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Universitätsklinikum Ulm Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Prof. Dr. med. Harald Gündel Misshandlung in der Kindheit: Auswirkung bei Müttern auf postpartales Stresserleben und Bindungsrepräsentation im Erwachsenenalter Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Medizin der medizinischen Fakultät der Universität Ulm Katharina Susanne Lehrl Geburtsort: Donauwörth 2014 II Amtierender Dekan: Prof. Dr. Thomas Wirth 1. Berichterstatter: PD Dr. C. Waller 2. Berichterstratter Prof. Dr. A. Buchheim Tag der Promotion: 15. Januar 2016 III Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung ............................................................................................................................. 1 1.2 Misshandlung .................................................................................................................... 2 1.2.1 Definition von Misshandlung ................................................................................................ 2 1.2.2 Erfassung von Misshandlung ................................................................................................ 5 1.2.3 Prävalenz von Misshandlung ................................................................................................ 7 1.2.4 Folgen von Misshandlung ..................................................................................................... 8 1.2.5 Missbrauchserfahrungen in der Kindheit und der Übergang in die Elternschaft ............... 10 1.3 Stress .............................................................................................................................. 11 1.3.1 Stresstheoretische Modelle ................................................................................................ 11 1.3.2 Physiologie von Stress ......................................................................................................... 13 1.3.3 Subjektives Stressempfinden .............................................................................................. 13 1.3.4 Folgen von Stress ................................................................................................................ 14 1.3.5 Stress in der Schwangerschaft und der Übergang in die Elternschaft ................................ 15 1.3.6 Stress und Misshandlung in der aktuellen Forschung ........................................................ 16 1.4 Bindung ........................................................................................................................... 18 1.4.1 Definition von Bindung ....................................................................................................... 18 1.4.2 Entstehung der Bindungstheorie ........................................................................................ 19 1.4.3 Entwicklung der Bindungstheorie durch John Bowlby ....................................................... 19 1.4.4 Erweiterung der Bindungstheorie durch Mary Ainsworth.................................................. 20 1.4.5 Weiterführung der Bindungstheorie bis zum aktuellen Stand ........................................... 22 1.4.6 Bindung und Misshandlung................................................................................................. 27 1.4.7 Bindung und Stress ............................................................................................................. 28 1.4.8 Misshandlungserfahrungen in der Kindheit: Bindung und subjektives Stresserleben nach der Geburt eines Kindes ............................................................................................................... 29 1.5 Hypothesen ............................................................................................................................ 31 2 Material und Methode ........................................................................................................ 35 2.1 Studienaufbau „Meine Kindheit – Deine Kindheit“ ............................................................... 35 2.2 Instrumente............................................................................................................................ 37 2.3 Statistisches Vorgehen ........................................................................................................... 43 3 Ergebnisse .......................................................................................................................... 45 3.1 Stichprobenbeschreibung t₀ .................................................................................................. 45 3.2 Stichprobenbeschreibung t₁ ................................................................................................... 49 3.3 Prüfung der Hypothesen ........................................................................................................ 50 4 Diskussion .......................................................................................................................... 60 IV 4.1 Diskussion der Ergebnisse ...................................................................................................... 61 4.2 Limitationen der Studie.......................................................................................................... 71 4.3 Implikationen und Ausblick .................................................................................................... 74 4.4 Implikationen und Ausblick auf interventioneller Ebene ...................................................... 78 4.5 Fazit ........................................................................................................................................ 81 5 Zusammenfassung .............................................................................................................. 83 6 Literaturverzeichnis ............................................................................................................ 85 V Abkürzungsverzeichnis AAI Adult Attachment Interview (Fragebogen zur Erfassung von Bindung im Erwachsenenalter) AAP Adult Attachment Projective Picture System (Projektives Bildsystem zur Erfassung von Bindung im Erwachsenenalter) CDC Centers of Disease Control and Prevention (Zentrum für Krankheitskontrolle und Prävention) CECA.Q Childhood Experience of Care and Abuse Questionnaire (Fragebogen zur Erhebung von Fürsorge- und Missbrauchserfahrungen in der Kindheit) CECA.Q_ALL Childhood Experience of Care and Abuse Questionnaire (Fragebogen zur Erhebung von Fürsorge- und Missbrauchserfahrungen in der Kindheit) bezogen auf Mutter und Vater mit den Subskalen Antipathie und Vernachlässigung CECA.Q_Mu Childhood Experience of Care and Abuse Questionnaire (Fragebogen zur Erhebung von Fürsorge- und Missbrauchserfahrungen in der Kindheit) bezogen auf die Mutter, Subskalen Antipathie und Vernachlässigung CECA.Q_Mu_A Childhood Experience of Care and Abuse Questionnaire (Fragebogen zur Erhebung von Fürsorge- und Missbrauchserfahrungen in der Kindheit) bezogen auf die Mutter, Subskala Antipathie CECA.Q_Mu_V Childhood Experience of Care and Abuse Questionnaire (Fragebogen zur Erhebung von Fürsorge- und Missbrauchserfahrungen in der Kindheit) bezogen auf die Mutter, Subskala Vernachlässigung CECA.Q_Va Childhood Experience of Care and Abuse Questionnaire (Fragebogen zur Erhebung von Fürsorge- und VI Missbrauchserfahrungen in der Kindheit) bezogen auf den Vater, Subskalen Antipathie und Vernachlässigung CECA.Q_Va_A Childhood Experience of Care and Abuse Questionnaire (Fragebogen zur Erhebung von Fürsorge- und Missbrauchserfahrungen in der Kindheit) bezogen auf den Vater, Subskala Antipathie CECA.Q_Va_V Childhood Experience of Care and Abuse Questionnaire (Fragebogen zur Erhebung von Fürsorge- und Missbrauchserfahrungen in der Kindheit) bezogen auf den Vater, Subskala Vernachlässigung CTQ Childhood Trauma Questionnaire (Fragebogen zur Erhebung traumatischer Erfahrungen in der Kindheit) CTQ_EM Childhood Trauma Questionnaire (Fragebogen zur Erhebung traumatischer Erfahrungen in der Kindheit), Subskala emotionaler Missbrauch CTQ_EV Childhood Trauma Questionnaire (Fragebogen zur Erhebung traumatischer Erfahrungen in der Kindheit), Subskala emotionale Vernachlässigung CTQ_insg Childhood Trauma Questionnaire (Fragebogen zur Erhebung traumatischer Erfahrungen in der Kindheit), alle Subskalen CTQ_KM Childhood Trauma Questionnaire (Fragebogen zur Erhebung traumatischer Erfahrungen in der Kindheit), Subskala körperlicher Missbrauch CTQ_KV Childhood Trauma Questionnaire (Fragebogen zur Erhebung traumatischer Erfahrungen in der Kindheit), Subskala körperliche Vernachlässigung CTQ_SM Childhood Trauma Questionnaire (Fragebogen zur Erhebung traumatischer Erfahrungen in der Kindheit), Subskala sexueller Missbrauch VII EM Emotionaler Missbrauch EV Emotionale Vernachlässigung KINDEX Konstanzer Index zur Erhebung von psychosozialen Belastungen während der Schwangerschaft KM Körperlicher Missbrauch KV Körperliche Vernachlässigung PSS 4 Perceived Stress Scale (Skala zur Erhebung von Stresswahrnehmung), 4 Items PSS 10 Perceived Stress Scale (Skala zur Erhebung von Stresswahrnehmung), 10 Items PSS 14 Perceived Stress Scale (Skala zur Erhebung von Stresswahrnehmung), 14 Items SM Sexueller Missbrauch t₀ Messzeitpunkt Screening, ein bis drei Tage nach der Geburt in der Frauenklinik Ulm t₁ Messzeitpunkt etwa drei Monate nach der Geburt an der Universität Ulm t₂ Messzeitpunkt etwa ein Jahr nach der Geburt in der Kinder- und Jugendpsychiatrie Ulm Seite 1 1 Einleitung Diese Arbeit untersucht, inwiefern Misshandlungserfahrungen in der eigenen Kindheit zu Problemen im Bindungsverhalten, sowie zu vermehrtem Stressempfinden bei der Geburt eines Kindes und beim Übergang in die Elternschaft führen können. 15% der Deutschen wurden in ihrer Kindheit und Jugend emotional, 12% körperlich und 12,6% sexuell missbraucht (Bernstein et al. 2003). Knapp die Hälfte der Befragten erfuhren in der Kindheit und Jugend emotionale oder körperliche Vernachlässigung (Bernstein et al. 2003). Immer mehr Studien zeigen, dass Misshandlungserfahrungen in der Kindheit langwierige Folgen nach sich ziehen können (Lowell et al. 2014; Schury & Kolassa 2012; Briere & Jordan 2009; Gilbert et al. 2009). Beispielsweise konnten Hyman et al. (2007) und Medrano et al. (2002) einen positiven Zusammenhang zwischen Misshandlungserfahrungen und subjektivem Stresserleben im Erwachsenenalter zeigen. Auch konnte über ein über lange Jahre verändertes Bindungsverhalten bei Opfern von Misshandlung in vielen Studien nachgewiesen werden (Davis et al. 2001; DiLillo et al. 2007; Riggs 2010; Riggs et al. 2011, Hauser 2012). Doch welche Auswirkungen haben Misshandlungserfahrungen in der Kindheit auf subjektives Stresserleben und Bindungsverhalten bei der Gründung einer eigenen Familie? In der Studie „Meine Kindheit – Deine Kindheit“ wurden Mütter befragt, die vor kurzem ein Kind entbunden haben. Diese wurden nach eigenen Misshandlungserfahrungen in ihrer Kindheit und Jugend und ihrem subjektivem Stresserleben nach der Geburt und beim Übergang in die Elternschaft befragt. Nach drei Monaten wurde die Bindung der Mutter erhoben. So sollen Zusammenhänge zwischen Misshandlungserfahrungen in der Kindheit und Jugend, subjektivem Stresserleben nach der Geburt und beim Übergang in die eigene Elternschaft und Bindung der Mutter aufgezeigt werden. Auf dieser Basis wiederum können Interventionsmöglichkeiten, sowie Forschungs- und Aufklärungsbedarf eruiert werden. Möglicherweise resultiert aus besserer Aufklärung und Hilfestellung eine größere Sicherheit für junge Eltern und weniger Angst vor der eigenen Elternschaft. Es soll ein Beitrag geleistet werden, der die Aufklärung dieser komplexen Zusammenhänge fördert Seite 2 und somit zur Verminderung von Misshandlungserfahrungen, Stresserleben bei der Geburt und im Übergang in die eigene Elternschaft und Schwierigkeiten im Bindungsverhalten im Erwachsenenalter führt. Das folgende Kapitel beschäftigt sich zunächst näher auf das Thema „Misshandlung“. 1.2 Misshandlung 1.2.1 Definition von Misshandlung Was unter Misshandlung verstanden wird, ist in Deutschland abhängig von der definierenden Instanz. Beispielsweise betonen das Rechtswesen oder die psychologische Forschung unterschiedliche Schwerpunkte bei der Definition von Misshandlung. Es existiert kein klarer Standard bei der Bestimmung der Grenzen zwischen Misshandlung und normalen Erziehungspraktiken. Trotz der offensichtlichen Relevanz der Thematik konnte bis heute interinstitutionell keine einheitliche Definition festgelegt werden (Cicchetti & Toth 2005). 2008 konzeptualisierte das Centers of Disease Control and Prevention (CDC) in Zusammenarbeit mit Leeb, Paulozzi, Melanson, Simon und Arias (2008) Kindesmisshandlung in einer grundlegenden Definition (Leeb et al. 2008). Leeb et al. (2008, Seite 11) definieren Misshandlung als „(a)ny act or series of acts of commission or omission by a parent or other caregiver that results in harm, potential for harm, or threat of harm to a child.“ 1 Die Begriffe Misshandlung und Missbrauch werden in dieser Arbeit synonym verwendet, werden jedoch nach der Definition von Leeb et al. (2008) spezifiziert. Der Begriff Vernachlässigung fasst emotionale und körperliche Vernachlässigung nach Leeb et al. (2008) zusammen (vgl. Tabelle 1). 1 Jeglicher Akt oder jegliche Serie von Verübung oder Unterlassung einer Tätigkeit durch ein Elternteil oder eine Betreuungsperson, deren Resultat Schaden, potenzieller Schaden oder Androhung von Schaden für ein Kind ist. Seite 3 Tabelle 1: Dimensionen von Misshandlung und deren Definition nach CDC (vgl. Leeb et al. 2008) Misshandlung Definition Körperliche Körperliche Misshandlung ist definiert durch den beabsichtigten Einsatz von Misshandlung physischer Gewalt gegen Kinder, die potenziell oder tatsächlich zu körperlichen Verletzungen führt (bspw. Schlagen, Treten, Stoßen und Schütteln). Sexuelle Sexuelle Misshandlung beinhaltet jede vollendete oder beabsichtigte Misshandlung sexuelle Handlung oder sexuellen Kontakt an einem Kind oder Ausnutzung eines Kindes durch eine Betreuungsperson. Man unterscheidet - Sexueller Akt (jegliche Penetration zwischen Mund, Penis, Vulva oder Anus eines Kindes und dem Misshandelnden und jegliche Penetration mit Hand, Finger oder anderem Objekt der analen oder genitalen Region) - Missbräuchlicher sexueller Kontakt (beabsichtigte direkte Berührung oder Berührung durch Kleidung von Genitalien, Anus, Leiste, Brust, inneren Schenkels und Gesäß) - Sexueller Missbrauch ohne Kontakt (Exponierung eines Kindes an eine sexuelle Umgebung, Filmen eines Kindes in sexueller Art und Weise, sexuelle Belästigung und Prostitution eines Kindes). Emotionaler/ Psychologischer Missbrauch bedeutet, die Betreuungsperson gibt dem Kind Psychologischer das Gefühl wertlos, mangelhaft, ungeliebt, ungewollt, bedroht zu sein oder Missbrauch ausgenutzt zu werden. Dies kann kontinuierlich und episodisch auftreten (bspw. Isolation, Herabstufung, Terrorisierung, Ausnutzung oder Ablehnung). Körperliche Körperliche Vernachlässigung beinhaltet einen Mangel an adäquater Vernachlässigung Ernährung, Hygiene oder Schutz oder einen Mangel an adäquater sauberer, passender oder an wetterangepasster Kleidung. Emotionale Emotionale Vernachlässigung bedeutet, die Bezugsperson ignoriert das Vernachlässigung Kind, verweigert emotionale Reaktionen oder adäquaten Zugang zu psychologischer und psychiatrischer Betreuung. Seite 4 Missbrauch und Misshandlung als aktive Handlung Unter Missbrauch als aktiver Handlung werden Handlungen oder Worte verstanden, die die Androhung von Schaden, potenziellen Schaden oder tatsächlichen Schaden für das Kind beinhalten (Leeb et al. 2008). Diese Handlungen oder Worte – nicht deren Konsequenzen – finden bewusst und beabsichtigt statt. Misshandlung oder Missbrauch als aktive Handlung kann gleichgesetzt werden mit den Dimensionen physischer, sexueller oder psychologischer Missbrauch (vgl. Tabelle 1) (Leeb et al. 2008). Ein Beispiel für körperlichen Missbrauch ist das absichtliche Ausüben von Schlägen (beispielsweise als Bestrafung). Dabei können jedoch Hämatome oder andere Verletzungen Konsequenzen sein, die nicht beabsichtigt wurden (Leeb et al. 2008). Missbrauch und Misshandlung durch Unterlassung (Vernachlässigung) Auch das Unterlassen der Versorgung von grundlegenden körperlichen, emotionalen und erzieherischen Bedürfnissen eines Kindes oder das Unterlassen, ein Kind vor Schaden oder potenziellem Schaden zu schützen, stellt eine Form der Misshandlung dar. Diese Form der Misshandlung wird mit Vernachlässigung gleichgesetzt. Wie beim Missbrauch durch aktives Handeln spielt auch bei der Vernachlässigung keine Rolle, ob die Konsequenzen beabsichtigt wurden oder nicht (Leeb et al. 2008). Vernachlässigung kann eingeteilt werden in ein Versagen der Versorgung und ein Versagen der Aufsicht. Unter einem Versagen der Versorgung versteht man physische, emotionale, (zahn-)medizinische und schulische Vernachlässigung. Das Versagen der Aufsicht beinhaltet die inadäquate Aufsicht des Kindes sowie das Aussetzen in eine gewalttätige Umgebung (Leeb et al. 2008). Im Rahmen der gängigen Literatur über Kindesmisshandlung und innerhalb dieser Arbeit wird Misshandlung nach Kriterien des CDC eingeteilt (vgl. Tabelle 1). Eine Betreuungsperson befindet sich permanent oder vorübergehend in einer vormundschaftlichen Position. Aus dieser Position heraus ist sie verantwortlich für die Sorge und Kontrolle, das Wohlergehen und die Gesundheit des Kindes (Leeb et al. 2008). Schaden wird definiert als eine akute Störung durch Misshandlung oder Vernachlässigung, die die körperliche oder psychische/emotionale Gesundheit eines Kindes gefährden. Diese Störung kann die körperliche, emotionale oder kognitive Entwicklung eines Kindes beeinträchtigen. Schaden kann sofort (z. B. gebrochener Knochen) und verspätet (z. B. Depression) auftreten (Leeb et al. 2008). Die Androhung eines Schadens kann durch Worte, Seite 5 Gesten oder Waffen kommuniziert werden. Dies kann explizit (z. B. durch die Erhebung der Hand, als ob für einen Schlag ausgeholt würde) oder implizit stattfinden (z. B. durch einen Tritt gegen die Wand) (Leeb et al. 2008). Eine Störung der körperlichen Gesundheit kann unter anderem körperliche Verletzungen, vermeidbare Krankheiten und Fehlernährung miteinschließen. Störungen der emotionalen/psychischen Gesundheit können Angststörungen, Störungen des Sozialverhaltens, gestörte Beziehungen, Depression und depressive Symptomatik, Essstörungen, Posttraumatischer Stress (inkl. Posttraumatischer Belastungsstörung), externalisierendes Verhalten (z. B. Aggression), Mangel an Bildung, Schulversagen, Kriminalität und Substanzabusus beinhalten (Leeb et al. 2008). Diese einzelnen Formen von Missbrauch (vgl. Tabelle 1) treten in der Praxis häufig nicht einzeln auf und stehen in wechselseitigen Beziehungen zueinander (Dong et al. 2004). 1.2.2 Erfassung von Misshandlung Die operationalisierte Erfassung von Misshandlung stellt die Forschung bis heute vor bestimmte Herausforderungen und Schwierigkeiten. Retrospektive Querschnittsstudien und prospektive Längsschnittstudien Retrospektive Studien sind das am häufigsten verwendete Studiendesign, um die Prävalenz von Misshandlung zu erheben (Biere 1992; DiLillo, DeGue, Kras, Di Loreto-Colgan, Nash 2006; Roy & Perry 2004). Dabei kann es bei retrospektiver Erhebung von Misshandlung in verschiedener Hinsicht zu einem Bias kommen. Zum Beispiel ist es möglich, dass aktuelles Geschehen, wie akute Psychosen oder Stresserleben, die Wiedergabe von Misshandlungserfahrungen beeinträchtigen (Briere 1992). Schwere Formen der Misshandlung können eine Amnesie nach sich ziehen (Briere 1992; Williams 1995). Des Weiteren können lange zeitliche Distanzen die Aussage über den Missbrauch verfälschen. Verdrängung, Scham, soziale Erwünschtheit, die Tendenz zur Bagatellisierung oder Schutzmechanismen spielen eine wichtige Rolle bei der verfälschten Wiedergabe von Misshandlung (Briere 1992; DellaFemina, Yeager, Lewis 1990; Bader, Hänny, Schäfer, Neuckel, Kuhl 2009). Es scheint zumindest bei der Erfassung von sexuellem Missbrauch auch intergenerationelle Unterschiede zu geben. So würden ältere Frauen über weniger sexuelle Belästigung und Missbrauch berichten als junge Frauen (Briere 1992). Auch ein vermehrter Bericht von Misshandlung müsse in Betracht gezogen werden. Durch die Seite 6 Tendenz zur Dramatisierung und sekundären Gewinn könne es zur falsch positiven Erhebung von Misshandlung kommen (Briere 1992). Briere (1992) hat sich zwar vor allem mit der Erfassung von sexuellem Missbrauch beschäftigt, seine Überlegungen und Ergebnisse lassen sich jedoch auch auf alle weiteren Missbrauchsformen übertragen. Er betont ebenfalls die eingeschränkte retrospektive Erhebung von Koeffekten und möglicherweise moderierenden Beispielsweise sei eine und genaue mediierenden zeitliche Effekten Differenzierung des Missbrauchs. bezüglich der Misshandlungserfahrungen meist nicht mehr möglich (Hat eine depressive Symptomatik bereits vor der Missbrauchserfahrung vorgelegen?). Die Interaktionen verschiedener Formen von Missbrauch und die dadurch entstehenden Effekte, sowie der zeitliche Bezug von familiärer Dysfunktion zum Missbrauchserlebnis könnten nicht mehr erfasst werden (Briere 1992). Doch auch longitudinale Studien bergen Schwierigkeiten bei der Erfassung von Misshandlung. Vor allem hinsichtlich ethischer Gesichtspunkte sind diese nur schwer vertretbar. In methodischer Hinsicht stellen die Selektion der Probanden, die Veränderung der Erhebung in Abhängigkeit zum Alter, die möglichen Effekte wiederholter Messungen, Attribuierungseffekte und die Veränderung des Verlaufs durch Therapie die Forschung vor Schwierigkeiten. Ein generelles Problem bei der Erfassung von Misshandlungserfahrungen sind fehlende einheitliche Definitionen (Briere 1992; Stoltenborgh, van IJzendoorn, Euser, Bakermans-Kranenburg 2011). Je nach Definition, Altersspanne von Opfern und Täter und erhebender Instanz wurden unterschiedliche Prävalenzwerte erfasst. Dies führe zu einer immer noch hohen Dunkelziffer für die Prävalenz von Missbrauch, Misshandlung und Vernachlässigung (Briere 1992; Stoltenborgh et al. 2011; Pillhofer, Ziegenhain, Nandi, Fegert, Goldbeck 2011). Fragebögen und Interviews DiLillo et al. (2006) untersuchten die Erhebung von sexueller oder körperlicher Misshandlung hinsichtlich der Unterschiede zwischen Fragebögen, Interviews und Computer-gesteuerten Befragungen. Die angewandten Messmethoden zeigten keine Unterschiede bei der Wahrscheinlichkeit der Mitteilung von sexuellem oder körperlichem Missbrauch. Opfer von Misshandlung klagten bei der Computerbefragung über erhöhte Stresswerte und Stimmungsänderungen. Trotzdem war die Computerbefragung in einer Umfrage unter den Teilnehmenden die präferierte Messmethode (DiLillo et al. 2006). Seite 7 Ein wichtiger Vorteil von Selbstbericht-Fragebögen stellt ihre hohe Ökonomie dar. Die Erfassung ist zeit- und kostensparend (Roy & Perry 2004). Der entscheidende Vorteil eines Interviews ist die direkte Kontaktaufnahme und Information. Oftmals können Zusammenhänge besser verstanden und die Kooperation des Probanden oder Patienten besser eingeschätzt werden. Im klinischen Rahmen kann sogleich eine Beziehung zwischen Therapeut und Misshandlungsopfer aufgebaut werden, die in Zukunft wichtig für den Therapieerfolg sein kann (Bremner, Vermetten, Mazure 2000). 