - Rorty tut es80 - zum Ethnozentrismus bekennen, d.h. sich nicht auf vermeintlich neutrale Vergleiche zwischen uns und den anderen einlassen, sondern darauf beharren, daß unsere westlich liberale Ethnie das unhintergehbare Maß der verbürgten Behauptbarkeit und somit der Wahrheit gewährt: Wir sind die Guten, gleichviel was die anderen dazu sagen. Soviel Verzicht auf theoretische Fundierung der eigenen moralischen Überzeugungen mag Putnam - verständlicherweise - nicht leisten. Doch wie kann er sich der Rortyschen Einladung mit Gründen entziehen? Der interne Realismus als eine dem wissenschaftlichen Diskurs immanente Überzeugung ist selbst dem Diskurs- und Kulturrelativismus ausgesetzt und daher auch kraftlos gegen dessen ethnozentristische Reformulierung. Was bewahrt den Pragmatismus vor dem Abgleiten in Relativismus bzw. Ethnozentrismus? Ein pragmatischer Realismus, der dann freilich kein interner Realismus sein dürfte, sondern eher dem ähneln müßte, was Putnam als Peirceschen Realismus bezeichnet hat? In diese Richtung scheinen Putnams theoretische Hoffnungen zu gehen. Der Peircesche Realismus, um die Erinnerung an ihn aufzufrischen, war die Überzeugung, daß unser Begriff der (objektiven) Wahrheit eine ideale Gesamttheorie zumindest als ein regulatives Ideal des Erkenntnisstrebens voraussetzt. Das Problem war, wie diese Überzeugung ohne Rückgriff auf den metaphysischen Realismus begründet werden kann. Putnam muß das Problem offenlassen, weil er, darin mit Rorty einig, am Pragmatismus festhalten will: wahr ist, was nützt bzw., etwas wohlwollender formuliert, was unseren Standards für verbürgte Behauptbarkeit entspricht. Auf dem gemeinsamen Boden des Pragmatismus aber muß er wie Rorty die Frage, was wahr und was real ist, von unseren wandelbaren Wünschen, Meinungen, Normen, Verifikationsverfahren usw. abhängig sein lassen und kann folglich keinen verbindlichen Standpunkt jenseits unserer faktischen Ethnie benennen, der so etwas wie ein regulatives Ideal des Nachforschens und Erkennens bereitstellen könnte. Der Peircesche Realismus bleibt daher ein bloßes antirelativistisches Dogma - wie im 79 „Putnam and the Relativist Menace“, in: The Journal of Philosophy 90 (1993), 443-461, S. 443f. (meine Übersetzung, AFK). 80 Ebd. S. 451. 96 Falle Quines der Naturalismus. Im Unterschied zum Naturalismus läßt sich etwas Ähnliches wie der Peircesche Realismus wirklich begründen. Aber dazu bedarf es einer Abkehr vom Pragmatismus. 4. Das Programm einer folgerungstheoretischen Semantik § 30. Der Sellarssche Naturalismus Bevor wir die Abkehr vom Pragmatismus vollziehen und zu der vierten Eckposition im Wahrheitsviereck übergehen bzw., da wir sie in früheren Paragraphen schon kennengelernt haben, zu ihr zurückkehren, wollen wir uns noch auf einen weiteren pragmatistischen Vermittlungsversuch zwischen Realismus und Antirealismus einlassen, der nicht zuletzt deshalb von besonderem theoretischem Interesse ist, weil er einer systematisch entfalteten Philosophie angehört, die in der Problemlösungs- und Aufsatzkultur der sprachanalytischen Tradition als ein schwer zugänglicher Solitär herausragt: der Philosophie Wilfrid Sellars’. Mit Quine haben wir bisher unter dem Naturalismus die methodologische These verstanden, daß es keine Erste Philosophie gebe, sondern die Philosophie, soweit sie theoriefähig sei, ins allgemeine Spektrum der (Natur-)Wissenschaften gehöre. Sellars hat einen anderen, sowohl konservativeren als inhaltlicheren Naturalismusbegriff. Er weiß sich gegen Quine insofern in der Nachfolge Carnaps, als er bestrebt ist, an der Analytisch-synthetisch-Unterscheidung und am Programm einer Philosophie als apriorischer Theorie möglicher Sprachen, einer Analyse möglicher syntaktisch-semantisch-pragmatischer formaler Systeme festzuhalten, und bezeichnet als Naturalismus eine Generalthese innerhalb seiner so verstandenen Ersten Philosophie, die man auf die Kurzformel bringen kann, daß alles Wirkliche wirkt. Da aber die Philosophie, wie Sellars sie versteht, keine faktischen, kausalen, sondern nur formale, begriffliche Zusammenhänge untersucht, wird durch den Naturalismus die Erkenntnis dessen, was der Fall ist, der Beobachtung, der Induktion und der naturwissenschaftlichen Theoriebildung zugewiesen. Wenn es dann, nebenbei bemerkt, auf dieser Seite zu Konflikten kommt, wenn uns etwa in vortheoretischer Naturbeobachtung Wasser als eine homogene, kontinuierliche Substanz erscheint und die wissenschaftliche Theoriebildung an deren Stelle ein Gefüge diskreter H2OMoleküle setzt, so hat grundsätzlich letztere die Wahrheit auf ihrer Seite. Diese These, die den Naturalismus spezifiziert, indem sie die wissenschaftliche Theoriebildung gegenüber der schlichten Erfahrung zur letzten Instanz und zum Maß dessen erklärt, was es gibt und was fak- 97 tisch der Fall ist (was wirklich ist bzw. wirkt), nennt Sellars den wissenschaftlichen Realismus.81 Das Faktische und das Formale erscheinen in dieser Konzeption als zwei disjunkte Themenbereiche, für deren einen die Erfahrung und in letzter Instanz die Naturwissenschaft und für deren anderen die apriorischen Disziplinen, also im wesentlichen die Mathematik, die Logik und die Philosophie zuständig sind. Unter dem Formalen darf demzufolge hier kein Aspekt der Faktizität verstanden werden, also nicht der Inbegriff allgemeiner Formen oder Strukturen dessen, was der Fall ist, sondern das Formale muß in einem ganz anderen Grunde wurzeln - in welchem, wenn nicht im Faktischen, ist eingedenk der grundlegenden Dichotomie von Sein und Sollen unschwer zu erraten: im Normativen. Das klingt einerseits vertraut, so als stimme Sellars im Ansatz und im Programm mit dem überein, was auch hier versucht wird. Deswegen soll andererseits um der Klarheit willen sogleich auf zwei wesentliche Unterschiede hingewiesen werden. Die Position, um deren Begründung es mir zu tun ist, ist erstens insofern zurückhaltender als die Sellarssche, als sie die Quinesche Kritik der Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Sätzen und der Annahme wohlumrissener Bedeutungen anerkennt und sich demgemäß nicht selbst als eine analytische Lehre empfehlen kann; und sie ist zweitens unbescheidener, weil sie, indem sie sich nicht als Begriffsanalyse und dennoch als Erste Philosophie versteht, sich für die Erkenntnis der Faktizität für mitzuständig erklärt (mit der Folge, daß sie eine strenge Arbeitsteilung in der Erkenntnis des Faktischen zu entwerfen hat, die den empirischen Wissenschaften eine in gewissem Sinn unbeschränkte Zuständigkeit zubilligt und Konflikte mit ihnen a priori ausschließt - ein Kunststück, das nicht leicht zu vollbringen und auch im vorigen, nämlich in § 26, zwar in Angriff genommen, aber noch keineswegs vollbracht ist). Der Quinesche Naturalismus ist, dank der Kritik des Intensionalen, nicht-reduktiv. Quine kann die Davidsonsche These der Anomalie des Mentalen unterschreiben, da er selber lehrt, daß sich Bedeutungsangaben ebensowenig wie Zuschreibungen mentaler Prädikate in naturwissenschaftlichen Diskurs übersetzen lassen. Der Sellarssche Naturalismus hingegen ist nicht-reduktiv in einem und reduktiv in einem anderen Sinn. Um diese beiden Sinne deutlich voneinander zu unterscheiden, ist es hilfreich, sich an die Unterscheidungen (a) zwischen Wahrheitsbedingungen und Evidenzkriterien und (b) zwischen strengen und losen Evidenz81 Vgl. Naturalism and Ontology, S. 2, wo Sellars sich als Naturalisten bezeichnet und ausführt, daß dieser Terminus unerachtet seiner methodologischen Konnotationen einen inhaltlichen Sinn gewonnen habe, „der, wenn er auch den wissenschaftlichen Realismus nicht einschließt, wenigstens nicht unverträglich mit ihm ist“ (meine Übersetzung, AFK). 98 kriterien zu erinnern. Die Wahrheitsbedingungen der Sätze sind, in reifizierender Redeweise, ihre Bedeutungen, d.h. die von ihnen bedeuteten Sachverhalte. Zwischen einen Satz und seine Wahrheitsbedingung kann nichts mehr kommen; wenn daher die Wahrheitsbedingungen z.B. von Sätzen über mentale Ereignisse in einer Begrifflichkeit formulierbar wären, die sich nur auf Verhaltensdispositionen bezöge, wäre der Geist auf Verhaltensdispositionen reduziert. Strenge Evidenzkriterien sind notwendige und hinreichende Bedingungen für die Wahrheit von Sätzen, ohne deren Wahrheitsbedingungen zu sein. Sie sind mit den Wahrheitsbedingungen streng korreliert, aber von ihnen unterschieden. (Beispiele aus dem Bereich normativer Prädikate folgen unten.) Lose Evidenzkriterien hingegen sind prinzipiell weder hinreichend noch notwendig für die Wahrheit derjenigen Sätze, für die sie als Kriterien fungieren, und stiften dennoch, anders als bloße Symptome, begriffliche Verbindungen zwischen jenen Sätzen und der Diskursebene, der sie selber angehören. (So ist das Schmerzbenehmen ein loses Evidenzkriterium für die Fremdzuschreibung von Schmerz, kein bloßes Schmerzsymptom.) Ausgerüstet mit diesen Erinnerungen an Bekanntes wenden wir uns jetzt wieder dem Sellarsschen Naturalismus zu. Er ist nicht-reduktiv bezüglich des normativen Aspektes, den Sellars seiner Grundkonzeption zufolge am Intensionalen und Intentionalen ausmacht. Betrachten wir irgendeine Bedeutungsangabe: (B) „and“ im Englischen bedeutet und. Weil mit dem Ausdruck „bedeutet“, wie unausdrücklich auch immer, auf die semantischen Regeln Bezug genommen wird, die für das Englische bzw. das Deutsche konstitutiv sind, ist die Aussage (B) nicht übersetzbar in einen naturwissenschaftlichen Satz, etwa in einen Satz, in dem nur von dem faktischen Verhalten englisch- bzw. deutschsprachiger Menschen die Rede wäre. Die Aussage (B) enthält einen irreduziblen normativen Überschuß, weil sie nicht nur davon handelt, was in einem bestimmten Sprachverhalten der Fall ist, sondern auch darauf anspielt, was in jenem Sprachverhalten der Fall bzw. nicht der Fall sein soll, welche Schlußfolgerungen etwa im Englischen aus Sätzen der Form „... and ---“ gezogen werden dürfen und welche nicht. Die Seite, nach welcher der Sellarssche Naturalismus reduktiv zu nennen ist, kann demgegenüber wie folgt erläutert werden. Für die Anwendung normativer Prädikate, etwa für die Vergabe von Zensuren oder Gütesiegeln, kann es strenge nicht-normative Evidenzkriterien geben, also Kriterien, die notwendige und hinreichende Bedingungen dafür sind, daß ein gegebenes normatives Prädikat am Platz ist. So kann man beispielsweise Eier oder Äpfel nach rein fakti- 99 schen Eigenschaften in Güteklassen sortieren: Dann und nur dann, wenn ein Ei die natürliche Eigenschaft XYZ hat, gehört es in die Güteklasse A (die höchste). Zu sagen, daß es die Eigenschaft XYZ hat (bzw. daß es XYZ ist), ist nicht dasselbe wie zu sagen, daß es in die Güteklasse A gehört. Die beiden Aussagen sind nicht synonym, obwohl sie relativ zu der einmal vollzogenen Festlegung von Güteklassen in dem Sinne logisch äquivalent sind, daß man jeweils von einer auf die andere schließen darf. Aber die eine der beiden Aussagen („Dieses Ei gehört in die Güteklasse A“) hat einen wertenden, empfehlenden Überschuß, welcher der anderen („Dieses Ei ist XYZ“) abgeht. Entsprechend verhält es sich der Sellarsschen Lehre zufolge mit semantischen Aussagen. Dafür, daß eine bestimmte Lautfolge im Verhalten einer Population die Rolle des Satzkonnektivs „und“ spielt, gibt es strenge nicht-semantische Evidenzkriterien. Bedeutungsangaben sind insofern, wie Sellars sich ausdrückt, „funktionale Klassifikationen“82. In der Angabe (B) etwa werden Vorkommnisse der Lautfolge „and“ als Ereignisse klassifiziert, die im Verhalten von Anglophonen diejenige kausale Rolle spielen, die „und“Vorkommnisse in unserem eigenen Verhalten innehaben. Das ist die nicht-normative Seite von (B), in der sich (B) aber nicht erschöpft; denn Bedeutungsangaben sind überdies normative Klassifikationen: daß „and“ im Englischen die Rolle von „und“ spielt, impliziert beispielsweise, daß, wer berechtigt ist, den englischen Satz α zu behaupten und den englischen Satz β zu behaupten, berechtigt ist, den englischen Satz ‘α and β’ zu behaupten. Reduktiv ist der Sellarssche Naturalismus nun insofern, als er die These einschließt, daß es für normative, speziell für semantische, Klassifikationen nicht-normative Kriterien gibt, die zwar nicht als Wahrheitsbedingungen der normativen Klassifikationen fungieren können (wegen des normativen Überschusses in deren Bedeutung), wohl aber als strenge (also notwendige und hinreichende) Evidenzkriterien. - Zwei Bemerkungen seien hier vorsorglich angefügt. (1) Lose Evidenzkriterien, d.h. solche, die (wie das öffentlich beobachtbare Verhalten für die Fremdzuschreibung mentaler Prädikate) keine notwendigen und hinreichenden Bedingungen darstellen, würden, an die Stelle der strengen Evidenzkriterien für normative Klassifikationen gesetzt, zwar zu einer nicht-reduktiven Position führen, die aber gemäß dem, was in § 26 zugunsten des starken Monismus, der die psychophysische Identität bestreitet, angeführt wurde, nicht mehr als Naturalismus im Sellarsschen (und auch nicht im Quineschen Sinn) angesehen werden könnte. Denn lose Evidenzkriterien zwingen zu einer unkonventionellen Einbettung dessen, wofür sie Kriterien sind (der Subjektivität), in den Bereich, dem sie selber zugehören 82 Vgl. „Meaning as Functional Classification“. 