DER SPIEGEL Jahrgang 1999 Heft 47
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DER SPIEGEL Jahrgang 1999 Heft 47
Werbeseite Werbeseite DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN Hausmitteilung 22. November 1999 Betr.: Tschetschenien, Mannesmann, Titel, Pay-TV G DER SPIEGEL inge es nach den Russen, dürften allenfalls ihre eigenen Kriegsberichterstatter aus Tschetschenien berichten. SPIEGEL-Redakteur Christian Neef, 47, schon im letzten Krieg mehrfach vor Ort, gelangte dennoch in die abgeriegelte Kriegsprovinz. Er besuchte die tschetschenischen Kommandeure der Südwestfront und sprach mitten in den Ruinen von Grosny mit Vizepräsident Wacha Neef (r.), tschetschenische Kämpfer Arsanow. Um Neef nachts einen halbwegs sicheren Rückweg zu ermöglichen, gab ihm Arsanow seinen eigenen Jeep und einen handgeschriebenen Brief an alle Kommandeure mit: „Erweisen Sie dem Überbringer dieser Nachricht alle erdenkliche Hilfe.“ Danke. (Seite 196) I n das kleine Konferenzzimmer im 21. Stock, wo Mannesmann-Chef Klaus Esser vergangene Woche die SPIEGEL-Redakteure Frank Dohmen, 36, und Gabor Steingart, 37, empfing, kommen sonst nur wenige Gäste. Der letzte Besucher vor den SPIEGEL-Leuten war Vodafone-Chef Chris Gent gewesen, der Esser die gigantische Summe von 242 Milliarden Mark für das Düsseldorfer Traditionsunternehmen offeriert hatte. In dem anderthalbstündigen SPIEGEL-Gespräch erläuterte Esser, warum er das Angebot ausschlug und wie er plant, eine feindliche Übernahme abzuwehren. Dabei verriet er auch, dass zehn Investmentbanker an einem geheimen Ort untergebracht sind, die ihn bei seinem Kampf unterstützen. Esser will keine national aufgeladene Diskussion, sondern sich an die klaren Spielregeln der internationalen Finanzwelt halten: „Der Markt hat immer Recht.“ (Seite 122) E M. WITT s regt sich was bei Deutschlands Frauen. Sie entwickeln kämpferischen Geist und Lust an der Macht, verbünden sich zum Aufstieg in männliche Hierarchien – oder machen gleich ihre eigene Show: als Unternehmerinnen, die Beruf und Familie flexibel verbinden. Die Redakteurinnen Susanne Weingarten, 35, und Marianne Wellershoff, 36 – durch ihr gemeinsam verfasstes Buch „Die widerspenstigen Töchter“ (Kiepenheuer & Witsch, 1999) als Feminismus-Expertinnen ausgewiesen –, untersuchten, was sich da alles tut in den weiblichen Netzwerken, Interessengruppen, Internet-Zusammenschlüssen und Mentorinnenprogrammen. Die auch für sie überraschende Erkenntnis: Es gibt eine neue Frauenbewegung in Deutschland (Seite 84). Was sie erreichen kann, Wellershoff, Weingarten wohin die Entwicklung führt, ist diese Woche täglich Diskussionsthema bei SPIEGEL ONLINE. Neben den Autorinnen stehen die Netzwerk-Expertin Helga Richter und Barbara Schaeffer-Hegel, Gründerin der Europäischen Akademie für Frauen in Politik und Wirtschaft, zum Chat bereit. Ü ber vier Milliarden Mark kosteten den Filmhändler Leo Kirch bisher seine Visionen vom allmächtigen Pay-TV. Sein vielleicht letzter Versuch, der Kanal Premiere World, sucht nun mit Millionen-Aufwand neue Kunden zu gewinnen. Einer war SPIEGEL-Redakteur Thomas Tuma, 35, der einen Selbstversuch startete – vom Decoder-Kauf über verzweifelte Anrufe beim ständig überlasteten Call-Center bis zu schlaflosen Nächten mit 30 neuen Programmen. Tumas Fazit nach einer Woche: „Pay-TV kostet viel Geld – und auch eine Menge Nerven.“ (Seite 144) Im Internet: www.spiegel.de d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 3 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite In diesem Heft Die CDU trickste weiter Kommentar Rudolf Augstein: Kohls „Schwarze Löcher“...... 24 Gesellschaft Szene: Halstücher als Brustschmuck / Der Erfolg der Handy-Kurzpost ........................ 83 Justiz: Richter Gnadenlos urteilt jetzt im Fernsehen ........................................... 111 Idole: Wem darf der Sportfan noch glauben, wenn nicht Dieter Baumann?........................... 112 Wirtschaft Trends: Sinkende Gewinne bei VW / Die Dresdner Bank baut um / Aus für Avanza? ...... 115 Geld: Die Kunst des Stock-Picking / Ölaktien folgen dem Ölpreis ............................ 117 Konzerne: Die Schlacht um Mannesmann....... 118 Das Ende der Deutschland AG ........................ 120 SPIEGEL-Gespräch mit Mannesmann-Chef Klaus Esser über seine Abwehrstrategie .......... 122 Steuern: Wie viel darf der Staat dem Bürger nehmen? ...................................... 128 Bauindustrie: Die Deutsche Bank und das Milliardenloch bei Holzmann .................... 132 Rente: Koalition und Opposition bewegen sich aufeinander zu.......................................... 136 Glücksspiel: Das dubiose Geschäft mit Pferdewetten ............................................. 138 REUTERS Deutschland Panorama: Haushaltstricks beim Umzugsfest / 30 Milliarden für Arbeitslose?............................ 17 Affären: Die Spendenmaschine der Union........ 22 Wie sich Karlheinz Schreiber in Toronto auf seinen Prozess vorbereitet .......................... 26 NRW: Aus für die Braunkohle? ........................... 30 Geheimdienste: US-Spione wollen Frieden mit Deutschland ................................... 32 Zwangsarbeiter: Entscheiden Clinton und Schröder? ................................................... 34 Europa: Interview mit EU-Kommissar Antonio Vitorino über das neue Asylsystem ..... 36 Atomkraft: Rot-Grün drückt auf die Industrie ... 38 CDU: Volker Rühes Karriere-Umwege............... 42 Diplomaten: Der rüde Ton des US-Botschafters John Kornblum ....................... 44 Pressefreiheit: Angriff auf das Redaktionsgeheimnis .................................. 50 Hauptstadt: Der Niedergang des Kurfürstendamms.............................................. 56 Bundestag: Streit um Stühle ............................ 62 Strafjustiz: Gisela Friedrichsen über den Fall des krebskranken Mukarim Emil................ 64 Bundeswehr: Kaum Haftung für Fehler der Soldaten-Ärzte ........................................... 68 Justiz: Stasi-Mordpläne sollen ungesühnt bleiben ............................................. 72 Kriminalität: Sachsen-Polizei bestraft Ladendiebe selber ............................................. 80 Kiep Seite 22 Die CDU will das alte System der Geldbeschaffung unter Kanzler Helmut Kohl nicht geißeln, aber auch die neue Spitze unter Nachfolger Wolfgang Schäuble so wenig wie möglich beschädigen. Doch die Strategie ist kaum durchzuhalten. Aktenfunde belegen, dass die Partei ihren dubiosen Umgang mit Spendengeldern fortsetzte – selbst nach Ausscheiden des wegen Steuerhinterziehung beschuldigten Schatzmeisters Leisler Kiep. Auch seine Nachfolgerin Brigitte Baumeister, so legen Unterlagen nahe, hat sich womöglich mit dem zweifelhaften Waffenhändler Karlheinz Schreiber getroffen. Clement in Nöten Seite 30 Bergarbeiter-Demos, Arbeitsplatz-Abbau, Kapriolen um die Ökosteuer – Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Wolfgang Clement (SPD) geht angeschlagen in den Landtagswahlkampf. Jetzt könnten interne Sparszenarien des RWE-Konzerns auch die Braunkohle bedrohen. Clements Prestigeprojekt, der Tagebau Garzweiler II, wird allen Durchhalteparolen zum Trotz immer unwahrscheinlicher. Tagebau Garzweiler I Der Vizekönig von Berlin Seite 44 Der US-Botschafter John Kornblum macht sich in Berlin durch rüde Auftritte und lautes Schimpfen über deutsches „Großmachtgehabe“ unbeliebt. Der Mann mit den ostpreußischen Ahnen benimmt sich, so ein Kritiker, wie der „Vizekönig von Indien“. „Der Spirit geht nach Osten“ Seite 56 6 C. SCHROTH Medien Trends: Pro Sieben kauft bei Kinowelt / Katarina Witt klagt in Karlsruhe ...................... 141 Fernsehen: Zarah Leanders Leben wird verfilmt / Quoten-Hit Dinosaurier ................... 142 Vorschau.......................................................... 143 Pay-TV: Die schöne neue Fernsehwelt von Premiere World......................................... 144 Interview mit Premiere-Chef Tellenbach über die Probleme des Senders ....................... 147 Internet: Die Werbung im Netz boomt........... 148 TV-Filme: Der Spielberg des Fernsehens.......... 154 D. HOPPE / NETZHAUT Titel In Deutschland tritt eine neue Frauenbewegung an – und kämpft um Macht am Arbeitsplatz ...................................... 84 Wie Frauen das Internet zur Kooperation nutzen.............................................. 90 SPIEGEL-Gespräch mit Alice Schwarzer über Feminismus und Karriere ....................... 105 Kurfürstendamm d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Der Aufstieg des jungen Berliner Ostens bewirkt einen Niedergang des alten West-Berlin. Die ehemals saturierte Prominenz vom Kurfürstendamm, der traditionellen Edelmeile, sieht sich als Verlierer der Wende. „Der Spirit geht nach Osten“, klagt ein Mode-Kaufmann, der soeben sein Designer-Geschäft geschlossen hat. Der legendäre Kurfürstendamm, von jeher Spiegel der bürgerlichen Gesellschaft, wird zum Spekulationsobjekt für das schnelle Geld. 100 Tage im Herbst Wende und Ende des SED-Staates (9): „Wir sind ein Volk“ – Die Massen rufen nach Wiedervereinigung .. 159 Porträt: Machtmensch Honecker................. 178 Analyse: Korruption und Amtsmissbrauch – die Privilegien der DDR-Nomenklatura....... 180 FOTOS: AP Ausland Wahlkämpfer Bush, McCain, Bradley (o.) Charakter erwünscht Seite 188 Der erste US-Präsident des neuen Jahrtausends soll das zeigen, was Amerikaner am derzeitigen Amtsinhaber Bill Clinton vermissen: Charakter. Das hilft dem republikanischen Präsidentensohn George Bush und Vizepräsident Al Gore – aber mehr noch ihren Mitbewerbern John McCain und Bill Bradley. Die gelten als Nationalhelden. Panorama: OSZE : Deal in Istanbul / Mahatirs demokratisches Feigenblatt............... 185 USA: Sehnsucht nach dem Saubermann .......... 188 Türkei: Istanbuls Angst vor Killer-Beben ......... 192 Tschetschenien: Reportage aus dem Zentrum des Krieges ....................................... 196 Labour: London und der Rote Ken.................. 201 Australien: Abschreckung der Boat-People ..... 204 Österreich: Jörg Haider als reuiger Sünder ..... 206 Luftfahrt: Drama im EgyptAir-Cockpit ........... 212 Interview mit der Witwe von Kopilot Batuti .... 214 Italien: Die Mafia in Nadelstreifen.................. 216 Kaliningrad: Als die russischen Siedler nach Ostpreußen kamen.................................. 224 Großbritannien: Prinz Charles ärgert Tony Blair........................................................ 230 Sport Fußball: Warum Trainer Werner Lorant den TSV 1860 München niemals verlassen darf...... 238 Tennis: Der Sponsoren-Schwund.................... 242 Wissenschaft • Technik Prinz Charles’ Privatfehde AP Seite 230 Charles (als Hochzeitsgast in London) Während Premier Blair den feudalistischen „Blutsport“ abschaffen möchte, nimmt Prinz Charles seine Söhne mit auf die Fuchsjagd. Er demonstriert seine Abneigung gegen die ChinaPolitik, die staatlich geförderte Genlandwirtschaft und Bauvorhaben von New Labour. Der Thronfolger verstößt damit gegen Englands ungeschriebenes Gesetz, dass Königshaus und Regierung niemals Kritik aneinander üben. Der Streit der Physiker Seite 252 „Flaggschiff der Grundlagenforschung“ oder „ein Schaden für die Physik“? Im SPIEGEL-Gespräch streiten die Teilchenphysiker Hans Graßmann und Harald Fritzsch über den Sinn der größten Forschungsmaschine Deutschlands am Desy in Hamburg. PREMIERE Überdruss am Überfluss Seite 144 Mit einer 100 Millionen Mark teuren Werbeschlacht versucht der neue Pay-TV-Kanal Premiere World, die Deutschen von den Segnungen des Bezahl-Fernsehens zu überzeugen. Doch was bieten 30 Zusatzkanäle wirklich – außer Überdruss am Überfluss? Premiere-World-Kanal d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Prisma: Walkman im Füllerformat / War Ötzi ein Feuersteinhändler?..................... 249 Physik: SPIEGEL-Streitgespräch zwischen den Teilchenforschern Harald Fritzsch und Hans Graßmann über die Zukunft ihrer Wissenschaft.............................. 252 Zahnmedizin: Das neue Geschäft mit dem schöneren Gebiss..................................... 260 Raumfahrt: Psychologe ließ sich monatelang in Raumstations-Nachbau einschließen ........... 264 Umwelt: Streit um Erdgasbohrung im niederländischen Wattenmeer .................... 268 Herzinfarkt: Eine US-Kleinstadt zeigt, wie man sich schützen kann ............................ 274 Automobile: Ist der neue Alu-Audi ein Ökomobil?................................................. 280 Kultur Szene: Roland Emmerich über Gewalt im Film / Der Schelmenroman von Radek Knapp .......... 283 Musik: Der US-Opernfreak Alberto Vilar will Bayreuth und Baden-Baden unterstützen........ 286 Kino: Schauerfabel „Blair Witch Project“ ....... 290 Regisseure: SPIEGEL-Gespräch mit David Lynch über seinen neuen Film „The Straight Story“ ...................................... 292 Autoren: Der anrührende Briefwechsel des Verlegers Siegfried Unseld mit Uwe Johnson .. 298 Bestseller....................................................... 300 Stars: Das Sendungsbewusstsein des Mannheimer Sängers Xavier Naidoo............... 302 Theater: Neues vom Dramatiker Thomas Brasch in Basel................................... 304 Mäzene: Wie Manager Heinz Dürr einmal einen Theaterpreis stiftete ............................... 306 Buchmarkt: Etablierte Verlage als Neu-Einsteiger auf dem Hörbuch-Markt ......... 310 Pop: Die Pet Shop Boys auf Tour ..................... 314 Briefe.................................................................. 8 Impressum ................................................ 14, 316 Leserservice................................................... 316 Chronik ........................................................... 317 Register .......................................................... 318 Personalien .................................................... 320 Hohlspiegel/Rückspiegel.............................. 322 7 Briefe „Wenn mich jemand fragt, was typisch deutsch ist, dann würde ich sagen: dieser hohe idealistische Maßstab im Hinterkopf bei der Lösung profanster Probleme.“ Jenny Radeck, Leipzig, zum Titel „10 Jahre nach dem Fall der Mauer – Großmacht Deutschland?“ Arnulf Baring über die deutsche Apathie angesichts der osteuropäischen Herausforderung SPIEGEL-Titel 45/1999 Die Titelwahl „Großmacht Deutschland“ zeugt von wenig Sensibilität. Auch bei einem Nachkriegsgeborenen wird damit ein Antideutschlandreflex wach, dem ich mich schon in meiner Kindheit nie entziehen konnte. Nicht nur meine Eltern, viele ihrer Generation haben sich durch den Krieg von Deutschland völlig abgewandt und uns so den Zugang zum kulturellen Reichtum ihres Landes vorenthalten. Erst später realisierte ich, was mir verborgen blieb. Mich hat oft beeindruckt, wie viele meiner gleichaltrigen deutschen Kollegen die „Großmacht Deutschland“ besser verarbeitet haben als mancher unter uns Nachbarn. Umso unnötiger sind solche Titelzeilen, die „alte Gefühle“ wecken. Alte Großmachtgefühle auf beiden Seiten, wohlverstanden. Horgen (Schweiz) Heier Lämmler Als ich „Großmacht Deutschland“ las, dachte ich, das sei spöttisch gemeint. Aber das war doch tatsächlich ernst gemeint. Sie nennen es „Westorientierung“. Ich nenne es Kolonie. Und eine Kolonie kann nun einmal keine Großmacht sein, und wenn sie noch so groß ist. Wenn die USA anordnen, das habt ihr zu tun, und das habt ihr zu zahlen, dann machen wir das. Das äußere Zeichen der Unterwerfung ist, dass wir mehr und mehr die Sprache und Kultur unserer Kolonialherren annehmen. Köln 8 Jürgen Burneleit Wie soll denn die mentale Mauer zwischen Ost und West eingerissen werden, wenn aus den alten Bundesländern 40 Prozent der Leute immer noch nicht in den neuen Bundesländern waren, während es umgekehrt 12 Prozent sind. Die richtige Sicht der Dinge gewinnt man eben nur dann, wenn man nach Sachsen oder Thüringen fährt, Mallorca Mallorca sein lässt, das Nutzbringende seines Urlaubs einmal ganz anders erfährt und damit auch noch zum deutsch-deutschen Verstehen beiträgt. Lingen (Nieders.) Erich Rückleben Als ein Koreaner, der sich vollständig integriert fühlt, ist es mir aufgefallen, wie sehr sich „die Deutschen“ von anderen Illerbeuren (Bayern) Martin Rothmann Wie lange wollen Sie diese Selbstgeißelungsmentalität eigentlich noch beibehalten? Als erwachsener Mensch, dessen Eltern bei Kriegsende selbst noch Kinder waren, kann ich es nicht mehr hören, dass die Deutschen die bösen Schweine sind, denen Reichstagsgebäude in Berlin nicht über den Weg getraut wer- Neues Selbstwertgefühl? den dürfe. Solange wir Deutschen dies gebetsmühlenartig wiederho- Nationen unterscheiden. So scheint es nur len, dürfen wir von unseren Nachbarn mir als Ausländer, der aus Trägheit noch nicht erwarten, dass diese von uns ein bes- keinen deutschen Pass beantragt hat, hier seres Bild haben als wir selbst. Mein Vor- möglich zu sein, auf Deutschland stolz zu schlag: erinnern ja, verdammen nein. sein, ohne den Verdacht auf mich zu lenSchriesheim (Bad.-Württ.) Thomas Lehmann ken, ein „Nazi“ zu sein. Vielleicht ist es aber genau diese Tatsache, die diese GeEs kann doch nicht sein, dass zehn Jahre sellschaft zu einer der lebenswerteren nach dem Fall der Mauer die Aktivisten macht. Herr Baring schreibt von der Wurder ersten Stunde immer noch jammernd zellosigkeit und Orientierungslosigkeit der und jaulend ihren verpassten Chancen hin- Deutschen auf Grund der selbst auferlegterhertrauern und um ihre verdiente Aner- ten Vergangenheitslosigkeit. Mir scheint, kennung ringen. Die Wendefüchse aus der dass aber gerade darin eine Chance liegt, zweiten Reihe des SED-Regimes waren eine „bessere“ Gesellschaft zu bilden, die Veit Hennemann Wenn die Deutschen auch dazu neigten, von einem Extrem ins andere zu fallen, zwischen Großmäuligkeit und Servilität nicht die richtige Mitte fanden, so ist Ihr Titel umso unangebrachter und verantwortungsloser, als vieles darauf hindeutet, dass die jüngeren Deutschen nicht mehr unter einem gestörten Selbstwertgefühl leiden. Das Auftreten und Gebaren von Fischer und Schröder im Ausland vermitteln das wohltuend. Bielefeld Berlin Vor 50 Jahren der spiegel vom 24. November 1949 Hinweise auf Wahlfälschungen zur NS-Zeit Hitler-Volksabstimmungen manipuliert? Der ostdeutsche Industrieminister Fritz Selbmann entwirft eine Fata Morgana des Zweijahresplans Zweckgebundener Optimismus. 14 Millionen Tonnen Erdölvorräte im Emsland 1953 soll Westdeutschlands Raffineriekapazität den eigenen Bedarf abdecken. Westdeutschlands Schifffahrt kann hoffen Hohe Kommissare gestatten den Bau von Schiffen mit beliebiger Antriebsart. Bertrand Russells Geschichtswerk erscheint nach 15 Jahren auf Deutsch Immer noch erregend modern. Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter http://www.spiegel.de Titel: Emsland-Bauer Klasinck vor Ölfördertürmen Gisela Thomsen d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 CH. BACH / BACH & PARTNER Auf dass wir gute Europäer werden Nr. 45/1999, Titel: 10 Jahre nach dem Fall der Mauer – Großmacht Deutschland? Arnulf Baring über die deutsche Apathie angesichts der osteuropäischen Herausforderung Deutschland, ein europäischer Staat. Allmählich scheint es, dass diese Contradictio in adjecto überwunden ist. Im einstigen Land der „Dichter und Denker“ sieht es so aus, als ob wir Deutschen langsam akzeptieren, was wir sind: ein Volk in Europa, eines unter vielen. Vielleicht sind wir endlich nicht mehr von vorgestern, sondern haben doch noch unser Heute gefunden. Auf dass wir nun werden, was wir eigentlich sein sollten – gute Europäer! eben schlauer und listiger. Sie haben blitzschnell erkannt, dass mit der patriarchalisch-konservativen Regierung in Westdeutschland kein „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ verwirklicht werden wird. Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Briefe nicht die gemeinsame Vergangenheit, sondern die gemeinsame Zukunft als Basis für ein Zusammenleben besitzt. Aachen Yoon Soo Hwang Bravo, Arnulf Baring! Jedoch eine Frage: Könnte die von Ihnen angesprochene Schläfrigkeit nicht eher Dummheit sein? Expertisen über Osteuropa gibt es in Deutschland mehr als im europäischen Ausland – von Baring bisher auch immer wieder anerkannt –, und zwar im Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien, in der Stiftung Wissenschaft und Politik und an verschiedenen Universitäten. Dass diese Forschung finanziell langsam austrocknet, dass sie andererseits auch mehr genutzt werden könnte, steht auf einem anderen Blatt. Die Einsichten der US-Experten in die Labilität der osteuropäischen Krisenregion werden international vielleicht häufiger zitiert, in der politischen Praxis aber genauso selektiv genutzt wie die aus Deutschland. Es ist nicht nur deutsche Schläfrigkeit, sondern eine westliche Mischung aus Wunschdenken und Desinteresse, die zur Unterschätzung des Krisenpotenzials in unserer osteuropäischen Nachbarschaft führt. Köln Prof. Dr. Heinrich Vogel Bundesinst. f. ostwiss. u. intern. Studien Eine historische Wahrheit Nr. 44/1999, Panorama Ausland: China – „Wir werden siegen“ DPA Sundern (Nordrh.-Westf.) Erich Kalinowsky Tatort in Bad Reichenhall Zeichen für eine starke Demokratie? Diese Zahl spricht für sich Nr. 45/1999, Kriminalität: Amoklauf von Bad Reichenhall lässt Experten und Polizei ratlos Es wird leider immer wieder Amokläufer geben, ein verschärftes Waffenrecht wird dies nicht verhindern. Sind keine Schusswaffen zur Hand, nimmt man eben das Auto oder, wie auch erst kürzlich geschehen, eine Axt! Abgesehen davon hat Deutschland bereits eines der restriktivsten Waffengesetze der Welt. Es mag vielleicht komisch klingen, aber es ist eine Tatsache, dass ein moderates Waffengesetz ein Zeichen für eine starke Demokratie ist. Es zeigt, dass ein Staat seinen Bürgern vertraut! Nur totalitäre Systeme verbieten den privaten Waffenbesitz, um eine Auflehnung der Bevölkerung gegen die Diktatoren von Anfang an zu unterbinden. Ramstein (Rhld.-Pfalz) Das Interview mit Oberst Wang Baoqing zeigt deutlich, dass Festlandchina Invasionsabsichten gegenüber Taiwan hegt. Taiwan tut dies gegenüber China nicht. Die ganze Welt weiß, dass Taiwan ein unabhängiges Land ist. Warum muss Taiwan also erst auf seine Identität verzichten, um mit Festlandchina wieder vereinigt zu werden? China sollte seine Bereitschaft zu einer friedlichen Wiedervereinigung ankündigen, um gemeinsam mit Taiwan einen harmonischen, bilateralen Prozess zu entwickeln. Krieg kann für das Fernziel der Wiedervereinigung kein geeignetes Mittel sein. Die Aussagen Präsident Lee Teng-huis über die speziellen zwischenstaatlichen Beziehungen von Taiwan und Festlandchina sind eine historische Wahrheit. Die Aufforderung der Rücknahme dieser Äußerung von Seiten Pekings ist unrealistisch. 75 Prozent der taiwanischen Bevölkerung sind gegen das festland-chinesische Modell „ein Land, zwei Systeme“, lediglich 8,5 Prozent dafür. Wenn die VR China tatsächlich eine friedliche Lösung mit Taiwan anstrebt, sollte sie sich eher mit der Meinungsvielfalt in Taiwan auseinander setzen und nicht mit Gewalt drohen. Hamburg 12 Cheng Ming-shih Taipeh-Vertretung in der BRD d e r Volker Hellein Es zeugt von wenig Sachkundigkeit, wenn ein schärferes Waffenrecht gefordert wird. Das Waffengesetz verlangt von legalen Waffenbesitzern ausdrücklich eine sichere Aufbewahrung ihrer Schusswaffen. Ein einfacher Holzschrank mit Frontverglasung wie im Fall von Bad Reichenhall genügt diesem Anspruch sicher nicht. Zudem muss jeder legale Waffenbesitzer auf seine Zuverlässigkeit überprüft werden. Falls der Vater und Waffenbesitzer wirklich ein Alkoholproblem hat, erfüllt er auch dieses Kriterium nicht. Bedenkt man, dass bundesweit nur circa 0,003 Prozent aller waffenbezogenen Straftaten mit legalen Waffen verübt werden, dann spricht diese Zahl für sich. Weisenheim (Rhld.-Pfalz) Dieter H. Marschall Einfach den Namen ändern? Nr. 45/1999, Zeitgeschichte: Reemtsmas Rückzug Den Vorwurf, ich rechnete die von der Wehrmacht ermordeten unschuldigen Zivilisten zu den klassischen Opfern eines Partisanenkrieges, weise ich zurück. Ich habe lediglich geschrieben, dass es nicht dasselbe ist, wenn Zivilisten als Unschul- s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 dige ermordet oder wenn „echte“ Partisanen standrechtlich exekutiert werden. Die letzte Maßnahme war nach dem damals gültigen Kriegsrecht legitim: Nach der Haager Landkriegsordnung hatten Partisanen keinen Anspruch auf Pardon. Die Verbrechen von russischen und ukrainischen Hilfswilligen wurden zwar auf Befehl der Wehrmacht begangen. Dies ist aber ein Führungsverbrechen der Wehrmacht und ein Verbrechen der Hilfswilligen. Die Ausstellung hatte aber das Ziel, die Verstrickung der „kleinen“ Landser zu zeigen. Aus der Intention der Ausstellung können also diese Verbrechen nicht als Verbrechen der Soldaten mitgezählt werden. Budapest (Ungarn) Dr. Krisztián Ungváry Es macht keinen Sinn, einige Exponate herauszunehmen. Einfacher wäre es, die Ausstellung zu erweitern und den Namen zu ändern: Kriegsverbrechen. Gargnano (Italien) Günter Mangold J. MÜLLER Sie schreiben „Musial hatte allerdings Kontakte in die rechte Szene“. Diese Formulierung könnte missverstanden werden. Ich lehne Rechtsradikalismus schärfstens ab. Allerdings sehe ich mich als Wissenschaftler verpflichtet, alle Argumente zu überprüfen, unabhängig von ihrer Herkunft. Gegen Beifall von der falschen Seite kann man sich dabei nicht schützen. Musial Warschau (Polen) Dr. Bogdan Musial Deutsch. Hist. Institut Bei allem Hin-und-her-Argumentieren je nach Überzeugungs- und Interessenlage: Reemtsma und Heer haben das Recht verloren, in der Auseinandersetzung über ein Kapitel deutscher Geschichte eine zentrale Rolle zu spielen. Die Fehler ihrer Ausstellung offenbaren, was ihnen unentschuldbar dafür fehlt: Gewissenhaftigkeit und Sorgfalt, Redlichkeit im Umgang mit Kritikern, Abwesenheit jeglicher, vor allem moralischer Überheblichkeit. Man hätte sich für dieses ungeheure Thema Bessere und weit Glaubwürdigere gewünscht und keine von (Selbst-)Hass getriebenen Unterstützer. Putzbrunn-Solalinden (Bayern) Gottfried Müller Sicherlich ist es notwendig, die Richtigkeit dieser Ausstellung zu überprüfen. Aber ist es wirklich wichtig, ob nun 90, 92 oder 99 Prozent der ausgestellten Dokumente der Wehrmacht zuzuordnen sind? Ist nicht die eigentliche Frage: Was bringt Menschen, unabhängig von Nationalität und Berufsstand, dazu, derartige Gewalttaten zu vollbringen? Ratzeburg (Schlesw.-Holst.) Stefanie Döring d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Briefe Nr. 45/1999, Liechtenstein: Wie der Zwergstaat das Geld von Mafia, Drogenkonzernen und russischen Großkriminellen wäscht Es stellt sich die Frage, wie lange Europa sich das Verhalten von Liechtenstein, diesem geografischen Treppenwitz der Weltgeschichte, gefallen lassen kann. Als Österreicher findet man es auch unerträglich, dass österreichische Justizfunktionäre (Richter, Staatsanwälte) in diesem Zwergfürstentum als „Gastarbeiter“ tätig sind und sich dann ihre Pensionen von der Republik Österreich auszahlen lassen. Wohlstand gebaut ist. Wir Liechtensteiner müssen uns wohl langsam darüber klar werden, dass unser Land als eigenständiger Staat zu klein ist und wir uns wohl oder übel einer großräumigeren Region innerhalb eines Vereinigten Europa anschließen müssen. Die antiquierte Staatsform der Monarchie gehört ohnehin ins Museum. Triesen (Liechtenstein) Roman Schädler F. BLICKLE / BILDERBERG Ich habe von dem von Ihnen beschriebenen „Geflecht aus Beziehungen zwischen hohen Beamten, Richtern, Politikern, Bankdirektoren und Anlageberatern“ nichts wahrgenommen. Im Gegenteil: Gerade um ein solches Geflecht zu verhindern, werden in Liechtenstein seit JahrGraz (Österreich) Dr. Josef Paul Schinnerl zehnten die höchsten Justizfunktionäre, namentlich der jeweilige Präsident des Obersten Gerichtshofs, aus entsprechend qualifizierten Richtern des Auslands, insbesondere aus Österreich, gewählt. Von diesen ausländischen Richtern wird eine entsprechende Distanz nach allen Richtungen des zugegebenermaßen kleinen liechtensteinischen Raums erwartet. Und in der Tat: In den insgesamt 24 Jahren meiner richterlichen Tätigkeit im Fürstentum wurde bei mir kein einziges Mal (!) Liechtensteiner Fürstenschloss: Geografischer Treppenwitz in Richtung einer beSie haben völlig Recht, dass in Liechten- stimmten Sacherledigung interveniert. Völstein viele Saubermänner mit schmutzigen lig unzutreffend ist auch die von Ihnen verGeldern Geschäfte machen. Was Sie aber tretene Meinung, Liechtenstein verweigeverschweigen, ist die Tatsache, dass neben re grundlos die Rechtshilfe. Es gewährt sie „lateinamerikanischen Drogenclans, italie- vielmehr gemäß dem durch das Europäinischen Mafiagruppierungen und russi- sche Übereinkommen über die Rechtshilschen OK-Gruppen“ auch eine Menge fe in Strafsachen vom 20. April 1959 vordeutscher Politiker, Sportstars, Banker und gegebenen Standard, der allerdings Rechtsanderer Steuerflüchtiger ihre Gelder nach hilfeverweigerungen bei politischen und Liechtenstein schicken. Sie gehören zu den fiskalischen Straftaten vorsieht. Lieblingskunden unserer Treuhänder. Innsbruck Prof. Dr. Karl Kohlegger Vaduz (Liechtenstein) Christoph Rheinberger Man traut seinen Augen kaum: Da wird ein ganzes Land verleumderisch als Handlanger von Kriminellen bezeichnet, und der wahre Skandal bleibt unkommentiert: Der Bundesnachrichtendienst zapft den Datentransfer der liechtensteinischen Finanzinstitute an! Sind wir eigentlich im Krieg? Man glaubt sich in die dunkelste Zeit des KGB zurückgeworfen. Schaffhausen (Schweiz) Dr. N. Bernhard Die von Ihnen aufgezeigten Fälle sind wohl eher die Spitze des Eisbergs als Übertreibung. Da ein großer Teil der Bevölkerung wirtschaftlich vom FinanzdienstleistungsSektor abhängig ist, sollte uns bewusst werden, auf welch tönernen Füßen unser 14 Vizepräsid. (1973–1981), Präsident (1981–1997) d. Fürstl. Liechtenst. Obersten Gerichtshofs VERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe für Panorama, Affären, NRW, Geheimdienste, Hauptstadt, Justiz (S. 72), Kriminalität: Clemens Höges; für Affären (S. 26), Justiz (S. 111), Trends, Geld, Konzerne, Steuern, Bauindustrie, Rente, Glücksspiel, Pay-TV, Internet, TV-Filme: Armin Mahler; für Zwangsarbeiter, Europa, Atomkraft, CDU, Diplomaten, Pressefreiheit, Bundestag, Bundeswehr: Michael Schmidt-Klingenberg; für Szene, Titel, Fernsehen, Musik, Kino, Regisseure, Autoren, Bestseller, Stars, Theater, Buchmarkt, Pop, Chronik: Wolfgang Höbel; für Idole, Fußball, Tennis: Alfred Weinzierl; für 100 Tage im Herbst: Jochen Bölsche; für Panorama Ausland, USA, Türkei, Tschetschenien, Labour, Australien, Österreich, Luftfahrt, Italien, Kaliningrad: Dr. Olaf Ihlau; für Prisma, Physik, Zahnmedizin, Raumfahrt, Umwelt, Herzinfarkt, Automobile: Johann Grolle; für die übrigen Beiträge: die Verfasser; für Briefe, Register, Personalien, Hohlspiegel, Rückspiegel: Dr. Manfred Weber; für Titelbild: Stefan Kiefer; für Layout: Rainer Sennewald; für Hausmitteilung: Heinz P. Lohfeldt; Chef vom Dienst: Thomas Schäfer (sämtlich Brandstwiete 19, 20457 Hamburg) TITELBILD: Illustration Rafal Olbinsky d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 AP Auf tönernen Füßen Mit Graffiti beschmierter Findling Durchaus ernst zu nehmendes Gesamtwerk Ein großer Unterschied Nr. 45/1999, Schönheit: Interview mit KunstTheoretiker Bazon Brock über die Graffiti-Attacke auf den Hamburger Findling Endlich wissen wir’s: Beschmieren verhindert das Unsichtbarwerden, der beschmierte Findling spricht zu uns, und die Sprayer benutzen ihre Zeichen als Abwehrzauber. Ach, klingt das schön. Und die Sprayerlogos sind ein Tarnnetz für die latente Selbstzerstörung, die sich so als Schmuck ausgibt … alles klar? Falls ihm irgendwann einige „Subkulturler“ seine Hauswände voll sprayen, würde Professor Brock bestimmt nicht mehr von Menetekeln schwärmen. Kiel Helga Meyer-Stumm Zwischen Werbung und Graffiti besteht ein von Brock scheinbar nicht wahrgenommener Unterschied: Werbung wird nicht an Kunstwerken und Denkmälern angebracht. Graffiti verdecken die Unterlage nicht nur, sondern verletzen deren Substanz. Berlin Oliver Reiser Legale Graffiti lassen sich künstlerisch als dilettantische Pop-Art-Variante abtun, illegale hingegen sind ein durchaus ernst zu nehmendes Gesamtwerk, eine künstlerische und kriminelle Selbstinszenierung. Zum Handwerk der Sprüher gehört das Lesen von Fachliteratur (von Eisenbahnerzeitschriften bis Kriminologie) und die körperliche Fitness genauso wie das technische Beherrschen ihres Mediums (Sprühdose, Marker, Kratzstein). Um Graffiti gerecht zu werden, muss man sie als eine Art Performance-Kunst einordnen. Die Unterstützung der Soziologen ist Sprühern dabei genauso Wurscht wie das Jammern der Normalbürger. Berlin Sean Floyd ehemaliger Sprüher Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit Anschrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen. Einer Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe ist eine Postkarte der Firma Toshiba, Neuss, und eine Postkarte der Deutschen Telekom, Bonn, beigeklebt. Einer Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe liegen Beilagen der Firmen Giordano, D’Alba, Handelsblatt Wi/Wo, Düsseldorf, Universal Music, Hamburg, und Hoffmann & Campe/SPIEGEL Almanach, Hamburg, bei. Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Deutschland CH. BACH / BACH & PARTNER Panorama Hauptstadt-Party der Bundesregierung vor dem Brandenburger Tor in Berlin UMZUGSFEST Gravierende Verstöße U nsauberen Umgang mit öffentlichen Geldern wirft der Bundesrechnungshof der Bundesregierung vor. Bei einer Überprüfung der Auftragsvergabe für das Bürgerfest der Regierung Schröder am 11. und 12. September vor dem Brandenburger Tor in Berlin stellten die Prüfer „erhebliche Mängel“ fest. So hätten Bundespresseamt und Bundesbauministerium Aufträge zur Planung und Organisation des 1,6 Millionen Mark teuren Festes an die zwei Berliner Agenturen Compact Team und Runze & Casper vergeben, ohne Konkurrenzangebote einzuholen. Auch seien 120 000 Mark aus Haushaltsposten verwendet worden, die eigentlich für Europa-Werbung und die Expo 2000 bestimmt waren. Zurückhaltung am Golf M it demonstrativen Gesten versucht Verteidigungsminister Rudolf Scharping, den Koalitionskrach um Rüstungsexporte zu entschärfen. Erst einmal blies er nach dem Streit um „Leopard“-Panzer für die Türkei einen Besuch in Ankara ab. Vergangene Woche ließ er kurz vor dem Abflug in die Vereinigten Arabischen Emirate, die 32 Alpha-Jets und U-Boote erhalten sollen, den Chef seiner Rüstungsabteilung Jörg Kaempf von der Passagierliste streichen. Entgegen dem von der Deutschen Botschaft verteilten Programm blieb Scharping bei der Luftfahrt- und Rüstungsmesse „Dubai Air Scharping Show“ schließlich der Unterzeichnung eines Abkommens der Firma DaimlerChrysler Aerospace (Dasa) mit dem Verteidigungsminister der Emirate fern. Die Vereinbarung gilt der Zusammenarbeit bei der Entwicklung eines neuen Kampf- und Trainingsflugzeugs („Mako“). Auch den Dasa-Wunsch, ins Cockpit eines Holzmodells des „Mako“-Jets zu klettern, erfüllte der Minister nicht. Scharping: „Exportförderung im Rüstungsbereich ist nicht meine Aufgabe.“ Die Dasa war mit dem Messe-Besucher dennoch hoch zufrieden: Für das Auslandsgeschäft, so der für Militärflugzeuge zuständige Dasa-Manager Aloysius Rauen, sei jeder Ministerauftritt eine „hervorragende Unterstützung“ und „äußerst hilfreich“. K. MEHNER RÜSTUNGSEXPORT Ein weiterer „gravierender Verstoß“ gegen das geltende Vergabe- und Haushaltsrecht laut Rechnungshof: Bei der Auftragsvergabe standen weder die Art der eingekauften Leistungen noch deren Kosten konkret fest. Nicht nachvollziehbar fand die Behörde ebenso, dass Mindereinnahmen bei den Sponsorengeldern in Höhe von 319 010 Mark – gerechnet hatten die Veranstalter mit 800 000 – nun zu Lasten des Bundes gehen sollen, während ein eventueller Überschuss einer der beauftragten Agenturen zugeflossen wäre. Hinweise auf „praktizierte Korruption“ konnte der Rechnungshof aber nicht entdecken. Das Bauministerium habe jedoch die Vorschriften zur Korruptionsprävention nicht eingehalten. Nicht überzeugt hat den Rechnungshof die Erklärung von Regierungssprecher Uwe-Karsten Heye, der Verzicht auf eine vorherige Ausschreibung sowie die Mängel im Verfahren seien auf hohen Zeitdruck und Verzögerungen durch den Kosovokrieg zurückzuführen. d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 S O Z I A LV E R S I C H E R U N G Milliardenloch droht A uf die Bundesanstalt für Arbeit könnten Mehrkosten von jährlich mehr als 30 Milliarden Mark zukommen. Das befürchten Experten der Bundesregierung für den Fall, dass das Verfassungsgericht im Frühjahr 2000 den Gesetzgeber dazu verpflichten sollte, Sozialversicherungsbeiträge auf Weihnachts- oder Urlaubsgeld bei der Bemessung von Lohnersatzleistungen zu berücksichtigen. Bislang müssen Arbeitnehmer, deren Einkommen unter den Beitragsbemessungsgrenzen liegen, vom 13. Monatsgehalt zwar Beiträge an die Sozialversicherungen abführen. Ansprüche auf Leistungen aber leiten sich daraus nur sehr begrenzt ab. Während die zusätzlichen Beiträge zur Rentenversicherung in die Berechnung der Rentenansprüche einfließen, bleiben sie beim Arbeitslosengeld unberücksichtigt. 17 Panorama STROMPREISE Aus für Wasserkraft S KWR RHEINFELDEN tillstand bei Deutschlands größtem Ökostrom-Projekt: Der geplante Ausbau des 102 Jahre alten Wasserkraftwerks Rheinfelden am Oberrhein von jetzt 25,7 Megawatt auf 119 Megawatt Leistung lässt sich angesichts drastisch gesunkener Strompreise nicht mehr finanzieren. Kalkulierte Erzeugungskosten von rund 16 Pfennig je Kilowattstunde in der 30-jährigen Abschreibungsphase machen den Wasserstrom unverkäuflich. Strom aus Kohle, Gas oder Uran ist auf dem liberalisierten Markt inzwischen für drei bis vier Pfen- Kraftwerk Rheinfelden nig zu haben. Der Weimarer Professor Hans-Peter Hack hat die Unwirtschaftlichkeit neuer großer Wasserkraft- nicht zu verlieren. So lange gehen alljährlich rund 340 Millioanlagen belegt. Wenn keine Hilfen gezahlt würden, „droht uns nen Kilowattstunden zusätzlichen Wasserstroms verloren. Midieses Potenzial wegzubrechen“, folgert Hack. Die Betreiber chael Müller, stellvertretender SPD-Fraktionsvorsitzender im Rheinfeldens verhandeln inzwischen mit den Behörden über ei- Bundestag, nennt den Baustillstand in Rheinfelden „energienen mehrjährigen Bauaufschub, um die Betriebskonzession politischen Blödsinn“. BÜRGERRECHTLER U M W E LT Bundesstiftung unter Beschuss Grüner Müll in Pakistan D Ü bler Praktiken wird die vor gut einem Jahr vom Deutschen Bundestag gegründete „Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur“ von Ex-Bürgerrechtlern bezichtigt. Der renommierte Historiker und Stiftungsreferent Stefan Wolle wirft der Stiftungsführung unter dem SPD-Politiker Markus Meckel in einem Brand-Brief vor, sie gefährde die Aufarbeitungsprojekte, die sie fördern sollte. Die mit mehreren Millionen Mark aus Steuermitteln ausgestattete Stiftung will ein eigenes Archiv und eine eigene Bibliothek aufbauen – obwohl es beides längst gibt. Mit dem „Finanzhebel“, so Wolle, versuche die Stiftung nun, bestehende unabhängige Archive „zur Übergabe ihrer Archivbestände“ zu zwingen, obwohl diese bereits seit Jahren Material sammelten. Stiftungsgeschäftsführer Wolfgang Kusior, so Wolle, setze die Hauptsammelstelle von Dokumenten der einstigen DDR-Opposition, das Berliner RobertHavemann-Archiv, unter Druck, indem er mit dem Entzug der Fördermittel drohe. Das wäre das Aus für diese Einrichtung. „Die Stiftung verrät uns“, sagt Jörg Drieselmann, ehemaliger SED-Gegner und Geschäftsführer der Gedenkstätte in der einstigen Zentrale des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit in der Berliner Normannenstraße. 18 Grüner-Punkt-Müll in Pakistan ie dem Dualen System Deutschland gehörende Deutsche Gesellschaft für Kunststoff-Recycling (DKR) bekommt Ärger wegen ihrer Müllexporte nach Pakistan. Insgesamt 14 000 Tonnen „gemischte Kunststoffabfälle“ aus deutschen Haushalten wurden seit 1993 an eine East South Trading im pakistanischen Lahore geliefert. Ein Zwischenhändler im hessischen Bad Soden, die Firma Z. Rana, kassierte dafür „Verwertungszuschüsse“ von mehreren Millionen Mark. Ein Teil der Plaste aus dem gelben Sack wurde tatsächlich in Pakistan zu Recyclingprodukten aufgearbeitet. Mehrere tausend Tonnen GrünerPunkt-Müll liegen jedoch weiterhin in offenen Lagern herum. Die Staatsanwaltschaft in Lahore ermittelt wegen illegaler Mülllagerung. Der DKR-Partner East South Trading begründet die Müllhalden mit der „schlechten Qualität“ der angelieferten „Wertstoffe“ und fordert einen „finanziellen Zuschuss“ für die Verwertung. Die DKR-Manager wollen dagegen hart bleiben. S C H E I N S E L B S TÄ N D I G K E I T Gnade für reuige Sünder U m eine Welle von Firmenpleiten zu verhindern, hat die rot-grüne Mehrheit im Bundestag eine befristete Amnestie für Arbeitgeber beschlossen, die in der Vergangenheit versicherungspflichtige Arbeitnehmer als so genannte Scheinselbständige beschäftigt haben. Ursprünglich sollten Unternehmer die gesparten Sozialversicherungsbeiträge d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 für mehrere Jahre nachzahlen müssen. Weil dies aber mittelständische Unternehmen in den Ruin treiben könnte, wurde in das „Gesetz zur Förderung der Selbständigkeit“ ein Amnestiepassus eingefügt: Danach müssen Firmenchefs, die von sich aus bis zum 30. Juni 2000 bei der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte eine Prüfung beantragen, ob in ihrem Unternehmen fälschlich als Selbständige eingestufte Mitarbeiter beschäftigt sind, nicht mit Rückforderungen rechnen. Deutschland mission betrieben wurde – ihre Tochter Christine als Assistentin angestellt und aus dem Etat des Parlaments bezahlen lassen. Die 31-Jährige, eine promovierte Juristin, bezog als Zeitkraft ein Monatsgehalt von umgerechnet über 6000 Mark. Einen wesentlichen Teil ihrer Assistentinnentätigkeit, gab Mutter Fontaine zu, habe Tochter Christine als Wahlkampfhelferin geleistet; das Tochter-Unternehmen sei jedoch „legal nach den Regeln des Europäischen Parlaments“. Abgeordneten des Bundestags ist die Beschäftigung von Familienangehörigen nicht gestattet, auch die deutschen Abgeordneten des Europäischen Parlaments halten sich daran. Im Entwurf eines Statuts für die EPAssistenten, den der deutsche CDU-Europaabgeordnete Klaus-Heiner Lehne vorgelegt hatte, war die Verwandtenbeschäftigung ausdrücklich als illegal untersagt. Die Mehrheit des Parlaments aber wollte nicht von der Möglichkeit lassen, Oma, Ehefrau oder Kinder als Assistenten entlohnen zu lassen, und kippte im April dieses Jahres die Verbotspassage. Man habe es eben, so Vize-Präsidentin Fontaine, „mit unterschiedlichen politischen Kulturen“ zu tun. E U R O PA Job für die Tochter I J.-B. VERNIER / CORBIS SYGMA n der Europäischen Union nimmt die Günstlingswirtschaft kein Ende. Ausgerechnet das Europäische Parlament (EP), das im März die EU-Kommission in den Rücktritt getrieben hatte, ist nun selbst ins Zwielicht geraten. Im Zentrum der Affäre steht die neu gewählte französische Parlamentspräsidentin Nicole Fontaine. Die konservative Politikerin hatte in ihrer Funktion als EPVize-Präsidentin von Januar bis Ende Juni 1999 – noch während die Amtsenthebung gegen die damalige EU-Kom- Nicole Fontaine, Tochter Christine N I E D E R S AC H S E N Freunde in Not N DPA iedersachsens Ministerpräsident Gerhard Glogowski (SPD) jongliert ungewöhnlich locker mit Firmengeldern. Glogowski, ehedem Oberbürgermeister von Braunschweig, befand sich Anfang November auf einer Dienstreise in Kasachstan, als in der Heimat alte Freunde im Vorstand der Braunschweiger Stadtwerke in Schwierigkeiten ge- Ehepaar Glogowski auf Hochzeitsreise d e r rieten. Deren Verabschiedung eines Geschäftsführers war mit 80 000 Mark Rechnungsprüfern zufolge zu luxuriös ausgefallen. Glogowski ließ einen mitreisenden Manager der halbstaatlichen Nord/LB von Kasachstan aus bei der Familie des Party-Ausrichters „Löwenkrone“ anklingeln: Die Firma solle ihren Anteil an den Kosten um 20 000 Mark kürzen, den Rest würden Ministerpräsident und Nord/LB schon richten. Heikel ist Glogowskis Mauschelei, da er selbst Aufsichtsratschef der Stadtwerke ist. Zudem hatte „Löwenkrone“ auch Glogowskis Hochzeitsparty im Mai dieses Jahres ausgerichtet. Das Fest war mit allerhand Sonderkonditionen für Glogowski preiswert abgelaufen. Die Getränke spendierten Coca-Cola und eine Brauerei, Manager von Nord/LB und PreussenElektra sponserten das Musikprogramm. Die Hochzeitsreise führte die Glogowskis mit der TUI werbewirksam nach Ägypten. Das Reiseunternehmen ließ sich für seine Dienste allerdings trotzdem bezahlen. s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 19 Panorama Deutschland Am Rande Es gibt Leute, die glauben, dass sich die Bundesregierung aus moralischen Gründen schwer tut mit der Lieferung von 1000 Panzern an die Türkei. Das ist falsch. Richtig ist, dass der Beschluss über jene Aufkleber noch nicht gefallen ist, welche die Europäische Union (EU) bald für jedes Kanonenrohr vorschreiben dürfte: „Die EUKriegsminister: Waffen töten. Jede Kugel aus diesem Rohr enthält eine Menge Blei.“ Das wird die Kurden beruhigen. Für Zigaretten ist das Gesetz beschlossen. „Rauchen tötet“ steht bald auf jeder Packung, obwohl die EU den Tabakanbau pro Jahr mit einer Milliarde Euro unterstützt. Das ist nicht sehr konsequent, und wer heuchelt, muss es energisch tun, sonst fällt es auf. Darum kämpft die EU gegen den Tod, generell und überall, und weil der Tod ein zäher Gegner ist, rauchen jetzt die Druckmaschinen. Sie drucken Aufkleber für Autokonzerne wie Toyota („Nichts ist untödlich“), für das britische Landwirtschaftsministerium („Beef kills“), für Alkoholmarken wie Holsten („Murkst am dollsten“). 80 Millionen Briefe will das Familienministerium verschicken: „Liebe/r MitbürgerIn, das ganze Leben kann Sie niederstrecken.“ Mörderische Zeiten, aber es gibt Hoffnung, denn zumindest das Leben der Mäuse lässt sich neuerdings um ein Drittel verlängern. Das liegt angeblich daran, dass Forscher ein Gen ausschalten konnten, das gesunde Zellen sterben lässt. Das ist falsch. Richtig ist, dass die europäische Maus bei Verlassen ihres Lochs bald ein EU-Warnschild erblicken wird: „Gefährlich ist der Katze Tatze.“ 20 REUTERS Tödliches Leben Bundesbedienstete auf dem Flughafen Berlin-Schönefeld aum drei Monate nach dem Regierungsumzug hat sich die Zahl der Wochenendpendler zwischen Bonn und Berlin um rund die Hälfte verringert. Statt der 3700 reservierten Plätze in Fliegern und Zügen werden nach der neuesten Umfrage in Ministerien und Bundestagsverwaltung weit unter 2000 Plätze benötigt. Verkehrsminister Reinhard Klimmt (SPD) rechnet mit rund neun Millionen Mark Storno-Kosten. Zugleich aber registrieren die Ressorts dienstags und donnerstags erheblich mehr Dienstreisen. Über die Gründe rätselten die Umzugsbeauftragten bei ihrem Treffen Anfang November. „Montags und freitags fällt nun mal viel Arbeit in Wohnortnähe an“, spottete ein Teilnehmer über jene „Di-Mi-DoBeamten“, die es höchstens drei Tage im Berliner Büro hält. Nur im Innenministerium herrschen strenge Sitten. Bereits am Sonntagabend müssen die Pendler nach Berlin reisen, um pünktlich montags zum Dienstbeginn zu erscheinen. Und am Freitagnachmittag streift Ressortchef Otto Schily schon mal durch die Flure, um die Anwesenheit seiner Untergebenen höchstpersönlich zu kontrollieren. DV U Nachgefragt BUNDESBEAMTE Di-Mi-Do in Berlin K Frey-Partei pleite? N ach den aufwendigen Wahlkämpfen der letzten Monate, bei denen die DVU in Brandenburg den Einzug in den Landtag schaffte, ist die rechtsextreme Partei offenbar finanziell am Ende. Wie aus internen Unterlagen hervorgeht, erwartet DVU-Chef Gerhard Frey rund 15 Millionen Mark „Unterdeckung der DVU“ am Ende dieses Jahres. Frey hatte drei Millionen Mark in den brandenburgischen Wahlkampf gepumpt und damit rund 58 000 Wähler geködert. Für die erhält er in der fünfjährigen Legislatur nur rund 300 000 Mark Wahlkampfkostenrückerstattung. Wegen der prekären Finanzlage verhinderte der DVU-Bundesvorstand, dass die Partei bei der kommenden Landtagswahl in Schleswig-Holstein am 27. Februar kommenden Jahres antritt. Der Vormann des schleswig-holsteinischen Landesverbands, Rechtsanwalt Klaus Sojka, verlangt jetzt vom Verleger Frey Auskunft darüber, wer die „ungeheuerliche Schuldenlast“ zu vertreten habe. d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Milder Osten Egon Krenz und andere DDRGrößen sind wegen der Todesschüsse an der deutsch-deutschen Grenze zu Haftstrafen verurteilt worden. Jetzt fordern Politiker mehrerer Parteien, sie zu amnestieren. Was meinen Sie? 34 Ich finde eine Amnestie richtig. Zehn Jahre nach West/Ost Ende der DDR sollte ein 29/50 Schlussstrich gezogen werden. 53 Ich lehne eine Amnestie ab. Die Strafen sollten verbüßt werden. West/Ost 57/40 Ich weiß nicht/ ist mir egal. 13 West/Ost 14/10 Emnid-Umfrage für den SPIEGEL vom 16. und 17. November; rund 1000 Befragte; Angaben in Prozent Werbeseite Werbeseite Deutschland A F FÄ R E N „Schweigende Duldung“ Der mutmaßlich kriminelle Umgang mit einer Millionenspende lenkt das Augenmerk auf weitere dubiose Usancen bei der Geldbeschaffung der CDU. Auch nach der Ära des Schatzmeisters Leisler Kiep wurden Zahlungen verschleiert. I n seinem Bonner Büro im KonradAdenauer-Haus traf sich der CDU-Vorsitzende vergangenen Dienstagmittag mit einem älteren, sichtlich kränkelnden Herrn zu einem Vier-Augen-Gespräch, von dem nicht einmal enge Mitarbeiter Wolfgang Schäubles, 57, vorher gewusst hatten. Mit seinem Gast Uwe Lüthje, 67, mehr als 20 Jahre lang Generalbevollmächtigter des CDU-Schatzmeisters und noch immer einer der intimsten Kenner des Geldbeschaffungssystems des früheren Kanzlers und Parteivorsitzenden Helmut Kohl, sagt Schäuble, habe er nur Menschliches besprochen. Die bange Frage, die derzeit die Union tagtäglich quält, will der Parteichef mit dem CDU-Finanzfachmann überhaupt nicht erörtert haben: Was, um Himmels willen, die Christdemokraten denn noch an Enthüllungen über schwarze Konten und problematische Geldtransaktionen aus der Kohl-Ära zu erwarten haben. Alles nur Schauspielerei? In Berlin rang die Generalsekretärin Angela Merkel, 45, sichtlich um Fassung. Jede Emotionalisierung sei „fehl am Platze“. Mal verschränkte sie dabei die Arme abwehrbereit vor der Brust, dann schien es, als würde die gelernte Physikerin den zähen Parteispendenbrei immer wieder neu zurechtkneten, auf dass er ihrer CDU so wenig wie möglich schaden möge. Jedes ihrer Worte las Merkel von einem Zettel ab, den CDU-Anwalt Hans Dahs vorbereitet hatte. Selbst bei Nachfragen suchten ihre Augen immer wieder die juristisch abgeklopften Formulierungen: Die jetzige Führungsspitze habe von den Vorgängen nichts gewusst, wisse auch heute noch nichts. Sind alle wirklich noch immer so argund ahnungslos? Alte Weggenossen erinnern sich heute, wie Kohl ihnen einst seine Führungskunst an einem Alltagsbeispiel verdeutlicht habe. Nie, nicht einmal die kleinste Strecke, fahre er selbst Auto. Denn sogar bei der ge- Beschuldigter Kiep nach seiner Aussage in ringsten Schramme laute sonst die Schlagzeile: „Unfall – Kanzler beteiligt“. Doch Kohl hat immer nur die eine Hälfte der Anekdote erzählt. Die andere geht so: Der Altkanzler hat immer genau gewusst, wer ihn gefahren hat. Alles nur Biedermänner? Oder doch Brandstifter? Das System Kohl, in dem heikle politische und finanzielle Entscheidungen in kleinsten Geheimzirkeln getroffen wurden, holt die Partei nun ein. „Dass uns die Sa- Quelle-Pakete für Bonn Von der Quelle-Versandhausgruppe erhält die CDU-Bundespartei am 12. Oktober 1993 100 000 Mark. Der Spendenbetrag wird dabei in fünf Einzelspenden von jeweils 20 000 Mark aufgeteilt. Als Spender fungieren die VP-Schickedanz AG, Nürnberg Foto-Quelle Schickedanz & Co., Nürnberg Quelle-Versandzentrale in Nürnberg 22 Gustav Schickedanz KG, Nürnberg Quelle Schickedanz AG & CO., Fürth Da die Parteien laut Gesetz nur verpflichtet sind, Spendenbeträge von mehr als 20 000 Mark zu veröffentlichen, wird keiner der fünf Einzelspender im Rechenschaftsbericht 1993 der CDU namentlich erfasst: Der Quelle-Konzern taucht als Spender für die Unionspartei somit offiziell überhaupt nicht auf. d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 V. L a n n e r t P. R O G G E N T H I N Gustav und Grete Schickedanz Holding KG, Fürth Konrad-Adenauer-Haus in Bonn M. HANGEN Ob tatsächlich einzelne Entscheidungen „gekauft“ worden sind – wie die Ankläger vor allem im Falle Pfahls vermuten – oder ob der Thyssen-Lobbyist Karlheinz Schreiber, 65, einfach – wie einst Flick – die politische Landschaft pflegte, ist ungeklärt. Noch immer hat die CDU nichts zur Beantwortung der Frage beigetragen, warum Schreiber dem damaligen CDU-Schatzmeister Kiep sowie dem Kohl-Vertrauten Horst Weyrauch am 26. August 1991 im schweizerischen St. Margrethen in Ganovenmanier eine Million Mark in bar in einem Koffer zukommen ließ – sechs Monate nachdem die Regierung die Operation „Fuchs“ mit den Saudis abgesegnet hatte. Fassungslos beobachtet der Kölner Soziologe Erwin Scheuch, 71, einst selbst Mitglied der CDU, was in seiner früheren Partei alles möglich war. Für „mindestens so schlimm wie den Flick-Skandal“ hält er die Sache mit der Panzermillion. Vermutlich sei bei der Schreiber-Zuwendung „die kriminelle Energie sogar größer“ gewesen. Die zunächst auf einem CDU-Anderkonto geparkte und durch Zinsen auf 1,1 Millionen Mark angewachsene Spende ließ Kiep, wie er vergangenen Mittwoch bei einer fast zehnstündigen Vernehmung durch drei Augsburger Staatsanwälte und einen Steuerfahnder abermals bestätigte, im Oktober 1992 die Wahrheit wird euch frei machen“ ganz offiziell auf drei seiner Ansicht nach verdiente CDU-Männer verteilen: Lüthje erhielt zum Abschied 370 000 Mark, Weyrauch für seine Steuerberatungsund Wirtschaftsprüferkanzlei 421800 Mark und er selbst, Kiep, rund 300000 Mark. Die habe er seinem Anwalt Günter Kohlmann, einem der renommiertesten Steuerstrafrechtler der Republik, als Honorar für seine Verteidigung im Flick-Parteispendenverfahren überwiesen. Versteuert hat Kiep die Zahlung offenbar nicht. Weyrauch will ihn entlasten und den Ermittlern bei seiner anstehenden Vernehmung erklären, bei der Bezahlung der Anwaltskosten habe es sich letztlich um eine „BetriebsausSpendenquittung für Quelle: In fünf Teile gestückelt gabe der CDU-BundesschatzPfahls, 56, und Anfang November auch ge- meisterei“ gehandelt. Somit seien die 300000 gen Kiep einen Haftbefehl erwirkten, gilt Mark nicht Kiep selbst zugeflossen und auch in Berlin fast nichts mehr als ausgeschlos- nicht von ihm zu versteuern gewesen. sen. Pfahls soll 3,8 Millionen Mark, Kiep „Jeder weiß, dass in der CDU in Fieine Million Mark dafür erhalten haben, nanzdingen das Wissen der einzelnen Bedass sie sich bei der Regierung Kohl teiligten sehr abgestuft war“, sagt Schäuble 1990/1991 für die Genehmigung des damals auf die Frage, ob die Führungsriege denn umstrittenen Exports von 36 „Fuchs“-Pan- wirklich nicht in solche Vorgänge eingezern des Thyssen-Konzerns nach Saudi- weiht war. Lüthje jedenfalls zahlte seine Arabien stark machten (SPIEGEL 46/1999). Prozess- und Anwaltskosten nicht selbst. Beide bestreiten dies. In den geheimen Ak- Ob das Geld von der CDU kam, konnte ten des Bundessicherheitsrats, der den Pan- oder wollte die Parteiführung vergangene zerdeal im Februar 1991 genehmigte, steht Woche nicht sagen. als Fazit der Debatte: „Der Bundeskanzler Stattdessen sah sich Schäuble genötigt stellt Einvernehmen her“ (siehe Seite 25). zu betonen, er habe Weyrauch noch nie Augsburg: „Schon der Apostel Paulus sagte, che schadet, bezweifle ich nicht“, sagt Schäuble. Er versuche, „den Schaden begrenzt zu halten, ohne etwas zu vertuschen“. Eilfertig sprang ihm Norbert Blüm, 64, zur Seite und forderte Ex-Schatzmeister Walther Leisler Kiep, 73, auf, sein folgenschweres Wirken offen zu legen. „Schon der Apostel Paulus sagte, die Wahrheit wird euch frei machen.