1.2.3 Prävalenz von Misshandlung All diese Möglichkeiten der Erfassung von Misshandlung wurden bereits vielfach in Studien angewandt, um Zahlen für die Prävalenz von Misshandlung zu erlangen. Häuser, Schmutzer, Brähler und Glaesmer (2011) erfassten in einer repräsentativen Stichprobe aus 4455 Personen die Prävalenz von Misshandlung in Deutschland. Die Befragung im Selbstbericht mittels des Childhood Trauma Questionnaire (CTQ; Bernstein et al. 2003) ergab, dass schätzungsweise 15% der Deutschen in ihrer Kindheit und Jugend emotional, 12% körperlich und 12,6% sexuell missbraucht wurden. Davon wurden 1,6% schwer emotional misshandelt, 2,8% schwer körperlich missbraucht und 1,9% erlebten schweren sexuellen Missbrauch. Auf die Definition der Schweregrade im CTQ wird im Verlauf der Arbeit noch eingegangen. Von emotionaler Vernachlässigung waren 49,5% betroffen, von körperlicher Vernachlässigung 48,4% der Befragten. Von den Opfern von Vernachlässigung wurden 6,5% schwer emotional vernachlässigt und 10,8% schwer körperlich vernachlässigt (vgl. Abb. 8). Es gab einen signifikanten korrelativen Zusammenhang zwischen allen Missbrauchsformen. Pillhofer et al. (2011) beschäftigten sich ebenfalls mit der Prävalenz von Misshandlung in Deutschland. Sie verglichen öffentliche Datenregister und Statistiken mit empirischen Studien, um die Dunkelziffer zu erfassen. Die polizeiliche Kriminalstatistik ergab dabei eine stetige Zunahme der angezeigten Misshandlungen, nicht jedoch des sexuellen Missbrauchs. Im Rahmen der polizeilichen Kriminalstatistik wurde die sogenannte Opfergefährdung errechnet. Diese beinhaltet alle gemeldeten versuchten und vollendeten Straftaten pro 100.000 Einwohner der jeweiligen Alters- und Geschlechtsgruppe (Pillhofer et al. 2011). Die Opfergefährdung für sexuellen Missbrauch lag von 1994 bis 2009 bei 9,8 Fällen pro 100.000 Kindern unter 14 Jahren und 18,6 Fällen Seite 8 pro 100.000 bei 14- bis 18-Jährigen. Bei Berücksichtigung von Kindern und Jugendlichen, die nicht in einem Schutzbefohlenenverhältnis zum Erwachsenen standen, lagen die Gefährdungszahlen bei 163,3 Kindern und 30 Jugendlichen pro 100.000 Gleichaltriger. Auch stiegen die Anzeigen und Durchführung des Entzugs der elterlichen Fürsorge zwischen 1991 und 2009 kontinuierlich (Pillhofer et al. 2011). In der Forschung seien laut Pillhofer (2011) die Prävalenzen von sexuellem Missbrauch zwischen 4,2% bis 16,8% und von körperlicher Misshandlung zwischen 10,6% und 81,1% angegeben. Die großen Schwankungen ergäben sich aus einem Fehlen einheitlicher Definitionen. Daten zur Dunkelziffer der Prävalenz von Vernachlässigung liegen in Deutschland nicht vor (Pillhofer et al. 2011). Heintze, Wirth, Welke und Braun (2006) kamen durch Befragung von Allgemeinärzten oder Pädiatern auf Prävalenzzahlen von 46,6% oder 59,4% für emotionalen Missbrauch. Münder, Mutke und Schone (2000) haben Fachkräfte des Jugendamtes befragt, welche Gefährdungen von Minderjährigen zu gerichtlichen Verfahren führten. Mit 65,1% standen beide Formen von Vernachlässigung an erster Stelle der Gefährdungsgrundlagen Minderjähriger in Deutschland. Die Messung der Prävalenz von Vernachlässigung ist schwierig und hat bisher nur wenig Aufmerksamkeit erhalten. Studien zeigten, dass die kumulative Prävalenz von Vernachlässigung zwischen 6% und 11,8% liegt (Gilbert et al. 2009). 1.2.4 Folgen von Misshandlung Misshandlung in der Kindheit hat weitreichende Folgen für die Betroffenen. Dabei reichen die Auswirkungen von psychischen bis zu körperlichen Erkrankungen (Schury & Kolassa 2012; Briere & Jordan 2009; Gilbert et al. 2009). Psychische Folgen Mehr als ein Viertel aller psychischen Erkrankungen können mit Misshandlung in der Kindheit in Verbindung gebracht werden (McLaughlin, Green, Gruber, Sampson, Zaslavsky, Kessler 2010). In der Literatur der letzten Jahre wurden als psychische Folgen bei Misshandlungsopfern beispielsweise Depression (Batten, Aslan, Maciejewski, Mazure 2003; Heim, Newport, Bonsall, Miller & Nemeroff 2003; McLaughlin et al. 2010; Springer, Sheridan, Kuo, Carnes 2007), Dysthymie und posttraumatisches Belastungssyndrom (McLaughlin et al. 2010), Angsterkrankungen (Heim et al. 2003; Springer et al. 2007) wie Seite 9 Soziophobien und spezifische Phobien (McLaughlin et al. 2010) genannt. Des Weiteren konnte ein erhöhtes Risiko für Impulskontrollstörungen (McLaughlin et al. 2010, Springer et al. 2007), ADHS und pathologischen Substanzabusus nachgewiesen werden (McLaughlin et al. 2010). Briere und Jordan (2009) zählten Substanzabusus zu vermeidendem Verhalten. Weiterhin listeten sie darunter die Punkte Dissoziation und TRBs (tension reduced behaviors). TRBs sind beispielsweise risikoreiches sexuelles Verhalten, Binge-Eating oder Suizidalität (Briere & Jordan 2009). Auch Dissoziation und TRBs könnten mit Misshandlung in der Kindheit einhergehen (Briere & Rickards 2007; Chu, Frey, Ganzel, Matthews 1999). Edwards, Holden, Felitti und Anda (2003) konnten zeigen, dass Misshandlung einen kumulativen Effekt auf den negativen Zusammenhang zum Mental Health Score hat. Dieser Score misst die psychische Gesundheit mit fünf Items und fokussiert vor allem auf Angsterkrankungen und Depressionen. Höhere Werte sprechen für eine bessere psychische Gesundheit (Ware & Sherbourne 1992). Einen besonderen Stellenwert nahm dabei emotionale Misshandlung ein. Bei vorhandener emotionaler Misshandlung wurde dieser Effekt nochmals verstärkt. Körperliche Folgen Misshandlung in der Kindheit kann auch körperliche Folgen nach sich ziehen. Irish, Kobayashi und Delahanty (2010) zeigen in ihrer Metaanalyse, dass es nach Misshandlung in der Kindheit zu signifikant mehr Beschwerden hinsichtlich körperlicher Gesundheit kommt. Beispielsweise steigt nach Misshandlung in der Kindheit die Wahrscheinlichkeit an, im späteren Leben unter Fibromyalgia rheumatica, Rheumatoider Arthritis (Smith, Papp, Tooley, Montague, Robinson & Cosper 2010; Tietjen et al. 2010), Allergien, Asthma, Bronchitis/Emphysem, arteriellem Hypertonus, Herzproblemen, Leberproblemen oder Magenulcera zu leiden (Smith et al. 2010). Außerdem erhöhte Misshandlung in der Kindheit bei Frauen das Risiko für eine kardiovaskuläre Erkrankung (Batten et al. 2003). Eine Metaanalyse konnte einen positiven Zusammenhang zwischen sexueller Misshandlung und vermehrt risikohaftem Verhalten für HIV-Infektion nachweisen (Arriola, Louden, Doldren & Fortenberry 2005). Widom, Czaya, Bentley und Johnson (2012) zeigten in einer Follow-upStudie nach 30 Jahren ein erhöhtes Risiko für Misshandlungsopfer an Diabetes mellitus, pulmonalen Erkrankungen, Malnutrition oder Visusproblemen zu leiden. Felitti et al. (1998) wiesen nach, dass die Wahrscheinlichkeit für risikoreiches gesundheitliches Verhalten und Krankheiten steigt, je höher die Anzahl der verschiedenen Missbrauchsarten ist. Seite 10 1.2.5 Missbrauchserfahrungen in der Kindheit und der Übergang in die Elternschaft Der Übergang in die eigene Elternschaft ist eine Zeit, die individuelle Anpassung erfordert und oftmals auch partnerschaftliche Beziehungen vor Herausforderungen stellt (Cowan & Cowan 1995). Viele Eltern empfänden den Übergang in die eigene Elternschaft als sehr stressig und hätten Schwierigkeiten, sich an die neuen Gegebenheiten anzupassen (Cowan & Cowan 1995). Darunter gäbe es jedoch Eltern, die ein erhöhtes Risiko hätten für die Entwicklung einer Maladaption in der Zeit des Überganges in die eigene Elternschaft (Belsky & Rovine 1990; Cowan & Cowan 1995). Folgen einer Maladaption können vor allem die individuelle Anpassung (z. B. Entwicklung einer Depression) und die Anpassung der Ehe (z. B. deutliche Abnahme der Zufriedenheit in der Beziehung) betreffen. Diese Folgen können wiederum negativen Einfluss auf die Entwicklung des Kindes haben (Cowan & Cowan 1995). Eltern mit vermehrtem Risiko für eine Maladaption seien Paare mit verminderter sozialer Unterstützung, niedriger Zufriedenheit in der Ehe und vermehrtem Stress vor der Geburt des Kindes (Cowan & Cowan 1995). Misshandlungserfahrungen in der Kindheit gehen im Erwachsenenalter nachweislich mit vermehrtem Stresserleben (Hyman, Paliwal & Sinha 2007; Medrano, Hatch, Zule & Desmond 2002) und verminderter sozialer Unterstützung einher (Folger & Wright 2013; Sperry & Widom 2013). Leon, Jacobvitz & Hazen (2004) verfolgten die Annahme, dass eigene Kindheitserfahrungen den Übergang in die Elternschaft beeinflussen. In ihrer Studie untersuchten sie drei Gruppen von Müttern: Gruppe 1 erlebte einen Missbrauch oder Verlust, der nicht aufgearbeitet wurde. Gruppe 2 erlebte einen Missbrauch oder Verlust, von dem man davon ausging, dass er verarbeitet wurde. Gruppe 3 erlebte keinen Missbrauch und keinen Verlust. Es zeigte sich, dass die Mütter mit aufgearbeitetem Missbrauch oder Verlust den Übergang in die Elternschaft negativer empfanden und über mehr Stress berichteten, allerdings kein Risiko für unsensible Erziehung aufwiesen. Die Mütter, deren Missbrauch und Verlust nicht aufgearbeitet war, wurden mit weniger sensibler Erziehung in Verbindung gebracht (Leon et al. 2004). In der Literatur wird des weiteren vielfach vom transgenerationalen „Cycle of maltreatment“ gesprochen (Browne & Herbert 1997; Dixon, Browne & HamiltonGiachritsis 2009; Schury & Kolassa 2012). Demzufolge bringe Misshandlung in der eigenen Kindheit ein erhöhtes Risiko mit sich, die eigenen Kinder zu misshandeln. Im Tierversuch konnten physiologische Korrelate nachgewiesen werden, die diese Theorie unterstützen. Seite 11 Caspi et al. (2002) konnten Veränderungen von Neurotransmittern nach frühen Misshandlungserfahrungen nachweisen, die bis in das Erwachsenenalter bestehen können und aggressives Verhalten beeinflussen. Dixon et al. (2009) beschäftigten sich eingehend mit Risiko- und Schutzfaktoren für transgenerationale Transmission von Misshandlung. Zu den schwerwiegendsten Risikofaktoren für die Weitergabe von Misshandlungserfahrungen würden demnach Alleinerziehung, ein gewalttätiger Erwachsener im Haushalt und Gefühle der Gleichgültigkeit eines Elternteils gegenüber dem Kind gehören. Protektiv sei ein positiver Erziehungsstil. Hierzu gehöre beispielsweise Sensibilität, positive Wahrnehmung des Kindes durch die Mutter, realistische Erwartungen an das Kind und daraus resultierend positives Antwortverhalten des Kindes auf Reaktionen der Eltern (Dixon et al. 2009). Oliver (1993) zeigte, dass ein Drittel der Eltern genügend protektive Faktoren aufweist, um den Kreislauf zu durchbrechen. Es kann also angenommen werden, dass es zu einem transgenerationalen „Cycle of Maltreatment“ kommen kann, der durch gewisse protektive Faktoren oder Risikofaktoren verstärkt oder abgeschwächt wird. 1.3 Stress 1.3.1 Stresstheoretische Modelle Das Phänomen Stress wurde im letzten Jahrhundert in vielen Modellen beschrieben, mit dem Ziel es greifbarer zu machen. Walter Cannon erforschte bereits 1932 den Effekt von Kälte, Sauerstoffmangel und anderen Umweltstressoren auf den Mensch. Er folgerte, dass kurze oder leichte Stressoren vom Körper gut bewältigt würden. Handele es sich jedoch um lang anhaltende oder schwere Stressoren, komme es zum Zusammenbruch des Organismus (Hobfoll 1989). Selye untersuchte Stress hinsichtlich der biologischen Reaktionen. Er beschrieb dabei ein Adaptationssyndrom, welches drei Stufen umfasst. Hierbei komme es zuerst zu einer Alarmreaktion mit einem kurzen Zeitraum körperlicher Erregung, die das Individuum in Einsatzbereitschaft versetzt. Dann folge eine Widerstandsreaktion, in der die Erregung abnehme und schließlich komme es zu einer Erschöpfungsreaktion, welche gekennzeichnet sei durch eine verminderte Ausschüttung von adaptiven Stresshormonen und die verminderte Fähigkeit, Stressoren zu bewältigen. Die Erschöpfungsreaktion könne Folgen wie Krankheit oder sogar Tod nach sich ziehen Seite 12 (Selye 1976, 1976). Er stellte auch die Hypothese auf, dass Stress nicht immer schlecht sein muss. Es gäbe sowohl Distress, also negativen Stress, als auch Eustress, positiven Stress. (Selye 1976, 1976). Holmes und Rahe (1967) rückten die Reaktionen auf verschiedene Stressoren in den Fokus. So könnten nicht nur akut negative Ereignisse in unserem Leben uns unter Stress setzen. Auch einschneidende Lebensereignisse, die primär positiv bewertet werden, wie zum Beispiel Heirat oder Geburt eines Kindes, seien stressig. Es folgten weitere Einteilungen von Stressoren, wie zum Beispiel in akute, zeitlich begrenzte Stressoren (z. B. ein Arztbesuch); chronisch intermittierende Stressoren (z. B. Prüfungen an der Universtität); chronische Stressoren (z. B. chronische Krankheit oder Krieg) und einschneidende Lebensereignisse (z. B. Tod eines nahen Angehörigen) (Hobfoll 1989). Kanner, Coyne, Schaefer und Lazarus (1980) beschäftigten sich mit den Auswirkungen der Alltagsbelastungen, den sogenannten „daily hassles“, auf unser Stresserleben und seinen Folgen. Dazu zählten beispielsweise finanzielle Probleme, Sorge um Gesundheit oder Zeitdruck. Sie konnten nachweisen, dass „daily hassles“ höhere prädiktive Aussagekraft für psychische Stresssymptomatik besitzen als einschneidende Lebensereignisse. Trumbull und Appley (1986) nahmen schließlich eine Einteilung in physiologische, psychologische und soziale Stressoren vor (Trumbull & Appley 1986; zitiert nach Hobfoll 1989). Lazarus und Folkman (1984) veränderten den Blickwinkel auf Stress nochmals. In ihrem homöostatischen oder transaktionalen Modell betonen sie die Bewertung von Stress durch das Individuums und die Möglichkeiten der Bewältigung (Hobfoll 1989). Die Bewertung lasse sich in eine primäre Bewertung einteilen, wobei die Transaktion des Individuums mit der Umwelt bezüglich des eigenen Wohls eingeschätzt wird. Die Entstehung von Stress sei wiederum von der sekundären Bewertung abhängig, die sich mit den eigenen Bewältigungsmöglichkeiten auseinandersetze (Kohlmann 2002). Aus dieser Perspektive heraus entstand das ressourcenfokussierte Modell von Hobfoll (1989). Er sah Stress als (a) the threat of a net loss of resources, (b) the net loss of resources, or (c) a lack of resource gain following the investment of resources.”2 (Hobfoll 1989, S. 516). Heute versteht man unter Stress eine Interaktion biologischer, psychologischer und sozialer Einflussfaktoren. Laut Dickerson und Kemeny (2004) empfindet der Mensch Stress, wenn er eine Anforderung als unkontrollierbar einschätzt oder von anderen Personen während einer 2 (a) den drohenden Nettoverlustes von Ressourcen, (b) ein Nettoverlust an Ressourcen oder (c) ein Mangel in der Ressourcengewinnung gefolgt von Investitionen in Ressourcen Seite 13 Aufgabe negativ bewertet werden kann (Anforderungs-Kontroll-Modell). Treffen beide Aspekte auf eine Anforderung zu, könne im Vergleich zu Anforderungen, die nur eine oder keinen dieser beiden Aspekte beinhalten, die stärkste und längste Stressreaktion des Körpers nachgewiesen werden. 1.3.2 Physiologie von Stress Es gibt mehrere hormonelle Pfade, die die Adaption des Menschen an erhöhte physiologische und psychologische Anforderungen ermöglichen (Axelrod & Reisine 1984). Als Reaktion auf Stress kommt es zur Ausschüttung von Corticotropin-Releasing-Hormon (CRH) aus dem Hypothalamus, welches wiederum die Ausschüttung von Adrenocorticotropem Hormon (ACTH) aus dem Hypophysenvorderlappen in die Blutbahn stimuliert. Dies führt schließlich zu einer Sekretion von Cortisol aus der Nebennierenrinde, welches durch eine Negativ-Feedback-Regulation wiederum die Sekretion von ACTH und CRH supprimiert (Axelrod & Reisine 1984). Physiologische Wirkungen des Cortisols sind beispielsweise die Mobilisierung von Energien durch Erhöhung des Blutglucoselevels oder Modulation des Immunsystems (Dickerson & Kemeny 2004). Dieser Regelkreislauf wird auch als HPA-Achse bezeichnet. Des Weiteren kommt es bei Stress zur Ausschüttung von Adrenalin und Noradrenalin aus dem sympathischen Nervensystem und dem Nebennierenmark (Axelrod & Reisine 1984). Es folgt eine sympathische Aktivierung des Körpers im Sinne einer „Fight-and-Flight“-Reaktion. Dazu gehören unter anderem Tachykardie, Vasokonstriktion, Mydriasis, Bronchodilatation, verminderte Peristaltik und Sekretion des Darms, eine Kontraktion der Sphincteren und vermehrte Schweißsekretion (Handwerker & Kress 2008). 1.3.3 Subjektives Stressempfinden Dass es sich bei Stressempfinden um ein komplexes Konstrukt handelt, wurde bereits in der vorangegangenen Theorie deutlich. Verschiedene Stressoren zeigten demnach auf verschiedene Personen unterschiedliche Auswirkungen hinsichtlich der individuellen Wahrnehmung und des Empfindens des Stressors (Lazarus & Folkman 1984; Hobfoll 1989). Bei gleichen Stressoren würden sich Personen hinsichtlich ihrer Wahrnehmung und ihres Seite 14 subjektiven Erlebens unterscheiden (Kudielka, Schommer, Hellhammer & Kirschbaum 2004). Dies zeigte sich auch physiologisch. Kirschbaum, Pirke und Hellhammer (1993) führten mit Studienteilnehmenden den „Trier Social Stress Test“ (TSST) durch und erhoben die Veränderung von ACTH, Serum- und Speichelcortisol, Growth Hormon, Prolactin und Herzfrequenz. Der TSST beinhaltet eine Vorbereitungszeit von 10 Minuten und anschließend den Vortrag einer freien Rede und die Lösung von Rechenaufgaben vor drei fremden Personen und einer Videokamera. Obwohl somit jeder Proband dem gleichen Stressor ausgesetzt war, variierten die physiologischen Stressreaktionen je nach Geschlecht, genetischen Faktoren oder Nikotinkonsum (Kirschbaum et al. 1993). 1.3.4 Folgen von Stress Stress und seine Folgen waren und sind Gegenstand der Forschung. Eine weithin bekannte Folge von Stress sind beispielsweise peptische Magenulcera (Overmier & Murison 1997). Segerstrom und Miller (2004) konnten in einer Metaanalyse zeigen, dass akuter Stress mit einer adaptiven Hochregulation der angeborenen Immunität und einer Reduzierung einiger Funktionen der erworbenen Immunität assoziiert ist. Chronischer Stress ging mit einer Suppression des erworbenen Immunsystems einher. Das subjektive Erleben von Stress hatte wiederum keinen Einfluss auf das Immunsystem (Segerstrom & Miller 2004). Lupien, McEwen, Gunnar und Heim (2009) konnten die weitreichenden Folgen von Stress auf das Gehirn und die HPA-Achse in Abhängigkeit des Alters in einem Review verdeutlichen. Die Daten von Lupien et al. (2009) aus Studien mit Menschen und Experimenten an Tieren zeigen, dass Glucocorticoide Einfluss auf die sich altersentsprechend verändernden Hirnareale haben. Postnatal hatte die Eltern-Kind-Interaktion den größten Einfluss auf die Entwicklung der HPA-Achse. Kinder, deren Mütter postnatal an einer Depression litten, zeigten eine erhöhte Aktivität der HPA-Achse im Vergleich zu Kindern, deren Mütter keine Depression hatten. Missbrauchte Kinder hingegen wiesen eher eine verminderte Aktivität der HPA-Achse auf (Lupien et al. 2009). Auf den Zusammenhang von Missbrauch und Stress, beziehungsweise Cortisolausschüttung, wird später näher eingegangen. An dieser Stelle soll nur erwähnt werden, dass die Auswirkungen von postnatalem Stress im Gehirn vor allem den Hippocampus und die Amygdala betreffen. Vythilingham et al. (2002) konnte ein vermindertes Volumen des Hippocampus bei depressiven Frauen mit Missbrauch in der Seite 15 Kindheit nachweisen im Vergleich zu depressiven Frauen ohne Missbrauch in der Kindheit. In der Jugend scheint vor allem der präfrontale Cortex vulnerabel für erhöhte Glucocorticoidsekretion zu sein. Dies legt nahe, dass kognitive und emotionale Prozesse beeinflusst werden. Passend hierzu ist, dass die Prävalenz für Psychopathologien wie Depression und Angsterkrankungen in diesem Lebensabschnitt zunimmt (Lupien et al. 2009). Im Erwachsenenalter konnte eine inverse U-förmige Beziehung für Gedächtnisleistung und die Höhe der Glucocorticoidwerte nachgewiesen werden. Das würde bedeuten, dass optimale Gedächtnisleistung auf einem mittleren Stresslevel gegeben wäre. Zu viel oder zu wenig Stress würde die Gedächtnisleistung vermindern. Davon wäre vor allem der Abruf von neutralen Informationen betroffen (Lupien & McEwen 1997). Einige Studien konnten einen Zusammenhang zwischen erhöhten basalen Cortisolwerten und der Entstehung von Depressionen und verminderten Cortisolwerten und der Entstehung von Posttraumatischer Belastungsstörung nachweisen (Yehuda, Golier & Kaufman 2005). Im höheren Alter konnte ein Zusammenhang zwischen erhöhten Glucocorticoidspiegeln und Alzheimer festgestellt werden, sowie ein negativer Effekt auf das Überleben und die Funktion der Neurone des Präfrontalen Cortex (Kulstad et al. 2005; Lupien et al. 2009). 1.3.5 Stress in der Schwangerschaft und der Übergang in die Elternschaft Stress in der Schwangerschaft Für den Verlauf einer Schwangerschaft konnten Mulder et al. (2002) keine günstige Wirkung von Stress nachweisen. Es wurde ein signifikanter Zusammenhang zwischen Stress in der Schwangerschaft und Schwangerschaftskomplikationen nachgewiesen. Dabei handelte es sich um spontane Aborte, Frühgeburten, Präeklampsie oder strukturelle Malformationen wie kraniofaziale Dysmorphien oder Herzfehler (Mulder et al. 2002). Weiterhin konnte in Studien ein Zusammenhang mit einem geringeren Geburtsgewicht, einer geringeren Größe und vermindertem Kopfumfang des Säuglings nachgewiesen werden. Säuglinge, die im Mutterleib erhöhtem Stress ausgesetzt waren, zeigten bei neonatalen Untersuchungen neurologische Defizite (Mulder, Robles, Huizink, Van den Bergh, Buitelaar & Visser 2002). Weiterhin wurde in retrospektiven Studien Stress während Seite 16 der Schwangerschaft als wichtiger Faktor für die Entstehung von Psychopathologien wie ADHS, Schizophrenie und Depression gesehen (Mulder et al. 2002). Unsoziales und rücksichtsloses Verhalten und Schlafstörungen konnten ebenfalls mit pränatalem Stress in Verbindung gebracht werden (Lupien et al. 2009). Außerdem konnte ein Zusammenhang zwischen Stress in der Schwangerschaft, Lernbehinderungen im Erwachsenenalter und erhöhter Anfälligkeit für Drogenmissbrauch aufgezeigt werden (Lupien et al. 2009). Stress nach der Geburt des Kindes Stress hat jedoch nicht nur Auswirkungen auf die Schwangerschaft, sondern kann auch nach der Entbindung eine wichtige Rolle spielen. Die Anpassung beim Übergang in die Elternschaft stelle jedes Elternteil -aber auch die Partnerschaft- vor neue Herausforderungen, die wiederum Stress und Konflikte zur Folge haben können (Keizer, Dykstra & Poortman 2009). Auf die Folgen einer Maladaption wurde bereits näher eingegangen (vgl. Seite 10). Stress und der Umgang damit nach der Geburt eines Kindes spielen also in vielerlei Hinsicht eine entscheidende Rolle. Trotzdem sind die Zusammenhänge zwischen dem Übergang in die Elternschaft und dem Stresserleben und dessen Folgen noch nicht geklärt. Beispielsweise konnten Mckenzie und Carter (2013) eine Verminderung von psychologischem Stress beim Übergang in die Elternschaft aufzeigen. Nomaguchi und Milkie (2003) beschäftigten sich mit dem psychischen Wohlergehen frisch gewordener Eltern und in diesem Rahmen mit dem Stresserleben. Sie stellten keinen Zusammenhang zwischen dem Übergang in die Elternschaft und vermehrtem Stresserleben fest nach Einbeziehung der Arbeitsstunden und des partnerschaftlichen Status. Der Übergang in die eigene Elternschaft könne also möglicherweise in Zusammenhang mit vermehrtem Stress stehen und negative Folgen für Elternteil, Partnerschaft und Kind haben. Trotzdem kann nach aktuellem Stand der Wissenschaft noch keine klare Aussage hinsichtlich der Zusammenhänge von Stresserleben in der Zeit nach der Geburt eines Kindes und den Folgen getroffen werden. 