100 (die Natur), die vom Naturalismus nur einen sehr milden Physikalismus übrig läßt und der Ersten Philosophie eine Mitzuständigkeit für die Erkenntnis der Faktizität einräumt. (2) Ähnliches gilt auch für eine Position, mit der Robert Brandom bisweilen liebäugelt.83 Für die Vergabe von Zensuren kann es strenge Evidenzkriterien geben, die ihrerseits normativ sind: In einer Klausur etwa wird bis zu einer bestimmten Fehlerzahl die Note „sehr gut“, danach „gut“ usw. vergeben. Nun ist „Fehler“ wiederum ein normatives Prädikat, für dessen Anwendung es Kriterien geben kann, die ihrerseits auch wieder normativ sein mögen. Auf diese Weise werden normative Prädikate denkbar, für deren Zuschreibung es weder unmittelbar noch mittelbar strenge nicht-normative Kriterien gibt, die also bis in Grund und Boden normativ sind. Wenn semantische Prädikate von dieser Art wären, wären Bedeutungsangaben nicht mehr gedanklich zerlegbar in eine nicht-normative, funktionale Komponente und einen normativen Überschuß, sondern sie wären irreduzibel (auf Faktisches) in einem starken Sinn. Freilich hätten wir dann eine zur wissenschaftlichen Einteilung der Realität grundsätzlich quer stehende weitere Einteilungsart anzunehmen, wie es der anomale Monismus mit Blick auf die mentalen Prädikate tut. Da Sellars die mentalen Prädikate auf semantische zurückführt, indem er die Intentionalität als einen Sonderfall der Intensionalität, das Denken als einen Sonderfall des Sprechens - als „das innere Gespräch der Seele mit sich selbst, das ohne Stimme geschieht“84 - auslegt, und da er als das irreduzible Moment der semantischen Begrifflichkeit ihren normativen Charakter ansieht, würde man in seinem Sinne - und ebenso im Sinne Brandoms - sogar sagen müssen, daß die Anomalie des Mentalen nur eine Erscheinungsform der hier sichtbar gewordenen Anomalie des Normativen ist. Vermutlich würde man unter diesen Bedingungen wenigstens lose Evidenzkriterien für die Zuschreibung normativer Prädikate anerkennen müssen, was ihrem anomalen Charakter ja keinen Abbruch täte, was aber zu der unter (1) skizzierten Problematik zurückführen würde. Unabhängig davon aber stünden die Vertreter der auf den normativen Diskurs gemünzten Anomaliethese vor der Wahl, den Sinn und Zweck der normativen, nomologisch irreduziblen Einteilungsart der Realität auf naturalismusverträgliche Weise anzugeben oder den Naturalismus preiszugeben. Ersteres dürfte unmöglich sein, siehe § 26. Also müßte man eine ursprünglich normsetzende Instanz - irreduzible Subjektivität oder etwas dergleichen - als real und als nicht im Rahmen einer naturwissenschaftlichen Weltbeschreibung thematisierbar annehmen und sich damit dem starken Monismus annähern, mit der Folge, daß der Sellarssche Naturalismus mehr oder weniger in diejenige Position kollabieren würde, die hier vertreten wird. 101 Aus diesen Gründen ist es ganz im Sinne seines Erfinders, wenn die reduktive Seite des Sellarsschen Naturalismus nicht unterschlagen wird. Andererseits ist dies die Seite, nach der er schutzlos der Quineschen Argumentation preisgegeben ist; baldiger Schiffbruch scheint hier unvermeidlich. Doch sehen wir vom kommenden Untergang eine Weile ab zugunsten konstruktiverer, wenn auch letztlich vergeblicher Anstrengungen. Dazu unternehmen wir im folgenden einen kleinen Ausflug in die jüngere Philosophiegeschichte und betrachten mit Carnap einen Vorläufer der Sellarsschen Semantik. § 31. Carnaps Syntaktizismus und das Programm einer folgerungstheoretischen Semantik In einer Januarnacht im Jahr 1931 lag Carnap krank im Bett und hatte eine Vision. Er sah, gewiß zu seiner Erleichterung, die anstößige, zur Metaphysik einladende Semantik gleichsam in der Syntax verschwinden und brachte am nächsten Morgen, noch im Fieber, 44 Seiten Kurzschrift unter dem Titel „Versuch einer Metalogik“ zu Papier.85 Daraus enstand in der Folgezeit die Logische Syntax der Sprache, die 1934 erschien und deren Grundgedanke es ist, daß die Bedeutung eines Ausdrucks sein Beitrag zum inferentiellen Status der Sätze ist, in denen er vorkommt. Lateinisch „inferre“ bedeutet (u.a.) schließen; unter dem inferentiellen Status eines Satzes ist demgemäß sein Platz in dem Netz von Schlußfolgerungen zu verstehen, die eine gegebene Sprache zu ziehen erlaubt. Carnap hoffte, durch eine systematische Ausarbeitung dieser Intuition die semantische Begrifflichkeit glücklich umgehen bzw. syntaktisch umdeuten und theoriefähig machen zu können. Doch als er einige Jahre später Tarskis Verfahren der Definition der Wahrheit für formale Sprachen kennenlernte, sah er die Semantik auf diesem anderen Wege ausreichend legitimiert und verlor das Interesse an seinen syntaktizistischen Studien. Sellars hingegen blieb skeptisch gegenüber der philosophischen Bedeutung Tarskischer Wahrheitsdefinitionen und dem Syntaktizismus in gewissem Sinne treu, indem er ihn zugleich beinahe bis zur Unkenntlichkeit und beinahe bis zur Plausibilität fortentwickelte. Ich möchte nun zunächst drei grundlegende Ideen aus der Logischen Syntax der Sprache vorstellen und dann die Sellarssche Fortentwicklung des Syntaktizismus hin zu einer folgerungstheoretischen Semantik im Umriß skizzieren. Ich beginne mit der Grundthese des Syntaktizismus überhaupt. Sie besagt, negativ formuliert, daß der Inhalt oder Sinn - in unserer Terminologie: die sprachliche Bedeutung - eines Satzes 83 Vgl. Making It Explicit, S. 638. Platon, Sophistes, 263e. 85 Vgl. Carnap, Mein Weg in die Philosophie, Stuttgart 1993, S. 83. 84 102 nicht außerhalb der Sprache zu suchen ist. So ist die Bedeutung von „Es regnet“ nicht der Regen oder irgendein anderer außersprachlicher Sachverhalt, sondern - jetzt gehen wir zur positiven Formulierung über - der inferentielle Status dieses Satzes in der deutschen Sprache. Carnap bringt dies auf den Begriff, indem er den Gehalt eines Satzes S als die Klasse der Sätze definiert, die aus S folgen.86 Der Gehalt eines Terminus ergibt sich dann in vertrauter Manier als sein Beitrag zu dem Gehalt der Sätze, in denen er vorkommt. Ungeschützt und für sich genommen klingt diese Lehre, die Sellars von Carnap und Brandom von Sellars, jeweils unter Umarbeitung der Vorgängerposition, übernimmt, reichlich abwegig. Wir sind überzeugt davon, daß die Bedeutungen unserer Sätze und Termini, wenn man einmal von den logischen Partikeln selber („nicht“, „und“, „alle“ usw.) absieht, nicht allein durch die Logik bestimmt werden, jedenfalls nicht allein durch die Syllogistik bzw. die Aussagen- und Prädikatenlogik und deren Anbauten (Modallogik, deontische Logik und ähnliches). Das war auch Carnap klar, und so machte er ein theoretisches Angebot, das von Sellars und dann auch von Brandom aufgegriffen wurde. Damit komme ich zur nächsten, der zweiten Grundidee. Die logische Syntax einer Sprache enthält deren Formbestimmungen und Umformungsbestimmungen. Die Formbestimmungen legen fest, was eine wohlgeformte Formel (ein Satz) ist. Sie bilden die Syntax im engen Sinn. Die Umformungsbestimmungen hingegen sind die Folgerungsregeln oder Schlußregeln. Sie legen fest, von welchen Sätzen man zu welchen Sätzen übergehen darf. Z.B. gibt es eine bekannte aussagenlogische Umformungsbestimmung, die den Übergang von „p“ nach „p oder q“ erlaubt. Zu den Umformungsregeln oder -bestimmungen einer Sprache gehören auch allfällige Grundsätze (Axiome). Sie erlauben es, zu bestimmten Sätzen (eben den Grundsätzen) unter beliebigen Bedingungen überzugehen. So könnte man „p oder nicht p“ als aussagenlogisches Axiomenschema unter die Umformungsbestimmungen für eine Sprache aufnehmen. Andererseits kann man auch auf Axiome verzichten und statt ihrer nur Folgerungs- oder Schlußregeln zulassen. Grundsätze (oder Axiome) - das ist die angekündigte zweite Idee - müssen aber nicht auf die Logik beschränkt sein; sie können auch aus dem Bereich der einzelnen Wissenschaften kommen. Carnap, das Ideal der Einheitswissenschaft vor Augen, denkt dabei an die Physik und unterscheidet demgemäß zwischen logischen und physikalischen Grundsätzen. Da man andererseits Grundsätze gegen Schlußregeln eintauschen kann (während man Schlußregeln auf je- 86 Vgl. Logische Syntax der Sprache, S. 38, 90, 128. 103 den Fall braucht), kann man allgemein nach folgendem Schema zwischen logischen und physikalischen Bestimmungen (L- und P-Bestimmungen) unterscheiden:87 Umformungsbestimmungen (a) Grundsätze (b) Schlußregeln L-Bestimmungen: L-Grundsätze L-Schlußregeln (formale Regeln) P-Bestimmungen: P-Grundsätze P-Schlußregeln (inhaltliche Regeln) Sellars zieht es vor, statt von logischen und physikalischen, von formalen und inhaltlichen Schlußregeln zu sprechen, um auszudrücken, daß Schlußregeln als solche zur Logik gehören und daß es neben der formalen eben auch eine inhaltliche Logik gibt, die das Netz unserer empirischen Begriffe bildet (bzw. als logische Theorie nachbildet), das die Wissenschaften fortspinnen. Inhaltliche Schlußregeln, um ein paar Beispiele zu geben, erlauben Übergänge von: zu: a ist überall rot a ist nirgends grün a ist nordwestlich von b b ist südöstlich von a a ist gößer als b b ist kleiner als a es blitzt gleich wird es donnern Wenn man bereit ist, sich auf den Gedanken einer inhaltlichen Logik einzulassen, wird man dem Carnapschen Syntaktizismus bzw. dem Sellarsschen und Brandomschen Inferentialismus einen gewissen Zuwachs an Glaubwürdigkeit wohl zubilligen. Nun zur dritten Carnapschen Idee. Daß die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks, also das, was Frege seinen Sinn nannte und was Carnap später seine Intension nennen wird88, sich folgerungstheoretisch erfassen lasse, mag uns als eine vergleichsweise vernünftige Hoffnung erscheinen; doch für die Seite der Referenz bzw. der Extension werden zunächst unsere Zweifel überwiegen, da wir unter der Referenz ja gerade den Bezug eines Ausdrucks auf außersprachliche Gegenstände zu verstehen gewohnt sind. Wir dürfen daher auf die folgerungstheoretische Erklärung des Gegenstandsbezugs gespannt sein - auf die Rückführung von Referenz auf Inferenz -, die der Inferentialist uns schuldet. 87 88 Ebd. § 51. In Bedeutung und Notwendigkeit, § 5. 104 Dieses und verwandte Probleme behandelt Carnap mit einer Unterscheidung zweier Redeweisen, der formalen und der inhaltlichen Redeweise.89 Die inhaltliche Redeweise ist verschoben, undurchsichtig - aber harmlos und zulässig, wenn man dies weiß und solange man es in Rechnung stellt. Da man es aber leicht vergißt, zumal in der Philosophie, ist die formale, nämlich die explizit syntaktische Redeweise im allgemeinen vorzuziehen. Die inhaltliche Redeweise verkleidet syntaktische Sätze als Objektsätze. Scheinbar ist also von außersprachlichen Gegenständen die Rede, obwohl dem eigentlichen Gehalt nach nur Syntaktisches verhandelt wird. Ich gebe ein paar Carnapsche Beispiele wieder: 90 Inhaltliche Redeweise Formale Redeweise (quasi-syntaktische Sätze, (die zugeordneten syntaktischen Pseudo-Objektsätze) Sätze) Der Vortrag handelte von Babylon. In dem Vortrag kam ‘Babylon’ (oder eine [P-]synonyme Bezeichnung) vor. Das Wort ‘Tagesgestirn’ ‘Tagesgestirn’ ist [P-]synonym mit bezeichnet die Sonne. ‘Sonne’. Freundschaft ist eine Beziehung. ‘Freundschaft’ ist ein Beziehungswort. Der Mond ist ein Ding. ‘Mond’ ist ein Dingwort. Es versteht sich, daß Carnap es sich angelegen sein läßt, die entsprechenden syntaktischen Kategorien - Synonymie, P-Synonymie (also Synonymie gemäß den P-Regeln), Beziehungswort, Dingwort usw. - ohne Rückgriff auf Sprache-Welt-Beziehungen zu gewinnen. Gehen wir nun zu der Sellarsschen Version des Inferentialismus über, indem wir vier wesentliche Veränderungen betrachten, die Sellars am Carnapschen Programm vorgenommen hat. Erstens erklärt Sellars P-Regeln bzw. inhaltliche Schlußregeln für nicht-optional, d.h. für unverzichtbar in jedem Regelsystem, das als Sprache ernstgenommen werden können soll. Was ein Begriff ist, ist er demnach allein dank seiner Rolle im Schließen. Das mag, da schon Carnap P-Regeln immerhin zuließ, als eine vergleichsweise konservative Ergänzung erscheinen; aber Sellars verbindet mit ihr eine weitreichende wissenschaftstheoretische These: Induktive Verallgemeinerungen („Wenn es blitzt, dann donnert es alsbald“) wie auch hypothetisch-deduktive Theorien dienen der Gewinnung inhaltlicher Schlußregeln. Naturgesetze sind dem89 Die inhaltliche Redeweise heißt auf Quines Vorschlag im Englischen „material mode of speech“, und manchmal wird das inzwischen als materiale Sprechart (oder ähnlich abwegig) ins Deutsche rückübersetzt. 90 Vgl. Logische Syntax, S. 215 und 224. 105 nach Schlußberechtigungen, also ihrer Oberflächengrammatik zum Trotz keine deskriptiv-objektbezogenen, sondern normativ-sprachbezogene Sätze. Sie sind, in Carnaps suggestiver Terminologie, keine echten Objektsätze, sondern metasprachliche Sätze in inhaltlicher Redeweise (und das, meint Sellars, erklärt auch sehr gut ihren modalen Charakter: die Naturnotwendigkeit entpuppt sich so als ein spezifischer Fall sprachlicher Normativität). Nun die zweite Änderung. Nehmen wir an, ein italienischer Vortrag habe von Babylon gehandelt. Da in dem Vortrag weder das deutsche Wort „Babylon“ noch ein synonymes deutsches Wort vorkam (sondern nur italienische Wörter), kann der Gegenstandsbezug hier nicht ohne weiteres nach Carnapschem Muster in die (deutsche) Sprache eingeholt werden. Sellars beruft sich daher auf zwischensprachliche oder interlinguale Synonymien, die in funktionaler Äquivalenz gründen sollen - so soll „Babilonia“ im Italienischen dem deutschen Wort „Babylon“ funktional äquivalent sein -, und tritt damit in Gegensatz zu Quine, der an eine interlinguale Synonymie mit, wie wir gesehen haben, sehr guten Gründen nicht glaubt. (Doch lassen wir diesen Gegensatz vorerst auf sich beruhen.) Sellars entwickelt sogar eine eigene Zitierkonvention - Anführungspunkte -, um anzuzeigen, daß ein Ausdruck nur hinsichtlich seiner funktionalen Rolle, nicht hinsichtlich seiner Laut- oder Schriftgestalt angeführt wird. Diese Konvention erlaubt es ihm zu sagen, daß, da ein italienisches „Babilonia“-Vorkommnis (nicht minder als ein deutsches „Babylon“-Vorkommnis) ein • Babylon• -Vorkommnis ist, in dem betreffenden Vortrag entweder • Babylon• vorkam oder doch ein Wort, das mit • Babylon• in einem näher zu erläuternden Sinn extensional äquivalent ist. Eindeutig nicht mehr konservativ, sondern rahmensprengend sind die dritte und die vierte Erweiterung: Sellars nimmt drittens an, daß zu einer Sprache im Vollsinn neben formalen und inhaltlichen Schlußregeln auch sogenannte Spracheintritts- und -austrittsregeln gehören, und viertens, daß eine Sprache im Vollsinn die begrifflichen Mittel bereitstellt, um ihre konstitutiven Regeln auf einer normativen pragmatisch-semantisch-syntaktischen Metaebene explizit zu formulieren. (Die Sprachregeln sind, mit Robert Brandom gesprochen - vgl. dessen Buchtitel „Making It Explicit“ -, nicht nur implizit im Verhalten der Sprecher, sondern können durch die Sprecher in ihrer Sprache auch explizit gemacht werden.) Mit der dritten Erweiterung kommt Sellars unserer Intuition, daß die Semantik nicht auf Syntax reduzierbar ist, ein gutes Stück weiter entgegen, als Carnap es vermochte. Es geht ihm ja anders als diesem auch gar nicht darum, die Semantik auf die Syntax zu reduzieren, sondern nur (obwohl das schwer genug ist) darum, die Semantik einschließlich ihres extensionalen 106 Teils folgerungstheoretisch zu explizieren. Die dritte Erweiterung nun betrifft mit dem Wahrnehmen und dem Handeln gerade die beiden Schnittstellen von Sprache und Welt, und besagt, daß auch an den Schnittstellen Sprachregeln gelten, die Sellars allerdings nicht