“ Das ist angesichts immer neuer Wendungen der Affäre um den Panzerdeal mit Saudi-Arabien eine heikle Aufgabe. Die Grünen haben die CDU „eine Partei der Wiederholungstäter“ genannt. Das ist, so weisen Akten aus, die dem SPIEGEL vorliegen, eher untertrieben: Es handelt sich um Seriensünder. Bis in die jüngere Vergangenheit, weit in die Nach-Kiep-Ära hinein, wurde die Herkunft großer Spenden aus der Industrie gezielt verschleiert. Viel Arbeit also für den Untersuchungsausschuss, den die Regierungskoalition in der vergangenen Woche zu beantragen beschloss. Der soll klären, so Grünen-Vorstandssprecherin Gunda Röstel, „ob politische Entscheidungen zur Zeit der alten Regierung käuflich gewesen sind“. Mehr als vier Jahre nach seinem Beginn landet das Ermittlungsverfahren 502 Js 127135/95 der Staatsanwaltschaft Augsburg damit dort, wo es politisch auch hingehört: im höchsten parlamentarischen Gremium der Republik, dem Deutschen Bundestag. Seit die Augsburger Ermittler erst gegen den früheren Rüstungs-Staatssekretär im Verteidigungsministerium Ludwig-Holger d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 23 Kommentar getroffen. Und auch mit Kiep habe er seit langem keinen Kontakt. Doch die Strategie der Union, so zu tun, als habe es nur während des Regiments von Kiep, Lüthje und Weyrauch im Finanzreich der CDU dubiose Aktionen gegeben, trägt nicht. So ließ beispielsweise der Quelle-Konzern der CDU im Oktober 1993 eine Spende über 100 000 Mark zukommen. Damit diese nicht im Rechenschaftsbericht veröffentlicht werden musste, wurde die Summe in fünf Beträge gestückelt. Je 20 000 Mark wendeten demnach am 12. Oktober 1993 die VP-Schickedanz AG, Nürnberg, die Foto-Quelle Schickedanz & Co., Nürnberg, die Gustav und Grete Schickedanz Holding KG, Fürth, die Gustav Schickedanz KG, Nürnberg, sowie die Quelle Schickedanz AG & Co, Fürth, der Kanzlerpartei zu. Mit Schreiben vom 13. Oktober 1993 bedankte sich Schatzmeisterin Brigitte Baumeister, eine enge Vertraute Schäubles, bei allen fünf Unternehmen und stellte ihnen die Spendenbescheinigungen Nr. 60/52135 bis 60/52139 aus. Intern betrachtete die CDU, das belegt der dazu gehörende Schriftwechsel, die fünf Teilspenden als eine einzige. In einem Schreiben vom 13. Dezember 1993 von Baumeisters Büroleiter Jürgen Schornack an den Münchner Kaufmann Hannes Müller, den Chef der Drückerkolonne, welche die Spende einwarb, heißt es unter dem Stichwort „Quelle, Nürnberg“: „Die Spende über 100 000 Mark wird geteilt, so dass Sie hier für Kohls „Schwarze Löcher“ L aut Artikel 21 des Grundgesetzes wirken die Parteien bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Ihre innere Ordnung muss demokratischen Grundsätzen entsprechen. Sie müssen über die Herkunft und Verwendung ihrer Mittel sowie über ihr Vermögen öffentlich Rechenschaft geben. Real müsste es heißen: Die Parteien und ihre Schatzmeister wirken an der politischen Willensbildung des Volkes mit. So ist der Fall des dubiosen, aber angesehenen, von 1971 bis 1992 tätigen Bundesschatzmeisters Walther Leisler Kiep kein einmaliger Fehltritt, für den er nun wird büßen müssen oder auch nicht. Er entlarvt die praktischen und erfolgreichen Bemühungen der CDU, das Grundgesetz zu hintergehen. Von innerer Ordnung und demokratischen Grundsätzen kann keine Rede sein, wenn ein Außenstehender, der aber ein Intimus des Kanzlers Helmut Kohl ist, als „graue Eminenz“ für die CDU bestimmte Gelder hin- und herschieben durfte. Gemeint ist hier der Frankfurter Wirtschaftsprüfer Horst Weyrauch, eine noch wichtigere Figur als Kiep selbst. Es konnte Kohl nicht verborgen geblieben sein, dass dieser ihm vertraute Freund für die CDU gesammelte Gelder auf so genannten Treuhandkonten hin- und herschob, auch wenn die zuständigen Stellen seiner Partei nun behaupten, davon nichts gewusst und darauf keinen Zugriff gehabt zu haben. Ursprünglich begnügte man sich bei der CDU damit, die Führungsspitze und besonders den Parteivorsitzenden Helmut Kohl so abzuschirmen, dass er stets Nichtwissen vortäuschen konnte. Der aber brachte das System 1985 durch einen legendären Auftritt ungewollt ins Wanken. Vor einem Mainzer Untersuchungsausschuss konnte er sich nicht, obwohl ehedem Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, an eine Geldwaschanlage erinnern, die unter dem Namen „Staatsbürgerliche Vereinigung“ (SV) allgemein bekannt war. Der CDU-Generalsekretär Heiner Geißler diagnostizierte später einen „Blackout“ des Kanzlers. Die „Staatsbürgerliche Vereinigung“ hatte sich zum Ziel gesetzt, die Christ- 24 demokraten und die FDP auf immer zusammenzuschmieden, damit der altböse Feind SPD nicht ans Regieren gelangen konnte. Mehr als 200 Millionen Mark hatte die SV an der Steuer vorbei diesem hehren Ziel schon zugeführt, als Kohls Gedächtnis aussetzte. Nur der Kanzlerbonus bewahrte ihn vor einer Anklage wegen uneidlicher Falschaussage. Wann immer eine neuerliche Schweinerei ans Licht kam, gelobten die Betroffenen Besserung. Transparenz und gläserne Kassen sollten das Bild der großen Parteien aufpolieren. Tatsächlich ließ Kohl seinen Schatzmeister Kiep fallen. Aber durchweg organisierte man die Parteienfinanzierung „wie hinter Milchglas. Es wurde getrickst, getarnt und getäuscht“ („Süddeutsche Zeitung“). Allerdings verfeinerte man die Methode und verfiel auf den in der internationalen Politik gebräuchlichen Begriff „deniability“, zu Deutsch etwa: die Fähigkeit, eine Sache zu verleugnen. Die „Süddeutsche Zeitung“ erklärt es genauer: „Eine kunstgerechte politische Äußerung muss später anders gedeutet werden können, als sie ursprünglich verstanden wurde. Deniable: Wenn etwas schief geht, muss der politisch Verantwortliche später behaupten können, von nichts gewusst zu haben.“ Parteien, die so handeln, ruinieren auf Dauer sich selbst. Sie mindern die Steuerehrlichkeit der Bürger und verlieren jeden Maßstab für erarbeitetes Geld. Man mag aufgedeckter Korruption noch so heilsame Wirkungen zuschreiben, wie das etwa Klaus Kreimeier in der „Tageszeitung“ tut; es gab und gibt sie überall „mit Maßen“. Aber sie neigt dazu, immer größere Bissen an sich zu reißen, wie man beim Export von Rüstungsgütern in Krisengebiete leicht verfolgen kann. Bald wird es so sein, dass die Schmiergelder, als Marketing getarnt, den Preis der gelieferten Waren überschreiten. Alle Bundeskanzler haben geahnt und gewusst, dass in ihren Parteien mit Geld gemauschelt wurde. Alle haben weggesehen. Nur Helmut Kohl hat aktiv mitgemauschelt, hat Gelder gelenkt und umgelenkt. Nur bei ihm finden sich, was es sonst nur im Weltall gibt: die berühmten „Schwarzen Löcher“. d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 M. URBAN RUDOLF AUGSTEIN CDU-Führungsduo Schäuble, Merkel „Schaden begrenzt halten“ 50 000 Mark eine Provision erhalten.“ Diese Provisionen betrugen, ohne dass die Spender es wussten, bis zu 45 Prozent. Quelle ist kein Einzelfall, hinter dem Vorgehen steckte System. Auch der Pharma-Multi Merck bedachte die Partei des Kanzlers 1993 mit 100 000 Mark. Diesmal wurde die Spende in sechs Beträge aufgeteilt. Je 20 000 Mark gaben die E. Merck Beteiligungen oHG, die Eme- FOTOS: J. GIPP Druck von Kohl? Tags darauf erhält Genscher die AAVorlage: An den Rand ie, erklärt Hans-Dietrich Genscher, habe er schreibt er „Ja“ zur sich im geheimen Regierungsgremium, das Ausfuhr von zehn über Waffenexporte entscheidet, dem BundessiSpürpanzern und cherheitsrat, überstimmen lassen. „Weder Helmut acht AmbulanzwaSchmidt noch Helmut Kohl“, so der frühere gen, „Nein“ zu 14 Außenminister, „hätte das gewagt.“ MannschaftstransporAber wie sich aus Akten des Auswärtigen Amts er- Für Riad bereitgestellte Panzer (im Hamburger Hafen) tern und vier Komgibt, wurden 36 „Fuchs“-Fahrzeuge 1991 nach Sau- „Wir bleiben bei unserer Haltung“ mandowagen. di-Arabien geliefert – gegen das Votum des Hauses Genscher. Nur lückenhaft erinnert sich auch der damalige Nach einer Notiz Lautenschlagers teilt der Kollege aus dem Wirtschaftsminister Jürgen Möllemann. Aus seinem früheren Hause Möllemann mit, sein Minister habe entschieden, streitig Ressort ließ er sich bestätigen, dass er „in diesen Vorgang nicht in den Bundessicherheitsrat zu gehen. Man schließe sich dem involviert“ gewesen sei. Die Akten zeigen dagegen, dass sich der Ja des Verteidigungsministeriums an. Er habe seinen Minister unterrichtet, so Lautenschlager. Aber: „Wir bleiben bei unserer Liberale auch selbst einschaltete. Ursprünglich, so geht aus der Vorlage der zuständigen Beam- Haltung.“ Am 27. Februar trägt Genscher im Sicherheitsrat die ten hervor, hatte das AA keine Bedenken gegen die Gesamt- Position des AA vor. Seltsam: Am Ende stellt Kanzler Kohl laut lieferung, wohl aber Genschers Staatssekretär Lautenschlager. Protokoll dennoch „Einvernehmen“ fest. Der hält in einer Notiz für den Minister vom 19. Februar 1991 Wie es dazu kam, kann Genscher nicht erklären: „Ich will erst fest: Der Kollege aus dem Wirtschaftsressort habe ihm erklärt, die Akten sehen.“ Aber es sei die Zeit des Golfkriegs gewesen, Genscher und Möllemann hätten sich auf ein Ja geeinigt. Er gibt er zu bedenken. Er vermutet: Kohl habe massiv Druck gehabe dem Kollegen erwidert, schreibt Lautenschlager weiter, er macht. Bleibt die Frage: Hat Genscher zugestimmt, oder wurde er doch überstimmt? werde erst nach Prüfung der Lage entscheiden. N dia Export Company und die Chemitra GmbH, alle drei in der Frankfurter Straße 250 in Darmstadt. Je 15 000 Mark spendeten Merck-Vorstandschef Hans Joachim Langmann, zu dessen 75. Geburtstag der Altkanzler am 5. Oktober dieses Jahres die Festrede hielt, und seine Ehefrau Marlis. 10 000 Mark steuerte die E. Merck oHG, ebenfalls Frankfurter Straße 250 in Darmstadt, bei. Die entsprechenden Spendenbescheinigungen mit den fortlaufenden Nummern 60/52123 bis 60/52129 unterzeichnete abermals Schatzmeisterin Baumeister, seit 26. Oktober 1992 als Kiep-Nachfolgerin im Amt. Auch bei der Merck-Gruppe weist der interne CDU-Schriftwechsel aus, dass die Partei die sechs Einzelzuwendungen in Wirklichkeit als eine „Spende über 100 000 Mark“ (Schornack) betrachtete. Juristisch ist das Vorgehen nicht angreifbar; es entspricht dem Parteiengesetz. Erst Einzelgaben ab einem Betrag von über 20 000 Mark müssen in den Rechenschaftsberichten veröffentlicht werden. Doch gegen den Geist des Gesetzes verstößt das Getrickse allemal. Denn dessen Zweck ist es gerade, größere Zuwendungen von Unternehmen an Parteien und damit verbundene mögliche Interessen durch die Publizitätspflicht transparent zu machen. Auch ansonsten passierte in der NachKiep-Ära bei der Geldbeschaffung der Union noch manch Dubioses. Spendensammler Müller etwa notierte am 4. Februar 1994, tags zuvor seien ihm an einer Autobahnraststätte „50 000 Mark in bar“ übergeben worden. Diese stammten von einem Spender, der „nicht genannt werden möchte“ und weder eine Rechnung noch Quittung wünsche. „Wahrscheinlich“ handele es sich dabei um „Schwarzgeld“. Falls dieses an die Partei weitergeleitet werden solle, müsse er „erst mit Frau Baumeister abklären, wie so ein Fall verbucht wird“. Müller, dessen lukrative Provisionsverträge mit der Union gegen Zahlung mehrerer Abfindungen von insgesamt 2,3 Millionen Mark im Mai 1995 endgültig beendet wurden, drohte vor seinem Ausd e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 scheiden der Schatzmeisterin noch „persönlich/vertraulich“, er werde die merkwürdigen Wege der Geldbeschaffung der Partei „offen legen“, die mit Baumeisters „Kenntnis und schweigender Duldung“ beschritten würden. Im November 1997 wurde Müller vom Landgericht München I wegen Untreue und Betrugs zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt. Unter anderem hatte er Parteispenden in Höhe von 158 000 Mark in die eigene Tasche gesteckt. Die Angst der Union vor weiteren Enthüllungen wird auch durch die Tatsache geschürt, dass die Augsburger Ermittler bei Schreiber und Weyrauch Papiere in die Hand bekamen, die das Finanzgebaren der Partei weiter erhellen – und für neue Diskussion sorgen. So sollen bei Weyrauch Unterlagen über bislang nicht bekannte CDU-Treuhandkonten beschlagnahmt worden sein. Sichergestellte Schreiber-Unterlagen legen die Vermutung nahe, der Thyssen-Lobbyist und Waffenhändler könnte sich auch mit Kieps Nachfolgerin getroffen haben. Baumeister wollte dem SPIEGEL über Ort 25 Deutschland „Eddie haut mich raus“ Wie sich Karlheinz Schreiber in Toronto auf seinen Prozess vorbereitet 26 d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Behörden Recht geben, kann das Verfahren dauern – bis zu drei Jahren, schätzen Experten. Schon bis heute mussten sich ein gutes dutzend Gerichte mit Schreibers Fall beschäftigen, darunter der kanadische Supreme Court und das Schweizer Bundesgericht. Noch immer ist den Ermittlern der Zugriff auf wichtige Kontounterlagen in der Schweiz verwehrt. Schreiber verklagte den kanadischen Fernsehsender CBC wegen eines Berichtes über die Affäre auf 35 Millionen Dollar Schadensersatz, von der kanadischen Regierung verlangt er 35 Millionen wegen eines angeblich missbräuchlichen Rechtshilfeersuchens an die Schweiz, von den deutschen Behörden eine Million, weil sie verbotenerweise seine Verhaftung betrieben hätten. Während seine Anwälte an den juristischen Finessen feilen, kümmert sich Schreiber um das, was er am besten kann: das Geschäftemachen, wenn auch in kleinerem Stil. Er will eine Kochmaschine für Spaghetti vermarkten. Große Auftritte meidet er, jenseits des Atlantiks gibt der Multimillionär sich bescheiden. Seine Kleidung ist so unauffällig wie sein Lebensstil, ungewöhnlich ist allenfalls seine Ausdrucksweise: Seine Verfolger hält er für Idioten, ihre Vorwürfe für einen „Haufen Scheiß“. Schreiber führt eher das verschwiegene Dasein eines Geheimdienstmannes. Der umtriebige Emissär schätzt dunkle Sonnenbrillen und das stille Dinner mit seiner Frau in den edlen Lokalen Torontos. Ohnehin möchte der Geschäftemacher mit der Welt am liebsten gut Freund sein. Selbst für die Journalisten, die ihn mit Mikrofon und Kamera verfolgen, hat er immer wieder ein paar Komplimente parat: „Junge Frau“, rief er vergangene Woche vor dem kanadischen Höheren Gericht in Toronto einer deutschen Fernsehreporterin zu: „Sie sind ja noch charmanter, als ich Sie mir vorgestellt habe.“ P. JÜLICH / RIRO-PRESS N och vor einigen Monaten kann- bayerischen Landesfürsten unverhohten die Bewohner des Hauses len: „Zu viele von denen haben zu viel 102 Bloor Street den älteren vergessen.“ Für seine Sache hat er ein kleines Herren mit dem schütteren Haar nur als Mister Hermann. Der Mann aus Bataillon von Anwälten angeheuert, Suite 511 sprach mit deutschem Akzent, darunter den Kieler Rechtsprofessor grüßte höflich und hatte stets ein Erich Samson, der einst die Familie freundliches Wort für den Portier übrig. Barschel vor dem Kieler UntersuAnsonsten war nicht viel von ihm zu chungsausschuss vertrat, und Edward Greenspan, einen der teuersten und hören und zu sehen. Woher er kam, womit er sein Geld besten Advokaten Kanadas. „Eddie“, verdiente und was er sonst noch so im glaubt Schreiber, „wird mich da rausLande trieb, blieb ihnen verborgen. hauen.“ Im „wichtigsten AuslieferungsverSelbst die Wachmannschaft des feinen Appartement-Hotels im Zentrum To- fahren in der kanadischen Justizgerontos wusste nur, dass sie über den schichte“, wie Greenspan den bevorneuen Gast schweigen sollte: Niemand stehenden Prozess ankündigt, wird es durfte, so die Anweisung, von dessen vor allem um eine grundsätzliche Rechtsfrage gehen: Während in Anwesenheit erfahren. Seit einigen Wochen ist es vorbei mit Deutschland Verdächtige oft monateder Geheimtuerei. Seit der unschein- lang in Untersuchungshaft sitzen und bare Nachbar Ende August kurzzeitig festgenommen wurde, wissen die Mieter der Bloor Street, dass sie den Kaufmann Karlheinz Schreiber im Haus haben, den verschwiegenen Geschäftemacher im Hintergrund einer der größten Affären der deutschen Nachkriegsgeschichte. Immer wieder lagern Kamerateams vor dem Eingang und filmen Schreiber, wie er in einem Mercedes 190 davonbraust oder wie er sich morgens Zeitungen holt. Vermutlich können sie bald aufregendere Szenen liefern. „Eine Riesenshow“ will Schreiber in den nächsten Monaten abziehen, einen Prozess „ohne Beispiel“. Mit aller Macht will er sich der Auslie- Geschäftsmann Schreiber*: „Ein Haufen Scheiß“ ferung in seine bayerische Heimat widersetzen. Dort werfen ihm erst nach Abschluss der Ermittlungen Staatsanwälte in Augsburg schwere Anklage erhoben wird, muss in Kanada Missetaten vor, darunter Steuerhinter- ein Verhafteter unmittelbar angeklagt ziehung in Millionenhöhe und die Be- werden. Da Schreiber in Deutschland stechung von Politikern wie dem eins- kein Verfahren gemäß der kanadischen tigen Staatssekretär im Verteidigungs- Verfassung erwarten könne, dürfe er nicht ausgeliefert werden, argumentiert ministerium Holger Pfahls. Dafür will der Mann mit den Geld- Greenspan. Selbst wenn die kanadischen Gekoffern viele Personen in den Zeugenstand zerren – Politiker, Geschäftsleute, richte letztendlich doch den deutschen Staatsanwälte. Er warnt vor dramatischen Enthüllungen und droht den * Mit Anwalt Edward Greenspan (r.). d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 spielsweise indem man sie der CSU statt der CDU zuordnen konnte –, so gab es aus Sicht Kieps die Chance, dass das Verfahren eingestellt würde. Am 22. März hielt Kiep fest: „Schreiber hat durch Max Strauß von Rechtsanwalt Wunderlich ein Flick-Papier entdeckt, in welchem die Dezember-1978-Spende als F.J.S.-Spende deklariert wurde!“ Strauß-Sohn Max erinnert sich an den Vorgang so: Eines Tages habe ihn Schreiber angerufen und sinngemäß gesagt: „Der Kiep braucht Hilfe.“ Daraufhin habe er sich, so Strauß zum SPIEGEL, an Flicks Anwalt Detlef Wunderlich gewandt und „dort den Türöffner für Schreiber beziehungsweise Kiep gespielt“. Wunderlich habe dann auf Bitten Kieps seine FlickSpendenakten durchgesehen. Das Verfahren gegen den Ex-Schatzmeister wurde 1993 wegen geringer Schuld eingestellt. Kiep sprach immer von einem glatten Freispruch. Das ist nicht ganz so: Er musste eine Geldbuße in Höhe von 100 000 Mark an die Universitäts-Kinderklinik in Köln zahlen. Auch bei der Panzermillion, so scheint es, könnte Kiep wieder der ein- H. HAGEMEYER / TRANSPARENT M. EBNER / MELDEPRESS hilft beim nicht Wissen dann trefflich, dass Kiep der CDU die Zustimmung zur Einsicht in seine Ermittlungsakten verweigerte. Ob diese Strategie hält, hängt auch vom Untersuchungsausschuss ab. Die Grünen wollen den Auftrag möglichst weit fassen – so weit, dass neben dem System Kohl auch das des früheren CSUChefs Franz Josef Strauß mit erörtert werden kann. Die SPD muss fürchten, dass bei der Installierung eines Kiep-Ausschusses die Opposition als Retourkutsche ein Gremium verlangt, das sich mit Wirken und Privatgeschäften des einstigen Kanzleramtsministers Bodo Christdemokraten Kohl, Baumeister: Weiter getrickst Hombach beschäftigt. Auch und Zeitpunkt möglicher Begegnungen mit deshalb, so die ungewöhnlichen GedanSchreiber, der derzeit in Kanada gegen sei- kenspiele einiger Sozialdemokraten, sei ein ne Auslieferung nach Deutschland kämpft weit gefasster Untersuchungsauftrag wün(siehe Kasten) und jegliche Schmiergeld- schenswert. Dann könne der eigene Prozahlung bestreitet, nichts sagen. Auch auf blemfall gleich ohne zusätzliches Aufsehen die Fragen, ob Schreiber während ihrer mit hineingepackt und erledigt werden. Verzweifelt bemühen sich SPD und Amtszeit der Partei abermals Geld gespendet habe und wie sie sich einen No- Grüne inzwischen, hier zu Lande eine tizbucheintrag Schreibers „Jürgen wg. Bau- Staatsanwaltschaft zu finden, die sich des meister 264 Mio.“ unter dem Datum 20. Verkaufs des ostdeutschen Minol-TankJuni 1994 erkläre, wollte die ehemalige stellennetzes und der Raffinerie Leuna an den französischen Mineralölkonzern Elf Schatzmeisterin keine Antwort geben. Das Wechselspiel zwischen Schweigen Aquitaine annimmt. Auch hierbei könnund Zugeben, zwischen Aufklären und Ver- ten, nach Feststellungen der Pariser und schleiern, das wird immer deutlicher, ist Genfer Justiz, Schmiergelder an die CDU wohl nur die erste Stufe eines Notfallplans. geflossen sein. Wieder tauchen die Namen Als Kiep in der Flick-Affäre nach seiner Pfahls und Kiep auf. Doch ohne StrafverVerurteilung zu einer Geldstrafe von 67500 fahren in Deutschland gibt es keine AkMark durch das Düsseldorfer Landgericht ten, auf die die Parlamentarier zugreifen im Mai 1991 in die Revision gehen wollte, dürfen. suchte er das Gespräch mit Kohl. Doch der Der Untersuchungsausschuss könnte Kanzler, erinnert sich Kiep*, riet zur Zu- womöglich auch eine andere Rolle Schreirückhaltung, ein weiterer Prozess schade bers neu beleuchten – er tauchte 1991 mit doch nur der Partei. Auf die Episode an- der Million im Koffer keinesfalls zum eingesprochen, zürnte Kiep noch vor kurzem, zigen Mal als Freund für Kiep auf. Kohl habe damals gar nicht begriffen, dass Am 13. März 1991, zwei Wochen nacheiner wie er um seine Ehre kämpfen müs- dem die Operation „Fuchs“ vom Bundesse. Die Geldstrafe, habe sein Vorsitzender sicherheitsrat unter dem Vorsitz Kohls lakonisch gesagt, „zahlst du doch aus der abgesegnet war, notierte Kiep in seinem Westentasche“. Tagebuch: „Früh nach Düsseldorf. 65. Die alten Geschichten, das will Angela Gerichtstag! Guter Tag für uns … SchreiMerkel mit jedem Auftritt glauben machen, ber kündigt eine Liste der Flick-Spenden sollen in eine ferne, längst vergangene Zeit an, in der die Dezember-Spende 1978 gehören. Gleichzeitig wird alles getan, die für FJS war! Alle bei uns sehr optischeinbar neue CDU um Schäuble abzusi- mistisch!“ Damals ging Kieps Prozess wegen der chern. Der, erklärte sein Sprecher Walter Bajohr, wisse nicht mal, ob die CDU Ende Flick-Affäre in die Endphase. Es hatte sich der achtziger Jahre tatsächlich so ver- herausgestellt, dass eine mögliche Verurschuldet gewesen sei, wie jetzt behauptet teilung nur noch wegen einer Flick-Spenwerde. Also könne er schon gar nicht die de vom 11. Dezember 1978 denkbar war. Frage beantworten, wie die schnelle fi- Diese war die letzte von insgesamt 41 nanzielle Erholung zu erklären sei. Da Spenden, die Kiep laut Anklage für die CDU angeworben hatte, und die einzige, * Walther Leisler Kiep: „Was bleibt ist große Zuverwegen der die Vorwürfe gegen ihn noch sicht. Erfahrungen eines Unabhängigen. Ein politisches nicht verjährt waren. Bestand Aussicht, Tagebuch“. Philo Verlagsgesellschaft Berlin; 448 Seiten; diese Spende „wegzubekommen“ – bei42 Mark. Geldtransporteur Weyrauch „Wissen der Beteiligten sehr abgestuft“ zige CDU-Politiker sein, der nicht ungeschoren davonkommt – zu Gunsten der Partei. CDU-Chef Schäuble jedenfalls will verhindern, aus dem Kiep-Verfahren, „das sich nicht gegen die CDU richtet, eine allgemeine Parteifinanzaffäre machen zu lassen“. Er habe auch nicht vor, „Sonderprüfungen über längst geprüfte und entlastete Parteifinanzen der CDU in den letzten 50 Jahren zu machen“. Martina Hildebrandt, Wolfgang Krach, Paul Lersch, Georg Mascolo 27 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Deutschland NRW Spiel auf Zeit Ministerpräsident Wolfgang Clement droht bei den Wahlen im Mai ein Desaster. Unternehmensfusionen kosten tausende von Arbeitsplätzen, neue Pläne der Energiefirmen gefährden nun auch die Jobs in der Braunkohle. 30 F. ROGNER / NEZTHAUT D er Termin am Freitagabend war eigentlich ganz nach dem Geschmack von Wolfgang Clement. Private Investoren hatten das lange geschlossene Residenz-Kino im krisengeschüttelten Duisburg zu neuem Glanz erweckt, ein Komödientheater feierte die Premiere. Doch der nordrhein-westfälische Regierungschef konnte die Aufführung „Ein Traum von Hochzeit“ nicht gänzlich entspannt genießen. Denn die unternehmerischen Hochzeiten, die ihn derzeit beschäftigen, sind für ihn alles andere als ein Traum. Firmenfusionen, angefangen von Thyssen/Krupp bis hin zum geplanten Zusammengehen der Energieriesen Rheinisch Westfälische Elektrizitätswerks-Gesellschaft (RWE) und Vereinigte Elektrizitätswerke Westfalen (VEW), kosten zehntausende von Arbeitsplätzen – die meisten in Clements Land. Dabei war der Sozialdemokrat vor gut einem Jahr als strahlender Modernisierer angetreten: An den Arbeitsplätzen sollten ihn die Wähler im Mai 2000 messen, sagte er. Tun sie das bei den dann anstehenden Landtagswahlen tatsächlich, sieht es finster aus für Clement. Sein Land liegt heute in der Arbeitslosenstatistik auf dem zweitschlechtesten Platz bei den Flächenländern im Westen, nur noch das Saarland steht schlimmer da. Bei den letzten Kommunalwahlen verlor die SPD elf Oberbürgermeisterposten, darunter die in Hochburgen wie Leverkusen und Düsseldorf. Und es dürfte noch härter kommen, wie sich jetzt abzeichnet: Clements Kampf gegen die Ökosteuer wird die heimische Braunkohle kaum retten können. Der RWE-Tochter Rheinbraun könnte nach internen Überlegungen des Mutterkonzerns schon ab Sommer 2000 ein Kahlschlag drohen. Die gesamte Holding mit heute 1500 Angestellten soll, so ein hochrangiger RWEManager, wahrscheinlich geschlossen werden und im neuen Stromgiganten RWE/VEW aufgehen. Die Braunkohlefirma solle zusätzlich einem drastischen Sparprogramm unterzogen werden, bei dem rund 30 Prozent der Kosten gekappt werden könnten. Die Belegschaft der Rheinbraun ist schon in den letzten sieben Jahren um 3000 auf 1150 Leute geschrumpft. Übrig bleiben dürften, sollte es so kommen, die Kraftwerke und der Kohlehan- Parteifreunde Schröder, Clement*: Kampf um die Ökosteuer del, die beide dann ebenfalls zentral im neuen Energieriesen gesteuert werden sollen. Nach dem Szenario des RWE-Managers könnte die Radikalkur bereits Ende Juni 2000 beginnen. Damit die neue Energiefirma RWE/VEW bei sinkenden Strompreisen wettbewerbsfähig bleibe, sollten im Zuge der Fusion rund 1,3 Milliarden Mark eingespart werden – davon mehrere hundert Millionen Mark an Personalkosten. Tausende von Stellen wären davon betroffen. Offiziell mag die RWE solche Pläne weder bestätigen noch dementieren: „Die Neuordnung der Energiesparte“, so ein Unternehmenssprecher am Freitag vergangener Woche, „ist Gegenstand der aktuellen Verhandlungen.“ Zu den Fusions* Bei der SPD-Regionalkonferenz am vorvergangenen Samstag in Köln. d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 gesprächen mit VEW und deren Ergebnissen aber könne seine Firma einstweilen nicht Stellung nehmen. Doch eine solche Entwicklung deutete sich schon am Donnerstag vergangener Woche bei der RWE-Hauptversammlung in Essen an. RWE-Chef Dietmar Kuhnt kündigte dabei ein drastisches Kostensenkungsprogramm bei RWE und Rheinbraun an. Damit rückt auch das Ende des umstrittenen Braunkohletagebaus Garzweiler II immer näher, um den die SPD einen wahren Glaubenskrieg mit dem grünen Koalitionspartner geführt hat. Nur öffentlich zugeben mag das niemand, zumindest nicht vor der Wahl: weder die SPD noch der CDU-Herausforderer Jürgen Rüttgers, der sich derzeit als Ober-Kumpel und Retter der heimischen Kohle geriert. Dabei war es die letzte Bun- DPA Braunkohle-Abbau (vor dem Kraftwerk Niederaussem): „Virtuelle Unsinnsdiskussion“ Manfred Remmel klar, dass die verteufelte Ökosteuer in Wahrheit keineswegs die entscheidende Rolle spielt beim Niedergang der Braunkohle. Die Vorstände kalkulieren, dass sich der Betrieb ihrer bereits abgeschriebenen Kohlekraftwerke zwar weiterhin rechnet – die scharf gesunkenen Strompreise aber zugesagte NeuInvestitionen unrentabel machen. Außerdem gebe es ein weltweites Überangebot an Strom, und zwar zu Dumpingpreisen. Die Ökosteuer dient RWE nach Überzeugung Demonstrierende Kohle-Kumpel (in Köln): Eier auf Müntefering von Christine Scheel, Vorsitzende des Bundeskonferenz traf. Wütende Kumpel bewar- finanzausschusses, denn auch nur als „vorfen SPD-Landeschef Franz Müntefering geschobenes Argument“, sich von Garzmit Eiern, weil er die Berliner Ökosteuer weiler II endgültig zu verabschieden. „Was verteidigte, andere stimmten „Helmut jetzt passiert“, so die Grünen-Politikerin, Kohl“-Rufe an. „ist eine lange angedachte UnternehRegierungschef Clement versprach da mensstrategie.“ Ihre grüne Bundestagsforsch, zusammen mit CDU-regierten Län- kollegin Kristin Heyne, Mitglied im Koalidern im Bundesrat Einspruch gegen die tionsausschuss: „Garzweiler muss auf dem Ökosteuer einzulegen. Dass dabei auch sei- Strommarkt wettbewerbsfähig sein. Die ne Koalition mit den Grünen in NRW plat- Investition rechnet sich einfach nicht.“ zen könnte, weil der Koalitionsvertrag bei Als „virtuelle Unsinnsdiskussion“ sieht Uneinigkeit Enthaltung im Bundesrat vor- auch ein enger Mitarbeiter von Bundessieht, wollte Clement in seiner ersten Wut finanzminister Hans Eichel den Politstreit über die angeblich unfaire Steuerbefreiriskieren. Auf die grimmigen Ankündigungen folg- ung für hoch wirksame Gaskraftwerke. te aber schon bald der vorsichtige Rückzug. Denn noch gibt es kein einziges dieser Art Ein Koalitionskrach in NRW schien Cle- in Deutschland. Das soll sich allerdings bald ändern. ment doch nicht ratsam – zumal der LanSchon im kommenden Frühjahr will das deshaushalt noch nicht verabschiedet ist. Außerdem wurde Clement nach einem schwedisch-deutsche Stromunternehmen Gespräch mit den RWE-Chefs Kuhnt und Vasa Energy in Lubmin (Mecklenburg-VorD. HOPPE / NETZHAUT desregierung, der Rüttgers als Bildungsminister angehörte, die mit der Liberalisierung der Strommärkte die Grundlagen für jenen Wettbewerb geschaffen hat, dem nun die Arbeitsplätze zum Opfer fallen. Mit einer nur siebenseitigen Energierechtsnovelle öffnete Wirtschaftsminister Günter Rexrodt (FDP) im April vergangenen Jahres den bis dahin streng geregelten Energiemarkt. Andere Länder wie Schweden oder Großbritannien hatten sich bei vergleichbaren Schritten jahrelange Übergangsfristen gegönnt. Auf die Schaffung einer Regulierungsbehörde verzichtete die Kohl-Regierung. Die Regierung Gerhard Schröders behielt trotz heftigen Widerstands in den eigenen Reihen den Kohl-Kurs bei. Wirtschaftsminister Werner Müller, Ex-Kraftwerksmanager der Veba, listet in seiner persönlichen Erfolgsbilanz gern auch die Freigabe der Strompreise auf. Gerüchte um ein Ende des geplanten Braunkohletagebaus Garzweiler II, der 8000 Menschen ihre Heimat nähme und ein Loch von 48 Quadratkilometern entstehen ließe, gibt es schon seit mehr als anderthalb Jahren. Anfang November bekamen sie neue Nahrung, als ein Brandbrief des RWE-Konzerns die eben beschlossene Ökosteuer der Bundesregierung geißelte: Die darin enthaltene Steuerbefreiung für hoch effiziente Gaskraftwerke würde die Kohlekraftwerke benachteiligen. Unter diesen Bedingungen müsse RWE das BraunkohletagebauProjekt Garzweiler II und ein geplantes 20-Milliarden-Mark-Investitionsprogramm zur Kraftwerkserneuerung „auf den Prüfstand stellen“. Damit begann ein wildes Durcheinander: 8000 Bergleute marschierten in Köln auf, wo sich die SPD zu einer Regional- d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 31 Deutschland pommern) mit dem Bau eines solchen Werks beginnen. Vasa-Geschäftsführer Herbert Aly frohlockt, damit werde „eine der letzten Bastionen der alten Monopolwirtschaft fallen“. Mindestens fünf Prozent des deutschen Strommarkts möchte der Konzern mit weiteren klimaschonenden Gaskraftwerken erobern. Längst gehe es nicht mehr darum, ob solche Kraftwerke gebaut würden, so Aly, sondern nur noch wo – „hier oder jenseits der holländischen und polnischen Grenze“. Als Aly am vorvergangenen Mittwoch im Nordostzipfel der Republik seine Sicht der Dinge präsentierte, erntete er Zustimmung auch vom eigens aus Berlin eingeschwebten grünen Umweltminister Jürgen Trittin. Der sagte, für die von Arbeits- und Perspektivlosigkeit geplagte Region biete die „ambitionierte Technik ein Stück Zukunftssicherung“. In NRW geht es jetzt erst mal nur um eine Lösung, die Clement über die Landtagswahl im nächsten Mai helfen kann – ein Spiel auf Zeit. Juristen in der Düsseldorfer Staatskanzlei tüfteln ein Modell aus, GEHEIMDIENSTE Lauscher abgestellt Beigelegt scheint der Streit um die Arbeit amerikanischer Agenten in der Bundesrepublik. Die USA garantieren erstmals, keine deutschen Firmen abzuhören. D ie Reise in das Reich der fremden Macht war nach 65 Kilometern zu Ende. Am 4. November setzte sich um die Mittagszeit im Münchner Vorort Pullach eine Fahrzeugkolonne Richtung Südosten in Bewegung. An der Abfahrt Nummer 100 verließen die schweren Limousinen die Salzburger Autobahn. Minuten später standen der Berliner Geheimdienstkoordinator Ernst Uhrlau, 52, und der Präsident des Bundesnachrichtendienstes (BND), August Hanning, 53, vor der Einfahrt zu einer „Restricted Area“. Nur eine Hand voll Deutsche hatten das Tor zu dem amerikanischen Geheimobjekt bisher passieren dürfen. Hanning und Uhrlau wurden durchgewunken – der Hausherr erwartete sie: Michael Hayden, Chef des US-Lauschimperiums National Security Agency (NSA). Mit 40 000 Mann lässt die NSA im Auftrag ihrer Regierung weltweit die Kommunikation von Feind und Freund überwachen. 27 Milliarden Dollar kostet das Abfangen von Telefonaten, Faxen, Funksprüchen und E-Mails jährlich. Beim Kurort Bad Aibling steht das „große Ohr“ der NSA, eine der leistungsfähigsten Abhöranlagen des amerikanischen Geheimdienstes. Wie Golfbälle liegen die unter Schutzhüllen verborgenen Antennen in der Voralpen-Landschaft. Hayden führte seine Gäste direkt in das Herz der Anlage. Stundenlang streiften die Deutschen mit dem NSA-Gewaltigen durch die Räume, wo ihnen Auswerter stolz die aus dem Äther gefischte Beute präsentierten. Vor allem in Sachen Balkan gilt die Station als perfektes Lauschgerät. das die Steuerbefreiung für Gaskraftwerke rechtsverbindlich auf drei Jahre begrenzen soll, bislang sind im Ökosteuer-Gesetz zehn Jahre vorgesehen. Clement könnte das als Etappensieg für die Kohle verkaufen, wichtig für die Wahlkampfpsychologie. Um diese Verkürzung der Steuerbefreiung soll deshalb jetzt auf Chef-Ebene verhandelt werden. Für diesen Montag ist ein Gespräch der RWE-Spitze mit Clement und Bundeskanzler Schröder in Berlin geplant. Auch RWE setzt auf Zeit. „Die letztliche Entscheidung, ob die Bagger wirklich anfangen, den Tagebau Garzweiler II zu erschließen“, so ein RWE-Manager, „müssen wir erst im Jahr 2005 fällen. Derzeit würde es sich nicht rechnen.“ Das Einverständnis für das Polit-Theater um die Befristung der Steuerbefreiung muss der Bundeskanzler dem grünen Koalitionspartner abringen, der bislang wenig Neigung dazu zeigt. Als Druckmittel gegen die Grünen könnte die Landtagswahl in NRW wirken, die als Test auch für das Bündnis im Bund gilt. Dass sie jetzt sehr leicht verloren gehen kann, weiß Clement. Um die SPD in Düsseldorf zu retten, warnte er seine Genossen bei einem Strategietreffen vor einer Woche in Potsdam schon mal, dürfe er sich beim Reizthema Kohle keine Rücksicht auf Berlin leisten – „sonst wird NRW schwarz“. Frank Dohmen, Gerd Rosenkranz, Barbara Schmid, Andrea Stuppe 32 F. HELLER / ARGUM Die Landtagswahl könnte als Druckmittel gegen die Grünen wirken BND-Präsident Hanning Im eigenen Land am Katzentisch d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 NSA-Lauschstation Bad Aibling: Bisher für die Die neue Offenheit war, anders als früher, mehr als ein Symbol. In der vergangenen Woche gab der amerikanische Geheimdienstchef gegenüber Uhrlau und dem Berliner Kanzleramt die Versicherung ab, Bad Aibling sei und bleibe „weder gegen deutsche Interessen noch gegen deutsches Recht gerichtet“. Damit soll ein Streit beendet werden, der in den vergangenen Jahren zunehmend eskalierte: Die Deutschen hatten es sich energisch verbeten, von den amerikanischen Freunden mit rüden Methoden ausgespäht zu werden. Die Garantie aus Washington, von Bad Aibling aus werde nicht die Telekommunikation deutscher Bürger, schon gar nicht die der deutschen Konzerne belauscht, ist ein Novum in der Geheimdienstbranche. Zwar wird traditionell getrickst und getäuscht, aber mit der NSA-Erklärung, die wie bei der Absprache über die Herausgabe von Stasi-Unterlagen einer Zusage der US-Regierung gleichkommt, würde jeder künftige Fall zum Politikum. Die Amerikaner, so scheint es, haben begriffen, dass sie es zu weit getrieben haben. Seit dem Ende des Kalten Krieges hatten die US-Geheimdienstler immer wieder demonstriert, dass sie die deutsche Souveränität nicht sonderlich scherte. Mal entführten sie in Berlin einen flüchtigen Spion, dann mühten sie sich, einen Referatsleiter des Wirtschaftsministeriums zum Verrat von Regierungsgeheimnissen zu überreden. Erbost protestierte der Vorsitzende des Parlamentarischen Kontrollgremiums Willfried Penner (SPD) in Washington: Der oberste Geheimdienstaufseher des Bundestags monierte bei seinen amerikanischen Kollegen in Senat und Abgeordnetenhaus Verstöße gegen die „Souveränitätsrechte Deutschlands“. F. HELLER / ARGUM Vor allem die Industrie reagierte beunruhigt. Sie fürchtete – Vorsicht, Freund hört mit –, die NSA würde die amerikanische Konkurrenz gezielt mit Informationen über deutsche Geschäftsinterna und Zukunftsprojekte versorgen. Aus dem einst nur in Geheimdienstkreisen debattierten Thema wurde eine schrille öffentliche Debatte, in der den Unschuldsbeteuerungen der Amerikaner immer weniger geglaubt wurde. Das Bundesamt für Verfassungsschutz urteilte vergangenes Jahr in einer Expertise „Wirtschaftsspionage und Konkurrenzausspähung“: Es sei „davon auszugehen, dass der weitaus größte Teil der Wirtschaftsspionage zwischen Industriestaaten mit den Mitteln der elektronischen Aufklärung bewältigt wird“. In den USA hat man jetzt offensichtlich erkannt, dass es an der Zeit ist, den Flurschaden zu beheben. Ein erstes Friedenssignal war das Versprechen, ab dem nächsten Jahr mit der Rückgabe der in den Wendezeiten erbeuteten Stasi-Unterlagen zu beginnen (SPIEGEL 42/1999). Und auch der neue CIA-Chef George Tenet, 46, versicherte Uhrlau in Gesprächen, Wirtschaftsspionage gegen die Deutschen gehöre nicht zu den Aufgaben seines Partnerdienstes. Juristisch sei ihm dies nicht erlaubt. Zudem sei die Weitergabe solcher Interna an US-Konzerne viel zu gefährlich – es könnte ja einer der Wirtschaftsbosse über seine Quellen plaudern. Offenbar spürten die Amerikaner, dass das öffentliche Misstrauen gegen ihre Spionagetätigkeit tief sitzt, immer noch. Bloße Zusagen reichten da nicht mehr – eine demonstrative Erklärung musste her. Uhrlau sieht durch das NSA-Versprechen „die in der Öffentlichkeit entstandene Geheimniskrämerei um Bad Aibling angemessen und eindeutig beendet“. So wird in dem Papier ausdrücklich jedwede „Weitergabe von Informationen an USKonzerne“ ausgeschlossen. Die Garantie, so Uhrlau, sei Ausdruck einer neuen „beiderseitigen strategischen Partnerschaft im Bereich der Nachrichtendienste“. Um auch letzte Zweifel an ihrer Redlichkeit zu beseitigen, waren die Amerikaner schließlich zu einem bisher undenkbaren Zugeständnis bereit: Es ist beabsichtigt, auch den Geheimdienstkontrolleuren des Bundestags die bisher verschlossenen Türen von Bad Aibling zu öffnen. Die Parlamentarier sollen sich demnächst selbst einen Einblick in das geheime Treiben im Big Ear verschaffen können. Deutschen nur Brosamen SIPA PRESS Aber Hortensie I und Hortensie III, so die BNDSynonyme für CIA und NSA, waren nicht zu bremsen. Wie die gleichnamige Blume, ein strauchiges Gewächs, bildeten sie in Deutschland ein starkes Wurzelwerk aus. Besonders fest haben sich die Amerikaner in Bad Aibling eingegraben. Mit Hightech wurden CIA-Chef Tenet zunächst russische Satelliten angezapft, der Telefonverkehr der Führung der früheren Sowjetarmee mitgeschnitten. Die Deutschen saßen dabei im eigenen Land am Katzentisch: Nebenan, in der Mangfall-Kaserne, residiert die so genannte Fernmeldeweitverkehrsstelle, eine Tarneinrichtung des BND. Die Lauschergebnisse von zwei der Antennenanlagen, so ist es Tradition, dürfen von den Deutschen ausgewertet werden. Doch da fallen nur Brosamen ab. Weitere Zugeständnisse lehnte der große Bruder brüsk ab. Die USA wollten den Verbündeten nicht sagen, was denn das große Ohr noch alles mithört. Der Forderung nach einem Verbindungsoffizier mit Zutritt für die ganze Anlage wurde nie entsprochen. Um den wachsenden Ärger zu dämpfen, wurde Bad Aibling 1995 zumindest formal der US-Luftwaffe unterstellt. Doch an den Verhältnissen änderte sich nichts. Als 1994 unter dem damaligen Geheimdienstkoordinator Bernd Schmidbauer eine Gruppe Staatsschützer über das Treiben der Amerikaner beriet, war das Urteil klar: Von Bad Aibling aus, so ihre Überzeugung, werde der ganz große Lauschangriff gegen Deutschland geführt. d e r s p i e g e l Wolfgang Krach, Georg Mascolo 4 7 / 1 9 9 9 33 Deutschland Z WA N G S A R B E I T E R In Gottes Hand Langsam nähert sich das unwürdige Pokerspiel um die Entschädigungen von Arbeitssklaven der Industrie in der Nazi-Zeit seinem Ende. Doch die Forderung der Unternehmen nach Rechtssicherheit bleibt unerfüllbar. Stattdessen gibt es womöglich neue Ansprüche. E DPA s sollte aussehen wie der Anfang vom sprechen, die eigentlich Aufgabe der deut- Für Unmut am Rande sorgt dabei die PraEnde eines monatelangen Streits. In schen Wirtschaft ist: mit dem unwürdigen xis, dass die Jewish Claims Conference für trauter Dreisamkeit betraten der Geschacher um die Entschädigung ehema- die Verteilung von Geldern in den USA üblicherweise 15 Prozent Bearbeitungsgedeutsche Unterhändler Otto Graf Lambs- liger Zwangsarbeiter Schluss zu machen. Bis zum Ende des Jahrhunderts, so der er- bühr berechnet. dorff, der stellvertretende US-FinanzminisWas Kanzler Schröder viel mehr aufregt: ter Stuart Eizenstat und DaimlerChrysler- klärte Wille der beiden, soll eine Einigung Finanzchef Manfred Gentz als Sprecher her. Zu welchem Preis, scheint bereits aus- Während Lambsdorff für die Bundesder „Stiftungsinitiative der deutschen Wirt- gemacht: Wenn die Deutschen ihr Angebot regierung zäh verhandelt, verweigern die schaft“ am vergangenen Mittwoch den um eine weitere Milliarde Mark – je die meisten deutschen Unternehmen die Beteiligung am Fonds – ohne Konferenzsaal des ehemaligen Rücksicht auf den Rufschaden, Bonner Kanzleramts. den die Exportnation DeutschIm Wechselspiel verkündeland nimmt. ten sie das Ergebnis ihrer 18 Ungerührt weisen die KonStunden währenden Verhandzernbosse jede Verantwortung lungen: Das Entschädigungsvon sich. Von über 2000 Firangebot für ehemalige Zwangsmen, die der Washingtoner Oparbeiter werde von sechs auf feranwalt Michael Hausfeld in acht Milliarden Mark erhöht. einer Sklavenhalterliste aufFünf Milliarden davon soll die führt, haben sich der Stiftung Wirtschaft zahlen, drei Milliaröffentlich bislang gerade mal den die Bundesregierung. 17 angeschlossen. Der große Und weil nun endlich die FraRest spielt auf Zeit – oder will ge der Rechtssicherheit für die aus Angst vor Klagen in den betroffenen Unternehmen geUSA nur dann zahlen, wenn klärt sei, behauptete Eizenstat, im Gegenzug Rechtssicherheit könne die ganze Angelegenheit garantiert wird. Die Firmen schon binnen drei Wochen abfordern einen Persilschein, der schließend geklärt werden. sie vor allen laufenden und Kaum waren die Mikrofone drohenden Verfahren schützt. abgeschaltet, bestürmte WirtDoch diese Rechtssicherheit schaftssprecher Gentz stock- Verhandlungspartner Eizenstat, Lambsdorff: Bewegung reinbringen kann niemand garantieren. sauer seine Verhandlungspartner: „Wie kommt ihr dazu, von Rechts- Hälfte von Bund und Industrie – erhöhen, Zwar hat Clinton ein „Statement of intersicherheit zu reden?“ US-Unterhändler Ei- ist ein historischer Handschlag zwischen est“ angeboten. Danach verstießen Zwangsarbeiterklagen gegen das Interesse der USA. zenstat konterte scharf und knapp: „Damit Schröder und Clinton in greifbarer Nähe. Der war den deutschen Unterhändlern In der Praxis ist diese Erklärung wenig wert. ihr Bewegung reinbringt.“ Bis zum Schluss wird weiter gepokert allerdings schon vor dieser Runde signali- „Kein amerikanischer Richter“, so Juristen bei dem Problem, das Bundesregierungen siert worden – für acht Milliarden Mark. im Lambsdorff-Stab, „muss eine Klage abund deutsche Wirtschaft seit dem Welt- Doch Gentz und Lambsdorff warfen sich weisen, nur weil es sein Präsident so kriegsende zu verdrängen suchten: Wie- gegenseitig vor, die Gespräche taktisch wünscht.“ Auch der an den Verhandlungen dergutmachung für die vielen Millionen falsch geführt zu haben. Der Liberale habe beteiligte grüne Bundestagsabgeordnete Menschen, die im Nazi-Regime zur Arbeit nicht grimmig genug auf acht Milliarden Volker Beck sagt: „Vor Gericht und auf hogezwungen wurden – unter teilweise un- beharrt, sagt Gentz. Lambsdorff dagegen her See sind alle in Gottes Hand.