1.3.6 Stress und Misshandlung in der aktuellen Forschung In den letzten Jahren wurde vielfach zu den neurobiologischen Zusammenhängen von Missbrauch und Stress geforscht. Oft wurden hierbei nicht explizit Missbrauch, sondern „frühe ungünstige Kindheitserfahrungen“ erforscht (Gunnar, Frenn, Wewerka & Van Ryzin Seite 17 2009; Heim & Nemeroff 1999; Hunter, Minnis & Wilson 2011). Dies schließt Vorkommnisse in der Kindheit mit ein, die am ehesten mit „Stressoren“ gleichzusetzen sind. Somit wurden traumatische Lebensereignisse in der Kindheit teilweise mit schwerem Stress in der Kindheit gleichgesetzt (Hunter et al. 2011). Nach allem, was wir über Stress wissen, könnte man nun folgern, dass es zu einer vermehrten Aktivierung der HPA-Achse kommt (Gunnar & Vazquez 2001). Doch dies konnte durch die Forschung der letzten Jahre widerlegt werden (Gunnar & Vazquez 2001, Lupien et al 2009). Einige Studien belegen, dass bei missbrauchten Kindern die physiologisch zirkadiane Cortisolausschüttung gestört ist (Carlson & Earls 1997; Gunnar & Vazques 2001). Im Falle eines Missbrauchs komme es zu erniedrigten Cortisolspiegeln am frühen Morgen und einer Nivellierung der zirkadianen Rhythmik über den Tag hinweg. Bei Erwachsenen ohne eine psychopathologische Diagnose, die jedoch Missbrauch in ihrer Kindheit erlebt hatten, wurde vielfach ein vermindertes basales Cortisol nachgewiesen (Carpenter et al. 2007; Heim et al. 2003; Tarullo & Gunnar 2006). Hinsichtlich der Reaktivität auf einen Stressor zeigten sich bei Erwachsenen mit Missbrauchserfahrungen in der Kindheit unterschiedliche Ergebnisse: Eine verminderte Cortisolausschüttung wiesen Carpenter et al. (2007) und Heim et al. (2003) nach, während Tarullo & Gunnar (2006) eine normale Cortisolreaktivität zeigen konnten. Eine verminderte ACTH-Reaktivität wurde von Carpenter et al. (2007) und Tarullo & Gunnar (2006) aufgezeigt. Obwohl die Befunde der einzelnen Studien widersprüchlich erscheinen, weisen Mensch- und Tierversuch darauf hin, dass Vernachlässigung und Misshandlung eine Verminderung des basalen Cortisolspiegels mit sich bringen (Lupien et al. 2009). Es gibt zwei Theorien zur Entstehung dieses Phänomens: Zum einen könnte es sich um eine Downregulation der HPA-Achse durch die Hypophyse handeln, verursacht durch die chronische CRH-Hypersekretion des Hypothalamus. Eine genaue Erläuterung, wie dies zur verminderten ACTH-Ausschüttung führt, erfolgte bislang jedoch nicht. Die zweite Möglichkeit wäre, dass das Zielgewebe hypersensitiv auf Cortisol reagiert und es durch den Negativ-Feedback-Mechanismus von Cortisol auf ACTH zu einer verminderten ACTHAusschüttung kommt. Neuere Studien zeigen, dass die Hyposekretion des Cortisols eine erhöhte Vulnerabilität für die Entwicklung einer PTBS im Erwachsenenalter mit sich bringt (Lupien et al. 2009). Wichtig ist jedoch, dass Hypocortisolismus nicht dauerhaft bestehen muss: in Pflegefamilien konnte gezeigt werden, dass eine sensible und unterstützende Betreuung den basalen Cortisolspiegel innerhalb von 10 Wochen normalisiert (Lupien et al. Seite 18 2009). Hunter et al. (2011) wiesen in ihrem Review über Speichelcortisol bei Kindern bis fünf Jahren mit frühen ungünstigen Kindheitserfahrungen darauf hin, dass es an verlässlichen Stressor-Paradigmen mangele und daraus widersprüchliche Ergebnisse resultieren könnten. Auch ein Publikationsbias könnte mitverantwortlich sein, das heißt Studien ohne signifikanten Effekt hinsichtlich Cortisol werden möglicherweise gar nicht publiziert (Hunter et al. 2011). Der Zusammenhang von Missbrauch und subjektivem Stressempfinden ist bisher nur spärlich erforscht. Die vorliegende Arbeit versucht, diese Lücke zu schließen. Es gibt einen positiven Zusammenhang von Misshandlung und subjektivem Stresserleben im Kontext von Substanzabhängigkeit. Hyman et al. (2007) haben einen signifikant positiven Zusammenhang von Misshandlungserfahrungen in der Kindheit und subjektivem Stresserleben im Erwachsenenalter nachgewiesen bei Personen, die seit kurzem kein Kokain mehr konsumieren. Medrano et al. (2002) konnten diesen Zusammenhang ebenfalls in einer größeren Stichprobe von substanzabhängigen Patienten nachweisen. Dort zeigten sich in allen fünf Subskalen des CTQ signifikant positive Zusammenhänge mit dem Brief Symptom Inventory (Erfassung psychischer Belastung im Selbstbericht; Derogatis & Melisaratos 1983), der für die Subskala des emotionalen Missbrauchs am größten ist. Da es sich bei diesen beiden Studien um sehr spezielle Stichproben handelte, wird diese Arbeit dieses Thema nochmals aufgreifen. Außerdem wird untersucht, welchen Einfluss Bindung im Erwachsenenalter auf den Zusammenhang von Missbrauch in der Kindheit und subjektivem Stresserleben hat. Im Folgenden werden die theoretischen Grundlagen von Bindung dargelegt. 1.4 Bindung Die Definition von „Bindung“, unser heutiges Wissen und unsere heutigen Messmethoden basieren auf der Grundlage der „Bindungstheorie“ von John Bowlby. 1.4.1 Definition von Bindung „Unter ‘Bindungsverhalten‘ versteht man jegliches Verhalten, das darauf ausgerichtet ist, die Nähe eines vermeintlich kompetenteren Menschen zu suchen oder zu bewahren, ein Seite 19 Verhalten, das bei Angst, Müdigkeit, Erkrankung und entsprechendem Zuwendungs- oder Versorgungsbedürfnis am deutlichsten wird.“ (Bowlby, Hillig & Stahl 2010, Seite 21) 1.4.2 Entstehung der Bindungstheorie John Bowlby und Mary Ainsworth beschrieben erstmalig die Bindungstheorie. Im letzten Jahrhundert hat sich in unseren Vorstellungen von Bindung ein deutlicher Wandel vollzogen (Bretherton 1992). 1.4.3 Entwicklung der Bindungstheorie durch John Bowlby 1948 begann Bowlby Kinder zu beobachten, die von ihren Eltern getrennt waren. Er entwickelte die Theorie, dass Bindung ein vom Nahrungs- und Sexualtrieb unabhängiger Instinkt sei. Dieser Instinkt zeigte sich in beanspruchenden Situationen wie z. B. bei Hunger, Müdigkeit oder Stress (Bowlby et al. 2010; Bretherton 1992). Er glaubte, dass das „Bindungsverhaltenssystem“ aus einer Reihe instinktiver Antworten bestehe, die Mutter und Kind aneinander binde und ein Überleben und die Erforschung der Umwelt (Exploration) durch das Kind garantieren (Main 2012). Im ersten Band seiner Trilogie „Bindung und Verlust“ stellte Bowlby 1969 die Hypothese auf, dass der Mensch Arbeitsmodelle von sich und seiner Umgebung verinnerliche. Die bewusste und unbewusste Speicherung und Verarbeitung von Erfahrungen in Form von Arbeitsmodellen ermögliche eine Vorhersage zukünftiger Erlebnisse. Wenn Arbeitsmodelle und Realität nicht oder nicht mehr übereinstimmten, könne dies in pathologischen Veränderungen resultieren. Interindividuell könne es durch kommunikative Prozesse zum Austausch des Inhalts der Arbeitsmodelle kommen (Bretherton 1992). Kommt es, vor allem durch zwischenmenschliche Sensibilität der Bindungsfigur, zu einer guten Interaktion, könne das Kind eine internalisierte „sichere Basis“ aufbauen. Ausgehend von dieser „sicheren Basis“ könne das Kind in dem Wissen die Umwelt explorieren, dass es jederzeit dorthin zurückkehren kann. Im Verlauf der Vorschuljahre käme es zu erneuten Korrekturen des Bindungsverhaltenssystems. Bowlby nannte dies „Ziel-korrigierte Partnerschaft“ (Bretherton 1992). Im Rahmen des zweiten Teils der Trilogie, „Trennung“ (1973), betonte Bowlby die wichtige Rolle von Sicherheit und Schutz und der gleichzeitigen Akzeptanz des Seite 20 Explorationsdrangs in der Eltern-Kind-Beziehung. Dies sei entscheidend für die zukünftige Entwicklung des Selbstwertes des Kindes. „Verlust“ (1980), der dritte Teil Bowlby’s Trilogie, beschäftigte sich damit, wie „defensive exclusion“ bei der Informationsaufnahme die Aktualisierung innerer Arbeitsmodelle stören könne. „Defensive exclusion“ bedeutet, dass Informationen, die zu einer tiefen Überforderung des Kindes führen, nicht in dessen Bewusstsein gelangen. Dadurch könne es zur Abspaltung innerer Arbeitsmodelle kommen, was schließlich zur Folge hat, dass gewisse Verhaltensmuster nicht mehr abgerufen würden oder zu Bewusstsein gelangten (Bretherton 1992). 1.4.4 Erweiterung der Bindungstheorie durch Mary Ainsworth 1963 begleitete Mary Ainsworth 26 Familien in 18 Hausbesuchen über das erste Lebensjahr ihres Kindes und beobachtete beispielsweise die Situation des Fütterns, Weinens, Begrüßens und Folgens. Dies ermöglichte Rückschlüsse auf das Bindungs-ExplorationsGleichgewicht. Sensible Mütter in den ersten drei Lebensmonaten konnten mit einer harmonischeren Mutter-Kind-Beziehung nach einem Jahr in Verbindung gebracht werden. Nach einem Jahr wurde die „Fremde Situation“ von Mary Ainsworth durchgeführt. Die Fremde Situation Mutter und Kind werden in einen speziellen Raum geführt, in dem sich Spielzeug befindet und Äußerungen und Abläufe für Beobachtende hör- und sichtbar sind. Der Ablauf ist festgelegt: 1. Mutter und Kind werden in den Raum geführt. 2. Mutter und Kind werden für drei Minuten allein gelassen. 3. Eine Fremde betritt den Raum, spricht nach ein paar Minuten mit der Mutter und versucht mit dem Baby zu spielen. 4. Die Mutter verlässt den Raum. 5. Die Mutter kehrt zurück, grüßt das Baby von der Tür aus und die Fremde verlässt unauffällig den Raum. 6. Nach drei Minuten verlässt die Mutter wieder den Raum. Das Kind ist völlig alleine. 7. Die Fremde kehrt zurück. 8. Die Mutter kehrt zurück, grüßt das Kind von der Tür aus und nimmt es hoch. Seite 21 Erscheint die Belastung des Kindes zu hoch, werden die Trennungsepisoden beendet. Außerdem werden die Mütter gebeten, nur bei Notwendigkeit auf das Kind einzugehen und es ansonsten nicht zu beeinflussen (Main 2012). Nach festgelegten Kriterien für das Verhalten des Kindes nach der Wiedervereinigung mit der Mutter (z. B. Bindungsverhalten und Explorationsverhalten) wird jedem Kind eine Bindungsklasse und deren Subkategorie zugeschrieben (Main 2012). Im Folgenden werden die Bindungsklassen vorgestellt. Gruppe B – sicher gebunden Das Kind zeigt aktives Explorationsverhalten und nimmt rückversichernden Kontakt auf zur Mutter. Wenn die Mutter geht, reagiert das Kind indem es zur Tür läuft oder sein Spiel verändert. Kommt die Mutter zurück, ist eine aktive Begrüßung ersichtlich durch Lachen, Vokalisation oder Annäherung an die Mutter. Das Kind zeigt sich sofort beruhigt und zufrieden. Bei der zweiten Trennung kommt es zu deutlicheren Reaktionen des Kindes durch Weinen und Rufen. Die Fremde kann mit ihrer Rückkehr diesen Zustand nicht verbessern. Bei der Wiedervereinigung von Mutter und Kind kommt es zur aktiven, körperlichen Kontaktaufnahme durch das Kind. Die Belastung ist mit dem Wiedererscheinen der Mutter schnell beendet. Sehr bald wäre das Kind bereit, sich von der Mutter wieder zu lösen und in ihrer Anwesenheit weiter zu explorieren (Main 2012). Gruppe A – unsicher-vermeidend gebunden Das Kind beginnt sogleich die Exploration, jedoch eher gefühllos. Bei beiden Trennungen von Mutter und Kind kommt es zu keiner Reaktion des Kindes und die Exploration wird fortgeführt. Bei beiden Wiedervereinigungen sieht das Kind in eine andere Richtung und wendet sich von der Mutter ab. Wird das Kind von der Mutter auf den Arm genommen, versteift es sich, der Gesichtsausdruck bleibt neutral. Es distanziert sich körperlich von der Mutter, zeigt auf Spielzeuge und entfernt sich von ihr. Wieder auf eigenen Beinen, richtet das Kind seine Aufmerksamkeit erneut auf sein Umfeld. Die Mutter wird aktiv und passiv vermieden. Es kommt scheinbar zu keiner Belastung des Kindes während des gesamten Experimentes. Das Kleinkind zeigt sich weitestgehend emotionslos und erscheint gefasst. Physiologische Parameter wie Herzfrequenz oder Cortisolspiegel, gemessen von Sroufe und Waters (1977) und Spangler und Grossmann (1993) legen jedoch offen, dass unsichervermeidend gebundene Kinder genauso viel oder sogar mehr Stress empfinden als sicher gebundene Kinder (Main 2012). Dieses Verhalten wiesen Kinder auf, deren Mütter eine Seite 22 Abneigung gegen Annäherung und körperlichen Kontakt zu ihren Kindern berichteten und mit Abweisung reagierten (Ainsworth, Bell & Stayton 1971; Ainsworth, Blehar, Waters & Wall 1978). Nach Ainsworth et al. (1978) ging Vermeidung mit vermehrtem Zorn der Kinder in der häuslichen Situation einher. Main et al. (1981) interpretierten es als Aufmerksamkeitsverschiebung zur Unterdrückung von Ärger und Bindungsverhalten (Main 2012). Gruppe C – unsicher-ambivalent gebunden/präokkupiert Unsicher-ambivalent gebundene Kinder sind schon von Beginn an ärgerlich. Es kommt entweder zu keiner Exploration oder sie wird unterbrochen von verärgerten Kontaktaufnahmen zur Mutter. Der Fremden gegenüber reagiert das Kind vor allem ängstlich und abweisend. Beim Verlassen des Raumes der Mutter gerät das Kind in eine starke Stresssituation. Bei der Wiedervereinigung kommt es entweder zur direkten Kontaktaufnahme, was jedoch in einen Wechsel aus Annäherung und Zurückweisung mündet, der in Wutausbrüchen enden kann. Die zweite Möglichkeit ist, dass das Kind aufgrund seines hohen Stresslevels unfähig ist sich anzunähern. Bei Kontaktaufnahme gibt es wenig Widerstand, jedoch kann das Kind sich nicht beruhigen. Laut Ainsworth reagierten Mütter, deren Kinder unsicher-ambivalent gebunden waren, vor allem unsensibel und autonomieentmutigend auf ihre Kinder. Oftmals waren ihre Reaktionen nicht vorhersehbar (Ainsworth et al. 1971,1978). Die völlige Fixierung auf die Mutter sei somit eine Strategie des Kindes, mit der Unsicherheit im Verhalten der Mutter umzugehen (Main 2012). 1.4.5 Weiterführung der Bindungstheorie bis zum aktuellen Stand Der letzte und aktuelle Abschnitt in der Erforschung von Bindung beinhaltet die Beschreibung einer vierten Bindungsklassifikation und den „Schritt auf die Ebene der Repräsentation“ (Bretherton & Waters 1985; Main et al. 1985; zitiert nach Main 2012). Es konnte gezeigt werden, dass Bindungsorganisation und kindliche Erzählungen, sei es verbal oder in gemalter Form, in einem engen Zusammenhang stehen. In diesem Rahmen kam es zur Entwicklung des Adult Attachment Interviews durch George und Kollegen (1985). Es zeigte sich, dass nicht nur Erzählung und Bindungsorganisation des Kindes in Zusammenhang stehen, sondern auch die Kohärenz, also die Nachvollziehbarkeit der Geschichte, Rückschlüsse auf den Bindungstyp zulässt. Aus der Verbindung zwischen Seite 23 elterlicher Erzählung und elterlichem Bindungsverhalten können letztendlich Vorhersagen für das Bindungsverhalten des Kindes gemacht werden (Main 2012). Gruppe D – desorganisiertes/desorientiertes Verhalten Im Laufe der Bindungsforschung mit der „Fremden Situation“ tauchten Kinder auf, deren Bindungsstil sich nicht eindeutig zuordnen ließ. Mary Main erfasste den einzig erkennbaren Zusammenhang im Bindungsverhalten all dieser Kinder: Strategielosigkeit. Jegliche bis dahin gefundene Bindungsform ermöglichte dem Kind Stabilität in der Interaktion mit dem Bindungspartner und die Sicherheit des eigenen Selbst. Das Verhalten dieser Kinder offenbarte jedoch keinerlei Erklärung oder Absicht, die damit einhergehen könnten und wäre somit desorganisiert. Hinweise für desorganisiertes Verhalten in der „Fremden Situation“ wären widersprüchliche Verhaltensmuster, falsch- oder ungerichtete Bewegungen und Ausdrücke, stereotype Bewegungen oder Laute und Einfrieren oder Erstarren. Man geht davon aus, dass desorganisiertes Verhalten ein vorübergehender Zustand nach einer für das Kind traumatischen Situation ist, so dass jedem Kind mit der Zuordnung „D“ noch eine weitere Gruppe zugeordnet wird. Mary Main glaubte, dass desorganisierte Bindung entsteht, wenn Kinder „durch die Eltern selbst in einen Alarmzustand versetzt (wurden)…“. (Main 2012, Seite 38). Da durch Angst das Bindungsverhalten des Kindes aktiviert werde, suchten Kinder im Regelfall in Angstzuständen ihre Eltern auf. Wenn das Elternteil selbst den Angstzustand auslöst, komme es zum unlösbaren Dilemma. Nicht nur aktive Handlungen könnten Angstzustände auslösen. Auch dissoziatives und ängstliches Verhalten von Eltern, die in ihrer Kindheit möglicherweise selbst missbraucht wurden, könne Angstzustände auslösen (Main 2012). Bindung auf der Repräsentationsebene Studien der 80er und 90er Jahre beschäftigten sich mit den Vorgängen, die sich bei Kindern und Erwachsenen verschiedener Bindungsklassen auf der Repräsentationsebene abspielen. Es konnte ein Zusammenhang zwischen kindlichen Erzählmustern und der Bindung zur Mutter beobachtet werden. Dies gründete auf Bowlbys Arbeitsmodellen. Durch die Narrative konnten diese Arbeitsmodelle auf der Repräsentationsebene sichtbar gemacht werden und Rückschlüsse auf das Bindungsmuster erfolgen. Beispielsweise wurden in einer Follow-up Studie 6-Jährige, deren Bindungsstatus man nach dem ersten Lebensjahr aus der „Fremden Situation“ kannte, von Main und ihren Kollegen hinsichtlich Seite 24 ihres Bindungsstatus auf der Repräsentationsebene analysiert (Main 2012). Die Analysen bezogen sich auf ein selbstgemaltes Bild von der Familie, erfundene Geschichten zu sechs Bildern, die eine Eltern-Kind-Trennung darstellen, freies Spielen im Sandkasten, die Reaktion auf ein Familienfoto und die Wiedervereinigung mit den Eltern nach einer Stunde. Die Wahrscheinlichkeit einer korrekten Prädiktion des Bindungsstils im 6. Lebensjahr durch das Verhalten in der „Fremden Situation“ nach 12 Lebensmonaten zwischen 68% und 88%. Die höchste prädiktive Aussagekraft zeigte sich für strukturierte Erzählungen des Kindes, die sich auf eine Trennung bezogen. Es gab weitere Studien, die dies replizieren konnten (Grossman & Grossmann 1991; Wartner, Grossmann, Fremmer-Bombik & Suess 1994). In der gleichen Follow-Up Studie wurden die Eltern der beschriebenen Kinder mittels des Adult Attachment Interviews (AAI) bezüglich der Repräsentation ihres Bindungsmodells analysiert. Das AAI ist ein semistrukturiertes, klinisches Interview über Bindungserfahrungen in der Kindheit und die Einschätzung dieser aus Sicht der Gegenwart (Gloger-Tippelt 2012). Das Augenmerk wird auf die Idealisierung der eigenen Eltern, die Qualität der Erzählung (gibt es Widersprüche? Kann alles belegt werden?), die Relevanz der Geschichten und die Art und Weise des Erzählens (geordneter Ablauf?) gelegt. Die Eltern wurden in sichere, distanzierte, präokkupierte, unverarbeitete und nicht klassifizierbare Bindungstypen eingeteilt. Es zeigte sich eine 75%ige Übereinstimmung der Bindungsklasse zwischen Mutter und Kind und eine 69%ige Übereinstimmung zwischen Vater und Kind (Main & Goldwyn 1985 – 1998; zitiert nach Main 2012). Transgenerationale Weitergabe von Bindung Auch das Phänomen der transgenerationalen Weitergabe von Bindung kann über Bowlby’s Arbeitsmodelle erklärt werden. Durch die bewusste oder unbewusste Weitergabe innerer Arbeitsmodelle zwischen Eltern und Kind könnten die hohen Übereinstimmungen zwischen den Bindungstypen der unterschiedlichen Generationen in vielen Studien erklärt werden (Fonagy, Steele, Steele, Moran & Higitt 1991; Jones, Cassidy, Shaver 2014; Raval, Goldberg, Atkinson, Benoit, Myhal & Poulton 2001; van Ijzendoorn 1995; Waters et al. 2003). Mary Mains Theorie besagt, dass dissoziatives und ängstliches Verhalten von Eltern, die selbst Missbrauchsopfer wurden, bei Kindern Angstzustände auslösen würde. Diese Angstzustände führten zu einer desorganisierten Bindung und letzten Endes zu einer transgenerationalen Weitergabe dieser (Main 2012). Seite 25 Bindung im Erwachsenenalter Letzten Endes betrifft Bindung nicht nur die Eltern-Kind-Beziehung. In den vergangenen Jahrzehnten wurde erforscht, wie sich Bindungsqualitäten in anderen Lebensabschnitten darstellen. Dies wurde erst möglich, als die Erfassung von Bindung sich von der Verhaltensebene auf die Repräsentationsebene erweitert hatte. Testverfahren, wie das AAI und das später beschriebene Adult Attachment Projective Picture System (AAP), basieren auf der Analyse des „mentalen Verarbeitungszustandes von Bindungserfahrungen“ (Gloger-Tippelt 2012, Seite 95). Durch sie konnten vier Kategorien von Bindungstypen im Erwachsenenalter herausgearbeitet werden. Korrespondierend zu den Bindungstypen in der Kindheit gibt es die in Tabelle 2 dargestellten Bindungstypen im Erwachsenenalter. Tabelle 2: Bindungsverhalten Kleinkind und korrespondierende Bindungsrespräsentation im Erwachsenenalter (vgl. Gloger-Tippelt 2012) Bindungsverhalten Kleinkind Bindungsrespräsentation Erwachsenenalter Sicher (B) autonom, sicher (F) unsicher-vermeidend (A) unsicher-distanzierend (Ds) unsicher-ambivalent (C) unsicher-präokkupiert (E) desorientiert/desorganisiert (D) unverarbeiteter Bindungsstatus (U) Eine sicher gebundene, erwachsene Person stellt sich im Adult Attachment Interview (AAI) vor allem kohärent dar. Dabei ist es unwichtig, ob der Inhalt überwiegend positive oder negative Kindheitserfahrungen enthält. Des Weiteren berichtet sie oder er über Kindheitserfahrungen Beziehungserfahrungen. emotional Sie und berichtet kognitiv ausgeglichen nachvollziehbar positive und würdigt und negative Kindheitserlebnisse und schweift dabei nicht zu weit ab. Vergleichbar mit der Exploration im Kindesalter ist auch beim Erwachsenen das Verhältnis von Autonomie und Bindung ausgeglichen (Ziegenhain 2012). Eine unsicher-distanzierend gebundene Person wertet Beziehungen ab und betont die eigene Autonomie und Stärke. Der Fokus der Person liegt in der Sachumwelt, unangenehme Gefühle und Erinnerungen werden verdrängt oder umgedeutet. In der Vergangenheit können zahlreiche Hinweise auf Zurückweisung und Ablehnung gefunden werden (Gloger-Tippelt 2012). Unsicher-präokkupiert gebundene Personen stellen sich im Gespräch sehr emotional dar. Sie berichten detailliert und den Beziehungserfahrungen der Kindheit messen sie größtes Gewicht bei. Trotz der detaillierten Erzählungen arbeitet die Person am Interview (AAI) nicht wirklich mit, da sie Seite 26 sich eher in den eigenen Gefühlen verliert. Oft sucht sie nach Bestätigung und Anerkennung (Gomille 2012). Personen mit unverarbeitetem Bindungsstatus (U) im Erwachsenenalter weisen unverarbeitete Verlusterfahrungen in ihrer Kindheit oder Jugend auf (vgl. Tabelle 2). Dies schlägt sich auf der Repräsentationsebene in desorientiertem Denken oder desorganisiertem Sprechen oder Verhalten nieder. Dazu zählen beispielsweise kognitive Desorientierung (widersprüchliche räumliche oder zeitliche Angaben), Fehler im Diskurs (ungewöhnliche Detailgenauigkeit, Lobreden und poetisches Umschreiben, mehr als 30 Sekunden Schweigen) und eine Desorganisation auf der Verhaltensebene (anhaltende psychische Dekompensation mit Depression, Entwicklung einer Suchtproblematik, Suizidversuche). Oftmals gehören dieser Bindungsqualität Menschen an, die in ihrer Kindheit oder Jugend misshandelt wurden. Darauf möchte ich im Verlauf meiner Arbeit noch näher eingehen (Hauser 2012). Hinsichtlich der Bindungserfassung in Partnerschaften im Erwachsenenalter gab es in den letzten Jahren einige Veränderungen. Bartholomew (1991) erweiterte die Bindungsklassifikationen für Erwachsene. Sie bezogen die Bindungsklasse auf das Selbstbild und das Bild von anderen und die Ängstlichkeit und Vermeidung, welche damit einhergingen (vgl. Tabelle 3). Tabelle 3: Bartholomew’s Bindungsklassen in Anlehnung an Ainsworth Selbstbild positiv, Selbstbild negativ, Wenig ängstlich Stark ängstlich Sicher Präokkupiert (anxious) Abweisend Ängstlich (fearful) Bild der Außenwelt positiv, wenig vermeidend Bild der Außenwelt negativ, stark vermeidend Anmerkung. Vgl. Bartholomew (1991) Dies bringt die Problematik mit sich, dass die Klassifikation von Bartholomew nicht mit der Klassifikation der entwicklungspsychologischen Ermittlung des Bindungsstatus mittels AAP oder AAI vergleichbar ist. Ein Mehrwert dieser Arbeit wird die Beleuchtung des Zusammenhangs von subjektivem Stresserleben und Bindung aus dem Blickwinkel der entwicklungspsychologischen Bindungsklassifikation, ermittelt durch das AAP, sein. Seite 27 1.4.6 Bindung und Misshandlung Mary Ainsworth (1978) hatte schon sehr früh in der „Fremden Situation“ entdeckt, dass misshandelte Kinder ängstlich und somit unsicher gebunden waren (Ainsworth 1978). Weitere Studien konnte bei Kindern mit Misshandlungserfahrungen ein Zusammenhang zu einem unsicher-ambivalenten Bindungstyp feststellen (Lyons-Ruth, Connell, Zoll & Stahl 1987; Lamb, Gaensbauer, Malkin & Schultz 1985). Doch nicht nur unsicher-ambivalente Bindung konnte vermehrt bei misshandelten Kindern beobachtet werden. Carlson, Barnett, Cicchetti & Braunwald (1989) erhoben in einer Gruppe misshandelter Kinder bei 89% eine desorganisierte Bindung im Vergleich zu 19% desorganisiert gebundenen Kindern in der Kontrollgruppe. Liotti (1993, 1995) konnte den Zusammenhang zwischen Dissoziation und desorganisierter Bindung über die inneren Arbeitsmodelle erklären. Im Moment der Misshandlung sähe sich das Kind als Auslöser, als Opfer und im Anschluss möglicherweise als Retter oder Tröster des eigenen Missbrauchs. Durch die nicht vereinbaren Rollen käme es zu multiplen inneren Arbeitsmodellen, die zu desorganisierter Bindung und Dissoziationen führen würden (Hauser 2012). Stronach, Toth, Rogosch, Oshri, Manly und Cicchetti (2011) zeigten, dass misshandelte Kinder im Vorschulalter eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für einen unsicheren Bindungsstil haben, insbesondere für eine desorganisierte Bindung. Cyr, Euser, Bakermans-Kranenburg und Van Ijzendoorn (2010) zeigten in einer Metaanalyse über 55 Studien mit fast 5000 Kindern, dass misshandelte Kinder eine signifikant höhere Wahrscheinlichkeit hatten, unsicher gebunden zu sein und einen unverarbeiteten Bindungsstatus aufzuweisen. Weiterhin wurde gezeigt, dass Misshandlung in der Kindheit auch das Bindungsverhalten im Erwachsenenalter beeinflusst. Unverarbeitete Misshandlungserfahrungen können sich im Erwachsenenalter in einem unverarbeiteten Bindungsstatus niederschlagen. Kennzeichnend hierfür wären falsche Ansichten über die eigene Funktion im vorgefallenen Missbrauch, ein unangemessener Sprachstil oder verworrene Äußerungen mit dem Ziel, das Geschehene zu verdrängen (Hauser 2012). Davis, Petretic-Jackson und Ting (2001) untersuchten 315 Frauen und konnten zeigen, dass Misshandlungserfahrungen in der Kindheit mit schlechterer Qualität in den aktuellen partnerschaftlichen Beziehungen einhergehen. DiLillo, Lewis und Loreto-Colgan (2007) und Riggs, Cusimano und Benson (2011) konnten bei Frauen mit emotionalen Misshandlungserfahrungen in der Kindheit Probleme in partnerschaftlichen Beziehungen und vermehrten psychologischen Stress nachweisen. Seite 28 Dieser Effekt konnte nicht bei Männern nachgewiesen werden (DiLillo et al. 2007; Riggs 2010; Riggs et al. 2011). Vergleichbar mit Bowlby‘s „defensive exclusion“ sahen Fonagy et al. (1991) den entscheidenden Punkt in der gestörten Mentalisierung der traumatischen Beziehungserfahrung und einer verminderten Fähigkeit, Gefühle anderer Bindungspartner zu reflektieren. Dies sei wichtig für die Stabilität einer unsicheren Bindung bis in das Erwachsenenalter und die transgenerationale Weitergabe traumatischer Erlebnisse (Hauser 2012). Es ist naheliegend, dass sich auch in unserer Stichprobe Mütter mit sicherem Bindungsstil von Müttern mit unsicherem Bindungsstil hinsichtlich des Vorkommens von Misshandlungserfahrungen in der Kindheit unterscheiden. 