als Schlußregeln im engen Sinn bezeichnen möchte, weil sie im einen Fall nichtsprachliche Ausgangspositionen und im anderen Fall nichtsprachliche Endpositionen haben, während ein Schluß immer von einer sprachlichen Position zu einer sprachlichen Position führt. Die Sprachregeln im Zusammenhang mit der Wahrnehmung heißen daher Spracheintrittsregeln; sie fordern und rechtfertigen Übergänge wie z.B. den zu dem sprachlichen Zustand „Dies ist rot“ angesichts eines roten Gegenstandes (bei Tageslicht). Für das Handeln gelten demgegenüber Sprachaustrittsregeln, die den Übergang von einem sprachlichen (begrifflichen) Zustand, z.B. von „Ich will jetzt meine rechte Hand heben“, zu der entsprechenden Körperbewegung legitimieren. Und da die Ein- und Austrittsregeln nicht bloß sprachliche Typen, sondern Exemplare, und zwar als solche, betreffen, also einzelne Äußerungen, die von bestimmten Sprechern zu bestimmten Gelegenheiten erzeugt werden dürfen (z.B. ein „Dies ist rot“-Exemplar bei Gelegenheit eines roten Gegenstandes), ist hier, weil die Semantik von den Exemplaren abstrahieren und sich auf die Betrachtung von Typen beschränken kann, sogar nicht nur eine semantische, sondern auch eine pragmatische Dimension im Spiel. Deswegen wird mit der bereits erwähnten vierten Erweiterung auch eigens eine normative Metasprache eingeführt, die neben der syntaktischen und der semantischen auch eine pragmatische Dimension einschließt. Die Syntax (im erweiterten Sinn, der bereits Umformungen, also Folgerungen einschließt) normiert die Formen und Umformungen sprachlicher Typen. Die Semantik untersucht den Sinn und den Bezug sprachlicher Typen. Beide Disziplinen abstrahieren insofern von sprachlichen Exemplaren als solchen. Die Pragmatik jedoch hebt diese Abstraktion auf und expliziert diejenigen Sprachregeln, welche die Hervorbringung sprachlicher Exemplare durch Sprecher in gegebenen Situationen betreffen. Insofern ergibt sich im Rahmen der Sellarsschen Sprachphilosophie die Semantik als Abstraktion in Beziehung auf die Pragmatik und die Syntax als abermalige Abstraktion in Beziehung auf die Semantik. Der theoretische Charme des Syntaktizismus, zumal nachdem er den Weg von Carnap nach Sellars zurückgelegt und die Gestalt einer folgerungstheoretischen Semantik angenommen hat, die in normativer Pragmatik fundiert ist, besteht wohl nicht zuletzt in der Art und Weise, wie durch ihn die Philosophie der Sprache in die Rolle der Ersten Philosophie erhoben wird. In der klassischen Philosophie der Neuzeit, von Descartes bis an die Schwelle des deutschen Idealismus, hatte die Theorie des Bewußtseins und der Erkenntnis (die Philosophie des Men- 107 talen zusammen mit der Epistemologie) diesen Rang innegehabt. Die Klassiker der Moderne wurden (und werden noch heute) verdächtigt, die Sprache als eine nachgeordnete Leistung des Bewußtseins aufgefaßt und dem Bewußtsein zugetraut zu haben, daß es in ursprünglicher Intentionalität auf Reales bezogen sei, während die Sprache bloß der äußeren Darstellung, dem Ausdruck dieses ursprünglichen Bezuges diene. Das Sprechen wäre dann eine Symbolisierung des Denkens ungefähr so, wie die Buchstabenschrift eine Symbolisierung des Sprechens ist. Den Primat hätte das Denken, und es wäre im Prinzip autark. Soweit eine gängige Meinung über die traditionelle philosophische Ansicht. Mit dem syntaktizistischen Programm wird nun die Sprache als primär und als autark gesetzt. Daran hält Sellars fest. Die Intensionalität (mit „s“), also die Bedeutungshaftigkeit sprachlicher Ausdrücke, ist für ihn der Intentionalität (mit „t“), also ihrer Gerichtetheit auf Gegenständliches, nicht nachgeordnet, ja nicht einmal gleichgeordnet, sondern vielmehr vorgeordnet. Sellars kehrt, mit anderen Worten, die Prioritätsverhältnisse um und erklärt die Intentionalität zu einem Sonderfall der Intensionalität, mit der Folge, daß auch die Grundbegriffe der Intentionalität bzw. des Geistigen (wie etwa der Begriff der mentalen Repräsentation oder der Vorstellungen) im Rahmen der folgerungstheoretischen Semantik eingeführt werden sollen und müssen. Da die Semantik ihrerseits in Pragmatik gründet, wird schließlich die philosophische Pragmatik zur Ersten Philosophie. Was sie irreduzibel machen soll gegenüber empirischen und naturwissenschaftlichen Theorien, ist, wie schon im vorigen Paragraphen gesagt wurde, ihr normativer Charakter. Die Umformungsbestimmungen des Sprechens und Denkens und die Ein- und Austrittsbestimmungen sind echte Regeln bzw. Normen, nicht bloß allgemeine Beschreibungen dessen, was der Fall ist im Denken und Sprechen einer gegebenen Sprachgemeinschaft. Es läßt sich also folgendes Gesamtbild der Sellarsschen philosophischen Konzeption umreißen: Die philosophische, irreduzibel normative Pragmatik ist die philosophische Grundlagendisziplin. In sie eingebettet finden wir die philosophische Semantik, und eingebettet in diese die weiteren philosophischen Disziplinen, von der logischen Syntax über die Philosophie des Geistes und die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie bis zur Ontologie und weiter bis zur Handlungstheorie und Ethik. § 32. Wahrheit als semantische Behauptbarkeit und die Bildtheorie des elementaren Satzes Auch die Aufbietung von inhaltlichen Schlußregeln sowie von Sprachein- und -austrittsregeln macht die folgerungstheoretische Semantik noch nicht zu einer realistischen Semantik. Nomi- 108 nell könnte sie dem Realismus in der Bedeutungstheorie vielleicht dadurch Rechnung tragen, daß sie den inferentiellen Status eines Satzes, den sie als seine Bedeutung ausgibt, seine Wahrheitsbedingung nännte, um Anschluß an die realistische Programmformel zu gewinnen, der zufolge die Bedeutungen der Sätze ihre Wahrheitsbedingungen sind. Zwar geriete die Wahrheit selber durch dieses Manöver in nicht-realistisches Fahrwasser; aber das kann einen Inferentialisten und kann insbesondere Sellars schon deswegen nicht schrecken, weil er Wahrheit ohnehin gut pragmatistisch als verbürgte Behauptbarkeit faßt, spezifischer als Behauptbarkeit, die verbürgt ist gemäß denjenigen Regeln, durch die zugleich die Bedeutungen unserer Sätze und Wörter festgelegt werden, d.h. gemäß den (pragmatisch-)semantischen Regeln, die, wie wir sahen, im wesentlichen Schlußregeln sind. In diesem Sinne identifiziert Sellars Wahrheit mit semantischer Behauptbarkeit. Er folgt damit der dem Syntaktizismus natürlichen Tendenz, Wahrheit in Beweisbarkeit bzw., da es Beweisbarkeit außerhalb der Mathematik schwerlich gibt, in Begründbarkeit aufzulösen und den realistischen Aspekt der Wahrheit zu vernachlässigen oder zu verkennen. Denn daß wir gemäß bestimmten Regeln sprachlich auf nichtsprachliche Situationen (in der Wahrnehmung), sprachlich auf sprachliche Situationen (im Schließen) und nichtsprachlich auf sprachliche Situationen (im Handeln) reagieren und daß wir in ihrerseits regelgeleiteten Verfahren (Induktion und Theoriebildung) neue innersprachliche Übergangsregeln (Schußregeln) aufstellen, gewährleistet für sich genommen noch keineswegs, daß die sprachlichen Positionen, zu denen wir auf diese Weise - als zu semantisch behauptbaren, d.h. relativ zu unseren Regeln gerechtfertigten Positionen - kommen, im großen und ganzen wahr sind. Sellars erkennt auch durchaus an, daß es weiterer theoretischer Anstrengungen bedarf, um die begriffliche Kluft zwischen der semantischen Behauptbarkeit in seinem Sinn und der Wahrheit, die wir meinen, d.h. der realistisch verstandenden Wahrheit, zum Schwinden zu bringen. Zu diesem Zweck entwirft er eine Bildtheorie des elementaren Satzes.91 Den ersten Schritt auf dem Weg dahin bildet die These, daß Wahrheit ein generischer Begriff, d.h. der Begriff einer Gattung ist, die verschiedene Arten hat, darunter die faktische Wahrheit, die mathematische Wahrheit, die moralische Wahrheit, die philosophische Wahrheit und andere mehr. Für die Gattung ist die pragmatische Wahrheitskonzeption maßgebend; aber - und das ist der zweite und entscheidende Schritt - durch eine Unterart der Art faktische Wahrheit soll ein realistischer, nämlich ein korrespondenztheoretischer Farbtupfer ins Spiel kommen, 91 Vgl. dazu Science and Metaphysics, Kapitel V („Picturing“), und Naturalism and Ontology, Kapitel 5 („After Meaning“). 109 der die Gattung insgesamt realistisch einfärbt. Anders und ausführlicher gesprochen, lenkt Sellars, um die semantischen Regeln an den realistischen Aspekt der Wahrheit binden und somit unseren realistischen Intuitionen Rechnung tragen zu können, unsere Aufmerksamkeit zunächst auf die faktische (nicht-normative, rein objektsprachliche) Wahrheit und sodann auf eine Unterart dieser Art, nämlich auf die Wahrheit nicht-normativer singulärer Sätze, und lehrt, daß diese Unterart der Wahrheit ihr sachliches Fundament in einer Abbildbeziehung zwischen den Sätzen und den Objekten hat, auf die in ihnen Bezug genommen wird.92 Ein nicht-normativer singulärer Satz ist also wahr (semantisch behauptbar) dann und nur dann, wenn er ein korrektes Bild (gemäß einer sehr komplizierten Projektionsmethode: der Sprache als ganzer) des Objektes ist, auf das in ihm Bezug genommen wird. Aristoteles pflegt die Stoff-Form-Zusammensetzung der eigentlichen materiellen Substanzen der Pflanzen, Tiere und Menschen - zu erläutern anhand uneigentlicher Substanzen, anhand der Artefakte nämlich, die wir verstehen, weil wir sie selber herstellen. Ebenso erläutert Sellars das sprachliche Abbilden, das ihm die Grundform allen Abbildens ist, an nachgeordneten Formen, über die wir uns verständigen können, weil wir die Grundform, eben die Sprache, schon beherrschen.93 Eine solche nachgeordnete Weise des Abbildens ist z.B. die Kartographie, das Herstellen und Benutzen von Landkarten. Man kann Landkarten auf die sprachliche Abbildung als ihr Fundament zurückführen, indem man sie als Gefüge singulärer Sätze auffaßt und dementsprechend in Wortsprache übersetzt. Beispielsweise kann man eine bestimmte kleine rote Fläche auf einer Karte von Südwestdeutschland durch den Namen „Tübingen“ übersetzen (der vielleicht schon als intendierter Übersetzungsvorschlag des Kartenherstellers neben der roten Fläche geschrieben steht). Ebenso kann man eine bestimmte blaue Linie durch „Neckar“ übersetzen. Aber die Karte enthält nicht nur Namen, sondern zugleich Sätze. Weil die blaue Linie die rote Fläche berührt, kann man das Ganze aus Fläche und Linie übersetzen durch „Tübingen liegt am Neckar“. Weil die rote Fläche eine bestimmte Größe hat, kann man • sie übersetzen durch „Tübingen ist eine Kleinstadt“. Die rote Fläche ist also Name ( Tübingen• ) und Satz (• Tübingen ist eine Kleinstadt• ) zugleich. 92 Ein wichtiger Unterschied zur Wittgensteinschen Bildtheorie des Satzes in der Logisch-Philosophischen Abhandlung ist damit genannt: Für Wittgenstein sind Sätze logische Bilder von Tatsachen, nicht von Dingen, und müssen, um Tatsachen abbilden zu können, selber Tatsachen sein. Für Sellars sind nicht-normative singuläre Sätze logische Bilder von Objekten und müssen als solche selber einzelne Objekte - Gebilde aus Schallwellen, Tinte, Druckerschwärze usw. - sein. 93 „Hier wie auch anderswo fällt der Primat in der Seinsordnung nicht mit dem Primat in der Ordnung des Verstehens zusammen.“ (Sellars, Naturalism and Ontology, S. 132; meine Übersetzung, AFK) 110 Sellars beherzigt diese Lehre, indem er sie auf die Grundform des Abbildens, die sprachliche, anwendet: Unsere Elementarsätze, also die singulären Sätze unseres nicht-normativen, objektbezogenen Diskurses, sind Namen in einer je bestimmten Modifikation. Die Namen der Kartensprache werden durch Farb- und Formgebung zu Sätzen modifiziert, die Namen der Wortsprache durch das Hinzufügen bestimmter Hilfszeichen, der Prädikate. Man könnte aber in der Schriftsprache auch verschiedene Schrifttypen die Rolle der Prädikate übernehmen lassen: „Sokrates“ und „Platon“ in Normalschreibung seien die Namen der beiden bekannten griechischen Philosophen. Nun können wir z.B. folgende Festlegungen treffen: Wenn wir einen Namen in Kleinbuchstaben (Großbuchstaben) setzen, modifizieren wir ihn zu einem Satz, den wir sonst durch die Hinzufügung von „ist klein“ (bzw. „ist groß“) erhalten. Wenn wir einen Namen kursiv setzen, modifizieren wir ihn zu einem Satz, den wir sonst durch Hinzufügung von „ist weise“ erhalten. „PLATON“, „sokrates“, „Platon“ und „Sokrates“ sind dann Elementarsätze. Und wir können je zwei dieser Sätze gleichsam ineinander schieben, indem wir schreiben: „PLATON“ bzw. „sokrates“. Wir können sogar diese beiden Sätze noch ineinanderschieben (und damit die Kartensprache in Wortsprache noch besser nachahmen), wenn wir folgendes vereinbaren: Indem wir einen Namen über einen Namen schreiben, modifizieren wir die Namen zu einem Satz, den wir sonst erhalten, wenn wir den ersten Namen links und den zweiten rechts von „ist älter als“ schreiben. Gegeben diese Festlegungen, ist folgendes Schriftgebilde: sokrates PLATON ein Gefüge sinnvoller Elementarsätze, dem wir entnehmen können, daß Sokrates klein und weise, Platon groß und weise und Sokrates älter als Platon ist. Das nachgeordnete kartographische Abbilden, dem wir die Schriftsprache hier anzugleichen versuchten, gibt die Logik des vorgeordneten sprachlichen Abbildens besser zu erkennen, als dieses selbst es vermag. Denn die Not, daß uns im Sprechen nicht genügend Sprechstile zur Verfügung stehen, um Namen zu Elementarsätzen zu modifizieren (auch wenn wir Namen in verschiedenen Tonlagen sängen, würde uns dies, Halbtöne eingerechnet, nicht allzu viele Ausdrucksmöglichkeiten bescheren), hat uns erfinderisch gemacht und uns Hilfszeichen zur Modifikation von Namen - Prädikate - ersinnen lassen, die sich freilich, an Namen angefügt, nicht wesentlich anders anhören als diese und uns daher einladen, ihre semantische Rolle nach dem Muster der Rolle der Namen aufzufassen. Die Wortsprache erkauft den Ausdrucksreichtum, den die gleichmacherische Linearität von Namen und Prädikaten gewährt, durch eine 111 Verdunklung der Logik des Abbildens. Sie ist, zumindest der Sellarsschen Diagnose zufolge, logisch undurchsichtig, weil sie Prädikate als Termini erscheinen läßt, während sie in Wahrheit synkategorematische (unselbständig mitlaufende) Ausdrücke und den logischen Partikeln darin vergleichbar sind, daß sie nichts repräsentieren. Die allgemeine semantische Rolle eines Prädikates ist es also, ein Hilfszeichen für die Modifikation singulärer Termini zu Sätzen zu sein. Seine spezifische