“ Schier unerfüllbar scheint zudem das menschlichen Bedingungen und bei – wenn wirft dem Manager vor, der habe einen überhaupt – kärglichem Lohn. Mit jeweils Spielraum von sechs bis zehn Milliarden Ansinnen der Wirtschaft, alle deutschen Firmen mit einem Schlag von jeder NSmindestens 10 000 Mark sollen die Opfer Mark in Aussicht gestellt. Welche Summe auch am Ende heraus- Schuld freikaufen zu wollen. Die Wunschnun entschädigt werden. Die jüngste Bonner Verhandlungsrunde, kommen mag – die Finanzierung ist nach vorstellung: Abgebügelt werden nicht nur als Finale gedacht, hat dabei nicht viel ge- wie vor unklar. Von den zugesagten fünf Prozesse ehemaliger Zwangsarbeiter, sonbracht. Ein Durchbruch wurde offenbar ei- Milliarden Mark der Industrie sind erst 2,6 dern auch die Klagen gegen Versicherunnen Tag später und drei Flugstunden ent- Milliarden gesichert. Doch das Gros zahlt gen, die Policen ihrer jüdischen Kunden fernt vom Bonner Tagungsort erzielt. Am ohnehin der Bund: Da die Fonds-Einlage entweder gar nicht oder aber an die Nazis Rande des OSZE-Gipfels in Istanbul trafen als Betriebsausgabe von der Steuer abge- ausbezahlt hatten. Wie diese Versicherungsopfer entschäsich Bundeskanzler Gerhard Schröder und setzt werden kann, kommt die Regierung US-Präsident Bill Clinton, um auf höchster zusammen mit ihrem direkten Beitrag bis digt werden können, verhandelt derzeit politischer Ebene eine Angelegenheit zu be- jetzt schon für 5,5 Milliarden Mark auf. unter Leitung des ehemaligen US-Außen34 d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 AP Zwangsarbeiter in einer Munitionsfabrik (bei Dachau): Unmenschliche Bedingungen, kärglicher Lohn Zeit unbegründet“ abgewiesen, solange mangels eines Friedensvertrages die Reparationsfragen international zurückgestellt waren. Doch seit der deutschen Einheit hat sich die Rechtslage grundlegend geändert: Der Zwei-plus-VierVertrag, der die Bundesrepublik vollends zum souveränen Staat machte, wirkte für deutsche Gerichte wie ein Friedensvertrag. Erstmals nahmen die Richter die Klagen ehemaliger Zwangsarbeiter ernst. Im Sommer 1996 setzte das Bundesverfassungsge- Zwangsarbeiter-Demonstration*: Die Firmen spielen auf Zeit richt ein für alle Opfer erlösendes Signal. Danach kann jeder der Jetzt streiten die Juristen: Ist der Zweietwa 1,2 Millionen Überlebenden indivi- plus-Vier-Vertrag wirklich ein Friedensduelle Ansprüche nach nationalem Recht vertrag? Gibt es eine Verjährung und geltend machen. Daraufhin sprach das wann? Und: Sind die Verhandlungen um Landgericht Bonn einer polnischen Kläge- den Stiftungsfonds womöglich gar eine Rerin einen Anspruch gegen die Bundesre- parationskonferenz? Auch die Politiker stochern im Nebel – publik in Höhe von 15 000 Mark für 55 Wochen Zwangsarbeit zu. Erstritten hatte die- gerade wegen der ungeklärten Reparases Urteil, das derzeit in höchster Instanz tionsfrage. Denn sollte es sich bei der überprüft wird, als Rechtsbeistand der Bre- Zwangsarbeiterentschädigung tatsächlich um eine Reparationsleistung für Nazimer Politologe Klaus von Münchhausen. Ebenjener Münchhausen steht nun auch Unrecht handeln, könnte die Angelean der Seite des ehemaligen Zwangsarbei- genheit vollends unübersehbare Folgen ters Kobierski im Prozess gegen Porsche. haben. Alle erdenklichen Opfergruppen könnDer streitbare Wissenschaftler und die von ihm beauftragten Rechtsanwälte bezwei- ten sich auf diesen Präzedenzfall berufen feln, dass sich der Autobauer aus der Ver- und Entschädigungen fordern – in einer antwortung stehlen kann, indem er auf die Größenordnung von 50 Milliarden bis weit Verjährung der Ansprüche verweist. Er ar- über 100 Milliarden Mark. Genau mag das gumentiert, dass das Völkerrecht hier eine niemand in der Bundesregierung abschätzen. Dies, sagt ein Vertrauter des KanzVerjährung verhindere. lers, „ist eine Frage, die uns alle überfordern würde“. Christoph Mestmacher, * Gegen die Aktionärsversammlung der IG Farben in ACTION PRESS ministers Lawrence Eagleburger in Washington eine „Internationale Kommission zur Klärung von Versicherungsforderungen von Holocaust-Opfern“. Vor der Eagleburger-Kommission muss sich unter anderem der deutsche Versicherungskonzern Allianz verantworten. Noch im Oktober hatte das Unternehmen versprochen, eine Liste mit 150 000 Namen und Geburtsdaten aus seinen Archiven zu holen. Experten des Holocaust-Memorials Jad Waschem in Israel wollen diese Namen nun mit den Listen jüdischer NaziOpfer vergleichen. Zahlen will die Allianz aber nur einmal: entweder für die Stiftungsinitiative oder für die Forderungen der Eagleburger-Kommission. Versuche, die beiden Entschädigungsgremien zu verzahnen, sind bislang gescheitert. In dieser Woche reist Lambsdorff deshalb erneut nach Washington, um gemeinsam mit Eizenstat und Eagleburger eine Lösung für die Allianz zu finden. Leichtfertig gehen deutsche Unternehmen mit ihrer zögerlichen Haltung das Risiko ein, dass eine Flut von Prozessen über die Nachfolger der Sklavenhalter in Staat und Wirtschaft hereinbricht. Schon in dieser Woche ist der Sportwagenbauer Porsche an der Reihe. Am Mittwoch will das Landgericht Stuttgart über die Klage des Polen Czeslaw Kobierski, 74, entscheiden, der mit einer Versicherungskarte belegen kann, dass er mehr als drei Jahre in Zuffenhausen schuften musste. Das Unternehmen hofft auf eine Art Freispruch zweiter Klasse: Zwar gibt Porsche mittlerweile zu, Rechtsnachfolger der zur NS-Zeit tätigen Firma Porsche KG zu sein. Doch die Ansprüche des ehemaligen Zwangsarbeiters seien inzwischen verjährt. Da könnte sich das Unternehmen täuschen. Zwar haben deutsche Gerichte alle Klagen ehemaliger Zwangsarbeiter als „zur Alexander Neubacher Abwicklung im März. d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 35 Deutschland Vitorino: Auf gar keinen Fall wollen wir in nationale Verfassungen hineinregieren. Die Vorschläge der Kommission, die sie bis 2001 vorlegen wird, werden neue Rechtsnormen und Regelungen für Prozeduren enthalten. Der EU-Rat muss sie dann einstimmig beschließen. In einigen Mitgliedstaaten dauern die Anerkennungsverfahren sechs MoDer EU-Justizkommissar Antonio Vitorino über das nate, in anderen bis zu drei Jahre. Viele neue Brüsseler Asylrecht und seine Asylbewerber suchen sich gezielt die Staaten, wo sie möglichst lange bleiben könAuswirkung auf die deutschen Flüchtlingsregelungen nen, auch wenn das Verfahren aussichtslos ist. Durch SPIEGEL: Der deutsche Innenminister Otto Recht im Asyl, nicht auf europaweit einheitliche VerSchily behauptet, bei Einführung eines Asyl, meint Schily. fahren wollen wir dieses gemeinsamen europäischen Asylsystems Vitorino: In der Genfer Kon„Asylshopping“ stoppen. würde der Grundrechtsanspruch auf poli- vention steht sehr eindeutische Zuflucht in Deutschland nicht zu tig: Wenn ein Leben beSPIEGEL: Dazu brauchen Sie halten sein. Stimmt das? droht ist, hat dieser Mensch aber erst mal einen einheitlichen Katalog von AnerVitorino: Schilys Aussagen kenne ich nicht ein Recht auf Aufnahme in kennungsgründen. Wie solim Einzelnen, deshalb will ich sie auch einem sicheren Land. Unlen diese Kriterien beschafnicht kommentieren. Aber eines gilt es sere künftigen gemeinsafen sein? klar festzustellen: Beim Justiz-Gipfel in men EU-Mindeststandards Tampere haben sich die Regierungschefs erleichtern die Anwendung Vitorino: Bevor die Mitauf ein gemeinschaftliches, aber nicht auf der Konvention. Sie werden gliedsländer nicht meine ein einheitliches Asylrecht geeinigt. Nie- für die gesamte EU verVorschläge erhalten haben, mand soll deshalb sagen: Dies ist ein Dik- bindlich sein. will ich nichts sagen. Dies hat tat. Der Beschluss von Tampere geht ein- SPIEGEL: Wird die deutsche EU-Kommissar Vitorino in jedem Fall hohe politische deutig von gemeinsamen Mindestnormen Rechtsweg-Garantie zu den Priorität für die Union. aus. Doch darüber hinaus können die EU- Mindeststandards gehören? Wird ein Asyl- SPIEGEL: Getrickst wird doch auch zwiStaaten ihr eigenes Asylrecht entwickeln bewerber den Ablehnungsbescheid einer schen den Mitgliedstaaten. Italien zum oder behalten. Behörde dann überall in der EU bei Ge- Beispiel müsste nach den geltenden Bestimmungen die Verfahren für jene AsylSPIEGEL: Es kann also beim deutschen sub- richt anfechten können? jektiven Recht auf Asyl bleiben? Vitorino: Dies hängt vom Ausgang der bewerber, die an seinen Küsten landen, Vitorino: Ja. Die europäischen Staats- und Debatte im Rat und im Europäischen durchführen. Doch Rom leitet die ImmiRegierungschefs haben in Tampere festge- Parlament ab, die die Kommission in granten lieber nach Norden durch – stellt, dass ein europäisches Asylsystem ge- diesem Jahr angestoßen hat. Wir stel- Deutschland hat dann ein Problem. meinsame Mindeststandards für ein ge- len uns ein einfaches Asylverfahren vor, Vitorino: Es gibt auch Stimmen in den Nierechtes Asylverfahren sowie gemeinsame das selbstverständlich durch das Justiz- derlanden, die behaupten, dass AsylbeMindestbedingungen für die Aufnahme system und in einigen Fällen durch die werber aus den Nachbarländern, zum BeiVerfassung der Mitgliedstaaten bestimmt spiel aus Deutschland, kommen. Das zeigt von Asylbewerbern implizieren sollte. doch, dass die bisherigen Instrumente nicht SPIEGEL: Die Genfer Flüchtlingskonven- werden wird. tion, auf die sich der Beschluss von SPIEGEL: Wie sollen die anderen EU-Stan- oder nur sehr schlecht greifen. Abhilfe erwarten wir jetzt vom neuen EuTampere bezieht, regelt jedoch nur das dards aussehen? rodac-System, das die Fingerabdrücke von Asylbewerbern und illegalen Immigranten bei der Einreise oder beim Aufgriff an der Grenze erfasst und in einem Zentralcomputer bei der EU-Kommission speichert. Die Mitgliedstaaten können damit Bewerber, die ihre Papiere weggeworfen haben, identifizieren und die berüchtigten Mehrfachanträge verhindern. Es wird aber ebenso klar ersichtlich, welches Mitgliedsland für die Antragsbearbeitung zuständig ist, und dieses System dient auch den echten, schutzbedürftigen Asylbewerbern. SPIEGEL: Die Daten können doch auch für die Strafverfolgung missbraucht werden. Wer kontrolliert den Big Brother Brüssel? Vitorino: Ein solcher Missbrauch ist nach der Verordnung eindeutig verboten. Gegen Missbrauch in den Mitgliedstaaten gibt es rechtliche Mechanismen.Außerdem sollte sich das Europäische Parlament Kontrollrechte sichern. Die Brüsseler Kommission wird das Eurodac-System zu überwachen haben, aber niemals als Big Brother. E U R O PA A. HERZAU M.-S. UNGER „Nicht hineinregieren“ Warteschlange vor der Hamburger Ausländerbehörde: „Asylshopping stoppen“ 36 d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Interview: Dirk Koch, Sylvia Schreiber Werbeseite Werbeseite Deutschland Zum Konsens verdammt P. GLASER B schlüssen zur Ökosteuerreform eine Eingangssteuer erhoben wird. Das unzweifelhaft größte Privileg beschert der Atombranche die staatliche Großzügigkeit beim Umgang mit den so genannten Entsorgungsrückstellungen. Weil die verstrahlten Reaktoren eines Tages mit Milliardenaufwand wieder abgerissen werden müssen, der Atommüll in einem kostspieligen Endlager vergraben werden muss, sind die Betreiber gesetzlich verpflichtet, einen Teil ihrer Erlöse für die später anfallenden Kosten zurückzulegen. Dieses steuersparend erworbene und frei verfügbare Kapital – etwa bei Firmenaufkäufen sehr nützlich – beläuft sich ausweislich der Unternehmensbilanzen auf über 70 Milliarden Mark, die zusätzlichen Zins- und Aktiengewinne in Höhe von fünf bis zehn Milliarden Mark jährlich noch gar nicht mitgerechnet. Angesichts der verschärften Konkurrenz auf dem liberali- Majewski AP ordnete unter Führung des Sonnenenergiestreiters Hermann Scheer schon mal einen Gesetzentwurf vor, der die Überführung der Entsorgungsmilliarden in einen öffentlich-rechtlichen Fonds vorsieht – wie es in der Schweiz oder Schweden schon lange vorgeschrieben ist. Die Abwicklung der Atommüll-Kriegskasse droht aber vor allem aus Brüssel. Rot-Grün droht den StromDort meldeten die EU-Wettbewerbshüter konzernen mit dem in ihrem jüngsten Bericht zum liberalisierEntzug ihrer wirtschaftlichen ten Strommarkt bereits dringenden „Harmonisierungsbedarf“ in Sachen EntsorPrivilegien, um sie zum gungsrückstellungen an. Die Mittel müssten Atomausstieg zu bewegen. „ausschließlich für Zwecke der Stilllegung eingesetzt werden“. ayernwerk-Chef Otto Majewski gab Genau das ist aber in sich hart. Gegen das von Kanzler Deutschland nicht der Fall. Gerhard Schröder in Auftrag gegeZehn kommunale Stadtwerke bene Atomausstiegsgesetz werde sich die beantragten darum vergangene Branche vor dem BundesverfassungsgeWoche in Brüssel die Eröffnung richt „geschlossen zur Wehr setzen“. eines Verfahrens wegen „verboDoch die Kernkraft-Bosse sind nicht so tener Subventionierung“ des stark, wie sie tun. Die Firmen verfügen Atomstroms. Wollen also die über ungewöhnliche staatliche Privilegien Manager der Stromriesen ihre in Milliardenwert. Die könnten auf dem Rückstellungsmilliarden retten, Spiel stehen, wenn sich die Atomwerker sind sie auf den Beistand der nicht doch in letzter Minute mit Rot-Grün Bundesregierung angewiesen. auf einen friedlichen AusstiegsDie Strombosse sind zum Konkonsens einlassen – ohne Gesens verdammt. setzeszwang, so Schröders HoffVor diesem Hintergrund nung. „Die Energiewirtschaft ist schrumpft der Streit um die auf die Regierung angewiesen“, Restlaufzeiten der 19 noch droht Grünen-Fraktionschef betriebenen Atommeiler zur Rezzo Schlauch. Bei den milVerhandlungsmasse. Die Jurisliardenschweren Vorteilen, deuten aus Justiz- und Innenressort tet er lächelnd an, „muss es ja hatten bislang Zweifel angemelnicht bleiben“. det, ob es überhaupt möglich Die Liste der Privilegien ist sei, die Betriebsgenehmigungen lang. So sind die Atomstromer nachträglich zu befristen, ohne bisher weitgehend von der VerEntschädigungsforderungen in sicherungspflicht gegen mögliMilliardenhöhe auszulösen. Inche Unfallschäden befreit. Gezwischen haben sich die zurade mal 500 Millionen Mark ständigen Staatssekretäre aber müssen sie absichern. Angemesgrundsätzlich geeinigt. sen wäre nach Meinung der Hilfestellung leistet ein GutFachleute des Bundesumweltachten des Frankfurter Verfasministeriums eine Haftungssungsrechtlers Erhard Denningrenze von mindestens fünf ger. Demnach wäre gemäß der Milliarden Mark pro Atom„jetzt gefestigten höchstrichtermeiler. Allein dadurch fielen lichen Rechtsprechung“ eine für Versicherungsprämien pro Betriebsbegrenzung auf „25 bis Kernkraftwerk Mehrkosten von 26 Kalenderjahre“ verfassungsbis zu 30 Millionen Mark jährrechtlich möglich. Im Fall der lich an. Meiler, die diese Frist bereits Praktisch kostenfrei blieb bis- Atomkraftwerk Ohu (Bayern): „Verbotene Subventionierung“ überschritten haben, käme eine lang auch die Sicherung der Atommüllfahrten von den Kraftwerks- sierten Strommarkt sei das Rückstellungs- „angemessene Abwicklungsfrist von circa standorten in die Zwischenlager Ahaus privileg ein entscheidender Wettbewerbs- ein bis drei Jahren“ hinzu. „So geht es“, oder Gorleben durch Polizei und Bundes- vorteil für die Atomstromfabriken, resü- war sich die Staatssekretärsrunde einig. Angesichts dieser Lage ist sich ein Spitgrenzschutz – bis zu 111 Millionen Mark miert eine noch unveröffentlichte Studie pro Transport. Die Kosten wollte der obers- des Wuppertal-Instituts für Klima, Umwelt, zenpolitiker der SPD sicher: „Die AKWte BGS-Chef Otto Schily den Transporteu- Energie. „Die Rückstellungsgewinne sind Betreiber werden einknicken.“ Auch Bayren schon mal in Rechnung stellen. ein wesentlicher Anreiz, überhaupt noch ernwerk-Chef Majewski, der als Präsident Auch vor einer Primärenergiesteuer auf länger Atomkraftwerke zu betreiben“, ur- des Deutschen Atomforums als Hardliner Uran kann sich die Atomwirtschaft nicht si- teilt der Wuppertaler Ökonom Wolfgang gilt, lässt sich neuerdings vorsichtiger ein: „Keine Gesellschaft sollte in einer so elecher fühlen. Eine solche Abgabe würde Irrek. Kernbrennstoff mit Erdgas gleichstellen, Die Fortsetzung der bisherigen Praxis mentaren Frage wie der Energieversorgung für dessen Einsatz in allen laufenden Gas- ist alles andere als rechtssicher. Vergange- auf Dauer in der Kontroverse leben.“ kraftwerken auch nach den jüngsten Be- ne Woche legten 33 SPD-BundestagsabgeGerd Rosenkranz, Harald Schumann AT O M K R A F T 38 d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite M. AUGUST Deutschland Wahlkämpfer Rühe an der Nordseeküste*: „Ich mach das hier echt gerne“ CDU Großer Hebel Der schleswig-holsteinische CDU-Spitzenkandidat Volker Rühe bewundert Helmut Schmidt und verfährt nach der Methode Schröder: An der Partei vorbei zur Spitze. V olker Rühe betritt den KommodoreSaal im Hotel Kieler Yachtclub mit zehnminütiger Verspätung und spürbarem Unbehagen. Unter imposanten Marine-Ölschinken haben sich rund hundert grauhaarige Damen versammelt und mustern den schleswig-holsteinischen CDU-Spitzenkandidaten mit strengem Blick. Er sei halt im Hauptberuf noch in Berlin, sagt Rühe entschuldigend. Wäre ich doch da geblieben, sagt sein Gesicht. Doch der Weg zurück zur Macht im Bund, diese Parole hat CDU-Chef Wolfgang Schäuble ausgegeben, führt über den Erfolg in den Ländern. Also steht Rühe, 57, jetzt hier und erklärt dem Deutschen Frauenring geduldig, warum er das Frauenministerium auflösen will: „Ich will lieber starke Frauen im Kabinett als ein symbolisches Ressort ohne Einfluss.“ Am Ende bekommt er anerkennenden Beifall. * Im August bei der Überfahrt zur Hallig Oland. 42 Die Bundespartei in Berlin ist von ihrem Vize weniger angetan. Rühe bekenne sich zu wenig zur CDU und kritisiere zu viel, lautet der Vorwurf. „Manchmal hat man den Eindruck, der hat mit der CDU gar nichts zu tun“, stichelt ein Fraktionsvize. Den Gescholtenen ficht das nicht an. Er weiß, dass zwischen seinen Ambitionen und seinem Rückhalt in der Partei eine Lücke klafft – und das ist Absicht. Rühe setzt auf die Methode Schröder. Den hat die Partei auch nie geliebt, trotzdem kam sie nicht um ihn herum. „Wer gebraucht wird, wird gerufen“, hat Rühe mal gesagt. Den Vergleich mit dem Kanzler schätzt der CDU-Kandidat allerdings gar nicht. Allenfalls bei oberflächlicher Betrachtung gebe es Ähnlichkeiten im Typus. Intellektuell fühlt Rühe sich dem Niedersachsen überlegen. Lieber vergleicht er sich mit einem anderen Nordlicht, dem früheren Kanzler Helmut Schmidt. In dessen legendärer Freitagsgesellschaft, einem erlesenen Zirkel aus Künstd e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 lern, Politikern und Wissenschaftlern, ist Rühe seit 14 Jahren Mitglied. Vergangene Woche erst stellte er gemeinsam mit Schmidt gesammelte Vorträge des Kreises vor („Erkundungen. Beiträge zum Verständnis unserer Welt“). Wie Schmidt hat Rühe den politischen Schleudersitz auf der Hardthöhe überstanden, wie Schmidt ist er bekennender Protestant und wie Schmidt-„Schnauze“ hat sich Volker, Kampfname „Rüpel“, mit seiner rücksichtslosen Art in seiner Partei viele Feinde gemacht. Vielleicht wird er sogar wie Schmidt scheitern – an der Unwilligkeit, vielleicht auch Unfähigkeit, Truppen zu sammeln. Natürlich bestreitet Rühe, dass er nach einem Sieg in Schleswig-Holstein Parteichef oder Kanzlerkandidat werden will. Das gehört zum Spiel. „Ich mach das hier echt gerne“, versichert der Kandidat, wenn er sich auf den Halligen vor der Westküste über die Probleme der Bauern mit der Magermilchstützung informiert oder beim Tomaten-Abwiegen im weißen Kittel Volksnähe im Spar-Markt demonstriert. Wieso auf einmal so viel Regionalpatriotismus bei einem, den zeitlebens nur die großen Themen interessiert haben? Die Antwort fällt verräterisch aus. Entscheidend, so Rühe, sei für ihn bei allen Themen das strategische Interesse. Sorgsam pflegt er sein DraufgängerImage, zuweilen übertrifft er dabei seine eigene Karikatur. Rühe wandert nicht, er Und in Nordrhein-Westfalen, als mitdespartei. Um sich als liberales Gegengewicht zur mächtigen Südachse um Bayerns gliederstärkstem CDU-Landesverband ein Regierungschef Edmund Stoiber zu posi- gewichtiger innerparteilicher Machtfaktor, tionieren, vertritt Rühe seine Meinung un- führt Rüttgers den Vorsitz: Von ihm darf gehemmt und nicht selten gegen die Partei. Rühe keine Unterstützung erwarten – die Erst setzte er sich gegen Stoiber für ein beiden können sich nicht ausstehen. Vorerst allerdings beschäftigen den großzügigeres Staatsbürgerschaftsrecht ein, dann wies er den nordrhein-westfäli- Wahlkämpfer ganz andere Sorgen. Die schen CDU-Chef Jürgen Rüttgers wegen Spendenaffäre um den ehemaligen CDUdessen Forderung nach einem moderneren Gesellschaftsbild zurecht. Schließlich forderte er zum Missfallen Schäubles eine Große Koalition der Vernunft, zuletzt hielt er seiner Partei Gestrigkeit im Umgang mit der PDS vor und watschte den Rote-Socken-Peter Hintze ab. Die Mehrheit der Bundesspitze ballt beim Gedanken an den Vize immer öfter die Faust in der Tasche: „Er muss aufpassen, dass er nicht überzieht“, sagt ein Mitglied der Altkanzler Schmidt, Kandidat Rühe*: Vorbild mit Niveau Fraktionsführung. Denn der unerwartete Aufschwung sei- Schatzmeister Walther Leisler Kiep gibt ner Partei in den letzten Monaten könnte Grünen und SPD Anlass, nach der Rolle Rühes Karriereplanung gefährden. Sah es des damaligen Generalsekretärs zu fragen. Bisher sind keine Belege dafür aufnoch vor einem Jahr so aus, als würde die Wahl in Schleswig-Holstein die erste er- getaucht, dass Volker Rühe etwas über die folgreiche nach einem jammervollen Op- unsauberen Geschäfte der CDU-Finanzer positionsjahr sein, können sich nach den wusste. Doch in Schleswig-Holstein reaCDU-Erfolgen in Hessen, im Saarland, in giert man seit Uwe Barschels gebrocheBerlin und Brandenburg viele mit dem nem Ehrenwort auf Polit-Affären besonders empfindlich. Schon wird in Berlin die Glanz des Siegers schmücken. Stoiber ist zwar nach der LWS-Affäre Sorge laut, die „Kiep-Sache“ könnte den angeschlagen, dafür scheint CDU-Chef sicher geglaubten Sieg in Kiel noch torpeSchäuble unerwartet klar vorn zu liegen. dieren. Dann hätte Volker Rühe zu hoch geDerzeit, so die Einschätzung in Fraktion und Partei, laufe in der Frage der Kanzler- pokert. Wenn er in Schleswig-Holstein kandidatur alles auf den Badener hinaus. verliert, das weiß der erfahrene Politiker genau, „dann bin ich weg aus der ersten *Am vergangenen Mittwoch in Hamburg. Reihe“. Tina Hildebrandt K.-B. KARWASZ macht Powerwalking. Er lacht nicht, er bellt wie J. R. Ewing. Er schwärmt für Hemingway-Typen und sagt Sätze wie: „Die brauchen mich in Schleswig-Holstein. Ich hab einen ziemlich großen Hebel.“ Er kann aber auch anders – wenn er will. Dann redet der ehemalige Gymnasiallehrer für Englisch über William Faulkner, lobt die niveauvolle Atmosphäre des schmidtschen Debattierclubs und beichtet, dass er seinem Kater Nudel ein Glöckchen um den Hals gebunden hat, wegen der Vögel. So bewusst wie Rühe seinen massigen Leib zur Einschüchterung nutzt, führt er auch die „Raue Schale, weicher Kern“Nummer vor. Und er beherrscht, wie Schröder, das Spiel mit der Medienmacht. Die „Panzerbilder“ aus der Zeit als Verteidigungsminister müssten nun alle weg, ordnete Rühe nach seiner Nominierung für Kiel an: „Jetzt brauchen wir was anderes.“ Die neuen Bilder zeigen den Herausforderer in Kapitäns-Pose mit Fernglas und Weitblick. Um Ministerpräsidentin Heide Simonis (SPD) zu besiegen, hat sich Rühe sogar eine Charmeoffensive verordnet und will damit Wählerinnen gewinnen. In einer geheimen Sitzung hatten die Frauenbeauftragten Schleswig-Holsteins eine Kampagne gegen Rühe und für Simonis erwogen. Sogar die passenden Slogans waren schon entworfen: „Lasst uns in Rühe“ oder ,„Frauen wählen Sie(monis)“. Das traf den Mann: „Ich finde, so sollten wir nicht miteinander umgehen.“ Das vorübergehend erzartete Raubein gibt lieber Herzensware zum Besten wie seine Jugendliebe mit der TV-Ansagerin Dagmar Berghoff („Ja, wir haben uns mal geliebt“). In dieser Woche lassen es die einstigen Turteltauben in der „Johannes B. Kerner-Show“ menscheln. Eine Strategie der kalkulierten Zumutung verfolgt Rühe gegenüber der Bun- Deutschland D I P L O M AT E N Imperiale Nostalgie Mit Starrsinn und rüdem Ton strapaziert US-Botschafter John Kornblum das deutsch-amerikanische Verhältnis. Schon wird darüber spekuliert, wann er Berlin verlässt. AFP / DPA J Karnevalist Kornblum* „Here we go, Mr. President“ seinen GI“, erinnert sich Bölling. Damals patzte der für seine vornehme Zurückhaltung bekannte Bölling zurück: „Passen Sie mal auf, dass Sie in Berlin nicht noch unbeliebter werden.“ In München fertigte Kornblum Uwe Zimmer ab, den Chefredakteur der Boulevardzeitung „AZ“. „Solche Blätter lese ich nicht“, beschied er Zimmer kühl auf einem Empfang im amerikanischen Konsulat – und wandte sich kurzerhand ab. „Ich DPA ohn Kornblum hat seit gut zwei Jahren seinen Traumjob. Als amerikanischer Botschafter „die US-Fahne wieder nach Berlin zu bringen, das ist doch was Besonderes“, schwärmte Kornblum, dessen Großeltern aus Ostpreußen nach Amerika ausgewandert waren, noch im August. Doch das scheint lange her. Seit Monaten wirkt der Karrierediplomat mit der eindrucksvollen Statur und dem Silberhaar vergrätzt. Wenn er heute überhaupt noch über die Deutschen spricht, dann meistens nicht besonders nett. Und kriegt er mal einen von ihnen direkt zu fassen, endet das schnell im Streit. Einer Runde amerikanischer Journalisten, die auf Tour in Berlin waren, teilte er unlängst düster mit, die undankbaren Deutschen verfielen „allmählich in Großmachtgehabe“. Genervt beschwerte er sich Ende Oktober in der „New York Times“ über „diese ständigen Schmähreden in der Presse über die arroganten Amerikaner“. Einen der so gescholtenen deutschen Journalisten knöpfte sich Kornblum persönlich vor: „Sie sind nicht souverän“, schnauzte der Botschafter den ehemaligen deutschen Regierungssprecher Klaus Bölling (SPD) lautstark in einem feinen Berliner Lokal an – „wie ein Army-Sergeant stand da wie geohrfeigt“, erinnert sich Zimmer. Dabei kennen sich die beiden aus gemeinsamen Washingtoner Tagen. Am 9. November drängte Kornblum gar den deutschen Parlamentspräsidenten ins Abseits. Kaum hatte Wolfgang Thierse (SPD) den amerikanischen Ex-Präsidenten George Bush am Osteingang zum Reichstag begrüßt, schob sich der schwergewichtige Botschafter dazwischen, wandte Thierse den Rücken zu und geleitete Bush zur Mauerfall-Feierstunde ins Parlament: „Here we go, Mr. President.“ Der US-Botschafter verliert häufiger die Contenance, seit er sich in einem Konflikt verheddert hat, den er nicht gewinnen kann – selbst wenn er sich in der Sache durchsetzen sollte. Unnachgiebig besteht Kornblum darauf, dass rund um den geplanten 150-Millionen-Dollar-Neubau der amerikanischen Botschaft am Pariser Platz direkt neben dem Brandenburger Tor ein Sicherheitsabstand von 30 Metern zum Straßenrand eingehalten werden muss (SPIEGEL 5/1999). Dafür müssten eigens zwei wichtige Verkehrsadern Berlins um diverse Meter „verschwenkt“ werden. Niemand spricht den USA ihr Sicherheitsbedürfnis ab, auch ist der exklusive Ort, direkt neben dem Symbol der deutschen Einheit, allgemein akzeptiert. Gegen den gewaltigen 30-MeterKordon im Herzen Berlins gibt es allerdings berechtigte Einwände. Kein Kompromissangebot konnte Kornblum bisher zufrieden stellen. Dabei war eine Delegation der Berliner Senatsverwaltung von einer Dienstreise nach Washington mit der Nachricht zurückgekommen, im State Department könne man sich durchaus vorstellen, am Pariser Platz eine symbolische Repräsentanz zu errichten, während der eigentliche Botschaftsbetrieb – mit 500 Mitarbeitern – in einem separaten Gebäude im traditionellen Diplomatenviertel am südlichen Tiergarten anzusiedeln sei. Offensichtlich hatte Kornblum mit öffentlichem und gar offiziellem Widerspruch gegen seinen bombastischen Plan nicht gerechnet. Außer sich geriet der Diplomat, als ihn Berlins Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) Anfang Oktober in einer kleinen Ansprache zur Eröffnung der 1000. deutschen McDonald’s-Filiale am Treptower Park etwas flapsig, aber sichtlich um Entspannung bemüht, fragte, ob Diplomat Kornblum*: Überlebender einer untergegangenen Epoche 44 d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 * Oben: bei der Verleihung des Karnevalsordens „Wider den tierischen Ernst“ am 30. Januar; unten: vor der vorläufigen US-Botschaft in Berlin (1998). Werbeseite Werbeseite man „denn am Pariser Platz, an dem wir Genüsslich wurde in Berlin registriert, die amerikanische Botschaft bauen, auch dass Peter Robinson, Redenschreiber des noch mit McDonald’s was machen“ könne? Präsidenten Ronald Reagan, enthüllte, er Kornblum, Träger des Aachener Karne- selbst habe Reagan den Satz „Mr. Gorbavalsordens „Wider den tierischen Ernst“, tschow, reißen Sie diese Mauer nieder“ geverstand diesmal keinen Spaß. „Diesen Ort gen den ausdrücklichen Wunsch Kornblums haben wir 40 Jahre lang verteidigt“, ent- ins Manuskript geschrieben. Bis dahin hatfuhr es dem beleidigten Diplomaten. te sich Kornblum stets damit gebrüstet, UrWenig später, bei der Einweihung des heber des berühmten Satzes zu sein. „Transatlantic Center“, belehrte er seine Dass aus einer Lokalposse um ein BauZuhörer, das wiedervereinigte Deutsch- projekt längst ein Konflikt von hoher Symland brauche noch einige Zeit, bis es auf dem internationalen Parkett „den richtigen Ton“ treffe. Genau dieses Defizit jedoch bemängeln viele, die häufig mit Kornblum zu tun haben oder ihn noch aus der Zeit kennen, als er – von 1985 bis 1987 – stellvertretender US-Kommandant von Berlin war. „Der verwechselt sich mit dem Vizekönig von Indien“, meint Bölling. Kornblum sei prototypisch für die amerikanische „arrogance of power“. Selbst amerikanischen Landsleuten fehlt Ver- Botschafter Kornblum*: „Sie sind nicht souverän“ ständnis für die Halsstarrigkeit ihres Repräsentanten. Der ame- bolkraft wurde, hat viel damit zu tun, dass rikanische Soziologieprofessor Norman Kornblum die Kritik an seinem BotBirnbaum, der Kornblum lange kennt, hält schaftsplan und vor allem an seinem Stil offür „möglich“, dass „John unter einer fenbar als deutsche Undankbarkeit und Krankheit leidet“, die nur schwer zu hei- Ausdruck des latenten Anti-Amerikanislen sei: „Sie heißt ‚imperiale Nostalgie‘ mus missversteht. und stammt aus dem letzten Jahrhundert.“ Ob Berlin nicht bereit sei, die amerikaSeinen etwas groben diplomatischen Schliff nische Botschaft ausreichend zu schützen, bekam der Botschafter im Kalten Krieg. fragte er unlängst in kleiner Runde, ob„In mancher Hinsicht ist Kornblum der wohl die USA Berlin jahrzehntelang geÜberlebende einer untergegangenen Epo- schützt hätten. Berlin müsse erst lernen, che“, fürchtet Birnbaum. dass es in seiner neuen Rolle als Hauptstadt Nachdem Kornblum das deutsch-ame- auch Pflichten übernehmen müsse, berikanische Verhältnis derart hat abkühlen lehrte er deutsche Zuhörer. lassen, gibt es in Berlin quer durch die Derartige Maßregelungsversuche emppolitischen Lager immer weniger Hem- finden lokale Politiker zunehmend als Bemungen, Geschichten über John auszu- lastung. Im Abgeordnetenhaus kursierte graben. In seiner Zeit als stellvertretender vergangene Woche schon das Gerücht, Stadtkommandant von Berlin etwa habe Kornblum sei wegen seiner Sturheit im Washingtoner State Department längst „under dispute“. Im US-Außenministerium „Kornblum verwechselt hält man den Botschafter jedenfalls „eher sich mit dem für einen Teil des Problems als die LöVizekönig von Indien“ sung“. Auch Kornblums Sprecher Paul Brazell weiß, dass „viele Abgeordnete hoffen, Kornblum den komplizierten Besatzungs- dass Kornblums Amtszeit mit Clintons status gelegentlich als Instrument ver- Amtszeit endet“. Das dementiert derzeit standen, um die Deutschen in Schach zu niemand. halten, erinnert sich ein ehemaliger SeKornblums Landsmann Birnbaum jenator. Kurz nach dem Fall der Mauer habe doch sieht erheblichen Anteil für den Koner seinem russischen Kollegen bedeutet, flikt auch auf deutscher Seite. Wenn ein dass die Kontrolle der Deutschen doch amerikanischer Diplomat glaube, sich nicht bisher gut funktioniert habe, berichtet ein an die klassischen Tugenden der vornehmen Zurückhaltung und des Einfühlungsanderer. vermögens halten zu müssen, dann sei das auch „die Konsequenz aus zwei Genera* Mit Außenminister Joschka Fischer und Kanzler Gertionen deutscher Unterwürfigkeit – behard Schröder am 23. November 1998 bei einem Empsonders in West-Berlin“. Jürgen Hogrefe fang für das diplomatische Korps in Bonn. 46 d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 AP Deutschland Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Deutschland PRESSEFREIHEIT Die Laus in der Redaktion Unter dem Vorwand des Datenschutzes will Bundesinnenminister Otto Schily das Redaktionsgeheimnis knacken. Politiker wie Bürger sollen fast ungehinderten Einblick in Material bekommen, das Journalisten über sie sammeln und archivieren. 50 M. DARCHINGER M it dem Datenschutz haben Journalisten traditionell viel mehr Erfahrung, als der Obrigkeit lieb sein kann. Die meisten haben bewährte Verstecke, vertrauliche Dossiers gegen den Zugriff von oben zu schützen. Die geheimen Akten über das misslungene Nato-Manöver „Fallex“ etwa waren im Küchenschrank des Redaktionssekretariats abgelegt, getarnt mit einem karierten Handtuch, so clever nun auch wieder nicht. Die Polizeikräfte, die das Pressehaus durchsuchten, fanden den vertraulichen Datensatz schnell, nahmen sogar das Küchentuch mit: Das war die SPIEGELAffäre von 1962. Seitdem sind die Verstecke besser und die Dateien kleiner geworden. Die Diskette etwa, die 1997 ein Informant mit den Daten von mehreren hundert Steuerflüchtigen und deren Verbindungen zu liechtensteinischen Treuhändern in der Redaktion ablieferte, wurde Gegenstand eines SPIEGEL-Titels (51/1997) und ist nun so einfach nicht mehr aufzufinden. Doch ausgerechnet unter der freiheitlichen Flagge des Datenschutzes ist jetzt Otto Schilys Innenministerium dabei, Redaktionsgeheimnisse besser durchschaubar zu machen. Jeder Politiker und jeder Bürger, der sich betroffen fühlt, soll künftig erfahren können, was über ihn bei Zeitungen, Sendern und in Pressearchiven so recherchiert, geschrieben und gesammelt wird. Nach einem Referenten-Entwurf aus dem Berliner Innenministerium muss die Presse künftig Rechenschaft über ihre Informationen geben. Und damit da keine Dossiers im Küchenschrank verschwinden, soll ein Datenschutzbeauftragter in den Redaktionen für Sicherheit und Ordnung sorgen. Der Entwurf soll schon in den nächsten Wochen vom Kabinett beschlossen werden: Nach der gescheiterten Einführung des Lauschangriffs auf Redaktionsstuben Schilys zweiter Versuch, der Presse hinterherspionieren zu lassen. Doch diesmal stößt der Innenminister auf Widerstand selbst bei den Datenschützern, auf deren Ziele er sich beruft. „Es kann nicht angehen“, warnt Joachim Jacob, der Bundesdatenschutzbeauftragte, seinen Minister, unter Vorwänden „die Presse an die Leine zu legen“. Mit dem Redaktions-Datenschutzbeauftragten, so heißt es inoffiziell in Jacobs Innenminister Schily, Datensammlung im SPIEGEL-Archiv, Titel zur SPIEGEL-Affäre (45/1962): Behörde, wolle das SPD-Ministerium offenbar den Redaktionen „eine Laus in den Pelz“ setzen. Wanze oder Laus: Der Deutsche Presserat sieht im Entwurf den Plan einer „verfassungswidrigen Zensur“. Schily kontert solche Vorwürfe mit Verweis auf Brüssel. Die europäische Datenschutzrichtlinie von 1995 begründe „die Notwendigkeit, den Kreis der auf die Medien anzuwendenden Vorschriften“ des Datenschutzes „zu erweitern“. Die „bisherige Rechtslage“, nach der die Medien weitgehend verschont worden waren, lasse sich, leider, nicht aufrechterhalten. Die alte Bonner christlich-liberale Regierung hatte lange Jahre gezögert, die EU-Richtlinie mit einer Novelle des Datenschutzgesetzes umzusetzen, weil die Brüsseler Vorgaben etwas weit gehen. Datenschutz dient danach nicht mehr einfach dem „informationellen Selbstbestimmungsrecht“, das nach dem Volkszählungsurteil des Verfassungsgerichts den Bürger vor staatlicher Ausforschung schützen soll. Die Brüsseler Richtlinie behandelt Datenschutz als ein Problem, das jeder mit jedem hat. Auf den verantwortungsvollen Umgang mit Personeninformationen sold e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 len nun auch Privatunternehmen verpflichtet werden – etwa die Banken oder die Versicherungen. Für die Presse sieht die Richtlinie aber Ausnahmen vor. Denn der Umgang der Journalisten mit Namen, Daten und Fakten ist nur schwer vergleichbar mit der Datenverarbeitung bei der AOK. Das Sammeln, Sortieren und Verbreiten von Informationen über Leute ist nicht eine bedenkliche Begleiterscheinung der Medienarbeit, sondern deren – zwar lästige, aber verfassungsmäßig geschützte – Hauptaufgabe. Die Grundsätze der Datenerhebung – journalistisch: Recherche – passen denn auch nicht so recht zum Berufsbild des braven Redakteurs: möglichst wenig aufzuschreiben (Grundsatz der Datenvermeidung), vorher jedermann um Erlaubnis zu fragen (Pflicht zur Erhebung beim Betroffenen) und das einmal Notierte möglichst bald wieder wegzuwerfen (Einhaltung von Löschungsfristen). „Nur sehr vorsichtig“, sagt der Frankfurter Datenschutzexperte und Rechtsprofessor Spiros Simitis, der die EU-Kommission bei der Schöpfung der Richtlinie beriet, dürfe die Brüsseler Regelung auf die nächst droht. Ob Walther Leisler Kiep, ob Bodo Hombach oder vielleicht eines Tages Otto Schily: Wer auch immer zum Gegenstand wiederholter Affären-Berichterstattung wird, bekommt Zugriff auf die Schreibtische der verantwortlichen Redakteure. Die Versuchung, sich mit Hilfe einer großzügigen Auslegung der neuen Vorschriften über die SPIEGEL-Dokumentation herzumachen, ist groß: Knapp 600 000 Personen-Dossiers lagern im Glas-Pavillon an der Brandstwiete, und ein paar hundert R. FROMMANN Medien angewendet werden. Und geradezu feinfühlig waren denn auch die Entwürfe der Kohl-Koalition. Nur winzige Retuschen an dem traditionellen bundesdeutschen „Presseprivileg“ im Datenschutzgesetz sah der Entwurf vor, den Schily vorfand, als er die Macht im Hause seines CDU-Vorgängers Manfred Kanther übernahm. Doch dann entstand – aus der Feder derselben Fachkräfte, die zuvor in Kanthers Auftrag formuliert hatten – ein Horrortext, Presse an die Leine der selbst unter Beratern des Ministers Kopfschütteln auslöste. Der Paragraf 41 des Reformentwurfs sieht vor, dass „jemand“, der durch eine Veröffentlichung betroffen ist, „Auskunft über die der Berichterstattung zugrunde liegenden, zu seiner Person gespeicherten Daten“ und gegebenenfalls „Berichtigung unrichtiger Daten“ verlangen kann. Journalisten können der Forderung, ihre Recherche-Unterlagen herauszurücken, nur entgehen, wenn sie damit ihren Informanten verraten müssten. Vorbild für diese Vorschrift sind ähnliche Regelungen in den Rundfunk-Gesetzen der Länder, die bislang aber kaum jemand kannte. Denn die meisten dieser LänderRegelungen enthalten zusätzlich eine sehr weite Ausnahmeklausel. Danach müssen Unterlagen nicht vorgelegt werden, wenn „durch die Mitteilung die journalistische Aufgabe durch Ausforschung des Informationsbestandes beeinträchtigt würde“. Ausforschung ist es, was der Journaille nach dem Schily-Entwurf, der eine solch weitherzige Ausnahme nicht vorsieht, dem- davon sind es, die Woche für Woche der Berichterstattung „zu Grunde liegen“. Allein für diesen Bericht sind es mehr als zehn. Alle Redaktionen und Archive werden zudem nach Schilys Entwurf unter die Aufsicht eines Datenschutzbeauftragten gestellt. Den dürfen sich die Medienunternehmen zwar selber aussuchen, er arbeitet aber völlig unabhängig vom Chefredakteur und untersteht allein der Geschäftsführung. Ein Problem der inneren Pressefreiheit: Der Unternehmensvorstand, nicht die Chefredaktion, bekommt so einen Kommissar, der sich drohend vor jedem Reporter aufbauen kann: „Was machen Sie da eigentlich? Sind Sie überhaupt befugt, Daten über den deutschen Innenminister auf Ihrem Notizblock aufzuzeichnen?“ „Raus!“ Dann wendet sich der RedaktionsBlockwart an die „Aufsichtsbehörde“, eine Art Landesschrifttumskammer. Wie diese Behörde gebildet wird und was sie „in Zweifelsfällen“ (Entwurfstext) mit unbotd e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 mäßigen Redakteuren anstellen darf, ist ungeklärt. Den Gesetzesautoren ist (noch) nichts Geeignetes eingefallen. Nur einem Beschwerdebrief des Deutschen Presserats, der die wirre Regelung als Erster monierte, ist es zu verdanken, dass Schily persönlich und schriftlich versprach, noch Schlimmeres zurückzunehmen: Die Befugnis des Datenschutzbeauftragten, „jedermann“ ohne weiteres auf Anfrage über die Arbeit der Redaktion Auskunft zu geben, wurde schnell wieder aus dem Entwurfstext getilgt. Doch Presserats-Geschäftsführer Lutz Tillmanns ist nur wenig besänftigt: „Dem Pressewesen allgemein und dem Redaktionsalltag in der Presse im Speziellen ist die Beaufsichtigung durch einen internen Redaktions-Datenschutzbeauftragten fremd.“ Der Frankfurter Datenschützer Simitis ist da weniger fein: Die Übernahme der EU-Vorgaben sei „überhaupt nicht durchdacht“. Nichts von alledem, was Schilys Experten sich da ausgedacht haben, lasse sich aus der EU-Richtlinie folgern. Im Eifer, es besonders clever zu machen, versuchten Schilys Reformer, den vorhersehbaren Ärger mit den Medien auf die Länder abzuwälzen. Die schlimmen Stellen im Reformentwurf sind als Rahmenregelung gefasst: ein zwingender Auftrag an die Bundesländer, in ihren Landespressegesetzen gleich lautende Vorschriften zu erlassen. Doch der Trick mit dem Bundesrahmen für den Länder-Ärger bringt weiteres Unheil. Mit der Rahmenregelung für die Gesetzgebung der Länder ist nämlich zugleich die Klausel im Datenschutzrecht gestrichen, in der die Medien weitgehend von bundesrechtlichen Restriktionen verschont wurden. Zumindest ein übereifriger Datenschutzbeauftragter kann, wenn wahr wird, was Schily plant, das Gesetz beim Wort nehmen und eine Reihe weiterer Schikanen an den Redakteuren ausprobieren. Recherchen stehen dann unter Generalvorbehalt datenschutzrechtlicher Genehmigung. „Bedenken und Anregungen“ zu dem Gesetz, beschied Schily Kritiker ungerührt, könnten ja noch im Parlament geltend gemacht werde. Doch nur leise regt sich Widerstand bei den Parlamentariern. Der SPD-Datenexperte Jörg Tauss verspricht, „über den Entwurf noch einmal zu reden“. Vielleicht macht wenigstens der grüne Medien-Mann Cem Özdemir ein paar Schwierigkeiten: „In den Redaktionen“, hat er erklärt, „hat niemand außer den Redakteuren etwas zu suchen.“ Einerseits hat Özdemir nun das Versprechen des deutschen Innenministers, „selbstverständlich“ werde mit dem neuen Gesetz die „Pressefreiheit nicht beeinträchtigt“. Andererseits ist da, ungelöscht, in den Dateien der Zeitungsleute, was Schily bemerkte, als es um den Lauschangriff ging: „Für Journalisten steht nichts im Grundgesetz.“ Thomas Darnstädt 51 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite C. SCHROTH Traditions-Café „Kranzler“ am Kurfürstendamm, Bürozentrum Friedrichstraße: „Die ehemals saturierten Westler befinden sich in der Schockstarre, H AU P T S TA D T Zur Spekulation freigegeben In Berlin drängt, wer auf sich hält, nach Osten. Der Kurfürstendamm hingegen, jahrzehntelang ein Spiegelbild der Gesellschaft des alten West-Berlin, verliert seinen Charme. Auf der Edelmeile beginnt der Kampf um das schnelle Geld. D er rosafarbene Velours auf den Bänken des Berliner Abendrestaurants „Kopenhagen“ ist ein wenig blass, Lampenschirme verströmen mildes Licht. Hier, im Wohnzimmer der Stars der alten Bundesrepublik, feiern Diven und Machtmenschen den Herbst ihrer Karrieren. Ex-Bundespräsident Walter Scheel zählt zu den Stammgästen und Hans-Dietrich Genscher, wenn er in der Stadt ist. Die Kessler-Zwillinge, Inge Meysel und Marianne Hoppe, eine der allerletzten UfaGrößen, schreiten das Lokal am Kurfürstendamm nachts wie eine Bühne ab. „Es gibt keine Gnade“, sagt Restaurantbesitzer Peter Hilpold, 54. Mitte Dezember ist Schluss mit dem „Kopenhagen“ – nach 48 Jahren. Hilpold, seit 30 Jahren dabei, kann die geforderte Miete nicht mehr bezahlen. Ab Januar 2000 wird hier ein Mercedes-Filialist in den umgebauten Räumen Luxuskarossen präsentieren. Zwei Ecken weiter den Ku’damm hinauf wird im März 2000 das weltberühmte Café „Kranzler“ schließen. Nichts symbolisiert 56 alte Eleganz und neue Morbidität der 53 Meter breiten und 3459 Meter langen Edelmeile mehr als die Geschichte des Lokals mit der runden, rot-weißen Markise. Ins „Kranzler“ auf dem ehemals größten Kaffeehaus-Boulevard Europas zu gehen war stets ein Ereignis – in den Roaring Twenties, als es Café „Schilling“ hieß, wie zu Hitlers Zeiten, als die Serviererinnen braune Taftkleider mit großen weißen Schürzen trugen. Ins „Kranzler“ zog es Intellektuelle und Stars der Vorkriegszeit ebenso selbstverständlich wie Nazi-Größen oder in den aufstrebenden Fünfzigern die Wohlstandsbürger. Zuletzt lebte das Kaffeehaus, angestaubt und tantig, mehr von seinem legendären Ruf, der Treffpunkt Berlins zu sein. Rundherum haben jetzt Coffee-Shops und eine Yuppie-Suppen-Bar eröffnet, nach New Yorker Vorbild: kleine Räume, schneller Umsatz. Das Großcafé „Kranzler“, zweigeschossig, 350 Sitzplätze, 80 Angestellte, rechnet sich dagegen nicht mehr. Auch an einem Neuanfang im neuen „Vicd e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 toria-Areal“, einem monströsen Palast aus Glas, Stahl und Beton am Kranzler-Eck, ist der Besitzer, eine Schweizer Holding, nicht interessiert. „Vorbei“, sagt „Kranzler“-Geschäftsführer Dieter Eßling, 50, der nun einen neuen Job sucht, „wir sind ein Fossil.“ Über Jahrzehnte lebte die Berliner Gesellschaft in einer symbiotischen Beziehung mit der alten Prachtstraße. Wer wissen wollte, wie die Stadt von Marlene Dietrich, Bert Brecht, Ernst Reuter oder Willy Brandt tickte, erfuhr es bei einem Bummel über den Ku’damm. Und so wie in der Gesellschaft das Altmodische, das Charmante verschwindet, so verliert nun auch das steinerne Spiegelbild seine Faszination. Das schnelle Geld wird wie schleichendes Gift in den Boulevard gepumpt, der damit zur Spekulation freigegeben wird. Wo einst die Bohème zu Hause war, tummeln sich Glücksritter und Totengräber. „Die Ära des alten West-Berlin ist zu Ende“, sagt der Inhaber des Designer-Modegeschäfts am Kurfürstendamm, David F. OSSENBRINK Deutschland sie wissen nicht mehr, wie es geht“ Kramberg, 53. Die Messingrollos seines Ladens hat er schon vor ein paar Wochen heruntergelassen. „Kramberg“ war Kult. Als er 1978 eröffnete, eine weiße Halle mit exklusiven Rundbögen an der Decke, brachte er den ausgeflippten Schick der Designerwelt ins eingeschlossene WestBerlin: Gucci, Versace, Yamamoto. Jetzt sind die großen Labels mit ihren Glitzerläden selbst gekommen – Jil Sander, Prada, Hermès –, zeigen Flagge in der Hauptstadt. Seit die neue Welt nach Berlin aufbrach, stirbt die alte „Insel im Strom“. So sehen es die eingefleischten Liebhaber der Stadt, die vielfach auch originale West-Berliner sind. Dabei vergessen sie, dass die NeuMetropole in den letzten Jahren des Kalten Kriegs in eine Art Koma gefallen war, aus dem sie dann die Wende rüde aufweckte. Die Prachtmeile – Mitte des 16. Jahrhunderts als kurfürstlicher Reitweg zur Jagd in den Grunewald angelegt und 1873 auf Anordnung des Reichskanzlers Otto von Bismarck zur repräsentativen Flaniermeile ausgebaut – lebte noch gut vom ersten Rausch nach dem Mauerfall. Erst kamen die Ostdeutschen, dann die reichen Russen, doch seit Mitte der Neunziger geht es bergab. Da ist der Pelzhändler Udo Heiler, 59, der über Knebelverträge und „explodierende Mieten“ seit dem Mauerfall klagt – bei bestenfalls gleich bleibenden Einnahmen. Am Europa-Center, Berlins erster Shoppingmall gleich neben der Gedächtniskirche, zieht ein Großmieter nach dem anderen aus. In den Siebzigern galt das Gebäude als städtebauliche Sensation schlechthin, heute ist es von gestern. Udo Walz, 55, der prominente Kiez-Friseur will nichts Schlechtes sagen über den Gang der Geschäfte, schon aus Prinzip. Außer vielleicht, dass die Frauen früher wöchentlich zum Waschen und Föhnen kamen, heute aber nur noch zum Färben und Schneiden einmal im Monat. Früher zählten Kunden der Mode- und Schmuckläden vom Kurfürstendamm meist zur besseren Gesellschaft der südwestlichen Vororte – reiche Männer, darunter jede Menge Baulöwen, und deren teure, prätentiöse Frauen. Heute, nach den riskanten Immobiliengeschäften der letzten Jahre, sind potente Jetsetter vom Bau „deutlich seltener“ geworden, hat der Schmuckhändler Ronald Sedlatzek, 34, Juwelier in der dritten Generation, festgestellt. Und der Klatschkolumnist Michael Graeter, 57, der seit Sommer vergangenen Jahres auf dem Ku’damm ein schleppend laufendes Zeitungs-Bistro („Extrablatt“) Verblichene Prachtmeile Spree betreibt, berichtet von einer ungewöhnlichen Stadtflucht. Der vornehme Berliner („Für die Kurfürstendamm-Besucher müsste man ja die Münchner Altkleiderhilfe um Unterstützung bitten“) sei ohnehin nur noch in Hamburg beim Einkaufen, in Paris beim Amusement oder in New York mit der Freundin anzutreffen – „nur nie in Berlin“. Zumindest nicht in West-Berlin. Der Westen ist out. „Der Spirit geht nach Osten“, erkannte Modemann Kramberg, den es aus geschäftlichen Gründen selbst Richtung Mitte drängt. Wer etwas vor hat im Leben, geht in den jungen Osten. Dienstleister, Rechtsanwälte, Steuerberater, Immobilienhändler mit tatsächlicher oder nur eingebildeter Zukunft zieht es nach Mitte, die Regierungsmacht und die Medien sind schon da. Auch die meisten Banken haben für ihre stolzen Berlin-Dependancen einen Standort östlich des Brandenburger Tors gewählt. Rational ist der Sog des Ostens kaum zu erklären: Hier ist es immer noch schmutzig, schon wieder teuer und durch die Bauarbeiten meist dröhnend laut. Die Friedrichstraße, eine aus dem Boden gestampfte Büro- und Einkaufsmeile mit ein paar luxuriösen Geschäften wie im „Quartier 206“, verfügt längst nicht über so viele Cafés und Restaurants mit eigenem Flair wie der Ku’damm. Und rundherum, in den Wohngebieten von Mitte, gibt es meist weder Schuster noch Bäcker um die Ecke. Kaum ein Investorenprojekt macht Gewinn, und fast alles gehört den Banken.Auch verdient wird nicht auf der Friedrichstraße, sondern im Westen: Durchschnittlich 13275 Shopper pro Stunde sind samstags auf dem Tauentzien, der Verlängerung der Edelmeile zum Kaufhaus des Westens (KaDeWe), unterwegs. Selbst auf dem Kurfürstendamm sind es noch 7335 – und damit siebenmal mehr als auf der Friedrichstraße. Doch hier im Osten sind die Ideen, hier sind die Trends, hier ist der Swing. Im Östlicher Kurfürstendamm und Tauentzienstraße Bahnhof Zoo Zoofenster CHARLOT TENBURG TIERGARTEN Ausschnitt MITTE Gedächtniskirche Breitscheidplatz Friedrichstraße Europa-Center Kurfürstendamm WILMERSDORF Zoologischer Garten Victoria Areal KREUZBERG Tau e Café Kranzler ntz ien stra ße ndamm ste Kurfür KaDeWe Wittenbergplatz Ku’damm-Karree Adenauerplatz Kurfürstendamm 100 m d e r s p i e g e l Kartengrundlage: GrafikBüro Adler & Schmidt 4 7 / 1 9 9 9 57 Deutschland Unternehmer Walz, Graeter: „Münchner Altkleiderhilfe für Ku’damm-Besucher“ Für den Westteil der Stadt und vor allem für sein bestes Stück, den Kurfürstendamm, hat längst das eherne Gesetz der Spekulation Gültigkeit: In der Krise wird der Markt wieder interessant. Vor ein paar Jahren noch galt der Kurfürstendamm mit seinen großzügigen Bürgerwohnungen und den kuschligen Nebenstraßen als Inbegriff genussvoller freier Lebensart. Nirgendwo in Berlin gibt es ein solches Stück Stadt, in dem Wohnen, Arbeiten, Shopping und Vergnügen so urban miteinander verwachsen sind. Doch schon im östlichen Teil des Kurfürstendamms, zwischen Halensee und 58 und Cafés. Allein Mode-Multi Hennes & Mauritz siedelte auf der Berliner Shopping-Meile vier Filialen an. Dafür wich ein so alteingesessener Betrieb wie das Café „Möhring“ gegenüber der Gedächtniskirche aus einer Jugendstilvilla. Nach dem Bau von Future-Town am Potsdamer Platz im Osten holen die Stadtplaner der West-City nun zum Gegenschlag aus: Anstatt den urbanen Charakter der Kurfürstendamm-Gegend zu stärken, setzen sie auf aggressiven Gigantismus. Hinter dem so genannten Victoria-Areal am Kranzlereck wird bis Herbst 2002 unter anderem ein 37-geschossiges Hotel ged e r C. SCHROTH baut, das so genannte Zoofenster. Und der Architekt Josef Paul Kleihues legte vergangene Woche einen Entwurf für sein „Europolis“ vor: Nur eine Ecke vom Ku’damm entfernt soll bald das höchste Wohnhaus Europas stehen und 300 Meter in den Himmel ragen. „Spreehattan“, jauchzt der Präsident des Bundesbauamts, Florian Mausbach. Andere sind da weniger euphorisch. Aus dem Edelboulevard werde eine B-Meile, argwöhnen die Kritiker, verwechselbar mit den Einkaufsstraßen etwa von Essen, Köln oder Stuttgart.Wie dort könnten künftig in Berlin wenige viel Geld verdienen – und das habe in der Regel Konsequenzen. Sowohl Victoria-Areal als auch Zoofenster wurden von den Investoren überraschend weiterverkauft, nachdem die Baugenehmigung erteilt war. Über „Grundstücksspekulationen übelster Art“ empört sich Georg Aunap, Vorsitzender des Berliner Architekten- und Ingenieursvereins, und beklagt „ein städtebauliches Verbrechen“. Die Fachleute – sonst keine Gegner hoher Häuser – fürchten einen „DominoEffekt“. In der West-City werde nun „ein dicker Klopper nach dem anderen“ gebaut und das einzigartige Viertel zerstört. „Das Gebiet um die Gedächtniskirche wird dann seinen Weg in den Slum antreten“, zeichnet Aunap ein finsteres Szenario. „80 Prozent einer Immobilie sind objektiver Wert, der Rest ist Psychologie“, sagt der Inhaber der WestBerliner Immobilien-Firma „City-Report“, Frank-Arthur Orthen, 40, der für seine Kunden das Potenzial von Immobilien um Ku’damm und Mitte bewertet. Orthen weiß, wie man eine Lage rauf und runter redet. Er verfügt über profunde Daten, und damit macht er Stimmung: „Wenn die Hochhäuser kommen, die Ketten, die Hotels, gehen am Kurfürstendamm die Lichter aus.“ Auch seine Empfehlung, die größten Shopping-Gebäude, das berühmte Europa-Center („langweilig“) und das Ku’damm-Karree („enttäuschend“) am besten gleich abzureißen, erschreckte die West-Berliner. Die Besitzer der Multimillionen-Objekte, Karl Pepper und Rafael Roth, wird Orthens Verweis auf die Zwangsläufigkeit der Zeitläufte kaum milde stimmen: „Keine Sorge, in zehn Jahren sage ich das Gleiche über die heute so hoch gelobten Arkaden am Potsdamer Platz.“ Susanne Koelbl C. SCHROTH M. TRIPPEL / OSTKREUZ Osten ist alles frisch. Wer rechtzeitig kam, konnte hier alles werden. Wer wichtig ist in der Gesellschaft, bestimmen nicht mehr die alten Platzhirsche des Westens. „Manche Cocktailpuper müssen froh sein, wenn sie überhaupt noch vorkommen“, sagt David Goldberg, 52, Händler exklusiven Schmucks am Ku’damm. Im Glauben, dass der Osten die Zukunft ist, sind sich die Berliner, die sonst am liebsten in ihren beiden Stadthälften bleiben, einig. Je jünger die Hauptstädter, so das Ergebnis einer Forsa-Umfrage, desto stärker sehen sie das prickelnde Neubau in der Friedrichstraße: Irrationaler Sog künftige Leben in der City Ost. Heute sind es die West-Berliner Ge- Adenauerplatz, erinnert nur noch wenig schäftsleute, die über den Osten jammern an die alte Pracht. Dort entwickelt sich zuwie die Ostdeutschen nach der Wende über sehends ein eigenes Milieu, das von NaAngeber-Wessis. „Berlin ist nicht nur der gelstudios, Videotheken und Baumärkten Osten, auch wir haben viel zu bieten“, är- geprägt ist. Und das Bohème-Viertel Chargert sich Manuela Remus-Woelffling, 38, lottenburg steht inzwischen im Ruf, ein Geschäftsführerin der Arbeitsgemeinschaft Biotop für satte Selbständige zu sein, die City, in der sich Ku’damm-Einzelhändler mal „was Kreatives“ machen wollten, dann zusammengetan haben. „Man schweigt uns doch Wirtschaftsprüfer wurden und deren tot, das ist doch nicht fair.“ Frau gerade („total spannend“) eine Praxis Die ehemals saturierten Westler, meist für Kinesiologie, Modetrend im Therapieschon jenseits der 50 und eigentlich im Be- geschäft, eröffnet. Da swingt nichts. griff, die Ernte ihres Lebens einzufahren, Unternehmensketten haben sich am befinden sich in der „Schockstarre“, be- neuen Standort Berlin-Ku’damm eingeobachtet Mode-Kaufmann Kramberg. Sie kauft und bedrohen die Existenz der kleiseien einfach nicht gewillt, schon wieder zu neren Geschäfte – Designer und Bekleikämpfen: „Sie wissen nicht mehr, wie es dungskaufhäuser gegen Boutiquen, Steakgeht. Eine Identitätskrise.“ und Fast-Food-Ketten gegen Restaurants s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Deutschland mierte der listige Londoner unlängst die überraschte Baukommission. Doch die Politiker blieben stur und forderten weiterhin Sitzgelegenheiten in der westlichen Lobby. Schließlich lenkte Foster ein. Sein erster Möbel-Entwurf trifft freilich nicht jedermanns Schönheitssinn: „Diese unverrückbaren, hässlichen Steintröge“, lästert ein hoher Beamter des Bundestags, „haben uns gerade noch gefehlt.“ Dass der Baumeister nachgab, halten Kenner der Rechtspraxis für zwingend. Zwar gilt der Reichstag, im Unterschied zum privaten Wohnhaus, juristisch als Kunstwerk. Aber gerade deshalb kann der Architekt dem Bauherrn, also dem Bundestag, nicht einfach vorschreiben, wie die Räume zu nutzen und zu gestalten sind. „Foster kann Vorschläge machen“, stellt ein Experte der Baukommission klar, „im Konfliktfall aber hätte er keine Chance.