1.4.7 Bindung und Stress Bowlby‘s Bindungstheorie beruht auf der Annahme, dass unser Bindungssystem in Stresssituationen aktiviert werde. Je mehr Stress wir also erlebten, umso stärker würde unser Bindungssystem aktiviert (Kobak, Cassidy, Lyons-Ruth & Ziv 2006). Kobak et al. (2006) gehen davon aus, dass das Bindungssystem eine Prädisposition oder Strategie für den Umgang und das Coping mit Stress darstellt. Die internalisierte „sichere Basis“ wäre ein wichtiger protektiver Faktor in Stresssituationen. Physiologisches Korrelat hierfür konnten Hertsgaard, Gunnar, Erickson und Nachmias (1995) nachweisen. Sie zeigten, dass organisiert gebundene Kinder sich nach Durchführung der „Fremden Situation“ nicht im Cortisolanstieg unterschieden. Desorganisiert gebundene Kinder hatten dagegen die höchste Cortisolkonzentration im Speichel. Kobak et al. (2006) betonten weiterhin, das nicht nur die Bindung des Individuums das Stresserleben beeinflusse, sondern auch das Stresserleben Einfluss auf den Bindungstyp habe. In der Kindheit und Jugend sei der Selbstwert auch über den Umgang mit stressigen Situationen geregelt. Ist der Selbstwert gering, kann es dazu kommen, dass keine Unterstützung gesucht werde. Dies entspräche einem inneren Arbeitsmodell, welches mit einer unsicheren Bindung einherginge. In den Studien der letzten Jahre wurde ein deutlicher Zusammenhang zwischen Bindungsverhalten und Stress nachgewiesen (Kidd, Hamer & Steptoe 2011, 2013; Powers, Pietromonaco & Gunlicks 2006; Quirin, Pruessner, & Kuhl 2008; Simpson, Rholes & Phillips 1996). Im Erwachsenenalter zeigten Simpson et al. (1996), dass ambivalent gebundene Männer und Frauen in Beziehungskonflikten signifikant mehr subjektives Stresserleben berichteten. Doch sei nicht nur das subjektive Stressempfinden betroffen. Es werde auch Seite 29 die HPA-Achse durch den individuellen Bindungsstil beeinflusst. Powers et al. (2006) beschäftigten sich mit physiologischen Stressreaktionen von Männern und Frauen verschiedener Bindungsklassen im Anschluss an einen partnerschaftlichen Beziehungskonflikt. Unsicher gebundene Männer und Frauen zeigten eine verstärkte Cortisolausschüttung. Die männlichen Partner unsicher gebundener Männer und Frauen zeigten diese Reaktion ebenso, nicht jedoch die weiblichen Partner. Doch nicht nur die reaktive Cortisolausschüttung, sondern auch der basale Cortisolwert wurde durch die jeweilige Bindungsklasse beeinflusst. Kidd et al. (2013) und Quirin et al. (2008) konnten sowohl bei zwischenmenschlichem als auch bei nicht zwischenmenschlichem Stress für ängstlich gebundene Menschen (nach Bartholomew 1991) ein reduziertes basales Cortisollevel nachweisen. Sie zeigten, dass ambivalente Bindungspartner die höchsten Cortisolspiegel aufweisen, welche jedoch im Tagesprofil abflachen. Dies könnte bedeuten, dass unsichere Bindung mit einer Dysregulation der HPA-Achse einhergeht (Kidd et al. 2013). Dewitte, De Houwer, Goubert und Buysse (2010) konnten die erhöhte physiologische und subjektive Stressreaktion für ängstlich gebundene Menschen nach Bartholomew (1991) replizieren und einen modulierenden Effekt der Bindung des Partners für das Stresserleben in Beziehungskonflikten zeigen. 1.4.8 Misshandlungserfahrungen in der Kindheit: Bindung und subjektives Stresserleben nach der Geburt eines Kindes Kobak et al. (2006) setzten Misshandlungserfahrungen in der Kindheit in einen größeren Kontext. Sie nannten dies „caregiving quality“. Dazu zählten Misshandlungserfahrungen, ängstigendes Verhalten und unsensible Fürsorge der Eltern. Die „caregiving quality“ sei an der Entwicklung des Bindungssystems beteiligt. Durch diese Erfahrungen und Erwartungen komme es zur Ausformung innerer Arbeitsmodelle beim Kind, die zu einem bestimmten Bindungsverhalten führten und sich verfestigten (Bretherton 1992; Kobak et al. 2006). Das Bindungssystem ist wiederum beteiligt an der Regulation des Stressempfindens (Kidd et al. 2011, 2013; Kobak et al. 2006; Powers et al. 2006; Quirin et al. 2008; Simpson et al. 1996). Kommt es also zu schlechter „caregiving quality“, führe dies zur Ausprägung einer unsicheren oder desorganisierten Bindung, die bis ins Erwachsenenalter bestehe. Durch die beeinträchtigte Bindung könne es im Erwachsenenalter in Stresssituationen zu Seite 30 mangelndem Coping kommen. Bei der Erziehung des eigenen Kindes käme es zu einer verminderten „caregiving quality“. Im schlimmsten Fall könne dies dem Diathese-Stress Modell nach beim Zusammenbruch des Copings zu einer Psychopathologie führen. Das Ziel dieser Arbeit ist, bei frisch entbundenen Müttern die Zusammenhänge zwischen Misshandlungserfahrungen in der Kindheit, Bindungsverhalten im Erwachsenenalter und Stresserleben nach der Geburt des Kindes darzustellen und ihre Tragweite zu diskutieren. Es soll herausgearbeitet werden, ob unsichere oder desorganisierte Bindung den Zusammenhang von Misshandlungserfahrungen in der Kindheit und vermehrtem Stresserleben in der Schwangerschaft und nach der Geburt erklärt. Weiterhin sollen Anregungen für Studien und Interventionen im klinischen Alltag gegeben werden. Seite 31 1.5 Hypothesen Auf der Basis der bisherigen Überlegungen zu Misshandlung, Stress und Bindung stelle ich folgende Hypothesen auf: Hypothese 1: Körperlicher Missbrauch, sexueller Missbrauch, emotionaler Missbrauch und Vernachlässigung stehen in einem positiven Zusammenhang zueinander. In der Vergangenheit wurde mehrfach gezeigt, dass die verschiedenen Subkategorien von Missbrauch in wechselseitiger Beziehung zueinander stehen (Dong et al. 2004; Häuser et al. 2011). Am Beispiel der sexuellen Misshandlung lässt sich dies sehr anschaulich darstellen. Der schwerwiegende Eingriff der sexuellen Misshandlung könnte nicht ohne eine Form der emotionalen Misshandlung stattfinden. Diese Überlegung lässt sich auch auf andere Formen des Missbrauchs übertragen. Es liegt also nahe, dass die verschiedenen Formen von Missbrauch und Vernachlässigung untereinander positiv korrelieren. Hypothese 2.1: Mütter mit unsicherer Bindung berichten von mehr Missbrauchserfahrungen als Mütter mit sicherer Bindung. Eine Mutter mit unsicherer Bindung habe demzufolge in ihrer Vergangenheit mit höherer Wahrscheinlichkeit mehr Misshandlung erlebt als eine Mutter mit sicherer Bindung. Ainsworth (1978) hat für Kinder den Zusammenhang von Misshandlungserfahrungen und unsicherer Bindung sehr früh erkannt. Stronach (2011) hat dies erneut für Vorschulkinder nachweisen können. Cyr et al. (2010) konnten diesen Zusammenhang ebenfalls in einer Metaanalyse über 55 Studien für Kinder aufzeigen. Auch bei Erwachsenen konnte gezeigt werden, dass diejenigen, die in ihrer Kindheit und Jugend Opfer von Misshandlung wurden, in Bindungsprozessen beeinträchtigt sind und somit vermehrt partnerschaftliche Konflikte durchleben (Davis et al. 2001; DiLillo et al. 2007; Riggs et al. 2011). Durch die hohe Kontinuität innerer Arbeitsmodelle und somit des Bindungsstils, wie von Grossman und Grossmann (1991) oder Wartner et al. (1994) beschrieben (zitiert nach Main 2012), kann vermutet werden, dass Opfer von Misshandlung vermehrt unsicher gebunden sind. Hypothese 2.2: Mütter mit unverarbeitetem Bindungstyp berichten von mehr Missbrauchserfahrungen in der Kindheit als Mütter mit sicherer Bindung. Seite 32 Eine Mutter mit unverarbeitetem Bindungsstatus hätte demnach in ihrer Vergangenheit mit höherer Wahrscheinlichkeit mehr Misshandlung erlebt als eine Mutter mit sicherer Bindung. Stronach et al. (2011) und Cyr et al. (2010) haben den Zusammenhang jedoch nicht nur für Vorschulkinder und unsichere Bindung aufgezeigt, sondern auch für Misshandlungserfahrungen und desorganisierte Bindung. Hauser (2012) spricht explizit von Erwachsenen mit unverarbeiteten Misshandlungserfahrungen, die sich im AAI mit einem desorganisierten Bindungsstatus darstellen. Van Ijzendoorn, Schuengel und BakermansKranenburg (1999) konnten in einer Metaanalyse nachweisen, dass desorganisierte Bindung über Jahre hinweg sehr stabil ist. Durch die hohe Kontinuität innerer Arbeitsmodelle und des desorganisierten Bindungsstils kann also davon ausgegangen werden, dass Mütter mit Misshandlungserfahrung in der Kindheit mit höherer Wahrscheinlichkeit im Erwachsenenalter einen unverarbeiteten Bindungsstatus aufweisen. Hypothese 3: Es gibt einen positiven Zusammenhang zwischen Missbrauch in der Kindheit und Stresserleben in der Schwangerschaft, nach der Geburt und beim Übergang in die Elternschaft. Das würde bedeuten, dass eine höhere Missbrauchsbelastung in der Kindheit und Jugend mit vermehrtem Stressempfinden in der Schwangerschaft, nach der Geburt und beim Übergang in die Elternschaft einherginge. Hyman et al. (2007) und Medrano et al. (2002) haben den Zusammenhang von Missbrauchserfahrungen in der Kindheit und vermehrtem Stresserleben im Erwachsenenalter bereits bei drogenabhängigen Personen oder Personen, die seit kurzem drogenabstinent sind, nachgewiesen. Daher ist es wahrscheinlich, dass dieser Zusammenhang auch in der Schwangerschaft und beim Übergang in die Elternschaft nach der Geburt eines Kindes ein signifikanter Zusammenhang besteht. Hypothese 4: Erhöhtes Stresserleben nach der Geburt zeigt sich bei Müttern mit unsicherer Bindung im Erwachsenenalter. Kobak et al. (2006) gingen davon aus, dass die internalisierte „sichere Basis“ unter anderem eine Copingstrategie ist und einen wichtigen protektiven Faktor in Stresssituationen darstellt. Weiterhin konnten Studien zeigen, dass ambivalent gebundene Männer und Frauen in Beziehungskonflikten signifikant über mehr Stresserleben berichten (Dewitte et al. 2010, Simpson et al. 1996). Auch Veränderungen in der HPA-Achse konnten bei unsicher Seite 33 gebundenen Menschen festgestellt werden (Kidd et al. 2013; Powers et al. 2006; Quirin et al. 2008). Daher ist auch in der besonderen Phase der Schwangerschaft und des Überganges in die Elternschaft nach der Geburt eines Kindes ein positiver Zusammenhang zwischen Stresserleben und Bindungsklasse wahrscheinlich. Hypothese 5: Bindung im Erwachsenenalter fungiert als Mediator für den positiven Zusammenhang von Missbrauch in der Kindheit und Stresserleben in der Schwangerschaft und im Übergang zur Elternschaft. Die Haupthypothese dieser Arbeit ist, dass Bindung der Mediator des positiven Zusammenhangs von Missbrauchserfahrung in der Kindheit und vermehrtem Stresserleben in der Schwangerschaft und nach der Geburt ist. Abbildung 1: Bildliche Darstellung der Mediation des Zusammenhangs von Misshandlung in der Kindheit und Stresserleben in der Schwangerschaft und nach der Geburt durch Bindung im Erwachsenenalter, Mediation geprüft mit Daten erhoben in der Frauenklinik Ulm von 2012 bis 2013 in der Studie „Meine Kindheit – Deine Kindheit“ Durch Misshandlungserfahrungen in der Kindheit kommt es zur Ausformung innerer Arbeitsmodelle, die zu einem unsicheren oder desorgansierten Bindungsverhalten führen und sich im Erwachsenenalter verfestigen (Bretherton 1992; Kobak et al. 2006). Das Bindungssystem ist an der Regulation des Stressempfindens beteiligt und stellt eine Prädisposition für den Umgang mit Stress, also bestenfalls eine Copingstrategie, dar (Kobak et al. 2006). Misshandlungserfahrungen in der Kindheit führen also zu unsicherer oder desorganisierter Bindung, die bis in das Erwachsenenalter stabil wäre. In der stressbelasteten Zeit der Schwangerschaft und des Überganges zur Elternschaft käme es aufgrund der Misshandlungserfahrungen und den Auswirkungen auf das Bindungsverhalten zu vermindertem Coping und vermehrtem Stressempfinden. Um diese Seite 34 Hypothesen zu prüfen, werde ich im Folgenden die Vorgehensweise unserer Datenerhebung und die verwendeten Erhebungsinstrumente erläutern. Seite 35 2 Material und Methode Alle Hypothesen wurden mit Daten aus der Studie „Meine Kindheit – Deine Kindheit“ analysiert, die ich im Folgenden beschreiben werde. 2.1 Studienaufbau „Meine Kindheit – Deine Kindheit“ Ziel der Studie war es, die biologischen und psychologischen Folgen von Misshandlung zu eruieren. Hierfür wurde unter der Leitung der Klinischen und Biologischen Psychologie der Universität Ulm in Kooperation mit der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und der Klinik für Frauenheilkunde des Universitätsklinikums Ulm die Studie „Meine Kindheit – Deine Kindheit“ durchgeführt. Der Ethikantrag für „Meine Kindheit – Deine Kindheit“ wurde nach den Richtlinien der Deklaration von Helsinki (1994) gestellt. Die Studie lag der Ethikkommission der Universität Ulm vor. „Meine Kindheit – Deine Kindheit“ beinhaltet ein Screening ein bis drei Tage postpartal (t₀), und jeweils ein Follow-up nach drei (t₁) und zwölf Monaten (t₂). Für diese Arbeit wurden ausschließlich Daten verwendet, die beim Screening (t₀) und am ersten Messzeitpunkt (t₁) erhoben wurden. Daher werde ich auf die Vorgehensweise während dieser beiden Messzeitpunkte genauer eingehen. Das Screening (t₀) Von März 2012 bis Mai 2013 wurden hierfür in der Klinik für Frauenheilkunde auf der Wöchnerinnenstation über zweitausend Frauen ein bis drei Tage postpartal die Studie vorgestellt und gefragt, ob sie Interesse hätten, an einer Befragung über ihr Leben und ihre Kindheit teilzunehmen. Äußerte eine Mutter Interesse, wurde Sie über die Ziele, Inhalte, Risiken und die freiwillige Teilnahme an der Studie aufgeklärt. Falls sie damit einverstanden war, erklärte die Mutter dies im Anschluss mit ihrer Unterschrift auf der Einverständniserklärung. Das Screening setzte sich zusammen aus einer abgeänderten Form des KINDEX – Mum Screen (Konstanzer Index zur Erhebung von psychosozialen Belastungen während der Schwangerschaft), welcher den Perceived Stress Scale 4 (PSS4) enthält. Außerdem beinhaltete es noch einen Teil des CECA.Q (Childhood Experience of Care and Abuse Seite 36 Questionnaire) und den CTQ (Childhood Trauma Questionnaire). Die personenbezogenen Daten für eine spätere Kontaktaufnahme wurden von den Fragebögen getrennt erhoben und aufbewahrt. So konnte ein pseudonymisiertes Vorgehen garantiert werden. Auf die Erhebungsinstrumente werde ich im Folgenden näher eingehen. Einschlusskriterien für die Teilnahme an der Studie waren Volljährigkeit und ausreichende Deutschkenntnisse. Ausschlusskriterien waren schwere Geburtskomplikationen, schlechter Gesundheitszustand von Mutter oder Kind, aktueller oder in der Vergangenheit stattgefundener Drogenkonsum und aktuelle oder vergangene psychotische Störung. Bei Interesse der Mutter, Erfüllung der Einschlusskriterien bzw. Nicht-Erfüllen der Ausschlusskriterien und Einverständnis der Mutter (informed consent) wurden die Frauen anhand des CTQ-Summenwertes einer von drei Gruppe zugeordnet. Diese Einteilung wurde vorgenommen, um eine möglichst gleichmäßige Verteilung der Misshandlungsbelastung unter den Probandinnen zu garantieren. Direkt im Anschluss an das Screening wurde den Frauen mitgeteilt, ob sie in die Studie eingeschlossen werden konnten und bei Einschluss und Einverständnis wurden Mutter und Kind drei Haarsträhnen am Hinterkopf abgeschnitten. Zur weiteren Organisation der Studienteilnahme wurden getrennt vom Screeningfragebogen die Kontaktdaten der Mütter aufgenommen. Insgesamt wurden 240 Frauen gescreent und davon 104 Frauen in die Studie eingeschlossen. Erster Messzeitpunkt (t₁) Auf postalischem und telefonischem Wege wurde drei Monate (+/- zwei Wochen) nach der Geburt der erste Follow-up Termin (t₁) festgelegt. 61 der 104 eingeschlossenen Mütter erschienen zu diesem Termin. Im Rahmen des ersten Messzeitpunktes wurden von den Probandinnen zunächst Fragebögen zu soziodemographischen Daten ausgefüllt. Es wurde das Adult Attachment Projective Picture System (AAP) durchgeführt, auf das ich im Verlauf der Arbeit noch näher eingehen werde. Davor und danach wurde den Probandinnen Blut abgenommen und, falls möglich, Muttermilch entnommen. Seite 37 Auch beim ersten Follow-up-Termin wurde der PSS4 zur Erfassung von subjektivem Stresserleben durchgeführt. Schließlich wurden noch einige andere Fragebögen erhoben, die hier jedoch nicht aufgeführt werden, da sie für diese Arbeit keine Relevanz haben. Abbildung 2: Übersicht über den Studienablauf von „Meine Kindheit - Deine Kindheit“ mit den für diese Arbeit relevanten Erhebungsinstrumenten von März 2012 bis Mai 2013 in Ulm. Abkürzungen: KINDEX = Konstanzer Index zur Erhebung von psychosozialen Belastungen während der Schwangerschaft; CECA.Q = Childhood Experience of Care and Abuse Questionnaire; CTQ = Childhood Trauma Questionnaire; AAP = Adult Attachment Projective Picture System; PSS4 = Perceived Stress Scale 4 2.2 Instrumente Alle Instrumente des Screenings wurden mündlich mit einer psychologisch geschulten Interviewerin oder Interviewer erhoben und direkt von diesem auf einem Fragebogen festgehalten. Die Daten des ersten Follow-up-Termins wurden teilweise mündlich, teilweise als Fragebogen erhoben. Der Konstanzer Index zur Erhebung von psychosozialen Belastungen während der Schwangerschaft (KINDEX) Der KINDEX ist ein Instrument, das frühkindliche Risikofaktoren während der Schwangerschaft erhebt. Dazu zählen unter anderem die Risikobereiche Alter, Migration, Alleinerziehung, finanzielle Probleme, medizinische Risikofaktoren, pränatales Bonding, Stress, traumatische Erfahrungen während der eigenen Kindheit, partnerschaftliche Gewalt, Substanz- und Drogenkonsum und psychische Erkrankungen. Im Rahmen von Seite 38 „Meine Kindheit – Deine Kindheit“ wurde der KINDEX an den Zeitraum der ersten Tage nach der Entbindung angepasst. Der Risikobereich Stress wird im KINDEX anhand des PSS4 abgefragt, den ich im Anschluss erläutern werde. Anhand der einzelnen Risikofaktoren kann ein Summenscore erstellt werden, der das individuelle Risiko für frühkindliche Fehlentwicklung wiedergibt. Die Perceived Stress Scale 4 (PSS4) Der PSS4 wurde sowohl bei t₀ als auch bei t₁ erhoben. In vier Items wird das subjektive Stressempfinden erfragt. Ursprünglich geht der PSS4 aus der PSS14 hervor, welcher mit 14 Items das subjektive Stressempfinden misst. Dabei wird die Probandin gefragt, wie häufig sie im letzten Monat eine Situation als unvorhersehbar, unkontrollierbar und überfordernd empfunden hat. Ein Beispielitem lautet: „Wie häufig haben Sie sich im letzten Monat nicht in der Lage gefühlt, wichtige Dinge in Ihrem Leben zu kontrollieren?“. Die fünfstufige LikertSkala reichte von „nie“ (0) bis „sehr häufig“ (4). Der PSS4 ist laut Cohen und Williamson (1988) sehr valide und mit einem Cronbach‘s α von .60 reliabel. Für die Forschung ist der PSS4 daher ein sehr ökonomisches und trotzdem valides und reliables Instrument. Die Mittelwerte, Standardabweichungen und interne Konsistenz des PSS4 und der anderen verwendeten Skalen sind Tabelle 4 zu entnehmen. Das Childhood Experience of Care and Abuse Questionnaire (CECA.Q) Das CECA.Q geht ursprünglich aus dem CECA-Interview hervor (Bifulco, Bernazzani, Moran & Jacobs 2005). Es handelt sich beim CECA-Interview um ein semi-strukturiertes Interview, welches retrospektiv und objektiv (bezogen auf Verhalten) Präzedenzbeispiele aus der Kindheit erfragt. Dabei werden die Themen Vernachlässigung, elterliche Kontrolle, Antipathie, Familienkonflikte, körperliche Misshandlung und sexuelle Misshandlung vor dem 17. Lebensjahr erfragt (Bifulco, Brown & Harris 1994). Mit dem CECA-Questionnaire wurde eine Möglichkeit geschaffen, Vernachlässigung, Antipathie, physischen und sexuellen Missbrauch von Mutter und Vater vor dem 17. Lebensjahr in einem Selbstbericht-Fragebogen zu erfassen (Bifulco et al. 2005). Dies ermöglicht die Verwendung des CECA-Questionnaires zur Erhebung großer Datenmengen oder als Screening-Instrument, wie es in unserer Studie der Fall war. Im Rahmen von „Meine Kindheit – Deine Kindheit“ haben wir uns bei der Erhebung des CECA.Q auf die Seite 39 Bereiche Vernachlässigung und Antipathie durch Mutter und Vater beschränkt, da die anderen Kategorien vom CTQ abgedeckt werden. Es zeigte sich in der englischsprachigen Version eine gute Reliabilität für Antipathie (α=.81) und Vernachlässigung (α=.80) von Vater und Mutter, sowie eine gute Retest-Reliabilität. Zudem wurden von Bifulco et al. (1994) signifikante positive Zusammenhänge zwischen Fragebogen und Interview gefunden, sowie zwischen CECA.Q und Parental Bonding Interview auf den Skalen Vernachlässigung und Antipathie. 