Rolle, d.h. seine spezifische termmodifizierende Kraft, ergibt sich aus den inhaltlichen Schlußregeln, die für es relevant sind. Dies ermöglicht Sellars einen konsequenten Nominalismus, der Eigenschaften und Sachverhalte, die er durch die Vordertür verbannt, durch keine Hintertür wieder hereinlassen muß. Sätze über Eigenschaften sind (ich verkürze die ausgefeilte Sellarssche Analyse auf wenig mehr als ihre Carnapschen Wurzeln) Pseudo-Objektsätze in inhaltlicher Redeweise, in denen, wenn man sie in normativ-metasprachlichen Klartext übersetzt, von den semantischen Rollen von Prädikaten die Rede ist. Die Eigenschaft der Schönheit beispielsweise ist die semantische Rolle • schön• , und alles letztlich Reale an dieser Rolle sind die vielen Vorkommnisse von • schön• , die von verschiedenen Personen zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen Sprachen verlautbart oder auch nur - sozusagen in mentalesischem Dialekt - denkend vollzogen werden. Damit schlägt Sellars dem Universalienrealismus die Vordertür zu; und wenn er nun er an die Hintertür klopft und mit der Begründung Einlaß begehrt, die allgemeine semantische Rolle eines Prädikates, von den spezifizierenden inhaltlichen Folgerungsregeln einmal abgesehen, sei es doch gerade, eine Eigenschaft zu bezeichnen, so kann Sellars entgegnen, Prädikate bezeichneten nicht, sondern dienten dazu, bezeichnende Ausdrücke zu Sätzen zu modifizieren. Wenn es Eigenschaften nur als sprachliche bzw. begriffliche Rollen gibt und alles Wirkliche und Wirkende an ihnen einzelne sprachliche und geistige Vorgänge sind, dann wird man dasselbe auch von Sachverhalten und von Tatsachen sagen müssen bzw. dürfen. So deutet, um ein Beispiel zu geben, Sellars den Sachverhalt, daß Sokrates ein Mensch ist, als die semantische Rolle • Sokrates ist ein Mensch• . Der grundsätzliche Unterschied zwischen Eigenschaften und Sachverhalten besteht nur darin, daß prädikative Rollen wie • schön• , • groß• , • dreieckig• usw. ebenso wie andererseits rein designative Rollen (• Sokrates• , • Platon• , • Tübingen• usw.) keine Positionen sind, die im Sprechen und Denken (im „Sprachspiel“) eingenommen werden können, während propositionale Rollen wie • Sokrates ist ein Mensch• solche Positionen sind. Bezüglich ihrer nämlich stellt sich die Frage der semantischen Behauptbarkeit (der Wahrheit), d.h. die Frage, ob ein Sprecher gemäß den semantischen Regeln berechtigt ist, diese Position 112 einzunehmen (den entsprechenden Satz zu behaupten) oder nicht. Einen Sachverhalt eine Tatsache zu nennen, läuft dann einfach darauf hinaus, sich auf die semantische Behauptbarkeit, also Wahrheit, der entsprechenden Position festzulegen. Die Tatsache, daß Sokrates ein Mensch ist, ist demzufolge nichts anderes als die semantische Behauptbarkeit der Sprachposition • Sokrates ist ein Mensch• . Wenn oben, in § 28, mit Strawson gegen die Korrespondenztheorie der Wahrheit eingewendet wurde, daß die weltseitigen Relate der Übereinstimmungsrelation, die Tatsachen, nicht unabhängig von den sprach- und denkseitigen Relaten, den Meinungen und ihren Äußerungen, angegeben werden können, so kann sich Sellars diesem Einwand nicht nur anschließen, sondern auch eine Diagnose der begrifflichen Abhängigkeit der Tatsachen von den Meinungen anbieten, des Tenors, daß das vermeintlich Weltseitige der Korrespondenzbeziehung nur eine Projektion der Sprachseitigen (aufgrund undurchschauter inhaltlicher Redeweise) ist. Doch die Bildtheorie des Elementarsatzes ermöglicht Sellars eine Korrespondenztheorie ganz neuer und eigener Art, deren weltseitige Relate nicht Tatsachen, sondern Objekte und deren sprachseitige Relate nicht Sätze überhaupt, sondern nicht-normative singuläre Sätze sind, denen es somit zukommt, den Weltbezug der Sprache zu vermitteln, die aber als Relate der Sprache-Welt-Korrespondenz gerade nicht als semantische Rollen bzw. als Positionen im Sprachspiel in Betracht kommen, sondern als auch ihrerseits gewöhnliche natürliche Objekte und Ereignisse: als - wie Sellars sie in dieser Hinsicht nennt - natürliche Sprachobjekte. Die Sprache-Welt-Korrespondenz besteht also, wenn sie besteht, zwischen der Welt und andererseits der Sprache gerade nicht als Sprache - nicht als einem Begriffssystem gegenüber der Welt -, sondern als einem natürlichen Ausschnitt der Welt: Die Korrespondenz ist ein natürlicher Isomorphismus von der Welt in einen Teil der Welt. Das hat zur intendierten Folge, daß wir die Korrespondenz von innerhalb der Sprache beschreiben und beurteilen können. Wir beschreiben z.B. das komplexe natürliche Objekt Tübingen, seine geographische Lage, Ausdehnung, die Zahl seiner Einwohner usw. und andererseits das weniger komplexe natürliche Sprachobjekt in der folgenden Zeile: Tübingen ist eine Kleinstadt. Und wir stellen, sofern wir mit der komplizierten Projektionsmethode für die Herstellung logischer Bilder, welche die (geschriebene) deutsche Sprache ist, durch jahrelangen Spracherwerb und durch Schreib- und Leseunterricht hinreichend vertraut geworden sind, im Nu fest, daß das eine soundso beschriebene Objekt von dem anderen soundso beschriebenen Objekt 113 korrekt abgebildet wird. Das abbildende Objekt aber ist ein natürliches Sprachobjekt, folglich kann es auch unter pragmatisch-semantisch-syntaktischen Gesichtspunkten betrachtet werden. In dieser Betrachtung erweist es sich als Exemplar eines Elementarsatzes, der als Satz ein Kandidat für semantische Behauptbarkeit ist. Da nun das betrachtete Exemplar des Elementarsatzes, als natürliches Sprachobjekt genommen, sein Objekt korrekt abbildet, ist der Elementarsatz semantisch behauptbar, also wahr. Wie Hegel in der Phänomenologie des Geistes dem Bewußtsein zuschauen möchte, das, indem es Wahrheitsansprüche erhebt, ein An-sich („So ist es!“) von einem Für-es („So scheint es mir!“) unterscheidet und selbst dasjenige Beziehen dieser beiden Seiten aufeinander ist, das sich so lange korrigieren und fortentwickeln muß, bis das An-sich des Bewußtseins mit seinem Für-es zur Deckung kommt, so möchte Sellars der Sprache zuschauen, die sich als lingua militans durch internen Vergleich der natürlichen Objekte, auf die sie sich bezieht, mit den natürlichen Objekten, in denen sie sich vollzieht, so lange korrigiert und fortentwickelt, bis sie an einem idealen - Peirceschen - Ende der Forschung zur lingua triumphans wird, die das Ding an sich zu einem Ding für sie (bzw. für uns, die Sprecher) macht, d.h. es korrekt beschreibt. Die Pointe dieses Verfahrens liegt in beiden Fällen darin, daß der zuschauende Theoretiker die Sprache (bzw. das Bewußtsein) nicht an einer äußeren Vorgabe, nicht daran mißt, was er von seiner überlegenen Warte als an sich der Fall seiend betrachtet, sondern sie, die Sprache, bei ihrem eigenen Wahrheitsanspruch packt, sich ihr sprachimmanentes An-sich gefallen läßt und nur zusieht, wie sie (wie unser sich entwickelndes Begriffssystem) ihr immanentes An-sich und ihr immanentes Für-sie aneinander abarbeitet, bis Ruhe, d.h. unüberbietbare Wahrheit einkehrt. Von den Erfolgsaussichten des Hegelschen Vorhabens können wir absehen, da es in einen theoretischen Rahmen eingebettet ist, der hier nicht zur Debatte steht. Die Erfolgsaussichten des Sellarsschen Unternehmens, das in den Rahmen einer Ersten Philosophie gehört, die sich als formale Pragmatik-Semantik-Syntax versteht, werden im folgenden zu beurteilen sein. § 33. Lingua militans, lingua triumphans Die Sellarssche Bildtheorie hat wenig Anklang gefunden; sie ist, salopp gesprochen, zu schön (wir werden sehen: zu ornamental), um wahr zu sein. Aber noch bevor wir sie eigens selbst ins Fadenkreuz der Kritik nehmen, können wir bereits die folgerungstheoretische Semantik, in die sie eingebettet ist, von außen angreifen, etwa mit Quineschen und Davidsonschen Argu- 114 menten. Denn die Vorstellung, daß sich Bedeutungen als semantische Rollen individuieren lassen, ist Quines Kritik der intensionalen Semantik ausgesetzt und unvereinbar mit Davidsons These von der Anomalie des Mentalen. Wenn wir mit Davidson und Falk gegen Quine an der Kategorie der Bedeutung festhalten, so können wir sagen, daß es zwar Bedeutung, ja in gewissem Sinn selbst Bedeutungen im Plural (verschiedene Fälle von Bedeutsamkeit), gibt, daß diese aber nicht theoretisch zu fassen, nicht zu individuieren und deswegen nicht zu reifizieren sind. Sellars jedoch legt sich auf die genau gegenläufige These fest: daß Bedeutungen sich zwar als abstrakte Entitäten reifizieren, nämlich als semantische Rollen individuieren lassen, daß es sie aber eigentlich nicht gibt, weil es in letzter Analyse überhaupt keine abstrakten Entitäten gibt, sondern sie allesamt - auch Extensionen, also Mengen, und Zahlen Pseudo-Objekte sind, auf die wir uns nur in inhaltlicher Redeweise beziehen. Mit Falk wäre ferner gegen das Unternehmen einer folgerungstheoretischen Semantik prinzipiell anzuführen, daß eine philosophische Theorie der Bedeutung keine andere Wahl hat, als unter der Bedeutung eines Satzes seine Wahrheitsbedingungen zu verstehen, weil nur durch Bindung der Bedeutung an Wahrheit der apriorische Charakter der Bedeutungstheorie gewahrt werden kann. Wäre die Sprache, wie es die folgerungstheoretische Semantik empfiehlt, als eine Art Spiel nach explizierbaren Regeln aufzufassen, und zwar so, daß die Bedeutungen der sprachlichen Ausdrücke durch diese Sprachregeln festgelegt würden, wie die Werte der Schachfiguren durch die Schachregeln festgelegt werden, dann wäre eine philosophische Bedeutungstheorie so unnötig und unmöglich wie eine philosophische Theorie des Schachspiels. Speziell gegen die Bildtheorie kann man, auch noch von außen und wiederum mit Quine, folgendes einwenden. Offenbar möchte Sellars den Referenzbegriff in zwei verschiedenartige Begriffe zerlegen, in einen weichen, semantischen Referenzbegriff, der unter dem inferentialistischen Verdikt steht, daß es keine (semantischen) Sprache-Welt-Beziehungen gibt, und der demnach folgerungstheoretisch zu einem Sonderfall von Inferenz umgedeutet werden soll, und in einen harten, naturalistischen Referenzbegriff, auf den Sellars zugreift, wenn er lehrt, daß Exemplare von Elementarsätzen sich auf Objekte beziehen (und sie als soundso beschaffen abbilden). Nun hängt Quines Argumentation für die Unbestimmtheit der Referenz und für ihren zwischen- und innersprachlichen (durchgängig „weichen“) Charakter aber nicht von der Prämisse ab, daß Referenz ein irreduzibel semantischer Begriff ist. Quine hat im Gegenteil, getreu seiner Variante des Naturalismus, im wirklichen Sprecherverhalten nach Anhaltspunkten für die Bestimmung der Referenz gesucht und sie aus prinzipiellen Gründen weder dort noch anderswo finden können. Also gilt die Unbestimmtheitsthese auch für die Sellarssche 115 Bildbeziehung - und führt sie ad absurdum. Gegenüber der Referenz als einer vermeintlichen Sprache-Welt-Beziehung kann man sich als Naturalist, sei es im Quineschen, sei es im Sellarsschen Sinn dieses Terminus, allenfalls eliminativ, nicht reduktiv verhalten. Aber auch zu Sellars’ eigenen Konditionen, d.h. im Rahmen einer folgerungstheoretischen Semantik, ist der Bildtheorie kein Erfolg beschieden; denn sie kann gar nicht leisten, wofür sie gebraucht wird.94 Sellars braucht sie, um die pragmatische Wahrheitskonzeption mit einem realistischen Pfeiler zu stützen, der das Abgleiten des Pragmatismus in Rortyschen Relativismus bzw. Ethnozentrismus verhindern und Sellars’ eigenen wissenschaftlichen Realismus sichern soll; denn daß ohne eine Bindung der semantischen Regeln und mittelbar der sprachlichen Bedeutung an ein realistisches Verständnis von Wahrheit eine philosophische Bedeutungstheorie so gegenstandslos wäre wie eine philosophische Schachtheorie, ist ihm, der er gern von der Schachanalogie Gebrauch macht, um semantische Sachverhalte und insbesondere den regelkonstituierten Charakter sprachlicher Bedeutungen zu erläutern, wohl bewußt. Nicht minder bewußt sind ihm andererseits die Grenzen dieser Analogie. Das interne Ziel des Schachspiels ist es, den gegnerischen König matt zu setzen; und man kann um vielerlei externer Ziele (des Vergnügens, des Sieges im Wettstreit, des Ruhmes, des Geldes usw.) willen Schach spielen. Um das zu wissen, bedarf es keiner philosophischen Theorie. Das interne Ziel der Sprache, wenn sie folgerungstheoretisch aufgefaßt wird, ist es, alle (und nur die) semantisch behauptbaren Sprachpositionen zu erreichen. Man mag dies betreiben des Vergnügens, des Sieges in der Disputation, des Ruhmes, Geldes oder schieren Überlebens wegen. All das und insbesondere die Sprache selber wäre kein Thema einer einschlägigen philosophischen Theorie, wenn es nicht ein ausgezeichnetes, a priori erkennbares, externes Ziel des Sprachspiels gäbe: Wahrheit. Dann aber kann Wahrheit nicht mit semantischer Behauptbarkeit gleichgesetzt werden, solange unter dieser ausschließlich das interne Ziel des Sprachspiels verstanden wird. Also bedarf es einer realistischen Aufbereitung der semantischen Behauptbarkeit, um sie als das ausgezeichnete externe und zugleich internalisierte Ziel der Sprache und als Quelle und Gegenstand einer philosophischen Theorie erscheinen zu lassen. Diesem Desiderat zu genügen, ohne an den Klippen des metaphysischen Realismus und der konventionellen Korrespondenztheorie schiffbrüchig zu werden und ohne den Naturalismus bzw. den wissenschaftlichen Realismus preiszugeben, ist kein Leichtes. Da mag Sellars’ Angebot einer Objekt-Elementarsatz-Korrespondenz zunächst verlockend und verheißungsvoll 116 klingen. Denn nun erscheint die Übereinstimmung von Elementarsätzen mit ihren Objekten als das nicht-beliebige externe Ziel der Sprache, das wir suchen, und zugleich als die ausgezeichnete Unterart der semantischen Behauptbarkeit, auf welche hin die ganze Gattung angelegt ist. Alle anderen Arten der Wahrheit und selbst der praktische Diskurs können nun der Wahrheit der Elementarsätze teleologisch nachgeordnet werden: Es muß praktische Sätze (Absichtssätze) geben, damit es normative Sätze geben kann. Es muß (wahre) normative Sätze geben, damit es insbesondere wahre sprachnormative Sätze geben kann. Zu ihnen gehören die induktiven Verallgemeinerungen und wissenschaftlichen Hypothesen. Diese muß es geben, damit wir neue faktische Wahrheiten entdecken; und faktische Wahrheiten von aussagenlogischer und quantorenlogischer Komplexion sind Rezepte zur Gewinnung von wahren Elementarsätzen, also zur Herstellung logischer Bilder. Diese aber bilden das Ziel des ganzen sprachlichen Unternehmens. Doch selbst wenn wir uns auf dieses Modell einmal einlassen (Sellars hat es in vielen Publikationen ausgearbeitet und gegen einzelne Einwände verteidigt), löst sich bei näherem Zusehen die vermeintlich reale Bildbeziehung zwischen natürlichen Objekten und natürlichen Sprachobjekten in eine rein innersprachliche Übereinstimmung auf; denn die Projektionsmethode der sprachlichen Abbildung besteht ja gerade in den semantischen Regeln der Sprache. Richtig abbilden heißt dann gar nichts anderes, als die Regeln der Sprache richtig anzuwenden, und kann kein unabhängiges Kriterium dafür sein, ob die Regeln richtig angewendet wurden. Betrachten wir ein Beispiel. Wenn ich auf der einen Seite einen elementaren deutschen Satz als natürliches Sprachobjekt habe, etwa das Schriftgebilde *Tübingen liegt am Neckar* (Sellars markiert natürliche Sprachobjekte durch sternförmige Anführungszeichen), und auf der anderen Seite Tübingen und den Neckar, wie kann ich dann auf Übereinstimmung (korrektes Abbilden) gemäß den Sprachregeln überprüfen? Nun, dazu wird es mir nichts nützen, die natürlichen Eigenschaften des Schriftgebildes *Tübingen liegt am Neckar*, etwa unter dem Mikroskop, zu untersuchen, sondern ich werde allenfalls Tübingen und den Neckar untersuchen und das Ergebnis in einem Protokoll festhalten müssen: Tübingen ist eine Stadt, eine kleine Stadt, eine Universitätsstadt, in Württemberg, am Oberlauf des Neckars usw.; und der Neckar ist ein Fluß, er fließt durch Rottenburg, Tübingen, Stuttgart usw. bis in die Kurpfalz, dort durch Heidelberg und zuletzt Mannheim, wo er in den Rhein mündet, usw. Und dann werde ich nachschauen müssen, ob dieses Protokoll, als ein langes natürliches Sprach94 Robert Brandom etwa, der die folgerungstheoretische Semantik in Making It Explicit - einem Buch, das er Wilfrid Sellars und Richard Rorty widmet („without whom most of it would not even be implicit“) - systematisch weiterentwickelt, folgt in der Frage der Bildtheorie nicht Sellars, sondern Rorty, der sie ersatzlos preisgibt. 