“ B U N D E S TAG Heftiges Augenflimmern Politiker und Beamte finden das Interieur des Reichstags weder schön noch praktisch. Aber Architekt Foster will sein Kunstwerk nicht verändern lassen. V or der Bundestagsdebatte um den Kanzleretat an diesem Mittwoch graust es Karlheinz Lindner. Der Referatsleiter aus dem Verteidigungsministerium säße während dieser wichtigen Redeschlacht gern in Sichtweite seines Chefs, ständig einsatzbereit wie die Kollegen aus 13 anderen Ministerien. Womöglich brauchen Scharping, Eichel, Müller und Kollegen während der Diskussion erste Hilfe. „Aber wir schaffen es kaum bis in den Plenarsaal“, sagt Lindner gequält. Anders als in Bonn, wo 30 Stühle für Beamte bereitstanden, fehlt es im Berliner Reichstag an Sitzplätzen – und an Stehplätzen auch. Drei der zwölf Stühle hinter den drei Reihen der Regierungsbank okkupiert grundsätzlich das Kanzleramt. Um die restlichen neun müssen sich die Vertreter aus 14 Ressorts kabbeln. Abhilfe ist nicht in Sicht. Der umgebaute Reichstag, gibt der britische Architekt Lord Norman Foster immer wieder zu verstehen, sei ein Kunstwerk und als solches gegen alle Änderungen urheberrechtlich geschützt. Mit diesem Hinweis haben Fosters Leute mehrfach praktische Wünsche des deutschen Souveräns kühl abgeblockt. So rührt der Baumeister ans Funktionieren der parlamentarischen Demokratie. 62 Aber nun droht dem Star Gegenwehr. Den täglichen Kleinkrieg um Gebrauchswert und Geschmack am Arbeitsplatz wollen Abgeordnete aus allen Fraktionen nicht länger hinnehmen. Schleunigst sollen beispielsweise die Sanitätsräume im Erdgeschoss umgebaut werden. Die Ärztin hatte sich darüber beschwert, dass Notfall-Patienten nur extrem umständlich auf einer Trage in einen Krankenwagen befördert werden könnten. „Da muss sofort etwas passieren“, sagt der Vorsitzende der Baukommission, CDU-Mann Dietmar Kansy: „Das ist eine Sanitätsstation und kein Kunstwerk.“ Andernorts wird der Ton schon rauer. Ob die Wandtäfelung im SPD-Fraktionssaal nur mit Zustimmung ihres Schöpfers dekoriert werden darf oder nicht, ist dem Parlamentarischen Geschäftsführer Wilhelm Schmidt inzwischen egal: „Wir werden Bilder an die Wand knallen, ob es Herrn Foster passt oder nicht.“ Bei der aufmüpfigen PDS hängen längst die Parteiplakate vor den geschlitzten Paneelen. Eine Attacke gegen Fosters Stilgefühl, aber ein durchaus wirksames Mittel gegen das psychedelische Augenflimmern, das sich in den kleinen, hellen Räumen beim Blick auf die eng geriffelten Holzwände umgehend einstellt. Zur illegalen Selbsthilfe gegen britischen Purismus griffen Abgeordnete auch im Ostflügel. Auf dem Wandelgang gruppierten sie rote und schwarze Ledersessel zu Inseln der Gemütlichkeit – bis die Kontrolleure von der Bauaufsicht hierhin vordringen. Denn bewegliche Möbel dürfen keine noch so breiten Fluchtwege versperren. Das verlangen die Berliner BrandschutzVorschriften für Hochhäuser. Weil erkennbar höher als 22 Meter, ist der Reichstag gemäß Verordnung ein Hochhaus, infor* Bei der Schlüsselübergabe am 19. April. d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 REUTERS Umstrittene Sitzgruppe im Reichstag: Illegale Selbsthilfe gegen britischen Purismus Architekt Foster, Hausherr Thierse* Kampf um das Grünzeug So weit will es der Souverän nicht kommen lassen, zumal der Zoff zuweilen mit einem erträglichen Patt endet. So teilen einige Parlamentarier durchaus Fosters Abneigung gegen Grünzeug, die im Präsidialtrakt obsiegte. Hausherr Wolfgang Thierse musste Pflanzen aus dem Blickfeld verschwinden lassen. Vor einem Staatsgeschenk des niederländischen Parlaments kapitulierte der Architekt. Zwei Ficus-Bäume aus Den Haag dürfen im Westflügel weiter wachsen. Wie die Stuhl-Krise gelöst werden könnte, ist dagegen völlig offen. Und die Eskalation droht auch bei den Plätzen der Ministerpräsidenten. Denn nun hat der Direktor des Bundesrats bei Kansy moniert, in den vorderen Reihen stünden nur 15 Stühle für 16 Länderchefs. Sollen Stoiber, Clement, Simonis und die anderen künftig „Reise nach Jerusalem“ spielen? Dazu müssten allerdings alle 16 Regierungschefs nebst Entourage anreisen – das ist noch nie passiert. Der Versuch, für die Ministerhelfer auf die gegenüberliegende Seite des Parlamentspräsidiums einfach vier zusätzliche Stühle zu stellen, „hielt nur drei Tage, und weg waren sie“, erinnert sich Referatsleiter Lindner. Am liebsten, sagt ein Kollege, hätten die bescheidenen Einflüsterer an der grauen Stirnwand „Klappsitze wie im Intercity“ . Petra Bornhöft Werbeseite Werbeseite Deutschland STRAFJUSTIZ „Nun ist erst mal Wochenende“ Die Eheleute Maerzke stehen vor Gericht, weil sie ihren Sohn Mukarim Emil in Todesgefahr gebracht haben sollen. Was wissen wir von deren Not? Von Gisela Friedrichsen A das rechte Auge müsse unverzüglich entfernt werden. Eine andere Möglichkeit gebe es nicht, sonst sterbe das Kind. Schon am übernächsten Tag, am Donnerstag, dem 28. Januar, solle operiert werden. Die geschockten Eltern sind mit allem einverstanden. Sie unterschreiben alles, damit ihr Junge nur am Leben bleibt. Vor der geplanten Amputation wird das Kind, bereits unter Narkose, noch einmal untersucht. Nun ist der Befund noch dramatischer: Auch das linke Auge ist befallen. Die Ärzte brechen den Eingriff ab. Sie erklären, in München sei man mit der Behandlung überfordert, die Eltern sollten sich an die Universitätsklinik Essen wenden. Es wird ihnen eingeschärft, „dass jeder Aufschub der medizinischen Behandlung die Gefahr der Bildung weiterer Tochtergeschwülste berge“. Es geht um Tod oder Leben – so verstehen es die Eltern. Sie wollen sofort nach Essen fahren. Aber nein, wehrt man dort am Telefon ab, das hat keinen Sinn. Erst mal komme ja nun das Wochenende. Es reiche, wenn das Kind am Montag gebracht werde. Im Übrigen gebe es vor dem 5. Februar keine Operation. Die Eltern sind fassungslos. Ist nicht das Leben ihres Kindes in Gefahr? Ist den Essenern egal, ob das Kind stirbt? Oder hat man in München übertrieben? In Mukarim Emils Augen hatten sich Retinoblastome gebildet, Krebstumore, die keine Schmerzen verursachen. Unbehandelt endet die Krankheit stets tödlich. Im Berliner Franklin-Klinikum Steglitz schätzt man, dass von 25 000 Neugeborenen eines erkrankt wie Mukarim Emil. Mehr als 90 Prozent der Kinder überleben, wenn sie rechtzeitig behandelt werden. Die Entfernung des Auges lässt sich oft vermeiden. Der Kinder-Krebsspezialist Günter Henze von der Charité beschrieb im Berliner „Tagesspiegel“, welch tiefen Einschnitt die Krebstherapie für die Betroffenen bedeutet: „Man darf die Familie nicht zwischen Tür und Angel über die Behandlung informieren.“ Aber für Patientengespräche, für Begleitung der Eltern habe man wegen Stellenstreichungen immer weniger Zeit. Es ist derzeit viel von den Kosten des Gesundheitswesens die Rede. Darüber ist das Thema der Beziehung zwischen Arzt und Patient in den Hintergrund getreten. Scheich Nazim Wenn ein kleines Kind schwer erkrankt, Weltweite Kontakte zu Spezialisten dann werden meist auch seine Eltern zu Patienten, zu höchst irritierbaren und oft verzweifelten dazu. Maerzkes hören, es gehe um Tage, um Stunden gar – und dann soll eine volle Woche bis zu der so dringlichen Operation vergehen dürfen? In dieser Woche wird in Augsburg vor dem Schöffengericht gegen die Maerzkes wegen Vernachlässigung der Fürsorgepflicht verhandelt. Fraglos haben sie, nachdem sie die Diagnose erfahren hatten, Dinge getan, die Menschen, die routinierter mit solchem Schrecken umgehen, aberwitzig vorkommen. Sie haben in ihrer Angst, Verwirrung und Ratlosigkeit, was nun tatsächlich zum Besten ihres Kindes ist, auf alle möglichen Ratgeber gehört. Sie haben sich in ihrer Panik nicht immer verständig verhalten und werden daher auch mit einer Verurteilung zu rechnen haben. Doch im Medientumult, den der Fall aufwirbelt, ist immer Mutter Lamia Maerzke mit Kind auf Zypern: Suche nach alternativen Behandlungsmethoden FOTOS: M. GÜLBIZ / AGENTUR FOCUS nfang des Jahres fällt dem Augsburger Ehepaar auf, dass die rechte Pupille ihres vier Monate alten Sohnes Mukarim Emil eigenartig weiß ist. Am 26. Januar gehen Lamia und Sven Maerzke, 22 und 26, mit dem Kind zum Arzt. Der überweist sie sogleich ans Haunersche Kinderspital in München: Es könnte ein bösartiger Tumor sein. Noch am selben Tag stellen sie den Jungen dort vor. Die Diagnose ist wie befürchtet. Man müsse das Kind sofort operieren, heißt es, 64 d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite DPA Deutschland Krebskranker Mukarim Emil S. PUCHNER Der Augapfel seiner Eltern Eltern Maerzke bei Festnahme Sie wollten dem Kind eine Pause gönnen nur die Rede davon, was die Eltern falsch gemacht haben – und nicht davon, wie es dazu kommt, dass Eltern falsch handeln. Mit untätigem Warten an jenem arbeitsfreien Wochenende fanden sich Maerzkes nicht ab. Sie suchen einen Arzt in Kaufering bei Augsburg auf. Der rät, zunächst den Verlauf der Krankheit zu beobachten und nach Methoden zu suchen, die das Auge erhalten. Er überweist das Kind an den Schweizer Homöopathen Dario Spinedi in Locarno, von dem es heißt, er habe Kinder, die von deutschen Ärzten schon aufgegeben worden waren, noch geheilt. Maerzkes zögern. Sollen sie nicht besser nach Essen gehen? Dann fahren sie nach Locarno. Spinedi ist zurückhaltend. Er bie66 tet eine homöopathische „Begleitung“ an. motherapie nicht. Als der Junge zum zweiDie Eltern sind inzwischen entschlossen, ten Mal mit Laser behandelt wird, überihrem Kind die Amputation des Auges, bringt ein Mitarbeiter Bornfelds eine freuwenn es denn irgendwo auf der Welt eine dige Botschaft: Der Tumor rechts sei stark Chance gibt, zu ersparen. zurückgegangen. Neue Hoffnung also. Sie sind einfache Leute, gebürtige AugsWenige Tage später verhandelt das Vorburger, er hat Landschaftsgärtner gelernt, mundschaftsgericht Augsburg über die Frasie wollte nach dem Fachabitur in Sozial- ge, ob Maerzkes das Sorgerecht entzogen wesen Umweltschutz studieren, aber das ist werden soll. Dabei erfahren sie, wie Bornmit dem kranken Kind ja nun vorbei. In- feld die Situation einschätzt: Das rechte zwischen erwartet sie das zweite. Auge müsse höchstwahrscheinlich entfernt Sven Maerzke ist mit 18 Jahren zum Is- werden; außerdem seien die Eltern seiner lam übergetreten und hat sich der Naks- Auffassung nach psychisch nicht fähig, das bendi-Bruderschaft angeschlossen. Als La- Kind nach einem Eingriff zu begleiten. mia ihn kennen lernt, folgt sie ihm. Die Der junge Vater, dem einmal der Kragen Behauptung, die Maerzkes seien blind auf platzt, ist fortan als „gewalttätig“ abgeeine fundamentalistische Sekte hereinge- stempelt. Die Eltern fühlen sich gekränkt, fallen, die eine Operation des Kindes ver- verkannt und beiseite geschoben. Das Aufboten habe, ist so nicht richtig. Sven enthaltsbestimmungsrecht hat inzwischen Maerzke sagt, er habe Scheich Nazim Adl ein Anwalt inne. Niemand macht sich die al-Haqqani, das geistliche Oberhaupt, um Mühe, um ihr Verständnis zu werben. Man Rat gefragt – wie ein Christ, der sich in steht auf dem Standpunkt: Diese Leute seiner Not an den Pfarrer wendet. Denn sind unzugänglich für ärztliche Vernunft. die Bruderschaft verfügt über weltweite Fünf Juristen, sagt man, das sind fünf Kontakte, auch zu Medizinspezialisten. Meinungen. Doch auch fünf Ärzte können Operationen werden von der Bruder- fünf Diagnosen und fünf Therapien beschaft nicht durchweg abgelehnt. Doch deuten. Ein angesehener Hamburger Frauihrem Weltbild, in Teilen noch auf orien- enarzt erklärt einer Familie, der 16-jährigen talischer Mystik beruhend und antiposi- Tochter müsse eine Brust amputiert wertivistisch ausgerichtet, steht die Wissen- den; es sei Krebs. Der Hausarzt hält diese schaftsgläubigkeit des Westens entgegen. Diagnose für Unsinn. Hat die Familie gegen So weit, wie manche glauben, ist das Un- das Gesetz gehandelt, als sie das Mädchen behagen der Menschen im Westen am tech- nicht operieren ließ? Die Tochter, heute nischen Fortschritt vom Weltbild der Naks- über 30, ist noch immer gesund. bendis gar nicht entfernt. Wer hat nicht so etwas schon erlebt, bei Kranke Augsburger wallfahren zum na- sich oder im Freundeskreis? Oder auch, in hen Maria Vesperbild. Andere Gläubige ba- umgekehrter Richtung, dass sich eine Diaden im Quellwasser von Lourdes. Manche gnose als zu harmlos angesichts tatsächschwören auf Geistheiler oder den „Krebs- lich todernster Erkrankung erwies. Und heiler“ Ryke Geerd Hamer. Das ist weitaus dann sind die Medien auch voll mit bizarrer als die Reaktion der Maerzkes. Schreckensnachrichten: vom StrahlenScheich Nazim bot dem jungen Vater skandal und Transfusionen mit verseuchHilfe bei der Suche nach alternativen Be- tem Blut bis zur Amputation des gesunhandlungsmethoden an. Auf seinen Rat den Lungenflügels statt des verkrebsten. bringen die Eltern Mukarim Emil schließEnde April setzen sich die Eltern lich im März doch nach Essen. Sie werden Maerzke mit ihrem Kind in den Libanon inzwischen per Haftbefehl geab, aufgerieben von dem Hin sucht, das Sorgerecht soll ihnen und Her. Ihrem Kind möchten „Wer hat entzogen werden. Nun ist auch sie eine Pause gönnen. Heute das Fernsehen dabei. Das Ver- nicht so etwas sieht Sven Maerzke ein, unschon erlebt, überlegt gehandelt zu haben. halten der Eltern wird zum Skandal hochgespielt. Fünf Monate halten sie sich bei sich In Essen erfahren Maerzkes, dort auf. Ein Augenarzt in Beirut oder im die Tumoren im linken Auge hätkeine Tumoren mehr. Am Freundeskreis“ findet ten sich verdoppelt. Sie sind ent6. Oktober werden sie abgesetzt. Gerade hatte ihnen ein zyschoben. In Augsburg nimmt priotischer Arzt Hoffnung gemacht: Links man sie fest. Im rechten Auge des Jungen seien keinerlei Geschwülste mehr vorhan- sitzen nun schon sechs bis sieben Geden. Ein Vater aus Österreich preist die schwülste, die seither behandelt werden. Methode der Protonenbestrahlung in den Mit dem linken Auge kann der Junge seVereinigten Staaten an. Eine Amerikanerin hen, rechts bleibt das inzwischen blinde will sich um eine solche Behandlung an Auge möglicherweise erhalten. Geheilt ist einer renommierten amerikanischen der Junge aber noch nicht. Augenklinik kümmern. Professor Norbert Was ist Fürsorge? Hätten Maerzkes nicht Bornfeld, der Chef in Essen, erklärt eine auch die Fürsorgepflicht vernachlässigt, Protonentherapie bei einem Kind dieses wenn sie sich nicht um weniger einschneiAlters für ganz unmöglich. dende Therapien gekümmert hätten? Sie Mukarim Emil geht es nun sehr schlecht. haben nur das Beste für das Kind gewollt. Er verträgt die in Essen begonnene Che- Mukarim Emil ist ihr Augapfel. ™ d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite BUNDESWEHR Bitteres Ende Ein Oberstarzt wurde Opfer einer Operation durch Kollegen. Eine umstrittene Gesetzesklausel befreit die Bundeswehr von normaler Arzt-Haftung. S ein Pflichtbewusstsein wurde Oberstarzt Friedrich Wezel zum Verhängnis. Als bei dem Sanitätsoffizier, damals oberster Zahnmediziner der Luftwaffe, ein gutartiger Tumor am Gehörnerv festgestellt wurde, wollte er sich vom Spezialisten einer Uni-Klinik operieren lassen. Doch Vorgesetzte appellierten an seine Vorbildfunktion: Er solle sich doch bei Bundeswehrärzten unters Messer begeben. Seit dem Eingriff im Ulmer Bundeswehrkrankenhaus vor gut sieben Jahren ist Wezel, 62, fast völlig gelähmt und ein schwerer Pflegefall. Seine Frau, selbst Ärztin auf der Hardthöhe und zuständig für die medizinische Betreuung höchster Staatsgäste, quittierte damals ihren Dienst und widmete sich fortan nur noch der Sorge für ihren Mann – und dem Kampf um sein Recht. Denn die Bundeswehr weigert sich, für die Folgen der misslungenen Operation in vollem Umfang einzustehen. Seit 1993 versucht Ingrid Wezel, im Namen ihres Mannes vom Bund angemessenen Schadensersatz und Schmerzensgeld zu erlangen. An diesem Mittwoch wird vor dem Ulmer Landgericht zum zweiten Mal darüber verhandelt, was bei der Operation von Oberstarzt Wezel geschah. An dem tragischen Fall zeigt sich eine kritische Besonderheit im Soldaten-Recht: Für Kunstfehler der Bundeswehrärzte gibt es nur eine eingeschränkte Haftung. Die Bundeswehrangehörigen können sich im Regelfall ihren Arzt nicht aussuchen, sondern müssen zum Dienstarzt gehen. Doch während zivile Krankenhäuser für die Fehler ihrer Ärzte einzustehen haben, beruft sich die Bundeswehr auf eine Klausel im Soldatenversorgungsgesetz, die den Soldaten Ansprüche auf Schmerzensgeld und Schadensersatz abschneidet. Wie bei anderen „Wehrdienstbeschädigungen“ übernimmt die Bundeswehr bei Arztfehlern nur eine pauschalierte, schmale Versorgungsrente – und selbst die erst ab einer Erwerbsminderung von 25 Prozent. Wird der Soldat als dienstunfähig entlassen, fällt auch die freie Heilfürsorge weg, es gibt nur noch eine medizinische Minimalbehandlung. Die Vorschrift richtet sich nach der „Kriegsopferversorgung“, die in den fünfziger Jahren für die Verwundeten und Verstümmelten des Zweiten Weltkriegs geschaffen wurde. Die Geschädigten erhalten diese Leistungen zwar unabhängig davon, ob andere ein Verschulden trifft. Doch weiter gehende Ansprüche gibt es nicht, selbst wenn man den Verantwortlichen grober Fahrlässigkeit überführen kann. Nur bei vorsätzlichem Pflichtverstoß muss voll gehaftet werden – ein selten nachzuweisender Fall. „Diese Haftungsbegrenzung ist unerträglich“, sagt Oberst Bernhard Gertz, Vorsitzender des Bundeswehr-Verbandes, der Interessenvertretung der Soldaten, „denn solche Härtefälle tauchen in unschöner Regelmäßigkeit bei uns auf.“ Jährlich werden in Bundeswehrkrankenhäusern mehr als 70 000 Operationen durchgeführt – wie viele Kunstfehler dabei wirklich passieren, ist kaum sicher zu ermitteln. Denn wegen der schlechten Aussichten auf Erfolg melden vermutlich viele Patienten gar nicht erst ihre Schäden an. Der Bundeswehr-Verband leistete seit 1992 mehreren dutzend Opfern besonders schwerer Missgriffe juristischen Beistand. So wurden einem Oberstleutnant aus Versehen die Stimmbänder durchgeschnitten. Ein anderer Soldat, dessen erste Operation schief ging, wurde so lange nachoperiert, bis er dienst- und berufsunfähig war. Der Fall Wezel ist einer der schlimmsten – nicht nur wegen der Folgen, sondern auch wegen der vielen Fehler. Denn eigentlich war der Eingriff am Gehirn Routine. Zwar T. BARTH / ZEITENSPIEGEL Deutschland Ulmer Bundeswehrklinik, Geschädigter Wezel, mussten die Ärzte, um den Tumor zu entfernen, den Schädel des Patienten öffnen – dabei können am Schädelknochen verlaufende Venen verletzt werden. Luft gelangt dadurch in den Blutkreislauf, schlimmstenfalls wird die Durchblutung wichtiger Gehirnbezirke unterbrochen. Eine solche Luftembolie ist jedoch beherrschbar, wenn sie während der Narkose sofort bemerkt wird – und die dafür zuständigen Anästhesisten des Bundeswehrkrankenhauses Ulm gehören zu den Besten ihres Fachs. Ulm genießt unter den Bundeswehrkliniken eine Sonderstellung, man renommiert mit der „ehrenvollen Ermächtigung“ zur Ausbildung von Fachärzten. Der Kollege Wezel war für die Ulmer Ärzte ein VIP-Patient. Doch schon die vorgeschriebene Aufklärung ließ Schlimmes befürchten: Man würde ihren Mann in sitzender Position operieren, erinnert sich Ingrid Wezel an die Aussage eines Arztes, eine Luftembolie sei damit praktisch ausgeschlossen. Doch das Gegenteil ist der Fall: Anders als in Seitenlage, ist dieses Risiko gerade im Sitzen enorm. Damit begann das, was der medizinische Gutachter der Kläger, Professor Jürgen Stoffregen, eine „wahnsinnige Kette nicht nachvollziehbarer Fehler“ nennt. T. BARTH / ZEITENSPIEGEL Hirntumor-Operation*: „Wahnsinnige Kette nicht nachvollziehbarer Fehler“ Schon zu Beginn der Operation fällt ein wichtiges Ultraschallgerät aus, mit dem sich der Beginn einer Luftembolie rechtzeitig hätte erkennen lassen. Kurz zuvor hat der Narkose-Facharzt den Raum verlassen. Damit ist der auszubildende Assistenzarzt weitgehend auf sich allein gestellt. Trotz des erhöhten Risikos wird der Schädel geöffnet. Es kommt zu einer Embolie, die der Assistenzarzt zu spät bemerkt. Doch der Operateur wird nicht gewarnt. Er operiert stundenlang weiter, als wäre nichts geschehen. Die massive Luftembolie, so Gutachter Stoffregen, führt „postoperativ zum Multiorganversagen“. Durch die Embolie fällt Wezels Blutdruck stärker, als es sein geringer Flüssigkeitsverlust vermuten lässt. Obwohl er nur einen Liter verloren hat, erhält Wezel während und nach der Operation insgesamt acht Liter wässriger Lösung ins Blut – was eine Blutverdünnung um das Eineinhalbfache bedeutet. Zusätzlich geben die Ärzte ein gerinnungshemmendes Mittel. „Damit“, so Gutachter Stoffregen, „war es mit der Blutgerinnung endgültig zu Ende.“ Das wässrige Blut sickert ins Ge* Mitte: kurz vor dem Eingriff im Jahr 1992; rechts: im Bundeswehrkrankenhaus Ulm im November. hirn, erzeugt dort starken Überdruck und einen „internen Wasserkopf“. Zerknirscht müssen die Ärzte schwerste Hirnschäden und ein „Locked-in-Syndrom“ diagnostizieren: Friedrich Wezel ist bei vollem Bewusstsein Gefangener seines funktionsuntüchtigen Körpers. Die Beklagten bestreiten dennoch den Vorwurf eines Fehlverhaltens. Einer der beteiligten Ärzte versichert: „Nach meinem besten Wissen ist damals sorgfältig gehandelt worden.“ In der ersten Zeit nach der Operation hatte sich der Zustand des Patienten Wezel noch leicht gebessert, wenigstens sprechen kann er wieder. Doch mittlerweile findet seine Frau keine Ärzte mehr, die ihn Erfolg versprechend weiter behandeln können. „Frau Wezel“, haben sie zu ihr gesagt, „Sie können Ihren Mann jetzt nur noch begleiten bis zum bitteren Ende.“ Alles, was über eine Minimalversorgung hinausging, musste Ingrid Wezel selbst bezahlen: fast den ganzen behindertengerechten Umbau ihrer Wohnung, Krankengymnastik, Sprechtherapie, Fahrt- und Übernachtungskosten, wenn sie ihren Mann in andere Kliniken begleitete – insgesamt 50 000 Mark pro Jahr an zusätzlichen Aufwendungen. „Wenn ich das Geld hätte“, sagt sie, „würde ich meinen Mann in eine Spezialklinik für Schädel-Hirn-Verletzte in der Schweiz bringen, um ihm wenigstens ein bisschen Linderung zu verschaffen.“ Eine halbe Million Mark Schmerzensgeld fordert deshalb ihr Anwalt Ulrich Gebhard, und eine Geldrente für den Pflegeaufwand. Insgesamt, so Gebhard, „eine Summe deutlich über einer Million Mark“. Um die Haftungsbegrenzung wenigstens im Fall Wezel zu umgehen, versucht der Anwalt das Gericht davon zu überzeugen, dass die umstrittene Klausel des Soldatenversorgungsgesetzes hier nicht gelten könne, weil eine vorsätzliche Pflichtverletzung vorliege: „Die Ärzte haben die Operation durchgeführt in dem Wissen, dass ärztliche Standards nicht eingehalten wurden.“ Aus Kollegialität hat die Ex-Oberfeldärztin Wezel darauf verzichtet, gegen die Beteiligten einen Strafantrag zu stellen. Doch selbst die Zivilklage werten viele ehemalige Kollegen als Verstoß gegen die guten Sitten. Keiner der behandelnden Ärzte von damals, sagt sie, habe jemals wieder nach ihrem Mann gefragt. Der hat sich Besuche von ehemaligen Kameraden allerdings ohnehin verbeten. Er will ihnen so in Erinnerung bleiben, wie er einmal war. Dietmar Hipp Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Deutschland Stasi-Akten wäre bei den Ermittlungen offenbar an der Tagesordnung. JUSTIZ Schon die Tatsache, dass das Verfahren erst 1994 eröffnet wurde, ist ein Armutszeugnis für die Ermittler, denn die Mordpläne waren seit Dezember 1990 bekannt. Damals hatten SPIEGEL TV und der SPIEGEL Auszüge aus einem Bericht der ZenStasi-Offiziere wollten zwei prominente DDR-Bürgerrechtler tralen Auswertungs- und Informationsumbringen. Die Mordpläne sollen ungesühnt bleiben. gruppe (ZAIG) des MfS veröffentlicht. Der Anfang 1989 erstellte Report der Stasi-iner Informant war seriös. Dennoch achtziger Jahren Pfarrer der evangelischen ternen Revisionstruppe befasste sich mit hielt Ralf Hirsch für ausgeschlos- Samaritergemeinde in Friedrichshain, Unregelmäßigkeiten in der Abteilung XX/4 sen, was ihm im August aus der gehörten zu den führenden Figuren der (Kirche) der Bezirksverwaltung Berlin. Es Berliner Polizei zugetragen wurde: Das Er- kleinen Dissidentenszene. In Eppelmanns ging um Devisenvergehen, persönliche Bemittlungsverfahren gegen zwei Offiziere regimekritische „Bluesmessen“ kamen reicherung und „Zersetzungsmaßnahmen“ gegen Regimegegner, die selbst den in diedes Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) tausende von Jugendlichen. Die potenziellen Opfer der Stasi-Pläne ser Hinsicht nicht zimperlichen Vorgesetzder DDR, die in den achtziger Jahren Mordpläne gegen ihn und den Ost-Berliner wurden über die Einstellung nicht einmal ten zu weit gingen. Um Eppelmann zu beseitigen, hatten Pfarrer Rainer Eppelmann geschmiedet informiert. Nicht die einzige Merkwürdigkeit: Schlamperei, mangelhafte Kommuni- zwei XX/4-Mitarbeiter, Major Edgar Hasse hatten, stehe kurz vor der Einstellung. Doch der Mann lag richtig: Am 3. Sep- kation zwischen Behörden und eine un- und Hauptmann Peter Kappis, laut ZAIGtember legte die für die Verfolgung von verständliche Lässigkeit im Umgang mit Akten geplant, „einen Unfall herbeizuführen. Verletzungen bzw. DDR-Unrecht zuständige Staatsanwaltphysische Vernichtung von schaft II beim Landgericht Berlin das VerEppelmann wurden einkalkufahren mit dem Aktenzeichen 29 Js 114/94 liert. Hierzu wurden mehrere in aller Stille zu den Akten. „Bei der Varianten geprüft (Radmutgegebenen Beweislage“, so Oberstaatsantern lockern, in der Kurve walt Helmut Altenbuchner-Königsdorfer in Scheibe zerstören, vor der seinem Schlussvermerk, „ist ein zur AnKurve Spiegel aufstellen)“. klageerhebung nötiger Nachweis einer Für Ralf Hirsch war eine anStraftat nicht zu erbringen.“ dere Todesart vorgesehen: Die Damit sollen nach dem Willen der Justiz Prüfer der ZAIG notierten die heimtückischen Vorhaben gegen zwei „Gedankengänge“, dem Reprominente Bürgerrechtler der DDR ungimekritiker „in einer strengesühnt bleiben. Hirsch, 1986 Mitbegründer gen Winternacht Alkohol einder Ost-Berliner „Initiative Frieden und zuflößen, dass er erfriert“. Menschenrechte“, und Eppelmann, in den Verfolgte Eppelmann, Hirsch: „Was reinmischen“ Auf die Veröffentlichung der Mordpläne reagierten weder die Staatsanwaltschaft noch die Zentrale Ermittlungsstelle für Regierungsund Vereinigungskriminalität (ZERV). Altenbuchner-Königsdorfer kann sich das nicht erklären: „Die Pressestelle stellt eigentlich immer alle für uns wichtigen Artikel zusammen. Aber ich bin erst seit 1995 hier, und es kann sein, dass es das 1990 noch nicht gegeben hat.“ Erst drei Jahre später schöpfte die Justiz einen „Anfangsverdacht“. Am 24. Februar 1994 hatte ein Staatsanwalt eine Diskussionsveranstaltung in der GauckBehörde besucht, auf der Rainer Eppelmann über die Anschlagspläne berichtete. Der Mann tat seine Pflicht und erstattete Anzeige – von Amts wegen. Doch die Ermittler schafften es in den fünf folgenden Jahren nicht, ihren Verdacht zu erhärten. Nach Aktenlage Ost-Berliner „Bluesmesse“ mit Eppelmann (r., 1984): „Physische Vernichtung wurde einkalkuliert“ „Furchtbar schief gelaufen“ A. SCHOELZEL JÜRGENS OST + EUROPA PHOTO IMO D 72 d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Deutschland 76 d e r ganz furchtbar schief gelaufen sein.“ Nach einer erneuten Durchsicht der Akten räumte er ein, dass der Anhang „von ZERV wohl eingesehen und bearbeitet“ worden sei. Schriftvergleiche zur Feststellung der Urheber der Notizen seien jedoch nicht durchgeführt worden. Auch Ralf Hirsch wurde nie befragt. Dabei hat er seine ganz persönlichen Ermittlungen bereits vor acht Jahren erfolgreich abgeschlossen. Monate nach der Veröffentlichung der Mordpläne hatte er sich dazu durchgerungen, die verantwortlichen Stasi-Offiziere aufzusuchen und zur Rede zu stellen. „Dass die mich im Knast haben wollten, konnte ich mir ja vorstellen“, so Hirsch, „aber umbringen, das war schon eine andere Dimension.“ BILD ZEITUNG wäre es am nächsten liegend gewesen, die Autoren des MfS-internen Untersuchungsberichts zu vernehmen. Denn die waren zu dem Schluss gekommen, dass die Offiziere der Berliner Bezirksverwaltung „in schwerwiegender Form die Festlegungen der Richtlinie Nr. 1/76, Ziff. 2.6. (Zersetzungsmaßnahmen) verletzt“ hätten. Es seien sogar Handlungen begangen worden, „die Straftaten im Sinne des Strafgesetzbuches der DDR“ darstellten. Grundlage dieser Einschätzung waren ausführliche Verhöre von Hasse und Kappis, die ihre Mordpläne den Stasi-Vernehmern nicht nur gestanden, sondern auch detailliert schriftlich beschrieben hatten. Doch auf die Idee, die Prüfer der ZAIG offiziell zu vernehmen, kamen die Rechercheure der ZERV und der Staatsanwaltschaft nicht. Lediglich mit einem der ZAIG-Leute sei, so Altenbuchner-Königsdorfer, unverbindlich „gesprochen“ worden. So liefen alle weiteren Bemühungen ins Leere: π Die Beschuldigten nahmen die rechtsstaatliche Segnung des umfassenden Aussage- und Zeugnisverweigerungsrechts für sich in Anspruch; π ein Stasi-Offizier aus einer anderen Abteilung, der ebenfalls an der Untersuchung beteiligt war, konnte sich bei seiner Vernehmung angeblich an nichts mehr erinnern; π die Akten der Stasi-Disziplinarverfahren gegen Hasse und Kappis waren in der Gauck-Behörde angeblich nicht zu finden; π andere Papiere konnten, mangels Deckblatt, nicht richtig zugeordnet werden oder waren, weil nicht handschriftlich unterzeichnet, juristisch nur eingeschränkt verwertbar. „Weiteres belastendes Material“, so Oberstaatsanwalt Altenbuchner-Königsdorfer in seiner Einstellungsverfügung, „konnte trotz intensivster Nachforschung beim BStU (Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR –Red.) nicht beigebracht werden“. So ganz im Bilde kann er damals nicht gewesen sein. Im Matthias-Domaschk-Archiv der Robert-Havemann-Gesellschaft, einem eingetragenen Verein, der aus der DDR-Bürgerbewegung hervorgegangen ist, lagern Kopien des handschriftlichen Anhangs der ZAIG-Akte 13748. Darin befindet sich ein Zettel, auf dem die Stichworte „besoffen erfrieren, Auto anbohren – Leitung“ und „Paket – was reinmischen in Flaschen“ notiert sind. Die Unterlagen stammen aus der Gauck-Behörde. Frank Ebert, Mitarbeiter des Domaschk-Archivs, hatte sie von dort ohne Schwierigkeiten bekommen. Der Oberstaatsanwalt versicherte auf Nachfrage des SPIEGEL, weder den Zettel noch den Rest der handschriftlichen Notizen jemals gesehen zu haben. Altenbuchner-Königsdorfer: „Da muss irgendwas Ex-Major Hasse (1990) Beinahe das Privatleben ruiniert Am 17. April 1991 machte er sich auf den Weg zur Wohnung von Peter Kappis – in Begleitung eines Freundes, der vor der Tür warten sollte, „aus Sicherheitsgründen, denn die Sache saß mir ganz schön in den Knochen“. Die Vorsichtsmaßnahme erwies sich als überflüssig, Kappis war freundlich und bot ihm sogar ein Bier an. Als Hirsch ihn auf das Mordkomplott ansprach, stritt Kappis zunächst alles ab, lenkte dann aber ein und jammerte, dass Hirschs oppositionelle Aktivitäten beinahe sein Leben und das des Kollegen Hasse ruiniert hätten: „Privatleben konnten wir uns abschminken. Immer wenn wir frei hatten, sind Sie los, und wir mussten hinterher.“ Als dann noch seine Frau gedroht habe, ihn zu verlassen, hätten er und Hasse sich über „außergewöhnliche Maßnahmen“ Gedanken gemacht. Kappis: „Das müssen Sie doch verstehen, Sie haben uns tyrannisiert.“ s p i e g e l Gunther Latsch 4 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Deutschland Während Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin (SPD) noch darüber nachdenkt, Ladendiebstahl künftig wie Falschparken als Ordnungswidrigkeit mit einem Knöllchen zu ahnden, um die Justiz von Bagatellverfahren zu entlasten, wollen die Sachsen hart und schnell zuschlagen und damit das gleiche Ziel erreichen. Der diebische Griff ins Regal soll im Freistaat Straftat bleiben und sofort bestraft werden. Ersttäter bittet die Polizei dort seit Anfang Oktober gleich nach der Vernehmung zur Kasse – vorausgesetzt, der Verdächtige ist älter als 18 Jahre und hat für weniger als 100 Mark gestohlen. Die Einstellung des Strafverfahrens wird dann zur Formsache. Sachsen wolle ein Zeichen setzen, sagt Anita Lausecker aus dem Innenministe- K R I M I N A L I TÄT Hart und schnell Ladendiebe werden in Sachsen gleich von der Polizei zur Kasse gebeten. Das Modell soll die Justiz entlasten. E A. PETER / ACTION PRESS in Damenhemdchen, eine Haarschleife und Weihnachtsdeckchen – was die alte Dame eingesteckt hatte, machte zusammen 53,90 Mark. Abgerechnet wurde jedoch nicht an der Kasse des Karstadt-Hauses an der Prager Straße in Dresden, sondern im Büro der Sicherheitsabteilung dort. Minister Hardraht, Überwachungsspiegel* Bald wie in der DDR? Bundesweit registrierte Straftaten 1998; insgesamt: 6,5 Millionen Einfache und schwere Diebstähle sonstige Straftaten inkl. Ladendiebstähle 27,7 % 51,4 % Sachbeschädigungen nur 10,0 % LadenBetrug diebstähle 10,9 % 10,1 % Quelle: BKA In Sachsen registrierte Ladendiebstähle 39,1 in Tausend 34,3 40,0 41,1 1997 1998 28,2 1994 1995 1996 Hausdetektiv Rainer Haase brachte die Frau, deren Tascheninhalt auf dem Tisch lag, anschließend 100 Meter weiter ins Hertie-Sporthaus. Dort sitzt die Polizei in einem neu eingerichteten Aufnahmebüro eigens für Ladendiebstahl. Die Beamten, die in dem karg möblierten Raum die Anzeige tippten, machten der Frau ein unerwartetes Angebot: Gegen Zahlung von 100 Mark sei der Fall erledigt, das Verfahren werde eingestellt. * In einem Dresdner Drogeriemarkt. 80 S. DRING / PLUS 49 / VISUM Volkssport Diebstahl Christdemokraten einen juristischen Dreh einfallen lassen. Die Polizei bietet im Auftrag der Staatsanwaltschaft gleich nach Anzeigenaufnahme die vorläufige Einstellung des Verfahrens gegen Zahlung einer „Geldauflage im Sinne der Strafprozessordnung“, so die Projektbeschreibung, an. Die Buße ist in der Regel doppelt so hoch wie der Wert des Diebesgutes, „mindestens aber 50 Mark“; gezahlt wird sofort oder per Überweisung. Damit bleibt die Staatsanwaltschaft formal Herrin des Verfahrens, prüft aber lediglich noch, ob die Voraussetzungen erfüllt sind, und verschickt den Einstellungsbescheid. Zwar kann jeder Verdächtige auch in Sachsen weiterhin auf einem ordentlichen Strafverfahren bestehen, etwa wenn er sich zu Unrecht beschuldigt sieht. Doch gerade beim Ladendiebstahl ist die Wahrscheinlichkeit dafür gering. Die Aufklärungsquote beträgt trotz hoher Dunkelziffer nahezu 100 Prozent, denn nur wer sich erwischen lässt, wird überhaupt amtlich erfaßt. Mehr als die Hälfte der Straftaten, die 1998 in Deutschland registriert wurden, waren Diebstahlsdelikte, ein Fünftel davon wiederum machte der Ladendiebstahl aus. Dresden liegt mit einer Quote von rund 3000 Ladendiebstählen im Jahr pro 100 000 Einwohner im Mittel deutscher Großstädte, andere ostdeutsche Metropolen wie Halle, Rostock oder Magdeburg stehen schlechter da. „Wir wollen gerade Ersttätern zeigen, dass sich Ladendiebstahl nicht lohnt“, sagt Wolfram Jena vom sächsischen Justizministerium. Im April, wenn das Projekt sechs Monate gelaufen ist, wollen die Ministerialen Bilanz ziehen. Bayern und Baden-Württemberg, so Jena, hätten bereits Interesse am sächsischen Verfahren bekundet, und auch bei der jüngsten Sitzung des Strafrechtsausschusses der Länder sei es auf positive Resonanz gestoßen. Tatsächlich kommen die Sachsen damit einer Forderung namhafter Rechtsexperten entgegen, dass nämlich Strafe möglichst zeitnah der Tat folgen sollte, um eine erzieherische Wirkung zu haben. Zudem wird die stets über Verfahrensflut klagende Staatsanwaltschaft entlastet, den Großteil ihrer Arbeit übernehmen Polizisten. Das bringt der Landesregierung denn auch Kritik der Gewerkschaft der Polizei ein. Deren Sprecher Konrad Freiberg äußert „Bedenken“, die Polizei habe schließlich „genug zu tun“. Auch auf Seiten der Justiz erklingt nicht nur Jubel. Kritiker sehen im neuen Verfahren eine Aufweichung der Gewaltenteilung. „Das ist ja bald wie in der DDR“, so ein sächsischer Richter, „da konnte die Polizei bestimmte Delikte gegen Zahlung eines Bußgeldes eigenmächtig erledigen.“ Andreas Ulrich rium. Die Landesregierung glaubt, die „Einführung eines Verfahrensmodells zur wirksameren Bekämpfung des Ladendiebstahls“, wie das Projekt offiziell heißt, könne zum Vorbild für den Rest der Republik werden. Bislang wurden in Sachsen wie in anderen Bundesländern auch fast 50 Prozent aller derartigen Verfahren sanktionslos eingestellt. Das aber sei „unter Berücksichtigung kriminalpräventiver Gesichtspunkte“, wie es in einem internen Schreiben des sächsischen Innenministeriums heißt, ein „nicht vertretbares Ergebnis“. Gemeinsam traten Innenminister Klaus Hardraht und Justizkollege Steffen Heitmann auf die Bremse. „Auch Ersttäter von Ladendiebstählen müssen die Härte des Gesetzes spüren“, lautet ihr Credo. Sächsischen „Ladis“ (Polizeikürzel für Ladendiebe) geht es jetzt schon ab zehn Mark Beutewert an den Kragen. Um das ohne großen Justizaufwand schaffen zu können, haben sich die beiden d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Gesellschaft Szene U N T E R H A LT U N G „Island ist uns voraus“ CISOTTO / DEIDDA Tops aus Halstüchern MODE Spitze auf dem Nabel W as tun mit den Tüchern? In den USA haben die so genannten California-Beach-Girls in diesem Sommer einen neuen Modetrend entwickelt. Geboren aus der Not des vergessenen Bikini-Oberteils eroberte er sich seinen Weg auf die Prominentenpartys. Statt eines Tops trägt die junge Schöne dort H. SCHNITGER / TIP KO M M U N I K AT I O N Plögert sich aus anderen Gründen aufgegeben haben. Das Lied hat ihnen Mut gemacht. Darauf kam es mir an. SPIEGEL: Wird die deutsche Schlagerbranche in absehbarer Zeit mehr homosexuelle Sänger und Sängerinnen präsentieren? Plögert: Nein. Ich war jetzt im Gespräch für die deutsche Vorentscheidung zum Grand Prix Eurovision, aber ich bin denen dann doch ein zu heißes Eisen. Island dagegen hat vor zwei Jahren einen offen schwulen Sänger ins Rennen geschickt, der sein Lied in Lack und Leder präsentierte. Er ist zwar einer der Letzten geworden, aber in seinem Land eine Ikone. Island ist uns um Längen voraus. Post im Quasselknochen I m Pulk einen Zebrastreifen zu überqueren war auch schon mal ungefährlicher: Immer öfter passiert es, dass der Vordermann plötzlich stehen bleibt, weil ein Piepton aus seinem Handy dringt – und schon kommt es zum Zusammenstoß. Das Piepen ist Erkennungszeichen für den Erhalt einer Kurzmitteilung – und von denen sausen täglich mehr durch die deutschen Handy-Netze: 1997 waren es im D2-Netz noch kümmerliche 75 Millionen, ein Jahr darauf schon das Viereinhalbfache. Die Zahl der Handy-Mails verdoppelt sich alle sechs Monate. Heute senden nicht nur Handy-Kids, weil man im Mathe-Unterricht so schlecht telefonieren kann, die Pläne für die Nachmittagsgestaltung von Schulbank zu Schulbank, sondern auch immer mehr erwachsene Handy-Nutzer ziehen die Buchstabe d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 heute ein fest unter den Achseln auf dem Rücken geknotetes Halstuch, dessen Spitze den Bauchnabel knapp bedeckt. Wer sich bei solcher Luftigkeit eine Mandelentzündung holt, kann sich damit trösten, dass sich das hübsche Tuch auch bestens eignet, den schmerzenden Rachen vor Frost zu schützen. für Buchstabe eingetippte Kurzpost dem (teureren) Telefonat vor. Viele Handy-Briefschreiber verhalten sich dabei längst wie Süchtige: Ständig greifen sie zwangsneurotisch nach dem Quasselknochen in der Tasche, um zu prüfen, ob neue Post da ist; beim Autofahren nutzen sie jede rote Ampel zum Tippen – und als Fußgänger verfallen sie bei jedem Piep noch im größten Getümmel in die gefürchtete Spontanstarre. M. WITT SPIEGEL: Herr Plögert, am vergangenen Samstag waren Sie als angeblich erster offen schwuler Sänger in der ZDF-Hitparade eingeladen. Tut sich die Branche leichter mit dem Outen? Plögert: Offiziell wird Homosexualität meist weiterhin gründlich vertuscht. Aber man erkennt sich natürlich. Und es gibt eine Menge Schwuler. SPIEGEL: Der Fall Rex Gildo zeigt, dass es sehr belastend ist, nach außen den Frauenschwarm zu geben, aber Männer zu lieben. Haben Sie es leichter? Plögert: Einem solchen Doppelleben entgehe ich. Aber ich muss damit fertig werden, dass mich die großen Plattenfirmen nicht haben wollen. Sie fürchten, ich könnte ihre anderen Interpreten in Misskredit bringen. SPIEGEL: Der Besungene in Ihrem Lied ist schwer krank. Jeder begreift, dass es um Aids geht. Trotzdem wird die Krankheit nicht beim Namen genannt. Warum? Plögert: Ich wollte keine Ausgrenzungen. Es haben sich viele Menschen bei mir gemeldet, die krebskrank sind oder T. B. DAY / CELEBRITY PICTURES Der Berliner Schlagersänger Donato Plögert, 32, über Homosexualität in der deutschen Showbranche Handy-Kurzpost 83 K. RUGE Titel Bankerin Schmitz-Abshagen: „Hier zählen die Ergebnisse“ Schauspieler- „Fordert, was ihr kriegen könnt“ In Deutschland tritt eine neue Frauenbewegung an: nicht auf den Straßen, sondern in der Arbeitswelt. Mit Hilfe von Karriere-Netzwerken und Seilschaften machen sich die Frauen auf den Weg an die Macht – und entwickeln neue Formen, Beruf und Familie zu verbinden. Von Susanne Weingarten und Marianne Wellershoff D er Bund Deutscher Architekten hat 16 Landesverbände. In 15 davon steht „ein Mann, so um die 50“, an der Spitze, sagt die Architektin Alexandra Czerner. Nur in einem nicht, dem Hamburger Landesverband. Denn den leitet sie selbst – und der heißt seit zwei Wochen Bund Deutscher Architekten und Architektinnen. Den Vorschlag zur Namenserweiterung hatte Czerner, 36, eingebracht: „Das ist ein Riesenerfolg“, sagt die Unternehmerin, „90 Prozent der Stimmberechtigten sind Männer.“ Vor acht Jahren hat Czerner ihr eigenes Büro gegründet. „Die Ideen, die in mir schlummerten, wollte ich auch verwirklichen“, sagt sie. Dazu sah sie als angestellte Architektin kaum Perspektiven. „Auf 84 die minimale Chance, vielleicht in zehn Jahren in die Entscheidungsebene zu kommen, wollte ich nicht warten.“ Stattdessen hat sich Czerner hochgerackert durch die Teilnahme an Architekturwettbewerben, von denen sie inzwischen mehr als 15 gewonnen hat. Nach der Geburt ihres Sohnes Victor vor sechs Jahren nahm Czerner eine Babypause von wenigen Monaten; dann fing sie wieder an zu arbeiten – mit dem Säugling neben dem Schreibtisch. „Das bedeutete: viel Selbstdisziplin zu haben, nicht durchzudrehen, wenn das Kind eine Erkältung hatte und quengelte, gleichzeitig ein drängelnder Investor am Telefon war und die Zeit bis zu einer Wettbewerbsabgabe knapp wurde.“ d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Wenn der Junge abends eingeschlafen ist, gegen acht oder neun, schiebt Czerner heute eine weitere Schicht am Zeichenpult ein: Wohnung und Arbeitsplatz liegen im selben Gebäude. „Manche sagen, ich sei hart geworden“, erklärt Czerner. „Ich sage, ich bin klar geworden.“ Eine neue Frauengeneration ist im Anmarsch. Ehrgeizig sind die Damen, pragmatisch, stresserprobt, meist hoch qualifiziert und selbstbewusst. Ihr Schicksal nehmen sie selbst in die Hand. Sie wollen Selbstverwirklichung, sie wollen Erfolg, sie wollen Einfluss, und sie wollen das alles zu ihren Bedingungen. Nahm sich die Frauenbewegung vor 30 Jahren vor, das Patriarchat abzuschaffen, so ziehen die Frauen von heute die Unterwanderung des FOTOS: S. BERGEMANN / OSTKREUZ ( li.); BINDRIM / LAIF ( re.) Agentin Holter: Erste Adresse für Stars und Sternchen Systems vor: Still und zäh infiltrieren sie die Schaltstellen der Macht in Wirtschaft und Politik. Fast unbemerkt hat sich so in Deutschland eine neue Frauenbewegung in Gang gesetzt. Sie demonstriert nicht lautstark auf den Straßen, sondern steigt in die Führungsetagen der Unternehmen auf. Sie ist nicht mit feministischen Politfibeln munitioniert, sondern mit Karriereratgebern. Statt lila Latzhosen tragen die neuen Vorkämpferinnen lieber weiblichen Business-Stil; statt der Selbsterfah- Vox-Chefin Schäfer-Kordt: Mehr als ansagen, aufsagen und lächeln rungsgruppe besuchen sie den Stammtisch eines Berufsnetzwerks oder knüpfen Frauen-Seilschaften, die in Form und Zweck den „Old Boys’ Networks“ ihrer Kollegen und Konkurrenten abgeschaut sind. Und statt die Schuld immer beim System zu suchen, übernehmen sie selbst Verantwortung für ihre Defizite: volle Frau voraus. Wer nicht vorwärts kommt, ist kein bedauernswertes Opfer der Männer, sondern selber schuld. Frauen seien „nicht schwach“, erklärte kürzlich eine Kom- M. ZUCHT / DER SPIEGEL Architektin Czerner, Sohn Victor: „Ich sage, ich bin klar geworden“ mentatorin in der „Wirtschaftswoche“, „wir sind nur oft dämlich, faul und unaufrichtig“ – dämlich vor allem deshalb, „weil wir uns die Hälfte des Himmels nicht einfach nehmen“. Das Auffälligste an den neuen Frauen ist bislang, wie unauffällig sie den gesellschaftlichen Wandel vorantreiben. Von Emanzipation reden sie nicht, sondern sie leben sie. Die wenigsten definieren sich als Feministinnen – auch wenn sie durchdrungen sind von feministischem Gedankengut. „Die früheren Phasen der Frauenbewegung haben bewirkt, dass es heute mehr Frauen gibt, die wissen, was Sache ist“, sagt die Berliner Sozialwissenschaftlerin Barbara Schaeffer-Hegel. „Das sind Frauen, die scharf darauf sind, etwas zu verändern. Und diese Frauen stellen sich nicht mit lautem Gebrüll vor die Tore des Systems und hoffen, dass die Mauern von Jericho dadurch einfallen.“ Rund ein Drittel aller neuen Unternehmen werden heute von Frauen gegründet, oft genug von solchen, die sich vorher den Kopf an der berüchtigten, weibliche Karrieren hemmenden „gläsernen Decke“ in männerfixierten Firmen blutig gestoßen haben. Vor einigen Wochen erst versammelten sich rund 115 Unternehmerinnen aus dem Raum Franken zur ersten fränkischen Frauen-Messe in Nürnberg, die „zahlreiche Foren“ für „Vernetzung und 85 AP Titel Rot-grüne Bundesministerinnen*: „Politikerinnen erlauben sich heute das Streben nach Macht“ Austausch der Unternehmerinnen und Gründerinnen“ anbot. In der Politik weicht die geschlechtsspezifische Ressortverteilung seit Mitte der achtziger Jahre auf: Frauen rackern nicht mehr nur in den „typisch weiblichen“ Kuschelecken wie Familie, Jugend, Kultur und Soziales, sondern wagen sich in die Kernressorts wie Wirtschaft, Finanzen und Inneres. In der derzeitigen Bundesregierung sind Ministerinnen zuständig für die Ressorts Justiz, Bildung, Familie, Gesundheit und Entwicklungshilfe; die ehemalige Berliner Umweltsenatorin Michaele Schreyer ist EU-Haushaltskommissarin. Auch in den Medien steigt die Anzahl qualifizierter Frauen, die mehr als nur ansagen, aufsagen und in die Kamera strahlen: Die wichtigste politische Talkshow des Landes wird von Sabine Christiansen, 42, moderiert; Konkurrenz macht ihr seit kurzem Maybrit Illner, 34, mit ihrer Sendung „Berlin Mitte“. Chefin des Fernsehsenders Vox ist seit Anfang dieses Jahres An* Andrea Fischer (Gesundheit), Christine Bergmann (Familie, Senioren, Frauen und Jugend), Edelgard Bulmahn (Bildung), Herta Däubler-Gmelin (Justiz), Heidemarie Wieczorek-Zeul (Entwicklungshilfe). ** Sonja Bischoff: „Männer und Frauen in Führungspositionen der Wirtschaft in Deutschland. Neuer Blick auf alten Streit“. Wirtschaftsverlag Bachem, Köln; 168 Seiten; 48 Mark. 86 ke Schäfer-Kordt, 36; und Christiane zu Salm-Salm, 33, lenkt seit April 1998 als Geschäftsführerin die Management-Geschicke der Musiksender MTV und VH 1 in Mitteleuropa. Innerhalb weniger Jahre hat Mechthild Holter, 37, Gründerin und Geschäftsführerin der Schauspieler-Agentur Players, ihre Firma zu einer der ersten Adressen für Stars und Sternchen im deutschen Film- und Fernsehgeschäft gemacht. Insgesamt hat der Appetit der Frauen auf die Macht Selten in Spitzenpositionen gewaltig zugenommen. In Erwerbstätige Frauen in Führungspositionen einer Interviewstudie unter in Prozent in Prozent der 15- bis 64-Jährigen Führungskräften, welche die Hamburger Wirtschafts3,7 74,2 Dänemark wissenschaftlerin Sonja Bischoff 1990 leite2,8 74,1 Schweden te, „haben sich die 4,1 69,8 Finnland Frauen noch durchweg von der Macht distan3,7 61,8 Deutschland ziert“. Eine Geschäftsführerin sagte damals 4,8 61,8 Österreich gar, Macht sei „ein böses Wort“. Heute dagegen, ein 6,1 61,3 Niederlande knappes Jahrzehnt später, 5,7 sehe es mit der weiblichen Be61,0 Frankreich ziehung zur Macht „ganz er5,6 60,3 Portugal freulich aus“, sagt Bischoff, die gerade eine Studie über 7,6 Belgien 52,9 Topleute der Wirtschaft publiziert hat**. Auch ihre Stu7,7 Spanien 46,7 dentinnen hätten teilweise Quelle: „richtig Lust auf Macht: Sie 6,4 Griechenland 46,0 Eurostat wollen ihr Leben so gestalten, 0,6 wie sie es haben wollen, und Italien 43,6 wissen genau, dass das nur mit d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Eine größere Bereitschaft zum Griff nach der Kohle lässt sich inzwischen erkennen: Gerade jüngere Frauen hätten „ein gewandeltes Verhältnis zum Geld“, sagt die Hamburger Finanzberaterin Susanne Kazemieh, „sie erwarten, dass sie ein Berufsleben lang über Einnahmen verfügen werden, und halten es nicht für unweiblich, sich über deren Investition Gedanken zu machen“. Ein anderes Problem ist die unsichtbare „gläserne Decke“, die in vielen Unternehmen Frauen am Aufstieg hindert: Zwar setzt die Diskriminierung wesentlich später ein als noch vor einem Vierteljahrhundert – aber in den Dreißigern saust die große Schranke im Beruf nieder. „Unsere Firma expandiert, doch Managementstellen werden von außen besetzt, mit Männern“, sagt Christina Groß*, 30, eine Diplom-Kauffrau und Junior-Product-Managerin bei einem Nahrungsmittelkonzern. Anstatt darüber im Stillen zu jammern, geht Groß zum Gegenangriff über: „Ich habe mich mit meinen direkten Kolleginnen zusammengesetzt und festgestellt: Frauen werden nicht befördert.“ Nun wollen die Jungmanagerinnen den Firmenchef zu einem klärenden Gespräch bitten. Die Mittdreißigerin Stefanie Hirsch*, die im mittleren Management eines Zigarettenkonzerns arbeitet, hat die Erfahrung gemacht, dass „Frauen Jobs unter Bedingungen angeboten werden, die Männer nie akzeptieren würden, etwa als kommissarische Leiter oder mit reduziertem Gehalt“. So erging es auch der PRManagerin Birca Weidel, 35, bis vor kurzem Prokuristin und Mitglied der Geschäftsleitung eines Finanzdienstleisters. Sie hatte als Berufsanfängerin ihren ersten Job unter anderem deshalb bekommen, weil die Firma bewusst eine Frau einstellen wollte. „Warum? Weil der Sekretärinnenposten eingespart wurde und es einem Mann nicht zuzumuten sei, sein Sekretariat selber zu machen“, erzählt Weidel, „für eine Frau sei das ja kein Problem.“ Ihr Fazit: „Solche Dinge muss man hinnehmen Anja Keil, 32, Marketingleiterin und was daraus machen.“ Wenn Frauen das Oil-ofIn Brasilien ist sie geboren, in Rumänien, Portugal und Olaz-Alter zwischen 35 und China ging sie zur Schule, in Deutschland studierte sie 40 Jahren erreicht haben, Betriebswirtschaftslehre, und ein Praktikum machte sie in werde „ihnen bewusst, dass Japan. Da ist es nur folgerichtig, dass Anja Keil, nach einisie im Beruf nur schwer weigen Jahren im Marketing des Fernsehsenders Premiere, terkommen“, bestätigt die heute für das internationale Medium Internet arbeitet: als Hamburger UnternehmensMarketingleiterin von America Online und Compuserve in beraterin Helga Richter, 43, Hamburg. Konferenzen von morgens bis abends, Dienstdie dem Verein „Frauen im reisen, Strategieplanung, Nachtschichten – viel Zeit für Management“ (FIM) vorPrivates bleibt nicht. Das wird aufs Wochenende verlegt, steht, die Erfahrungen dieser auch deshalb, weil ihr Freund in einer anderen Stadt lebt. Managerinnen. Viele leiden Bei den Kolleginnen in den USA hat sie gesehen, dass darunter, dass sie sich isoliert eine Führungsposition nicht automatisch Verzicht auf Kinfühlen und sich mit massiver der bedeutet: „Mit der richtigen Partnerschaft, in der das Antipathie der Kollegen herKind nicht Frauensache ist, und der richtigen Infrastruktur umplagen müssen. Doch so aus Kinderfrau, Kindergarten und Verwandten geht das.“ frustrierend sich der ArbeitsIn Deutschland gebe es dagegen ein „Mentalitätsproalltag gestalten mag: Die blem“, sagt Keil. „Wenn die Kinder nicht mittags bei MutFrauen begegnen ihren tern Spaghetti Miracoli essen, ist die Welt nicht in OrdSchwierigkeiten heute mit nung.