2011 ergab die Validierung der deutschsprachigen Version eine sehr gute interne Konsistenz und Retest-Reliabilität. Auch hier wurde eine signifikante Korrelation der Ergebnisse von Fragebogen und Interview dokumentiert (Kaess, Parzer, Mattern, Resch, Bifulco & Brunner 2011). Die Mittelwerte, Standardabweichungen und interne Konsistenz sind Tabelle 4 zu entnehmen. Das Childhood Trauma Questionnaire (CTQ) Das Childhood Trauma Questionnaire setzt sich aus 28 der 70 Items der ursprünglichen Langform des CTQs zusammen (Bernstein et al. 2003). Wie die Langform des CTQ, so ist auch das CTQ in seiner Kurzform ein retrospektiver Selbstbericht über traumatische Erlebnisse in Kindheit und Jugend. Die Stärke des CTQs gegenüber anderen Fragebögen ist vor allem ein größeres Spektrum verschiedener Aspekte der Kindesmisshandlung. So erfasst das CTQ körperlichen, sexuellen und emotionalen Missbrauch, aber auch körperliche und emotionale Vernachlässigung. Dies ermöglicht eine genauere Differenzierung verschiedener Ebenen der Misshandlung (Bernstein et al 2003). Es zeigte sich in der englischsprachigen Kurzversion des CTQ eine interne Konsistenz (Cronbach’s α) zwischen .60 (in der Skala körperliche Vernachlässigung) und .95 (in der Skala sexueller Missbrauch). Weiterhin konnte in verschiedenen Stichproben eine gute Validität des CTQs nachgewiesen werden (Bernstein et al. 2003). Auch im deutschsprachigen Raum findet das CTQ zwischenzeitlich Anwendung mit einer internen Konsistenz (Cronbach’s α) von .49 für „Körperliche Vernachlässigung“, .82 für „Emotionaler Missbrauch“, .83 für „Körperlicher Missbrauch“ und .90 für die Skalen „Emotionale Vernachlässigung“ und „Sexueller Missbrauch“. Die geringe interne Seite 40 Konsistenz für die Skala „Körperliche Vernachlässigung“ zeigte sich nicht nur in der deutschsprachigen Version. Die Skala wurde jedoch zur besseren internationalen Vergleichbarkeit des Fragebogens belassen (Bader et al. 2009). Die Mittelwerte, Standardabweichungen und interne Konsistenz unserer Studie sind in Tabelle 4 aufgeführt. Tabelle 4: Mittelwerte, Standardabweichungen und Cronbach’s α der in dieser Arbeit verwendeten Messinstrumente von „Meine Kindheit – Deine Kindheit“ erhoben in der Frauenklinik Ulm 2012 - 2013 Instrument Mittelwert Standard- Range abweichung Anzahl Cronbach’s α Items PSS4 t₀ 4,03 2,91 0 – 16 4 .77 PSS4 t₁ 4,05 2,96 0 – 16 4 .64 CECA.Q_Mu_A 13,00 5,66 7 – 35 7 .85 CECA.Q_Mu_V 11,94 4,98 8 – 40 8 .85 CECA.Q_Va_A 13,16 5,95 7 – 35 7 .85 CECA.Q_Va_V 16,28 6,63 8 – 40 8 .86 CECA.Q_Mu 24,94 9,98 15 – 75 15 .91 CECA.Q_Va 29,44 11,67 15 – 75 15 .91 CECA.Q_all 54.18 18,61 30 – 150 30 .92 CTQ_EV 8,63 4,08 5 – 25 5 .89 CTQ_KV 5,68 1,81 5 – 25 5 .68 CTQ_EM 6,76 3,22 5 – 25 5 .84 CTQ_KM 5,71 2,39 5 – 25 5 .85 CTQ_SM 5,74 2,99 5 – 25 5 .93 CTQ_insg 32,53 11,21 25 – 125 25 .93 Abkürzungen. PSS 4 = Perceived Stress Scale 4; t₀ = Messzeitpunkt Screening, ein bis drei Tage nach der Geburt in der Frauenklinik Ulm; t₁ = erster Messzeitpunkt nach drei Monaten an der Universität Ulm; CECA.Q_Mu_A = Childhood Experience of Care and Abuse Questionnaire bezogen auf die Mutter, Subskala Antipathie; CECA.Q_Mu_V = Childhood Experience of Care and Abuse Questionnaire bezogen auf die Mutter, Subskala Vernachlässigung; CECA.Q_Va_A = Childhood Experience of Care and Abuse Questionnaire bezogen auf den Vater, Subskala Antipathie; CECA.Q_Va_V = Childhood Experience of Care and Abuse Questionnaire bezogen auf den Vater, Subskala Vernachlässigung; CECA.Q_Mu = Childhood Experience of Care and Abuse Questionnaire bezogen auf die Mutter, Subskalen Antipathie und Vernachlässigung; CECA.Q_Va = Childhood Experience of Care and Abuse Questionnaire bezogen auf den Vater, Subskalen Antipathie und Vernachlässigung; CECA.Q_ALL = Childhood Experience of Care and Abuse Questionnaire bezogen auf Mutter und Vater mit den Subskalen Antipathie und Vernachlässigung; CTQ_EV = Childhood Trauma Questionnaire, Subskala emotionale Vernachlässigung; CTQ_KV = Childhood Trauma Questionnaire, Subskala körperliche Vernachlässigung; CTQ_EM = Childhood Trauma Questionnaire, Subskala emotionaler Missbrauch; CTQ_KM = Childhood Trauma Questionnaire, Subskala körperlicher Missbrauch; CTQ_SM = Childhood Trauma Questionnaire, Subskala sexueller Missbrauch; CTQ_insg = Childhood Trauma Questionnaire, alle Subskalen Seite 41 Von der offiziellen Version des deutschsprachigen CTQs wurden in unserer Studie drei Items der sogenannten Offenheitsskala ausgeschlossen (Beispiel: „Ich hatte die perfekte Kindheit“). Mit ihnen soll überprüft werden, ob der Befragte beim Selbstbericht eine Tendenz zum Verleugnen oder Bagatellisieren hat (Bader, Hänny, Schäfer, Neuckel & Kuhl 2009). Da das CTQ in unserer Studie von ausgebildeten Interviewern mit den Patientinnen durchgeführt wurde, konnte von diesen Skalen abgesehen werden. Es lag im Ermessen des Interviewers, die Probandin hinsichtlich Bagatellisierung oder Verleugnung einzuschätzen. Das Zutreffen der 25 Aussagen wurde von den Probandinnen auf einer Likert-Skala von „überhaupt nicht“, „etwas“, „überwiegend“, „stark“ und „vollkommen“ eingestuft. Die Interviewenden wurden angewiesen, die Antwort erst dann zu akzeptieren, wenn die Probandin sich selbstständig für eine Aussage entschieden hat. Sollte es Fragen der Mütter zu einzelnen Aussagen geben, wurden die Interviewenden instruiert, die Frage zurückzugeben, statt direkte Antworten zu geben. Ein weiterer wichtiger Punkt in der Ausbildung der Interviewer war das gleichförmige Vorlesen der Aussagen und ein dabei gleichbleibendes Blickmuster. Um die Qualität der Befragung dauerhaft garantieren zu können, kam es zu regelmäßigen Interviewtrainings und Supervision beim Screening in der Frauenklinik. Im klinischen Kontext kann somit anhand dieser Werte eine Einteilung in einen Schweregrad für jede Missbrauchsform vorgenommen werden. Die Cut-off-Werte sind hier für jede Subskala unterschiedlich. Adult Attachment Projective Picture System (AAP) Das AAP wurde von George und Kollegen (1999) aus dem Adult Attachment Interview (AAI) entwickelt. Die Idee des AAPs ist, dass es durch einen festgelegten Reiz in Form einer Zeichnung zur Aktivierung des Bindungssystems kommt. Die Person soll sich eine Geschichte zu einem vorgegebenen Bild überlegen, was über die Auswertung festgelegter Kriterien für die Analyse der Geschichte eine Klassifikation des Bindungsstils ermöglicht. Im Rahmen von „Meine Kindheit – Deine Kindheit“ wurde das AAP zum Messzeitpunkt t₁ durchgeführt (Buchheim, George, Juen & West 2012). Das projektive Verfahren besteht aus acht Bildern in festgelegter Reihenfolge, die nur so viele Details wie nötig enthalten. Dabei wird zuerst ein neutrales Übungsbild gezeigt. Im Seite 42 Anschluss werden sieben Bindungsszenen gezeigt, die zum Teil dyadisch, zum Teil monadisch sind. Durch die Abbildung mehrerer Personen kann sichtbar gemacht werden, wie die aus dem AAP internalisierte Vorstellung des Erzählers zu möglichen Bindungspartnern ist. Die Abbildung verschiedener Altersklassen ermöglicht die Analyse der Bindungsqualität in verschiedenen Lebensabschnitten. Die Bilder werden den Personen gezeigt und es wird darum gebeten, dass sie sich eine Geschichte ausdenken. Diese soll beinhalten wie es zu der Situation kam, was die abgebildeten Personen denken oder fühlen könnten und wie es weitergeht. Die Interviewer wurden instruiert, nur bestimmte, festgelegte Sätze während des Gesprächs zu äußern, um den Erzählenden nicht zu beeinflussen. All dies wurde auf einem Tonband aufgenommen und Wort für Wort transkribiert. Die Transkripte des AAP wurden durch geschultes Fachpersonal ausgewertet. Anhand der Punkte Diskurs, Inhalt und Abwehr wurden die Personen den Gruppen sicher gebunden (F), distanzierend gebunden (Ds), kognitiv entkoppelt (E) oder unverarbeitetes Trauma (U) zugeteilt. Die Bindungstypen „distanzierend gebunden“, „kognitiv entkoppelt“ und „unverarbeitetes Trauma“ werden in dieser Arbeit unter dem Überbegriff „unsichere Bindung“ zusammengefasst. Diskurs berücksichtigt eigene biografische Erfahrung. Inhaltlich werden die Punkte Selbstwirksamkeit, Verbindung zu anderen Personen und Synchronizität einer Beziehung gewertet. Hinsichtlich der Abwehr werden die Punkte Deaktivierung, kognitive Entkoppelung und abgetrennte Systeme analysiert. Deaktivierung bedeutet, dass der Erzählende Bindung in der Geschichte abwertet oder gar ausblendet. Konnte ein schwieriges Erlebnis nicht integriert werden, spricht man von kognitiver Entkoppelung. Abgetrennte Systeme werden deutlich über Bedrohung, Verlust und Isolation in der Geschichte. Dies bringt einen unverarbeiteten Bindungsstatus mit sich (Buchheim, George, Juen & West 2012). Für eine detaillierte Darstellung siehe Buchheim et al. (2012). George und West (2001) zeigten, dass das AAP sowohl reliabel, als auch valide ist. Sowohl in der englischen, als auch in der deutschen Version zeigten sich eine gute konvergente Validität mit dem AAI und eine gute Inter-Rater-Reliabilität. In der englischen Version Seite 43 wurde auch eine gute Test-Retest-Reliabilität dokumentiert (George & West 2001; zitiert nach Buchheim et al. 2012). 2.3 Statistisches Vorgehen Die Analyse der Daten erfolgte mit SPSS 20. Hypothese 1 wurde auf Basis von PearsonKorrelationen überprüft. Zum Testen der Hypothesen 2.1, 2.2 und 4 wurden t-Tests für unabhängige Stichproben verwendet. Bei signifikanter Varianzungleichheit (Levene-Test) wurde für diese korrigiert. Hypothese 3 wurde mit Hilfe von Pearson-Korrelationen (zeroorder Korrelationen) überprüft. Hier wurde auch eine multivariate Regression durchgeführt, um die jeweiligen Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Dimensionen von Missbrauch zu kontrollieren. Zum Testen von Hypothese 5 wurde eine Mediatoranalyse in Einklang mit der Prozedur nach Baron und Kenny (1981) mithilfe von mehreren Regressionen durchgeführt. Dafür wurde in einem ersten Schritt der direkte Pfad zwischen Missbrauchserfahrung (unabhängige Variable) und Stresserleben (abhängige Variable) auf Signifikanz getestet. In einem zweiten Schritt wurde der Pfad zwischen Missbrauchserfahrung (unabhängige Variable) und Bindung (Mediator) auf Signifikanz getestet, in einem dritten Schritt der Pfad zwischen Bindung (Mediator) und Stresserleben (abhängige Variable). Um eine Mediation zeigen zu können, müsste jeder Pfad signifikant werden. Als letzter Schritt muss gezeigt werden, dass der Koeffizient des direkten Pfads (bzw. die Stärke des Zusammenhangs) zwischen Missbrauchserfahrung (unabhängige Variable) und Stresserleben (abhängige Variable) kleiner wird, wenn für den Mediator (d.h. Bindung) kontrolliert wird. Am Ende wurde zudem noch der Sobel Test berichtet. Dieser Test stellt ein Maß für das gesamte getestete Mediationsmodell dar und sollte, gegeben einer Mediation, signifikant werden. Der Sobel Test wurde mithilfe der Website „www.quantpsy.org“ von Kristopher J. Preacher und Geoffrey J. Leonardelli am 9. November 2013 durchgeführt. Zur Sicherstellung der Transparenz soll an dieser Stelle angemerkt werden, dass vereinzelt Werte der Teilnehmerinnen nicht im Datensatz vorlagen. Beispielsweise konnten beim AAP aus technischen Gründen (Probleme beim Aufnahmegerät) nicht alle Interviews dokumentiert werden. Bei den durchgeführten Analysen zum Testen der Hypothesen Seite 44 wurden immer alle Probandinnen eingeschlossen, für die Werte vorlagen. Aufgrund der angesprochenen vereinzelten fehlenden Werte kommt es deshalb zu kleinen Veränderungen der eingeschlossenen Probandinnen in der jeweiligen Analyse. Seite 45 3 Ergebnisse 3.1 Stichprobenbeschreibung t₀ Soziodemographische Daten Die Stichprobe bei t₀ bestand aus 240 Frauen. Die Altersspanne unserer Stichprobe bei t₀ erstreckte sich von 21 Jahren bis zu 46 Jahren. Das mittlere Alter betrug 33,15 Jahre (SD = 5,18 Jahre). 19,6% unserer Probandinnen waren ledig, 77,5% verheiratet und 2,9% geschieden. Von den 240 Frauen hatten 0,8% keinen Schulabschluss, 10% den Hauptschulabschluss, 25% mittlere Reife, 15% Fachhochschulreife und 56,7% Abitur. 1,3% machten sonstige Angaben. Keine Angaben zu ihrer beruflichen Ausbildung machten 0,4% der Frauen, 4,2 % hatten keine Ausbildung. 36,7% hatten eine Lehre oder Ausbildung absolviert, 1,7% absolvierten einen Meister. 54,6% hatten einen universitären Abschluss und 2,5% machten sonstige Angaben. In Abbildung 3 werden die schulischen Abschlüsse der Stichprobe von t₀ mit den allgemeinen Schulabschlüssen von Frauen zwischen 20 und 45 Jahren auf Bundesebene und in Baden-Württemberg verglichen (Statistisches Bundesamt 2013a; Statistisches Landesamt 2012). Dabei kann eine deutliche Überrepräsentation von Akademikerinnen in unserer Stichprobe festgestellt werden. Schulabschluss 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0% in Ausbildung kein Abschluss Hauptschule Bundesebene Realschule Fach-/Abitur Baden-Württemberg Sonstiges keine Angabe Stichprobe Abbildung 3: Vergleich der prozentualen Verteilung von Schulabschlüssen der Stichprobe von „Meine Kindheit – Deine Kindheit“ (N = 240, Messzeitpunkt t₀) mit den allgemeinen Schulabschlüssen in BadenWürttemberg 2012 und auf Bundesebene 2013 für Frauen zwischen 20 und 45 Jahren Seite 46 Das Herkunftsland von 84,2% der Mütter war Deutschland. 85,3% der Frauen sprachen Deutsch als Muttersprache. Die mittlere Anzahl der Geburten der Frauen bei t₀ war 1,75, die Standardabweichung betrug 0,92. Das maximale Range der Geburtenzahl geht von ein bis sechs Geburten. 22,5% der Mütter gaben auf Nachfrage an, in ihrer Vorgeschichte eine psychische Erkrankung diagnostiziert bekommen. Von diesen 22,5% gaben 12,9% an, an einer Depression gelitten zu haben. 5,4% gaben eine diagnostizierte Angsterkrankung und 8,3% eine andere psychische Diagnose an. Etwa 3% unserer Stichprobe gab also eine in der Vergangenheit diagnostizierte Depression an und etwa 1,5% der Gesamtstichprobe eine diagnostizierte Angsterkrankung. Der KINDEX-Risikoscore Wie bereits erläutert, ist der KINDEX-Risikoscore ein Messinstrument für das individuelle Risiko frühkindlicher Komplikationen und errechnet sich aus der Summe der erzielten Werte für einzelne Risikofaktoren. Ist ein Risikofaktor vorhanden, wird der Wert eins zugeteilt. Trifft der Risikofaktor nicht zu, wirde der Wert null zugeteilt. Ein oder mehrere Risikofaktoren bilden wiederum einen Risikobereich. Risikobereiche des KINDEX sind Alter, Migrationshintergrund, Alleinerziehung, finanzielle Probleme, körperliche Beschwerden, pränatales Bonding, Stress, traumatische Erfahrungen in der Kindheit, partnerschaftliche Gewalt, Substanzkonsum und psychische Erkrankungen. Der Risikobereich Alter definiert sich über ein erhöhtes Risiko der Mütter, wenn sie jünger als 21 Jahre sind. Migrationshintergrund wird als Risiko gewertet, wenn das Herkunftsland der Mutter oder des Vaters nicht Deutschland ist. Für den Risikobereich Alleinerziehung wird die Mutter befragt, ob sie das Kind allein versorgt. Finanzielle Probleme werden mittels direkter Frage nach der Sorge über finanzielle Probleme erfasst und den Wohnindex ≤ 0,5. Der Wohnindex ist der Quotient aus Zimmeranzahl und Personenanzahl. Körperliche Beschwerden setzen sich zusammen aus Komplikationen in vorhergehenden oder der aktuellen Schwangerschaft und dem Vorliegen eines medizinischen Risikofaktors (z. B. Asthma bronchiale). Die Planung der Schwangerschaft, sowie eine erhöhte Sorge oder verminderte Freude von Vater und Mutter über das Kind beinhaltet der Risikobereich pränatales Bonding. Der Risikobereich Stress entspricht einem PSS4-Wert ≥ 12. Traumatische Erfahrungen in der Kindheit beinhalten einen Wert über 2 auf den Subskalen Körperlicher Seite 47 Missbrauch oder Sexueller Missbrauch im CTQ. Für den Risikobereich partnerschaftliche Gewalt wurde die Zunahme von Streitigkeiten während der Schwangerschaft, lautstarke Auseinandersetzungen und Handgreiflichkeiten in der Partnerschaft und Gewalt in jeglichen Partnerschaften der Vergangenheit erfragt. Der Risikobereich Substanzkonsum beinhaltet aktuellen Nikotinkonsum, Alkoholkonsum und Drogenkonsum der Mutter und aktuellen Nikotin- und Drogenkonsum des Vaters, sowie Sorge der Mutter über den Alkoholkonsum des Vaters. Psychische Erkrankung setzt sich zusammen aus einer diagnostizierten psychischen Krankheit, einer ambulanten oder stationären Therapie und der Einnahme von Psychopharmaka in der Vergangenheit. Der höchste, erzielbare Wert des KINDEX-Risikoscores beträgt 30 Punkte. Je höher der KINDEX-Risikoscore ausfällt, umso größer ist das Risiko für frühkindliche Komplikationen. Verteilung der Stichprobe in % Abbildung 4 zeigt die Verteilung unserer Stichprobe bei t₀. 25 20 15 10 5 0 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 Abbildung 4: Verteilung der Stichprobe von „Meine Kindheit – Deine Kindheit“ auf dem KINDEX-Risikoscore zur Ermittlung des Risikos frühkindlicher Komplikationen zum Messzeitpunkt ein bis drei Tage nach der Geburt erhoben in der Frauenklinik Ulm von 2012 bis 2013 (N = 240, Messzeitpunkt t₀). Abbildung 5 zeigt den Vergleich der KINDEX-Risikobereiche von Müttern mit keinen Misshandlungserfahrungen in der Kindheit (mittlerer CTQ-Summenscore = 1) mit Müttern, die Misshandlungserfahrungen in ihrer Kindheit sammeln mussten (mittlerer CTQSummenscore > 1). Für jeden Risikobereich wurde der prozentuelle Anteil der Mütter angegeben, die einen Wert größer oder gleich eins hatten. Beispielsweise haben 10% der Frauen mit Misshandlungserfahrung in der Kindheit ein erhöhtes Risiko im Bereich Finanzen und lediglich 2% der Frauen ohne Misshandlungserfahrung in der Kindheit. Auf die Risikobereiche Stress und Traumatische Erfahrungen in der Kindheit im Zusammenhang Seite 48 mit Misshandlungserfahrung in der Kindheit wird im Verlauf der Arbeit noch näher eingegangen und daher werden diese an dieser Stelle nicht näher ausgeführt. 90% 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0% 64% 39% 32% 30% 26% 13% 8% 81% 72% 68% 4% 5% 2% 10% Keine Misshandlungserfahrung 50% 40% 15% 15% Misshandlungserfahrung Abbildung 5: Gegenüberstellung von Müttern mit und ohne Misshandlungserfahrung im CTQ mit positiven Werten in den KINDEX-Risikobereichen in der Studie „Meine Kindheit – Deine Kindheit“ erhoben in der Frauenklinik Ulm von 2012 bis 2013 Abkürzungen. CTQ = Childhood Trauma Questionnaire; t₀= Messzeitpunkt Screening, ein bis drei Tage nach der Geburt in der Frauenklinik Ulm. CTQ-Klassifikation Wie bereits beschrieben, bietet das CTQ nicht nur die Möglichkeit, Misshandlung in verschiedenen Subskalen zu messen, sondern auch eine klinische Einteilung anhand der Werte vorzunehmen. Häuser et al. (2011) erhoben in Deutschland den CTQ, um eine repräsentative Stichprobe für die Verteilung von Missbrauch zu erstellen. Verglichen mit Häusers Stichprobe findet sich in unserer Stichprobe in den Subskalen „Emotionaler Missbrauch“, „Körperlicher Missbrauch“, „Sexueller Missbrauch“ und „Emotionale Vernachlässigung“ eine Tendenz zur Unterrepräsentation von erhöhter Missbrauchsbelastung. In der Subskala „Körperliche Vernachlässigung“ zeigt sich in Häusers Stichprobe deutlich mehr Belastung (vgl. Abbildung 6). Seite 49 Keine bis minimale Belastung Niedrige bis moderate Belastung Moderate bis schwere Belastung Schwere bis extreme Belastung KV KV* EV EV* SM SM* KM KM* EM EM* 0% 20% 40% 60% 80% 100% Abbildung 6: Vergleich der CTQ-Werte der einzelnen Subkategorien der Stichprobe von „Meine Kindheit – Deine Kindheit“ zu t₀ (2012 bis 2013 in der Frauenklinik Ulm) mit der Stichprobe von Häuser et al. (2011) Anmerkung. Die Daten der CTQ-Subkategorien von Häuser et al. (2011) sind mit * versehen. Abkürzungen: CTQ = Childhood Trauma Questionnaire; KV = Körperliche Vernachlässigung; EV = Emotionale Vernachlässigung; SM = Sexueller Missbrauch; KM = Körperlicher Missbrauch; EM = Emotionaler Missbrauch 3.2 Stichprobenbeschreibung t₁ Von den 104 in die Studie eingeschlossenen Müttern erschienen zu t₁ 61 Mütter. Die Altersspanne dieser Stichprobe ging vom 23. bis zum 45. Lebensjahr (M = 33,21 Jahre; SD = 5,18). Diese Stichprobe wurde in meiner Arbeit vor allem für Analysen bezogen auf Bindung verwendet, da die Bindungsklasse zu diesem Messzeitpunkt und an dieser Stichprobe erhoben wurde (Daten t₁/Stichprobe t₁). Da der PSS4 zum Messzeitpunkt t₀ und t₁ erhoben wurde, konnten bestimmte zeitliche Effekte genauer untersucht werden. Hierfür wurden die Daten des Messzeitpunkts t0 für die reduzierte Stichprobe des Messzeitpunkts t1 analysiert (Daten t₀/Stichprobe t₁). Seite 50 3.3 Prüfung der Hypothesen Hypothese 1: Körperlicher Missbrauch, sexueller Missbrauch, emotionaler Missbrauch und Vernachlässigung stehen in einem positiven Zusammenhang zueinander. Tabelle 5 legt die Korrelationen der einzelnen Subskalen des CTQs und des CECA.Qs dar. Die weiß hinterlegte Fläche entspricht den Daten, die zum Messzeitpunkt t₀ erhoben wurden (N=240). Die grau hinterlegte Fläche enthält die Analyse der Daten, die zum Messzeitpunkt t₁ erhoben wurden (N=61). Da die Korrelation nach Pearson der Subskalen Antipathie und Vernachlässigung des CECA.Qs für die Befragung zur Mutter .76 (p< .001) und die Befragung zum Vater .68 (p< .001) ergab, muss von einer nicht ausreichenden Trennschärfe dieser Subskalen in unserer Studie ausgegangen werden. Daher wurden in dieser Arbeit diese beiden Skalen zusammengefasst und lediglich für die Werte der Befragung zur Mutter oder zum Vater getrennt analysiert (die Analyse der getrennten Subskalen ergaben identische Ergebnisse). Tabelle 5: Korrelation der Missbrauch-erhebenden Subskalen der Studie „Meine Kindheit – Deine Kindheit“ zum Messzeitpunkt t₀ erhoben in der Frauenklinik Ulm 2012 - 2013 CTQ_KV CTQ_EM CTQ_EV CTQ_KM CTQ_SM CECA.Q_MU CECA.Q_VA CTQ_KV 1 .70** .63** .58** .36** .59** .51** CTQ_EM .73** 1 .63** .70** .44** .63** .55** CTQ_EV .72** .68** 1 .35** .24** .74** .61** CTQ_KM .56** .76** .40** 1 .42** .36** .40** CTQ_SM .21 .34** .27* .40** 1 .14** .28** CECA.Q_MU .77** .76** .79** .48** .18 1 .50** CECA.Q_VA .61** .71** .77** .48** .40** .58** 1 Anmerkungen. * p < 0,05 (zweiseitig); ** p < 0,01 (zweiseitig). Die grau hinterlegte Fläche enthält die Korrelationen zum Messzeitpunkt t₁. Abkürzungen. CTQ_KV = Childhood Trauma Questionnaire, Subskala körperliche Vernachlässigung; CTQ_EM = Childhood Trauma Questionnaire, Subskala emotionaler Missbrauch; CTQ_EV = Childhood Trauma Questionnaire, Subskala emotionale Vernachlässigung; CTQ_KM = Childhood Trauma Questionnaire, Subskala körperlicher Missbrauch; CTQ_SM = Childhood Trauma Questionnaire, Subskala sexueller Missbrauch; CECA.Q_Mu = Childhood Experience of Care and Abuse Questionnaire bezogen auf die Mutter, Subskalen Antipathie und Vernachlässigung; CECA.Q_Va = Childhood Experience of Care and Abuse Questionnaire bezogen auf den Vater, Subskalen Antipathie und Vernachlässigung; t₀ = Messzeitpunkt Screening, ein bis drei Tage nach der Geburt in der Frauenklinik Ulm. Hierbei ist festzustellen, dass alle Subskalen des CTQs und des CECA.Qs bei t₀ auf einem Signifikanzlevel von p<.01 positiv korrelieren. Die Stärke der Zusammenhänge liegen zwischen r=.14, p<.01 (Korrelation der Subskala „Sexueller Missbrauch“ des CTQs und des CECA.Qs der Mutter) und r=.74, p<.01 (Korrelation der Subskala „Emotionale Seite 51 Vernachlässigung“ des CTQs und des CECA.Qs der Mutter). Zu beachten ist diesbezüglich, dass die verwendete, gekürzte Version des CECA.Q Vernachlässigung erhebt. Daher korreliert der CECA.Q erwartungsgemäß hoch mit der Subskala „Emotionale Vernachlässigung“ des CTQ. Die positiven Korrelationen der Subskalen des CTQs in der reduzierten Stichprobe bei t₁ (N=61) sind nicht immer signifikant. Die Richtung der Korrelationen stimmt mit der Vorhersage (d. h. ein positiver Zusammenhang zwischen den Subskalen) überein. Die Korrelationen auf dem Signifikanzlevel p<.01 befinden sich zwischen r=.34 (Korrelation von CTQ „Emotionaler Missbrauch“ und CTQ „Sexueller Missbrauch“) und r=.79 (Korrelation von CTQ „Emotionaler Vernachlässigung“ und CECA.Q der Mutter). Die Zusammenhänge der Subskalen zeigen sich auch in der reduzierten Stichprobe. Die Hypothese des positiven Zusammenhanges der einzelnen Subskalen zur Erhebung von Missbrauchsbelastung kann hiermit gestützt werden. Hypothese 2.1: Mütter mit unsicherer Bindung berichten von mehr Missbrauchserfahrungen als Mütter mit sicherer Bindung. Aufgrund der bisher dargestellten Literatur wurde vermutet, dass sich Missbrauch in der Kindheit oder Jugend in einem unsicheren Bindungsstil niederschlägt. Die Mittelwerte und Standardfehler des CTQ-Summenscores in Abhängigkeit von sicherer und unsicherer Bindung zeigen eine deutliche Tendenz zur vermehrten Missbrauchsbelastung bei unsicherer Bindung (siehe Abbildung 7). Diese Resultate sprechen dafür, dass Frauen mit unsicherer Bindung mehr Misshandlungserfahrungen in ihrer Kindheit berichten im Vergleich zu Frauen mit sicherer Bindung. Im Speziellen berichten unsicher gebundene Frauen mehr Missbrauch auf den Subskalen „Emotionale Misshandlung“, „Körperliche Misshandlung“ und „Körperliche Vernachlässigung“ des CTQs, nicht jedoch für den CTQ-Gesamtwert. Seite 52 p=.31 t=1.04 df=38 mittlerer CTQ-Summenscore 3,0 p=.02 t=2.33 df=47 2,5 2,0 p=.02 t=2.48 df=58 p=.03 t=2.22 df=58 p=.43 t=-0.81 df=14 p=.27 t=1.10 df=30 1,5 1,0 T 0,5 0,0 Ds, E, U F CTQ_EM Ds, E, U F CTQ_KM Ds, E, U F CTQ_EV Ds, E, U F CTQ_KV Ds, E, U F CTQ_SM Ds, E, U F CTQ_insg Abbildung 7: Mittelwerte und Standardfehler der Subkategorien des CTQ erhoben in der Studie „Meine Kindheit – Deine Kindheit“ zu t₀ in Abhängigkeit von sicherer und unsicherer Bindung erhoben zu t₁ Anmerkungen. Berichtete p-Werte und Freiheitsgrade sind für Varianzungleichheit korrigiert (Levene-Test), jedoch ohne Bonferonni-Korrektur. Mit Bonferonni-Korrektur alle p > .12. Abkürzungen: CTQ_KV = Childhood Trauma Questionnaire, Subskala körperliche Vernachlässigung; CTQ_EM = Childhood Trauma Questionnaire, Subskala emotionaler Missbrauch; CTQ_EV = Childhood Trauma Questionnaire, Subskala emotionale Vernachlässigung; CTQ_KM = Childhood Trauma Questionnaire, Subskala körperlicher Missbrauch; CTQ_SM = Childhood Trauma Questionnaire, Subskala