117 objekt genommen, einen Abschnitt enthält, der aussieht wie ein *Tübingen liegt am Neckar*. Wenn nicht, muß ich das Protokoll als gedeutete Sprache nehmen und möglichst viele Folgerungen aus ihm ziehen, bis ich im Erfolgsfall auch den Satz „Tübingen liegt am Neckar“ folgere, der, aufgeschrieben, ein Exemplar von *Tübingen liegt am Neckar* ist. Die Übereinstimmung, die ich somit feststelle, besteht aber zwischen zwei natürlichen Sprachobjekten, die beide Exemplare ein und derselben natürlichen sprachlichen Art, nämlich Fälle von *Tübingen liegt am Neckar* sind. Ich habe also Sprachliches mit Sprachlichem, nicht Tübingen und den Neckar einerseits mit einem natürlichen Sprachobjekt andererseits verglichen, und ich mußte bei meinem Vergleich irgendwann das betreffende natürliche Sprachobjekt als einen bedeutungsvollen Satz meiner Sprache behandeln und mich fragen, ob er auf Tübingen und den Neckar zutrifft. Die Rede von einer Abbildbeziehung erweist sich so als ein Ornament ein funktionsloser Schmuck - des gewöhnlichen semantischen Diskurses. Anders als Quine unterscheidet Sellars freilich zwischen faktischen und formalen Wahrheiten bzw. zwischen empirischen und kategorialen Sachverhalten. Um nicht vorschnell zu urteilen, wollen wir daher noch prüfen, ob die Bildtheorie, auch wenn sie für nicht-normative Sätze formuliert ist und insofern den empirischen Gehalt unserer Meinungen betrifft, ein realistisches Moment vielleicht gerade auf seiten der kategorialen Form in die pragmatische Wahrheitskonzeption einzuführen vermag - ein Gedanke, auf den man weniger durch Sellars’ eigene als durch eine ganz andersartige Theorie der sprach- bzw. bewußtseinsimmanenten Übereinstimmung gebracht werden kann. Hegel möchte in der Phänomenologie des Geistes den Prozeß des Bewußtseins nachzeichnen, der in nichts anderem bestehen soll als dem fortgesetzten Vergleich, den das Bewußtsein anstellt zwischen dem, was es als an sich der Fall seiend behauptet, kurz: dem An-sich (das natürlich kein absolutes, sondern ein bewußtseinsrelatives An-sich, ein An-sich für es, ist, da das Bewußtsein ja nicht aus sich heraustreten und dem Ding an sich - bewußtlos? - ins Auge schauen kann), und andererseits seiner eigenen Aufnahme des An-sich, dem Für-es des Bewußtseins. Dieser Vergleich des An-sich mit dem Füres betrifft aber nicht den empirischen Gehalt, sondern die kategoriale Form. Es geht also nicht um Fragen wie die, ob dieses Rot-für-mich auch ein Rot-an-sich oder nicht vielmehr ein Weiß ist (das vielleicht mit rotem Licht bestrahlt wird), sondern um Fragen der Art, ob dieses Rot oder Weiß oder was auch immer, das unter einer bestimmten kategorialen Form erscheint (als ein Unmittelbares, als ein Ding mit Eigenschaften, als ein ideeller Inhalt eines solipsistischen Bewußtseins usw.) vom Bewußtsein so konzeptualisiert werden kann, daß die kategoriale Form an sich mit der kategorialen Form für es übereinstimmt. Zu Beginn des Bewußtseins- 118 prozesses ist die Nichtübereinstimmung (am Ende dann die Übereinstimmung) total. Die erste Bewußtseinsgestalt tritt, als erste, mit dem Anspruch auf, gleichsam die Nullkonzeptualisierung zu sein und aus dem raumzeitlichen Mannigfaltigen jeweils ein Einzelnes als eines von vielen Unmittelbaren unkonzeptualisiert aufzunehmen. Für das Bewußtsein - für seine denkende Bezugnahme - ist das einzeln sein sollende Unmittelbare dabei aber gerade nur unter der vollständigen Allgemeinheit reiner Indikatoren („hier“, „jetzt“) zugänglich. Hiesigkeit und Jetzigkeit lassen sich nicht qualitativ definieren (vgl. Teil V), so daß, wenn ich einen Ort nur dadurch hervorheben möchte, daß ich sage, er sei hier, und unerklärt lasse, was die Hiesigkeit ausmacht, ich ihn nicht aus der Mannigfaltigkeit der Orte hervorhebe, sondern mich entgegen meiner Absicht in völlig allgemeiner Weise auf ihn beziehe. Dies ist zumindest die Hegelsche Grunddiagnose der ersten Bewußtseinsgestalt, der sogenannten sinnlichen Gewißheit. Statt uns auf weitere Bewußtseinsgestalten im Sinne der Phänomenologie des Geistes einzulassen, kehren wir nun zu Sellars zurück. Mit Hegel verbindet ihn die Kritik an der Vorstellung, das Bewußtsein könne der Realität deren allfällige kategoriale Strukur unmittelbar entnehmen. Sellars nennt diese Vorstellung den Mythos vom Gegebenen und setzt ihr, soweit noch einig mit Hegel, den Gedanken eines langwierigen Konzeptualisierungsprozesses entgegen, den das Bewußtsein zu durchlaufen hat. Bei Sellars durchläuft es ihn aber, anders als bei Hegel, in fortgesetztem gesellschaftlichem Spracherwerb. Unsere Sprache faßt Sellars wesentlich als Sprache in Entwicklung, als lingua militans, die in einem unendlichen Progreß der Konzeptualisierung und Rekonzeptualisierung sich der Sprache im eminenten Sinn, der lingua triumphans, als dem Grenzwert und idealen Ziel ihres Progresses anzunähern hat. Eine jeweilige Gesamtkonzeptualisierung der Realität auf einem gegebenen Stand der Sprach- und Begriffsgeschichte nennt Sellars ein Bild vom Menschen in seiner Welt, kurz: ein Weltbild. Da die Sprache stets im Fluß, da sie grundsätzlich unterwegs zu ihrem idealen Fernziel ist, sind Weltbilder im allgemeinen von Ungleichzeitigkeiten geprägt, d.h. sie enthalten Reste von Vorgängern und Keime von Nachfolgern. Insbesondere enthält unser gegenwärtiges Weltbild - das (für uns) manifeste Bild des Menschen in der Welt - Keime eines künftigen wissenschaftlichen Weltbildes, nämlich wissenschaftliche Theorien, mit denen die Existenz sogenannter theoretischer Entitäten postuliert wird, deren Theoretizität darin besteht, daß sie im manifesten Weltbild keine kategoriale Nische finden. In diesem Zusammenhang erhält nun auch Sellars’ schon erwähnter wissenschaftlicher Realismus seine eigentliche Bewandtnis und Schärfe. Zwar ist auch mit dem Instrumentalismus in der Wissenschaftstheorie zu rechnen, dem zufolge wissenschaftliche Theorien kein ontologisch vollgültiger Diskurs, sondern nur 119 begriffliche Instrumente zur Herleitung ontologisch vollgültiger Aussagen über manifeste Entitäten (Menschen, Tiere, Pflanzen, Natur- und Gebrauchsdinge) sind. Aber die realistische Gegenthese, daß unsere wissenschaftlichen Theorien (und, sofern sie vergleichsweise durchsichtig, nämlich mathematisch, formuliert sind, sie in vorbildlicher Weise) uns ontologisch verpflichten, ist doch so lange im Vorteil, wie die Einbettung der theoretischen Entitäten in die manifeste Welt unproblematisch erscheint. Sellars gehört zu derjenigen Minderheitsfraktion wissenschaftstheoretischer Realisten, welche die Einbettung der theoretischen Entitäten unserer fortgeschrittensten Theorien in die manifeste Welt nicht nur für höchst problematisch, sondern für unmöglich hält und zum Beleg - ich verkürze und vergröbere die Argumentation beinahe bis zur Unkenntlichkeit - unter anderem darauf verweist, daß die Objekte der manifesten Welt wesentlich farbig, Elementarteilchen aber wesentlich farblos sind und daß die theoretische Physik in ihrer heutigen kategorialen Gestalt den phänomenalen Sinnesqualitäten (oft kurz Qualia genannt: dem gesehenen Blau, gehörten Gong, gefühlten Schmerz usw.) weder an den Objekten noch in den Subjekten noch irgendwo sonst eine ontische Bleibe bieten kann. Unter diesen Bedingungen den wissenschaftlichen Realismus zu vertreten, gibt der These ein Gewicht, das den hohen Beweislasten die Waage hält. Sellars also vertritt folgende gewichtige Thesen, die in diesen Zusammenhang gehören: (1) Unsere wissenschaftlichen Theorien haben auf dem gegenwärtigen Stand der Theorieentwicklung noch den Status begrifflicher Anbauten an das manifeste Weltbild und bilden noch kein begrifflich autarkes wissenschaftliches Weltbild (wir begreifen gegenwärtig in unseren Spracheintritten und -austritten die Welt noch als ein Gefüge manifester Objekte, nicht physikalischer Elementarteilchen). (2) Unsere Theorien stehen in kategorialem Widerspruch zum manifesten Weltbild, doch (3) sowohl sie (sofern sie Fragen beantworten, die im manifesten Weltbild nur gestellt werden können) wie auch das manifeste Weltbild (sofern es noch als die begriffliche Grundlage unserer Theorien unverzichtbar ist) treten mit dem Anspruch ontologischer Validität auf, die aber (4) letztlich nur unseren Theorien eignet, so daß wir schon heute das Weltbild, aus dem wir noch nicht austreten können, als eine Fehlkonzeptualisierung und somit die manifeste Welt als Erscheinung erkennen können (als Erscheinung im Kantischen Sinn, d.h. im Kontrast zum sogenannten Ding an sich, meint Sellars; aber dem steht entgegen, daß er das manifeste Weltbild für falsch, die Erscheinung also für irreal erklärt, was bei Kant so nicht gilt) und an unsere wissenschaftlichen Theorien die theoretische Hoffnung knüpfen müssen, daß sie Schritte auf dem Weg zu einem künftigen, wissenschaftlichen Weltbild sind, das - jedenfalls im idealen Grenzfall - die Realität letztgültig konzeptualisiert. 120 Das wissenschaftliche Weltbild, das der Sellarsschen Hoffnung zufolge eines fernen Tages wirklich erreicht wird, ist freilich immer noch lingua militans. Auch in ihm wird also unsere Konzeptualisierung der Realität noch nicht vollständig angemessen sein. In formaler Redeweise: Auch in einem faktisch erreichten wissenschaftlichen Weltbild werden sich mehr Fragen stellen als beantworten lassen und wird ein theoretisches Bedürfnis für Rekonzeptualisierung spürbar sein. Erst am idealen, faktisch nicht erreichbaren, Ende der Forschung und Theoriebildung würde - in inhaltlicher Redeweise gesprochen - die Differenz zwischen einerseits der Realität und andererseits unserer Konzeptualisierung gegenstandslos werden und das Ding an sich vollständig erkannt sein. Sellars erweist sich also letztlich als ein Peircescher Realist in dem Sinn, in dem Putnam den Terminus verwendet (vgl. § 29), und zwar als Peircescher Realist besonderer und besonders ausgefeilter Art, der mit dem Gedanken eines unendlichen Progresses der lingua militans den Begriff der Erscheinung und mit dem Gedanken einer lingua triumphans als des regulativen Ideals des Progresses und Grenzwertes der Folge der Weltbilder den Gedanken des Dinges an sich verbindet. Doch diese (vermeintlich Kantischen) Besonderheiten schützen den Peirceschen Realismus nicht vor der in § 29 vorgetragenen Kritik. Geschützt werden vor dem Rückfall in metaphysischen Realismus einerseits und dem Abgleiten in Relativismus andererseits sollte er vielmehr durch die Bildtheorie des elementaren Satzes. Aber durch die Skizze der Sellarsschen Theorie des Bewußtseins- bzw. Sprachprozesses dürfte klar geworden sein, daß die Bildtheorie für einen sprachimmanenten Vergleich an sich sein sollender kategorialer Strukturen mit den Erscheinungsweisen dieser Strukturen (wie er in Hegels Phänomenologie des Geistes betrachtet wird) nichts hergibt. Die Bildtheorie wird gar nicht gebraucht, um den Gedanken eines Theorieprogresses und seines regulativen Ideals zu fassen, zu begründen und mit Inhalt zu füllen. Nicht nur in Sachen allfälliger Korresponenz im Faktischen, sondern auch in Sachen allfälliger Korrespondenz im Kategorialen ist die Bildtheorie fruchtlos. §. 34 Brandom über Wahrheit und Referenz Robert Brandom hat die Konsequenz aus dem Scheitern der Sellarsschen Bildtheorie gezogen und die Welt (das weltseitige Korrelat der wahren Elementarsätze) gemäß einer Empfehlung Richard Rortys wohlgemut verloren gegeben. 95 Doch der Welt bzw. der Bildtheorie beraubt 95 Vgl. Rortys Aufsatz „The World Well Lost“ bzw. Brandoms Buch Making It Explicit, besonders S. 330f. (Brandom möchte freilich die Redensart von der verloren gegangenen Welt cum grano salis verstanden wissen. Wie, davon in der Folge mehr.) 121 gerät die Sellarssche Semantik in die Schwierigkeit, in der wir in § 29 schon Putnam sahen: die unwillkommene Rortysche Einladung zum Kulturrelativismus bzw. Ethnozentrismus nur dogmatisch, d.h. ohne zureichende Gründe, ausschlagen zu können. „Was machst du, wenn sie dich einen ‘Relativisten’ nennen?