“ Unter den amerikanischen Kolleginnen bestehe zudem „eine unausgesprochene Frauensolidarität“, denn anderen Strategien. „wenn man das Karrierespiel spielen will, muss man die Der Boom an Ratgebern Regeln beherrschen, und zu denen gehören Politik und für den weiblichen Markt, Strategieplanung“. Mit Männern arbeitet Keil gut und gern die Karrieretipps geben oder zusammen, „aber auf Dauer entwickelt man mit Frauen eine allgemeine Ego-Stäreine persönlichere Ebene und baut ein Wir-Gefühl auf“. M. WITT einem gewissen Quantum an Macht möglich ist“. Eine ähnliche Erfahrung machte die Berliner Politikwissenschaftlerin Helga Lukoschat, die 1998 bei einer Umfrage unter deutschen Politikerinnen überrascht feststellte, „dass die Mehrzahl sich selbst ein positives Verhältnis zur Macht attestiert“. Die bis vor wenigen Jahren üblichen „Umschreibungen und Distanzierungen“ seien selten geworden: „Politikerinnen erlauben sich heute das Streben nach Macht“, erklärt Lukoschat. Dass Macht das Thema sei, das Frauen derzeit am meisten beschäftige, hat auch die Ratgeber-Autorin Barbara Berckhan bemerkt: „Frauen wissen inzwischen, dass sie gut kommunizieren und sich einfühlen können, jetzt wollen sie Power“, erklärt sie. „Auf der Sachebene wollen sie bitte mal Ergebnisse sehen.“ Häufig haben die neuen Erfolgsfrauen schon die ersten Fältchen um die Augen – und reichlich Erfahrung mit den Tücken des Patriarchats. Es ist kein Zufall, dass es nicht die Berufsanfängerinnen sind, die heute den Status quo zu ihrem Vorteil ummodeln wollen. Junge Frauen spüren lange überhaupt nicht, dass auf sie Nachteile in dieser Gesellschaft warten. Sie erleben sich in Schule und Ausbildung als vollkommen gleichberechtigt (SPIEGEL 25/ 1999). „Es ist heute für eine Frau kein Problem mehr, eine Stelle zu kriegen“, erklärt Bischoff, „erst wenn sie die Stelle hat, fangen die Probleme an.“ Eine Schwierigkeit ist die schlechtere Bezahlung: Bis heute verdienen Frauen in Westdeutschland nur 76,9 Prozent vom Bruttostundenlohn der Männer; in Ostdeutschland, wo die Frauen gegenüber ihren West-Schwestern einen jahrzehntelangen Vorsprung bei der Erwerbstätigkeit haben, beträgt die Rate immerhin 89,9 Prozent. In Unternehmen, in denen viele weibliche Führungskräfte sitzen, ist das Einkommensniveau aller Spitzenleute, egal welchen Geschlechts, geringer als in anderen Unternehmen: Der niedrigere Gehaltslevel der Frauen zieht auch die Bezahlung der Männer in Mitleidenschaft. Auch da liegt die Schuld allerdings nicht nur beim System. „Nach wie vor stellen sich Frauen bei Gehaltsverhandlungen blöd an“, ärgert sich die Münchner Unternehmensberaterin Claudia Harss, 40. Dass Frauen in Geldfragen „zu bescheiden“ seien, registriert auch Martina Borgmann, 36, Personalberaterin bei dem Düsseldorfer Unternehmen Kienbaum. „Sie sagen: ,Sprechen wir darüber, wenn ich die Arbeit gut gemacht habe.‘ Frauen brauchen die innere Sicherheit, dass sie Qualität bringen, um Forderungen zu stellen.“ Männer dagegen hätten „keine Zweifel, dass sie die Arbeit schaffen“. Darum rät die Wirtschaftswissenschaftlerin Bischoff ihren Studentinnen: „Fordert, was ihr kriegen könnt!“ * Name von der Redaktion geändert. d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 87 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Titel Kürbissuppe aus dem Netz Stellenangebote, Computertipps und virtuelle Vereine – Frauen nutzen das Internet zum Informationsaustausch. D er Kaffeeklatsch gehört zu den das Magazin „gURL“ bietet jungen Traditionen weiblichen Sozialle- Mädchen an, sich auf einer Homepage zu bens, und deshalb hat er seinen präsentieren. Ältere Frauen organisieren Platz auch in der virtuellen Nebenwelt sich im „Older Women’s Network Eudes Internet gefunden. Unter der Adres- rope“, und der Provider „woman.de“ biese www.hausfrauenseite.de wird im Chat- tet Frauen Zugang zum Internet, NewsRoom genannten Wohnzimmer geklönt, Seiten und Listen von Frauenverbänden. In Deutschland gibt es seit zwei Jahren man kann sich Rezepte für Kürbissuppe und Zebrakuchen herunterladen einen Ableger der in Amerika gegründeoder aber auf der „Schwangerschaftssei- ten „Webgrrls“. Es ist ein Zusammente für Dicke“ über den richtigen Umgang schluss von Frauen, die in Multimedia-Bemit dem Übergewicht informieren. Ein Drittel der Internet-Benutzer sind Frauen, und sie erobern die Welt des Netzes mit eigenen Service-Seiten, Clubs und Foren. Bücher wie „Cybergrrl – Der Internet-Guide für Frauen“ oder „Women’s Links – Das kommentierte Internet-Adressbuch 2000“ zählen mehr als 1000 Webadressen für Frauen auf. Als Pionierinnen in der Computerwelt gelten die Britin Ada Gräfin von Lovelace, die 1842 eine der ersten Abhandlungen über programmierbare Rechenmaschinen schrieb, und die Amerikanerin Frauen-Webseite: Elektronischer Kaffeeklatsch Betty Holberton, 82, die während des Zweiten Weltkriegs die Software rufen arbeiten – ein „Forum für Wissenszur Flugbahn-Berechnung von Granaten transfer, Erfahrungsaustausch, Jobverschrieb. Sie war, wie die Programmiererin mittlung,Weiterbildung und Networking“ und spätere US-Admiralin Grace Murray nennt Karin Maria Schertler, 31, GründeHopper, an der Erfindung der Compu- rin der deutschen Gruppe, die Organisation. Über E-Mailing-Listen tauschen die tersprache Cobol beteiligt. Heute schreiben Frauen nicht nur Soft- Cyber-Mädels Erfahrungen zu den Themen ware. Wie die Münchnerin Loretta Wür- „Job, Business, Web-Entwicklung“ aus. Das heißt beispielsweise, dass sie sich tenberger, 27, die mit ihrer Firma Webmiles die Idee der Rabattmarke aufs Netz gegenseitig über Stellenangebote inforüberträgt, gründen sie Internetfirmen mieren oder einander bei Programmieroder entwerfen Websites. Da sie über das problemen unterstützen. In der realen Netz mit ihren Auftraggebern kommuni- Welt treffen sie sich in Ortsgruppen zu zieren können, sind sie nicht auf einen Themenabenden wie „Geldanlage für Arbeitsplatz im Büro angewiesen, son- Frauen im Zeichen des Euro“. Weil auch das Bundesbildungsministedern können freiberuflich und flexibel an fast jedem Ort der Welt arbeiten. Mit ei- rium, die Bundesanstalt für Arbeit, die Tegenen Homepages machen sie im Web lekom und die Zeitschrift „Brigitte“ neue Berufschancen für Frauen im Internet Werbung für sich. Vor allem aber ist die einfache, schnel- sehen, haben sie Ende September die Akle und billige Kommunikation per Inter- tion „Frauen ans Netz“ gestartet. In 1200 net Grundlage für die moderne Form des kostenlosen Seminaren lernen die Frauen Vereins: das virtuelle Netzwerk. So haben den Umgang mit dem Internet. „Ohne Insich Künstlerinnen aus Deutschland, Aus- formations- und Kommunikationstechnotralien und Russland zum „Old Boys Net- logie“, sagte Bundesbildungsministerin work“ zusammengeschlossen, um ge- Edelgard Bulmahn, „sind die Berufe der meinsame Kunstprojekte zu entwickeln; Zukunft nicht mehr denkbar.“ 90 d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 kung versprechen, zeigt, dass sie entschlossen und pragmatisch nach Hilfe suchen: „Machiavelli für Frauen“ hat bisher eine Auflage von 108 000 Exemplaren erreicht; ein Bestseller dieses Herbstes ist Sabine Asgodoms Motivationsbuch „Erfolg ist sexy! Die weibliche Formel für mehr Lust im Beruf“*. Selbst die Altfeministin Alice Schwarzer hält diese Ratgeber, „wenn sie gut sind“, für die feministische Literatur der neunziger Jahre (siehe Interview S. 107). Zuhauf drängen Frauen auch in Seminare und Schulungen, die ihnen zaghaftes weibliches Sprachverhalten austreiben und mehr Durchsetzungskraft im Auftreten einbläuen sollen. „Jüngere Frauen könnten sich einige Ehrenrunden sparen“, glaubt die Unternehmensberaterin Harss, „wenn sie besser informiert wären über erfolgversprechendes Verhalten im Job.“ So müssen sie unter anderem „lernen, ihre Leistung besser zu verkaufen“, sagt die FIM-Vorsitzende Richter: „Ich richte den Appell an Frauen, mehr einzufordern, mit Selbstbewusstsein die eigenen Fähigkeiten auf den Markt zu bringen.“ Am einfachsten ist dies, wo Angestellte ausschließlich nach ihrer Leistung bezahlt werden – zum Beispiel in Investmentabteilungen von Banken, wo Frauen mit ihren männlichen Kollegen gleichziehen. „In diesem Bereich gibt es kein hierarchisches Denken, hier zählen die Ergebnisse“, sagt Susanne Schmitz-Abshagen, die bei der Deutschen Bank in Frankfurt ein Team von zehn Wertpapier-Beratern leitet. Sie selbst hatte nach ihrem Japanisch- und Volkswirtschaftsstudium in London vor elf Jahren bei einer US-Investmentbank angefangen. Heute weiß sie: „Für Frauen war es damals im internationalen Geschäft einfacher als in Deutschland.“ Wenn ihre Chancen schlecht stehen, zeigen Frauen den Mut, Firmen zu verlassen. Sie seien „heute nicht mehr bereit zu sagen: Hier bin ich, und hier bleibe ich, auch wenn ich diskriminiert werde“, glaubt Bischoff, „sondern sie sagen: Dann gehe ich eben“. So wie die dynamische PR-Frau Weidel: Die quittierte ihre erste Stelle, weil sie „im Unternehmen keine Aufstiegschancen hatte“. Dass Weidel trotzdem glaubt, „Schutz und Hilfe von anderen Frauen“ nicht zu brauchen, sondern sich zur „Einzelkämpferin“ stilisiert, ist eine Haltung, zu der gerade taffe Do-it-yourself-Frauen neigen. Individualistisch, wie sie sind, wollen sie es allein schaffen. Aber indem sie sich wei* Sabine Asgodom: „Erfolg ist sexy! Die weibliche Formel für mehr Lust im Beruf“. Kösel Verlag, München; 238 Seiten; 29,90 Mark. Expertinnen beraten zu Themen wie Steuern, Finanzierung und Marketing. • „Zonta“, 1919 in den USA gegründet, ist ein internationaler Wirtschaftsclub für Frauen, der neue Mitglieder nur auf Empfehlung aufnimmt. 77 Regionalclubs gibt es in Deutschland, in denen jeweils nur zwei Frauen aus demselben Beruf vertreten sein dürfen. Die Mitglieder verstehen sich als Netzwerkerinnen, engagieren sich aber auch national wie internatioDiane Tönsing, 44, Geschäftsfrau nal für soziale Randgruppen und beraten unter anderem die Erst im vergangenen Frühjahr verwirklichte Diane TönVereinten Nationen. sing den Plan, den sie einige Jahre mit sich herumge• Der „Deutsche Akadetragen hatte: Sie eröffnete gemeinsam mit Manuela mikerinnenbund“ (rund 1800 Nygaard, 37, in Hamburg ein Geschäft für KinderkleiMitglieder) verfügt über dung, Kindergeschenke und Partyartikel. Außerdem orbundesweit 30 Gruppen, die ganisiert sie Geburtstagspartys, von der Einladungskarsich monatlich treffen, und te bis zu den Preisen fürs Topfschlagen. 13 Jahre lang veranstaltet Fachtagungen hatte die ausgebildete Lehrerin zuvor ein Strickwarenund Seminare. geschäft geführt. Die Betreuung ihrer heute sieben Jah• Die Organisation „Bure alten Tochter teilt sie sich mit ihrem Mann, der eine siness Professional Women Dreiviertelstelle als Lehrer hat. Als die Tochter klein Germany“ (circa 1000 Mitwar, kümmerten sich auch noch Tagesmutter, Großelglieder), Ableger eines welttern und Patentante um sie. „Ich musste nie mit Vorurweiten Frauen-Berufsplateilen kämpfen, weil ich berufstätig bin“, sagt Tönsing, nungsnetzes, hat bundesweit „wer Erfolgserlebnisse im Beruf hat, ist privat viel aus28 Clubs, die Stammtische, geglichener.“ Auch die meisten ihrer Kundinnen haben Seminare und Vortragsreihen einen Job, erzählt sie, „nehmen sich aber viel Zeit für abhalten. die Kinder“. Allerdings hat Tönsing beobachtet, dass • „Connecta – Das Frau„die Geburtstagsorganisation manchmal zu übertrieennetzwerk“ (etwa 130 Mitben ist, vielleicht, weil die Eltern glauben, ihr Kind komglieder) fördert Frauen in me im Alltag zu kurz“. Väter betreten den Laden meist Führungsverantwortung, bienur, um etwas abzuholen. „Ich glaube, sie wollen sich tet in zehn Regionalgruppen nicht mehr engagieren, sonst würden sie das nämlich Weiterbildung, Erfahrungstun“, sagt Tönsing, „sie können sich doch auch sonst austausch, Einzelberatung durchsetzen.“ und einen vereinsinternen Infodienst an. ter anderem Veranstaltungen mit Exper• Der Verein „FIT – Frauen in der Techten anbieten. nik“ dient bundesweit als Koordinations• „FAU – Frauen als Unternehmerin- stelle für Frauennetzwerke mit den nen“ (40 Mitglieder) hat zum Ziel, Exis- Schwerpunkten Naturwissenschaft und tenzgründerinnen, Selbständige und Frei- Technik. beruflerinnen mit Workshops und Infor• Die „Frauenakademie München“ mationsveranstaltungen zu unterstützen. (FAM, rund 170 Mitglieder) fungiert als regionales Akademikerinnen-Netz, das auch bundesweit die Beratung durch ExpertinNoch lange nicht gleich Quelle: nen anbietet. Eurostat Bruttostundenlöhne der Frauen in Prozent der Löhne der Männer In solchen Zirkeln treffen sich Frauen, ohne Prämien um Kontakte aufzubauen, Erfahrungen auszutauschen, Informationen zu sam89,9 88,1 87,0 meln, Rat zu erfragen oder zu verteilen. 83,2 81,6 76,9 76,6 76,5 74,0 73,7 73,6 „Holen Sie sich Unterstützung und Förde71,7 70,6 rung“, lockt das Kölner „ManagerinnenKolleg“, das ein Netzwerk-Seminar anbietet: „Schließen Sie sich mit Frauen zusammen, die auch in Führungspositionen sind oder dorthin möchten, profitieren Sie von den Erfahrungen anderer Frauen, gestalten Sie mit an einer neuen weiblichen Führungskultur.“ Die Teilnehmerinnen sollen sich als „Teil einer machtvollen Bewegung von (potenziellen) Führungsfrauen“ M. ZUCHT / DER SPIEGEL de er lan ga l Ni ed tu rre ich Po r ien Ös te nn ien Gr oß br ita an n Sp lie Ita ich re nk Fra De ut sc hl an d en nla nd en ed lgi Fin Be k ar m hw Sc ne Dä De ut sc hl an d alte Bundesländer neue Bundesländer gern, ihre eigenen Schwierigkeiten im Zusammenhang mit denen anderer Frauen zu sehen, schieben sie Phänomene ins Private ab, die als strukturelles Problem verhandelt werden müssten. Damit verkehren sie die alte Erkenntnis der Frauenbewegung, dass das Private politisch sei, in ihr Gegenteil: Heute gilt das Politische als privat. Jede Frau für sich erlebt die Schwierigkeiten in ihrem Leben – und zwar als individuelles Versagen und Scheitern. Hunderttausend Leserinnen von „Machiavelli für Frauen“ bilden eben noch kein machtvolles Kartell in der Geschäftswelt, sondern bleiben hunderttausend Einzelkämpferinnen mit knirschenden Backenzähnen und hoher Frust-Akzeptanz. Von dieser aussichtslosen Solonummer aber verabschieden sich immer mehr Frauen. „Ich habe angefangen, feministisch zu denken“, sagt die Nahrungsmittelmanagerin Groß, „eine Frauenbewegung in Deutschland wäre nötig, um Lobbyarbeit zu leisten.“ Mit Mitte 30 würden viele Frauen „frauenorientierter“, sagt auch Richter: „Sie gehen in Netzwerke, woran sie vorher nie gedacht haben. In einem Netzwerk aktiv zu sein ist keine Vereinsmitgliedschaft, sondern eine Lebensphilosophie.“ Mehr als 300 solcher Kontaktbörsen für Frauen gibt es inzwischen in Deutschland – ein sprunghafter Anstieg seit Beginn des Jahrzehnts, als die Zahl noch bei rund 75 Zusammenschlüssen lag. Die wichtigsten Frauen-Netzwerke bieten inzwischen ein umfangreiches Angebot: • Das „European Women’s Management Development International Network“ (EWMD) ist ein internationaler Zusammenschluss von 1200 Führungsfrauen (Deutschland: 300), darunter Spitzenmanagerinnen, Freiberuflerinnen und Führungsnachwuchs, der auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene unter anderem Vorträge, Kongresse und Studienreisen organisiert. • Bei „FIM“, der „Vereinigung für Frauen im Management“ (circa 300 Mitglieder), engagieren sich Selbständige und Managerinnen in sieben Regionalgruppen, die un- d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 91 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Titel A. FUCHS sehen, die „das Gesicht der Unternehmen verändern werden“. Klassisches Mentoring – erfahrene Führungsfrauen beraten Nachwuchskräfte – bieten Expertinnen-Beratungsnetze an, die sich in Hamburg, Berlin, Dresden, Köln und München etabliert haben. Praktiziert wird „Brutpflege im Job“ – die Beraterinnen helfen bei Ärger mit Kollegen ebenso wie beim Wiedereinstieg nach der Babypause. Angeschlossen sind zahlreiche Expertinnen, darunter Juristinnen und Ingenieurinnen. Ein regelrechtes Mentorinnenprogramm hat die Europäische Akademie für Frauen in Politik und Wirtschaft ins Leben gerufen: Die Berliner Initiative ver- Wirtschaftsexpertin Bischoff * Kirsten Wolf: „Karriere durch Networking“. Falken Verlag, Niedernhausen; 144 Seiten; 24,90 Mark. 94 Personalberaterin Borgmann: „Frauen brauchen die Sicherheit, dass sie Qualität bringen“ A. FUCHS mittelt ehrgeizigen Nachwuchskräften eine mehrmonatige Trainee-Zeit an der Seite einer Spitzenfrau: späteres Jobangebot nicht ausgeschlossen. Auch das Internet (siehe Kasten Seite 90) nutzen bildschirmgeschulte Frauen zunehmend zu solchen Zwecken. Über die „Webgrrls“ etwa haben sich für Maike Ellenberg, tätig in der Markt- und Trendforschung via Internet, „erstaunliche berufliche Kontakte durch den Austausch in den Mailinglisten“ aufgetan; andere Mitglieder berichten von Aufträgen, Job-Angeboten und sogar Vollzeitarbeitsplätzen, die sich über den virtuellen Vermittlungsservice ergeben hätten. „Ich poste alle meine Jobs bei den Webgrrls“, teilt eine Internet-Arbeitgeberin mit. „Netzwerke können Kraftpakete sein für Frauen, die es satt haben, länger als Einzelkämpferinnen im Job dazustehen“, glaubt die Publizistin Kirsten Wolf, die gerade ein einschlägiges Handbuch veröffentlicht hat*. „Das, was jetzt an Network-Arbeit unter Frauen stattfindet, kann man als eine neue Form von Frauenbewegung verstehen“, sagt Barbara Schaeffer-Hegel, die 1995 die Europäische Akademie für Frauen in Politik und Wirtschaft ins Leben rief. „Diese Frauen identifizieren sich nicht mit M. WITT Bereitschaft zum Griff nach der Kohle dem, was die 68er-Frauen auf der Straße gemacht haben, aber sie haben eine Solidarität untereinander, weil sie wissen, was sie voneinander wollen.“ Statt „das Schwesterlichkeitssyndrom“ der klassischen Frauenbewegung aufleben zu lassen, setzten sie heute auf „professionelle Kooperationsformen“. Die müssen Frauen häufig erst lernen, denn in ihrer Erziehung zur Nettigkeit sind die rein zweckorientierte Zusammenarbeit und – noch schwieriger – der souveräne Umgang mit Konkurrentinnen nicht angelegt. Nicht selten erschweren Neid und Intrigen das erfolgreiche Häkeln am Karrierenetz. „Jede, die sich in Sachen Frauenpower hervortut, trifft ganz schnell auf Frauen, die an ihr herumkritteln“, erklärt Netzwerk-Aktivistin von der Heiden Trend zu professioneller Kooperation Monika Rühl, 43, Beauftragte für Chan- durchsetzen muss, ist es sicher legitim und wäre – zumindest für Westdeutschland – cengleichheit der Deutschen Lufthansa AG, richtig, dass Frauen die Tricks erfolgreicher undenkbar ohne die klassische Frauenbe„auf diese Art und Weise beschäftigen wir Männer kopieren. Politisch aber ist es ein wegung, die heute so heftig attackiert wird. Zeichen dafür, dass die neue Frauenbewe- Ende der sechziger Jahre hatte sie begonFrauen uns wunderbar mit uns selbst.“ Dass sich die neue Frauenbewegung aus gung sich von jeder Utopie verabschiedet nen, die gesellschaftliche Aufgabenteilung berufsorientierten Netzwerken, Mentorin- hat – ein notwendiger Abschied, aber doch der Geschlechter in Frage zu stellen. Sie brach die Vorherrschaft der „Hausfrauennenprogrammen und Internetgruppen zu- ein Abschied mit Verlusten. Dass Frauen aller Schichten sich heute ehe“, in der die Gattin morgens den Ernähsammensetzt, zeigt einen radikalen Bewusstseinswandel: Abgehakt sind alle ein Leben ohne berufliche Selbstverwirk- rer an der Haustür mit einem Kuss verabgroßen Träume von der feministischen Re- lichung kaum noch vorstellen können, schiedete und abends wieder in Empfang nahm. volution. Darüber, dass Frau„Meine Frau braucht nicht zu arbeiten“: en als die vermeintlich besseDieser Satz hatte in der bundesrepublikaren Menschen eine bessere, nischen Nachkriegszeit Wohlstand und gefriedlichere, gerechtere Welt sellschaftliches Prestige signalisiert; die schaffen wollten, können die Frauenbewegung deutete ihn zur Fessel Newcomerinnen nur leise des weiblichen Geschlechts um. lächeln. Das Ziel hat sich verDie wirtschaftliche Unabhängigkeit der schoben von der gesellschaftFrauen wurde eines der wichtigsten Anlielichen Erneuerung auf die gegen der feministischen Bewegung, auch in sellschaftliche Teilhabe. dem stillen Glauben, dass sich die Frauen Die neuen Frauen sind gescharenweise von ihren patriarchalen Unprägt von der Ideologiemüterdrückern trennen würden, wenn sie erst digkeit und Politikverdrosihr eigenes Geld in der Tasche hätten. Die senheit der Gegenwart. Sie geduckte, geschlagene Ehefrau, die sich wollen die Werte der Erfolgseine Scheidung wirtschaftlich nicht erlaukultur nicht verändern, sonben kann, war eine der Vorzeigefiguren im dern streben an, sie auch den feministischen Polittheater. Frauen zugänglich zu maUnd tatsächlich: Keine andere Fordechen. Dazu passen sie sich an rung der Frauenbewegung – außer vielbestehende Strukturen an leicht die nach dem Recht auf Abtreibung und handeln pragmatisch, – hat sich gesellschaftlich so durchgesetzt taktisch und realistisch statt wie der Aufruf zur Erwerbstätigkeit. 1960 idealistisch – was sich sichergingen in Westdeutschland 47 Prozent der lich auch durch ihre EnttäuFrauen im erwerbsfähigen Alter einem Beschung über das Scheitern der ruf nach; 1998 waren es 56 Prozent. Im hochfliegenden Vorstellungen Osten lag die weibliche Erwerbsquote 1989 ihrer Mütter erklärt. bei 81 Prozent; nach der Wende fiel sie Dieser Pragmatismus hat 1995 auf Grund der Massenarbeitslosigkeit zur Folge, dass selbst Fragauf unter 74 Prozent. würdiges nicht in Frage geAuch als die Frauen an ihren Arbeitsstellt wird: Der Nepotismus der Männer etwa, in denen Reinigungsmittelwerbung (1964): Mit Kuss verabschiedet plätzen feststellen mussten, dass sie Angehörige einer Elite einander die Karriere-Steigbügel halten, wird nicht mehr kritisiert, sondern ganz bewusst imitiert. Ebenso wird kaum diskutiert, wie die Zukunft denn aussehen soll, wenn Frauen es erst einmal an die Spitze geschafft haben. Werden sie, als die „besseren Männer“, alles so lassen, wie es ist? Oder gibt es tatsächlich so etwas wie weibliche Führungsqualitäten – weniger hierarchisch, weniger autoritär und statusfixiert, dafür sachlicher, flexibler und teambezogener? Würde die Wirtschaft zur Weiberwirtschaft, und wäre sie wirklich das menschlichere System? Erfahrungswerte gibt es mangels Masse kaum, und die Wissenschaftler streiten sich. Als Strategie einer Gruppe, die sich im Wirtschaftsleben gegen Benachteiligungen Zeitungswerbung: Die Werte der Erfolgskultur nicht verändern, sondern daran teilhaben d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 95 Titel M. ZUCHT / DER SPIEGEL JAUCH & SCHEIKOWSKI 60-Jährigen sagen lassen, was der richtige Weg ist“, klagt Zerrahn. Statt sich zu erneuern, wurde die Frauenbewegung verbiestert und sektiererisch. „Mythenpflege“ ersetze „die Nachforschung nach all den Frauen, die der Bewegung und dem Feminismus im Lauf der Jahre verloren gegangen sind“, kritisiert die Berliner Autorin Katharina Rutschky in ihrer unlängst publizierten Abrechnung mit der Frauenbewegung, und Mythenpflege ersetze auch „das Nachdenken darüber, warum es zu keiner Traditionsbildung gekommen ist“**. In den langen, konservativ geprägten Erfolgsfrauen in Hollywood*: Erste Fältchen und reichlich Erfahrung mit dem Patriarchat „Backlash“-Jahren der Kohl-Ära büßte die westdeutsche Frauenbewegung praktisch Schwierigkeiten hatten, akzeptiert zu werMit fundamentalistischem Eifer beharr- ihren gesamten politischen Einfluss ein – den oder gar aufzusteigen, war die Frau- te sie auf ihren Dogmen, als wären sie die unter anderem deshalb, weil sie es verenbewegung für sie da. Sie lieferte die Ana- Zehn Gebote, weigerte sich, neuere politi- säumt hatte, sich etablierte Foren und Loblyse der patriarchalisch strukturierten Be- sche Entwicklungen oder gar Fortschritte bygruppen zu schaffen, die fest im System rufswelt, in der Frauen ausgeschlossen und der Frauen zur Kenntnis zu nehmen, und verankert waren. Nur an den Universitäten von der Macht fern gehalten würden. Sie stellte ihre Werte nicht mehr in Frage. überwinterten die Altfeministinnen – und untersuchte das unterschiedliche Sozial- „Heute wird von uns jüngeren Frauen er- betrieben zunehmend weltfremde Forund Sprachverhalten am Arbeitsplatz, das wartet, dass wir uns von den mittlerweile schung. Anders in den USA: Die amerikanische Feministin Naomi Frauen immer wieder auflaufen ließ. Sie Wolf etwa ist gerade zur entwickelte die Quote, sie setzte GleichCorinna Steinauer, 36, Managerin offiziellen Beraterin des stellungsbeauftragte durch, sie kämpfte gedemokratischen Präsidentgen sexuelle Belästigung. „Frauen brauchen keinen Sonderstatus“, sagt Corinna schaftskandidaten Al Gore Warum hat es die Frauenbewegung dann Steinauer, „sie können auch so ihren Weg machen.“ ernannt worden. – all diesen Errungenschaften zum Trotz – Sie selbst war 27 Jahre alt, als sie Innendienstleiterin „Wenn eine Bewegung laninnerhalb weniger Jahrzehnte fertig geder bayerischen Bezirkszentrale von Lekkerland, einem ge politisch und gesellschaftbracht, dass ihr der Nachwuchs in Scharen Lebensmittelgroßhändler, wurde. Mit 33 Jahren machte lich erfolglos bleibt, ist sie fernbleibt? Warum hat sie ein so miserables sie einen Karrieresprung, wechselte in die Industrie zu nicht mehr attraktiv“, glaubt Image? Philips in Hamburg und wurde Mitglied der GeschäftsSchaeffer-Hegel. „Dann gibt „Die Frauenbewegung hat kein Rollenleitung für den Bereich Hausgeräte – als erste Frau auf es zwar immer noch die Unbild entwickelt, das den Frauen gerecht einem solchen Posten. Auch Männer hatten sich für die zufriedenen, die andere Unwurde, die mir in meinem realen Leben Position beworben, aber am Ende, vermutet Steinauer, zufriedene suchen und zubegegneten“, sagt die Hamburger Publi„haben meine Erfahrung und meine Persönlichkeit den sammen den Chor anstimzistin Signe Zerrahn, 37, die in einer StreitAusschlag gegeben: Ich habe nie versucht, jemand anmen, wie schrecklich alles ist, schrift 1995 mit den Fehlern der Altfemiders zu sein, als ich bin“. Außerdem „haben Frauen eiaber das bringt uns ja nicht nistinnen abgerechnet hat. „Ich kannte nen höheren Anspruch an sich als Männer“, erklärt die weiter.“ Frauen, die sich durchbissen, die Beruf Managerin, „sie erwarten von sich, keinen einzigen Dazu kommt, dass die und Familie managten, ohne großartig Fehler zu machen“. Auch ihr Mann, ein selbständiger Frauenbewegung aus ideoloüber Emanzipation zu reden.“ Und auch Unternehmensberater, halte ihr manchmal dieses Begischen Vorbehalten heraus über einen konstruktiven neuen Umgang dürfnis nach Perfektion vor. Zehn bis zwölf Stunden arwenig unternommen hat, um mit den Männern war von der Frauenbebeitet Steinauer pro Tag, in ihrer Freizeit spielt sie TenMüttern das alltägliche Lewegung wenig zu lernen: Denn die Männis und Golf oder geht ins Fitnesscenter. „Wichtig ist“, ben zu erleichtern. Für die ner kamen allenfalls als Täter im radikalsagt sie, „die Balance zwischen Arbeit und Freizeit zu meisten Frauen aber bedeufeministischen Weltbild vor, nicht aber als schaffen.“ ten Kinder eine BereichePartner oder gar als Väter gemeinsamer rung ihres Lebens, auf die sie Kinder. nur schweren Herzens verDie klassische Frauenbewegung in zichten. Geprägt von alten Deutschland sei „zu stark moralingetränkt“ und neuen Weiblichkeitsgewesen, ergänzt die Sozialwissenschaftleidealen – hier Mutterschaft, rin Schaeffer-Hegel. „Das Bindeglied der Familie, Haushalt, da ErFrauen war das gemeinsame Leiden.“ Ihr werbstätigkeit, Erfolg, SelbstHalleluja galt dem Opferstatus der Frauen, verwirklichung –, wollen sich die im Patriarchat belästigt, vergewaltigt, viele nicht zwischen diesen ausgebeutet und unterdrückt wurden. Als Lebensinhalten entscheiden. „gruseliges Selbstmitleid“ kritisiert Zerrahn Hilfestellung allerdings diese Fixierung auf Leid und Schrecken. haben Frauen bei ihrem RolDie Frauenbewegung hatte sich zur Klagelenspagat kaum zu erwarten. mauer begeben – und war gegen eine Wand Bei einer aktuellen Forsagerannt. Umfrage gaben 58 Prozent * Bette Midler, Diane Keaton, Goldie Hawn in „Der der befragten berufstätigen Club der Teufelinnen“ (1996). Frauen zwischen 25 und 45 **„Emma und ihre Schwestern“. Carl Hanser Verlag, Jahren an, dass hauptsächMünchen/Wien; 158 Seiten; 29,80 Mark. 96 d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite lich sie für Haushalt und Kinder zuständig seien – bei den Männern trafen diese Aussage nur 10 Prozent. Weiterhin wird Frauen das Leben zwischen Windeln und Windows 98 schwer gemacht: Die Arbeitszeiten sind familienfeindlich; die Kindergarten- und Schulzeiten dagegen jobfeindlich. „Es ist fast, als gäbe es drei Kategorien von Arbeitskräften: Männer, Frauen und Mütter“, klagt die britische Autorin Suzanne Franks, die eine pessimistische Analyse der weiblichen Arbeitsmarktchancen verfasst hat*. Zwar hat seit Januar 1999 jedes Kind ab drei Jahren in Deutschland einen einklagbaren Anspruch auf einen Kindergartenplatz, aber die Betreuungszeiten sind häuMagitta Godow, 33, Unternehmerin fig so angelegt, dass sie selbst einen Teilzeitjob unmöglich machen. In Bayern oder Die kräftezehrende Arbeit auf der Intensivstation war Rheinland-Pfalz etwa gibt es Regelkinderkeine verlockende Perspektive für die Krankenschwesgärten mit einer geteilten Betreuungszeit. ter Magitta Godow. Deshalb gründete sie mit ihrem Sechs Stunden am Tag können Eltern ihren Mann, einem Krankenpfleger, vor fünf Jahren in Eutin Nachwuchs dort unterbringen – aber zwieinen ambulanten Kranken- und Altenpflegeservice. Als schen 12 und 14 Uhr müssen die Kids abdas erste Kind geboren war, wechselten die beiden geholt und bekocht werden. sich wochenweise mit Büro- und Elternarbeit ab. Nach „Man kann heute nicht arbeiten und ein einer komplizierten zweiten Schwangerschaft war die Kind haben“, glaubt Zerrahn, Mutter einer Rückkehr schwer, weil die alten Damen und Herren dreijährigen Tochter, „wenn man nicht sich an Herrn Godow als Firmenchef gewöhnt hatten. mindestens fünf Frauen im Hintergrund Also arbeitet Magitta Godow derzeit nur aushilfsweise hat, auf die man sich verlassen kann.“ Im im Pflegedienst, der insgesamt 13 Mitarbeiter hat, und Leben jeder berufstätigen Mutter gebe es bietet einen Versorgungsservice mit Sondennahrung „private Strukturen, die gesellschaftlich an. Sobald das jüngste Kind in den Kindergarten geht, nicht wahrgenommen werden, weil sie will sie wieder Vollzeit oder 30 Stunden pro Woche arauch gesellschaftlich nicht erwünscht beiten und eine Ausbildung zur Heilpraktikerin beginsind“. Doch die hohe weibliche Kunst der nen. Bei der Hausarbeit wird ihr Mann, der jetzt auch Improvisation nutzt wenig, wenn die Areinkauft, kocht, wäscht und bügelt, dann wieder mehr beitsbedingungen zu rigide sind, um sie mithelfen. „Freie Zeiteinteilung und Flexibilität“, sagt anwenden zu können. Godow, seien die größten Vorteile der Selbständigkeit: In den meisten Unternehmen herrscht „Ich kann nachts um drei Briefe auf Kassette diktieren eine Anwesenheitspflicht (in den USA oder meinen Mann bitten, auf die Kinder aufzupassen.“ heißt diese prägnant „face time“), die sich nicht damit verträgt, den Nachwuchs vom KindergarImmer später... ten abzuholen oder ihn zur Schluckimpfung zu fahren. Durchschnittsalter der Frauen bei der Geburt des ersten Kindes* „Die Strukturen der Wirtin Jahren schaft haben sich herausgebildet unter Männern“, sagt 26,2 WESTDEUTSCHLAND Schaeffer-Hegel, „die keinerlei Verantwortung für das 25,2 24,9 24,9 24,8 Privatleben und den Alltag 24,3 hatten.“ Chancengleichheit am Arbeitsplatz ist unvereinbar mit dieser männlichen Organisation der Arbeitszeit. Denn die totale Verfüg...und immer weniger barkeit und das „sektenartiZahl der Kinder je 15- bis 50-jähriger Frau ge Engagement“ für ein Unternehmen, wie es die Zigarettenmanagerin Hirsch nennt, sind mit einem Klein2,5 2,5 kind kaum zu schaffen. Dar2,0 um gehen die meisten Frau1,5 1,4 1,3 WESTDEUTSCHLAND en nach der Geburt eines * Suzanne Franks: „Das Märchen von der Gleichheit. Frauen, Männer und die Zukunft der Arbeit“. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart; 318 Seiten; 39,80 Mark. 98 M. WITT Titel Kindes bis zu drei Jahre in den gesetzlich gewährten Erziehungsurlaub. Viele wollen sich die Lebensqualität, die sie aus dem engen Zusammenleben mit dem eigenen Baby gewinnen, gar nicht rauben lassen – aber sie wären froh, wenn ihre Unternehmen flexiblere Arbeitsmöglichkeiten anböten, die sie nicht zum Totalausstieg in der Babyphase zwingen würden. Denn Karriere machen in dieser Zeit die Männer, auch die Väter, die unbeirrt ihre „face time“ absitzen. „Wenn eine Frau solche Prioritäten setzt, hat das Folgen für die Karriere“, sagt die Wirtschaftswissenschaftlerin Bischoff achselzuckend, „denn der vergleichbare Mann bleibt drin.“ Darum hält sie den Erziehungsurlaub „für einen politischen Flop“. Auch die Architektin Alexandra Czerner hat „die Lebensläufe meiner Mitstudentinnen beobachtet und festgestellt: Entweder haben sie wegen der Karriere keine Kinder, oder sie haben die Karriere wegen des Kindes abgebrochen“. Für nötig hält sie „eine Haltungsänderung: Wer Kind und Karriere will, muss sich etwas einfallen lassen. Das gilt natürlich genauso für Väter“. 28,2 27,1 65 70 d e r s p i e g e l 75 4 7 / 1 9 9 9 27,6 26,9 24,9 OSTDEUTSCHLAND 1,5 1,3 1,4 0,8 1,0 OSTDEUTSCHLAND *ehelich lebend geboren; Quelle: Statistisches Bundesamt 1961 28,6 80 85 90 95 97 Theaterstück „Sekretärinnen“ (in Hamburg): Frauen neigen dazu, sich ein schlechtes Gewissen einreden zu lassen M. HORN M. DANNER Mit ihrem Drang, sich als „SuperNicht nur Frauen müssen zwischen Be- Gewalttätigkeit neigten und Frauen als Kolruf und Elternschaft wählen, sondern auch leginnen und Vorgesetzte akzeptierten. An woman“ zu betätigen, setzen sich Frauen Männer: Die entscheiden sich mehrheit- der „üblichen Schieflage zwischen Männer- selbst unter Dauerstress und verwickeln lich gegen Familienzeit und Familienarbeit, und Frauenengagement im Haus und in der sich in Schuldgefühle. Die alte feministigegen eine Vaterschaft, die sie jeden Tag Kindererziehung“ würde auch das pro- sche Parole, dass Frauen das Recht auf alstundenlang in Anspruch nimmt – und das gressive Fünftel wenig ändern, bedauerten les haben, ist im Superwoman-Modell muohne die Schuldgefühle, mit denen sich die Sozialwissenschaftler Paul Zulehner tiert zu der Überzeugung, dass Frauen das Recht auf alles gleichzeitig haben – und Frauen quälen. Weniger als zwei Prozent und Rainer Volz, Verfasser der Studie. Während die Männer mit ihrem Plan- dieser Glaube ist wiederum umgeschlagen aller Erziehungsurlauber sind Jungväter. „Wenn Männer sagen, Familie ist für mich A-Leben vollauf ausgelastet sind, unter- in die mühsame Pflicht, alles gleichzeitig das Wichtigste, bedeutet das nicht, dass sie werfen sich Frauen dem Anspruch, alle schaffen zu müssen. „Der häufigste Fehler ist es, sich als Frau ihre Karrierepläne zurückstecken würden, Aspekte ihres Lebens zu meistern. „Das wenn ein Kind da ist“, erklärt die Psycho- Problem ist, dass Frauen immer perfekt alles aufzuladen. Irgendwann wacht man logie-Professorin Andrea Abele-Brehm. sein wollen: perfekte Karriere, perfekte auf und sagt: Wie viel Zeit ist mir für mich „Frauen hingegen überlegen sich von vorn- Hausfrau, perfekte Ehefrau, perfekte Mut- geblieben?“, erklärt die Unternehmensbeherein, wie sie Familie und Beruf unter ei- ter“, sagt die FIM-Vorsitzende Richter. raterin Harss. „Man muss früh auf seine nen Hut bringen können. Also: Gleiche Pri- „Das ist nicht förderlich. Frauen neigen Rechte pochen, den Lebenspartner in oritäten mit unterschiedlichen Konse- dazu, sich ein schlechtes Gewissen einre- Haushalt und Kindererziehung einbeziehen, eine Putzfrau engagieren, eine Tagesden zu lassen.“ quenzen.“ Männer seien „zu 90 Prozent mit Plan A beschäftigt, ihrem Beruf“, sagt die Perin Schwalbach bei Procter & Gamble in der Marktsonalberaterin Borgmann, forschung; ihr Mann dagegen studierte noch und „Plan B, Familie und Hauswurde Hausmann. Für die Zeit des Mutterschutzes halt, nimmt allenfalls 10 Problieb Guesnet zu Hause, hängte noch den Jahreszent in Anspruch.“ Diese urlaub dran und stieg dann zunächst mit einer DreiVerteilung ergibt sich durchTage-Woche wieder in den Job ein. So machte sie es aus nicht immer freiwillig, auch bei den beiden nächsten Kindern. Inzwischen sondern wird Nachwuchsist sie mit ihrer Familie in die Nähe von London gekräften auch durch gesellzogen, und nach fünf Beförderungen avancierte sie schaftlichen Druck abverzur internationalen Marktforschungsmanagerin für langt: „Wer als Mann Kardie Procter-&-Gamble-Parfums. „Der große Unterriere machen will“, sagt Peschied zu meinen männlichen Kollegen, die Kinder ter Mayer, Personalentwickhaben, ist, dass ich um 18 Uhr nach Hause gehe“, ler bei DaimlerChrysler, sagt sie. Die täglichen 9,5 Stunden im Büro arbeitet „darf sich heute nicht vorbeGuesnet so effizient wie möglich: „Ich wusste immer haltlos zur Familie bekengenau, was fünf Minuten bedeuten.“ Im Haushalt, nen. Niemand kann in einer sagt sie, engagiere sie sich wahrscheinlich mehr als Sitzung aufstehen und sagen: berufstätige Männer, zum Beispiel kochen sie und Mein Sohn wartet, ich muss ihr Mann abwechselnd. Er habe jedoch alles in alFlorence Guesnet, 35, jetzt gehen.“ lem den weniger dankbaren und schillernden Part Marktforscherin Nur 19 Prozent „neue“ übernommen, obwohl er andererseits öfter als sie Männer förderte im vergan„Wir haben auf die Gehaltsabrechnung geschaut, dazu kommt, Zeitung zu lesen. „Manchmal bin ich genen Jahr eine sozialwisund dann war die Sache klar“, sagt Florence Guesnach einem Wochenende froh, wenn Montag ist, senschaftliche Studie in net: Als 1993 ihre erste Tochter geboren wurde, hatweil kleine Kinder einen dauernd in Anspruch nehDeutschland zu Tage: Mänte sie bereits ihr Studium der Wirtschaftswissenmen“, erzählt Guesnet, „im Büro kann man dagegen ner, die partnerschaftlicher schaften in Wuppertal abgeschlossen und arbeitete auch mal sagen: Jetzt bitte nicht.“ eingestellt seien, weniger zu d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 99 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Titel sierung und Digitalisierung der Wirtschaft sein, die Frauen wie Männer ganz automatisch in eine fremde neue Arbeitswelt mit ungewohnten Anforderungen und Chancen katapultieren. Die traditionelle Vollbeschäftigungsbiografie wird rarer, an ihre Stelle tritt eine Normalisierung der „PatchworkKarriere“, die Teilzeitarbeit, Jobsharing, Zeitverträge, Freiberuflichkeit, Heimarbeit und streckenweise ArbeitsloTatjana Pichler, 34, sigkeit umfassen kann. Unternehmensberaterin Für gut ausgebildete, motivierte Frauen kann diese „Für mich war es immer eine Horrorvorstellung, allein erAuflösung der tradierten ziehende Mutter zu sein“, sagt Tatjana Pichler, und dann Strukturen – bei aller soziawurde sie es doch. Als ihre Tochter Lilith vor fünf Jahren len Unsicherheit – durchaus geboren wurde, arbeitete die studierte Betriebswirtin als Vorteile bieten, um Karriere Junior Product Managerin in der Industrie. „Dorthin konnte und Privatleben besser zu ich nicht zurück“, erzählt sie, „weil die von mir verlangten, vereinbaren. „Es gibt heute ganztags zu arbeiten.“ Also hielt sie sich ein halbes Jahr viel mehr Möglichkeiten, lang als freiberufliche Headhunterin über Wasser, brachte sich beruflich aus frauenLilith morgens für drei Stunden zur Tagesmutter und telefofeindlichen Strukturen abzunierte abends weiter. Mit viel Mühe fand sie für die Tochter setzen“, sagt Signe Zerrahn. einen Platz im Kindertagesheim und arbeitete für eine Dass man seinen Laptop Kunstmarketingagentur – von 8.30 Uhr bis 17 Uhr. „Ich überall einstöpseln kann, zur hatte ein schlechtes Gewissen, weil Lilith immer die Letzte Not auch im Hobbyraum, ist war, die abends abgeholt wurde.“ Als die Tochter einen eine Freiheit, die ungezählte fiebrigen Infekt hatte, wollte die Agenturchefin nicht zulasFirmengründerinnen nutzen. sen, dass Pichler bei ihrem Kind blieb. „Ich hätte nicht geDie pragmatischen Frauen dacht, dass ausgerechnet Frauen so hart sein können“, von heute lassen sich etwas sagt Pichler. Seit anderthalb Jahren hat sie nun eine Dreieinfallen. „Gesellschaftliche viertelstelle bei der Unternehmensberatung „Deutsche Veränderung kann man nicht Perot Systems“ in Hamburg. Ihr damaliger Chef, erzählt nur im Großen fordern, man sie, hatte selbst drei Kinder und zeigte beim Vorstellungsmuss sie auch im Kleinen gespräch daher Verständnis für ihre Situation. Denn das praktizieren“, glaubt Alegrößte Problem für Alleinerziehende sei „die Unflexibilität xandra Czerner. Sie will den der Firmen“. Dabei seien gerade Mütter „sehr gute ArbeitMitarbeiterinnen ihres Archinehmerinnen, weil die gewohnt sind, schnell und effizient tekturbüros die Möglichkeit zu organisieren“. geben, auch mit Kind „ihren Job so weiterzumachen wie stalten: „Warum soll es in hundert Jahren bisher“. Mütter bekommen ihr eigenes nicht denkbar sein, dass die Männer auch Zimmer und dürfen ihr Baby mitbringen. zwischendurch ein bisschen relaxen und Sobald mehrere Kinder da sind, soll für sie sich mehr um private Dinge kümmern, was ein Spielzimmer eingerichtet werden, und ihrer geistigen und sozialen Entwicklung die Mitarbeiterinnen können gemeinsam mit Sicherheit gut tun würde?“ eine Tagesmutter engagieren. „Die Frauen Auch die Publizistin Suzanne Franks sollen nicht das Gefühl haben, sie müssten träumt von einem Modell, „in dem beide pausieren“, sagt Czerner. „Trotzdem erPartner einen großen Anteil der Betreu- warte ich, dass die Leistung stimmt.“ ung ihrer Kinder selbst übernehmen, sich Die Unternehmensberaterin Harss übergleichzeitig aber auch eine akzeptable Po- lässt den freiberuflichen Trainerinnen, die sition auf dem Arbeitsmarkt sichern – ohne für sie arbeiten, „die Entscheidung, wie dabei ihre Kinder nur zum Gutenachtkuss lange sie nach der Geburt ihres Kindes zu sehen oder unsoziale Arbeitszeiten ein- wegbleiben“. Es habe sich gezeigt: „Die halten zu müssen“. Ansätze eines solchen meisten sind sehr schnell wieder da.“ ClauStrukturwandels finden sich heute schon in dia Harss selbst hat drei Wochen nach der manchen Unternehmen, die Kinderbe- Geburt ihres Sohnes einen Vortrag gehaltreuung anbieten und Flexibilisierungsmo- ten. Ihre Kollegin wird sechs Wochen nach delle von Arbeitszeit und Arbeitsort er- der Niederkunft ein Seminar geben. „Dann proben, um hoch qualifizierte Frauen – ge- legt man sich nach einem Termin kurz aufs rade junge Mütter – zu binden. Sofa“, sagt Harss, „und dann geht es schon Vor allem aber werden es der Wandel wieder.“ zur Dienstleistungsgesellschaft, der Sprung Bereits zweimal wurde die Münchner ins Informationszeitalter und die Globali- Firma Comet Computer für ihre „guten M. WITT mutter beschäftigen und nicht versuchen, die Superfrau zu sein. Dass viele Frauen das trotzdem tun, hat mit einer Dienstleistungshaltung zu tun. Wenn der Kühlschrank leer ist, meinen sie, dass sie ihn füllen müssten.“ Dass auch ihre eigenen eingeschliffenen Verhaltensmuster dazu beitragen, den Status quo an Waschmaschine und Gefrierfach aufrechtzuerhalten, haben Frauen in den letzten Jahren selbstkritisch eingesehen; die alte Frauenbewegung hatte stets die „Kannst du mir mal ein Bier holen, Schatz“-Pantoffelpatriarchen für die weibliche Doppelbelastung verantwortlich gemacht. Wer Pflichten in Haushalt und Familie abgibt, gibt auch Macht auf – und zwar eine traditionell weibliche. Das fällt vielen Frauen offensichtlich schwer. Wo die alten Beziehungsstrukturen tatsächlich aufbrechen, kriselt es zwischen den Geschlechtern: Berufstätige in den kritischen Jahren zwischen Mitte und Ende 30 beobachten oft, dass sich in ihrem Freundeskreis etliche Paare trennen. Dem Anspruch, dass sich beide im Job verwirklichen, halten viele Bindungen nicht stand – besonders wenn die Kinderfrage geklärt werden muss. „Ich rate Frauen, frühzeitig in einer Partnerschaft darüber zu sprechen, wie man sich die Kindererziehung vorstellt, und dann gemeinsam einen Weg zu suchen, das zu realisieren“, sagt die deutsche EWMD-Vorsitzende Christa von der Heiden. Ihr Mann ist Berufsschullehrer – und hat den größeren Teil von Hausarbeit und Kindererziehung übernommen, um ihr die Karriere zu ermöglichen. Aber mit rein privaten Abmachungen wird es nicht getan sein. Denn die scheitern fast zwangsläufig an den starren gesellschaftlichen Strukturen und Erwartungen in Deutschland. Die Sozialwissenschaftlerin Barbara Schaeffer-Hegel plädiert darum für einen umfassenden Strukturwandel, um die Voraussetzungen, „die das Zusammenleben von Männern, Frauen und Kindern in unserer Gesellschaft regeln“, neu zu geComputer-Unternehmerin Closs M. FENGEL Widerstand gegen den ewig gleichen Trott d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Ideen zur Verbesserung der Chancengleichheit von Frauen und Männern“ von der Bayerischen Staatsregierung ausgezeichnet. Vor zwölf Jahren gründeten Sissi Closs, 45, und ihr Geschäftspartner Michael Kusch den kleinen Betrieb, der ausgerechnet im Online-Dschungel verständliche Betriebsanleitungen anbieten wollte. Mittlerweile bedienen sich Siemens, AT&T, Nixdorf, IBM und die Bundesanstalt für Arbeit der technischen Übersetzungshilfen. Das CometTeam verfasst außerdem Handbücher für Softwareprogramme, entwirft Konzepte für Unternehmen, die sich im Internet vorstellen wollen, und hilft Behörden, von den schwedischen Arbeitsämtern bis zum Bayerischen Landeskriminalamt, sich zu vernetzen. Bei Comet kommen und gehen 40 Mitarbeiter, wann sie wollen. Ob sie zu Hause oder im Altbaubüro, nahe dem Oktoberfest, arbeiten, entscheiden die Kollegen selbst. Manche verbringen 12, andere 35 Stunden pro Woche am Arbeitsplatz. Und wer nicht weiß, wohin mit den Kindern, bringt sie einfach mit. Der Grund dafür, dass die Firma in diesem Jahr mit FOTOS: M. WITT Titel Nadine Thoma, 30, Filmproduzentin Der erste Schritt in ihrer Karriere endete in einer Sackgasse: Die Privatschule für visuelle Kommunikation, die Nadine Thoma in Paris besuchte, ging Pleite. Also fing sie an einer deutschen Grafikschule noch mal von vorne an. Inzwischen ist Thoma Geschäftsführerin von Markenfilm Berlin, einer Produktionsfirma für Werbefilme. „Es hat Vor- und Nachteile, eine Frau zu sein“, sagt Thoma, „man hat feinere Sensoren, aber man muss sich stärker behaupten und steht mehr unter Beobachtung.“ In der Werbefilmbranche gebe es eine Zweiteilung: Männer setzen sich eher im kreativen Bereich durch, Frauen eher im organisatorischen. Kinder hat Thoma nicht, das Projekt Familie „steht erst mal hintenan“. Aber „generell habe ich einen Kinderwunsch“, sagt Thoma, „und ich bin überzeugt, dass ich dann auch Wege finde, Beruf und Familie zu vereinen“. Für dieses Lebensmodell hat Thoma ein Vorbild: Ihre Mutter habe immer als Fotografin gearbeitet „und es trotzdem geschafft, mir ein richtiges Zuhause zu bieten“. sechs Millionen Mark Umsatz rechnet, klingt angesichts dieser Freizügigkeit paradox: „Äußerste Disziplin, Koordination und Kommunikation“ seien die Voraussetzung ihres Modells, sagt Sissi Closs, die selbst auch nicht dem Image der Geschäftsfrau entspricht. Die Informatikerin trägt gelegentlich bauchnabelkurze Tops, dazu Schlaghosen, und hält wenig von dezentem Make-up. Hoch qualifizierte EDV-Spezialisten, die in allen Branchen dringend gesucht werden, ködert Closs, Mutter eines Sohnes, mit familienfreundlichen Arbeitsbedingungen, wie sie kaum ein anderes Unternehmen in Deutschland bietet. Nur ein Drittel der 24 Frauen und 16 Männer arbeitet voll, sei es den Kindern, sei es anderen Aufgaben zuliebe. 16 Kinder zwischen 1 und 25 wuchsen und wachsen quasi mit dem Unternehmen auf. Als die Krabbelgruppen unter den Computern zu groß wurden, gründete Closs mit anderen einen Hort. Heute betreut eine fest angestellte Kinderfrau den Nachwuchs, bei Bedarf auch in den Schulferien. Notfalls übernehmen weniger ausgelastete Kollegen schon mal einen Spielplatz-Dienst. Ein Leben im immer gleichen Trott konnte Sissi Closs sich beim Eintritt ins Berufsleben nicht vorstellen. Während sie ihr Unternehmen gründete, begann sie, nebenbei Tanzstunden zu geben. Ihre Mitarbeiter sucht sie, abgesehen von der Qualifikation, danach aus, dass sie „mit ihrer Lebenseinstellung zu uns passen müssen“. Einige Übersetzer arbeiten von Teneriffa oder New York aus. Eine Mitarbeiterin zog mit Mann und Kind erst nach Darmstadt, später nach Bonn und schickt ihre technischen Dokumentationen nun von dort. Viermal in der Woche steht sie vormittags, wenn ihre Kinder anderweitig versorgt werden, ihren Kunden telefonisch zur Verfügung, zwei Abende sind für die Arbeit reserviert. Das Netzwerk klappt nur, weil in der bayerischen Zentrale alle Kollegen, Kunden und Projekte in einer Hand zusammenlaufen. Eine Büroleiterin organisiert Rundrufe, verschickt E-Mails und lädt einmal im Monat zum Teamgespräch ein. Außerdem gibt es eine Notfall-Planung. Als neulich das Zusammenspiel zwischen München und New York kurz vor Projektschluss auseinander brach, sprang die Chefin ruck, zuck selbst ein. „Flexible Teilzeit“, sagt Closs, „lebt von der Flexibilität aller.“ Netzwerk-Vorsitzende Richter (M.), Mitglieder: „Lernen, unsere Fähigkeiten besser zu verkaufen“ 104 d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Mitarbeit: Bettina Musall J. WISCHMANN / AGENTUR FOCUS Feministin Schwarzer: „Frau kann nicht jeden Morgen beim Kaffee darüber nachgrübeln, wie sie heute die ganze Welt verändert“ „Wir brauchen Frauenbündelei“ „Emma“-Herausgeberin Alice Schwarzer über Feminismus und Karriere SPIEGEL: Frau Schwarzer, Anfang der siebziger Jahre waren in Westdeutschland 47 Prozent der Frauen berufstätig, heute sind es 56 Prozent. Reicht Ihnen das? Schwarzer: Dieser Sprung ist relativ gesehen und für den Westen enorm, vor allem angesichts von Rezession und Arbeitslosigkeit. Und Frauen wird es nicht einfach gemacht: Sie haben in der Regel immer noch die Doppelbelastung von Beruf und Familie zu tragen – auch wenn es den einen oder anderen netten Mann gibt, der im Haushalt „hilft“. SPIEGEL: Berufstätigkeit ist nicht gleich Karriere. Warum schaffen Frauen bis heute nur selten den Weg ganz an die Spitze? Schwarzer: Die Männerbünde sind ganz schön fest gezurrt, da kommt eine Frau nicht so leicht dazwischen. Solange Frauen nett und jung sind, harmlos scheinen und als Konkurrenz nicht so ernst genommen werden, werden sie gefördert. Sobald sie aber gleichziehen wollen, wird die Luft sehr dünn. Und dann kommen innere Kon- flikte hinzu: Von Frauen wird eher Leidenschaft für Männer und Liebe erwartet als für ihren Beruf. SPIEGEL: Und was wollen die Frauen selbst? Schwarzer: Vor 25 Jahren sagte das fortschrittlichste Drittel der jungen Frauen: Ich will einen Beruf, aber wenn Kinder kommen, setze ich aus, und ich hoffe, dass mein Mann auch bei Haushalt und Kindern hilft. Dieses Drittel ist heute das rückschrittlichste. Für fortschrittliche junge Frauen ist es inzwischen selbstverständlich, einen Beruf zu haben und zu behalten. Wenn sie sich für Kinder entscheiden, ist es klar, dass sie sich die Arbeit mit dem Mann teilen – zumindest ist das die Absicht. In der Realität sieht das noch mal anders aus. Was da in den Köpfen passiert ist, ist eine richtige Kulturrevolution. SPIEGEL: Die Revolution in der Lebenswirklichkeit gestaltet sich schwieriger. Schwarzer: Das Bewusstsein ist der Realität voraus. Meine Frauengeneration war d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 freudig überrascht, wenn sie mit ihren Protesten etwas erreichte. Heute haben junge Frauen viel mehr Illusionen und sind dann enttäuscht, wenn ihre Hoffnungen sich nicht erfüllen. Das Problem ist: Sie halten die Hindernisse für ihr Einzelschicksal … SPIEGEL: … statt für das Schicksal ihres Geschlechts? Schwarzer: Ja. Das in den siebziger Jahren von uns Feministinnen erreichte kollektive Wissen über die Hindernisse, auf die alle Frauen treffen, ist heute ersetzt durch den kollektiven Glauben, alles sei möglich. Alle starren auf das Hera-LindPhänomen, das uns einreden will: Frauen könnten Geliebte und Mutter sein, schick und schlank sein und noch Karriere machen. Jüngere Frauen glauben das, und wenn es ihnen nicht gelingt, halten sie das für ihr ganz persönliches Versagen – und sind deshalb zu schnell bereit, Kompromisse zu schließen. SPIEGEL: Welche? 