sexueller Missbrauch; CTQ_insg = Childhood Trauma Questionnaire, alle Subskalen; F = sicher gebunden; Ds = distanzierend gebunden; E = kognitiv entkoppelt, U = unverarbeitetes Trauma; df = Freiheitsgrade; t₀ = Messzeitpunkt Screening, ein bis drei Tage nach der Geburt in der Frauenklinik Ulm; t₁ = Messzeitpunkt etwa drei Monate nach der Geburt an der Universität Ulm. Hypothese 2.2: Mütter mit unverarbeitetem Bindungstyp berichten von mehr Missbrauchserfahrungen in der Kindheit als Mütter mit sicherer Bindung. Diese Hypothese wurde in der Stichprobe vom Messzeitpunkt t₁ (N=60) getestet (vgl. Abbildung 8). Betrachtet man die Mittelwerte und Standardabweichungen der jeweiligen CTQ-Subskalen (vgl. Abbildung 8), wird in einigen Subskalen eine Tendenz ersichtlich. In allen Subskalen des CTQs, außer der Subskala „Sexueller Missbrauch“, ist die Missbrauchsbelastung in der Gruppe mit unverarbeitetem Bindungsstatus höher. Im t-Test wurde jedoch keiner der Gruppenunterschiede signifikant. Die Hypothese konnte demnach nicht bestätigt werden. Seite 53 mittlerer CTQ-Summenscore 3,0 p=.12 t=-1.64 df=19 2,5 2,0 1,5 p=.41 t=-0.85 df=27 p=.17 t=-1.45 df=15 p=.08 t=-1.90 df=16 df=15 p=.30 t=-1.07 df=21 p=.44 t=0.79 df=18 df= 1,0 0,5 0,0 F U CTQ_EM F U CTQ_KM F U CTQ_EV F U CTQ_KV F U CTQ_SM F U CTQ_insg Abbildung 8: Mittelwerte und Standardfehler im CTQ erhoben in der Studie „Meine Kindheit – Deine Kindheit“ in Ulm zu t₀ in Abhängigkeit von sicherem und unverarbeitetem Bindungsstatus erhoben Anmerkungen. Berichtete p-Werte und Freiheitsgrade sind für Varianzungleichheit korrigiert (Levene-Test), jedoch ohne Bonferonni-Korrektur. Mit Bonferonni-Korrektur alle p > .48. Abkürzungen. CTQ_KV = Childhood Trauma Questionnaire, Subskala körperliche Vernachlässigung; CTQ_EM = Childhood Trauma Questionnaire, Subskala emotionaler Missbrauch; CTQ_EV = Childhood Trauma Questionnaire, Subskala emotionale Vernachlässigung; CTQ_KM = Childhood Trauma Questionnaire, Subskala körperlicher Missbrauch; CTQ_SM = Childhood Trauma Questionnaire, Subskala sexueller Missbrauch; CTQ_insg = Childhood Trauma Questionnaire, alle Subskalen; F = sicher gebunden; U = unverarbeitetes Trauma; df = Freiheitsgrade; t₀ = Messzeitpunkt Screening, ein bis drei Tage nach der Geburt in der Frauenklinik Ulm; t₁ = Messzeitpunkt etwa drei Monate nach der Geburt an der Universität Ulm. Hypothese 3: Es gibt einen positiven Zusammenhang zwischen Missbrauch in der Kindheit und Stresserleben in der Schwangerschaft, nach der Geburt und beim Übergang in die Elternschaft. Tabelle 6 zeigt, dass die Korrelationen von jeder Misshandlungssubskala und subjektivem Stressempfinden positiv sind. Dieser Zusammenhang wird beim Messzeitpunkt t₀ (N=240) für jede Subskala signifikant (p<.01) und variiert zwischen r=.18 und r=.41 (Daten t₀/Stichprobe t₀). Der stärkste Zusammenhang konnte für die Subskala „Emotionaler Missbrauch“ nachgewiesen werden [r=.44 (Daten t₀/Stichprobe t₀), r=.57 (Daten t₀/Stichprobe t₁)]. Beim Messzeitpunkt t₁ (N=61) kann nicht für jede Subskala auf einem Signifikanzniveau von p<.05 ein positiver Zusammenhang gefunden werden (Daten t₁/Stichprobe t₁). Die Richtung des Zusammenhanges ist jedoch immer positiv. Die signifikanten Korrelationen variieren zwischen r=.26 und r=.29. Des Weiteren wurde noch eine Korrelationanalyse der bei t₀ erhobenen CTQ-Subskalen und PSS4-Daten mit der Stichprobe von t₁ (N=61) (Daten t₀/Stichprobe t₁) durchgeführt. Seite 54 Auch hier zeigen sich auf einem Signifikanzlevel von p<.001 signifikante, positive Zusammenhänge zwischen r=.35 (Körperliche Vernachlässigung) und r=.57 (Emotionaler Missbrauch) mit subjektivem Stressempfinden. Tabelle 6: Korrelation von Misshandlungsbelastung und Stress zu den Messzeitpunkten t₀ und t₁ in der Studie „Meine Kindheit – Deine Kindheit“ erhoben in der Frauenklinik Ulm 2012 - 2013 CTQ_KV CTQ_EM CTQ_EV CTQ_KM CTQ_SM CTQ_insg CECA.Q_MU CECA.Q_VA CECA.Q_ALL PSS4 t₀ PSS4 t₁ PSS4 t₀ (N=61) (Daten t₀/Stichprobe t₀) (Daten t₁/Stichprobe t₁) (Daten t₀/Stichprobe t₁) ,31** ,44** ,35** ,28** ,18** ,41** ,35** ,32** ,39** ,27* ,29* ,21 ,25 ,14 ,29* ,10 ,26* ,22 ,35** ,57** ,37** ,43** ,23 ,51** ,33* ,40** ,41** Anmerkungen. * p < 0,05 (zweiseitig); ** p < 0,01 (zweiseitig) Abkürzungen. PSS 4 = Perceived Stress Scale 4; t₀ = Messzeitpunkt 1-3 Tage nach der Geburt in der Frauenklinik Ulm; t₁ = erster Messzeitpunkt nach drei Monaten an der Universität Ulm; CTQ_KV = Childhood Trauma Questionnaire, Subskala körperliche Vernachlässigung; CTQ_EM = Childhood Trauma Questionnaire, Subskala emotionaler Missbrauch; CTQ_EV = Childhood Trauma Questionnaire, Subskala emotionale Vernachlässigung; CTQ_KM = Childhood Trauma Questionnaire, Subskala körperlicher Missbrauch; CTQ_SM = Childhood Trauma Questionnaire, Subskala sexueller Missbrauch; CTQ_insg = Childhood Trauma Questionnaire, alle Subskalen; CECA.Q_Mu = Childhood Experience of Care and Abuse Questionnaire bezogen auf die Mutter, Subskalen Antipathie und Vernachlässigung; CECA.Q_Va = Childhood Experience of Care and Abuse Questionnaire bezogen auf den Vater, Subskalen Antipathie und Vernachlässigung; CECA.Q_ALL = Childhood Experience of Care and Abuse Questionnaire bezogen auf Mutter und Vater mit den Subskalen Antipathie und Vernachlässigung. Bei genauerem Betrachten dieser Zusammenhänge zeigt die multiple Regression über alle fünf Subskalen des CTQs bezogen auf Stress zum Erhebungszeitpunkt t₀ einen signifikanten Effekt für die Subskala „Emotionaler Missbrauch (siehe Tabelle 7). Bei Kontrolle der anderen Subskalen zeigt sich nur ein signifikanter Effekt für „Emotionaler Missbrauch“, so dass davon ausgegangen werden kann, dass der positive Zusammenhang zwischen den Missbrauchssubskalen und subjektivem Stressempfinden insbesondere auf emotionalen Missbrauch zurückgeführt werden kann (Daten t₀/Stichprobe t₀). Die multiple Regression mit den PSS4-Daten zum Messzeitpunkt t₁ (Daten t₁/Stichprobe t₁) ergab keine signifikanten Ergebnisse für die fünf Subskalen des CTQ (alle p-Werte > .13; F(5,55)=1,16; R²=0,10). Die Hypothese, dass es einen positiven Zusammenhang zwischen Missbrauch in der Kindheit und Stresserleben in der Schwangerschaft und nach der Geburt gibt, konnte bestätigt werden. Im Speziellen konnte gezeigt werden, dass insbesondere die Seite 55 Subskala „Emotionaler Missbrauch“ mit subjektivem Stressempfinden nach der Geburt in einem positiven Zusammenhang steht. Tabelle 7. Regression CTQ mit PSS4 zum Messzeitpunkt t₀ (N=240) der Studie „Meine Kindheit – Deine Kindheit“, erhoben in der Frauenklinik Ulm 2012 bis 2013 Modell Nicht standardisierte Koeffizienten Standardfehler (Konstante) CTQ_KV CTQ_EM CTQ_EV CTQ_KM CTQ_SM ,32 -,08 ,44 ,12 -,01 -,01 ,15 ,18 ,12 ,07 ,13 ,08 Standardisierte Koeffizienten Beta t-Wert p -Wert -,04 ,39 ,14 -,01 -,01 2,14 -0,44 3,66 1,65 -0,93 -0,13 ,03 ,66 ,00 ,10 ,93 ,90 Anmerkung. R-Quadrat=0,20; F(5,234)=11,75, p<.01 für das Gesamtmodel Abkürzungen. CTQ_KV = Childhood Trauma Questionnaire, Subskala körperliche Vernachlässigung; CTQ_EM = Childhood Trauma Questionnaire, Subskala emotionaler Missbrauch; CTQ_EV = Childhood Trauma Questionnaire, Subskala emotionale Vernachlässigung; CTQ_KM = Childhood Trauma Questionnaire, Subskala körperlicher Missbrauch; CTQ_SM = Childhood Trauma Questionnaire, Subskala sexueller Missbrauch; t₀ = Messzeitpunkt Screening, ein bis drei Tage nach der Geburt in der Frauenklinik Ulm. Hypothese 4: Mütter mit unsicherer Bindung im Erwachsenenalter berichten über ein erhöhtes Stresserleben nach der Geburt im Vergleich zu Müttern mit sicherer Bindung. Die vierte Hypothese beruht auf der Annahme, dass unsicher gebundene Menschen ein erhöhtes subjektives Stressempfinden haben. Abbildung 9 zeigt die jeweiligen Mittelwerte und Standardfehler des subjektiven Stresserlebens zu den Messzeitpunkten t0 und t1 nach Bindungsklassen aufgeschlüsselt. Dieser Zusammenhang wird in der ANOVA in unserer Stichprobe zu keinem Messzeitpunkt signifikant, für t₀ F(3,56)=0,41, p=.75; für t₁ F(3,53)=0,11, p=.96. Mütter mit unsicherer Bindung berichten also zu keinem unserer Messzeitpunkte von signifikant mehr Stresserleben als Mütter mit sicherer Bindung. Seite 56 1,6 PSS4 Mittelwert 1,4 1,2 1,0 0,8 0,6 0,4 0,2 0,0 PSS4 t₀ sichere Bindung unsicher distanzierend PSS4 t₁ kognitiv entkoppelt unverarbeiteter Bindungsstatus Abbildung 9: Mittleres Stresserleben mit Standardfehler nach Bindungstyp erhoben zu t₁ gemessen mittels PSS4 bei t₀ (N=60) und t₁ (N=60) in der Studie „Meine Kindheit – Deine Kindheit“ erhoben in Ulm 2012 bis 2013 Abkürzungen. PSS 4 = Perceived Stress Scale 4; t₀ = Messzeitpunkt 1-3 Tage nach der Geburt in der Frauenklinik Ulm; t₁ = erster Messzeitpunkt nach drei Monaten an der Universität Ulm Hypothese 5: Bindung im Erwachsenenalter fungiert als Mediator für den positiven Zusammenhang von Missbrauch in der Kindheit und Stresserleben in der Schwangerschaft und im Übergang zur Elternschaft. Um Hypothese 5 zu testen wurden mehrere Mediationsmodelle gerechnet. Im Folgenden werden das Vorgehen und die Ergebnisse exemplarisch für die Subskala „Emotionaler Missbrauch“ berichtet. Die Ergebnisse der anderen vier Subskalen sind äquivalent – es zeigten sich keine signifikanten Mediationen. Um statistisch eine Mediation nachweisen zu können, ist ein signifikanter Pfad c erforderlich. Wie in Abbildung 10 ersichtlich, besteht ein positiver Zusammenhang zwischen emotionaler Misshandlung und subjektivem Stresserleben in einer univariaten Regression. Der Pfad a gibt den Zusammenhang zwischen emotionalem Missbrauch und unsicherer Bindung wieder. Dieser Zusammenhang wird, wie Abbildung 10 darlegt, in einer univariaten Regression nicht signifikant. Der Pfad b, welcher den Zusammenhang zwischen unsicherer Bindung und subjektivem Stresserleben beinhaltet, wird ebenfalls nicht signifikant. Seite 57 Abbildung 10: Mediation des positiven Zusammenhangs von emotionaler Misshandlung in der Kindheit und Stresserleben in der Schwangerschaft und direkt nach der Geburt (erhoben zu t₀) durch Bindung im Erwachsenenalter (erhoben zu t₁) in der Studie „Meine Kindheit – Deine Kindheit“ in Ulm von 2012 bis 2013 Abkürzungen: a = Korrelation von emotionaler Misshandlung in Kindheit und Jugend und Bindung im Erwachsenenalter; b = Korrelation von Bindung im Erwachsenenaler und Stresserleben in der Schwangerschaft und direkt nach der Geburt; c = Korrelation von emotionaler Misshandlung in Kindheit und Jugend und Stresserleben in der Schwangerschaft und direkt nach der Geburt; β =unstandartisierter Regressionskoeffizient; p = Signifikanzwert; R² = Anteil erklärter Varianz; F = FTest mit Freiheitswerten und F-Wert ; t₀= Messzeitpunkt Screening, ein bis drei Tage nach der Geburt in der Frauenklinik Ulm. Sollte Bindung den Zusammenhang zwischen emotionalem Missbrauch in der Kindheit und Jugend und Stresserleben direkt nach der Geburt mediieren, muss als letzter Schritt im Gesamtmodell der β-Koeffizient des Pfades c unter Kontrolle von Misshandlung kleiner werden. Der β-Koeffizient des Zusammenhangs von emotionalem Missbrauch und Stresserleben direkt nach der Geburt verändert sich unter Kontrolle des Bindungsstils allerdings nicht (vgl. Tabelle 8). Tabelle 8: Übersicht über die statistischen Parameter des Gesamtmodells der Mediation des Zusammenhanges zwischen emotionalem Missbrauch und Stresserleben durch Bindung in der Studie „Meine Kindheit – Deine Kindheit“, Daten erhoben in der Frauenklinik Ulm 2012 bis 2013 β p Bindung (Pfad b) -0,02 .88 Emotionale Misshandlung (Pfad c) 0,55 .00 Seite 58 Anmerkung. Gesamtmodell R²=0,31; F(2,57)=12,61 Der Sobel-Test, welcher das gesamte Mediationsmodell testet, wurde dementsprechend ebenfalls nicht signifikant (z=-0.16, p=.87). Die Ergebnisse der anderen Subskalen des CTQs waren äquivalent – es zeigte sich keine signifikante Mediation. Diese Mediationsmodelle werden aus Redundanzgründen hier nicht berichtet. Im Folgenden werden die statistischen Parameter für das Mediationsmodell berichtet, wenn der CTQ-Gesamtscore und der CECA.Q-Gesamtscore als unabhängige Variable getestet werden (statt der emotionalen Misshandlung). Wie im Mediationsmodell, welches die emotionale Misshandlung beinhaltete, wird jeweils der Pfad a für CTQ-Summenscore und CECA.Q-Summenscore nicht signifikant (vgl. Tabelle 9). Tabelle 9: Statistische Parameter für das Mediationsmodell mit dem CTQ-Gesamtscore und dem CECA.Q-Gesamtscore als unabhängige Variable erhoben zu t₀ durch die Studie „Meine Kindheit – Deine Kindheit“ in der Frauenklinik Ulm von 2012 bis 2013 Gesamtmodell Pfad a Pfad b Pfad c Pfad b Pfad c β -0,14 -0,13 0,52 -0,06 0,51 CTQ p .27 .31 .00 .60 .00 gesamt F (1,58)=1,22 (1,58)=1,04 (1,58)=20,95 (2,57)=10,48 R² 0,02 0,02 0,27 β -0,15 -0,13 0,39 -0,08 0,38 CECA.Q p .26 .31 .00 .54 .00 gesamt F R² (1,58)=1,30 (1,58)=1,04 (1,58)=10,68 0,02 0,02 0,16 0,27 (2,57)=5,47 0,16 Abkürzungen. CECA.Q gesamt = Childhood Experience of Care and Abuse Questionnaire Gesamtscore; CTQ = Childhood Trauma Questionnaire Gesamtscore; R² =Anteil erklärter Varianz; F = F-Test mit Freiheitsgraden und F-Wert; t₀ = Messzeitpunkt Screening, ein bis drei Tage nach der Geburt in der Frauenklinik Ulm. Es konnten keine signifikanten Zusammenhänge bei Pfad b gezeigt werden. Pfad c hingegen wird in beiden Modellen signifikant. Allerdings liegen auch für die beiden Mediationsmodelle mit CTQ-Gesamtscore und CECA.Q-Gesamtscore keine Mediationen vor – der β-Koeffizient von Pfad c des Gesamtmodels reduziert sich äußerst geringfügig (in beiden Fällen um 0.01). Dementsprechend wird der Sobel-Test, welcher das gesamte Seite 59 Mediationsmodell testet, für beide Modelle ebenfalls nicht signifikant (Sobel-Test mit dem CTQ-Gesamtscore z=0.47, p=.64. Sobel-Test mit dem CECA.Q z=0,55, p=.59). Auf Basis der Mediationsmodelle kann für den Zusammenhang von Missbrauch und Stresserleben unter Kontrolle für unsichere oder sichere Bindung nicht von einer Mediation durch Bindung ausgegangen werden. Seite 60 4 Diskussion Das Ziel dieser Arbeit ist es, bei gerade frisch gewordenen Müttern die Zusammenhänge zwischen Misshandlung in der eigenen Kindheit, Bindungsverhalten im Erwachsenenalter und Stresserleben nach der Geburt und beim Übergang in die eigene Elternschaft darzustellen und ihre Tragweite zu diskutieren. Es soll herausgearbeitet werden, ob unsichere oder desorganisierte Bindung den Zusammenhang von Misshandlungserfahrungen in der Kindheit und vermehrtem Stresserleben in der Schwangerschaft und nach der Geburt erklärt. Hierfür wurden Daten an einer Stichprobe von Müttern ein bis drei Tage und drei Monate nach der Geburt erhoben. Zunächst konnte gezeigt werden, dass alle Subskalen des CTQs und des CECA.Qs positiv korrelieren. Man kann daraus schließen, dass verschiedene Formen des Missbrauchs gemeinsam auftreten (Hypothese 1). Anschließend wurde geprüft, ob unsicher gebundene Mütter oder Mütter mit unverarbeitetem Bindungsstatus Unterschiede in Misshandlungserfahrungen in der Kindheit und Jugend berichten im Vergleich zu Müttern mit sicherer Bindung. Hier konnte gezeigt werden, dass unsicher gebundene Mütter signifikant mehr Misshandlung auf den Subskalen „Emotionale Misshandlung“, „Körperliche Misshandlung“ und „Körperliche Vernachlässigung“ berichten als sicher gebundene Mütter (Hypothese 2.1). Dies konnte jedoch nicht für Missbrauch in der Kindheit und Jugend und einen unverarbeiteten Bindungstyp im Erwachsenenalter dokumentiert werden (Hypothese 2.2). Betrachtet man die Mittelwerte und Standardabweichungen der verschiedenen Subskalen des CTQ, wird eine Tendenz zum vermehrten Bericht von Misshandlung bei Müttern mit unverarbeitetem Bindungsstatus im Vergleich zu Müttern mit sicherem Bindungsstatus deutlich. Auf der Subskala „Körperliche Vernachlässigung“ wird dies tendenziell signifikant. Des Weiteren stellte sich ein positiver Zusammenhang zwischen Missbrauchserfahrungen und subjektivem Stresserleben heraus. Für die Daten des Screenings konnte dieser Zusammenhang für alle Skalen der Missbrauch-erhebenden Instrumente nachgewiesen werden. Eine lineare Regression konnte zeigen, dass bei Berücksichtigung der Interkorrelation der verschiedenen Missbrauchsarten „Emotionaler Missbrauch“ für diesen Zusammenhang verantwortlich ist. Die Subskala „Emotionale Vernachlässigung“ wird in Seite 61 dieser Regression tendenziell signifikant. Wer also in seiner Kindheit emotional missbraucht wurde, berichtet im Erwachsenenalter vermehrt Stress (Hypothese 3). Die Annahme, dass unsichere Bindung im Erwachsenenalter und subjektives Stresserleben ebenfalls positiv korrelieren, konnte nicht gestützt werden. Es zeigte sich kein vermehrtes subjektives Stresserleben nach der Geburt und beim Übergang in die Elternschaft bei unsicher gebundenen Müttern (Hypothese 4). Schließlich wurde die Mediation des positiven Zusammenhanges von Misshandlung im Kindes- und Jugendalter und des subjektiven Stresserlebens im Erwachsenenalter durch die Bindung im Erwachsenenalter in Betracht gezogen. Diese konnte jedoch nicht bestätigt werden (Hypothese 5). Zusammenfassend konnten also deutliche Zusammenhänge zwischen verschiedenen Formen von Missbrauch festgestellt werden und zwischen Misshandlungserfahrungen in der Kindheit und vermehrtem Stresserleben direkt nach der Geburt. Eine Regressionsanalyse zeigte dabei den besonderen Stellenwert von emotionaler Misshandlung auf. Auch eine Mehrbelastung durch Misshandlungserfahrungen in der Kindheit bei unsicher gebundenen Müttern konnte gezeigt werden, nicht jedoch bei Müttern mit unverarbeitetem Bindungsstatus. In der vorliegenden Stichprobe von Müttern in der besonderen Zeit der Schwangerschaft und nach der Geburt gibt es jedoch keine Anhaltspunkte für einen Zusammenhang von unsicherer Bindung und vermehrtem Stresserleben oder dafür, dass Bindung den positiven Zusammenhang von Misshandlung und Stresserleben mediiert. 4.1 Diskussion der Ergebnisse Diskussion der Interkorrelation verschiedener Missbrauchsformen (Hypothese 1). Die Studie „Meine Kindheit – Deine Kindheit“ konnte replizieren, dass es positive Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Missbrauchsformen gibt (vgl. Dong et al. 2004; Häuser et al. 2011). Frauen, die in ihrer Kindheit eine Form von Missbrauch erleben mussten, haben wahrscheinlich noch andere Formen von Missbrauch erlebt. In unserer Studie konnten wir zum ersten Messzeitpunkt (t₀) einen sehr starken Zusammenhang der Seite 62 Subskala „Emotionale Vernachlässigung“ des CTQs und des CECA.Q-Werts für die Mutter nachweisen. Dies war zu erwarten, da beide Skalen Vernachlässigung erheben. Der CECA.Q-Wert für den Vater korreliert mit der Subskala „Emotionale Vernachlässigung“ des CTQs stattdessen stark. Auch hier hätte man eher einen sehr starken Zusammenhang erwartet, da auch diese Skala Vernachlässigung durch den Vater erhebt. Möglicherweise wurde der Gesamtwert „Emotionale Vernachlässigung“ des CTQs von den Probandinnen stärker von der Mutter abhängig gemacht, da diese oftmals mehr in die Erziehung involviert ist. Oder es kommt tatsächlich zu vermehrter emotionaler Vernachlässigung durch Mütter. Zum Messzeitpunkt t₁ korrelieren jedoch sowohl CECA.Q-Wert der Mutter, als auch des Vaters sehr stark mit der Subskala „Emotionale Vernachlässigung“ des CTQs. Die Interkorrelation verschiedener Missbrauchsarten konnten bereits Dong et al. (2004) und Häuser et al. (2011) nachweisen. Wie bei Häuser et al. (2011) sind auch bei uns die Korrelationen zu beiden Messzeitpunkten zwischen den Subskalen des CTQs für emotionalen und körperlichen Missbrauch und für emotionale und körperliche Vernachlässigung sehr hoch. Zum Messzeitpunkt t₀ zeigen sich in unseren Ergebnissen ebenfalls sehr hohe Korrelationen zwischen emotionaler Vernachlässigung und körperlichem Missbrauch und zwischen emotionalem Missbrauch und körperlicher Vernachlässigung. Zum Messzeitpunkt t₁ zeigt sich weiterhin die sehr starke Korrelation von körperlicher Vernachlässigung und emotionaler Misshandlung, nicht jedoch von emotionaler Vernachlässigung und körperlichem Missbrauch. Dong et al. (2004) konnten zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit sehr hoch ist, weitere Formen des Missbrauchs erlitten zu haben, wenn eine Art davon „Emotionale Misshandlung“ war. Auch unsere Ergebnisse zeigen, dass „Emotionaler Missbrauch“ zu beiden Messzeitpunkten sehr stark oder stark mit allen Subskalen des CTQs korreliert, außer der Subskala „Sexueller Misshandlung“. Dong et al. (2004) haben weiterhin gezeigt, dass die Wahrscheinlichkeit, nur eine einzelne Form des Missbrauchs erlitten zu haben, sehr viel höher ist, wenn diese eine Form „Sexueller Missbrauch“ ist. Wir konnten ebenfalls replizieren, dass sowohl zum Messzeitpunkt t₀, als auch zum Messzeitpunkt t₁ „Sexueller Missbrauch“ nur mittelmäßig bis schwach mit anderen Subskalen korreliert oder eben überhaupt kein Zusammenhang zu anderen Missbrauchsformen nachweisbar war. Zu beiden Messzeitpunkten fällt auf, dass sich kein Zusammenhang zwischen „Sexuellem Missbrauch“ und dem CECA.Q-Wert der Mutter aufzeigen lässt, wohl aber zum CECA.Q-Wert des Vaters. Man könnte durch Seite 63 diese Ergebnisse darauf schließen, dass sexueller Missbrauch eher von Vätern ausgehen würde. Unsere Ergebnisse lassen sich folglich einordnen in die bereits gefundenen Studien und unterstützen die These der Interkorrelation verschiedener Misshandlungsformen. Felitti et al. (1998) konnten, ausgehend von der Interkorrelation, einen kumulativen Effekt der verschiedenen Arten stattgefundener Misshandlung mit negativen Folgen für das Opfer noch Jahre später nachweisen. Kolassa und Schury (2012) schlagen für diesen kumulativen Effekt den Begriff „Maltreatment Load“ vor. Die Interkorrelation von Missbrauchsarten und der sich daraus ergebende Maltreatment Load müssen in Zukunft in der Forschung und im klinischen Alltag berücksichtigt werden. Im weiteren Verlauf der Arbeit wird dies genauer erörtert. Diskussion des vermehrten Auftretens von Misshandlungserfahrungen in der Kindheit bei unsicher gebundenen Müttern oder Müttern mit unverarbeitetem Bindungsstatus im Vergleich zu Müttern mit sicherer Bindung (Hypothese 2.1 und 2.2). Bereits Stronach et al. (2011) und Cyr et al. (2010) konnten einen positiven Zusammenhang zwischen Misshandlung und unsicherer Bindung und desorganisierter Bindung bei Kindern nachweisen. In der Studie „Meine Kindheit – Deine Kindheit“ konnte für Misshandlungserfahrungen in der Kindheit ein signifikanter Unterschied unsicher gebundene Mütter und sicher gebundene Mütter gezeigt werden. Unsicher gebundene Mütter waren in unserer Studie in ihrer Kindheit signifikant mehr emotional oder körperlich misshandelt oder körperlich vernachlässigt worden. Die Vermutung, dass Mütter mit unverarbeitetem Bindungsstil mehr Misshandlung in ihrer Kindheit und Jugend erfahren mussten, konnte jedoch nicht gestützt werden. Dies steht nicht im Einklang mit den Forschungsergebnissen der letzten Jahre zu diesem Zusammenhang (Stronach et al. 2011; Cyr et al. 2010). Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die Abweichung unserer Ergebnisse zu erklären. Nicht jedes misshandelte Kind weise zwangsweise eine desorganisierte Bindung auf. Teilweise entwickle sich auch eine unsichere Bindung (Cyr. et al. 2010). Valenzuela (1990) konnte beispielsweise zeigen, dass Kinder, die Vernachlässigung erfahren mussten, ein höheres Risiko haben, unsicher gebunden zu sein. Kinder, die körperlich misshandelt wurden, hätten dagegen ein höheres Risiko für eine desorganisierte Bindung. Cyr et al. Seite 64 (2010) wollten in einer Metaanalyse die Bindungsqualitäten von Kindern mit Vernachlässigungserfahrung und Kindern mit körperlicher Misshandlung gegenüberstellen. Leider war dies aufgrund der mangelnden Datenlage nicht möglich. Sicherlich erschwert die Interkorrelation der verschiedenen Missbrauchsformen eine genauere Differenzierung der Auswirkungen einzelner Misshandlungsformen. Weiterhin konnte in den letzten Jahren gezeigt werden, dass es neben Misshandlung und Trauma weitere Risikofaktoren für die Entwicklung eines desorganisierten Bindungsstatus gibt (Cyr et al 2010). Cyr et al. (2010) gehen von einer multifaktoriellen Entstehung desorganisierter Bindung aus. Dafür spielten kulturelle Werte (Makrosystem), Armut (Exosystem), Ehekonflikte (Mikrosystem), genetische Vulnerabilität des Kindes (ontogenetisches System) und die Ergebnisse der Kindesentwicklung eine Rolle. Hier wird unter anderem der Erkenntnis Rechnung getragen, dass eine desorganisierte Bindung nicht nur entsteht, wenn Kinder durch die Eltern selbst in Angstzustände versetzt werden (vgl. Seite 23). Auch die Abwesenheit der Regulation von ängstlicher Erregung beim Kind durch sehr unsensible Eltern könne zu desorganisierter Bindung führen (Lyons-Ruth et al. 1999). Cyr et al. (2010) zeigten, dass das Vorliegen fünf sozioökonomischer Risikofaktoren (z. B. niedriges Einkommen, Alleinerziehung, niedriger Bildungsstand, Substanzabusus, Alter der Mutter unter 20 Jahren) für die Entstehung desorganisierter Bindung genauso schwer wiege wie Missbrauch in der Kindheit. Dieser Effekt konnte jedoch nicht für die Entstehung von unsicherer Bindung gefunden werden (Cyr et al. 2010). Möglicherweise hat es durch die Art des Missbrauchs oder durch protektive Faktoren bei den Müttern unserer Studie also nie ein Auftreten von desorganisierter Bindung gegeben oder unsere Ergebnisse werden durch das Vorliegen multipler Risikofaktoren, die ebenfalls zur Entwicklung einer desorganisierten Bindung führen können, verfälscht. Weiterhin ist zu beachten, dass bei den Teilnehmerinnen unserer Studie ein großer zeitlicher Abstand zwischen Misshandlungserfahrungen und Erhebung des Bindungsstatus liegt. In der Bindungsforschung wird desorganisiertes Verhalten als akuter Zustand angesehen (vgl. Seite 23). Im Rahmen der „Fremden Situation“ wird jedem Kind ein weiterer Bindungstyp zugeteilt, da man davon ausgeht, dass der desorganisierte Bindungsstatus lediglich vorübergehend nach einem Trauma auftritt (Main 2012). Bindung ist ein veränderliches Konstrukt, das mit der Außenwelt in Verbindung steht. Bereits Seite 65 Bowlby sprach 1969 von „Ziel-korrigierter Partnerschaft“ und meinte damit die veränderlichen inneren Arbeitsmodelle des Bindungssystems. Im Verlauf der Vorschuljahre verstünden Kinder mehr und mehr die Wünsche und Vorstellungen der Bindungsperson. Dadurch käme es zu erneuten Korrekturen des Bindungsverhaltenssystems (Bretherton 1992). Weinfeld et al. (2004) konnten an einer Stichprobe mit niedrigem Einkommen zeigen, dass im Alter von 19 Jahren eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für ehemals desorganisiert gebundene Kinder besteht, unsicher gebunden zu sein (Lyons-Ruth & Jacobvitz 2008). Dies entspricht dem Ergebnis unserer Studie. Sroufe und Collins (2005) begleiteten in der „high risk Minnesota Study“ 3 Kinder mit hohem Risiko für die Entwicklung einer desorganisierten Bindung bis in das 27. Lebensjahr. Hierbei stellte sich heraus, dass Kinder mit desorganisierter Bindung mit höherer Wahrscheinlichkeit einen unverarbeiteten Bindungsstatus im AAI im Alter von 26 Jahren aufwiesen. Auch Van Ijzendoorn et al. (1999) konnten in einer Metaanalyse nachweisen, dass desorganisierte Bindung sehr stabil ist. In Studien mit bis zu fünf Jahren Follow-up zeigte sich ein dauerhaft desorganisierter Bindungsstil. Im Gegensatz hierzu konnten jedoch Lewis, Feiring und Rosenthal (2000) keine Kontinuität der Bindungsklasse vom ersten Lebensjahr bis zur Jugend nachweisen und verwiesen auf wichtige Lebensereignisse, die das Bindungssystem verändern. Dazu gehöre beispielsweise die Scheidung der Eltern. Es gibt also widersprüchliche Ergebnisse hinsichtlich der Kontinuität von Bindung, im Speziellen von desorganisierter Bindung. Somit ist nicht klar, wie hoch die Wahrscheinlichkeit für ein Kind mit desorganisierter Bindung ist, zu einem Erwachsenen mit unverarbeitetem Bindungsstatus heranzuwachsen. Dies könnte ein weiterer Grund sein, warum sich der Zusammenhang von Misshandlung in der Kindheit und Jugend und unverarbeiteter Bindung im Erwachsenenalter in unserer Studie nicht zeigt. Lyons-Ruth und Jacobvitz (2008) machten noch auf eine weitere Schwierigkeit bei der Erhebung von desorganisierter Bindung und unverarbeitetem Bindungsstatus aufmerksam: einem Jugendlichen oder Erwachsenen könne im AAI nur dann ein unverarbeiteter Bindungsstatus zugeteilt werden, wenn er Missbrauch oder Verlust erfahren hat. Wie bereits erwähnt, gehen aktuelle Theorien jedoch davon aus, dass desorganisierte Bindung multifaktoriell entsteht (Cyr et al. 2010). Äußert sich desorganisierte Bindung also nicht 3 Hoch-Risiko Minnesota Studie Seite 66 über Verlust, Trauma oder Isolation im AAP oder AAI, wird diesen Erwachsenen auch kein unverarbeiteter Bindungsstatus zugewiesen (Lyons-Ruth & Jacobvitz 2008). Die Tatsache, dass der positive Zusammenhang zwischen Misshandlung in der Kindheit und unsicherer Bindung im Erwachsenenalter erhalten bleibt, jedoch nicht der positive Zusammenhang zwischen Misshandlung in der Kindheit und unverarbeitetem Bindungsstatus im Erwachsenenalter zeigt, dass die Erhebung unverarbeiteter Bindung und der Übergang desorganisierter Bindung in unverarbeitete Bindung zukünftig noch vermehrter Forschung bedarf. Diskussion des Zusammenhanges von Misshandlung in Kindheit und Jugend und subjektivem Stresserleben in der Schwangerschaft, nach der Geburt und beim Übergang in die Elternschaft (Hypothese 3). Opfer von Misshandlung in Kindheit und Jugend berichteten im Erwachsenenalter signifikant mehr Stress (vgl. Hyman et al. 2007; Medrano et al. 2002). Diese Vermutung hat sich auch in unserer Studie bestätigt. Zum Messzeitpunkt t₀ (N=240) zeigte sich, dass frisch entbundene Mütter mehr subjektives Stressempfinden berichteten, je höher die Werte in den Summenwerten des CTQs und CECA.Qs und in allen Subskalen des CTQs und CECA.Qs waren. Damit konnten wir anhand einer Stichprobe frisch entbundener Mütter replizieren, was Hyman et al. (2007) und Medrano et al. (2002) an drogenabhängigen Personen oder Personen, die seit kurzem drogenabstinent waren, herausgefunden hatten. Bei gleichen Analysen mit den Daten des Erhebungszeitpunktes t₀, jedoch mit der reduzierten Stichprobe vom Messzeitpunkt t₁ (61 Teilnehmerinnen), zeigte sich der Zusammenhang von subjektivem Stressempfinden direkt nach der Geburt mit allen Subskalen des CTQs mit Ausnahme der Subskala „Sexueller Missbrauch“. Anhand der Daten zum Stresserleben zum Messzeitpunkt t₁ der 61 Teilnehmerinnen zeigt sich dieser Zusammenhang für die Subskalen „Körperliche Vernachlässigung“, „Emotionaler Missbrauch“, den Summenscore des CTQs und den CECA.Q-Wert des Vaters. Mit einer größeren statistischen Power hätte eventuell auch beim Messzeitpunkt t₁ der Zusammenhang von Misshandlung in der Kindheit und vermehrtem Stresserleben nach der Geburt eines Kindes signifikant werden können. Möglicherweise unterscheiden sich die Ergebnisse im subjektiven Stressempfinden der Mütter am Messzeitpunkt t₁ jedoch auch wegen unterschiedlichen Stressoren und dem Seite 67 individuellen Umgang mit diesen. Dem Messzeitpunkt t₀ geht bei allen Teilnehmerinnen ein einschneidendes Lebensereignis voraus: die Geburt ihres Kindes. Dies ist mit Stress und Angst verbunden. Physiologisch gesehen ist dieses Ereignis für jede Mutter auch mit hormonellen Veränderungen einhergehend. Beispielsweise kommt es während der Geburt und postnatal (bspw. beim Stillen) zu einem hohen Oxytocinspiegel. Oxytocin ist ein Neurohormon, welches unter anderem anxiolytische Wirkung besitzt und durch Reduktion des Cortisolspiegels zur Reduktion von Stress führt (Uvnas-Moberg & Petersson 2005). Weiterhin spielt der Oxytocinspiegel eine wichtige Rolle für die Entwicklung der Bindung (Strathearn, Fonagy, Amico & Montague 2009). Sicher gebundene Mütter hatten in der Studie von Strathearn, Fonagy, Amico und Montague (2009) eine signifikant höhere Oxytocinausschüttung in der peripheren Blutbahn und eine vermehrte Aktivierung oxytocinerger Hirnareale im MRT beim Zeigen von Bildern der eigenen Kinder. Möglicherweise könnte es also über eine Fehlfunktion im Oxytocinsystem zu vermehrtem Stressempfinden um den Zeitpunkt der Geburt kommen. Die Fehlfunktion des Oxytocinsystems könnte aus der Störung des Bindungssystems resultieren, die auf den Misshandlungserfahrungen der Kindheit basiert. Die Zeit bis zum Messzeitpunkt t₁ ist ebenfalls eine stressige Zeit. Jedoch unterscheidet sich die eher dauerhafte Stressbelastung der Mutter in den ersten drei Monaten vom akut einschneidenden Lebensereignis der Geburt. Weiterhin wird dieser Stress von den Müttern eventuell unterschiedlich kognitiv bewertet (Hobfoll 1989; Lazarus & Folkmann 1984). Möglicherweise spielt die Bewertung des Stressors eine entscheidende Rolle oder akute Stressoren werden von misshandelten Menschen anders empfunden als chronische. Auf den Mangel an Differenzierung von Stressoren werde ich im Punkt „Limitationen“ noch genauer eingehen. Auch muss eine Verfälschung der erhobenen Werte zum Messzeitpunkt t₁ durch soziale Erwünschtheit in Betracht gezogen werden (Crowne & Marlowe 1960). Eventuell beschönigen manche Frauen ihr Stressempfinden vor allem aus der Angst heraus, bei vermehrtem Stressempfinden als „schlechte Mutter“ gesehen zu werden. Ein weiteres Resultat der Studie ist, dass der Zusammenhang von Misshandlung und Stress sich vor allem auf emotionalen Missbrauch zurückführen lässt. Eine tendenzielle Signifikanz konnte weiterhin für emotionale Vernachlässigung aufgezeigt werden. Die Ergebnisse unserer Studie stehen dabei in Einklang mit Befunden von Wright, Crawford und Del Castillo Seite 68 (2009). Diese Autoren konnten bei Studenten einen starken Zusammenhang von emotionalem Missbrauch und emotionaler Vernachlässigung in der Vergangenheit mit Angsterkrankungen und Depressionen aufzeigen. Dabei wurden das Geschlecht, Einkommen, Alkoholmissbrauch der Eltern und andere Missbrauchsformen kontrolliert. Für emotionale Vernachlässigung konnte Wright et al. (2009) ebenfalls einen Zusammenhang zu Dissoziation zeigen. Weiterhin konnte eine Mediation dieses Zusammenhanges durch Vulnerabilität für Scham, Selbstopferung und Unglück festgestellt werden. Dies zeigt einmal mehr, dass es deutlich mehr Erforschung von emotionalem Missbrauch und emotionaler Vernachlässigung bedarf. Da emotionaler Missbrauch weniger sichtbare Narben oder Spuren hinterlässt, ist es schwieriger, ihn im klinischen Alltag nachzuweisen. Wenn jedoch vermehrtes Stresserleben vor allem aus emotionalem Missbrauch resultiert und dies in Psychopathologien münden kann, muss diese Form des Missbrauchs auch im klinischen Alltag verstärkt in Augenschein genommen werden. Weiterhin müssen emotionalem Missbrauch und Vernachlässigung neue Stellenwerte zugeschrieben werden. Es sollte verstärkt Aufklärung über die Prävalenz und Folgen dieser Misshandlungsformen stattfinden. Möglicherweise ermöglicht eine Sensibilisierung der Gesellschaft ein Eindämmen dieser Misshandlungformen und somit eine Verhinderung der möglichen Folgen. Weiterhin müssen im klinischen Kontext Diagnostik und Therapie diesen Zusammenhängen angepasst werden. Das bedeutet, auch wenn Misshandlung im Sinne von Spuren und Narben offensichtlich wird, wenn also körperliche oder sexuelle Misshandlung stattgefunden hat, dürfen Diagnostik und Therapie von emotionalem Missbrauch und Vernachlässigung nicht ausgelassen werden. Auch nichtpsychologisches Personal, wie zum Beispiel Kinderärzte, müssen für emotionalen Missbrauch und dessen mögliche Folgen sensibilisiert werden. Des Weiteren müssen Möglichkeiten entstehen, bei Verdacht auf emotionale Misshandlung oder Vernachlässigung eines Kindes Hilfestellung zu erhalten. Weiterhin ergibt sich daraus ein großer Handlungsbedarf für die Vereinheitlichung der Definition und Erfassung von Misshandlung. Fendrich und Pothmann (2010) weisen darauf hin, dass das Risiko für Vernachlässigung und Misshandlung an Kindern steigt, die Datenlage in Deutschland jedoch nicht gut sei. Sie schlagen daher eine regelmäßige Erfassung durch das Jugendamt vor (Fendrich & Pothmann 2010). Seite 69 Diskussion des erhöhten Stresserlebens nach der Geburt bei Müttern mit unsicherer Bindung im Vergleich zu Müttern mit sicherer Bindung (Hypothese 4). Die Annahme, dass unsichere Bindung mit vermehrtem Stresserleben im Erwachsenenalter einhergeht, hat sich in unserer Studie nicht bestätigt. Dies stimmt nicht den Forschungsergebnissen der letzten Jahre überein. Simpson et al. (1996) konnten für ambivalent gebundene Personen, sowie Dewitte et al. (2010) für ängstlich gebundene Personen (nach Bartholomew 1991) ein erhöhtes subjektives Stressempfinden dokumentieren. Der Vollständigkeit halber soll hier erwähnt werden, dass auch wir getestet haben, ob ambivalent gebundene Mütter ein vermehrtes Stresserleben aufweisen. Auch hier konnte kein signifikanter Unterschied zwischen Müttern mit ambivalenter Bindung und Müttern mit sicherer Bindung gefunden werden. Möglicherweise ist unsere Stichprobe zu klein, um den Effekt signifikant nachweisen zu können. In den Mittelwerten und Standardfehlern von t₀ wird eine deutliche Tendenz zu vermehrtem Stresserleben bei unsicherer Bindung ersichtlich. Interessant wäre zu untersuchen, ob sich der Effekt zeigt, wenn man statt der klassischen Klassifikation von Bindung nach Ainsworth (1971, 1978) die Bindungsklassifikation nach Bartholomew (1991) verwendet. Bartholomew (1991) erweiterte die Bindungsklassifikation für Erwachsene. Sie bezog die Bindungsklasse auf das Selbstbild und das Bild von anderen und die Vermeidung, die damit einhergehe. Dewitte et al. (2010), Kidd et al. (2013) und Quirin et al. (2008) arbeiteten mit der Klassifikation nach Bartholomew (1991) und erzielten damit verlässliche Ergebnisse, die für einen positiven Zusammenhang von ängstlicher Bindung und vermehrtem Stressempfinden sprechen. Eine weitere Fehlerquelle könnten weitere Kovariaten beim Erleben von Stress sein. Das subjektive Stressempfinden wird maßgeblich von Copingstrategien und individuellen Ressourcen beeinflusst. Kobak et al. (2006) betonten die Rolle einer sicheren Bindung als Copingstrategie. Wie bereits erwähnt, wiesen Lazarus und Folkmann auf die primäre und sekundäre Bewertung von Stress hin. Hobfoll (1989) hatte sich mit den jeweiligen Ressourcen des Individuums beschäftigt, um Stress zu bewältigen (ressourcenorientiertes Modell) (Hobfoll 1989). Aus diesen Theorien erwuchs die Idee des „Copings“. „Coping refers to cognitive and behavioral efforts to master, reduce, or tolerate the internal and/or Seite 70 external demands that are created by the stressful transaction.” 4 (Folkman & Lazarus 1984, S. 843). Dies findet auf verschiedenen Ebenen statt. Folkmann und Lazarus (1984) beschrieben beispielsweise antizipatorisches Coping. Dies gehe einem wahrscheinlich stressreichen Ereignis voraus. Weiterhin unterscheidet man emotionsfokussiertes von problemfokussiertem Coping (Billings & Moos 1982; Lazarus & Folkman 1984). Emotionsfokussiertes Coping ziele auf die Veränderung der eigenen Gefühle gegenüber dem Stressor ab. Dazu zähle unter anderem auch Verdrängung. Problemfokussiertes Coping ziele auf die Veränderung des Stressors ab, wie zum Beispiel die Bewältigung des Problems und somit die Beseitigung des Stressors (Lazarus & Folkman 1984). Je mehr Copingstrategien vorhanden sind, desto besser könne Stress bewältigt werden (Taylor & Clark; 1986). In unserer Studie haben wir die Copingstrategien der Mütter nicht erhoben und können daher auch nicht den Effekt dieser auf das subjektive Stresserleben unserer Probandinnen analysieren. Es ist uns also auf Grundlage der Daten nicht möglich zu differenzieren, ob ein signifikanter Unterschied aufgrund methodischer Schwierigkeiten nicht ermittelbar ist oder ob Mütter mit unsicherer oder unverarbeiteter Bindung über genügend andere Coping-strategien verfügen und der Zusammenhang nicht existiert. Diskussion der Mediation des Zusammenhanges von Misshandlungserfahrungen in der Kindheit und subjektivem Stressempfinden im Erwachsenenalter durch Bindung im Erwachsenenalter (Hypothese 5). Der positive Zusammenhang von Misshandlung in der Kindheit und vermehrtem Stresserleben nach der Geburt eines Kindes in unserer Studie kann nicht durch unsichere Bindung erklärt werden. Weder für den Zusammenhang der Subskala „Emotionaler Missbrauch“, noch für den CTQ-Gesamtscore oder den CECA.Q-Gesamtscore und dem subjektiven Stressempfinden konnte eine Mediation von Bindung nachgewiesen werden. Der Zusammenhang von Misshandlung in der Kindheit und subjektivem Stresserleben während der Schwangerschaft und nach der Geburt (Pfad c) wurde in unserer Studie signifikant. Auch konnte ein signifikanter Unterschied von unsicher und sicher gebundenen Müttern bezüglich ihrer Misshandlungserfahrungen in der Kindheit gezeigt werden (Pfad 4 Coping bezieht sich auf kognitive Bemühungen und Bemühungen im Verhalten um internale und/oder externale Anforderungen, die durch stressreiche Übertragung entstehen, zu meistern, zu reduzieren oder zu tolerieren. Seite 71 a). Der Zusammenhang zwischen Bindung im Erwachsenenalter und Stresserleben (Pfad b) wurde in unserer Studie jedoch nicht signifikant. Aus diesem Grund kann auch eine Mediation durch unsichere Bindung im Erwachsenenalter nicht nachgewiesen werden. Wie bereits diskutiert, entspricht dies jedoch nicht dem Stand der Forschung. Es gibt eine Reihe möglicher empirischer Schwierigkeiten unserer Studie, die für dieses Ergebnis verantwortlich sein könnten. Beispielsweise könnte Pfad b und schließlich die Mediation bei Verbesserung der Größe der Stichprobe, Einbeziehung von Cofaktoren wie Coping und sozialer Erwünschtheit oder der Erhebung von ängstlichen Bindungstypen nach Bartholomew (1991) signifikant werden. Lyons-Ruth und Jacobvitz (2008) machten auf weitere Schwierigkeiten bei der Erhebung von Bindung im Erwachsenenalter auf der Repräsentationsebene aufmerksam (vgl. Seite 65). Auch hier könnte dies eine mögliche Fehlerquelle sein, die den Nachweis eines signifikanten Zusammenhanges von Pfad b behindert. Im Verlauf der Arbeit möchte ich noch genauer auf Alternativen bei der Erhebung von Bindung im Erwachsenenalter eingehen. 4.2 Limitationen der Studie Die Stichprobe Eine Limitation von „Meine Kindheit – Deine Kindheit“ betrifft die Stichprobe der Studie. Die Größe der Stichprobe zum Messzeitpunkt t₁ weist mit N=61 zu wenig statistische Power auf, um kleinere Effekte nachzuweisen. Außerdem sind Akademikerinnen im nationalen Vergleich in unserer Stichprobe überrepräsentiert. Auch die deutliche Unterrepräsentation von Misshandlungsopfern in der Subskala „Körperliche Vernachlässigung“ und die schwache Unterrepräsentation in allen anderen Subskalen könnten einen Einfluss auf die Ergebnisse der Studie haben. Damit einher geht auch, dass die Varianz der Subskalen „Körperliche Vernachlässigung“ und „Körperliche Misshandlung“ des CTQs unserer Stichprobe, verglichen mit der repräsentativen Stichprobe, geringer ausfällt. Eine ausreichende Varianz der Variablen stellt jedoch eine Voraussetzung für die Korrelation mit anderen Variablen dar. Es ist davon auszugehen, dass es durch die Unterrepräsentation wahrscheinlich zu einer Abschwächung der Effekte gekommen ist. Mit einer Seite 72 repräsentativen Verteilung des Missbrauchs wären manche Zusammenhänge möglicherweise noch stärker ausgefallen oder signifikant geworden. Die Erhebung von subjektivem Stressempfinden Die Perceived Stress Scale 4 (PSS4) ist ein sehr reliables und valides Instrument, um subjektives Stressempfinden zu erheben, jedoch wäre eine weitere Differenzierung wünschenswert. Es wäre sinnvoll, die Art und zeitliche Einteilung des Stressors zu erfragen, um die resultierenden Folgen erheben zu können. Handelt es sich beispielsweise um soziale, psychische oder physische Stressoren und wie sind die jeweiligen Auswirkungen auf unsere Zusammenhänge? Gibt es Unterschiede der Auswirkungen auf das subjektive Stresserleben bei akutem, chronisch intermittierendem oder chronischem Stress? Oder sind es möglicherweise Alltagsbelastungen („daily hassles“), die zu vermehrtem Stresserleben bei Personen mit Misshandlungserfahrung in der Kindheit führen? Ein weiteres Augenmerk sollte auf Coping-Methoden und individuelle Ressourcen gelegt werden. Sind genügend Copingstrategien bei den Müttern vorhanden, so dass ein unsicherer oder unverarbeiteter Bindungsstatus nicht als fehlende Copingstrategie gewichtig wird? Die retrospektive Erhebung von Misshandlung Della Femina et al. (1990) befragten in einer Follow-up Studie nach neun Jahren 69 Teilnehmer zu ihren Missbrauchserfahrungen. Von diesen 69 Teilnehmern machten 26 Personen Angaben, die nicht damit zusammenpassten, was sie neun Jahren zuvor angaben. Dabei kam es sowohl zu Überschätzungen als auch zu Unterschätzungen der Missbrauchserfahrung in der retrospektiven Erhebung. Bei einer Befragung der Studienteilnehmer mit diskrepanter Erzählung erklärten 26 Teilnehmer dies mit Verdrängung, Scham oder als Schutzmechanismus in der Vergangenheit. Der Rest wollte keine Stellung zur Diskrepanz nehmen. Williams (1995) befragte 75 sexuell misshandelte Frauen in einer Follow-up Studie nach 17 Jahren über ihre Erinnerungen an die Misshandlung. 