“ fragt denn auch Rorty seinen vormaligen Schüler96, und dieser antwortet mit einer folgerungstheoretischen Analyse der Wahrheit und der Referenz, die dem Gedanken der Objektivität Rechnung tragen und den Verlust der Welt bzw. der Bildtheorie wettmachen soll.97 Brandoms argumentative Strategie, um zwischen Sellars und Rorty, zwischen einem realistisch verbrämten und einem relativistischen Pragmatismus theoretischen Halt zu finden, besteht also darin, den realistischen Aspekt der Wahrheit als ein Syndrom bestimmter metasprachlicher Redeweisen zu behandeln und diese folgerungstheoretisch zu rekonstruieren und sie damit einerseits zu legitimieren und ihnen andererseits ihre philosophische Brisanz zu nehmen. Aber wenn auch schwer zu bestreiten ist, daß dieses Verfahren neues Licht auf die begrifflichen Grundlagen jener Redeweisen wirft, so bleibt am Ende die Frage nach dem externen Ziel des Sprachspiels, nach dem Sinn und Wert unserer inferentiellen Praxis doch unbeantwortet. In eben dem Maße nämlich, in dem es Brandom gelingt, nicht nur Referenz, sondern auch Wahrheit inferentialistisch zu deuten (als dasjenige, pauschal gesprochen, was in gültigen Schlüssen erhalten bleibt), nimmt er sich die Möglichkeit, den Sinn und Wert der inferentiellen Praxis selber in Beziehung auf die realistisch verstandene Wahrheit zu explizieren. Doch zunächst einmal soll die von ihm intendierte Krönung der folgerungstheoretischen Semantik von ihrer besten Seite präsentiert werden. Vergegenwärtigen wir uns dazu kurz die Meilensteine des Inferentialismus. Anzufangen ist mit der inferentialistischen Grundvorstellung in Carnaps Logischer Syntax, daß die Bedeutung eines Satzes in den Folgerungen besteht, die aus ihm gezogen werden können. Der zweite Meilenstein, angepeilt ebenfalls schon von Carnap und erreicht von Sellars, war sodann die Annahme inhaltlicher Schlußregeln als konstitutiv für die Bedeutung der Grundprädikate einer Sprache. Drittens ist die Unterscheidung von inhaltlicher (pseudo-objektiver) und formaler (offen syntaktischer) Redeweise bei Carnap zu nennen und viertens die Spracheintritts- und -austrittsregeln, durch deren Annahme Sellars den Wahrnehmungsdiskurs an den schlußfolgernden Diskurs bzw. den praktischen an den (im weiten Sinn) theoretischen Diskurs anschloß. Letzteres gab ihm Gelegenheit, fünftens die Carnapsche Unterscheidung der Redeweisen dadurch zu vertiefen, daß er das Syntaktische zwischensprachlich und das Formale nor96 „What Do You Do When They Call You a ‘Relativist’?“, in: Philosophy and Phenomenological Research 57 (1997), 173-177. 97 Brandom, „Replies“, a.a.O. (vgl. vorige Anm.), 189-204, S. 197-201. 122 mativ deutete und eine normativ-metasprachliche Diskursebene in Ansatz brachte, auf der die Diskursregeln beliebiger Ebenen explizierbar sind. Aber Sellars machte noch zu wenig aus dem sozialen Charakter der Sprache - eine Behauptung, die überraschen mag, da er diesen stets betont und da er überdies den normativen Diskurs, etwas verkürzt gesprochen, auf Absichtssätze in der ersten Person Plural zurückführt. „Ich soll X tun“ heißt, so gesehen: „Wir [...] wollen, daß ich X tue“ bzw. „Ich, als einer von uns [...], will X tun“, wobei die Auslassungszeichen Platzhalter für die Angabe der normrelevanten Gruppe sind, die im inklusivsten Fall die Gemeinschaft aller (potentiellen) Sprecher, also die Menschheit zuzüglich allfälliger außerirdischer Intelligenzen ist.98 Doch Sellars sah die soziale Dimension, sah den Unterschied des Privaten und des Gesellschaftlichen, wie es üblich ist, als den Unterschied des Singulars und Plurals, d.h. als Ich/Wir-Kontrast in unsere normative Begrifflichkeit eingehen. Brandom weist demgegenüber auf die Bedeutung und die Unhintergehbarkeit des Unterschiedes der ersten und zweiten Person, also des Ich/DuKontrastes hin, die in der Tat für die inferentielle Praxis nicht nur faktisch, sondern auch begrifflich unabdingbar ist, weil wir in dieser Praxis Mitspieler und Schiedsrichter, Evaluierte und Evaluierende zugleich sind. Wir gehen nicht nur diskursive Verpflichtungen ein (indem wir Wahrheits- bzw. Wissensansprüche erheben) und erwerben diskursive Berechtigungen (indem wir solche Ansprüche gegenüber Gesprächspartnern begründen); sondern wir schreiben uns und unseren Gesprächspartnern auch Verpflichtungen und Berechtigungen zu und führen Buch über unseren und ihren diskursiven Kontostand („Eben hast du dich darauf festglegt, daß p; dann darfst du jetzt nicht sagen, daß q; denn ...“). Diese soziale Artikulation des inferentiellen Kontostandes nach Mein und Dein in je meiner und je deiner Bewertung ist keine bloß faktische, sondern - hier beruft sich Brandom, sachlich und exegetisch zu Recht, wie mir scheint, auf Wittgensteins Spätphilosophie - vielmehr eine begriffliche Voraussetzung von Sprache: In unserer Begrifflichkeit als solcher sind Gesprächspartner schon vorgesehen. Die Sprache ist nicht nur ein Netz von Folgerungen, die jeweils ein einzelner Sprecher ziehen kann, sondern sie ist, mit Brandom gesprochen, das Spiel des Gebens (Anbietens) und Nehmens (Erbittens) von Gründen, das wesentlich mehrere Mitspieler hat, die einer für den anderen Gründe produzieren und einer von dem anderen Gründe konsumieren. Für die Rekonstruktion der extensionalen Semantik läßt sich die Differenz zwischen diskursivem Mein und Dein bzw. zwischen einerseits dem Eingehen von diskursiven Verpflichtungen und dem Erwerben diskursiver Berechtigungen und andererseits der Zuschreibung von Ver- 123 pflichtungen und Berechtigungen nun wie folgt fruchtbar machen. Beginnen wir mit der Wahrheit als dem Grundbegriff der extensionalen Semantik, und nähern wir uns ihr vom Begriff des Wissens her, welcher der Standardanalyse zufolge ja der Begriff der begründeten wahren Meinung ist. Was heißt es, daß eine Person A einer Zielperson Z das Wissen zuschreibt, daß p? 99 Brandoms Antwort setzt ein mit einem Hinweis auf das Offenkundige: A erhebt hier selber einen Wissensanspruch, nämlich den Anspruch, daß Z weiß, daß p, und geht damit ihrerseits eine diskursive Verpflichtung ein. Was aber ist deren Inhalt? Nun, A attribuiert erstens der Zielperson Z die diskursive Verpflichtung, daß p. Das entspricht der Zuschreibung der Meinung, daß p. A attribuiert Z zweitens die Berechtigung zu der Verpflichtung, daß p. Diese seltsam anmutende Redeweise, die aber in Brandoms Version der folgerungstheoretischen Semantik (in seinem Modell des Mitzählens und Buchführens über diskursive Kontostände) ihr gutes Recht hat, entspricht der vertrauteren Rede davon, daß A der Person Z die Meinung, daß p, als eine begründete Meinung zuschreibt. Nun kommen wir zu der entscheidenden Frage: Was heißt es, drittens, der Person Z die Meinung, daß p, als eine nicht nur begründete, sondern wahre Meinung zuzuschreiben? Brandoms radikale Antwort lautet, daß die entscheidende Frage insofern falsch gestellt ist, als hier gar kein Fall von Zuschreibung (von Mitzählen bzw. diskursiver Buchführung) mehr gegeben ist, weil die Person A, indem sie die Wahrheit einer Meinung von Z anerkennt, selber die entsprechende Verpflichtung der Person Z eingeht oder bekräftigt. Wahrheit ist keine Eigenschaft diskursiver Verpflichtungen oder Berechtigungen, sondern „wahr“ ist ein Vierbuchstabenwort, das wir benutzen, um zugeschriebene diskursive Verpflichtungen selber zu übernehmen. Im einzelnen schließt sich Brandom der sogenannten prosententialen Theorie der Wahrheit an, worunter folgendes zu verstehen ist. Prosentenzen sind satzartige Analoga der Pronomina, oder auf gut deutsch: Fürsätze sind satzartige Analoga der Fürwörter. Diese - die Fürwörter oder Pronomina - kann man einerseits indexikalisch oder quasi-indexikalisch gebrauchen. Ersteres geschieht, wenn ich z.B. „sie ...“ sage und dabei auf die Zielperson Z zeige. Letzteres geschieht, wenn ich fortfahre: „... glaubt (bzw. sagt), sie sei unverzichtbar“. Dann nämlich gebrauche ich „sie“ im Nebensatz (bzw. in indirekter Rede) als einen Quasi-Indikator, d.h. dort, wo Z selber den Indikator „ich“ gebrauchen würde („Ich bin unverzichtbar“). Vom indexikalischen und quasi-indexikalischen Gebrauch der Pronomina können wir gegenwärtig absehen. Andererseits, und darauf kommt es hier an, gibt es den sogenannten anaphorischen Gebrauch 98 Vgl. Science and Metaphysics, Kapitel VII. Brandom unterscheidet Attribution als Zuschreibung im weiten Sinn von Askription als expliziter, sprachlicher Zuschreibung. Von dieser Feinheit kann im gegenwärtigen Zusammenhang aber abgesehen werden. 99 124 der Pronomina. Eine Anapher nennt man die Wiederholung eines Wortes zu Beginn mehrerer aufeinander folgender Sätze, z.B.: „Carnap lag im Bett. Carnap fieberte. Carnap sah die Semantik in der Syntax verschwinden“. Anaphern mögen ein effektvolles Stilmittel sein, doch gewöhnlich meiden wir sei, weil wir um der Kürze oder um der Würze willen Wiederholungen scheuen. Wir ziehen also den angeführten Sätzen die folgenden vor: „Carnap lag im Bett. Er fieberte. Er sah die Semantik in der Syntax verschwinden.“ Hier wird das Personalpronomen „er“ zweimal anaphorisch verwendet (man sagt bisweilen auch, es werde als eine Anapher verwendet, obwohl es richtiger wäre zu sagen, es werde statt einer Anapher verwendet). Im anaphorischen Gebrauch erben die Pronomina ihre spezifischen semantischen Rollen von den Nomina, für die sie jeweils stehen; so erben in den Beispielsätzen die beiden Vorkommnisse von „er“ ihre Funktion von dem Eigennamen „Carnap“ und bezeichnen demnach Carnap. Prosentenzen oder Fürsätze nun sind der Analogie gemäß Ausdrücke, die nicht für Nomina, sondern für ganze Sätze stehen und im anaphorischen Gebrauch die spezifischen semantischen Rollen von Sätzen erben. Fürsätze müssen also jedenfalls in dem Sinne satzartig sein, daß sie zu Prämissen und zu Schlußfolgerungen im Spiel des Gebens und Erbittens von Gründen taugen und daß man mit ihnen diskursive Verpflichtungen übernehmen kann. So kann ein wortkarger Augenzeuge unter Umständen der Schilderung eines Geschehens durch einen gesprächigen Augenzeugen ein schlichtes: „Das ist wahr“ hinzufügen. Das schlichte „Das ist wahr“ ist dann eine Prosentenz, die für den Bericht des gesprächigen Zeugen steht und von ihm ihre spezifische semantische Rolle erbt. Das Adjektiv „wahr“ bzw. das Prädikat „ist wahr“ erweist sich, so gesehen, als ein Operator zur Bildung von Prosentenzen, kurz: als ein fürsatzbildender Operator. Dieser prosententialen Analyse der Wahrheit fügt Brandom ein schlichtes „Das ist wahr“ hinzu. Von der Wahrheit nun zur Referenz. Sie ist, im Gegensatz zur Wahrheit, ein philosophischer bzw. sprachtheoretischer Kunstbegriff. Vom Wahrheitsbegriff kann man sagen, wozu wir ihn vortheoretisch brauchen: nicht um Meinungen zu beschreiben, sondern um sie zu bekräftigen, sagt, wie wir sahen, Brandom. Dieser Auskunft liegt seine Unterscheidung der beiden sozialen Hauptfärbungen zugrunde, in denen diskursive Verpflichtungen und Berechtigungen vorkommen: als zugeschriebene und als übernommene. Wenn diese Unterscheidung auch für die Analyse der Referenz fruchtbar gemacht werden soll, dann gilt es, allererst die Redeweisen aufzuspüren, in denen die repräsentationale Dimension unserer diskursiven Verpflichtungen und Berechtigungen sich umgangssprachlich bemerkbar macht. Die ursprüngliche ausdrücklich repräsentationale Redeweise natürlicher Sprachen findet Brandom in der De-re-Zuschrei- 125 bung propositionaler Einstellungen. Schon Sellars hat darauf bestanden, daß nicht unsere Meinungen (und sonstigen propositionalen Einstellungen) selber einteilbar sind in Meinungen de dicto und Meinungen de re, sondern daß unsere Meinungszuschreibungen einteilbar sind in Zuschreibungen de dicto und Zuschreibungen de re. Dem schließt sich Brandom an, ohne den Sonderfall sogenannter epistemisch starker De-re-Zuschreibungen zu bestreiten, mittels deren wir einer Zielperson einen ausgezeichneten epistemischen Gegenstandsbezug zuschreiben, d.h. eine Meinung, die insofern selbst de re zu nennen ist, als nicht erst ihre - beanspruchte Wahrheit, sondern schon ihr schlichtes Vorkommen die Existenz eines bestimmten Bezugsgegenstandes voraussetzt, wie es sich etwa bei meiner Meinung, daß dies da drüben rot ist, verhält, die ich nur haben kann, wenn es da drüben etwas oder zumindest ein Da drüben gibt (doch können wir von diesem Sonderfall hier absehen). De dicto schreibe ich einer Zielperson Z eine Meinung zu, wenn ich einen Wortlaut (ein Diktum) anführe, dem Z, vorausgesetzt sie versteht meine Sprache, zustimmen würde. De re schreibe ich Z eine Meinung zu, wenn ich mich auf einen Gegenstand (eine res) beziehe und sage, was Z darüber denkt. Dem umgangssprachlichen Wortlaut ist übrigens nicht immer anzusehen, ob eine Zuschreibung de dicto oder de re aufzufassen ist. Die Zuschreibung etwa: „Z glaubt, daß der erste deutsche Bundeskanzler ein Sachse war“, hieße, de re gelesen, daß Z vom ersten deutschen Bundeskanzler, also dem Rheinländer Adenauer, glaubt, er sei ein Sachse gewesen. Aber die Zielperson Z meint wohl nicht, daß Rheinländer Sachsen sind, sondern hat dem Satz: „Der erste deutsche Bundeskanzler war ein Sachse“, vielleicht deswegen zugestimmt, weil sie Ulbricht, von dem sie weiß, daß er ein Sachse war, irrtümlich für den ersten deutschen Bundeskanzler (Adenauer hingegen für einen deutschen Bundespräsidenten) hält. Dann wäre die Zuschreibung nur als De-dicto-Zuschreibung zutreffend. Um hier Eindeutigkeit zu stiften, kann man verabreden, daß in De-re-Zuschreibungen die betreffende res immer im Hauptsatz, immer außerhalb des mit „daß“ eingeleiteten Nebensatzes, genannt werden soll. „Z glaubt, daß p“ wäre dann die Standardform für Zuschreibungen de dicto, „Z glaubt von a, daß er/sie/es F ist“ die Standardform für Zuschreibungen de re. In der Standardform der De-re-Zuschreibungen tritt deren repräsentationaler Charakter offen zutage, nämlich in der Rede davon, daß jemand etwas von etwas (oder von jemandem) glaubt, daß jemand etwas über etwas (oder über jemanden) denkt usw. Allerdings spiegelt sich in diesem repräsentationalen Primäridiom nach Brandoms Ansicht keine Korrespondenz zwischen unseren propositionalen Einstellungen einerseits und Dingen in der Welt andererseits, sondern „die gesellschaftliche Dimension der inferentiellen Gliederung begrifflicher Nor- 126 men“.100 Aus rein „gesellschaftlichen Zutaten“ will Brandom, wie er sich selber ausdrückt, „einen objektiven Kuchen backen“.101 Die gesellschaftlichen Zutaten ergeben sich daraus, daß diskursive Berechtigungen im Spiel des Gründe-Gebens-und-Erbittens von einem Mitspieler auf den anderen übertragen werden können und daß sie dabei den Hintergrundüberzeugungen des empfangenden Spielers angepaßt werden. Wenn ich weiß, daß Adenauer vor dem Krieg Oberbürgermeister von Köln war, kann ich einer Person, die behauptet: „Adenauer war vierzehn Jahre lang Bundeskanzler“, de re die Meinung zuschreiben, sie glaube von einem vormaligen Kölner Oberbürgermeister, daß er vierzehn Jahre lang Bundeskanzler war, und ich kann, wenn ich der Informantin vertraue und vorher nicht wußte, wie lange Adenauer regierte, nun meinerseits die (hier de dicto zugeschriebene) diskursive Verpflichtung neu übernehmen, daß ein ehemaliger Kölner Oberbürgermeister vierzehn Jahre lang Bundeskanzler war (was die Informantin ihrerseits nicht zu wissen oder zu meinen braucht bzw. was sie von mir lernen kann). Auf diese Weise sollen sich unsere Objektivitätsansprüche als „formale oder strukturelle Züge des sozialperspektivischen Charakters inferentiell gegliederter (daher begrifflich gehaltvoller) Verpflichtungen“ erweisen.102 Doch hier protestiert der Sellarsianer, der zwischen einem generischen Begriff der Wahrheit und Objektivität (der semantischen Behauptbarkeit) und einem spezifisch repräsentationalen Begriff der Wahrheit und Objektivität (der Abbildbeziehung) zu unterscheiden gewohnt ist. Jay Rosenberg hat den Protest formuliert: Strukturelle Objektivität kennzeichnet den Diskurs überhaupt, den mathematischen und den moralischen nicht minder als den empirischen und den wissenschaftlichen. Sind wir also auf reelle und komplexe Zahlen oder auf moralische Werte in der gleichen Weise bezogen wie auf mittelgroße raumzeitliche Objekte bzw. subatomare Teilchen?103 Insofern ja - antwortet Brandom -, als sich folgerungstheoretisch keine spezifisch naturwissenschaftliche Objektivität vor schwächeren Spielarten der Objektivität auszeichnen läßt.104 Aber der vermeintlich schwache Begriff rein struktureller Objektivität reiche immerhin aus, um einen Unterschied zu machen zwischen dem, was in einer Sprachgemeinschaft mehrheitlich für richtig gehalten wird, und dem, was objektiv richtig ist - und dies, obwohl Normen nicht als weltseitige Relate einer Bildbeziehung vorkommen, sondern nur in den normativen Haltungen von Personen. 