105 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Titel wir in Wahrheit gerade im besten Kanz- SPIEGEL: Wer weiß – vielleicht wären Sie träume auf. Über 90 Prozent derjenigen, die leralter sind. Wenn diese gesellschaftliche sonst Bundeskanzlerin. berechtigt sind, Erziehungsurlaub zu neh- Spaltung gelingt, muss jede Frauengenera- Schwarzer: Danke. Ich wollte das tun, was men, beantragen ihn auch. Darunter sind tion wieder von vorn anfangen und kann meiner Begabung entspricht und was mir knapp 2 Prozent Männer. Die Frauen räu- nicht auf den Erfahrungen anderer auf- sinnvoll erschien. Und das ist in meinem men ihren Arbeitsplatz, und je qualifizier- bauen. Das wäre schrecklich. Fall: als Journalistin zu arbeiten. ter sie sind, desto schwerer wird die Rück- SPIEGEL: Also machen Frauen auch einan- SPIEGEL: Wenn Sie heute Berufsanfängerin kehr. Nun sind sie also für Kind und Haus der das Leben schwer? wären: Würden Sie sich einen der vielen zuständig, und der Mann, der von der Arbeit Schwarzer: Sicher. Frauen müssen lernen, Karriereratgeber kaufen, die für Frauen kommt, sagt: Schatz, könntest du mal bitte dass ihre Karriere nicht zwangsweise die auf dem Buchmarkt angeboten werden? die Windeln wegräumen? Eine solche Frau Karriere anderer Frauen verhindert. Im Schwarzer: Warum nicht? Aber verlassen zementiert ihre Zuständigkeit als Mutter Gegenteil. Männer sind gewohnt, sich als würde ich mich nicht darauf. Verlassen und Hausfrau. Sie kann nicht von einem Teil eines „Wir“ zu sehen. Frauen denken kann man sich nur auf sich selbst. Tag auf den anderen sagen: Jetzt teilen wir oft: sie oder ich. Sie müssen endlich lernen, SPIEGEL: Sind diese Ratgeber die moderne die Hausarbeit wieder. Die Bereitschaft der sich gegenseitig ernst zu nehmen, ohne feministische Literatur? Männer dazu ist verständlicherweise auch gering.Wer gibt schon gern seine Privilegien freiwillig auf? SPIEGEL: Frauen entscheiden sich selbst für den Erziehungsurlaub. Vielleicht wollen sie die Zuständigkeit für ihr Kind auch nicht abgeben, weil sie das als Machtverlust empfänden? Schwarzer: Da sind Sie zu streng mit den Frauen. Ich sehe nur selten, dass Frauen nicht in den Beruf zurückkehren wollen. Es wird ihnen einfach schwer gemacht. Wir alle müssen die Ärmel hochkrempeln und dafür sorgen, dass Verhältnisse herrschen, unter denen Frauen es leichter haben. SPIEGEL: Halten Sie die Einführung des Erziehungsurlaubs für falsch? Schwarzer: Er ist hochgefährlich: Politisch akzeptabel wäre nur ein Elternurlaub mit der Auflage, dass Mütter und Väter ihn zu gleichen Teilen nehmen müssen. Alles andere ist eine Frauenfalle. SPIEGEL: Frauen haben die Freiheit, acht Wochen nach der Ge- Demonstration gegen Paragraf 218 (1975): „Töchter der Mutterkreuz-Trägerinnen“ burt in den Beruf zurückzugehen. Schwarzer: Richtig, aber die Versuchung, naiv Kontroversen herunterzuspielen. Und Schwarzer: Wenn sie gut sind, im besten das nicht zu tun, ist groß, und deshalb hät- sie müssen lernen, Sachkonflikte auszu- Sinne; denn Feminismus ist der Aufbruch te der Gesetzgeber der Emanzipation hier tragen ohne Angst vor Vernichtung. in die Welt, in eine fremde Welt, deren Reein bisschen nachhelfen müssen. SPIEGEL: Berufsanfängerinnen erklären oft, geln Frauen nicht kennen, weil sie ihnen SPIEGEL: Verlangen Frauen zu viel, die ein sie würden nicht diskriminiert. Ist das naiv? jahrhundertelang verschlossen war. Bis Kind und eine Top-Karriere wollen? Schwarzer: Ich verstehe das sehr gut. Dis- Mitte der siebziger Jahre konnte ein EheSchwarzer: Leider ja. Frauen, die glauben, kriminierung ist demütigend. Also ziehen mann seiner Frau noch verbieten, berufsdass es selbstverständlich sei, alles zu krie- manche Frauen es vor, sie nicht wahrzu- tätig zu sein, wenn er fand, dass darunter gen, machen sich etwas vor. Sie drücken nehmen. Ich freue mich über den Schwung die Hausarbeit leide. Darüber muss heute sich vor der Realität. Heute wird behaup- junger Frauen, aber sie müssen wissen, dass jede junge Frau lachen. tet, es sei doch gar kein Problem, beides sie noch Überraschungen erleben werden. SPIEGEL: Diese Ratgeber zielen darauf ab, hinzukriegen. Das ist eine furchtbare Lüge. SPIEGEL: Wenn man Männer nach ihrer be- innerhalb eines Männersystems erfolgreich Frauen, die Karriere und Kinder wollen, ruflichen Zukunft fragt, haben sie konkre- zu sein. Kann das nach feministischer müssen Abstriche machen. Es tut mir leid, te Karriereziele, Frauen dagegen erklären Theorie der richtige Weg sein? das ist die bittere Wahrheit. vage, sie wollten eine interessante Aufga- Schwarzer: Natürlich. Frau kann ja nicht SPIEGEL: Was können Frauen selber tun, be. Verfolgen Frauen die falsche Strategie? jeden Morgen beim Kaffee darüber nachum ihre Lage zu verbessern? Schwarzer: Nein, ich finde das sehr sym- grübeln, wie sie heute die ganze Welt verSchwarzer: Ganz wichtig wäre der Schul- pathisch. Frauen wie Männer verbringen ändert. Grundsätzlich bin ich der Meinung, terschluss zwischen Frauen. Doch statt- einen Großteil ihres Lebens mit dem Beruf, dass Frauen dasselbe können wie Männer, dessen gibt es ständig Versuche, Frauen zu und da kann es nicht nur um Geld und und wenn ihnen ein Karriereratgeber auf spalten: in Alte und Junge, Begehrte und Stufen auf der Karriereleiter gehen, da sind diesem Weg hilft, ist das wunderbar. Nichtbegehrte, Tüchtige und Dumme. Die auch Inhalte wichtig. Man muss auch Spaß SPIEGEL: Was halten Sie davon, wenn die so genannten Girlies wollen angeblich haben an dem, was man tut. Mir selbst ist Vorteile der sozialen Fähigkeiten von Fraunichts mehr von uns Älteren wissen, die das Wort „Karriereplanung“ sehr fremd. en für die Wirtschaft betont werden? K. GREISER Schwarzer: Zuerst geben sie ihre Karriere- 108 d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Schwarzer: Warum nicht? Ich zum Beispiel habe vor zwei Jahren einen parteiübergreifenden Politikerinnenkreis initiiert, weil ich mir gedacht habe: Die Jungs gehen zusammen pinkeln und anschließend sonstwohin, und die Parteifrauen lassen sich gegeneinander hetzen. Wir Frauen müssen Frauenbündelei lernen! Wir leben zur Zeit in Deutschland in einem Klima der ungenierten Männerbündelei. So fett hatte ich damit nicht mehr gerechnet; ich hätte nicht gedacht, dass die Zigarren sozialdemokratischer Kanzler so dick und so teuer sein würden. Gegen dieses Klima muss wieder ein öffentlicher Diskurs ge- SPIEGEL: So präzise ist der Begriff gar nicht. Es gab immerhin zwei Frauenbewegungen in Deutschland, eine um die Jahrhundertwende, eine in den siebziger Jahren, und die beiden waren sehr unterschiedlich. Schwarzer: Richtig. Und die waren übrigens gar nicht so unterschiedlich. Die erste endete mit dem Ersten Weltkrieg und erreichte das Wahlrecht. Und auch wir haben viel erreicht: nämlich eine wahre Kulturrevolution! Nur: Wir sind kein fassbarer politischer Faktor mehr. Keine Pressure-Group, die gezielt Druck machen kann. Bei Lesungen treffe ich häufig auf sehr junge Frauen, die mich fragen: Wo kann ich hingehen und mich informieren? Und dann bin ich sehr unglücklich, weil ich keine Antwort habe. Ich will zwar nicht das alte Frauenzentrum an der Ecke mit den lila Frauenzeichen wieder aufmachen, denn die Zeiten sind einfach vorbei, aber es muss wieder eine Vernetzung her. SPIEGEL: Ansätze zu einer Vernetzung existieren schon – nur eben nicht unter offizieller feministischer Flagge. Viele junge Frauen haben das Gefühl, dass ihnen die Frauenbewegung nichts mehr zu sagen hat. Schwarzer: Wer sagt das? Die Männermedien? Neueste Umfragen sagen uns was ganz anderes: So fand Allensbach heraus, dass keine Altersgruppe so pro Emanzipation und Feminismus ist wie die 16- bis 29-Jährigen. 70 Prozent aller befragten jungen Frauen reagierten „spontan positiv“ auf den Begriff „Emanzipation“ – und 52 Prozent sogar auf „Feminismus“! Wenn sie bedenken, wie „gestrig“ angeblich der Feminismus ist, ist es doch Wahnsinn, dass gegen alles Gerede mehr als jede zweite junge Frau dafür ist! Auch Emnid meldet, dass zwei von drei Frauen heute „für eine starke Frauenbewegung“ sind – und jeder zweite Mann auch. SPIEGEL: Heute ist häufig die Rede von „frauenorientiertem“ statt von „feministischem“ Handeln. Stört sie das? Schwarzer: Ja, auch wenn ich es gut verstehe, wenn sich Frauen vom Feminismus distanzieren. Das ist das ABC des Sich-Anschmierens an die Männerwelt. Dieser Spruch „Ich bin keine Feministin, aber …“ ärgert und quält mich natürlich, und ich denke oft: „Diese Zicke, kann sie nicht wenigstens die Klappe halten!“ Meiner Lebenserfahrung nach achten Männer diese Art von Verrat von Frauen an anderen Frauen übrigens gar nicht – auch wenn sie ihn zu ihrem Vorteil nutzen. Denn Männer verstehen etwas von Macht und von Würde. Ich kann Frauen, die weiterkommen wollen, nur strikt davon abraten, sich durch Verrat anzubiedern. Interview: Susanne M. MEYBORG Schwarzer: Das hängt vom Ergebnis ab: Wenn eine Frau die Karte soziale Intelligenz und Kommunikationsfähigkeit zu ihrem Vorteil ausspielen kann, weil die Jungs sich gegenseitig bis zur Herzattacke triezen, sollte sie das tun. Sie darf nur selber nicht allzu sehr daran glauben. Frauen kommen mit Nettsein und sozialer Intelligenz nur bis zur oberen Mitte der Hierarchie. Darüber ist Schluss mit Nettsein. SPIEGEL: Von Männern lernen heißt siegen lernen? Schwarzer: Und Frauen können viel von Männern lernen. Frauen-Aktionstag in Hamburg (1982): „Gefahr des Dogmatismus“ SPIEGEL: Zum Beispiel den Griff nach der Macht. Warum hat die Frauenbewegung den jahrzehntelang abgelehnt? Schwarzer: Wer ist „die“ Frauenbewegung? Ich habe das nie getan. Im Gegenteil! Aber in den siebziger Jahren war ein Teil der Frauenbewegung in Deutschland stark mit der linken Szene verbandelt. Die propagierte erst mal den Ausstieg – machte aber straight Karriere, siehe der Ex-Hausbesetzer und Außenminister Fischer. Hinzu kommt das Erbe der Nazi-Zeit: Wir sind die Töchter und Enkelinnen der Mutterkreuz-Trägerinnen. In den USA waren die Feministinnen von Anfang an pragmatischer und haben gleich mehr Geld gefordert. SPIEGEL: Auch deutsche Feministinnen propagieren heute reine Business-Zweckbündnisse zwischen Frauen: „Networking“ ist das Zauberwort der Stunde. Können solche gezielt konstruierten Imitate je so erfolgreich sein wie ihr Vorbild, die natürlichen Seilschaften der Männer? schaffen werden, der deutlich macht, dass uns Frauen die Hälfte der Welt zusteht – und den Männern die Hälfte des Hauses. SPIEGEL: Ein solcher zeitgemäßer Diskurs geht von der traditionellen Frauenbewegung aber nicht mehr aus. Hat sie sich im Laufe der Jahre zu wenig in Frage gestellt? Schwarzer: Sicherlich gibt es bei einem gesellschaftlichen Aufbruch, wie es die Frauenbewegung einer war, die Tendenz, sich auf den Außenfeind zu konzentrieren und nicht sich selbst kritisch zu betrachten. Es gibt in jeder politischen Bewegung die Gefahr des Dogmatismus. SPIEGEL: Die moderne Antwort auf Dogmatismus ist Pragmatismus: Es gibt inzwischen Frauennetzwerke, Mentorinnenprogramme, weibliche Jobratgeber und Websites von jungen Frauen: Würden Sie das als eine neue Frauenbewegung gelten lassen? Schwarzer: Nein. Die „Frauenbewegung“ ist ein präziser politischer Begriff. Was wir heute sehen, das sind die Folgen der Frauenbewegung. Und das ist gut so. d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Weingarten, Marianne Wellershoff 109 Werbeseite Werbeseite Gesellschaft JUSTIZ Gnadenlos harmlos Der härteste Strafrichter Hamburgs urteilt jetzt auch im TV über laufende Verfahren seiner Kollegen. Das erste Urteil fällte der Kameramann. K. WIEDENHÖFER S Richter Schill in seinem Dienstzimmer: Der Jurist kennt die Gesetze des Fernsehens schlecht „Es ist dies ein Paradebeispiel für das partielle Versagen der Justiz“, sprach Schill immer wieder in die Kamera, bis die Szene saß. Ermuntert von seinem blonden Gegenüber („Das war ein schöner Einstieg“), lief der Prädikatsjurist zu Hochform auf. Menschliche Fehler der Richter seien zu beobachten, überflüssige Gutachten würden eingeholt, auch vom Versagen des Hamburger Senats war die Rede. Da klopfte es. „Sind Sie der Fotograf der ‚Bild‘-Zeitung?“, fragte der Richter. „Kommen Sie rein.“ Schill holte sich Volkes Auge und Ohr ins Amtszimmer. Und seine Vorgesetzten sind bislang machtlos. Noch kann ihn keiner hindern, seine Meinung zu äußern. Der Richter wird für seinen Beitrag nicht bezahlt, sagt RTL. Nun will das Gericht prüfen, ob das vom Gesetz geforderte Vertrauen in seine Unabhängigkeit durch die „Schill-Show“ („Hamburger Morgenpost“) gefährdet ist. Die großen Herren und er – Schill kennt das schon. „Eine Farce“ nennt er seine Versetzung ans Zivilgericht. Und viele Fans stimmen ihm zu. Die Leserbriefe in der Lokalpresse sind fast durchweg positiv. „Man müsste härter durchgreifen“, fordern auf RTL empörte Bürger vor den Graffiti von Oz. Für die Sendung arrangierten der Kameramann und sein Assistent rote Aktenstapel auf einem kleinen Tisch. Dazwischen thronte eine kleine Statue der Justitia auf einer Sammlung „Deutsche Gesetze“. DPA eine geschlagenen Schlachten stehen im Schrank. „Strafurteile 1998“ etwa heißt einer der Ordner, dessen Inhalt für Schlagzeilen sorgte. Ein Seneca-Spruch zur Erbauung ziert das Möbelstück: „Ich will Dir sagen, was den großen Herren mangelt“, schrieb der Römer, „was denen fehlt, die alles besitzen: einer, der die Wahrheit spricht.“ So sieht sich Ronald Schill, den in Hamburg fast jeder als „Richter Gnadenlos“ kennt. Die Ordner kann Schill schon bald einpacken, den Spruch abhängen. Im Januar wird der Strafrichter mit den radikalen Ansichten („Hamburgs Justiz hat ein Herz für Verbrecher“) ins benachbarte Zivilgericht versetzt, um dort zum Beispiel über harmlose Mietsachen zu richten – gegen seinen Willen. Psychisch Kranke, die Autos zerkratzen (Schills Urteil: zweieinhalb Jahre Sprayer „Oz“ Knast), können künftig auf mehr Milde hoffen, und Gerichtszuschauer, die bei der Urteilsverkündung nicht stramm stehen, werden nicht länger mit drei Tagen Ordnungshaft belangt. Nur Hamburgs Justizbehörden müssen weiter bangen; denn die elegante Entsorgung des unbequemen Kollegen ist einstweilen misslungen. Schill, 40, richtet weiter, wie es ihm gefällt – statt im Gerichtssaal nun im Fernsehen. Seit vergangenem Donnerstag urteilt er, in der RTL-Sendung „Guten Abend“, jetzt regelmäßig über die Verfahren seiner Kollegen. Statt Schöffen helfen nun eine RTL-Redakteurin (blond) und ihr Kameramann (mit Baseballkappe) bei der Urteilsfindung. Die Praktikantin des Richters und die der TV-Journalistin assistieren. Zum Auftakt hatte Schill sich in der vergangenen Woche „Oz“ vorgenommen, den Sprayer von Hamburg. Weit über 100 000mal soll Oz („Ich bin leider ein Schmierfink“) Graffiti gesprüht haben. Mehrfach wurde er verurteilt, doch bis heute ist Oz auf freiem Fuß; derzeit laufen die Berufungsverfahren. d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 „Fragen Sie mich doch mal, wie die Öffentlichkeit auf Oz reagiert“, forderte Schill die RTL-Journalistin auf – immerhin wurde der Sprayer kürzlich auf der Straße verprügelt. „Wie reagiert eigentlich“, fragte die Frau, „die Öffentlichkeit?“ Selbstjustiz sei eine natürliche Folge bei Versagen der Strafjustiz, sagte Richter Schill, die Kamera fest im Blick. Doch bei der entscheidenden Frage „Wie würden Sie entscheiden?“ verweigerte sich „Richter Gnadenlos“. Die in der ersten Instanz verhängte Bewährungsstrafe für Oz sei angemessen, meinte Schill und brachte so erstmals jemanden im Raum aus der Fassung. „Mehr nicht?“, hakte die RTL-Journalistin nach. Hatte Schill im Vorgespräch nicht eine Höchststrafe von 15 Jahren erwähnt? Ohne genaue Sachkenntnis, sagte Schill bei ausgeschalteter Kamera, möge er mehr nicht verhängen. Wenn das Strafmaß zu milde klinge, könne man es ja verschweigen: „Warum lassen Sie die Frage nicht einfach weg?“ Offenbar kennt der Jurist die Gesetze des Fernsehens schlecht, und die sind wirklich gnadenlos. So war es nur folgerichtig, dass am Ende der Kameramann das Urteil fällte. „Langjährige Haftstrafe“ wäre doch eine schöne Formulierung, meinte bei der Aufzeichnung im Richterzimmer der Mann mit der Baseballkappe, und so sagte es dann auch Schill. Doch die Sprechprobe befriedigte noch nicht. Ob er auch „ohne Bewährung“ hinzufügen könne, fragte der Kameramann. „Natürlich ohne Bewährung“, sagte Richter Schill ins Mikro. Das Urteil war gesprochen. Frank Hornig 111 Gesellschaft Ab ins Labor Der Langläufer Dieter Baumann, Kämpfer für sauberen Sport, muss zwei positive Dopingproben erklären. Wem kann der Fan noch glauben, wenn nicht ihm? A Dopingverdächtiger Baumann* „Ich habe nichts verbrochen“ BONGARTS nfang Oktober war der Leichtathlet Dieter Baumann, 34, in seinem Element. Auf einer von ihm selbst angeregten Podiumsdiskussion debattierte er zum Thema: „Wie gehen die Medien mit dem gedopten Sport um?“ Mit leidenschaftlichem Ernst bedauerte der Olympiasieger, dass die Presse in ihrer Recherche schnell an Grenzen stoße: „Man erfährt wenig, und der Athlet sagt, er habe nichts genommen.“ Vergangenen Freitag war es wieder so. Doch der Sportler, der im Stuttgarter Kunstturnforum seine Unschuld beteuerte, hieß diesmal Dieter Baumann: „Ich versichere, dass ich zu keiner Zeit meines Lebens Dopingmittel eingenommen habe.“ Die Laborbefunde sagen etwas anderes aus. In zwei Urinproben, vom 19. Oktober und 12. November, fanden sich Abbauprodukte, so genannte Metaboliten, des Hor- de öffentlich anprangert. Nicht mal erlaubte Mittel wie Vitamin-Infusionen will sich der 5000-Meter-Spezialist gestattet haben. Die Dopingdebatte hat mit dem Fall Baumann eine Grenze überschritten. Erstmals hat es in der Leichtathletik jemanden erwischt, dem das Publikum bereitwillig abnahm, dass er sauber und lauter sei – ein Vorbild in einer Branche der falschen Vorbilder. „Zahlreiche Eltern haben ihre Kinder wegen dieses Vorzeigeathleten in die Vereine geschickt“, glaubt Stefan Volknant, Sprecher des Deutschen Leichtathletik-Verbandes: „Unser Sport stürzt in eine tiefe Glaubwürdigkeitskrise.“ Das weiß keiner besser als Baumann, der wie ein Wanderprediger hartes Durch- Olympiasieger Baumann (1992): Suche nach dem Gegenbeweis mons Nandrolon – eines Klassikers unter den Kraftmachern. Baumann, dem zwei Jahre Sperre drohen, konnte in seiner zuweilen stockenden Verteidigungsrede dafür keine Erklärung anbieten: „Ich habe nichts verbrochen.“ Das würde die Sportgemeinde gern glauben. Denn der sonst so charmant parlierende Schwabe gilt als Frontkämpfer gegen den Betrug im Stadion, der seinen Berufsstand nicht schönredet, sondern Missstän112 einigen Jahren zusammen mit dem Molekularbiologen Werner Franke in der AntiDoping-Bewegung engagiert. Gemeinsam suchte man Erklärungen dafür, wie der verbotene Stoff in seinen Körper gelangt sein könnte. Anfängliche Vermutungen, dass ein Baumann-Gegner dem Saubermann der Leichtathletik die Substanz untergejubelt haben könnte, wurden schnell verworfen; ebenso die Spekulation, dass ein isotonisches Getränk kontaminiert gewesen sein könnte. Seit langem klagen Biochemiker wie Wilhelm Schänzer, der Leiter des Kölner Doping-Kontroll-Labors, darüber, dass durch das Internet Produkte vertrieben werden, deren Inhaltsstoffe oftmals unbekannt seien. Doch diese Erklärung kam bei Baumann nicht in Frage, sonst wären einige Trainingspartner ebenfalls positiv aufgefallen. So bleibt aus Sicht des Langläufers nur eine ungewöhnliche körperliche Disposition. Für die, so Baumann, „suche ich Beweise“. Hoffnung machen ihm zwei Fälle von Sportlerinnen. 1991 wurde bei der französischen Ruderin Elodie Teyssier ein erhöhter Wert des Hormons Nor-Testosteron ermittelt. Nachforschungen ergaben, dass ein Tumor die übermäßige Produktion der körpereigenen Substanz verursacht hatte. Ähnlich erging es der deutschen Gewichtheberin Stephanie Utesch – ein Unterleibstumor war für den positiven Dopingbefund verantwortlich. Die Frage ist deshalb: Gibt es auch bei Männern Konstellationen, die einen ähnlichen Stoffwechselprozess in Gang bringen? Das Hormon Nor-Testosteron wurde erst Ende der achtziger Jahre im menschlichen Körper entdeckt. Fundierte Studien über die Veränderungen des Nor-Testosteron-Spiegels unter Belastung gibt es kaum. Baumann will sich deshalb einem Langzeittest unterziehen, einer Art Laborversuch: die gleiche Ernährung, das gleiche Trainingsprogramm, die gleichen Getränke wie in den vergangenen zwei Monaten. Und dann darauf hoffen, dass sein Körper ähnlich reagiert wie am 19. Oktober, als nach einem harten 20-Kilometer-Trainingslauf sein Nor-Testosteron 19fach über dem Normalwert lag – bei der Kontrolle am 12. November gar 24fach. Bei der dritten Probe am vorigen Mittwoch war der Wert wieder auf null gesunken. Baumann gibt sich kämpferisch. Nicht spitzfindige Rechtskundler sollen ihn rausboxen, sondern medizinisch bewanderte Wissenschaftler. An Hilfstruppen müsste es der Ikone nicht mangeln. Baumann ist Mitglied der Betriebssportgruppe von Bayer Leverkusen – und dort gehören biochemische Studien zum Alltagsgeschäft. Udo Ludwig, Alfred Weinzierl ONLINE SPORT IDOLE greifen gegen Dopingsünder forderte und Artikel verfasste, die um eine Kernfrage kreisten: „Wohin soll er sich wenden, der saubere Athlet?“ Baumann nahm, als er vorigen Montag die unvorstellbare Nachricht erfahren hatte, Kontakt mit dem Heidelberger Rechtsanwalt Michael Lehner auf, der sich seit * Vergangenen Freitag nach seiner Presseerklärung in Stuttgart. d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Wirtschaft Trends DRESDNER BANK Gewinn verdoppeln? VW-Chef Piëch, Bentley-Studie (beim Genfer Autosalon) VW Sinkende Rendite V olkswagen muss seine Absatz- und Gewinnplanung für die nächsten fünf Jahre deutlich reduzieren. In der Planungsrunde 48 (2000 bis 2004), die am Freitag dieser Woche durch den Aufsichtsrat verabschiedet werden soll, sieht der Konzern für das Jahr 2000 keine Gewinnsteigerung mehr vor, wie noch in der letzten Planungsrunde prognostiziert. Der Gewinn vor Steuern wird dem internen Zahlenwerk zufolge im nächsten Jahr allenfalls den Überschuss von 1999 erreichen. Die Umsatzrendite wird sogar noch sinken. VW-Vorsitzender STROM Aus für Avanza? R WE Energie führt ernsthafte Diskussionen, seine erst vor drei Monaten mit großem Aufwand gestartete Strommarke Avanza wieder einzustellen. Unter diesem Namen wollte der Essener Stromkonzern im liberalisierten Energiemarkt den Stadtwerken Kunden abjagen. Offenbar ohne großen Erfolg: Trotz Millionenausgaben zum Markenaufbau von Avanza lag die Werbeerinnerung für das Produkt nach einer Infratest-Umfrage noch im Oktober bei nur 7,3 Prozent, spontan konnten sich nur knapp 2 Prozent der Befragten an den Namen erinnern. Die gigantische Werbeschlacht, an der sich neben RWE d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Ferdinand Piëch kann sein Ziel, zur Jahrtausendwende eine Umsatzrendite von 6,5 Prozent zu erzielen, nicht mehr erreichen. Hauptgrund: Die zu optimistischen Absatzprognosen müssen korrigiert werden. Im Management und Aufsichtsrat wird deshalb Kritik an den Plänen des VW-Chefs für teure Prestigeund Luxusprojekte laut, die eine geringe oder gar keine Rendite versprechen. Kritisiert werden die Investitionen von einer Milliarde Mark für ein Luxusmodell (D 1) der Marke VW und eine neue Fabrik dafür in Dresden, von 1,5 Milliarden Mark für die Marke Bentley und von einer Milliarde Mark für die Autostadt mit gläsernen Verkaufstürmen, Markenpavillons und einem Erlebnispark in Wolfsburg. Zudem will Piëch mehrere hundert Millionen Mark für ein Bugatti-Modell mit 18-Zylinder-Motor investieren. unter anderem auch PreussenElektra, VEW und EnBW („Yello“) beteiligten, ist offenbar wirkungslos verpufft. Bis auf Yello konnte kaum ein Stromkonzern, so Insider, seither neue Privatkunden gewinnen. P. LANGROCK / ZENIT B. BOSTELMANN / ARGUM ie Dresdner Bank will ihre Geschäftsbereiche umstrukturieren. Das hat der Vorstand auf seiner Herbstklausur Anfang November beschlossen. „Zielvorstellung ist die Etablierung einer Holdingstruktur mit rechtlich selbständigen Tochtergesellschaften“, heißt es in einer Vorstandsunterlage über die Klausurergebnisse. Zunächst werde das Investmentbanking in eine selbständige Tochter umgewandelt. Mit der rechtlichen Ausgliederung erhofft sich die Bank, die in diesem Geschäftsbereich international üblichen Gehälter – oft zweistellige Millionenbeträge für Spitzenkräfte – bezahlen und so hochkarätige Mitarbeiter anlocken zu können. Das ausländische Firmenkundengeschäft wird der neuen Bank zugeschlagen. „Die derzeit unbefriedigende Rentabilität“ im Privatkundengeschäft solle verbessert werden. Dazu will die Bank neue Kunden gewinnen und zugleich Geschäftsstellen schließen. Die Vermögensverwaltung will sie auch durch Zukäufe anderer Gesellschaften stärken. Insgesamt will sich die Dresdner Bank auf „Europa als neuen Heimatmarkt“ ausrichten und eigenständig bleiben. Durch die Umstrukturierung wird eine Verdoppelung des Gewinns nach Steuern binnen drei Jahren angestrebt – und zwar von 1,732 Milliarden Mark Gewinn in 1999 über 2,458 Milliarden (im Jahr 2000) und 2,999 Milliarden (2001) auf 3,716 Milliarden Mark im Jahr 2002. Im gleichen Zeitraum will die Bank ihr Kernkapital um eine Milliarde auf 22,8 Milliarden Mark und die Eigenkapitalrendite von 8 auf 16,3 Prozent steigern. Die ehrgeizigen Ziele sollen am 30. Juni nächsten Jahres erstmals überprüft werDresdner Bank den. Lediglich beim Shareholder-Value peilt die Bank keine großen Steigerungen an. So will der Vorstand den Marktwert des Unternehmens um 20 Prozent auf 60 Milliarden Mark im Jahr 2003 erhöhen. Derzeit beträgt der Börsenwert der Dresdner Bank rund 50 Milliarden Mark. Der Gesamtwert des Instituts wird laut dem Papier jedoch auf 63,9 Milliarden Mark beziffert. Die Differenz ergibt sich aus stillen Reserven von 13,2 Milliarden Mark. W.SCHMIDT / NOVUM D Umspannwerk 115 Trends UNTERNEHMER „Es wird sich lohnen“ 116 Shanghai W E LT H A N D E L Weniger Jobs in China D er Beitritt in die Welthandelsorganisation (WTO) bringt China nicht nur Vorteile. Da Peking seine Märkte öffnen und Importzölle, etwa für Getreide, senken muss, werden laut amtli- INTERNET Lycos Europe plant Börsengang C hristoph Mohn, Chef des Bertelsmann-Ablegers Lycos Europe, geht mit Dumpingpreisen in den Wettkampf der Internet-Anbieter: Beim neuen Lycos-Produkt „Comundo“ zahlen Internet-Surfer lediglich Telefongebühren von drei Mohn Pfennig pro Minute aufwärts – und sonst nichts. Das sei eines der „preisaggressivsten Angebote“, sagt der Sohn des Bertelsmann-Patrons Reinhard Mohn, der persönlich mit 24,5 Prozent an Lycos Europe beteiligt ist. Nach Deutschland soll Comundo europaweit angeboten werden. In Großbritannien konkurriert Lycos mit der Konzernschwester AOL Europe und deren Internet-Gratisangebot Netscape Online. Für die Offensive hat Mohn, 34, Investitionen von über 30 Millionen Mark eingeplant, um mit einer „Mehr-Marken-Strategie“ die Kundenzahl schnell zu erhöhen. Bis Jahresende soll auch das Stammgeschäft von Lycos, eine Suchmaschine im Internet, mit dem ähnlichen Angebot Fireball von Gruner + Jahr fusionieren. Damit würde Lycos in Europa den Marktführer Yahoo überholen. Im Februar 2000 will Bertelsmann das Unternehmen an die Börse bringen. d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 M. WOLTMANN T. BARTH / ZEITENSPIEGEL SPIEGEL: Von der Software zum Bier ist es ein weiter Weg. Warum engagieren Sie sich als Hauptaktionär bei der angeschlagenen Brauerei Henninger? Hopp: Eigentlich wollte ich nicht ins Biergeschäft. Ich hatte mich vor etwa anderthalb Jahren privat an einem Immobilienunternehmen meines Freundes Werner Kindermann beteiligt. Der Plan war, Henninger an den Frankfurter Stadtrand zu verlagern und das alte BraueHopp reigelände bei interessanter Rendite für neue Zwecke zu verwerten. Kindermann hatte so etwas schon bei der Schlossquell-Brauerei in Heidelberg erfolgreich praktiziert. SPIEGEL: Aber in Frankfurt wehrte sich die Stadt dagegen? Hopp: Ja, und so hatte ich nur die Wahl, mein Geld von Kindermann zurückzufordern oder eine Vorwärtsstrategie einzuschlagen. Ich habe mich entschieden, Kindermanns Anteile an den Brauereien Henninger, Schlossquell und Eichbaum weitgehend zu übernehmen. SPIEGEL: Wie viel haben Sie investiert? Hopp: Alles in allem war es bis jetzt für Henninger ein kleiner dreistelliger Millionenbetrag. Der Neubau der Brauerei erfordert demnächst noch einmal rund 90 Millionen Mark, und dann sind noch einige Millionen für weitere Investitionen sowie Sozialplan nötig. Aber es wird sich lohnen. SPIEGEL: Das Biergeschäft ist nicht gerade eine Wachstumsbranche. Hopp: Wir wollen deshalb auch keine neuen Kapazitäten schaffen, sondern kostengünstiger produzieren. Außerdem setzen wir auf den Export. Heidelberger Schlossquell zum Beispiel wird demnächst auch in Amerika verkauft. SPIEGEL: Werden Sie sich jetzt langfristig im Biergeschäft engagieren? Hopp: Wenn es gut läuft, kann ich mir das vorstellen. Aber natürlich strebe ich keine Managementaufgaben an. SPIEGEL: Trinken Sie überhaupt Bier? Hopp: Einen guten Rotwein mag ich lieber. Aber ich habe alle meine Biermarken durchprobiert, das Eichbaum-Premium-Pils schmeckt mir am besten. B. RICKERBY / SIPA PRESS SAP-Mitgründer Dietmar Hopp, 59, über seinen Einstieg ins Brauereigeschäft chen Schätzungen in den nächsten sieben Jahren knapp zehn Millionen Bauern überflüssig. Durch die internationale Konkurrenz dürften zudem rund eine Million Automobil- und Metallarbeiter ihren Job verlieren. Unklar ist noch, wie viele Staatsbetriebe in Wirtschaftszentren wie Shanghai völlig aufgeben müssen. Bereits in der ersten Jahreshälfte wurden in China drei Millionen Menschen entlassen, insgesamt sind derzeit rund 15 Millionen arbeitslos. Peking hatte Anfang vergangener Woche nach 13 Jahren Verhandlungsdauer mit den USA einen Deal über die Aufnahme in die WTO geschlossen. Es verpflichtet sich unter anderem, die Märkte für zahlreiche US-Produkte sowie für Banken, Versicherungen und Telekommunikationsfirmen zu öffnen und sich internationalen Handelsregeln zu beugen. Dafür erleichtern die Amerikaner chinesische Textilimporte und gewähren China den Status einer „meistbegünstigten Nation“. Premierminister Zhu Rongji will mit dem Beitritt seine Öffnungspolitik vorantreiben und die Bürokraten in den maroden Staatsbetrieben zu Reformen zwingen. Geld DAX 30 M-DAX SMAX 20 Veränderung seit Januar in Prozent NEMAX 50 15 50 10 40 8 10 4 30 5 20 0 0 0 10 –4 –5 0 –8 Jan. Nov. – 10 Jan. Die Story zählt S eit Anfang November bejubeln Börsianer wieder einmal Jahreshöchststände beim Dax. Doch der Index täuscht. Die drei Dax-Schwergewichte Mannesmann, Siemens und Deutsche Telekom haben die Kursrekorde fast allein geschafft. Wer hingegen Papiere von RWE, VW oder Metro hält, muss seit Jahresanfang Verluste von rund 20 Prozent verkraften. Tatsächlich stecken beim Dax etwa ein Drittel, beim M-Dax Experten vom Investmentbankhaus Goldman Sachs, werde der Ölpreis mit mehr als 20 Dollar pro Fass hoch bleiben. Von dem Preisanstieg profitieren zunächst Explorationsfirmen wie Enterprise Oil oder Lasmo, aber wohl auch Ölserviceunternehmen wie Halliburton oder Baker Hughes. Besonders angetan sind die Bankanalysten derzeit von den Aktien der großen Konzerne, zumal weitere Fusionen anstünden. Repsol sei „deutlich unterbewertet“, meint etwa die Landesbank Baden-Württemberg, für die WGZ-Bank ist BP Amoco ein „Outperformer“. Und beim Weltmarktführer Exxon erwartet die Credit Suisse First Boston auch im Jahr 2000 „weitere Gewinnschübe“. ÖLAKTIEN Weitere Gewinnschübe T rotz kräftiger Kursgewinne im vergangenen Frühjahr sind die Aktien der Mineralölmultis noch immer unterbewertet, glauben viele Analysten. Den Grund liefert die Opec. Seit Jahresanfang hat das Kartell den Preis für die Ölsorte Brent von knapp 10 auf rund 25 Dollar pro Barrel (159 Liter) getrieben. Die Produktion wurde gedrosselt, die Lagerhaltung abgebaut. Eine anziehende Weltkonjunktur und kalte Herbsttage in den USA wie in Europa heizen die Nachfrage zusätzlich an. Auch im nächsten Jahr, meinen etwa MineralölAktien Nov. 55 65 45 55 600 450 350 500 45 35 BP Amoco in Pence Enterprise Oil 250 Jan. Nov. Halliburton Royal Dutch Shell in Dollar in Pence Quelle: Datastream 400 in Euro 25 Jan. Nov. 35 Jan. Nov. d e r Jan. Nov. mehr als die Hälfte und beim Smax sogar rund drei Viertel aller Titel im Minus. Altbekannte Bewertungsregeln wie hohe Dividendenrenditen oder niedrige Kurs-Gewinn-Verhältnisse scheinen vorerst ausgedient zu haben, meint der Münchner Börsenbeobachter Jens Ehrhardt, lediglich die „Story“ treibe die Kurse. Die Aktionäre sind entzückt, wenn hohe Wachstumsraten wie bei Internet-Firmen oder große Firmenübernahmen wie bei der Telekommunikation angesagt werden. Die Kunst des Stock-Pickings bleibt weiter gefragt. Zwar stünden jetzt „die Börsenampeln auf Grün“, sagt der Experte Ehrhardt, doch am besten sei immer noch die Taktik, nach „unentdeckten Titeln im Wachstumssektor“ zu suchen. BÖRSE 550 –5 Jan. Nov. Jan. s p i e g e l Nov. 4 7 / 1 9 9 9 GEBÜHREN Geschröpfte Aktionäre B anken und Sparkassen haben eine weitere Methode entdeckt, die Konten ihrer Kunden zu plündern. Immer mehr deutsche Aktiengesellschaften stellen von Inhaberauf Namenspapiere um, die Geldhäuser verlangen für die Umschreibung Gebühren bis zu 40 Mark. Derartige Gebühren seien „nicht akzeptabel“, meint Anneliese Hieke von der Schutzgemeinschaft der Hieke Kleinaktionäre (SdK), zumal die Umschreibungsgebühr bei der Deutsche Börse Clearing einheitlich nur drei Mark betrage. Die Einführung von Namensaktien liege allein im Interesse der Firmen, so Hieke, die Aktionäre sollten sich weigern, solche Gebühren zu zahlen. Die Methode könnte sogar rechtswidrig sein, argwöhnt die SdK-Obere, weil im Preisaushang der Banken eine Aktienumstellungsgebühr nicht aufgeführt ist. ZEITENSPIEGEL – 10 Quelle: Datastream 117 Wirtschaft KONZERNE Wer ist der Nächste? Verzweifelt kämpft Mannesmann-Chef Klaus Esser um die Unabhängigkeit seines Konzerns, doch sein Widersacher von Vodafone scheint auf dem Vormarsch. Die größte Übernahmeschlacht der Industriegeschichte ist im Gange – sie wird die deutsche Wirtschaft tief greifend verändern. C Esser sieht das ganz anders, aber er konnte den 20-köpfigen Aufsichtsrat der Mannesmann AG, der am Freitag vergangener Woche in der Zentrale des Düsseldorfer Konzerns zu einer routinemäßigen Sitzung zusammengekommen war, offenbar nicht vollständig überzeugen. Die Herren, darunter Allianz-Chef Henning Schulte-Noelle und IG-Metall-Chef Klaus Zwickel, halten die Strategie von Gent nicht von vornherein für unsinnig. „Industriepolitisch würde ein Zusammengehen beider Konzerne durchaus Sinn machen“, gibt ein Teilnehmer der Sitzung zu bedenken. Falls die Aufsichtsräte am Ende den Deal doch noch ablehnen, haben die Aktionäre das Wort. Sie müssen entscheiden, ob es ein lohnendes Geschäft ist, eine Mannesmann-Aktie für 193,10 Euro (Schlusskurs vom Freitag) gegen 53,7 Vodafone-Papiere zum aktuellen Kurs von 275,5 Pence zu tauschen. Ein hartes Gefecht steht bevor: Für viele ist Mannesmann mehr als nur ein aufstrebendes Unternehmen in der Boombranche Telekommunikation. Zur Disposition steht auch eine der wenigen deutschen hris Gent wollte keine Zeit verlieren. Stundenlang ließ er deshalb am vergangenen Freitagmorgen den Piloten seines Lear-Jets startbereit am Flughafen in London warten. Der Aufwand war vergebens, die erhoffte Einladung aus Düsseldorf blieb aus. Enttäuscht musste der Chef des britischamerikanischen Mobilfunk-Konzerns Vodafone Airtouch erkennen: „Doktor Esser hat offensichtlich kein Interesse an einer konstruktiven Diskussion.“ Dennoch konnte Gent, 51, zufrieden sein. Kurz zuvor hatte er dem Aufsichtsrat des Mannesmann-Konzerns das teuerste Übernahmeangebot in der Wirtschaftsgeschichte vorgelegt – und der hatte es keineswegs rundweg abgelehnt, wie Mannesmann-Chef Klaus Esser, 51, erhofft hatte. Vielmehr will der Rat die Offerte bis Ende November in aller Ruhe prüfen. Für 242,5 Milliarden Mark will Vodafone im Rahmen eines Aktientausches den deutschen Konzern übernehmen. „Dies ist das beste Angebot sowohl für die Mannesmann- als auch für die Vodafone-Aktionäre“, versicherte Gent. Vorzeigefirmen, die sich internationales Renommee erarbeitet haben und zu den Lieblingen der Börsianer zählen. Doch würde der Erfolgskurs durch die Übernahme beendet? Verfolgt der britischamerikanische Telefonkonzern, der sich vor allem auf den Mobilfunk beschränkt, eine schlechtere Strategie als Mannesmann-Chef Esser, der auf die Kombination von Festnetz und Handy setzt? Die Fragen können selbst Experten nicht eindeutig beantworten. Siegt deshalb am Ende, wie die „Bild“-Zeitung mutmaßt, „die Geldgier der Aktionäre“? Begonnen hatte das Duell um Mannesmann am Sonntag vor einer Woche. Nach wochenlangen Gerüchten über die Pläne von Vodafone (SPIEGEL 46/1999) war Firmenchef Gent nach Düsseldorf gereist, um Esser ein erstes Angebot zu unterbreiten: Für gut 200 Milliarden Mark wollte Gent den Düsseldorfer Traditionskonzern kaufen. Gent ist vor allem an der boomenden Handy-Sparte (D2) der Düsseldorfer interessiert. Zusammen mit Vodafone, so rechnete Gent dem Mannesmann-Chef Vergleich der Giganten +35 Beteiligungen Deutschland Italien VA R I O - P R E S S Frankreich Österreich Klaus Esser Umsatz in Milliarden Mark davon Telekommunikation Gewinn vor Steuern in Milliarden Mark Mitarbeiter insgesamt Telekommunikation 19,1 5,5 1,3 130 800 27400 in Prozent Eurokom Arcor Mobilfunk D2 Infostrada SpA Omnitel Cegetel SA Telering Besitzverhältnisse Aktionäre sind… jeweils 1. Halbjahr 1999 Quelle: Mannesmann 100,0 74,9 65,2 100,0 55,0 15,0 74,8 +30 +25 Aktienkurse +20 Veränderungen seit dem 1. Oktober in Prozent +15 … Banken, Investmentgesellschaften u.ä. 78,8% … Privatanleger 13,6% +10 …sonstige 7,6% –5 +5 0 –10 Quelle: Datastream Oktober INS NEWS GROUP F. ZANETTINI / LAIF Nach zweistündiger Diskussion lehnte Esser kühl ab. „Der Übernahmeversuch“, erklärte er später im SPIEGEL-Gespräch (siehe Seite 122), „erfolgt mit einem einzigen Ziel: Die wollen uns stoppen.“ Auch das neue Angebot, mit dem Vodafone seinen ursprünglichen Vorschlag noch einmal um 40 Milliarden Mark erhöhte, lässt D2-Zentrale in Düsseldorf: Siegt die Geldgier? Esser kalt. Der Wert der Vodafone-Aktien, die den Mannesmann-Aktionären angeboten werden, sei künstlich hoch gepusht worden, meint Esser. Mit großen Emotionen wird seither um das Für und Wider des größten feindlichen Übernahmeversuchs in Deutschland debattiert. Mannesmann-Mitarbeiter gehen zu Protestmärschen auf die Straße, Gewerkschafter loben den Kurs des MannesmannChefs, obwohl der selbst im nächsten Jahr den Traditionskonzern zerlegen will. Die Angst geht um in Deutschlands Wirtschaft. Wenn schon ein Unternehmen wie Mannesmann Vodafone-Zentrale in Newbury: „Einmalige Chance“ in die Gefahr gerät, geschluckt zu vor, ergäbe sich der größte Mobilfunkbe- werden, ist kaum ein deutscher Konzern treiber der Welt „mit 42 Millionen anteili- mehr sicher: Wer ist der Nächste? Noch Anfang des Jahres gab sich Siegen Kunden“ und dominierenden Positionen in mehreren europäischen Ländern. mens-Chef Heinrich von Pierer gelassen, „Das ist eine einmalige Chance für Euro- wenn er gefragt wurde, ob sein Konzern pa, die globale Führungsrolle in einer Opfer einer feindlichen Übernahme werHightech-Branche zu übernehmen“, warb den könne. „Davor habe ich keine Angst“, Gent. „Beide Unternehmen“, so der Vo- so Pierer. Siemens sei alles andere als ein dafone-Chef, „ergänzen sich blendend und Schnäppchen, ein Käufer müsse mindestens 100 Milliarden Mark aufbringen. sind natürliche und ideale Partner.“ Inzwischen ist Siemens 150 Milliarden Mark wert – und dennoch ein Schnäppchen, gemessen an den 240 Milliarden, die für Mannesmann geboten werden. „Die Zeiten haben sich geändert“, musste der Konzernchef vergangene Woche eingestehen, „und damit auch die Preise, die für Unternehmen gezahlt werden.“ Es hat sich tatsächlich einiges geändert in der deutschen Wirtschaft, und nach der Mannesmann-Schlacht, wie immer sie auch ausgeht, wird nichts mehr so sein wie vordem. Die Ära der Deutschland AG ist unwiederbringlich zu Ende: Vorbei sind die Zeiten des kuscheligen Konsenskapitalismus, in dem Banken- und Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat die Geschicke der deutschen Großkonzerne auskungelten – und das Eindringen ausländischer Konkurrenten verhinderten (siehe Seite 120). Über das Wohl und Wehe der Konzerne wird jetzt am Kapitalmarkt entschieden. „Der Aktienkurs bekommt gegenüber dem Gewinn und der Dividende immer stärkere Bedeutung“, sagt Viag-Vorstandschef Wilhelm Simson. „Deshalb ist die zentrale Frage: Wie bringe ich den Aktionären bei, dass meine Strategie die richtige ist?“ Im Eiltempo holen die deutschen Firmenchefs nun nach, was ihre US-Kollegen längst hinter sich haben und Analysten und Fondsmanager seit Jahren fordern. Sie stutzen ihre Gemischtwarenläden aufs Stammgeschäft zurecht, sie fusionieren, stoßen Teile ab und kaufen zu. Nie zuvor in der Nachkriegsgeschichte wurde die deutsche Unternehmenslandschaft derart umgekrempelt: Siemens stößt die Chip-Sparte ab,Viag verschmilzt seinen Mischkonzern mit dem Konkurrenten Veba, Preussag-Chef Michael Frenzel baut Geschäftszahlen und Strukturen Mannesmann Großbritannien Vodafone Deutschland Mannesmann Mobilfunk Frankreich SFR Italien Omnitel Pronto Italia Niederlande Libertel Schweden Europolitan USA Australien Japan Südkorea Vodafone Airtouch November in Prozent 100,0 34,8 20,0 21,6 70,0 71,1 AirTouchCellular diverse Cellular One 50,0 PrimeCo 50,0 Vodafone 91,0 J-Phone 20,2 – 28,8 Companies Shinsegi 017 11,7 außerdem in Belgien, Griechenland, Malta, Polen, Portugal, Ungarn, Rumänien und Spanien; auf den Fidschis, in Indien, Neuseeland; in Ägypten, Südafrika und Uganda Besitzverhältnisse Aktionäre sind… …sonstige 10,6% …Privataktionäre 3,9% REUTERS Beteiligungen … Banken, Fondsgesellschaften u.ä. 85,5% Chris Gent jeweils 1.Halbjahr 1999* Umsatz * Gewinn * in Milliarden Mark vor Steuern in Milliarden Mark Mitarbeiter insgesamt Quelle: Vodafone Airtouch; *1.Apr.–30.Sept. 17,7 3,7 24 000 Ende einer Ära Die deutsche Wirtschaft ist feindliche Übernahmen nicht gewohnt. Im Ausland gehören sie fast schon zum Alltag. D ie Attacke von Vodafone gegen del in den USA. Davon zehrt das Land Mannesmann wäre, wenn sie noch heute, die amerikanische Volks- Protestaktion der IG Metall* gelänge, nicht nur die größte wirtschaft floriert. Eins plus eins gleich drei? feindliche Übernahme der WirtschaftsDie Megadeals dieser Tage dagegen geschichte, sie würde auch das Ende ei- haben eher strategischen Charakter, nagement eine Übernahme; es muss ner Ära markieren: Bislang ist es in ihre Triebfeder ist die Globalisierung. um seine Posten bangen. Deutschland einem Konzern nie ge- „Auch die deutschen Manager“, sagt In der Wirkung aber bleibt es beinalungen, einen anderen zu übernehmen, Paul Achleitner, Deutschland-Chef der he gleich, ob die Übernahme feindliohne dass dessen Management zu- Investmentbank Goldman Sachs, „sind cher oder freundlicher Natur ist. Spästimmt. angesichts des weltweiten Struktur- testens wenn die scheinbar friedliche Der italienische Reifenhersteller Pi- wandels gezwungen, sich im Wettbe- Fusion unter Dach und Fach ist, beginnt relli scheiterte Anfang der neunziger werb immer wieder neu aufzustellen.“ oft ein Hauen und Stechen. Vor zwei Jahre dabei, sich Continental einzuSeit 1992 hat sich das Volumen der Jahren wurde die Verschmelzung von verleiben. Und vor zwei Jahren wehr- Zusammenschlüsse fast versechsfacht. Daimler und Chrysler als „Hochzeit im te Thyssen den Angriff von Krupp ab; Allein im dritten Quartal dieses Jahres Himmel“ bejubelt. Heute ist klar, dass der Zusammenschluss der Stahlriesen erreichten sie einen Wert von 780 Mil- Chrysler der Juniorpartner ist, die Würglückte erst, nachdem man sich auf eine liarden Dollar, 46 Prozent mehr als vor fel fallen in Stuttgart. „Fusion unter Gleichen“ verständigte, Jahresfrist. Die meisten dieser FirmenZudem sind die Ziele, die mit einer wie die Sprachregelung lautete. ehen wurden in Europa geschlossen – Fusion angestrebt werden, immer dieBislang sorgten die Banken mit ihren die Manager vieler übernommenen Fir- selben, ob sie nun auf einvernehmliche verflochtenen Beteiligungen und Auf- men wurden dabei kalt erwischt. oder aggressive Weise zustande kommt. So erlangte der italienische Compu- Das neue Unternehmen soll Synergien sichtsratsmandaten dafür, dass feindliche Übernahmen tabu blieben. Auch terhersteller Olivetti die Kontrolle über entfalten, die Kosten senken und den das Aktienrecht, das Kleinaktionären die siebenmal größere Telecom Italia. Gewinn steigern. Alle Bereiche, die vergleichsweise großen Einfluss ein- Die französisch-belgische Energiefirma nicht den Renditeerwartungen entTotalFina attackierte Elf Aquitaine. sprechen, werden abgestoßen. räumt, erschwerte solche Deals. Doch nun ist es mit der Gemütlich- Und die drei großen Banken FrankEins plus eins ergibt drei, lautet die keit vorbei. Der rheinische Konsens- reichs haben sich unlängst eine beispiel- spezielle Arithmetik der InvestmentKapitalismus trifft auf die rauhen Sitten lose Übernahmeschlacht geliefert. banker, die solche Fusionen einfädeln. „Es gibt noch viele Dinosaurier in Dass diese Rechnung nicht immer aufder US-Marktwirtschaft. Und da entscheiden am Ende allein die Aktionäre. der Wirtschaft“, sagt Wilder Fulford geht, lehrt allerdings die Erfahrung. In den Vereinigten Staaten sind von der Investmentbank Salomon Einzig für die Aktionäre bedeutet es feindliche Übernahmen seit den spä- Smith Barney in London. „Da wird es einen Unterschied, welcher Natur die ten achtziger Jahren gang und gäbe, als noch eine Menge feindlicher Aktivitä- Fusion ist. Um die Offerte für die umso genannte Raider („Plünderer“) ihre ten geben“, erwartet er. Als feindlich worbenen Aktionäre attraktiv zu maBeutezüge quer durch die Unterneh- empfindet freilich zunächst nur das Ma- chen, muss der Angreifer einen weit höheren Aufschlag auf menslandschaft veranden Aktienkurs bieten stalteten. Sie kauften Jäger und Gejagter Strategien bei feindlichen Übernahmen als bei einer friedlichen angeschlagene Firmen, Lösung. zerlegten sie und verFirma A will Firma B gegen den gelegener ist, gibt ein höheres Auch nach der feindkauften die einzelnen Willen von Vorstand und eventuell Angebot ab. Die Firma C wird lichen Übernahme entTeile meist gewinnbrinBelegschaft übernehmen. dann als „weißer Ritter“ bewickelt sich der Kurs gend. zeichnet. Aus der feindlichen des fusionierten UnterRaider wie Michael Voraussetzung Übernahme ist eine freundliche nehmens deutlich besMilken schlachteten Es handelt sich um eine Kapitalgegeworden. Firma B verliert in sellschaft mit handelbaren Anteilen. jedem Fall zumindest teilweise ser, ergab eine Studie Firmen rücksichtslos ihre Eigenständigkeit. der Universität Iowa. aus, doch die ZerschlaFirma A macht den Aktionären ein Diese Firmen, so wird gungswelle hatte auch Mögliche Abwehrstrategien: Angebot, dessen Aktie zu kaufen vermutet, können ihr Gutes: Sie sprengte bzw. gegen eigene zu tauschen. 1 Einführung von Mehr- bzw. leichter Veränderungen verkrustete Strukturen Das Angebot liegt dabei deutlich Höchststimmrechten (in der vornehmen, ohne viele und beschleunigte den über dem aktuellen Wert der Aktie. Vergangenheit, diese MöglichRücksichten nehmen nötigen Strukturwankeit existiert ab Juni 2000 zu müssen. Frechheit Danach gibt es mindestens drei nicht mehr). siegt – zumindest an Optionen: 2 Ausgabe von Aktien * Gegen die Krupp-Thyssender Börse. an die Belegschaft. Fusion im März 1997 in Frank1 Die Aktionäre akzeptieren furt am Main. das Angebot. 2 Die Aktionäre lehnen das Angebot als unattraktiv ab. 120 3 Eine Firma C, die der Firma B 3 Der „weiße Ritter“ schreitet ein. 4 Überkreuzbeteiligungen mit verschiedenen Partnern. Alexander Jung Wirtschaft dert werden, forderte etwa Hans Peter Stihl, Präsident des Deutschen Industrieund Handelstags, dass „kerngesunde, im Wettbewerb erfolgreiche Unternehmen gefleddert und ihre Betriebsteile meistbietend veräußert werden“. Selbst Bundeskanzler Gerhard Schröder vergaß alle diplomatische Vorsicht und warnte in einem Interview mit der Pariser FOTOS: J. GIRIBAS ( li.); DPA (re.) B. BOSTELMANN / ARGUM den Schiff- und Anlagenbauer zum Touristikkonzern um. Sicherheit bringt das nicht. „Je interessanter wir von unserer Unternehmensstruktur her werden“, ahnt Frenzel, „desto interessanter werden wir auch für potenzielle Aufkäufer.“ Diese Erfahrung muss Mannesmann-Chef Esser gerade machen. Der Börsenwert von Mannesmann übertrifft inzwischen selbst den von Industriegiganten wie DaimlerChrysler oder SAP. Das so genannte Kurs-Gewinn-Verhältnis, mit dem Analysten die Aktien vergleichen, hat den Wert 200 überschritten, bei einem durchschnittlichen Großunternehmen, das im Dax vertreten ist, beträgt der Kurs in etwa das 20- bis 30fache des Jahresgewinns. Doch für die Übernahmestrategen scheint der Mannesmann-Kurs kein Hindernis, denn es geht um Marktmacht in einer der Schlüsselbranchen des 21. Jahrhunderts. Nur wer möglichst viele Kunden mit einer breiten Palette von Kommunikationsangeboten aus einer Hand bedienen kann, so das Credo der Telefonbosse diesseits und jenseits des Atlantiks, kann auch in Zukunft überleben. Schon warnen Politiker und Verbandsfunktionäre vor einem allzu zügellosen Wettbewerb. Es müsse per Gesetz verhin- Mannesmann-Sympathisanten Stihl, Zwickel Warnung vor zügellosem Wettbewerb Zeitung „Le Monde“ vor feindlichen Übernahmeversuchen bei deutschen Firmen: Diejenigen, so der Kanzler, die solche Zusammenschlüsse planen, unterschätzten die Macht des Mitbestimmungsrechts. Deshalb rate er „allen zu Besonnenheit, die solche Abenteuer wagen wollten“. Verwundert stellen Politiker fest, dass die Freigabe des Telefonmarktes nicht nur die Tarife purzeln ließ und neue Arbeitsplätze schuf, sondern auch zu Kräfteverschiebungen in der Branche führte, die so schnell nicht zu erwarten waren und nun politisch kaum noch zu steuern sind. So sind zwei Jahre nach dem Beginn der Liberalisierung schon die meisten großen Newcomer auf dem deutschen Markt mehr oder weniger fest in ausländischer Hand. Bei der Handy-Firma E-Plus hat bald Michel Bon, der Chef der France Télécom, das Sagen, bei Viag-Interkom will British Telecom seinen Anteil von jetzt 45 Prozent zu einer Mehrheit ausbauen. Die frühere Daimler-Tochter Debitel, die vier Millionen Handy-Kunden in Deutschland betreut, wurde von der schweizerischen Swisscom übernommen, und die norddeutsche Telefongesellschaft Talkline wird von Dänen und Amerikanern beherrscht. Wenn jetzt auch noch Mannesmann unter britische Kontrolle gerät, dann sind in den bedeutenden Firmen nur noch das Enfant terrible Gerhard Schmid mit seiner Mobilcom und Telekom-Chef Ron Sommer Herr im eigenen Haus. „Wir brauchen eine umfassende Inventur unserer Telekommunikationspolitik“, leitete Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Wolfgang Clement (SPD) im Oktober Dinah Deckstein, Klaus-Peter Kerbusk 122 AP eine neue Debatte um den Wettbewerb in der Telekommunikation ein. Noch hielt sich Clement mit klaren Aussagen zurück, aber das Ziel ist klar: „Unser Regulierungsmodell muss auf den Prüfstand.“ Doch die Politiker können Mannesmann nicht helfen – und aus der Industrie ist auch wenig Beistand zu erwarten. SiemensChef von Pierer will sich jedenfalls nicht, wie vielfach kolportiert, als so genannter weißer Ritter an Mannesmann beteiligen. „Wir gehen nicht ins Betreibergeschäft“, sagt er, „sonst würden wir unser Geschäft als Zulieferer für andere Telefonanbieter beschädigen.“ Und Simson bezeichnet die Gerüchte, die Viag werde als Retter einspringen, als „absoluten Unfug“. Auf Dauer wird sich die deutsche Wirtschaft, die bislang jeden feindlichen Übernahmeversuch abgewehrt hat, den international üblichen Umgangsformen nicht verschließen können. Schließlich sind deutsche Unternehmen wie Daimler, Deutsche Bank, Allianz oder Telekom selbst als Aufkäufer im Ausland auf Jagd. „Die Deutschen“, mahnt denn auch Norbert Walter, Chefvolkswirt der Deutschen Bank, dächten bei Fusionen „zu sehr im Nationalen“. „Feindliche Übernahmen“, warnt auch ein hochrangiger Mannesmann-Aufsichtsrat, „dürfen in Deutschland kein Tabu sein, das werden wir auf Dauer nicht durchhalten.“ Auf diesen Sinneswandel setzt Vodafone-Chef Gent. Denn so groß ist der Sprung nicht, den der Engländer schaffen muss. „Um die Herrschaft im Aufsichtsrat übernehmen zu können“, sagt Gent, „reichen uns 50,1 Prozent der Aktien.