16% davon gaben an, dass es eine Zeit in ihrem Leben gab, in der sie sich an die Misshandlung nicht mehr erinnern konnten. Diese Daten offenbaren eine mögliche weitere Limitation unserer Studie: die retrospektive Missbrauchserhebung. Bei der Interpretation und Diskussion unserer Ergebnisse ist es wichtig, sich diese Schwierigkeit bewusst zu machen. Eine prospektive Erhebung von Missbrauch wäre die einzige Seite 73 Möglichkeit, dies zu umgehen. Nun wünschenswertes, jedoch sehr wäre dies natürlich ressourcenintensives und ein experimentell insbesondere ethisch fragwürdiges Studiendesign (vgl. Seite 6). Die Erhebung des Bindungsstatus im Erwachsenenalter Wie bereits erwähnt (vgl. Seite 65), gibt es Theorien, dass die Erhebung des unverarbeiteten Bindungsstatus im Erwachsenenalter nicht kongruent zur Erhebung der desorganisierten Bindung im Kindesalter ist (Lyons-Ruth & Jacobvitz 2008). Die Ermittlung von Bindung im Erwachsenenalter erfolgt vor allem über die Repräsentationsebene mittels der Narrative, während bei der Ermittlung desorganisierter Bindung in der „Fremden Situation“ das Verhalten des Kindes durch genaue Beobachtung des Verhaltens beurteilt wird (Gloger-Tippelt 2012; Main 2012). Dadurch könnte es möglicherweise zu fehlerhaften Einstufungen im Bindungsstatus kommen. Lyons-Ruth und Jacobvitz (2008) schlugen daher auch in der Jugend und im Erwachsenenalter eine Erhebung des Bindungsstatus anhand direkter Observation des Verhaltens in bestimmten, festgelegten Situationen vor. Jones et al. (2014) verwiesen darauf, dass die Erhebung der Bindungsklasse im Selbstreport und im AAI wenig Übereinstimmung aufweisen. Allerdings zeigten beide Messmethoden erstaunliche Übereinstimmungen der Bindungsklassen mit bindungsrelevanten Aspekten, wie zum Beispiel Emotionsregulation oder die Funktionalität romantischer Beziehungen, ging (Jones et al. 2014). Auf mögliche Alternativen zur Erhebung von Bindung im Erwachsenenalter wird im Abschnitt „Implikationen und Ausblick“ näher eingegangen. Interkorrelation verschiedener Missbrauchsformen Wie in Hypothese 1 gezeigt, kommt es in unserer Studie zu teils starken Interkorrelationen verschiedener Missbrauchsformen (r > .60), was statistische Einschränkungen mit sich bringt. Durch die starken Interkorrelationen kann nicht ausreichend geklärt werden, welche Effekte und Folgen die jeweilige Form von Misshandlung hat, da die Verflechtung der verschiedenen Missbrauchsformen zu stark ist. Trotz des Aufzeigens der Interkorrelationen und dem daraus resultierenden Mehrwert dieser Arbeit müssen die signifikanten Interkorrelationen der Misshandlungsformen in unserer Studie auch als eine Limitation dieser Arbeit angesehen werden. Seite 74 4.3 Implikationen und Ausblick Die Ergebnisse dieser Arbeit verdeutlichen einige Zusammenhänge und neue Perspektiven für die Forschung. Weiterhin sollen hierdurch Ideen für Interventionen geliefert werden. Implikationen und Ausblick in der Forschung In der Studie „Meine Kindheit – Deine Kindheit“ nahmen am Screening (t₀) von etwa 2000 angesprochenen Müttern 240 Frauen teil. 140 Frauen wurden in die Studie eingeschlossen, 61 davon kamen zum Messzeitpunkt t₁. Die Stichprobe zum Messzeitpunkt t₀ wies eine deutliche Überrepräsentation von Akademikerinnen und eine Unterrepräsentation von Misshandlungsopfern auf. Die geringere Stichprobengröße, vor allem zum Messzeitpunkt t₁, ist wahrscheinlich unter anderem dafür mitverantwortlich, dass kleine Effekte nicht signifikant wurden. In zukünftigen Studien sollte also versucht werden, die Drop-out-Rate geringer zu halten, um eine größere Stichprobe zu erhalten. Des Weiteren sollte versucht werden, den Bildungsstandard der Stichprobe repräsentativer zu gestalten. Mit einer Fortführung des Einschlusses nach festgelegten Kriterien des CTQs in einer größeren Stichprobe könnte das Problem der Unterrepräsentation von Missbrauchsopfern behoben werden. Implikationen für die Erforschung von Stresserleben nach der Geburt und beim Übergang in die Elternschaft Hinsichtlich der Erhebung von Stress könnte eine deutlich differenziertere Analyse des Stresserlebens stattfinden. Stressoren müssten nach bestimmten Charakteristika wie Dauer und Art erfragt werden. Handelte es sich um einen chronischen oder akuten Stressor, um Eustress oder Distress (Selye 1976; Hobfoll 1989; Holmes & Rahe 1967)? Resultierte ein gesteigertes Stresslevel aus partnerschaftlichen Konflikten, Überforderung bei der Betreuung des Kindes oder erfolgte ein einschneidendes Lebensereignis, wie zum Beispiel der Tod eines Familienangehörigen, in den letzten Wochen? Auch kognitive und emotionale Bewertung von Stressoren sind wichtig für das Verständnis des Zusammenhanges von Misshandlung und Stress (Hobfoll 1989; Kohlmann 2002). Es ist weithin bekannt, dass Studien sowohl für Coping in der Schwangerschaft als auch für Coping von Missbrauchsopfern erhöhten Forschungsbedarf festgestellt haben (Guardino & Schetter 2013; Walsh, Fortier & DiLillo 2010). Auch der Umgang mit Stress beim Übergang in die Elternschaft ist bisher spärlich erforscht. Cowan und Cowan (1995) plädierten für Seite 75 vermehrten Stress beim Übergang in die Elternschaft, der in einer Maladaption resultieren könnte (vgl. Seite 10). Doss et al. (2009) konnten dies in ihrer Studie nachweisen. In weiteren Studien konnte dieses vermehrte Stresserleben jedoch nicht repliziert werden (Mckenzie et al. 2013; Nomaguchi & Milkie; 2003). Es erfordert weitere wissenschaftliche Arbeiten, um das Stresserleben und die resultierenden Konsequenzen in so wichtigen Lebensabschnitten wie der Schwangerschaft oder dem Übergang in die Elternschaft zu verstehen. Zukünftig sollte versucht werden, den Mechanismus des Stresserlebens in der Schwangerschaft und dem Übergang in die Elternschaft zu verstehen. Kommt es beispielsweise bei Misshandlungsopfern in diesen Lebensphasen generell zu einer erhöhten Empfänglichkeit für Stressempfinden oder sind Copingstrategien und individuelle Ressourcen vermindert? Trifft all dies möglicherweise zusammen? Auch die Erhebung von Oxytocin, Cortisol und ACTH (vgl. Seite 67) könnte Aufschluss geben über erhöhtes Stresserleben nach der Geburt im Rahmen von Misshandlungserfahrungen in der Kindheit oder unsicherer und unverarbeiteter Bindung im Erwachsenenalter. Möglicherweise könnte auf diesem Wege sogar der biologische Mechanismus der Zusammenhänge, die in dieser Arbeit dargestellt werden, geklärt und somit ein Ansatzpunkt für pharmakologische Interventionen geschaffen werden. Weiterhin wäre es interessant zu untersuchen, ob das vermehrte Stresserleben sich in bestimmte Persönlichkeitsdispositionen, wie zum Beispiel Neurotizismus (Gunthert, Cohen & Armeli 1999; McCrae 1990) oder Psychopathologien (z. B. Depression, Posttraumatisches Stresssyndrom) einbetten lässt (Hovanitz & Kozora 1989; Koh 1998). Diese Arbeit kann ganz klar aufzeigen, dass es einen Zusammenhang zwischen Misshandlungserfahrungen in der Kindheit und Stresserleben nach der Geburt gibt. Die Konsequenz daraus sollte sein, dass die Wissenschaft in weiteren Arbeiten eine genauere Differenzierung von Stress und Copingstrategien in der Schwangerschaft und beim Übergang in die Elternschaft vornimmt. So kann letztendlich hoffentlich Klarheit geschaffen werden, welche Folgen dieses vermehrte Stressempfinden nach sich ziehen kann, um schließlich gezielte Interventionsmöglichkeiten zu schaffen. Seite 76 Implikationen für Erforschung von Misshandlung in der Kindheit und des transgenerationalen „Cycle of Maltreatment“ Wie bereits erwähnt, wäre eine prospektive Erhebung von Kindesmisshandlung Mittel der Wahl, um Missbrauch zu erheben (vgl. Seite 5). Des Weiteren könnte man in diesem Rahmen ein besonderes Augenmerk auf emotionale Misshandlung richten. In Deutschland gibt es wenige Studien zur Prävalenz von emotionaler Misshandlung und den Folgen. Diese Arbeit zeigt, dass großer Forschungsbedarf beim Thema emotionale Misshandlung besteht. Bei genauerem Wissen um das Auftreten und die Häufigkeiten von emotionaler Misshandlung könnte eine Eruierung seiner Folgen und Auswirkungen auf unsere Gesellschaft erfolgen. Nair, Schuler, Black, Kettinger und Harrington (2003) konnten zeigen, dass drogenabhängige Mütter ab einer gewissen Anzahl von Risikofaktoren ihre Kinder als stressiger empfanden als drogenabhängige Mütter mit weniger Risikofaktoren. Vor allem konnten sie zeigen, dass aus diesem vermehrten Stressempfinden ein erhöhtes Risiko für Missbrauch und Vernachlässigung der eigenen Kinder resultiert. Whipple und WebsterStratton (1991) konnten dies ebenfalls nachweisen. Familien, die mehr sozioökonomische Risikofaktoren aufwiesen, berichteten über vermehrtes Stresserleben und wiesen signifikant mehr Misshandlung in der eigenen Familie auf. Übertragen wir diese Ergebnisse auf die Ergebnisse unserer Studie, offenbart sich eine mögliche Erklärung für das Phänomen des transgenerationalen „Cycle of Maltreatment“ (Browne & Herbert 1997). Misshandlung in der eigenen Kindheit würde zu vermehrtem Stresserleben im Erwachsenenalter führen, welches wiederum zu einer erhöhten Wahrscheinlichkeit führte, die eigenen Kinder zu misshandeln (Dixon et al. 2009). Eine Aufgabe der zukünftigen Forschung müsste daher sein, die genaue Rolle von Stress in diesem transgenerationalen Zyklus zu identifizieren und somit die Möglichkeiten der Einflussnahme darauf. Implikationen für die Erforschung von Bindung im Erwachsenenalter Ein weiterer interessanter Aspekt, dem man sich in Zukunft widmen könnte, wäre der Verlauf des Bindungsverhaltens von der Kindheit bis in das Erwachsenenalter in Abhängigkeit von Missbrauch in der Kindheit. Es wurde viel geforscht zum Bindungsverhalten missbrauchter Kinder geforscht. Doch wie entwickelt sich dieses im Seite 77 Laufe des Lebens? Unsere Studie zeigt bei Misshandlung eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für unsichere Bindung, nicht jedoch für einen unverarbeiteten Bindungsstatus. Ein ebenfalls spannendes Forschungsthema wäre der Zusammenhang von subjektivem Stresserleben und der Bindungsklasse nach Bartholomew (1991) bei misshandelten Müttern. Bartholomew (1991) bezog die Bindungsklasse auf das Selbstbild und das Bild von anderen und die Ängstlichkeit und Vermeidung, welche damit einhergingen (vgl. Tabelle 3). Gibt es also beispielsweise, wie bei Dewitte et al. (2010), einen Zusammenhang zwischen ängstlicher Bindungsrepräsentation erhoben nach Bartholomew (1991) und vermehrtem Stresserleben? Und gilt dieser Zusammenhang bei Frauen beim Übergang in die Elternschaft? Gerade hinsichtlich therapeutischer Interventionen wäre es spannend, diesen Zusammenhang näher zu beleuchten. Falls sich hier ein signifikanter Zusammenhang zeigt, könnte man schließlich erneut eine Mediatoranalyse mit der Bindungsklassifikation nach Bartholomew (1991) für den Zusammenhang von Misshandlung in der Kindheit und Stresserleben im Erwachsenenalter durchführen. Lyons-Ruth und Jacobvitz (2008) zeigten neue Wege in der Erhebung von Bindung bei Erwachsenen und Jugendlichen auf. Sie schlugen zur Erhebung von Bindung in der Jugend und im Erwachsenenalter eine direkte Observation des Verhaltens vor. Beispielsweise erstellten sie für die Erhebung von Bindung bei Jugendlichen das „Goal-Corrected Partnership in Adolescence Coding System“5 [GPACS]. 14-Jährige wurden gebeten, zehn Minuten mit ihren Eltern über ein Streitthema zu diskutieren. Die Diskussion wurde auf Tonband festgehalten. Anhand festgelegter Kriterien wie zum Beispiel Rollenverdrehung, Desorientiertheit, unpassendem Verhalten und Feindseligkeit wurden die Gespräche analysiert. Die Einteilung erfolgte in die Kategorien erleichternder, ablenkender, verschlungener und kontrollierend-desorganisierter Gesprächsstil (Hennighausen, Bureau, David & Lyons-Ruth 2011). Im Alter von 25 Jahren wurde bei den ehemals Jugendlichen ein AAI erhoben. Dies ergab eine Übereinstimmung von 73% des AAIs mit der GPACSKlassifikation (Kappa = .57). Obsuth, Henighausen, Brumariu und Lyons-Ruth (2013) wendeten diese Erhebungsmethode bei 18 – 23 Jährigen mit niedrigem Einkommen und ihren Eltern an. Es zeigte sich, dass desorganisiertes Verhalten, das in der Kindheit 5 Kodierungssystem für Ziel-korrigierte Partnerschaft bei Jugendlichen Seite 78 beschrieben wurde, im Erwachsenenalter wiedergefunden werden konnte. Außerdem konnten Zusammenhänge verschiedener Formen desorganisierter Bindung im GPACS mit Maladaption in verschiedenen Lebensbereichen aufgezeigt werden (Obsuth et al. 2013). Das Adult Attachment Projective Picture System (AAP) ist mit Sicherheit eine der reliabelsten und validesten Möglichkeiten, Bindung im Erwachsenenalter zu erheben (Ravitz, Maunder, Hunter, Sthankiya & Lancee 2010). Trotzdem sollten bei zukünftigen Studien für bestimmte Fragestellungen eine alternative Erhebung von Bindung, wie beispielsweise die Erhebung nach Bartholomew (1991) in Verbindung mit Stress, in Betracht gezogen werden. Jones et al. (2014) sprachen sich für eine Erhebung der Bindungsklasse sowohl mittels AAI oder AAP, als auch mittels Eigenreport aus. So könne man beide Messmethoden besser untersuchen und vergleichen. Weiterhin wäre ein größeres Wissen wünschenswert, welche Zusammenhänge zwischen Bindungstyp und bindungsbezogenen Aspekten durch welche der beiden Messmethoden genauer erfasst werden können. 4.4 Implikationen und Ausblick auf interventioneller Ebene Interventionelle Implikationen im Hinblick auf Misshandlung in der Kindheit In Deutschland muss noch ein weiter Weg gegangen werden, um eine adäquate Prävention von Missbrauch und Misshandlung gewährleisten zu können. Während das Wissen um sexuelle und körperliche Misshandlung und die dramatischen Folgen in den letzten Jahren in der Gesellschaft zugenommen hat, werde emotionale Misshandlung und Vernachlässigung oftmals noch nicht ernst genug genommen (Münder et al. 2000). In den kommenden Jahren bedarf es einer Aufklärung der Menschen über Vernachlässigung und emotionale Misshandlung von Kindern, um ein Grundverständnis für die Folgen zu schaffen. Auch über die Tatsache, dass Missbrauchsformen nur selten einzeln auftreten, muss die Gesellschaft informiert werden. Nur so kann sinnvoll präventiv gegen Missbrauch in all seinen Formen vorgegangen werden. In Krankenhäusern, Jugendämtern und anderen Bereichen der Kinderhilfe müssen Mitarbeiter über diese Tatsachen informiert werden, um frühes Eingreifen zu ermöglichen und somit größeren Schaden zu verhindern. Die Tatsache, dass es Evidenzen für Maltreatment Load gibt (vgl. Seite 63) und die verschiedenen Missbrauchsformen oft Hand in Hand einhergehen, betont ebenfalls, wie Seite 79 wichtig es beim Scheitern präventiver Maßnahmen wäre, Misshandlung zumindest früh zu erkennen und einzugreifen. Auch im klinischen Alltag müssen Diagnostiker und Therapeuten die Korrelation der verschiedenen Misshandlungsarten im Hinterkopf haben, um Opfern von Misshandlung die bestmögliche Hilfe zu gewährleisten. Wenn also körperlicher Missbrauch im Rahmen einer ambulanten oder klinischen Therapie festgestellt wird, sollten weitere Misshandlungsformen in Betracht gezogen und erfragt werden. Interventionelle Implikationen im Hinblick auf Stresserleben im Erwachsenenalter Diese Arbeit und die Studie „Meine Kindheit – Deine Kindheit“ konnten einen deutlichen Zusammenhang zwischen Misshandlung in der Kindheit und Jugend und vermehrtem Stresserleben im Erwachsenenalter zeigen. Auf interventioneller Ebene bedeutet dies, dass in Zukunft Opfern von Misshandlung in Kindheit und Jugend verhaltenstherapeutische Hilfestellung zum Umgang und Verarbeitung von Stress im Erwachsenenalter und vor allem während einer Schwangerschaft und beim Übergang in die Elternschaft angeboten werden soll. Dabei könnten beispielsweise Copingstrategien erlernt und Ressourcen gestärkt werden. Walsh, Fortier und DiLillo (2010) beschäftigten sich in ihrem Review mit Coping von Erwachsenen, die in ihrer Kindheit Opfer von sexuellem Missbrauch wurden. Dabei konnten sie eine große Breite an kognitiven Strategien und Verhaltensstrategien für Coping aufzeigen (Walsh et al. 2010). Es zeigte sich, dass vermeidende und emotionsfokussierte Copingstrategien direkt nach dem Missbrauch und als Langzeitstrategie mit erhöhtem psychologischem Stress im Erwachsenenalter einhergehen. Einige Copingstrategien, wie zum Beispiel soziale Unterstützung, standen in einem positiven Zusammenhang mit der Anpassung im Erwachsenenalter. Walsh et al. (2010) nennen die Unterstützung des sozialen Netzwerkes ein Schlüsselelement in der Stressbewältigung. Dies lässt darauf schließen, dass Interventionen auf der Basis von sozialer Unterstützung große Effekte auf die Verringerung von subjektivem Stresserleben ermöglichen könnten. Andere Copingstrategien, die sich auf den Missbrauch beziehen, wie Verständnis- und vielleicht sogar Sinnfindung, werden in der Forschung aufgrund unterschiedlicher Langzeitergebnisse kontrovers diskutiert. Guardino und Schetter (2013) beschäftigten sich mit Copingstrategien bei Schwangeren. Auch hier zeigte sich, dass vermeidende Copingstrategien und schlechte Copingfähigkeit Seite 80 mit Wochenbettdepressionen, Frühgeburt und schlechterer Entwicklung des Kindes einhergehen. Sie betonten jedoch, dass die Evidenzen für effektive Interventionen hinsichtlich des Copingverhaltens bei Schwangeren nicht ausreichend sind und weitere Forschung nötig ist. Dabei würde es jedoch Sinn machen, individuelle Risikogruppen separat zu beforschen (z. B. Frauen mit Missbrauchserfahrungen in der Kindheit, Frauen mit Erlebnissen häuslicher Gewalt) (Guardino & Schetter 2013). Letztlich vermögen diese Studien nur Richtungen aufzuweisen, wie man auf interventioneller Ebene Frauen postpartum mit Misshandlungserfahrungen in der Kindheit helfen kann. Soziale Unterstützung ist ein wesentlicher Faktor in der Bewältigung von sexuellen Misshandlungserfahrungen. Warum sollte dies nicht auch für alle anderen Missbrauchsarten zutreffen? Weiterhin könnte interventionell versucht werden, das subjektive Stressempfinden durch verhaltensfokussierte Coping-Maßnahmen zu reduzieren. Vor allem im Hinblick auf eine Unterbrechung des transgenerationalen Zyklus erscheint dies sinnvoll. Interventionelle Implikationen im Hinblick auf Bindung im Erwachsenenalter In der Vergangenheit wurde bereits vielfach an Interventionen auf der Bindungsebene geforscht (Bakermans-Kranenburg, Van Ijzendoorn & Juffer 2003; Cicchetti, Rogosch & Toth 2006). Eine geringe Menge, also weniger als fünf Interventionen, ab dem 6. Lebensmonat waren, laut einer Metaanalyse von Bakermans-Kranenburg et al. (2003), am effektivsten, um die mütterliche Sensibilität und somit die Wahrscheinlichkeit für eine sichere Bindung zu steigern. Dies wurde sowohl an einer risikoreichen Stichprobe erprobt (niedriger sozioökonomischer Status, Adoleszenz, soziale Isolation, Alleinerziehung), als auch an einer Kontrollgruppe ohne diese Risikofaktoren. Die Effektivität dieser Interventionen zeigte sich sowohl in der risikoreichen als auch in der risikoarmen Gruppe. Keinen Effekt konnten Bakermans-Kranenburg et al. (2003) für Video-Feedback feststellen. Beim Videofeedback versucht man, Eltern durch Filmaufnahmen für ängstigendes Verhalten ihrerseits zu sensibilisieren, um somit bessere Bedingungen für eine sichere Bindung zu schaffen. Cicchetti et al. (2006) konnten eine signifikante Verbesserung durch psychotherapeutische und psychoedukative Interventionen in Familien mit Misshandlung aufzeigen. Die Kinder zeigten mehr als zwei Jahre postinterventionell eine signifikant höhere Wahrscheinlichkeit für sichere Bindung. Cyr et al. (2010) wiesen darauf hin, das Seite 81 mütterliche Sensibilität nicht der einzige Faktor für die Entstehung einer sicheren Bindung sei. Sie schlugen vor, interventionelle Programme auf der Reduktion von ängstigendem Verhalten durch die Eltern aufzubauen und plädierten hierfür für Video-Feedback. Gleichzeitig warnten Cyr et al. (2010) vor sogenannten „holding therapies“, die in der Vergangenheit angewandt wurden. Im Rahmen dieser Intervention wurden Kinder, die durch ihre Eltern Opfer von Misshandlung wurden, trotz Widerstand mit diesen konfrontiert. Hier trat eine klare Divergenz hinsichtlich der Meinungen über die Effektivität von Video-Feedback zu Tage. Auch dies könnte im Rahmen einer Interventionsstudie erneut geprüft werden, um Therapiemöglichkeiten einzuführen. Es gibt also viele Evidenzen dafür, dass eine Verbesserung der Bindung gleichbedeutend ist mit der Verhinderung von Misshandlung. Interventionen auf Bindungsebene zwischen Müttern, die selbst Opfer von Misshandlung wurden und ihrem Kind können möglicherweise eine erneute Misshandlung verhindern oder abschwächen. Gerade in der besonderen Zeit nach der Geburt und beim Übergang in die Elternschaft könnten diese Interventionen von entscheidender Bedeutung für die Zukunft von Mutter und Kind sein. 4.5 Fazit Bowlby hat bereits 1951 formuliert, was als Fazit aus dieser Arbeit gezogen werden sollte: „If a community values its children it must cherish their parents.“ 6 (John Bowlby 1951, Seite 84) Wenn wir das Beste für unsere Kinder wollen, müssen wir auch ihre Eltern unterstützen. Viele Elternteile wollen ihren Kindern eine bessere oder ebenso gute Kindheit ermöglichen wie die eigene. Sie wünschen sich Unterstützung und Hilfe bei der Erziehung ihrer Kinder und wollen Kreisläufe durchbrechen. Oftmals gelingt dies, manchmal sind jedoch die eigenen Schwierigkeiten und die Tücken unserer Zeit und der Gesellschaft zu groß und alte Verhaltensmuster setzen sich durch. Wenn die Psychologie, Politik, Justiz und Medizin zusammenarbeiten und gezielte Hilfe anbieten, können wir diese Kreisläufe durchbrechen. Schließlich würden nicht nur unsere Kinder, sondern auch deren Kinder von diesen Maßnahmen profitieren. Es darf nicht nur ein Traum sein, dass die Erwachsenen unserer 6 Wenn eine Gemeinschaft ihre Kinder wertschätzt, muss sie deren Eltern in Ehren halten. Seite 82 Zukunft keine Form des Missbrauchs erleben müssen und sichere zwischenmenschliche Bindungen aufbauen können. Seite 83 5 Zusammenfassung Diese Arbeit beschäftigt sich mit dem Zusammenhang von Misshandlung in der Kindheit und Jugend, subjektivem Stresserleben nach der Geburt und beim Übergang in die Elternschaft und der Rolle der Bindung im Erwachsenenalter. Dies wurde an einer Stichprobe von 140 Müttern ein bis drei Tage nach der Geburt und 61 Frauen drei Monate nach der Geburt ihres Kindes erhoben. Misshandlung in der Kindheit wurde einige Tage nach der Geburt retrospektiv mittels des Childhood Trauma Questionnaire und einem Teil des Childhood Experience of Care and Abuse Questionnaire’s ermittelt. Letzteres erhob in unserer Studie die Subskalen „Vernachlässigung“ und „Antipathie“. Subjektives Stresserleben wurde mit der Perceived Stress Scale 4 sowohl einige Tage nach der Geburt, als auch drei Monate danach erhoben. Bindung im Erwachsenenalter wurde drei Monate nach der Geburt mittels des Adult Attachment Projective Picture System ermittelt. Es konnte gezeigt werden, dass verschiedene Missbrauchsformen interkorrelieren. Die verschiedenen Missbrauchsformen gehen also Hand in Hand und treten selten einzeln auf. Es konnte ein signifikanter Unterschied beim Bericht von Missbrauch in der Kindheit zwischen unsicher und sicher gebundenen Müttern aufgezeigt werden, jedoch kein Unterschied zwischen sicher gebundenen Müttern und Müttern mit unverarbeitetem Bindungsstatus. Möglicherweise könnte der Zusammenhang mit einer größeren Stichprobe signifikant werden. Es könnte jedoch auch daran liegen, dass in der Studie „Meine Kindheit – Deine Kindheit“ viele Jahre zwischen Missbrauch und Erhebung des Bindungstyps lagen und die multifaktorielle Entstehung desorganisierter Bindung die Ergebnisse beeinträchtigt. Auch könnten methodische Schwierigkeiten der Erhebung von Bindung im Erwachsenenalter für dieses Ergebnis verantwortlich sein. Des Weiteren gab es einen positiven Zusammenhang zwischen Missbrauchserfahrungen in der Kindheit und Stresserleben vor allem nach der Geburt, aber auch beim Übergang in die Elternschaft. Dieser Zusammenhang wurde in einer Regression für emotionalen Missbrauch signifikant. Dass sich die Ergebnisse beim Messzeitpunkt nach drei Monaten nur für wenige Missbrauchsformen auf einem geringeren Signifikanzlevel zeigten, könnte an einer Veränderung des Stressors liegen oder an einer Verfälschung der Angaben der Mütter durch soziale Erwünschtheit. Seite 84 Ein Unterschied zwischen subjektivem Stresserleben nach der Geburt und drei Monate später zwischen sicher und unsicher gebundenen Müttern konnte nicht gezeigt werden. Es wurden jedoch keine Kovariaten, wie beispielsweise der vermehrte Einsatz von Copingstrategien, erhoben. Somit konnte nicht geklärt werden, ob es tatsächlich keine Unterschiede gibt oder ob gewisse Stressoren möglicherweise trotzdem vermehrten Einfluss auf unsicher oder sicher gebundene Mütter hatten, welcher jedoch noch kompensiert wurde. Es konnte nicht gezeigt werden, dass Bindung im Erwachsenenalter den Zusammenhang von Misshandlung in der Kindheit und Stresserleben nach der Geburt mediiert. Für weitere Studien auf diesem Feld wäre es sinnvoll, eine größere und repräsentativere Stichprobe zu analysieren. Des Weiteren wäre eine differenzierte Erfassung von Stress und Copingstrategien wünschenswert. Falls möglich, könnte eine prospektive Erfassung von Missbrauch neue Erkenntnisse bringen. Auch die Stabilität desorganisierter Bindung beziehungsweise der Übergang in den unverarbeiteten Bindungsstatus könnte noch weiter untersucht werden. Hinsichtlich der Erhebung von Bindung könnte die Erhebung nach Bartholomew (1991) in Betracht gezogen werden und es sollte die noch relativ junge Methode der Bindungsanalyse durch Gesprächsbeobachtung im Hinterkopf behalten werden. In Deutschland muss vermehrte Aufklärung über Misshandlung von Kindern mit allen Facetten und Folgen stattfinden. Im klinischen Alltag könnte über gezielte Hilfe für misshandelte Mütter zur Reduktion des Stresserlebens, zum Beispiel durch Copingstrategien, nachgedacht werden. Auch psychologische Interventionen auf der Ebene der Bindung haben sich in der Vergangenheit als sinnvoll erwiesen, nicht zuletzt zur Durchbrechung eines transgenerationalen „Cycle of Maltreatment“. Seite 85 6 Literaturverzeichnis 1. Ainsworth MDS, Bell SM, Stayton DF: Infant-mother attachment and social development: Socialization as a product of reciprocal responsiveness to signals. In: Richards MPM (Hrsg.) The integration of a child into a social world. New York: Cambridge University Press, S. 99-135 (1974) 2. Ainsworth MDS, Bell SM, Stayton D: Individual differences in strange situation behavior of one-year-olds. In: Schaffer HR (Hrsg.) The origins of human social relations. New York: Academic Press, S. 17-57 (1971) 3. Ainsworth MDS, Blehar MC, Waters E, Wall S: Patterns of attachment: A psychological study of the strange situation. Hillsdale: Lawrence Erlbaum Associates (1978) 4. 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Und größter Dank gilt Stefan Pfattheicher! Mit seiner Geduld und Hilfe habe ich vieles geschafft und nun auch dies. Für meine Mama.