100 Brandom, Replies, S. 198. Ebd. S. 200. 102 Ebd. S. 198. 103 Rosenberg, „Brandom’s Making It Explicit: A First Encounter“, in: P&PR 57 (1997), 179-187, S. 184ff. 104 Vgl. Replies, S. 203. 101 127 Zuzustimmen ist Brandom hier insoweit, als der realistische Aspekt sich in der Tat als ein generischer Zug der Wahrheit darstellt, durch den keine Art von Wahrheiten vor anderen Arten ausgezeichnet wird. Wenn es trotz alledem einen Vorrang raumzeitlicher Einzeldinge in der Ordnung des objektiv Existierenden geben sollte, dann läßt er sich, wie wir in § 33 gesehen haben, nicht durch eine Bildtheorie der elementaren Sätze und auch nicht auf andere Weise korrespondenztheoretisch begründen, sondern - allenfalls - durch eine philosophische Reflexion auf den ontologischen Status raumzeitlicher Einzeldinge, etwa von der Art, wie Strawson sie in Einzelding und logisches Subjekt durchgeführt hat (vgl. dazu Teil V). Andererseits befindet sich Brandom, da er die Wahrheit mit Bedacht als einen philosophischen Grundbegriff preisgegeben hat, in relativistischem Fahrwasser, aus dem ihm der Begriff struktureller Objektivität als eines Merkmals des Spiels des Gebens und Erbittens von Gründen, nicht heraushelfen kann. Was also kann er tun, wenn man ihn einen Relativisten nennt? Sich wie Rorty zum Ethnozentrismus bekennen? Die Möglichkeit jedenfalls, sich auf den Peirceschen Realismus (§ 29) zu berufen, steht ihm nicht offen. Denn der Peircesche Realismus erkennt ein regulatives Ideal des Gebens und Erbittens von Gründen an, das man mit Sellars näher als das Ideal der lingua triumphans fassen kann. Die lingua triumphans aber, als unerreichbares Ideal, ist die lautere Wahrheit über das Ding an sich. Für sie gibt es demnach keine unvollkommenen Sprecher mit unterschiedlichen Hintergrundmeinungen; vielmehr sind in ihr alle Gründe ein für allemal nicht nur erbeten, sondern auch gegeben. Damit aber wird die soziale Gliederung begrifflicher Gehalte zu der Äußerlichkeit, als die Sellars sie stets behandelt. Mit anderen Worten: der lingua triumphans fehlt die strukturelle Objektivität, die Brandom am faktischen Spiel des Gründegebens bloßlegt, die also im Licht jenes regulativen Ideals als ein kontingenter Mangel des faktischen Sprachspiels ohne philosophische Bedeutung erscheint. Während „Philosophen wie Putnam und Habermas, die den Relativismus mit Furcht und Abscheu betrachten, [...] Peircesche Strategien adaptieren, um ihn zu vermeiden“105, d.h. den Fortschritt der Einsicht auf ein Ideal hin ins Definiens des Wahren und des Realen aufnehmen, ist Brandom diese - ohnehin unzulängliche - Option daher verwehrt. Rorty empfiehlt ihm und uns allen statt des Blickes nach vorn auf das hehre Telos „Realität“ den feiernden Blick zurück auf den Weg, der hinter uns liegt: Wenn man uns des Relativismus bezichtige, so sollten 105 Rorty, „What Do You Do ...“, S. 175 (meine Übersetzung, AFK). 128 wir die Ferne unserer Ethnie von den Höhlenmenschen, nicht unsere Nähe zur Realität in die Waagschale werfen.106 Eines gilt es noch in Kürze zu prüfen, bevor wir weitergehen: ob nicht in Brandoms Theorie statt der unhintergehbaren Wahrheit die unhintergehbare Normativität als genuin philosophischer Grundbegriff fungieren kann. Es läuft dies auf eine Prioritätsfrage bezüglich Wahrheit und Normativität hinaus. Insofern Wahrheit selber als ein normativer Begriff auftritt - als der Begriff dessen, was man nicht immer schon glaubt, sondern was man glauben soll bzw. was zu glauben gut ist -, scheint die Prioritätsfrage allerdings sogleich zugunsten der Normativität entschieden werden zu müssen, scheint demnach Brandoms Preisgabe der Wahrheit als eines Grundbegriffes in die richtige Richtung zu weisen. Andererseits muß die Wahrheit in ihrem normativen Aspekt ja keineswegs aufgehen, sondern könnte sich als ein vielschichtiger Sachverhalt erweisen, dessen Kern und Grund das Prinzip nicht nur seiner eigenen normativen Oberfläche, sondern sogar das Prinzip der Normativität überhaupt enthalten könnte. Daß die Wahrheit eine Norm ist, die wir in unseren objektiven Geltungsansprüchen erfüllen oder nicht erfüllen, ist in der Tat nicht die ganze Wahrheit über die Wahrheit; denn es gibt, wie wir gesehen haben (§§ 23-27), Fälle von Wahrheit, in denen sie nicht mehr als erfülltes oder unerfülltes Sollen, sondern als Sein auftritt, d.h. nicht mehr normativ zu verstehen ist, sondern entweder deskriptiv oder gar auf eine vorgängige - pränormative und prädeskriptive Weise. Diese Fälle sind die Sätze der Form „Es scheint mir, daß p“, sofern sie den Anschein ausdrücken, unter dem die äußernde Person jeweils steht, d.h. sofern sie bestimmte, von Objektivitätsansprüchen entlastete Meinungen ausdrücken; denn als bloße Äußerungen können diese Sätze natürlich falsch (z.B. Lügen) sein. In ihrer nicht mehr normativen Gestalt hört die Wahrheit folglich auf, ein rein semantisches Phänomen zu sein und erweitert sich zu einem auch epistemischen Phänomen: Wahrheit, Meinung und Wissen fallen jenseits des Normativen - jenseits der Begründungspflichten - in eins (vgl. § 27). Brandom lehrt die Unhintergehbarkeit des normativen Diskurses, ohne jedoch Normen zu reifizieren. Sie sind im Auge des Betrachters oder vielmehr, da dies einerseits zu kognitivistisch und andererseits zu idealistisch klingen könnte, in den gewöhnlichen „Schicklichkeiten“ (normativen Gegenstücken von Eigenschaften) des Mitzählens in unseren diskursiven Praktiken.107 Unsere Praktiken rein als solche stiften - instituieren, setzen in Kraft - Normen oder Werte. Aber wie ist eine Praxis (bzw. sind wir in einer Praxis) dazu in der Lage? Unter wel106 107 Vgl. ebd. Vgl. Making It Explicit, S. 648f. 129 chen Bedingungen kann eine Norm ursprünglich als gültige gesetzt werden? Nur dann, wenn der Stiftungsakt selber rechtmäßig, also einer gültigen Norm gemäß erfolgt. Im Fall einer ursprünglichen Normsetzung ist aber keine Norm vorgegeben, relativ zu der die Normsetzung richtig oder falsch sein könnte. Also muß die ursprüngliche Normsetzung selbstbezüglich, ein Fall von selbstbezüglicher Gesetzgebung und in diesem Sinne von Selbstgesetzgebung (Autonomie) sein. Wir sind, so scheint es, unversehens ins Zentrum der praktischen Philosophie Kants gelangt, deren Untiefen und Abgründe wir hier nicht ausloten können (vgl. dazu Teil VI). In aller Kürze sei nur gesagt, daß, wenn Normativität ursprünglich nur in Autonomie gestiftet werden kann, alles Sollen auf ein Sein in seinem eigenen Zentrum und Grund verweist, auf das von Kant so genannte Faktum der Vernunft, das später Fichte als „Tathandlung“ des absoluten Ich ausgelegt und der Dichotomie von Normativem und Deskriptivem vorgeordnet hat. Wenn Brandom sich dazu verstehen könnte, von solchen Theorieangeboten Gebrauch zu machen, könnte er dem Relativismus wohl entkommen. Aber vermutlich sind ihm die Kosten zu hoch. Insbesondere würde er, wenn er auf Fichtesche Angebote einginge, ein absolutes Wissen und eine absolute Wahrheit als primär gegenüber dem Normativen bzw. gegenüber dem Gegensatz von Normativem und Deskriptivem annehmen müssen. Nichts in seinem Buch deutet darauf hin, daß er dies gerne täte. § 35. Das Faktum der Wahrheit Unübersehbar viele Autoren haben zu den hier verhandelten Fragen Stellung genommen und sich irgendwo im Viereck der wahrheitstheoretischen Grundpositionen loziert. Nur einige ausgewählte - möglichst paradigmatische - Vertreter der Grundpositionen konnten besprochen werden. Aber die Positionen selber samt den Zwischenräumen, die sie zwischen sich anfangs zu lassen scheinen, sollten dabei unverkürzt zur Geltung kommen. Falls diese Absicht erreicht wurde, müßte eine theoretische Landkarte entstanden sein, auf der auch die spezifischen Beiträge anderer Autoren ihren Platz finden können. Es ist bei dieser Sichtung der semantischen Theoriemöglichkeiten das anfängliche Viereck allmählich zu einer Grundalternative geschrumpft zwischen der Anerkennung des Primates der Wahrheit - gegenüber Bedeutung, Schlußfolgerung, sogar Normativität - durch eine Erste Philosophie und andererseits dem durchgängigen Diskursrelativismus, der sich auf Nachfrage in Ethnozentrismus verwandelt. Es ist dies, auf zwei Namen von Theoretikern gebracht, die Alternative zwischen Falk und Rorty in Sachen philosophischer Semantik. 130 Rorty besticht durch die Gründlichkeit, mit welcher er dem metaphysischen Realismus entsagt. An ihr gemessen geben sich Quines Naturalismus, Putnams Peircescher und näher interner Realismus sowie Sellars’ und Rosenbergs ebenfalls Peircescher und näher wissenschaftlicher Realismus - unbeschadet ihrer theoretischen Tiefe und Subtilität - als unhaltbare Halbheiten zu erkennen. Dummetts Antirealismus ist zwar konsequent auf seine Weise, also keine Halbheit, aber trotz seines Wahrheitsmomentes, das in der Folge hervortreten wird (Teil V), unhaltbar, weil er Wahrheit durchgängig zu einer verlierbaren Eigenschaft macht und weil er, indem er erschöpfend über Wahrheit Auskunft geben will, einer abweichenden Logik das Wort zu reden versucht, was zu den Bedingungen unserer klassischen Logik, von der wir ausgehen müssen, selbst wenn wir hinausgehen wollen, niemand kann. Davidsons Semantik und Theorie des Mentalen (und des Handelns) darf man entweder bei dem Gewand packen, in dem sie auftritt, und als Methodologie des Interpretierens in die Nähe Quines oder Rortys rücken oder als verkleidete Erste Philosophie lesen, wenn auch dann als eine zurückhaltende Erste Philosophie, die der Verstärkung durch einige genuin philosophische Lehren bedarf. Letzteres ist Falks Strategie in Beziehung auf Davidson; und für die fälligen Verstärkungen macht er unter anderem von Einsichten Wittgensteins Gebrauch, die dieser, nachdem er seinen Glauben an die Möglichkeit einer philosophischen Theorie gänzlich verloren hatte, nicht mehr in Form von Thesen vortragen zu dürfen glaubte (betreffend etwa den Subjektgebrauch von „ich“, die losen Verhaltenskriterien für geistige Vorgänge und anderes mehr). Auch Brandoms Einbettung der folgerungstheoretischen Semantik in eine Pragmatik des Mitzählens im Spiel des Gebens und Nehmens von Gründen kann, darin Davidsons Theorie vergleichbar, eher denn als eine Halbheit auf der abschüssigen Bahn vom metaphysischen Realismus zum Relativismus als eine in der Hauptsache unentschiedene Lehre betrachtet werden, die in diese oder jene Richtung deutbar ist. Will man sie als den sprachbezogenen Teil einer Ersten Philosophie deuten, muß man freilich zu einschneidenden Fundierungsmaßnahmen von der Art greifen, wie sie am Ende des vorigen Paragraphen angerissen wurden. Es dürfte daher den Absichten Brandoms angemessener, wenn auch nicht vollständig angemessen sein, seine Lehre als eine empirisch begründete Reflexion von sehr hohem Allgemeinheitsgrad aufzufassen, die mit Rortys Ethnozentrismus vereinbar und demnach keine philosophische Alternative zu ihm ist. Weder der Diskursrelativismus, der nicht umhin kann, sich selbst zu relativieren, noch der Ethnozentrismus, der die Selbstrelativierung gegen dogmatische Selbstaffirmation eintauscht, ist eine attraktive Position im Spiel des Gebens und Erbittens von Gründen. Insofern ist der 131 Widerwille der Pragmatisten, ihrer Lehre die von Rorty aufgezeigte Vollendung zu gönnen, nur zu verständlich. Andererseits verliert Rortys Ethnozentrismus bei genauerem Hinsehen viel von seinem Schrecken. Rorty empfiehlt ja nicht, konkrete Streitfragen, statt sie aus- oder wenigstens anzudiskutieren, unter Berufung auf die Praxis der eigenen Ethnie zu entscheiden, sondern er diagnostiziert in einer theoretischen Reflexion auf menschliche Verhaltensmöglichkeiten, daß wir uns letztlich - wie unausdrücklich auch immer - an der Praxis unserer Ethnie orientieren, selbst und gerade dann, wenn wir getreu unserem aufklärerischen Erbe Streitfragen auszudiskutieren bemüht sind. Die ethnozentristische Reflexion selbst mag für ungeübte Ohren gegenaufklärerisch klingen, aber sie legitimiert keine gegenaufklärerische Praxis, sondern vertraut vielmehr darauf, daß die Aufklärung als der Ausgang aus der Unmündigkeit ein Selbstläufer ist, der keiner metaphysischen Legitimation bedarf. Insofern mag vom Ethnozentrismus gelten, was der frühe Wittgenstein vom Solipsismus sagte: daß er, „streng durchgeführt, mit dem reinen Realismus zusammenfällt“.108 Der Realismus, von dem Wittgenstein spricht, ist der erkenntnistheoretische und der Solipsismus die Vorstellung, daß ich alles bin und die scheinbar von mir unterschiedenen Dinge nur meine Bewußtseinsinhalte. Das Ich des Solipsismus aber, das unter den Bewußtseinsinhalten nicht auftaucht, sondern ihre Umfassung und Grenze bildet, schrumpft in seiner Ortlosigkeit „zum ausdehnungslosen Punkt, und es bleibt die ihm koordinierte Realität“.109 Die Analogie zu unserem Fall, dem des Ethnozentrismus und des wahrheitstheoretischen Realismus, ist eingestandenermaßen unvollkommen; sie besteht nur darin, daß, wie der Solipsist sich zuletzt auf die Realität einläßt, der Ethnozentrist unsere diskursive Praxis anerkennt und sich vom Realisten nur noch dadurch unterscheidet, daß dieser sie überdies in einer philosophischen Reflexion als berechtigt aufweisen möchte. Die ethnozentristische Reflexion versteht sich demgegenüber nicht als Bestandteil unserer Gesamttheorie der Welt, sondern als ein Gegenmittel zur realistischen Reflexion, um uns zu überzeugen, daß diese unhaltbar und überflüssig ist. Der Rortysche Ethnozentrismus ist die philosophisch reflektierte Verweigerung philosophischer Theoriebildung. Ob philosophische Theoriebildung überflüssig ist, ist schwer zu sagen. Daß sie, daß eine genuin philosophische, theorieartige Reflexion auf den realistischen Aspekt der Wahrheit möglich und haltbar ist, beweist man indessen gegen Rorty am besten durch die Tat. Denn Rortys Argumentation bezieht ihre Stärke aus der Schwäche des metaphysischen Realismus und aus der Unfähigkeit des Pragmatismus, dem realistischen Aspekt der Wahrheit angemessen Rechnung zu tragen. Wenn diesem Aspekt auf andere Weise, nämlich so Rechnung getragen wer108 Logisch-philosophische Abhandlung, 5.64. 