“ Würde sich Esser dann weiter gegen die Übernahme sperren, dann arbeitet die Zeit für Gent. Spätestens im Juni 2000 könnte er den Vorsitz im Düsseldorfer Aufsichtsrat übernehmen und den bockigen Widersacher Esser feuern. Denn dann fällt die in der Mannesmann-Satzung festgeschriebene Beschränkungsklausel, die selbst dem größten Einzelaktionär bislang nur fünf Prozent der Stimmrechte auf der Hauptversammlung zubilligt, per Gesetz weg. Doch die Entscheidung darüber, ob Vodafone-Chef Gent der erste Ausländer sein wird, der ein deutsches Unternehmen gegen den Widerstand der Manager knacken kann, fällt möglicherweise gar nicht in Deutschland. Schon jetzt werden 60 Prozent der Mannesmann-Aktien von ausländischen Anlegern gehalten, vor allem von Fondsgesellschaften. Nach der Übernahme von Orange, die Ende November abgeschlossen werden soll, beherrschen sie sogar 70 Prozent des Mannesmann-Kapitals. Und da wird Gent vermutlich mehr Gehör finden, falls der Mannesmann-Aufsichtsrat sein Angebot am 28. November endgültig ablehnt. Telekommunikations-Manager Esser*: „Uns geht es wie Claudia Schiffer“ S P I E G E L - G E S P R ÄC H „Die wollen uns stoppen“ Mannesmann-Chef Klaus Esser über die Zukunftschancen im Handy-Markt, seinen Schlafmangel und die aggressiv geführte Abwehrschlacht gegen den britisch-amerikanischen Telefonkonzern Vodafone Airtouch SPIEGEL: Herr Esser, aus der Führung einer ganz normalen Firma ist eine mit nationalem Pathos aufgeladene Abwehrschlacht geworden, aus dem eher unbekannten Konzernchef laut „Bild“ ein „Superhirn“. Wie fühlen Sie sich in diesen Tagen? Esser: Das nationale Pathos können wir im Moment wirklich nicht brauchen. Das passt nicht in unsere Zeit, das passt vor allem nicht zu der Strategie von Mannesmann. Wir bauen ein paneuropäisches Unternehmen mit dem Fokus auf europäische Kunden und Märkte – und wir kämpfen derzeit um das Vertrauen der internationalen Anleger. SPIEGEL: Selbst die verstehen kaum, dass ausgerechnet einer der erfolgreichsten deutschen Konzerne nun ein Übernahmekandidat sein soll. Esser: Das ganze ist wirklich schwer zu begreifen, das gebe ich zu. Jeder weiß doch, die Mannesmänner sind auf der Siegerstraße, weil sie mehr Strukturwandel geschafft haben als die anderen, weil sie mehr Zukunftschancen ergriffen haben. Deshalb wäre es jetzt schade, wenn uns jemand stoppt. Und genau deshalb arbeiten wir * Auf dem Wege zur Aufsichtsratssitzung am vergangenen Freitag. d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 auch hart daran, die Übernahme durch Vodafone Airtouch abzuwehren. SPIEGEL: Normalerweise verbringt ein Konzernchef seinen Tag damit, Zahlen zu prüfen, Strategien zu diskutieren und Kontakt zu Großaktionären zu halten. Wie sieht Ihr Tagesablauf momentan aus? Esser: Die Kommunikation mit Beratern, Banken, Analysten, aber auch mit den wichtigsten Medien des Landes steht eindeutig im Vordergrund. Die Arbeitsbelastung für die Führung des Konzerns ist derzeit enorm, das eigentliche Geschäft spielt fast eine Nebenrolle. SPIEGEL: Mitarbeiter von Ihnen sagen, Sie hätten schon in den acht Tagen der Übernahme der britischen Mobilfunkgesellschaft Orange nur zwölf Stunden geschlafen. Stimmt das? Esser: Ich habe nicht einmal mehr Zeit gehabt, die Stunden zu zählen, die ich geschlafen habe. Das gilt jedoch für das gesamte Team. SPIEGEL: Wie groß muss man sich solche Teams vorstellen, die derzeit auch die Abwehrschlacht organisieren? Esser: Das Team besteht aus rund 20 eigenen Leuten. Außerdem sind rund 10 Externe wie beispielsweise Investmentbanker oder Rechtsanwälte permanent be- Wirtschaft Wie Phönix aus der Asche Entwicklung des Aktienwertes von Mannesmann und Vodafone Airtouch in Milliarden Euro Übernahme von Airtouch Quelle: Datastream 1997 1998 1999 in der vergangenen Woche hier war, um Ihnen ein Kaufangebot zu unterbreiten? Esser: Natürlich. Die Zeitungskampagne in England, mit der Vodafone seinen Kurs hochgetrieben hat, war der eigentliche Grund für meine Einladung nach Düsseldorf. SPIEGEL: Sie haben den Angreifer zu sich eingeladen? In den Zeitungen stand, er sei aus eigenem Antrieb vorbeigekommen. Esser: Herr Gent hat meine Einladung auch nicht direkt angenommen. Er ist erst gekommen, als er sozusagen „ready for takeover“ war. Dann lief alles nach dem Motto ab: „Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt.“ SPIEGEL: Hat der Vodafone-Chef Ihnen ins Gesicht gesagt: Ich möchte die Firma Mannesmann kaufen und dann zerlegen. Sie, lieber Klaus Esser, werden Ihren Chefposten dann leider räumen müssen? Esser: So ähnlich. Herr Gent hat ein klares Angebot gemacht, mündlich und schriftlich. Sonst hätte sich die Reise von London P. SCHINZLER schäftigt. Aber auch die anderen Mitarbeiter des Konzerns werden in dieser Phase sehr stark in Anspruch genommen, um Zahlen und Analysen für den Vorstand bereitzustellen. SPIEGEL: Und die Investmentbanker sitzen jetzt auf der Chefetage? Esser: Nein, die sitzen an einem streng geheimen Ort. Wir wollen die Vertraulichkeit gewährleisten. Wir müssen jetzt auf Nummer Sicher gehen und wollen uns keine Unregelmäßigkeiten vorwerfen lassen. SPIEGEL: Was meinen Sie damit genau? Esser: Nehmen Sie doch all die angeblich undichten Stellen in London, aus denen Gerüchte über den angeblichen Stand der Verhandlungen flossen. In Wahrheit – aber das wissen die Journalisten ja viel besser als ich – waren diese Informationen eine gezielte Beeinflussung des Aktienkurses von Vodafone. SPIEGEL: Psychologische Kriegsführung nannte man das früher. Esser: Mit einer Kriegsführung gegen uns wären wir spielend fertig geworden. De facto hatten wir es aber mit einer gezielten Beeinflussung der Aktionäre zu tun. Die Meldungen, die in London lanciert wurden, hießen doch: „Wir sind in konstruktiven Verhandlungen mit dem Mannesmann-Management und werden den Konzern zu einem Spottpreis von 200 Euro pro Aktie übernehmen können.“ Dadurch sollte erreicht werden, dass die Vodafone-Aktionäre in Jubelschreie ausbrechen und der Kurs unseres Konkurrenten nach oben rauscht. SPIEGEL: Sie sagen also: Die MannesmannAktionäre sollten getäuscht werden? Esser: Man will sie verführen, ihre wertvollen Mannesmann-Aktien gegen Vodafone-Aktien zu tauschen, deren Wert künstlich hochgepusht werden sollte. Ich sage: Der Vodafone-Aktienkurs gerät extrem unter Stress. Im schlimmsten Fall zu einem Zeitpunkt, zu dem unsere Aktionäre ihre Papiere schon getauscht haben. Das wollen wir unseren Eigentümern ersparen. SPIEGEL: Haben Sie das Vodafone-Chef Chris Gent auch so deutlich gesagt, als er Netz-Zentrale der Mannesmann-Tochter Arcor: „Reinrassige Telefonfirma“ d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 nach Düsseldorf auch nicht gelohnt. Im Gegensatz zu den Zeitungs160 attacken der beiden Wochen davor fand ich das ganz in Ordnung. Herr 140 Gent vertritt die Interessen seiner Aktionäre und ich die unserer Eigentümer. 120 SPIEGEL: Nun beklagt der VodafoneChef, dass Sie sein Angebot nicht einmal richtig angesehen hätten. 100 Stimmt das? Esser: Nein, wir haben ein ausführ80 liches Gespräch geführt. Und Sie dürfen nicht vergessen: Gent und ich, wir kennen uns schließlich aus 60 früheren Begegnungen. SPIEGEL: Sie arbeiten ja bis zum heutigen Tag als Partner in ver40 schiedenen Ländern zusammen. War es von Anfang an der Plan des 20 Briten, Mannesmann unter seine Kontrolle zu bringen? Esser: Ich weiß nur: Der VodafoneChef hat seinen Aktionären die Vorherrschaft in Europa in Aussicht gestellt. Das ist der Ursprung all der hektischen Aktivitäten. Auf den Charts, die sie den Analysten präsentieren, zeigen sie immer ihre expansiven Pläne zur Erlangung der Marktführerschaft in Europa. Spätestens nach unserem Kauf von Orange, der drittgrößten Handy-Firma in Großbritannien, sind diese Pläne reine Illusion. Deshalb ist die Überlegung von Herrn Gent, wir greifen uns Mannesmann, aus seiner Sicht logisch. Er und seine Aktionäre wissen: Wenn sie uns nur noch ein paar Monate weitermachen lassen, gibt es keine Chance mehr, uns den Vorsprung in Europa wieder wegzunehmen. SPIEGEL: Damit geben Sie zu, dass Sie der Aggressor waren. Herr Gent musste den Kauf von Orange auf seinem Heimmarkt als Provokation verstehen – und schlägt nun zurück. Esser: In dieser Branche ist es durchaus üblich, dass man auf dem einen Markt gemeinsam marschiert, auf anderen aber konkurriert. Für uns war immer klar, dass wir einen so wichtigen europäischen Markt wie England nicht auslassen konnten. SPIEGEL: Trotzdem hätte man unter Partnern erwarten können, dass man sich vorher informiert. Warum haben Sie Gent vor dem Kauf von Orange nicht angerufen? Esser: Die Geschichte mit Orange ist für Herrn Gent keine Überraschung gewesen. Wir haben ihm zwischen Januar und September sehr konkrete Vorschläge für eine Zusammenarbeit auf dem englischen Markt gemacht – er lehnte ab. Lediglich in den vier Tagen, als der Deal ablief, haben wir nicht telefoniert. Damit hielten wir uns ganz strikt an die Börsenspielregeln. Als die Orange-Übernahme durchsickerte, war ich mit dem Vodafone-Chef sofort in direktem Kontakt. SPIEGEL: Kam es am Telefon zu heftigen Reaktionen? 123 Wirtschaft frieden, natürlich. Aber so ist Wettbewerb nun einmal. Ich sehe das wie in der Leichtathletik. Man kann keinen 400Meter-Lauf beginnen und vorher verabreden: „Sie bleiben aber bitte immer hinter mir.“ SPIEGEL: Nun hat eine Abwehrschlacht begonnen, die den Konzern nicht nur Nerven, sondern auch viel Geld kosten wird. Gibt es noch die Möglichkeit einer friedlichen Einigung? Esser: Es gibt verschiedene Wege einer Einigung. Man kann beispielsweise verabreden, wir arbeiten überall konstruktiv zusammen, wo wir ohnehin schon zusammen sind, also in Deutschland und in Italien und in Frankreich. In allen übrigen Teilen der Welt macht jeder, was er für richtig hält. SPIEGEL: Herr Esser, das ist der Status quo und kein wirkliches Einigungsangebot. Esser: Wir hatten Herrn Gent Mahnwache der Röhrenarbeiter vor dem Werk Remscheid: Abspaltung traditioneller Bereiche aber auch angeboten, beispielsweise in den neuen Handy-Online- hat Herr Gent bei unserem Gespräch auch samte Wirtschaft auf eine starke KonzenDiensten zusammenzuarbeiten. Die so ge- gar nicht bestritten. Er ist allerdings der ir- tration zu. Heute weiß man, dass solche nannte Wap-Technologie, die das Internet rigen Auffassung, wir seien nur ein bisschen Monopole träge werden und nach einigen aufs Handy bringt, wird in den nächsten besser. Und dieses Bisschen könnte er den Jahren wieder zerfallen. SPIEGEL: Also nochmals die Frage: Was ist Jahren eine neue gigantische Wachstums- Mannesmann-Aktionären bezahlen. welle hervorbringen. Da stehen wir alle SPIEGEL: Ist es wirklich so unsinnig, was der falsch an der Vodafone-Strategie, eine Geam Anfang, sowohl bei den Inhalten dieser Brite vorschlägt? Seit Karl Marx wissen sellschaft mit 42 Millionen Kunden entsteDienste als auch bei der Technik. Da wer- wir, dass der Kapitalist nach Oligopolen hen zu lassen? den wir Volumen brauchen. Aber zu die- oder, besser noch, Monopolen strebt. Und Esser: Die Strategie ist weder falsch noch sem Vorschlag hat sich unser britisch-ame- eine marktbeherrschende Stellung – mit schlecht für Vodafone-Aktionäre. Für un42 Millionen Handy-Kunden –, das ist das, sere Eigentümer fehlt hingegen die Atrikanischer Partner nicht geäußert. SPIEGEL: Stattdessen ging am Freitagmor- was Herr Gent den Aktionären durch die traktivität. Während Herr Gent nämlich gen ein Übernahmeangebot bei Ihren Auf- Zusammenlegung der Konzerne anbietet. viele Kunden in Gesellschaften hat, an sichtsräten ein. Für rund 242 Milliarden Esser: Schon Karl Marx ist einer Irrlehre denen er nur Minderheitsbeteiligungen Mark will Vodafone die Mannesmann- aufgesessen. Er hat die Welt, das gestehe hält, haben wir die Kunden zumeist in Aktien übernehmen. Ist das Tischtuch da- ich zu, zu einem sehr ungünstigen Zeit- Mehrheitsbeteiligungen. Und das ist für punkt betrachtet und analysiert. Damals die künftigen Wachstumsperspektiven sehr mit endgültig zerschnitten? Esser: Das darf im Interesse der Aktionäre sah tatsächlich alles so aus, als liefe die ge- wichtig. nicht zerschnitten werden. Das ist wie beim SPIEGEL: Warum? Kunde ist Kunde. Tennis. Nehmen Sie mal die Spieler in Esser: Eben nicht. Für die neuen Sie sind verbunden Wimbledon. Wenn es einer von beiden Dienste, wie etwa die DatenübertraDie größten Übernahmen der Telekommunikation gung per Handy, braucht man den nach drei Sätzen nicht geschafft hat, müssen sie es halt fünf Sätze miteinander ausVerbund von Ressourcen. Sie brauKaufpreis halten. Meist bleiben sie nach einem solchen den Austausch von Teams und in Milliarden Käufer Übernahmeobjekt Dollar chen Match sogar Freunde. Ähnlich provon Forschungsergebnissen, nur so fessionell sollten wir auch mit diesem bekommen Sie wirklich Synergien Angebot 129 Vodafone Mannesmann Übernahmeangebot umgehen. organisiert. Das alles ist aber nur SPIEGEL: Uns erinnert der Übernahmemöglich, wenn man die Kontrolle Sprint Corp MCI Worldcom 127 kampf eher an die rauen Sitten im Boxüber die Gesellschaften hat. Das sport. Da beißt schon mal einer dem anhaben wir viel früher gesehen als SBC Ameritech 72 deren im Eifer des Gefechts ein Ohr ab. Vodafone und auf den Kauf von Esser: Genau so weit dürfen wir es nicht Mehrheitsbeteiligungen gesetzt. Bei Bell Atlantic GTE 71 kommen lassen. Die Ohren sollten schon Minderheitsbeteiligungen entstehen AT&T Tele-Comm. Inc 69 dran bleiben. Es geht um eine sachliche wenig Synergien. Auseinandersetzung. Und da ist unsere PoSPIEGEL: Dafür bietet Vodafone seit Vodafone Airtouch 65 sition klar und ganz eindeutig: Wir haben der Fusion mit der US-Firma Airdie bessere Position, die bessere Strategie touch die Möglichkeit, die in Europa AT&T MediaOne 63 und die besseren Wachstumschancen. Das entwickelten Produkte der neuen In124 d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 K. H. JARDNER Esser: Herr Gent war unzu- Werbeseite Werbeseite Wirtschaft ternet-Handys auch in den USA zu vermarkten. Ist das nicht eine verlockende Perspektive? Esser: Ja. Das wäre interessant. Allerdings müssen Sie sehen, dass Vodafone Airtouch den Kampf um die Mehrheit in den USA bereits verloren hat. Im Ringen um die landesweite Präsenz hat man Anfang September mit Bell Atlantic einen Vertrag gemacht und alle Aktivitäten zusammengeworfen. In der neuen, wirklich gut aufgestellten Gesellschaft, hat Vodafone allerdings nur 45 Prozent der Anteile und ist bereits auf dem Rückzug. SPIEGEL: Woran erkennen Sie das? Esser: Der Vertrag enthält eine Ausstiegsklausel für Vodafone. Warum soll ich denn Mannesmann-Aktionären raten, in einen Apfel zu beißen, der bereits vergiftet ist? Vodafone sitzt in der Klemme – nicht wir. SPIEGEL: Ist das auch der Grund, warum Sie glauben, keinen weißen Ritter zu brauchen, der in der Übernahmeschlacht hilft? Esser: Vielleicht wäre es möglich, befreundete Unternehmen anzurufen und zu sagen, wollt ihr euch nicht mit 20 oder 30 Prozent hier in die Türe stellen. Aber es entspricht nicht unserer Mentalität, uns hinter einer Wagenburg zu verschanzen. Das würde die Glaubhaftigkeit eines klar wertorientierten Kurses zerstören. SPIEGEL: Machen Sie den Anlegern da nicht etwas vor? Das Hoch der Mannesmann- Aktie von zeitweise über 200 Euro ist doch als Finanzvorstand angefangen habe, lag eindeutig durch die Übernahmephantasie der Börsenwert von Mannesmann bei rund ausgelöst. 12 Milliarden Mark, heute beträgt er schon Esser: Da halte ich dagegen: Die Wachs- 200 Milliarden Mark. Das bedeutet, dass tumsperspektiven für den Konzern sind gi- der Kreis derer, die Mannesmann übergantisch. Das Datengeschäft bei den Han- nehmen können, immer kleiner wird. dys wird uns einen neuen Schub bringen. SPIEGEL: In Zeiten des Turbo-Kapitalismus Die beiden Mannesmann-Festnetzgesell- scheint diese Gleichung nicht mehr aufzuschaften Arcor und Otelo, die Konkurren- gehen. Sie sind doch gerade wegen Ihrer ten wie Mobilcom inzwischen weit abge- Wertsteigerung – die Aktie legte um mehr schlagen haben, sind noch in der als 900 Prozent in fünf Jahren zu Start-up-Phase, genau wie un– ein attraktiver Kaufkandidat sere italienische Festnetzgesell- „Warum sollen geworden. schaft Infostrada. Das heißt, wir Mannesmann- Esser: Wir lebten bisher sehr gut Aktionäre in damit, dass uns die Konkurrenz stehen nicht am Ende einer Wachstumsperiode, wie es bei bewundert. Uns geht es da wie einen Apfel Vodafone mit der ausschließClaudia Schiffer, die muss schon beißen, der lichen Konzentration auf Moseit zwölf Jahren damit klarbereits bilfunktelefonie der Fall ist, sonkommen, dass ihr auf der Straße dern in vielen Bereichen vor vergiftet ist?“ mehr Leute nachgucken als aneinem neuen Aufbruch. Die deren Frauen. Schlussfolgerung für den Mannesmann- SPIEGEL: Aber Sie versprechen jetzt, wir Aktionär kann deshalb nur sein: Lasst dem werden immer hübscher, immer wertvoller. Konzern noch ein wenig Zeit, und er wird Ist das noch realistisch? uneinholbar den europäischen Spitzen- Esser: Die Telefonbranche ist nach über platz belegen. hundert Jahren Monopol unheimlich in BeSPIEGEL: Selbst wenn diese Abwehrschlacht wegung, da gibt es tausend Chancen. Ungewonnen wird, steht der nächste Angrei- ser Konzept heißt beschleunigtes Wertefer vor der Tür, wahrscheinlich eine ame- wachstum. Im nächsten Jahr zünden wir rikanische Firma.Wie wollen Sie sich gegen zum Beispiel den kleinen Turbolader der Konzernteilung, der eine nennenswerte weitere Attacken schützen? Esser: Die Gefahr wird von Woche zu Wo- Steigerung in der Bewertung des Unterche geringer. Als ich vor fünfeinhalb Jahren nehmens bringen wird. Wir spalten das tra- M. DANNENMANN Manager Esser (r.) beim SPIEGEL-Gespräch*: „Vodafone ist in der Klemme – nicht wir“ ditionelle Geschäft als Maschinenbauer und Autozulieferer ab und sind dann erstmals eine reinrassige Telefonfirma. SPIEGEL: Und das soll den Kurs noch mal nach oben katapultieren? Esser: Viele Fonds, die nur lupenreine Telefonfirmen kaufen, meiden uns heute noch. Das wird sich mit der Zweiteilung schlagartig ändern. SPIEGEL: Sie haben bei Ihrer Klage gegen die Investmentbank Goldman Sachs, die Vodafone im Übernahmepoker berät, eine * Mit den Redakteuren Frank Dohmen und Gabor Steingart in der Düsseldorfer Konzernzentrale. Schlappe hinnehmen müssen. Das Gericht hat Ihre Auffassung, die Banker hätten Geheimnisse verraten, die sie aus der Mannesmann-Beratung bei Orange gewonnen hätten, schroff zurückgewiesen. War die Anrufung des Gerichts ein Fehler? Esser: Das war kein Fehler. Wir haben uns bemüht, unsere Interessen zu vertreten. SPIEGEL: Zumindest in der deutschen Wirtschaft sind Ihnen alle Sympathien sicher. DIHT-Präsident Hans Peter Stihl hat sogar ein generelles Verbot von Übernahmen gefordert, wenn das Ziel eine Zerschlagung des Konzerns ist. Haben Sie sich über die Schützenhilfe gefreut? Esser: Ich habe NRW-Ministerpräsident Wolfgang Clement, der sich freundlicherweise über den Stand der Dinge erkundigt hat, gesagt: Wir müssen darauf achten, dass absolut null Prozent nationales Sentiment in die Diskussion hineinkommt. Das ist eine Denke von gestern. Die können wir nicht gebrauchen. Und schon gar nicht in einem Konzern, der einen Großteil seiner Mitarbeiter in europäischen Nachbarländern beschäftigt. SPIEGEL: Ihre gesamte Argumentation zielt auf den Aktionär, der soll dem heutigen Management und seiner Strategie vertrauen. Welche Rolle spielen in Ihren Überlegungen die Mitarbeiter, die extrem verunsichert sind, zornig und hilflos zugleich. Esser: Ich weiss, es ist emotional für die Mitarbeiter kaum zu verarbeiten, was da passiert. Sie alle sind in den letzten Jahren schneller gerannt als die Konkurrenz und müssen nun erleben, dass ihnen von der Tribüne Knüppel zwischen die Beine geworfen werden. Das ist hart, denn der Übernahmeversuch erfolgt mit einem einzigen Ziel: Die wollen uns stoppen. Aber wir werden das alle miteinander durchstehen, so ist das Leben. Der Markt hat immer Recht. SPIEGEL: Herr Esser, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. AP obersten Verfassungshüter 1995 in ihrem Urteil zur Vermögensteuer aufgestellt haben, als unverbindliche Meinungsäußerung der Karlsruher Kollegen deklassiert hat, pressiert es in deutschen Finanzgerichten. Die in München gescheiterten Kläger, ein Unternehmer-Ehepaar aus dem Rheinland mit einer Steuerbelastung aus Einkommen- und Gewerbeertragsteuer von rund 60 Prozent, wollen schon nächste Woche in Karlsruhe Verfassungsbeschwerde gegen den Spruch des Finanzhofs einlegen. Hat der Fall „Halbteilung“ dort erst einmal ein Aktenzeichen, dann können Finanzgerichte einschlägige Klagen nicht mehr entscheiden. Sie müssen auf die Verfassungsrichter warten. Und auf die, das haben Deutschlands Finanzämter in den vergangenen Jahren mit unzähligen Einsprüchen gegen Steuerveranlagungen leidvoll erfahren, ist kein Verlass. „Es soll mit allen Mitteln verhindert werden“, so der Anwalt der Kölner Kläger Philipp Thouet, „dass allzu viele Fälle offen bleiben.“ Mit ihrer Entscheidung – eine Belastung aus Einkommen- und Gewerbeertragsteuer von insgesamt rund 60 Prozent des zu versteuernden Einkommens sei „nicht verfassungswidrig“ (BFH) – hat der Elfte Senat des Bundesfinanzhofs unter dem Vorsitz der gerade zur BFH-Präsidentin beruZweiter Senat des Verfassungsgerichts, Richter Kirchhof (2. v. l.): Erfinder der Hälftigkeit STEUERN Darf der Staat dem Bürger mehr als die Hälfte seines Einkommens abnehmen? Das Bundesverfassungsgericht sagt nein, der Bundesfinanzhof ja. Das letzte Urteil steht noch aus. D as Finanzgericht Köln widerlegte vorigen Mittwoch eindrucksvoll Volkes Meinung, wonach die Mühlen der Justiz langsam mahlen. Innerhalb von zwei Stunden erledigten die Kölner Finanzrichter 23 Klagen – macht pro Fall 5 Minuten und 13 Sekunden. Schon tags darauf konnten die Anwälte per Telefon die Urteile erfahren: alle Klagen abgewiesen. Eine juristische „Massenexekution“, so Peer-Robin Paulus, Justiziar der Arbeitsgemeinschaft Selbständiger Unternehmer, wie sie vor deutschen Finanzgerichten derzeit gar nicht selten ist. Bei allen Klagen geht es derzeit um dasselbe Thema: Steuerzahler wehren sich unter Berufung auf das Bundesverfassungsgericht, deutlich mehr als die Hälfte ihres Einkommens beim Fiskus abzuliefern. Seit Anfang des Monats der Bundesfinanzhof (BFH) in München den so genannten Halbteilungsgrundsatz, den die 128 DPA Grenzen für den Fiskus Belastung ohne Ende? Minister Eichel, BFH-Präsidentin Ebling Das klagende Ehepaar bezieht sein Einkommen hauptsächlich aus Gewerbebetrieb fenen Richterin Iris Ebling ein Problem nach Karlsruhe zurückgeschickt, über das Deutschlands Topjuristen streiten, solange es das Grundgesetz gibt: Sind dem Staat qua Verfassung bei der Besteuerung seiner Bürger Grenzen gesetzt? Und wo sind diese Grenzen zu ziehen? Mit ihrer verklausulierten Formel im Vermögensteuerurteil, wonach die steuerliche Gesamtbelastung des Bürgers höchstens „in der Nähe einer hälftigen Teilung zwischen privater und öffentlicher Hand“ liegen dürfe, meinten die Verfassungsrichter 1995, einen ersten Schritt hin zu einer verfassungsmäßig eindeutig festgelegten Grenze für den steuereintreibenden Staat getan zu haben. Umso überraschter waren die Richter von damals, allen voran der Berichter- Gesamtbetrag der Einkünfte 648595 Mark zu versteuerndes Einkommen 622878 Mark Einkommensteuer Kirchensteuer –260262 Mark –23396 Mark von der Gemeinde erhobene Gewerbeertragsteuer –113170 Mark Steuerlast –396828 Mark Die Belastung des Gesamtbetrags der Einkünfte beträgt 61,2 % Damit ist nach Meinung der Kläger der Halbteilungsgrundsatz verletzt, wonach die steuerliche Gesamtbelastung nicht mehr als 50% des Einkommens betragen dürfte. d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Bis zu hundert Prozent Steuern Werbeseite Werbeseite Wirtschaft statter in Steuersachen, Paul Kirchhof, als sie dann erfuhren, was die Kollegen des Finanzhofs aus ihrem Ansatz gemacht hatten. Die Verfassungsrichter stoßen sich gleich an mehreren Punkten der Münchner Entscheidung. Frech behaupten die Finanzrichter, die Passage zur „hälftigen Teilung“ zwischen Bürger und Staat sei kein tragender Bestandteil des damaligen Urteils des Verfassungsgerichts gewesen und deshalb für andere Gerichte auch nicht verbindlich. Gerade weil einer vom Zweiten Senat, der Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde, damals vehement gegen die Festlegung auf eine verfassungsmäßige Besteuerungsgrenze plädierte, haben die übrigen sieben im Urteilstext ausdrücklich festgelegt, dass die umstrittene Passage zu den „tragenden Gründen“ des Urteils gehöre und somit verbindlich sei. Wenn es Schule machen würde, so werden die Münchner in Karlsruhe gescholten, dass Oberste Gerichte in Deutschland sich gegenseitig die Verbindlichkeit ihrer Urteile bestreiten, dann würde sich ein ernstes Problem für die Autorität der Rechtsprechung ergeben. Auf völliges Unverständnis stößt bei Verfassungsrichtern auch die Behauptung der Finanzkollegen, eine steuerliche Belastungsobergrenze sei dem Grundgesetz nicht zu entnehmen. Die Verfassungshüter in Karlsruhe berufen sich bei ihrer Suche nach einer quan- Bürger, Bauer und Edelmann mehr als die Hälfte des Einkommens belassen titativen Begrenzung des Steuerstaates auf eine gefestigte Verfassungstradition in Deutschland, die bis zu Friedrich dem Großen zurückzuverfolgen sei. Selbst im Kriegsfalle, hat der in seinem zweiten politischen Testament niedergelegt, solle Bürger, Bauer und Edelmann mehr als die Hälfte seines Einkommens belassen werden. Die Rechtsidee, mehr als die Hälfte dürfe es nicht sein, sei als Ausdruck staatspolitischer Klugheit schon in der vorkonstitutionellen Zeit geboren. Mit solchen historischen Exkursen überzeugte vor allem der damalige Berichterstatter Paul Kirchhof seine Kollegen, dass auch der moderne Staat gerade dort, wo er am mächtigsten ist, nämlich als Steuerstaat, durch die Grundrechte gestoppt werden muss. Bis zur Erfindung der Hälftigkeit hatte sich das Verfassungsgericht mit einer nur vagen Festlegung dieser Grenze beholfen. Danach setzte die Eigentumsgarantie des Artikels 14 Grundgesetz gegenüber dem steuereintreibenden Staat erst dann ein, wenn der Staat seinen Steuerbürger mit seinen Forderungen zu 130 „erdrosseln“ drohte, ihn in seiner Existenz gefährden würde. Ein völlig unzureichender Ansatz, fanden die Verfassungsrichter in ihrer Diskussion heraus. Wenn die Wegnahme von Eigentum eine Enteignung sei, so müsse das auch beim Steuerrecht gelten. Primäres Ziel und Ausdruck der Freiheit des Bürgers sei es, für sich und seine Familie Einkommen zu erwirtschaften. Erst sekundär habe der Staat, der für den Bürger Leistungen erbringe, ein Zugriffsrecht. Die Folgerung der Verfassungsrichter: Eine Besteuerung oberhalb von 50 Prozent würde diese grundlegende Reihenfolge des freiheitlichen Grundgesetzes umkehren. Ärgerlich nahmen Verfassungsrichter zur Kenntnis, dass ihre Kollegen in München mit ihren Argumenten in alte Zeiten zurückkehrten, wonach Steuerpflicht nur dann die Eigentumsgarantie des Artikels 14 verletzen könne, wenn die Besteuerung zu einer Existenzgefährdung führen würde. Das Prinzip der Besteuerung nach Leistungsfähigkeit, so die Konsequenz aus der Argumentation des Finanzhofs, ließe eine Besteuerung bis zu hundert Prozent zu. Völlig falsch, wird in Karlsruhe kritisiert. Leistungsfähigkeit ist nach dem Verständnis des Grundgesetzes Ausdruck individueller Freiheit und nicht Bemessungsgrundlage für Umverteilung. Der Spruch des Bundesfinanzhofs jedenfalls, hätte er Bestand, würde alles beenden, was das Verfassungsgericht in seinem ersten verschwommenen Versuch, dem Steuerstaat eine grundgesetzliche Schranke vorzuschieben, angelegt hat. Die wichtige Botschaft der „Hälftigkeitspassage“ wird in Karlsruhe jedenfalls darin gesehen, dass bei 50-prozentiger Besteuerung eine Grenze sichtbar wird, die noch zu präzisieren ist, zuerst vom Gesetzgeber, und wenn der es nicht tut, vom Verfassungsgericht. Zu klären wären zum Beispiel noch die Details, ob und in welcher Höhe bei der Steuerbelastung indirekte Steuern berücksichtigt werden müssen, wo oberhalb von 50 die Nähe zur „hälftigen Teilung“ aufhört und die Verfassungswidrigkeit beginnt. Am Donnerstag vergangener Woche endete die zwölfjährige Amtszeit des glühendsten Verfechters der Begrenzung des Steuerstaates: Paul Kirchhof packte in Karlsruhe seine Akten. Immerhin hat er 1995 außer einem Kollegen alle Mitglieder des Zweiten Senats von seinen Ideen überzeugt. Über die Verfassungsbeschwerde, die in der nächsten Woche eingereicht wird, hat erneut der Zweite Senat zu entscheiden. Wenn das Verfassungsgericht konsequent bleibt, dann kann es gar nicht anders, als die Münchner BFH-Entscheidung zu kassieren – auch ohne Paul Kirchhof. Heiko Martens d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Wirtschaft BAU I N D U S T R I E Über den Löffel balbiert Die Deutsche Bank wusste anscheinend seit langem von der drohenden Pleite des Baukonzerns Philipp Holzmann. Jetzt will sich das Kreditinstitut vor der Verantwortung drücken. 132 d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 AP R. ROSICKA / RIRO J ürgen Bilstein hatte am vorvergangenen Sonntagmorgen größte Mühe, die rund 150 in der Philipp-Holzmann-Zentrale versammelten Banker von seiner eigenen Bedeutung zu überzeugen. Doch der Bereichsvorstand der Deutschen Bank konnte seine misstrauischen Kollegen nicht beeindrucken. Einige wollten Bilsteins Chef sprechen – und zwar sofort. Der Deutsche-Bank-Vorstand Carl von Boehm-Bezing, zugleich Aufsichtsratschef bei Holzmann, sollte sich nicht aus der Verantwortung stehlen. Die mit 15 Mann bei der Krisensitzung vertretenen Deutschbanker mussten ihn schließlich zu Hause anrufen. Doch auch Boehm-Bezing konnte den aufgebrachten Vertretern der 20 Hauptkreditgeber des Unternehmens nichts anderes vermelden als die blanke Katastrophe: Der zweitgrößte deutsche Baukonzern, dessen Vorstand noch im Mai Gewinne versprochen hatte, ist überschuldet. Ein neues 2,4-Milliarden-MarkLoch droht die seit Jahren kriselnde Firma zu vernichten, wenn die Gläubigerbanken dem Sanierungskonzept nicht zustimmen. 28 000 Jobs sind in Gefahr, dazu könnten noch 40 000 Stellen bei Holzmann-Zentrale in Frankfurt: Verluste vertuscht Zulieferern kommen. Angeblich, so beteuerte Boehm-Bezing, Auf Sand gebaut sei das Milliardenloch aus dem ImmobiHolzmann-Kredite bei liengeschäft völlig überraschend aufgedeutschen Banken taucht, ehemalige Vorstände und Mitarbeiter hätten es gezielt vertuscht, der KonHAUPTGLÄUBIGER KREDITE in Millionen Mark zern werde Strafanzeige stellen. Weder die Deutsche Bank noch der von ihr vor zweiDeutsche Bank einhalb Jahren eingesetzte neue VorstandsHypoVereinsbank 783 chef Heinrich Binder hätten die Verluste auch nur ahnen können. Bayer. Landesbank 574 Überzeugt hat die Rechtfertigung keiCommerzbank 482 nen der anwesenden Vertreter der GläubiHess. Landesbank 456 gerbanken. Schließlich ist die Deutsche Bank seit über 82 Jahren an Holzmann be436 Bankges. Berlin teiligt und hatte jederzeit Einblick in alle DG Bank 367 Bücher. 356 Tatsächlich hat die Bank zusammen mit Dresdner Bank dem Vorstand des Unternehmens offenbar 208 BHF Bank monatelang die Verluste verschwiegen, an172 WestLB dere Institute getäuscht und in der Zwi- schenzeit ihren Ausstieg aus dem desaströsen Konzern in die Wege geleitet. Das bestätigen interne Dokumente und zahlreiche hochrangige Holzmann-Mitarbeiter. Obendrein sollen nun andere für die Deutsche Bank die Zeche zahlen. Denn der Sanierungsvorschlag für Philipp Holzmann trägt eindeutig die Handschrift der Deutschbanker: Er bevorzugt allein das eigene Institut. Mit „erpresserischem Zeitdruck sollten wir über den Löffel balbiert werden“, schimpft einer der Banker. „Der Vorschlag entspricht weder dem guten Brauch noch den guten Sitten“, ein anderer. Denn die Deutsche Bank will ihren Anteil an den für Holzmann benötigten rund drei Milliarden Mark nicht an den tatsächlich ausgereichten Krediten von 1,83 Milliarden Mark festmachen – dann müsste sie 30 Prozent des Geldes, also etwa eine Milliarde Mark, zuschießen. Stattdessen will sie, bemessen am schlecht besicherten Teil ihrer Kredite, nur 18,5 Prozent übernehmen. Den anderen Gläubigern zufolge käme die Deutsche Bank selbst bei einer Quote von 30 Prozent immer noch viel zu gut weg. Binder Denn: Bis Ende vergangenen Jahres hielt sie 25 Prozent an der maroden Firma, die seit vier Jahren Verluste schreibt und deshalb juristisch gesehen in Not ist. Laut einer auf einem BGH-Urteil basierenden Rechtsprechung müsste die Deutsche Bank deshalb alle zwischen 1994 und Ende 1998 an Holzmann gegebenen Kredite als Eigenkapital ausweisen. Dann aber würden die Darlehen im Fall eines Konkurses zuletzt bedient. Die Commerzbank fordert deshalb, die „Deutsche“ müsse eine Milliarde Mark ihrer Darlehen als Eigenkapital ausweisen, die Hessische Landesbank hält 400 Millionen für angemessen. Die ganze Woche über haderten die Banken über den Sanierungsbeitrag des Marktführers, eine zweite, zehnstündige Krisensitzung am Donnerstag brachte einstweilen kein Ergebnis. Sollten die Gespräche endgültig scheitern, drohen die Gläubigerbanken dem Branchenprimus ganz offen. Im Fall eines Konkurses werden die im Gläubigerausschuss 1832 versammelten Institute den Konkursverwalter dazu zwingen, das gesamte Kredit-Engagement der Deutschen Bank als Eigenkapital – und somit nachrangig – zu bedienen. Obendrein wäre ihre Beteiligung von 15 Prozent so gut wie wertlos. „Wenn es ganz dick kommt“, so ein Manager der Deutschen Bank, „verlieren wir bei Holzmann drei Milliarden Mark.“ Bis Freitag allerdings weigerte sich der Geldkonzern, seine Darlehen als Eigenkapital zu betrachten. Denn die Verluste, behauptet die Bank, stammten zwar aus Werbeseite Werbeseite Wirtschaft P. GINTER / BILDERBERG Altlasten des Baukonzerns, seien aber nicht erkennbar gewesen. Doch warum stellte dann Aufsichtsratschef Boehm-Bezing schon auf der Holzmann-Aufsichtsratssitzung am 5. Mai dieses Jahres fest, die Firma habe „ein zu kurzes Hemd“? Heute sagt er, die Äußerung habe sich auf zusätzliche Aktivitäten bezogen. Aus dem Protokoll geht das nicht hervor. Warum briefte Volker Wuppertaler Butzke, Jurist der DeutSchwebebahn schen Bank, den Holzmann-Vorstand mit Antworten für kritische Fragen in der Hauptversammlung am 30. Juni? Und warum ging der Deutschbanker Lutz Robra, ein Controller, bei Holzmann ein und aus? Führende Holzmänner gaben ihm den Beinamen „Überkontrolleur“. Zusammen mit dem Leiter des KonzernRechnungswesens, Heinz Rauch, habe Robra jedes Zahlenwerk durchgekaut – und Boehm-Bezing umgehend weitergemeldet. „Der kannte jedes Komma“, grummelt ein Holzmann-Manager und empört sich über „die unglaubliche Show der Ahnungslosigkeit, die jetzt abgezogen wird“. Mit im Showgeschäft: die HolzmannVorstände. Seit eineinhalb Jahren wissen Binder und seine Beisitzer Johannes Ohlinger und Rainer Klee offenbar um ein neues, immenses Loch im Immobiliengeschäft. Die Betroffenen bestreiten dies. Doch schon im Mai 1998 hatte der damalige Vorstand der Holzmann Bauprojekt AG, Hansjürgen Karrenbauer, seinem Konzernvorstand schriftlich mitgeteilt, dass die 1997 vorgenommene Wertberichtigung von 700 Millionen Mark nicht ausreiche. Karrenbauer wollte Immobilien losschlagen. Doch das war bei den überzogenen Preisen, zu denen die Ladenhüter in den Büchern standen, unmöglich. Karrenbauer forderte deshalb vom Konzernvorstand eine weitere Abwertung um rund 500 Millionen. Ende August musste er gehen. Sein Nachfolger Klaus Heidkamp taxierte den Wertberichtigungsbedarf im Herbst vergangenen Jahres gar auf eine Milliarde Mark. Abgang im Sommer 1999 – angeblich wegen Kompetenzanmaßung. Interne Aufstellungen wie die Projektliste, die der heutige Bauprojekt-Vorstand Friedhelm Samuel dem Konzern-Finanzchef Klee im März überreichte, hielt das Unternehmen ebenso unter Verschluss wie ein Gutachten der Wirtschaftsberatung McKinsey aus dem Frühjahr 1998, die einen Wertberichtigungsbedarf von mehr als einer Milliarde Mark aufdeckte. Holzmanns Hausprüfer von der KPMG hatten schon im Frühjahr größte Bedenken, die Bilanz 1998 zu testieren. Der Jah134 Halbjahresbericht bei Binder ab – das Desaster wurde sichtbar. Am 30. flog Binder nach London, um Analysten Rede und Antwort zu stehen. Doch BoehmBezing ließ die Veranstaltung platzen. Er zitierte den Holzmann-Chef sofort zurück und verbot ihm, öffentlich Daten zu nennen. Boehm-Bezing bestreitet das – er habe Binder nur gesagt, dass er in Frankfurt „gebraucht wird“. Jetzt traten die Manager die Flucht nach vorn an. Die Schitag-Prüfer pflügten erneut durch die Bücher und fanden das 2,4-Milliarden-Mark-Loch. Die Misere ist das Ergebnis eines Geschäftsgebarens, das Branchenkennern schlichtweg „wahnsinnig“ erscheint. So hat das Unternehmen am Magdeburger Hauptbahnhof das City-Carré gebaut und dem Eigentümer eine Miete von rund 26 Mark pro Quadratmeter garantiert – bei ortsüblichen Spitzenmieten von bestenfalls 18 Mark. Schon im April hatte die Projekttochter deshalb Ohlinger und Klee Rapport erstattet. Die Rückstellungen von 63 Millionen Mark reichten ihrer Ansicht nach bei weitem nicht aus. Das wahre Risiko liege bei 348,5 Millionen. In feiner Gesellschaft Weitere Verluste und Risiken: 140 Pannenchronik der Deutschen Bank Millionen bei der Veranstaltungshalle Kölnarena, über 100 MillioDezember 1992 nen Mark bei der Schwebebahn in Bei dem Vergleich der Duisburger Klöckner-Werke Wuppertal und etwa 100 Millionen AG wird der Deutschen Bank vorgeworfen, ihren Dollar aus einem Gerichtsverfaheigenen Sanierungsbeitrag auf Kosten anderer Gläuren, das die US-Behörden anstrenbiger unangemessen gering zu halten. gen. Holzmann soll beim Bau von Juli 1993 Kläranlagen in Ägypten die ameriDie Dresdner Sachsenmilch und ihr Großaktionär kanischen Auftraggeber betrogen Südmilch werden zahlungsunfähig. Die Deutsche haben. Eine Hundertschaft der Bank, die zwei Jahre zuvor die Sachsenmilch an die Polizei durchsuchte deshalb im Börse gebracht hat, nimmt von den Sachsenmilchvergangenen November die HolzZeichnern die Aktien zum Emissionskurs zurück. mann-Zentrale, bilanziert wurde Dezember 1993 das Risiko im Abschluss für 1998 Wegen missratener Termingeschäfte mit Öl droht trotzdem nicht. der Frankfurter Metallgesellschaft der Konkurs. Inzwischen ermittelt die StaatsDer Aufsichtsratsvorsitzende Ronaldo Schmitz, im anwaltschaft gegen Ex-Chef Lothar Hauptberuf Vorstandsmitglied der Deutschen Bank, Mayer und weitere sieben Holzräumt ein, er habe das Ausmaß der milliardenschweren männer. Den neuen Vorstand und Öl-Spekulationen nicht erkannt. Aufsichtsrat treffe dagegen kein April 1994 Verschulden, behauptet Binder. Der Frankfurter Baulöwe Jürgen Schneider ist pleite. Trifft es aber zu, dass alle WarSchneiders Projekte wurden leichtfertig finanziert – nungen ignoriert wurden, droht ihvor allem von der Deutschen Bank, die mit 1,2 Millinen ein Verfahren wegen Bilanzfälarden Mark größter Geldgeber des Spekulanten war. schung. Und nicht nur das. Juni 1994 Die Rechtsabteilung der ComKriminelle Machenschaften des Vorstands treiben die merzbank prüft eine Strafanzeige westfälische Balsam AG – Hauptgläubiger war die gegen die Herren Binder und Co. Deutsche Bank – in den Ruin. Der Aufsichtsrat hat Denn die Vorstände ließen sich von die Luftbuchungen nicht bemerkt. dem Institut noch am Freitag vor Mai 1996 einer Woche 50 Millionen Mark auf Bei der Kölner KHD wird der Hauptaktionär Deutsche Firmenkonten überweisen. Obwohl Bank (48 Prozent) von einem 650-Millionen-Marksie wussten, dass der Konzern um Verlust überrascht. 2,4 Milliarden überschuldet war. November 1999 Ganz anders übrigens die DeutDer Baukonzern Philipp Holzmann steht vor dem Aus, sche Bank. Sie hat in den letzten nachdem sich ein Schuldenloch von 2,4 Milliarden zwölf Monaten ganz diskret KrediMark aufgetan hatte. Hauptfinanzier und zweitgrößter te in Höhe von knapp 300 Millionen Anteilseigner des Baukonzerns ist die Deutsche Bank. Mark zurückgeführt. resabschluss sei „an der Grenze des Vertretbaren“, warnten sie den Aufsichtsrat am 5. Mai. Außerdem wiesen die Prüfer darauf hin, dass in diesem Jahr erneut „Altlasten auftreten könnten“, die im Protokoll der Sitzung detailliert aufgezählt sind. Am 29. April – schon vor der Aufsichtsratssitzung – lag schließlich laut Insidern das Schitag-Gutachten über Verluste bis Ende 1997 im Hause vor. Doch Binder behauptet, er habe die Expertise erst Anfang Juni erhalten. Dort waren 3,318 Milliarden Mark Altverluste ausgewiesen, darunter 1,7 Milliarden aus dem Immobiliengeschäft. Der Aufsichtsrat, berichtet ein Sitzungsteilnehmer, bekam von dem Gutachten nur das Inhaltsverzeichnis zu sehen. Bis zuletzt täuschte Binder offenbar seine Anleger. Die Sanierung sei abgeschlossen, behauptete er noch im August und riet: „Kluge Investoren kaufen die Zukunft.“ Gemeint waren Holzmann-Aktien, die jetzt wegen der drohenden Pleite vom Börsenhandel ausgesetzt wurden. Ende August lieferten die Bilanz-Manager dann den schon für Juni erwarteten Jürgen Dahlkamp, Wolfgang Reuter d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Wirtschaft Magische Prozente Trotz heftiger Attacken bewegen sich Regierung und Opposition im Streit um private Altersvorsorge aufeinander zu – Experten sehen Chancen für einen Kompromiss. W enn Jochen Aymanns, Vorstand des Versicherungsriesen Gerling, für die Vorzüge der privaten Altersvorsorge wirbt, muss er viel leiden. „Die Parteien“, klagte er am Donnerstag vergangener Woche im Börsensaal der Industrie- und Handelskammer Köln, „haben da untereinander ein Kommunikationsproblem. Und das macht mich manchmal richtig krank.“ Vor 1100 Zuhörern beim Rentenforum des „Kölner Stadt-Anzeigers“ erlebte der Versicherungsmanager wieder einmal, wie die Regierung, repräsentiert durch Arbeitsminister Walter Riester, SPD, und die Opposition, vertreten durch den CDU-Rentenexperten Andreas Storm, versuchten, die Argumente des anderen zu „zerfleischen“ (Aymanns), anstatt Gemeinsamkeiten zu suchen. So geht es seit Wochen. Gleichwohl verdecken die heftigen Attacken, dass die Rentenpolitiker aller Couleur sich eigentlich längst aufeinander zu bewegen. So legte die CSU vergangene Woche ein Reformkonzept vor, das in etlichen Punkten den Regierungsplänen ähnelt. In der CDU sympathisieren immer mehr Sozialpolitiker mit Riesters ursprünglicher Idee einer obligatorischen Zusatzvorsorge, jenem Modell also, das einst als „Zwangsrente“ diffamiert wurde. Schon haben Experten erste Grundlinien für einen parteiübergreifenden Kompromiss ausgemacht. „Da tut sich etwas“, glaubt der Darmstädter Ökonom Bert Rürup, einst Berater von Norbert Blüm und nun von Riester. „Vom Ansatz her“, urteilt auch Katrin Göring-Eckardt, die Rentenexpertin der Grünen, „herrscht bei der privaten Vorsorge Übereinstimmung.“ Denn inzwischen hat sich auch die Union von jener Losung verabschiedet, die zu Kohl-Zeiten nicht angezweifelt werden durfte, dass nämlich die Rente sicher sei. Nun gebe es, bekennt der christlich-soziale Rentenvordenker Horst Seehofer, „eine breite Bewegung in Richtung privater Vorsorge“. Und am liebsten würde der Ex-Bundesgesundheitsminister gleich zum ganz großen Wurf ansetzen. Ähnlich wie Riester fordert er, dass ein monatlicher Beitrag von 2,5 Prozent privat fürs Alter gespart werden soll (Rürup: „Das ist offenbar ein magischer Prozentsatz“). 136 weitere 30 Prozent vom Fiskus zugeschossen, nur den Rest von rund 50 Prozent müssten sie aus der eigenen Tasche bezahlen. Spitzenverdiener müssten gar nur rund 40 Prozent selbst bezahlen, sie bekämen aufgrund ihres höheren Steuersatzes rund 40 Prozent vom Finanzamt erstattet. Angesichts leerer Kassen mochte die Regierung sich zu solchen Geschenken noch nicht durchringen; erst Mitte Dezember will Riester Die Grenzen verwischen seine Pläne für die große Geplante zusätzliche Rentenversicherungen Rentenreform vorlegen. Bislang ist nur geklärt, dass GeROT-GRÜN CSU ringverdiener, die von den Beitragssatz in Prozent des Bruttolohns Steuervorteilen ohnehin 2,5 2,5 kaum profitieren, direkte Zuschüsse erhalten – bis zu Pflicht zur privaten Vorsorge 250 Mark im Monat. „Eine ja nein Mickymaus-Lösung“, höhnt CSU-Mann Seehofer. Beteiligung des Arbeitgebers Riester indes warnt, dass nein ja, mit knapp 10 Prozent der CSU-Vorschlag „nicht der Anlagesumme bezahlbar“ sei, führe er staatliche Zuschüsse zur privaten Vorsorge doch zu Steuerausfällen von ja, zwischen 16,6 und 50 nein rund zehn bis zwölf MilliarProzent der Anlagesumme, den Mark. Ein Einwand, den nur für Geringverdiener (maxider Mannheimer Rentenexmal 60 000 Mark Einkommen) perte Axel Börsch-Supan nicht gelten lässt: „Wer die Steuerliche Freistellung private Vorsorge stärken noch ungeklärt ja, zwischen rund 19 und will, der muss auch richtig rund 40 Prozent der Anlagesumme; Steuervorteil steigt Geld in die Hand nehmen.“ mit dem Einkommen Allerdings entsteht durch das CSU-Modell noch ein Besteuerung der Privatvorsorge im Alter zweites, weitaus problemaja, Kapitallebensversicherunja, Besteuerung mit dem tischeres Milliardenloch, und gen mit 25 Prozent, Lebensverindividuellen Einkommenzwar in der Rentenkasse. sicherungen mit monatlicher steuersatz Weil ein Teil der bisherigen Rente steuerfrei; andere AnlaBeiträge in private Investgeformen: noch ungeklärt ments umgeleitet wird, fehlen der Versicherung im Extremfall nach CSU-Berechnungen 14 bis 16 Milliarden Mark jährlich. Dann müssten aber die Rentenbeiträge um einen halben Prozentpunkt erhöht oder aber, ähnlich wie bei Rot-Grün, die Leistungen der Rentner gekürzt werden. BörschSupan: „Leider bleiben diese unangenehmen Dinge bei der CSU im Nebel.“ Uneins ist die Union auch noch darüber, ob sie die private Vorsorge zur Pflicht Rentenreformer Riester: Mehr Geld in die Hand nehmen? machen soll. Während die CSU auf die Einsicht der Zudem dürfen die Anleger einen Teil der Menschen setzt (Seehofer: „Das Ganze ist monatlichen Sparsumme mit den Beiträgen so attraktiv, dem wird sich kaum jemand zur gesetzlichen Rentenversicherung ver- entziehen“), fürchtet CDU-Experte Storm, rechnen. Letztlich würden knapp 20 Pro- dass dies womöglich nicht ausreicht. Anzent der privaten Vorsorge aus Mitteln fangs könne man das Prinzip der Freiwilstammen, die früher als Arbeitgeber- und ligkeit testen, „aber wenn nach zwei, drei Arbeitnehmeranteile in die staatliche Ren- Jahren nicht alle dabei sind, müssen wir das korrigieren“. Storm: „Langfristig führt an tenkasse flossen. Hinzu kommt die Steuerersparnis. Da- einer Vorsorgepflicht für alle wohl kein durch bekämen Durchschnittsverdiener Weg vorbei.“ Ulrich Schäfer Ähnlich wie bei Rot-Grün sollen die Anleger auch zwischen diversen Sparformen wählen können, von Aktien über Investmentfonds bis hin zu Lebensversicherungen. Doch anders als Riester möchte die CSU private Vorsorge massiv fördern. Seehofer setzt dabei vor allem auf Steuervorteile: Die privaten Investments könnten komplett von der Steuer abgesetzt werden. L. CHAPERON RENTE d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite F. PETERS / BONGARTS sagt Peter Brauer vom Direktorium für Vollblutzucht und Rennen, der Dachorganisation der Galopprennbahnen. Seit Jahren sei der Anteil der Rennbahnen am gesamten Wettumsatz von einst 85 Prozent auf rund die Hälfte geschrumpft, klagt Brauer. „Die Rennvereine sind finanziell am Ende.“ Für viele Spieler sei der warme, trockene Platz beim Buchmacher attraktiver, als ihre Wette direkt auf der Bahn abzugeben. Doch die Kollegen der Wettbüros sind den Rennbahn-Betreibern schon lange ein unbequemer Geschäftspartner, weil sie neben den Rennbahn-Wetten auch Einsätze auf eigene Kasse entgegennehmen. „Für die sind wir lästige Konkurrenz“, klagt Buchmacher Albers. Da sei der Lotto-Konzern aus Italien, der ausschließlich Wetten stellvertretend für die Rennbahnen annehmen will, für die Rennvereine „allemal Deutsches Derby in Hamburg: „Weg von der Rennbahn, hinein in die Städte“ verlockender“. Den Trend hat auch ein anderer UnterDie Einbußen im Geschäft mit GlücksGLÜCKSSPIEL rittern und Pferdenarren bekommen nehmer entdeckt: Pit Arndt, 37, ehemaliger besonders die Buchmacher zu spüren, Automaten-Verkäufer aus Koblenz, bietet deren Wettbüros private Wetten auf eige- mit seiner Firma Champions seit neuestem nes Risiko anbieten, aber auch Einsätze Galopp- und Traberwetten in bundesweit für die Rennveranstalter entgegennehmen rund 50 Spielhallen an.Auf Franchise-Basis – quasi als verlängerter Arm der Renn- können Spielothek-Betreiber bei Arndts bahnen. Für die Fernwette vom Wettbüro Firma für 30 000 Mark Satelliten-Anlagen, bekommen die Buchmacher neun Prozent Computersoftware und Monitore kaufen, Ein italienischer Lotto-Konzern um in ihren Daddelhallen zwischen Flipper, Provision. will in Deutschland ein Netz Jetzt droht dem anrüchigen Gewerbe, Geldspielgerät und Billardtisch Wettbüros von 2500 Wettbüros aufbauen – das noch immer unter dem zweifelhaften im Miniformat einzurichten. Dass die Rennbahn-Vereine den neuen Charme von Halbwelt und Quoten-Mauund das dubiose Geschäft scheleien leidet, finanzkräftige Konkurrenz Wettveranstaltern Sonderkonditionen einmit Pferdewetten aufmischen. aus Italien. Die Sisal S.p.A., einer der räumen, ärgert die Buchmacher gewaltig. ummer sechs ist kaum zu bändi- Marktführer beim Lottospiel in Italien, will Gerade 200 Mark kostet die Spielotheken gen. Bockig bäumt sich die vier- zusammen mit den Rennbahn-Vereinen ab im Monat das Recht, die Rennbilder aus jährige Stute Windmarie unter nächstem Jahr ein gigantisches Netz von Mülheim oder München-Riem live auf die Bildschirme der Spielhallen zu übertragen. ihrem Jockey auf. Vier Helfer sind 2500 Wettschaltern aufbauen. Mit einem Kapital von 150 Millionen „Wir zahlen dafür 2700 Mark monatlich“, nötig, um den sturen Gaul in seine Box auf der Galopprennbahn Bremen-Vahr Mark sollen in deutschen Kneipen, Res- beschwert sich der Buchmacherverband. taurants, Bistros und Tabakläden schon Fair sei das nicht. zu schieben. Ohnehin fühlen sich die Auch Anne, 46, ist nervös. 150 KilomeWettbüro-Betreiber seit Jahren ter weiter, in Hannover-Linden, steht die schlecht behandelt. Gegen die Frührentnerin vor einem von 25 Bildschir„Ungleichbehandlung“ der men bei Buchmacher Albers. Die Augen Lotto- und Wettbranche gestarr auf den Fernseher gerichtet, die qualgenüber den Buchmachern mende Lord-Extra im Mundwinkel, knetet laufen bereits verschiedene sie ihren Wettschein und verfolgt, in den Klagen. Knien wippend, wie Windmarie weit abSo sehen die privaten Wettgeschlagen vom Feld als letztes der edlen büros keinen Grund dafür, dass Tiere durchs Ziel läuft. die Pferdewetten der Buchma„Ich liebe Außenseiter“, sagt Anne. cher zwar mit 16,67 Prozent Der Tipp hätte ihr immerhin gut 400 Mark Steuern belegt werden, die gebracht – Windmarie hätte nur siegen Wetten der Rennbahnen dagemüssen. gen mit unter einem Prozent. Anne ist eine von zehntausenden, die in Von dieser europaweit einmaden 110 Wettstuben und auf rund 40 Renn- Wettbüro in Rom: Kneipen und Kioske im Visier ligen Steuererleichterung würbahnen der Republik versuchen, mit vermeintlich heißen Tipps die schnelle Mark bald viele kleine Filialen entstehen – fern- de auch der italienische Lottogigant Sisal zusammen mit seinen 2500 Lizenznehmern am Turf zu machen. 835 Millionen haben ab des alten Buchmacher-Miefs. Der starke Partner aus Südeuropa, der in in Deutschland profitieren. die Deutschen allein im vergangenen Jahr „Ohne die Vorzugsbehandlung durch auf Traber und Galopper gesetzt. Doch die Italien mit 15 000 Lottoschaltern etwa fünf Umsätze gehen seit Jahren stetig zurück, Milliarden Mark umsetzt, soll der Traber- den Staat“, glaubt Buchmacher Albers, Norman Albers vom Deutschen Buchma- und Galopperszene ein neues Hoch be- „würde sich der Einmarsch nach cherverband beklagt ein Minus von zehn scheren. „Wir wollen mit den Wetten weg Deutschland für die Italiener gar nicht von der Rennbahn, hinein in die Städte“, rechnen.