132 den kann, daß man Wahrheit an Subjektivität bindet und damit zugleich das überwältigend evidente, aber scheinbar isolierte „Phänomen“ der Subjektivität theoretisch fruchtbar macht, werden relativistische bzw. ethnozentristische Reflexionen wirkungsvoll überboten. Insofern geht diese Runde - geht Teil II unserer Untersuchungen - an Hans-Peter Falk. Falk hat, ausgehend von wahrheitstheoretischen Fragestellungen, der Ersten Philosophie das Faktum der Subjektivität neu vindiziert, mit sprachanalytischen Mitteln nämlich, die in hartnäckiger Zufälligkeit mit der Ansicht assoziiert waren, daß die Philosophie keine ihr eigentümliche Faktizität zu erhellen, sondern allein begriffliche Zusammenhänge, darunter etwa auch begriffliche Aspekte des Sprechens einer Person über sich selber, zu klären und die Faktizität ganz den Wissenschaften und der Erfahrung zu überlassen habe. Demgegenüber zeigt Falk, daß und wie es möglich ist, durch die im engeren Sinn sprachanalytische Klärung hindurch zu einer Faktizität vorzustoßen, die das Thema der Philosophie und nur der Philosophie sowohl ist als auch bleiben wird (da sie jede theoretische Beschäftigung mit ihr in Philosophie verwandelt). Dies ist allerdings nicht im Sinne eines ontologischen Dualismus zu verstehen. Die Faktizität, die das Thema der Philosophie bildet, ist kein getrenntes, für sich bestehendes Faktum, das zur Reifikation einlüde, sondern, eher schon, ein Aspekt der einen und gewöhnlichen Faktizität, welcher sich der Objektivierung durch die Wissenschaften entzieht: Die Personalität bzw. Subjektivität wirklicher Einzelwesen in Raum und Zeit. Denn die Subjektivität ist, wie schon in Teil I gezeigt wurde, nicht objektivierbar als res cogitans. Sie ist vielmehr gerade das Objektivieren selber: die denkende Bezugnahme auf Gegenstände (die darin zugleich als soundso begriffen werden), die der Epoché und somit der Ich-denke-Begleitung fähig und in diesem Sinn auf sich selbst - jedoch nicht als auf ein Objekt - bezogen ist. Sprachlich manifestiert sich die Subjektivität im nicht-referentiellen „ich“-Gebrauch in den Sätzen der Form „Es scheint mir, daß p“ (und in deren logischen Eigenschaften). Sie tritt hier gleichsam selbst in Sprache auf, ohne sich zu thematisieren, bietet sich dabei aber als Gegenstand möglicher Thematisierungen dar, dies dann freilich nicht als reine Subjektivität, sondern als je eine Person unter anderen in Raum und Zeit (vgl. § 25 und schon § 11 in Teil I). Da Falk ferner zeigt - dies ist ja sein primäres semantisches Anliegen -, daß der Begriff der Wahrheit wesentlich auch in Beziehung auf Subjektivität erklärt und gelernt werden muß (sofern nämlich die Es-scheint-Sätze bzw. die Meinungen, die sich in ihnen ausdrücken, paradigmatische Fälle von Wahrheit sind), liegt es nahe, statt vom Faktum der Subjektivität mit gleichem Recht vom Faktum der Wahrheit sprechen. Das Objektivieren, als welches die Subjekti109 Ebd. 133 vität gefaßt wurde, ist ja nichts anderes als das Erheben von Wahrheitsansprüchen; und insofern kann man das Faktum der Wahrheit mit dem Faktum der Subjektivität identifizieren und die beiden unterschiedlichen Beschreibungen des einen Faktums als gleichrangige Ausgangspunkte zweier theoretischer Reflexionen ansehen: der Theorie der Wahrheit und der Subjektivitätstheorie, die sich wechselseitig stützen. So sieht es Falk, und nichts des Bisherigen spricht dagegen. Es werden sich aber in nachfolgenden Teilen der Untersuchung entscheidende Gründe für einen Primat der Wahrheit nicht nur gegenüber Bedeutung, Schlußfolgerung und, wie im vorigen Paragraphen angedeutet, Normativität, sondern auch noch gegenüber der Subjektivität finden lassen. In thetischer Vorwegnahme sei daher schon jetzt das eigentlich philosophische Faktum als das der Wahrheit bezeichnet. Ein Desiderat, das durch die bloße Zuordnung von Theorie der Wahrheit und Theorie der Subjektivität in der Weise Falks noch nicht erfüllt ist, ist der Nachweis des erkenntnistheoretischen Realismus bzw. der These, daß wir im Denken und Erkennen auf eine objektive Realität bezogen (und zugleich Teil dieser Realität) sind. Falk führt den Nachweis in loser Anlehnung an Kant - an dessen transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe - im dritten Teil von Wahrheit und Subjektivität. Wir werden ihn in enger Anlehnung an Kants transzendentale Deduktion im vierten Teil dieser Untersuchung zu führen versuchen. Bis dahin ist Rortys Widerlegung durch die (theoretische) Tat noch unvollständig. Einige weitere Desiderate sind noch zu erwähnen. Falk ist zu konziliant gegenüber dem Szientismus und der Exemplar-Identitäts-These. Letztere hält er für vereinbar mit seiner nichtontologischen Theorie des Mentalen, und ersterem kommt er entgegen, indem er eine endgültige naturwissenschaftliche Weltbeschreibung (sei es in der kompakten Gestalt einer physikalischen Weltformel, sei es in der ausführlichen und kontrafaktischen Gestalt einer vollständigen Liste wahrer singulärer Sätze, die zwar niemand kennt, die ein allwissendes Wesen aber kännte) als möglich ansieht110. Beiden Zugeständnissen wurde in § 26 der Entwurf eines starken Monismus entgegengesetzt, dessen Durchführung eine unerledigte Aufgabe ist, an die hier erinnert werden soll. Falk traut dem Faktum der Subjektivität bzw. der Wahrheit offenbar so wenig außerphilosophische Reibung zu, daß die Philosophie die naturwissenschaftliche Theoriebildung unter keinerlei Anforderungen stellen kann. Einerseits ist das ein Vorzug seiner Theorie, denn im Konfliktfall wäre die Philosophie der Physik unweigerlich unterlegen. Es ist daher vernünftig, das eigene Gebiet so abzustecken, daß der Konfliktfall nicht eintreten kann; 134 oder vielmehr: es spricht für eine philosophische Theorie, wenn sie aus internen Gründen, d.h. ohne auf mögliche Konflikte mit den Wissenschaften zu schielen, ihr Gebiet entsprechend zurückhaltend definiert. Dies ist auch von der Theorie, die hier und im folgenden vertreten wird, einschließlich des starken Monismus zu hoffen und zu fordern. Doch ganz reibungslos wird sich andererseits das besondere Faktum der Wahrheit nicht mit der Faktizität überhaupt theoretisch vermitteln lassen. Zwar stellt der starke Monismus keine physikalische Theorie unter irgendeine Anforderung, wohl aber die Wissenschaftstheorie (was insoweit legitim ist, als diese zur Philosophie, nicht zu den Naturwissenschaften zu zählen ist). Er schließt nämlich nicht nur die These des allgemeinen Fallibilismus ein, daß keine physikalische Theorie je als die endgültige Wahrheit über die Welt ausweisbar ist, daß es, mit anderen Worten, keine verifizierte Weltformel geben kann, sondern die stärkere These, daß es auch keine - zufällig und unerkannt - wahre Weltformel geben kann. Denn die Frage der Supervenienz des Mentalen muß nicht für uns, sondern an sich in der Schwebe bleiben, damit einerseits der ontologische Dualismus vermieden wird, der aus der Verneinung der Supervenienzfrage folgen würde, und damit andererseits die objektiven Sachverhalte, die als Evidenzkriterien des Mentalen fungieren, grundsätzlich lose Kriterien bleiben und nicht zu strengen Kriterien werden, wie es die Bejahung jener Frage mit sich bringen würde. Mit dem Faktum der Wahrheit sind also Anforderungen an die Theorie der physikalischen Theoriebildung verbunden. Wenn diesen Anforderungen zufolge aber bezüglich der raumzeitlichen Realität mancherlei an sich in der Schwebe bleiben muß, wenn diese an ihr selbst unauslotbar ist, wie Kant es lehrt, dann ist sie mit Kant Erscheinung zu nennen und dann wird das oben erwähnte Wahrheitsmoment des Dummettschen Antirealismus, wenn auch noch undeutlich, als ein solches erkennbar: Die Zweiwertigkeit ist nur ein regulatives Ideal - nur ein Sollen, kein Sein - bezüglich der raumzeitlichen, eben nicht vollständig gediegenen „Realität“. Doch von diesen Zusammenhängen soll in späteren Teilen gehandelt werden. Zu konziliant ist Falk auch gegenüber der Davidsonschen Theorie bzw. gegenüber ihrer Verkleidung als Methodologie des Interpretierens. Einerseits betont er selber, daß man eine solche Verkleidung annehmen muß, wenn man Davidson eine Erste Philosophie zuschreiben will. Andererseits übernimmt er zuviel vom äußeren Kleid in den philosophischen Kern und sieht darüber hinweg, daß nicht beides in einem angeboten werden kann: eine philosophische Semantik, die zugleich eine Methodologie der linguistischen Semantik (oder allgemeiner der 110 Vgl. Wahrheit und Subjektivität, S. [...], wo die Frage des ontologischen Dualismus als eine empirische Frage von hohem Allgemeinheitsgrad dargestellt wird, die sich daran entscheide, ob die endgültige Weltbeschreibung 135 Interpretation) wäre. Jenes mag sie sein, aber dieses ist sie - entgegen Davidsons Absicht, versteht sich - nur im Irrealis: Wenn die semantische Kompetenz eines Sprechers theoretisch darstellbar wäre, dann aus prinzipiellen (philosophischen) Erwägungen in Gestalt einer Tarskischen Wahrheitstheorie für den Idiolekt des Sprechers. Die bekannten Schwierigkeiten, die einem solchen Unternehmen im Wege stehen (insbesondere die Behandlung nicht-extensionaler Kontexte, vgl. §§ 13 und 20), lassen aber mehr als vermuten, daß es nicht durchführbar ist, mit der Konsequenz, nicht daß die semantische Kompetenz auf andere Weise dargestellt werden muß, sondern daß sie nicht theoretisch darstellbar, nicht objektivierbar ist - wie es ihrem Status als genuiner Leistung der Subjektivität entspricht. Aber über die gewöhnlichen Schwierigkeiten hinaus, die je nach Sicht der Dinge für technische oder für grundsätzliche gehalten werden mögen, gibt es eine zweifelsfrei und so grundsätzliche, daß man Tarski beipflichten muß, der eine Wahrheitsdefinition für eine natürliche Sprache als unmöglich ansah: die Schwierigkeit der semantischen Paradoxien, als deren Grundlage wir in Teil I die unvermeidliche Selbstbeziehung der Negation erkannt haben (vgl. §§ 12-14). Davidson meint diesem Problem zu entgehen (und Falk stimmt ihm zu), wenn er, der Wahrheit ohnehin für undefinierbar hält, auch für eine je bestimmte Objektsprache statt einer expliziten Wahrheitsdefinition nur eine rekursive Charakterisierung verlangt bzw. verspricht, welche unübersetzbare Fremd- und Metasprache für die Objektsprache bleibt und daher nicht zur Formulierung von semantischen Paradoxien in ihr verwendet werden kann. Die direkte Entgegnung muß lauten, daß durch die rekursive Charakterisierung der Wahrheit für eine solche Objektsprache, in der keine semantischen Paradoxien formulierbar sind, nicht die semantische Kompetenz irgendeines natürlichen Sprechers dargestellt werden kann, da es zu dessen semantischer Kompetenz wesentlich gehört, semantische Paradoxien formulieren und verstehen zu können. Freilich könnte es nun so scheinen, als hätten wir unfreiwillig zu viel bewiesen: daß nämlich die Wahrheit selber unbehebbar antinomisch ist, daß wir infolgedessen nur durch Inkonsequenz (durch das Nichtziehen zu ziehender Folgerungen) den Schein von Widerspruchsfreiheit in unserem Denken und Sprechen herstellen und mühsam wahren können und daß aus diesem prinzipiellen Grunde, den Rorty selber gar nicht geltend macht, die Erste Philosophie zum Scheitern verurteilt und der Ethnozentrismus das letzte Wort ist. In diesem Licht besehen erscheinen deflationäre Theorien der Wahrheit („’Wahr’ ist auch nur ein Vierbuchstabenwort!“) nun als hilfreiche Strategien zur Meidung bzw. Kontrolle des Widerspruchs. ein einsortiges oder ein zweisortiges Grundvokabular benutze. 136 Aber haben wir in Teil I als den eigentlichen Herd der Antinomie nicht die schlichte Negation und das Wahrheitsprädikat als ein bloßes Hilfsmittel ihrer Formulierung erkannt? Haben mit der Antinomie also nicht alle Positionen, die wahrheits- und philosophiekritischen wie die affirmativ philosophischen gleichermaßen, ins Reine zu kommen? Einerseits ja; doch andererseits scheint die Skepsis als vornehme Resignation, gegeben die Macht und Unverrückbarkeit dieser Antinomie, noch am ehesten der guten Lebensart zu entsprechen. Der Blick für diese Zusammenhänge war zu Beginn der Philosophiegeschichte geübter als heute, ja mit ihm begann die Philosophie erst eigentlich: mit dem Blick des Parmenides auf die gewöhnliche Verstrickung des Der-Fall-Seins in antinomogene Negativität, die er zu lösen gedachte, indem er die Antinomie auf ihre Wurzel, die Negativität, zurückführte und diese dann beim Wort nahm und für nichtig erklärte, und der dann so konsequent war, das Der-Fall-Seiende als negationsfrei, somit auch als frei von Mannigfaltigkeit und Werden, d.h. als schlechthin einfach und in sich ruhend, zu begreifen. Es wäre auch heute noch der Mühe wert zu untersuchen, ob wir so weit gehen müssen, wenn wir an einem realistischen Verständnis der Wahrheit festhalten wollen.