“ Prozent in den vergangenen fünf Jahren. Hans-Jörg Vehlewald Viele kleine Buchmacher C. WARDE-JONES N 138 d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Medien Trends G R U N E R + JA H R Keine Einigung I ACTION PRESS m Streit mit dem im Juli entlassenen „Stern“-Chefredakteur Michael Maier hat der Verlag Gruner + Jahr die vom Gericht gesetzte Einigungsfrist verstreichen lassen. Nun wird das Arbeitsgericht Hamburg am 30. November über die Rechtmäßigkeit von Maiers Kündigung entscheiden. Maier hatte gegen den fristlosen Rauswurf nach einer nur halbjährigen Amtszeit geklagt – im Fall einer Auszahlung seines Dreijahresvertrags stünden ihm 2,5 Millionen Mark zu. Der Verlag, der 500 000 Mark für angemessen hält, wirft Maier vor, „illoyal Fakten geschaffen“ zu haben, als er dem damaligen geschäftsführenden Redakteur und heutigen Chefredakteur Thomas Osterkorn mitteilte, für eine weitere Zusammenarbeit keine Möglichkeit mehr zu sehen. Sollte Maier vom Gericht Recht bekommen, will G + J in die Berufung gehen – unter Umständen bis zum Bundesarbeitsgericht. Kidman (mit Tom Cruise in „Eyes Wide Shut“) FILMHANDEL Wohin mit den Knüllern? NEUHAUSER E in dickes Spielfilmpaket der Kinowelt Medien AG gerät zum Politikum. Der Firma drohen Verkaufsprobleme bei 7o Filmen des US-Riesen Warner Brothers, darunter Kinoknüller wie „Eyes Wide Shut“ mit Nicole Kidman, nachdem die Pro Sieben Media AG als Käufer ausscheidet. Nach dem Pro-Sieben-Kauf durch den Filmhandels-Rivalen Leo Kirch sei der fast perfekte Deal gestoppt worden, sagt ein Kinowelt-Vertrauter. Der Pro-Sieben-Vorstand sei damit nicht beschäftigt gewesen, erklärt dagegen ein Sprecher der TV-Firma. Kinowelt hatte beim Kauf der WarnerFilme im August mit 320 Millionen Dollar Kirch um rund 40 Millionen überboten. Da RTL kaum noch US-Filme sendet und das ZDF Kirch-Großkunde ist, bleibt nun nur die ARD als Abnehmer. Ex-„Stern“-Chef Maier Katarina Witt klagt in Karlsruhe N achdem sie bereits in zwei Instanzen gegen die „FAZ“ verloren hat, legt die ostdeutsche Eiskunstläuferin Katarina Witt jetzt vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe Verfassungsbeschwerde ein. Die „Frankfurter Allgemeine“ hatte im November vergangenen Jahres in ihrer Sonntagsausgabe ein Nacktfoto des Stars aus dem „Playboy“ (vom Dezember 1998) abgedruckt. In einer kurzen Notiz zu dem Landgericht und das Oberlandesgericht Bild hieß es, die „hochgeschätzte Eis(OLG) wollten dieser Argumentation Prinzessin des ausgerutschten SEDnicht folgen. Zwar zähle der „nackte Staates“ offenbare hüllenlos eine „weit Körper“, so das OLG, „zum ansehnlichere Art von Linienintimsten Bereich eines treue“. Witt fühlte sich in Menschen“, doch habe die ihren Persönlichkeitsrechten Eiskunstläuferin auf den verletzt und klagte auf Schutz dieses Bereichs ihrer Schmerzensgeld, da sie nur Intimsphäre durch die dem „Playboy“ das Exklusiv„Playboy“-Veröffentlichung recht an ihren Nacktaufnah„freiwillig verzichtet“. Als men eingeräumt habe – für „absolute Person der Zeitgeeine Veröffentlichung. Es gebe schichte“ sei das Recht an keinen Rechtsgrundsatz, woihrem eigenen Bild zudem nach „der weibliche nackte eingeschränkt. Diesen Teil Körper“ gleichsam „jedem des Urteils will Witt jetzt in zugänglicher AllgemeinbeKarlsruhe überprüfen lassen. sitz“ sei. Das Frankfurter „Playboy“-Titel DPA PRESSE d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 141 Medien PROJEKTE Wort zum Bußtag 142 E s tönen die Lieder, die Glamour-Fregatten kehren wieder. Joseph Vilsmaier hat gerade das Leben von Marlene Dietrich mit Katja Flint in der Hauptrolle verfilmt. Nun ist Zarah Leander („Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen“) dran: Das schwedische Fernsehen produziert einen TV-Dreiteiler über die 1981 im Alter von 74 Jahren in Stockholm gestorbene Sängerin, die zur Freude des deutschen Publikums und der Nazi-Herren in brauner Zeit mit tiefer Stimme und nordischem Akzent für Unterhaltung sorgte. Das Drehbuch für den ZarahDreiteiler, der auch in Deutschland zu sehen sein dürfte, schreibt Peter Steinbach („Heimat“, Leander Dietrich „Klemperer“), Regie führt der Schwede Jan Troell, 68, der unter anderem das Leben des norwegischen Dichters Knut Hamsun mit Max von Sydow in der Hauptrolle verfilmt hat. Wer Zarah Leander spielen soll, steht noch nicht fest, im Gespräch soll laut Steinbach Katharina Thalbach sein. Soap-Band S Club 7 S OA P S Pool, Pop, Partys I n der Serie „Lindenstraße“ drummte einst ein Beimer-Bengel, zum Ärger von Hausmeisterin Else Kling, im Kel- SIPA PRESS (re.) er auf der Kanzel steht, hat gut reden. An allen Predigtstühlen unserer christlichen Versammlungsstätten herrscht freie Themenwahl: Gott und die Welt, Brot für die Welt, die schlechte Welt, die Welt schlechthin. In den Kirchen sitzt ohnehin keiner, der sich das anhört. Die meisten Seelenhirten sprechen in leere Kirchenschiffe, ihr Wort trifft, wenn’s gut geht, allenfalls in Gottes Ohr. Letzte Woche nun ergab sich eine Dreifaltigkeit des Zufalls, der wahrlich als Zeichen des Himmels gedeutet werden muss. Mit einem Mal kam in einer Hamburger Hauptkirche nämlich alles zusammen: Es war Buß- und Bettag, die evangelisch-lutherische Bischöfin Maria Jepsen ergriff das Wort, und es galt den Pressejungs. Nun weiß heute jeder Medienkonsument, dass die Spezies der Journalisten – mit Ausnahme der beim „Bayernkurier“ tätigen Gotteskinder – ein Unglücksfall der Schöpfung ist und längst der Verdammnis anheim fallen müsste. Nur mit aller wünschenswerten Klarheit ausgesprochen hat das erst Maria Jepsen aus Bad Segeberg. Es sei „leichter, für ein Kamel durchs Nadelöhr zu kommen“, verkündete die Anklägerin am vergangenen Mittwoch über der hanseatischen Gemeinde, „als für einen Journalisten in den Himmel“. Und dann redete sie all den anwesenden Talkshow-Guckern und Yellow-Kunden ganz tief ins Gewissen: „Kein Mensch, ob nun gut oder böse, sollte je ein gefundenes Fressen für einen Reporter, eine Redakteurin, für Kameraleute sein: Das wäre kannibalisch.“ Recht hat die Bischöfin, „das Reden der Schlangenzungen“ und das Geschreibsel der Giftfedern ist nichts anderes als, pfui Teufel, Suhlen im Sündenpfuhl. Nur, verehrte Frau Bischöfin: Warum nicht auch ein bisschen Nächstenliebe für unseren schweren Berufsstand, der nach Ihrer Gardinenpredigt immerhin die Bissigkeit von Menschenfressern voraussetzt? Warum kein Wort der Gnade für all die geplagten Zeilenschinder, die in München das „Streiflicht“, in Frankfurt die Allgemeine Zeitung und in Hamburg diese elende Spalte füllen müssen? Wir warten auf einen Wink von oben. VIVA W Nach Marlene nun Zarah ler. Im „Marienhof“ war eine Band zu hören, und Oliver Petszokat aus der RTL-Soap „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ ließ sich als Deutsch-Rapper vernehmen – die Seifenopern sind nah am Pop gebaut. Nun übernimmt der Musikkanal Viva eine britische SoapProduktion (Ausstrahlungsbeginn: 7. Januar 2000), die nur noch von einer Pop-Gruppe handelt. Im Mittelpunkt steht die auch real existierende Band S Club 7, die nach windigen Geschäften ihres Managers in einem heruntergekommenen Hotel in Miami landet und sich nun zwischen Pool und Party mit Beach-Volleyball, Intrigen und Liebe langweilen muss. Spice-Girls-Macher Simon Fuller hat die Serie konzipiert, er dürfte wissen, wie nahe die Soap an der Realität liegt. QUOTEN Dinossimo Tierfilm-Reihen im Fernsehen Durchschnittlicher Zuschauermarktanteil in Prozent* D ie Saurier, so kalauerte einst die neue deutsche Schlagerwelle, wurden immer trauriger. Aber Pro Sieben darf sich über die Uralt-Echsen richtig freuen: Die computeranimierten BBCFilme, in denen das Leben der ausgestorbenen Gattung bildmächtig rekonstruiert worden war, erzielten sensationell hohe Quoten – beinahe ein Drittel aller jüngeren Zuschauer schalteten ein. Damit übertrifft die künstliche Animalienshow Klassiker wie die „Expeditionen ins Tierreich“. Nur Affenopa Bernhard Grzimek erweckte höheres Interesse – aber das war in grauer TV-Vorzeit. d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Dinosaurier 17,7 Pro Sieben Wunder der Erde 14,6 ARD Abenteuer Wildnis 12,9 ARD Expeditionen ins Tierreich 12,5 ARD Naturzeit ZDF telezoo ZDF 10,2 7,6 *Pro Sieben: 11. und 18. November, ARD und ZDF: Januar bis Mai 1999 Fernsehen Vorschau Einschalten Wilsberg und die Tote im See Montag, 20.15 Uhr, ZDF Er wirkt wie der entfernte westfälische Verwandte von Raymond Chandlers Held Philip Marlowe: Ähnlich raubeinig, ähnlich finanziell dauerabgebrannt und ähnlich verbissen unter vergammelter Schale ermittelt der Privatdetektiv Georg Wilsberg (Leonard Lansink) im nicht gerade als Lasterhöhle bekannten Münster. Erfrischend komisch, wie ihn seine Ziehtochter (Marie Zielcke) als eine Art Echo bei seinen Schnüffeleien begleitet, sie probiert sich als Nachwuchsreporterin aus. Zu seinem Spießerfreund Manni (Heinrich Schafmeister) unterhält der Münsterland-Marlowe ein ritualisiertes Ausbeutungsverhältnis: Dessen Auto ist sein Auto und dessen Fressalien sind die seinen. Im Internet (www.zdf.de/escript) sollen Interessierte neue Drehbücher mit der Figur des Krimi-Autors Jürgen Kehrer entwickeln. Doch dieses Stück wirkt so professionell (Regie: Dennis Satin), dass es eigentlich keiner online geschöpften Interfetzigkeit bedarf, im Gegensatz zu anderen Programmen. Hörbiger in TV-Serie „Julia“ Julia – eine ungewöhnliche Frau Dienstag, 20.15 Uhr, ARD Christiane Hörbiger spielt in dieser aus Österreich importierten Serie eine Anwältin, die nach schwerem Schicksalsschlag ihren Frieden als Provinzrichte- rin findet. Souverän zieht sie die Register des Gefühls: professionelle Kälte, herzzerreißende Trauer, milde Großmütterlichkeit – eben alles, was eine gestandene Frau ausmacht. Gefährliche Hochzeit Mittwoch, 20.15 Uhr, ARD Pretty Woman in Frankfurt: Ein Jungbanker (Heikko Deutschmann) heiratet, um dem Firmen-Comment zu genügen, eine Schlampe vom Hähnchen-Imbiss (Ann-Kathrin Kramer). Aus der Pro-forma-Ehe wird Liebe, aus dem TV-Abend (Buch: Thomas Kirdorf, Regie: Konrad Sabrautzky) gute „Wilde Herzen“-Unterhaltung. Der Voyeur Freitag, 20.15 Uhr, Pro Sieben Den optischen Verbund von TV-Movie und Unterbrecherwerbung schafft niemand so perfekt wie Roman Kuhn. Sein neuer Film, eine Licht- und Farbenorgie im eleganten Seehotel, bestätigt dies. Könnte Kuhn seine famose Bilderkunst nicht mal für realistischere Drehbücher verwenden? Lansink mit Michael Greiling in „Wilsberg und die Tote im See“ Ausschalten Versprich mir, dass es den Himmel gibt Mittwoch, 20.15 Uhr, RTL Louis (Mehmet Kurtulus) und Cora (Sandra Speichert) sind ein schönes junges Paar. Sie hausen in einer leicht schlamperten Altbauwohnung, der Fernseher blickt von der Decke aufs Doppelbett. Doch das Mädchen im seidenen Nachtgewand hat Leukämie und verliert allmählich die Orientierung in den Alltagsdingen. Louis’ Gram steigert sich und, als er seine alte Freundin Stella (Sonsee Ahray) wieder trifft und sich in sie verliebt, scheint sich ein tragischer Konflikt zwischen Pflicht gegenüber einer Mo- ribunden und neuer Neigung anzubahnen. Leider weicht der Film (Buch: Andy T. Hoetzel, Ina Siefert; Regie: Martin Enlen) der Tragödie aus und flüchtet sich in den Wohllaut des TVMovies. In einer Art Ménage à trois pflegen Stella und Louis im sonnigen Mittelmeer-Süden die Kranke bis zu ihrem Ende. Die Kamera umkreist die schönen Körper, das Drehbuch unterwirft sich widerstandslos der Schönersterben-Schwelgerei. Sandra Speichert, mit mutiger Kurzhaarfrisur, wird gezwungen, nicht enden wollende Großaufnahmen lang, Abschiedsschmerz in ihre Züge zu legen – das muss selbst eine Hochbemühte wie sie überfordern. d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Tatort: Norbert Sonntag, 20.15 Uhr, ARD Das hätte die stille, spannende Tragödie über die männliche Klette Norbert (Jürgen Tarrach) werden können, einen überanhänglichen, vom Vater unterdrückten Außenseiter. Doch der Krimi des BR (Regie: Niki Stein) misstraut seiner Grundidee und fiedert sich mit Nachtclubflair, Anlageschiebung und Reporterübermut, wie ihn Dietls Figur des Baby Schimmerlos besser gezeigt hat. Die überreichlichen Zutaten gehen auf Kosten der Geschichte vom gerupften Huhn, die einzig wirklich gelohnt hätte. 143 Medien PAY- T V Ab in die Kiste N. MAI Mit Milliardenaufwand versuchte das digitale Bezahl-Fernsehen bislang vergebens, in Deutschland Fuß zu fassen. Der vielleicht letzte Versuch: Premiere World. Sieht so die schöne neue Bilderwelt der Zukunft aus? Ein siebentägiger Selbstversuch. Von Thomas Tuma SPIEGEL-Redakteur mit d-box: Nächtliche Obsessionen unerotischer Art D er Slip. Schuld war dieser weiße Slip von Iris Berben. Sie saß in einem Schnellimbiss auf einem Hocker, redete über ihre Pommes hinweg, und man konnte dabei unter ihren kurzen grauen Rock schauen. Man? Ich! Natürlich glotzte ich auf den Slip. Jeder tat das. „Bild“ kreischte: „Huch, Frau Berben, wie konnte denn das passieren?“ Das mit dem Slip passierte ihr dauernd. Nach dem dritten Mal hörte ich sogar, wie sie sagte, „dass ich ziemlich genau weiß, was ich will“. Sie – nicht ich. Und dass sie bei Premiere World „genau das kriege, was ich will“. Sie – nicht ich. Frau Berben wollte Werbung machen. Ich wollte Frau Berben sehen. Das Elend begann mit einem Missverständnis. Premiere World ist der jüngste Spross des Bezahl-Fernsehens (neudeutsch: Pay-TV), das in Deutschland eine schrecklich teure und komplizierte Vergangenheit hat, die dennoch in die nächsten 14 Zeilen passt. Früher gab es nur Premiere. Dann kam noch DF-1 dazu. Beide waren derart erfolglos, dass Leo Kirch (Beruf: „Medienmogul“) nun auf Schulden von über vier Milliarden Mark sitzt – sowie auf zwei Sendern, die seit dem 1. Oktober einen Namen haben: Premiere World. Kirch braucht also sehr dringend sehr viel Geld, das er sich von zwei Seiten holen will. Die eine ist Rupert Murdoch (Beruf: „Medienzar“), der bei Kirch einsteigen möchte-soll-könnte. Die andere Seite bin ich, ein nebenberuflicher „Endverbraucher“, der nie einsteigen wollte. Bis zu Frau Berbens Slip-Clip. Premiere World ist demnach das tollste, schönste, beste Fernsehen, das es je gab. „Maßgeschneidert.“ Digitale Zukunft. „Your Personal TV.“ Top-Highlights aus Sport, Kino und Konzertsaal. So oft ich mag. Für jedes Thema ein Kanal. Allein im Oktober lockte der neue Kanal 110000 Neugierige an. In zwei Jahren sollen es 3,5 Millionen Abonnenten sein, hofft Premiere-World-Chef Markus Tellenbach (siehe Seite 147), der gern über „Look & Feel“, „Join-Faktoren“ und „Trouble-Shooting“ redet.Weniger gern spricht er über sein Heimatland Schweiz, das gerade den PremiereWorld-Decoder verboten hat, weil er freie Programmwahl und Meinungsvielfalt gefährde. Na ja, Schweiz eben. Montag Die Tür zum neuen Fernsehen ist diese schwarze Kiste namens d-box. Die d-box gibt es im Fachhandel. Der Fachhandel ist in meinem Fall ein bleicher Verkäufer bei Premiere-World-Programme: Wenn alles zum jederzeit abrufbaren Ereignis stilisiert wird, bleibt am Ende ein ereignisloser Bilderbrei 144 d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 FOTOS: PREMIERE Schauspielerin Berben im Werbe-Spot: „Ironie mit reingebracht“ Saturn in Hamburg, der froh ist, dass ich Kabelempfänger bin. Er hat nämlich keine d-boxen für Satelliten-Kunden mehr. Die würden in Taiwan produziert, wo ein Erdbeben Land und Liefertermine durcheinander gebracht habe. Das ist zwar ziemlicher Quatsch, aber ich will alles, und zwar sofort. Der Verkäufer will Kopien von Scheckkarte (?) und Personalausweis (??). Ich habe noch viele Fragen, er hat die Standardantwort: „Rufen Sie einfach die Hotline an.“ Wenn Tellenbach der Kopf von Premiere World ist und der Saturn-Verkäufer der lange Arm, dann ist das Call-Center das Rückgrat des ansonsten körperlosen Unternehmens: Schon nach dem sechsten Versuch grüßt eine sonore Tonbandstimme und bittet darum, die Taste „Null“ zu tippen. Ich tippe und bin wieder draußen. Man braucht ein Telefon mit Tonwahl, kurz: so ein Piep-Dingens eben. Zwei Stunden und fünf Anläufe später bin ich drin. Ein Mensch ist dran! Ein richtiger Mensch! Die Dame braucht lediglich die 7-stellige Händlernummer, die 14-stellige d-box-Nummer, die 11-stellige d-boxKartennummer sowie Bankleitzahl, Kontound Telefonnummer. Als Dank erhalte ich eine 10-stellige Kundennummer und eine 4stellige Pay-per-view-Ordernummer samt Zusicherung, dass der Decoder abends freigeschaltet sei. „Ist gar nicht weiter wild“, beruhigt sie. Abends Installation. Gebrauchsanweisung I rät: „Stecken Sie die d-box-Karte mit der goldenen Kontaktfläche nach unten und vorne zeigend in den dafür vorgesehenen Schlitz.“ Nummer II rät auf Seite 81: „Stecken Sie die d-box-Karte mit der goldenen Kontaktfläche nach unten und hinten zeigend in den Kartenleser.“ Wenn das keine Meinungsfreiheit ist. Imposant, wie viele Kombinationsmöglichkeiten die Anschlüsse an Fernseher, Videorecorder und Decoder zulassen! Wo sind VCR-Scartbuchse, Koaxial-Kupplung, Cinch-Audiokabel? Die Technik-Hotline ist rund um die Uhr besetzt – und besetzt. Die Nacht vergeht fernsehfrei. Macht nix, ein Programmheft lag eh nicht bei. Dienstag Anruf eins, zwei, drei, vier und fünf bei der Hotline: „Herzlich willkommen bei Premiere World“ (siehe oben). Am Ende freut sich der Sprachcomputer, dass ich ja bereits freigeschaltet worden sei und legt von sich aus auf. Sechster, siebter und achter Versuch unter einer anderen Servicenummer: „Das Programmheft können wir Ihnen leider nicht zuschicken. Das bekommen Sie bei Ihrem Händler.“ Der Händler sieht zerknirscht aus (neues Erdbeben in Taiwan?): „Wir erwarten noch mal Nachschub in den nächsten Tagen. Haben Sie’s mal bei der Hotline versucht?“ Ich klaue das Ansichtsexemplar vom Pappständer. Abends ab in die Kiste! Die d-box schreibt lustige Kommentare auf den meist schwarzen Schirm: „Diese Anfangszeit ist nicht freigeschaltet“, „Ihre Sendung geht d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 gleich weiter“, „Auf diesem Kanal wird derzeit nicht gesendet“, „Die Sendung ist nicht zu entschlüsseln“. Immerhin: die ARD ist da. Und zwar digital. Die supermoderne Übertragungstechnik erkennt man daran, dass das Bild mitunter stehen bleibt. Einfach einfriert. Beim ersten Mal ist das lustig. Vielleicht hat sich das Koaxial verkuppelt? Dabei würde auf dem „Seasons“-Kanal gerade der Action-Reißer „Fliegenfischen in Slowenien“ laufen. Auf „Classica“ käme das „Europakonzert der Berliner Philharmoniker 1998“. Und der „Blue Channel“ böte „Intimate Obsession“. Würde, käme, böte. Wer schaut sich das eigentlich alles an? Arbeitslose Hobby-Angler? Reiche Rentner? Nachts Obsessionen unerotischer Art geträumt. Nimmt die Schweiz asylsuchende TV-Zuschauer auf? Mittwoch Die Hotline-Anfrage, weshalb meine vier Extra-Kanäle gesperrt sind, löst bei einem unbekannten Call-Boy kein Beben, aber doch Panik aus: „Um Gottes willen, das hätte Ihnen der Händler doch sagen müssen, dass die nur in Verbindung mit einem Zwölf-Monats-Abo freigeschaltet werden.“ ICH: Hat er aber nicht. ER: Tja. ICH: Ich zahle also ein Jahr lang für vier Kanäle, die ich gar nicht empfangen kann. ER: (abwesend) Wieso machen das nur so viele falsch? ICH: (sehr anwesend) Fragen Sie das mich? Ich könnte ihm zur Strafe einen Anruf bei seiner Technik-Hotline empfehlen, studiere aber lieber den Mietvertrag (Abteilung „Deutsch für Drückerkolonnen“). Das Basispaket mit 30 Kanälen kostet pro Monat 34,90 Mark. Plus Kaution (150), Freischaltung (29,90), d-box-Miete (14,90). Die vier Zusatzsender addieren sich auf bis zu 65 Mark. Im Kleinstgedruckten steht, dass die Extras tatsächlich eine „Laufzeit von 12 Monaten“ haben. Mir wird schwarz vor Augen. Weihnachtseinkäufe streichen? Donnerstag Guter Tag: Schon nach dem vierten Hotline-Versuch bin ich drin. Nummer fünf erhält den Hoffnungszuschlag, weil die Dame verspricht, dass die vier Extra-Kanäle nun freigeschaltet würden. Sie raunt von „Missverständnissen“. Ich starte ein nicht repräsentatives Call-Center-Meinungs-Lotto: 145 Medien ICH: Wer zahlt eigentlich die ganzen Tele- fongebühren, wenn ich bei Ihnen anrufe? HOTLINE 1: Wir. HOTLINE 2: Sie. HOTLINE 3: Da sollten Sie mal die TechnikHotline fragen. Dafür ist der Abend im Schlafwagen meiner Premiere-World-Sonderklasse atemberaubend: „Der Bauer vom Brucknerhof“ („Heimatkanal“), „Berlioz, Romeo und Julia, Romeo allein“ („Classica“), „Hochseefischen vor Niederkalifornien“ („Seasons“) und „Zwanzig Mädchen und die Pauker“ (nein, nicht „Blue Channel“, sondern „Filmpalast“). Die guten Filme (also etwa die Hälfte) bleiben aus Jugendschutz-Gründen gesperrt. Der vierstellige Pin-Code funktioniert nicht. Nach dem dritten Versuch schaltet sich die Kiste ab. Nur das Kinderprogramm („Dr. Pickels Horrorshow“) lässt mich nicht im Stich. Nachts wieder Obsessionen gehabt von überzogenen Konten und rauchenden Call-CenterRuinen. Freitag Ich verpasse den Top-Sport-Event: Um elf Uhr wäre die US(!)-Football(!!)-Collegemeisterschaft (!!!) gelaufen: Tennessee Volunteers gegen die Notre Dame Fighting Irish. Es gehört zu den Stärken meines „Personal TV“, dass man weltweit bei allen Super-Highlights dabei ist – mit bis zu sechs Kameraperspektiven. So weit die Theorie. In der Praxis läuft auf vier von sechs Kanälen gar nichts. Auf dem fünften gibt’s die österreichische Fußballbundesliga, auf dem sechsten wird Spiel zwei des Stanley-Cup-Finales (US-Eishockey 1996) wiederholt. Ich hänge ohnehin am Telefon: Mir wird ein neuer Jugendschutz-Pin-Code zugewiesen, der auch nicht funktioniert. Beim vierten Versuch im dritten Anlauf klappt es: Ich habe ein Programmheft (260 Seiten). Ich habe ein Programm (69 Kanäle). Auf „Castle“ (Nummer 45) werden via Endlosschleife die immer gleichen beiden Luftbildschnipsel von Neuschwanstein und Tegernsee wiederholt. 24 Stunden täglich. Ich darf mir sogar Filme anschauen, die erst ab 16 freigegeben sind. Im „Blue Channel“ laufen zum Beispiel Wiederholungen des TV-Magazins „Wa(h)re Liebe“ (1996) oder Filme wie „Body Language“, in denen meist nur die bebenden 146 Was Premiere World kostet GRUNDAUSSTATTUNG Premiere World Superpaket 49,90 Mark Sport Spielfilme Familienkanal Vertragslaufzeit mindestens ein Jahr EXTRAS KANÄLE Monatsgebühren d-box-Miete 14,90 Mark Heimatkanal + Filmpalast 6 Mark monatliche Gebühr 64,80 Mark einmalig Freischaltung 29,90 Mark Kaution für d-box und Zubehör 150 Mark Classica 10 Mark Seasons 10 Mark Blue Channel 14 Mark tfilme, Heima ielp S e lt a filme cher klassis anal k ik s u M m Programr für Jäge ler und Ang Erotik PAY-PER-VIEW je Film 6 Mark Lippen blondierter Laiendarstellerinnen zu sehen sind. Weil Premiere World keine primären Geschlechtsorgane zeigen darf, müssen solche „Erotik“-Filme mit symbolträchtigen Füllern gestreckt werden: ein tropfender Wasserhahn etwa oder ein auslaufendes Hühnerei. Für Wasserhahn- und Hühner-Fetischisten gibt es drei zusätzliche „Blue Movie“-Kanäle, die aber extra bezahlt werden müssen (siehe Sonntag). Nachts von Top-Events aus der albanischen Taschenhalma-Kreisliga geträumt. Obsessiv. Samstag Man soll nicht ungerecht sein. Den ganzen Tag über habe ich die Wahl zwischen großen bis guten Filmen wie „Jackie Brown“, „Falling Down – Ein ganz normaler Tag“ oder „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“, „Air Force One“, „Sieben“ oder „Sabrina“. Selbst schmallippige Deutschlehrer werden mit Werner Herzogs „Aguirre, der Zorn Gottes“ bedient. Reicht das etwa nicht? Doch es reicht. Wer „Casablanca“ einmal auf Video zu Hause hat, schaut es sich nie mehr an. Wer Premiere World hat, erlebt die Vielfalt der Einfalt. Wenn jedes TV-Ereignis jederzeit abrufbar wird, stellt sich Apathie ein. Überdruss am Überfluss. Wo alle Hei- d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 matschinken und Hollywood-Feger, UraltSerien und Cartoon-Konserven dauernd aufgekocht werden, bleibt am Ende ein ereignisloser Bilderbrei. Was macht man also? „Wetten, dass …?“ schauen. Ach, du gutes altes ZDF! Zum erstenmal wieder ruhig geschlafen. Sonntag Pay-per-view heißt so, weil man es erst sehen kann, wenn man noch mal zahlt. In den vier „Cinedom“-Kanälen schreit alles: Ruf mich an! Nimm mich! Kauf mich! Es wird überhaupt viel geworben bei Premiere World, wenn auch nicht für Tütensuppen oder Slipeinlagen, sondern für Kanäle wie „Comedy“, wo Wiederholungen der Harald-Schmidt-Show laufen – von 1998. Ich will „Godzilla“ und heble damit unbewusst den Krimi „Ein Konsument will’s wissen“ ins Tagesprogramm. Test-Anrufe bei der Hotline: „Wie lange vor dem Sendetermin muss ich die Freischaltung beantragen?“ Antwort eins: „Puuh, da bin ich jetzt überfragt. Sie sollten mal die TechnikHotline anrufen.“ Antwort zwei: „Mindestens eine Stunde.“ Antwort drei: „30 Minuten.“ Um sechs Mark zahlen zu dürfen, muss man die „Orderline“ anrufen. „Aus technischen Gründen können wir Ihren Anruf derzeit nicht entgegennehmen.Wir würden uns freuen, wenn Sie sich zu einem späteren Zeitpunkt …“ Zu einem späteren Zeitpunkt heißt es: „Dieser Anschluss ist vorübergehend nicht erreichbar.“ Das verwirrt nun doch. Ist das Call-Center explodiert? Lief ein Pulk arbeitsloser, niederkalifornischer Hobby-Fischer Amok? Zu einem viel späteren Zeitpunkt trampelt „Godzilla“ endlich los. Der Videorecorder ignoriert ihn zunächst. Zum letzten Mal Obsessionen gehabt – von Koaxial-Kupplungen. Epilog Iris Berben ist viel einfacher zu erreichen als die „Orderline“ von Premiere World. Sie erzählt, wie lustig die Dreharbeiten zu ihrem Imbiss-Spot gewesen seien, „weil es so trashig war und man Ironie mit reinbringen konnte“. Ironie! Am gleichen Tag kommt Post vom Kundenservice. „Wir freuen uns, dass Sie sich für unsere Extras entschieden haben.“ Der Rest ist eine lange Rechnung. Unterschrieben von einer Frau mit dem schönen Vornamen Perdita – die Verlorene. Ironie? „Ich bin Steher, nicht Sprinter“ Premiere-World-Chef Markus Tellenbach, 39, über Start-Probleme und Zukunft seiner digitalen TV-Welt Tellenbach: Nein. Mein Job hier ist der Aufund Ausbau eines bereits jetzt erfolgreichen Unternehmens. SPIEGEL: Gibt es im Kirch-Imperium derzeit einen riskanteren Job als Ihren? Tellenbach: Ich denke, es gibt keinen spannenderen. Wir haben unsere Ziele klar kommuniziert, und ich bin sicher, dass wir bis Ende des Jahres 2001 3,5 Millionen Abonnenten erreichen werden. SPIEGEL: Sie haben ein Quasi-Monopol erreicht. Wenn es jetzt nicht klappt, könnte es nie klappen. Tellenbach: Ein paar Tage Spielraum haben wir noch, und der Erfolg von Premiere World spricht für sich. Ich bin als Steher eingestellt worden, nicht als Sprinter. An unserer Grundüberzeugung, dass der Konsument bereit ist, für unser Produkt zu zahlen, wird sich nichts ändern. SPIEGEL: Deutsche TV-Zuschauer haben im Gegensatz zu Franzosen oder Briten die Wahl zwischen 30 freien Kanälen. Tellenbach: Natürlich ist das hier der schwierigste Markt in Europa. Aber was läuft denn da im Free-TV? Die gern suggerierte TV-Manager Tellenbach: „Ein paar Tage Spielraum“ Vielfalt gibt es gar nicht. SPIEGEL: … und kann im Call-Center alles SPIEGEL: Den großen Bereich Informaerleben – von freundlicher Ahnungslosig- tion bietet selbst Premiere World nur am keit bis zu nackter Verwirrung angesichts Rand. von Detailfragen, sofern die Leitung über- Tellenbach: Diese Programmfarbe ist langhaupt steht. fristig ausbaufähig. Aber wir müssen nicht Tellenbach: Das mag vor sechs Wochen so die 43. Mauerfall-Dokumentation zeigen. gewesen sein. Heute stellt sich die Situa- Dann bauen wir im Frühjahr lieber was tion ganz anders dar. Wir haben auf das Neues auf für eine Klientel, die von den anhohe Call-Volumen sofort reagiert. Ent- deren gern missachtet wird: die älteren Zusprechend wird die Zahl unserer Telefon- schauer. berater von 1300 auf 2600 wachsen. Schnel- SPIEGEL: Ein Kanal voll Schlager, Bergdokler ist das nicht zu leisten, weil die Leute tor und Musikantenstadl? umfassend geschult werden. Tellenbach: Warum nicht? Wir werden uns SPIEGEL: Sie scheinen vom Erfolg Ihrer ei- auf die konzentrieren, die vom Free-TV genen Kampagne überrollt worden zu sein. nicht ausreichend bedient werden – in alWie viel geben Sie für Werbung aus? len Bereichen. Tellenbach: Bis Ende des Jahres 100 Millio- SPIEGEL: Ihr Schnupper-„Superpaket“ von nen Mark. Nächstes Jahr haben wir weite- 34,90 Mark pro Monat hat den Vertragsre 200 Millionen zur Verfügung. charme des Kleingedruckten. Freischaltung SPIEGEL: Woher soll das Geld kommen? Ihr und Decoder-Miete muss man extra zahChef Leo Kirch sitzt auf über vier Milliar- len. Von der d-box-Kaution und Kosten für den Mark Altschulden aus seinen früheren Zusatzkanäle oder Pay-per-view ganz zu schweigen. Pay-TV-Abenteuern. Tellenbach: Keine Angst: Unsere Gesell- Tellenbach: Die Freischaltung fällt nur schafter stellen die Finanzierung sicher. einmal an. Wer kündigt, bekommt die KauSPIEGEL: Empfinden Sie sich als Krisen- tion zurück. Die Zuschauer erwarten manager, wie Sie es vorher mit viel Elan heute transparente Preise. Nichts anderes liefern wir. bei Vox waren? Interview: Thomas Tuma A. PENTOS SPIEGEL: Rufen Sie als Premiere-WorldKunde bei Problemen Ihre eigene ServiceHotline an? Tellenbach: Ja, inkognito. Und wie viele kam ich anfangs aufgrund des enormen Andrangs nur schwer durch. Einmal brauchte ich 15 Anläufe. Im Schnitt ist man heute nach dem dritten Versuch drin … d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 147 Medien INTERNET Direkter Draht Kein Werbemedium wächst schneller als die Reklame im Internet. Um die Macht im Web ringen etablierte Agenturen und Newcomer. F ast alles im Lebensmittelladen von Rudolf Wasem ist virtuell: Regale, Produkte und Warenkorb stehen im Internet, und auch die Werbung für seinen „Shop-Hopper Lebensmittel-Lieferservice“ stellt der Firmengründer am liebsten in den Cyberspace – in die Online-Seite der Koblenzer „Rhein-Zeitung“. Mehr als 10 000 Besucher finden so, sagt Wasem, jeden Monat auf seine Internetseite, über 500 von ihnen bestellen aus 20 Produktgruppen von „Babykost“ bis „Zucker/Mehl“ Waren per Mausklick nach Hause. Die kleine Werbefläche zahlt sich aus: Schon nächstes Jahr, so Wasem, „liefern wir von Köln bis Frankfurt“; große Handelskonzerne interessieren sich bereits für den Cyber-Kommerz aus Koblenz. Reklame im Internet boomt: So stark wie die Angebote im elektronischen Handel wachsen auch die Werbeumsätze. Zwar liegt ihr Anteil am Gesamtwerbevolumen in deutschen Medien von über 40 Milliarden Mark derzeit noch weit unter einem Prozent. Aber kein Konkurrenzmedium legt schneller zu: In diesem Jahr sollen sich die Werbeausgaben, so eine Prognos-Berechnung, gegenüber 1998 auf 150 Millionen Mark verdreifachen, und bis 2003 erwarten die Prognos-Experten einen Anstieg um über 1000 Prozent auf fast 1,8 Milliarden Mark. „Die Leute stellen sich das Internet immer noch als Nischenmedium vor“, sagt Kevin Ryan, Präsident des US-Web-Vermarkters Doubleclick, „dabei reicht es heute schon viel weiter als jede noch so beliebte Talkshow.“ Kein Zweifel: Das Internet wird die Werbewirtschaft ähnlich stark verändern wie die Einführung des Privatfernsehens in den achtziger Jahren. Noch verdient zwar kaum einer Geld mit dem neuen Medium. Doch fast alle rüsten mit großem Aufwand für die Zukunft. Verlage und TV-Sender investieren gewaltige Summen, um auch im Internet die Werbegelder auf ihre Seiten zu lenken. Agenturen und Markenartikler arbeiten mit Hochdruck, um ihre langweiligen Werbebanner im Netz endlich über das Niveau von Bandenwerbung im Fußballstadion zu heben. Sie alle lockt eine große Verheißung: der direkte Draht zum Kunden. Wer Porsche, Yachten und Telefonsex liebt, wird, dank d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Internet-Werber Wasem, Shop-Hopper-Service: Die kleine Werbefläche zahlt sich aus Internet, Werbung dafür künftig auf seinem Bildschirm finden, sobald er den Computer einschaltet – ohne Umweg und ohne Streuverluste. „Wenn in Chicago ein Anwalt eine unserer Seiten anklickt“, sagt Ryan, „können wir schon heute in zehn Millisekunden erkennen, welche Werbung zu ihm passt.“ Und die wird ihm, ohne dass er etwas merkt, auf den Bildschirm gestellt. Das Urtrauma aller Werber, wie Henry Ford es einst formuliert hatte, scheint endlich überwunden. „Die Hälfte meiner Werbemillionen ist verschwendet“, sagte Ford, „ich weiß nur nicht, welche.“ Akut gibt es für etablierte Medien noch wenig Grund zur Panik. Ihre Bruttowerbeeinnahmen legten im ersten Halbjahr 1999 bei Zeitungen (plus 7,3 Prozent), Zeitschriften (4,3 Prozent) und Fernsehen (5,6 Prozent) erneut zu. Vor allem Reklame per Mausklick Prognose der Online-Werbung in Deutschland 4,6 Milliarden Quelle: ZAW, Prognos NettoWerbeeinnahmen in Mark 1,8 Milliarden Anteil am GesamtWerbemarkt 0,1 % 6,4 % 450 Millionen 50 Millionen 1998 2000 1998 2003 2010 2010 fürs Fernsehen sind die hohen Zuwachsraten der neunziger Jahre jedoch Vergangenheit. Und auch die Presse, die derzeit von den Printkampagnen neuer Web-Anbieter wie Amazon profitiert, kann nicht mehr auf stetig steigende Anzeigenerlöse setzen. So fürchten zum Beispiel Lokalzeitungen um wichtige Einnahmequellen, weil Gebrauchtwagen und Mietwohnungen schneller, transparenter und billiger im Internet zu finden sind als in den Regionalblättern. Längst haben sich die großen Verlage deshalb mit eigenen Vermarktungstöchtern auf dem Online-Markt positioniert. Mit dem Web-Angebot von „Bild“, „Welt“ und „Allegra“ bietet zum Beispiel Springer seinen Werbekunden auch im Internet ein Millionenpublikum. Auch Gruner + Jahr, RTL, Burda, Bauer und der SPIEGEL-Verlag vermarkten ihre Angebote im Netz. Doch da herrschen andere Gesetze als im klassischen Geschäft. Unternehmen, die eigentlich brav Werbung schalten sollten, treten auf einmal als Wettbewerber auf: Online-Banken wie Comdirect und Consors oder virtuelle Buchhandlungen wie Amazon bieten ihre stark frequentierten Internet-Seiten längst auch als Werbefläche an. Hinzu kommt die Konkurrenz durch junge, aggressive Vermarkter. Die US-Firma Doubleclick etwa, erst 1996 gegründet, hat inzwischen 1500 Web-Seiten unter Vertrag. Stark frequentierte Internet-Angebote wie die Suchmaschine Altavista, Disney oder, in Deutschland, TUI und das ZDF gehören zu den Kunden des US-Konzerns (Umsatz 1998: 80 Millionen Dollar, Börsenwert: über 7 Milliarden Dollar). „Wer in unserem Netzwerk Werbung schaltet“, sagt Doubleclick-Manager Ryan, „erreicht weltweit bis zu 100 Millionen Menschen.“ d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 FOTOS: D. RÖSELER Noch vor kurzem war die Internet-Gemeinde vielen Werbern zu abgehoben, zu hip und Technik-verliebt. Das ändert sich. „Wir müssen den Verbrauchern folgen“, sagt Ryan, „und die drängen ins Netz.“ Immer weniger Zeit verbringen die Menschen vor dem Fernseher, hat der Vermarkter in den USA beobachtet, während die Internet-Nutzung dramatisch zunimmt. Außerdem surfen 80 Prozent der InternetNutzer im Büro. Ryan: „Ein phantastischer Ort, um das wertvollste Segment im Publikum zu erreichen: Leute, die einen Job haben.“ Entsprechend orientieren sich die Werbetreibenden: Autokonzerne gehören laut Ryan weltweit zu den zehn wichtigsten Anzeigenkunden im Internet – ebenso wie Banken, Software-Anbieter und Reiseveranstalter. In den USA streben derzeit selbst Möbelhersteller und Vitaminproduzenten mit Werbebannern ins Web. Deutschlands größte Werbekunden halten sich freilich vom Netz noch fern. Unter den Top 20 der dort Werbetreibenden finden sich, angeführt von Amazon, Bertelsmann Online und der Comdirect-Bank, vor allem Firmen, die ganz überwiegend auch ihr Geschäft dort betreiben. Nur vier klassische Marken schalten in größerem Umfang Werbung im Internet: Deutsche Telekom, Deutsche Bank 24, die Post und Siemens. Auf Siemens sind Web-Werber dennoch schlecht zu sprechen – unter dem Namen Webwasher hat der Elektronikkonzern einen Filter entwickelt, der Werbung im Internet vom Bildschirm verbannt. Die Siemens-Entwickler, die sich gerade als webwasher.com AG selbständig gemacht haben, wollen in zwei Jahren schon 40 Millionen Mark Umsatz machen; zwei Millionen Anwender, sagen sie, nutzen schon heute ihr Produkt. Frank Hornig 149 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite FOTOS: M. TÜREMIS Medien Fernsehproduzent Halmi (bei Dreharbeiten in der Türkei): „Mein Leben ist wie ein B-Movie“ T V- F I L M E „Spielt schneller!“ Mit seinen aufwendigen Filmen („Arche Noah“) gilt der amerikanische Produzent Robert Halmi als Garant für hohe Einschaltquoten – auch bei seinem deutschen Partner RTL. D iese Geschichte ist garantiert wahr. So wie alle Geschichten, die Robert Halmi erzählt. Also: Es war ein kalter, ungemütlicher Abend in Budapest. Der Krieg zu Ende, Halmis Elternhaus zerstört, und der junge Mann, den die Rote Armee wenige Wochen zuvor aus einem deutschen Straflager in der Ukraine befreit hatte, auf einer Parkbank eingeschlafen. Er erwachte, und neben ihm saß eine wunderschöne, blonde Unbekannte im nebligen Dunkel. Schon am nächsten Morgen waren sie im zerschossenen Budapest beim Standesbeamten und heirateten. Drei, vier Tage später verließ Halmi das Haus seiner neuen Schwiegereltern und verschwand. Für immer. Die erste seiner vier Ehen war gescheitert, bevor sie richtig begonnen hatte. Eine wahre Geschichte? „Natürlich“, antwortet Halmi auf so eine Frage, „vollkommen wahr.“ Um dann, nach einer kleinen Pause, hinzufügen: „Zumindest halbwahr.“ Doch dafür drehbuchtauglich – wie alle seine Geschichten. Sein Kopf ist voll von ihnen. Von wahren und unwahren, von erfundenen und geschönten, von alten und neuen. Sie haben ihn reich gemacht, denn viele seiner Lieblingsgeschichten hat er ins Fernsehen gebracht: die „Arche Noah“, „Merlin“, „Don Quixote“ oder die „Cleopatra“-Verfilmung 154 mit Jungstar Leonor Varela in der Hauptrolle, die im Januar in Deutschland von RTL gezeigt wird. Die Kritiker haben die aufwendigen Schmachtfilme zerrissen, aber das Publikum war meist begeistert. Doch was nützt das, wenn ihm jetzt mit seinen 75 die Zeit davonläuft. „Oh shit“, sagt er und stochert mit dem Gehstock ungeduldig im Boden. Sein Leben ist zu kurz, als dass er in Ruhe mit ansehen könnte, wie hier in einer Bucht an der türkischen Mittelmeerküste quälend langsam sein neuer 30-Millionen-Dollar-Film entsteht. Ein einziges Mal nur hat er selbst Regie geführt. Ein grauenhaftes Desaster. Die Schauspieler wollten von ihm wissen, wie sie eine bestimmte Szene spielen sollten. „Das ist mir scheißegal“, hat er ihnen gesagt, „Hauptsache, ihr spielt schneller!“ Der Film floppte – erwartungsgemäß. „Oh shit!“ Warum nur muss die Einstellung mit Dennis Hopper als griechischem König Pelias fünfmal gedreht werden? Drei Durchgänge würden es auch tun. Doch das ist nicht die einzige Frage, die ihn umtreibt. Was soll er nur mit der gewaltigen Kulisse einer antiken Stadt anfangen, die ihm englische Techniker für zwei Millionen Dollar an den Strand gebaut haben? Seit zwei Monaten wird hier „Jason und die Argonauten“ als Fernsehzweiteiler verfilmt, doch dann? d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Halmi bohrt mit seinem Stock Löcher in den Boden. Der Gedanke macht ihn krank, die aufwendige Kulisse wieder zerstören zu müssen. Zwei Millionen Dollar! Bis zum Abend muss er eine Idee haben. Vielleicht wird er einen Western drehen. Sieht doch fast so aus wie eine Indianerstadt, oder? Vier Stunden noch, dann kann er endlich sein Büro in New York anrufen. Vier Stunden – eine halbe Ewigkeit! Er hasst es, untätig herumsitzen zu müssen, weil sie in New York noch schlafen. Auf 37 unterschiedlichen Telefonnummern ist er weltweit erreichbar. Um den Überblick nicht zu verlieren, benutzt er für seine vielen Handys und den Safe („Da ist nichts drin“) den gleichen Nummerncode – 1956, das Jahr des Ungarnaufstandes. Da hatte er seine Heimat schon lange verlassen. Geflohen vor den Sowjets, die ihn 1947 verhafteten, weil er für den amerikanischen Geheimdienst und CIA-Vorgänger OSS gearbeitet hatte. Am Tag der Urteilsverkündung („Sie hätten mich zum Tode verurteilt“) befreiten ihn die Amerikaner bei einem Gefangenentransport und schmuggelten ihn in einem Kartoffeltransporter nach Österreich. Es war das zweite Mal, dass Halmi knapp entkommen war. 1944 wurde er als Student Mitglied einer Widerstandsgruppe, die gegen die deutschen Besatzer kämpfte. „Wir haben Brücken in die Luft gejagt“, sagt er und denkt nach. „Na ja, um genau zu sein: Es war eine Brücke.“ Später versorgte er im Auftrag des USGeheimdienstes Titos Partisanen in Jugoslawien mit Nachschub. Der frühere Guerrillaführer zeigte sich als Staatschef Cleopatra-Darstellerin Varela Filme von den Kritikern zerrissen Werbeseite Werbeseite RTL Halmi-Produktion „Arche Noah“: Ebenso aufwendig wie anspruchslos 156 von dem betäubten Kojoten auf der Rückbank seiner Piper. Das Vieh wachte vorzeitig auf und fraß sich während des Fluges langsam durch seinen Pilotensessel. Vermutlich halbwahr – der Vorfall. Halmi war Autorennfahrer, Ballonfahrer und Bergsteiger, bevor er Anfang der sechziger Jahre begann, Dokumentarfilme zu drehen. Doch erst 1974, mit 50, wurde er schließlich Produzent. Er verfilmte Hemingway, drehte für den amerikanischen Sender CBS einen erfolgreichen Western und kaufte 1994 für damals unerhörte neun Millionen Dollar die Rechte an „Scarlett“, der Fortsetzung des Schmachtromans „Vom Winde verweht“. Um die 40 Millionen Dollar für den TVFilm aufzutreiben, nahm Halmi unter anderem den Münchner Filmhändler Leo Kirch und den italienischen Medienmogul Silvio Berlusconi als Co-Produzenten unter Vertrag. Die internationale Zusammenarbeit bewährte sich. Im Jahr 1998 kaufte RTL für drei Jahre die Exklusivrechte für Halmis Monumentalproduktionen. Gleichzeitig beteiligt sich M. TÜREMIS dankbar: Halmi wurde mehrfach zur Jagd auf den Balkan eingeladen. In der Ukraine schnappten ihn kurz vor Ende des Krieges die Deutschen. Er wurde von der anrückenden Roten Armee befreit, rückte mit den Sowjets zusammen in seine Heimatstadt Budapest ein. Doch es dauerte keine acht Monate, da hatte Halmi genug vom Kommunismus und sprengte wieder Brücken in die Luft. Behauptet er zumindest. Seine Erlebnisse waren so spektakulär, dass sie Anfang der fünfziger Jahre in einer siebenteiligen Serie in der New Yorker „Saturday Evening Post“ beschrieben und später von einem großen Hollywood-Studio verfilmt wurden. „Mein Leben ist wie ein B-Movie“, sagt er. Der Boden in Österreich wurde ihm zu heiß, nachdem er Intellektuelle aus seiner alten Heimat in den Westen geschmuggelt hatte. 1950 landete der Sohn einer Drehbuchschreiberin und eines kaiserlichen Hoffotografen auf der amerikanischen „General Sturgess“ in New York. Angeblich mit nur fünf Dollar in der Tasche. Und angeblich ließ er sich von Anfang an mit einer Limousine herumfahren („Ich bin ein Snob“). Das habe gegenüber dem Taxi den Vorteil gehabt, dass die Rechnung erst nach 30 Tagen gekommen sei. Halmi machte schnell Karriere als Fotograf. Zunächst für einen Windelservice, dann als Mitarbeiter des legendären Magazins „Life“. Der ungarische Emigrant wurde Spezialist für gefährliche Aufträge. „Es stand immer in der Zeitung, wenn ich wieder einmal einen Job überlebt hatte.“ Er ließ sich – in einem Sarg liegend – mit Dynamit in die Luft sprengen, lebte drei Monate lang bei den Pygmäen in Afrika, ließ sich mit dem Fallschirm auf einem einsamen Gletscher in Alaska absetzen und erzählt immer wieder gern die Geschichte der Kölner Sender als Co-Produzent jedes Jahr an drei seiner Projekte. Etwa zehn Prozent der Produktionskosten werden von RTL getragen. Im Januar wird Halmis „Cleopatra“ gezeigt, später im Jahr dann „Jason und die Argonauten“. Längst hat Halmi sein Unternehmen an einen Großkonzern verkauft. 1994 kassierte er für seine Firma 365 Millionen Dollar von dem US-Grußkarten-Hersteller Hallmark. Doch nach wie vor ist er Chef der Hallmark Entertainment – zusammen mit seinem Sohn „Robie“. „Wir haben ein komisches Verhältnis“, sagt Halmi über seinen Sohn, der in New York gleichzeitig sein Nachbar ist, „er kontrolliert meine Ausgaben und fragt mich, warum ich immer noch für die Kreditkarte meiner Ex-Frau bezahle.“ Doch „Robie“ duldet still, dass sein Vater Häuser in Manhattan unterhält, in North Salem im US-Bundesstaat New York, in London, in Marbella und in Kenia. Und er hat auch nichts gesagt, als Halmi Senior seine 20Meter-Yacht gegen ein 27-Meter-Boot austauschte. Oder sich einen neuen Aston Martin kaufte. Nur die Harley-Davidson war ein Geschenk – zum 70. Geburtstag. In den USA wird er manchmal der „Steven Spielberg des Fernsehens“ genannt, doch Halmi mag den Vergleich nicht. Weil er Spielberg nicht mag. Er hasst Hollywood. Oft genug steigt er dort im Hotel Beverly Wilshire ab, das durch „Pretty Woman“ Filmruhm erlangt hat. Er mag nicht, wie schon beim Frühstück die Deals gemacht werden, er hasst es, wenn Taxifahrer versuchen, ihm ihre laienhaften Drehbücher aufzuschwatzen, und er ist genervt, wenn er im Hotelaufzug von Schauspielern um eine Rolle angebettelt wird. Doch noch weniger mag er die Männer, die inzwischen die internationalen Medienkonzerne dirigieren. Leute wie Rupert Murdoch, die geldgierig und seelenlos an ihren Imperien basteln. „Das sind dieselben Leute, die in den Buchladen gehen, um einen Meter Bücher zu kaufen“, sagt Halmi, „sie können einfach nicht verstehen, warum ich so erfolgreich bin.“ Und: „Es ist der gleiche Aufwand, ob man Shit produziert oder etwas Vernünftiges macht. Man muss sich nur entscheiden.“ Halmi sieht sich als einen der letzten Moralisten in einer Welt des Kommerzes. Seine Filme sind ebenso aufwendig wie anspruchslos, doch er freut sich wie ein Kind, wenn sein „Wilhelm Tell“ im kenianischen Fernsehen Traumquoten erreicht. Aber er ist zu alt, um sich Illusionen hinzugeben. „Mich wird keiner vermissen“, sagt er, „und dann werden sie wieder Scheiße senden.“ Königsdarsteller Hopper: Quälend langsamer Dreh d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Konstantin von Hammerstein Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite SPIEGEL-Serie über Wende und Ende des SED-Staates (9) Die Woche vom 20. 11. 1989 bis zum 26. 11. 1989 »Wir sind ein Volk« T. HÄRTRICH / TRANSIT Die Massen rufen nach Wiedervereinigung, in Moskau und Washington schwinden die Vorbehalte gegen die deutsche Einheit. Die SED, unter wachsendem Bonner Druck, zeigt sich bereit, mit der Opposition zusammenzuarbeiten. Montagsdemonstration am 20. November 1989 in Leipzig d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 159 100 TAGE IM HERBST: »WIR SIND EIN VOLK« CHRONIK Montag, 20. November 1989 Leipzig Leipziger Fotoreporter Naumann (1999) „Heute sind die Würfel gefallen“ M. NAUMANN Seit Wochen beobachtet Martin Naumann, 57, Fotoreporter der „Leipziger Volkszeitung“, jede der Montagsdemonstrationen auf dem sechsspurigen Promenadenring. „Heute“, schreibt er in sein Tagebuch, „sind die Würfel gefallen.“ Denn: „Es tauchen erstmalig Staatsflaggen der Bundesrepublik auf, dazu rufen die Leute ,Deutschland einig Vaterland‘, ein Stück Nationalhymne der DDR, ein Text, den wir in der DDR so lange entbehren mussten.“ Trotz Smog sind 250 000 Menschen auf den Beinen, statt „Wir sind das Volk“ skandieren sie nun „Wir sind ein Volk“. Die Transparente, die Reporter Naumann heute fotografiert, fordern die staatliche Einheit („Volksentscheid zur Wiedervereinigung“) und künden vom Zorn der Bürger, die sich „belogen und betrogen“ fühlen von einer raffgierigen Politikerkaste: „Die Bonzen leben wie in Denver und Dallas – gebt den Rentnern nun alles.“ Die Grenzöffnung hat die Wut ins Grenzenlose wachsen lassen. Acht Millionen Menschen haben in den letzten zehn Tagen die Bundesrepublik besucht – rechnerisch die Hälfte der DDR-Bevölkerung. Jeder hat bei diesen Ausflügen erfahren, wie groß der wirtschaftliche Vorsprung des golde- M. NAUMANN »Feilschen um die DDR« Naumann-Foto von der Leipziger Montagsdemonstration am 20. November 1989: „Über die Lautsprecher kommt ziemlicher Unsinn“ 160 d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 nen Westens, wie wertlos die Aluminiumwährung des Ostens ist. Das Gefühl, jahrzehntelang um die Früchte der Arbeit betrogen worden zu sein, verstärkt nicht nur den Wunsch nach rascher Wiedervereinigung, sondern beflügelt auch die abenteuerlichsten Gerüchte über das Wohlleben in Wandlitz, der geheimen Waldsiedlung der Ost-Berliner Spitzengenossen (siehe Analyse Seite 180). „Über die Lautsprecher kommt ziemlicher Unsinn“, notiert Reporter Naumann: Ein Redner behauptet, das ZK hätte in der Karibik eine Insel gekauft, Honecker hätte sich in der Schweiz operieren lassen und Egon Krenz für 400 000 Dollar in den USA. Die Partei hätte Ferienheime auf Mallorca, Margot Honecker würde einmal in der Woche in die Schweiz zum Kaffeetrinken fliegen und einmal im Monat nach Paris zum Friseur. Alles natürlich Unsinn. Auch an diesem bitterkalten Abend verabreden sich die Teilnehmer wie nach jeder Leipziger Demonstration für den nächsten Montag. Heute heißt es: „Kommt auch nach dem ersten Schnee, sonst freut sich die SED.“ ner in den Westen fahren durften, konnten die Reisenden vergleichsweise kommod mit je 15 West-Mark „Pinkelgeld“ (Volksmund) aus Schalcks Devisenkasse ausgestattet werden, eingetauscht für 15 OstMark. Weil nun aber Millionen auf Achse sind, ist absehbar, wann die Valuta-Schatulle geplündert sein wird. Auch Bonn steckt in der Klemme. Die Bundesrepublik kann an die vielen Millionen DDR-Bürger, die nun die Grenzen passieren, nicht auf Dauer jeweils 100 Mark „Begrüßungsgeld“ zahlen. Der Willkommensgruß soll mit Jahresbeginn 1990 entfallen. Als Ersatz ist ein Reisedevisenfonds im Gespräch, in den beide Seiten einzahlen: DDR-Bürger sollen bis zu 300 Ost-Mark pro Jahr im Verhältnis eins zu fünf in WestMark wechseln können. Die SED-Regierung müsse, pokert Seiters, in den Fonds eine Milliarde Mark West einschießen und außerdem auf den Zwangsumtausch (je 25 Mark im Verhältnis eins zu eins) für ostwärts reisende Bundesbürger verzichten. Doch die OstBerliner sperren sich: Allein der Wegfall der bisher erhobenen Eintrittsgebühr in die Ost-Republik bedeutet eine Min- geht euch gar nichts an. Das ist Sache der DDR‘“. Jedoch: „Unsere politische und ökonomische Lage lässt mir nur die Wahl, sachlich die Fragen des Bundeskanzlers zu beantworten.“ Abends gibt die Redaktion des SED-Zentralorgans „Neues Deutschland“ einen wütenden Kommentar in Satz: Die Bundesregierung wolle die DDR offenbar erst dann „belohnen, wenn sie sich als souveräner sozialistischer Staat aufgegeben“ habe. Dienstag, 21. November 1989 Ost-Berlin Dem Zweizentnermann, der in die Routinesitzung des Politbüros platzt, kullern Tränen unter der Sonnenbrille hervor. Staatssekretär Alexander Schalck-Golodkowski, wichtigster DDR-Devisenbringer, fürchtet um sein Leben: „Jetzt bringen sie mich um.“ Überall in der Republik geht der neue SPIEGEL von Hand zu Hand, der Schalcks Geldbeschaffungsmethoden enthüllt: Ein Netz von Tarnfirmen verschiebt Waffen, vermietet Prostituierte und verscherbelt Kunstschätze. Seit der Nacht, in der die Mauer brach, hadern die Hardliner der SED mit dem Schicksal: Hätte sich der Genosse Schabowski am Abend des 9. November klarer ausgedrückt, wäre der Sturm auf die Mauer unterblieben und die DDR-Regierung in der Lage, sich die Grenzöffnung von Bonn teuer bezahlen zu lassen. In kleinem Kreis trauert auch Hans Modrow der guten alten Mauerzeit nach. Früher, sinniert der neue Ministerpräsident, habe „jeder Grenzübergang der DDR -zig oder hundert Millionen gebracht“; jetzt gebe es 93 Grenzübergänge, also 63 mehr als bisher, „und nun versuchen wir mühsam nachzuklagen, ob wir daraus noch irgend etwas Ökonomisches auf die Beine bringen können“. An diesem Montag sieht Modrow die letzte Gelegenheit, aus dem Betriebsunfall, der plötzlich zur Maueröffnung führte, nachträglich Kapital zu schlagen: Helmut Kohl hat seinen Kanzleramtschef Rudolf Seiters zu einem „Sondierungsgespräch“ nach Ost-Berlin geschickt. Als der Bonner Besucher im Staatsratsgebäude eintrifft, wird er erst einmal umgarnt. Krenz, Modrow und Schalck-Golodkowski erinnern den Gast daran, dass „Freizügigkeit“ doch „bekanntlich auf der Forderungsliste der BRD immer ganz oben gestanden hat“. Nachdem Ost-Berlin mit der Maueröffnung „eine große Vorleistung gebracht“ habe, drängelt Krenz, solle Bonn sich nun an den Kosten beteiligen. Die DDR hat ein Problem, das von Tag zu Tag wächst: Solange nur ein paar Rent- JÜRGEN OST + EUROPA PHOTO Ost-Berlin Gesprächspartner Seiters, Krenz, Modrow: Probleme mit dem „Pinkelgeld“ dereinnahme von 500 Millionen harten Mark. Die Bonner Emissäre wissen, dass die neuen SED-Regenten mit dem Rücken zur Wand stehen. Und sie nutzen deren Schwäche nach Kräften aus. Bonn will sich an dem Fonds nur beteiligen, wenn die DDR drei Fragen klar beantwortet: Wann werden freie Wahlen anberaumt? Wann werden neue Parteien zugelassen? Wann wird der Führungsanspruch der SED aus der Verfassung gestrichen? Krenz würde am liebsten, wie er später festhält, „undiplomatisch antworten: ,Das d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Mit den so erwirtschafteten Devisen kauft Schalck im Westen Abhörwanzen und Computer für die Stasi oder Delikatessen und Preziosen für SED-Prominente – als Geburtstagsgeschenk für Margot Honecker beispielsweise Brillantschmuck zum Preis von 9405,40 West-Mark. Nun fürchtet der 1,90 Meter große ExRinger, empörte DDR-Bürger könnten ihre Wut an ihm und seiner Frau auslassen. Egon Krenz verspricht Hilfe und Polizeischutz. Und auch der Ministerpräsident will sich für den bedrängten Genossen einsetzen, der stets zur Stelle war, wenn es 161 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite 100 TAGE IM HERBST: »WIR SIND EIN VOLK« H. HÖRSELJAU JÜRGEN OST + EUROPA PHOTO JÜRGENS OST + EUROPA PHOTO ser SDP“, weshalb „ihr euch auch vom Amt her einen Kopf mit machen müsst“. Die sozialdemokratische Neugründung empfindet Kommunist Modrow als illegitime Konkurrenz zur SED: „Das ist ja die Frage der Spaltung der Arbeiterklasse.“ Der neue Nasi-Chef Schwanitz, schon seit 1951 SPIEGEL-Bericht vom 20. November 1989, Hauptfigur Schalck-Golodkowski: Tränen unter der Sonnenbrille im MfS, ringt um ein zugalt, Konsumententräume von Politbüro- „dass wir aufhören, schon den Wahltermin kunftsfähiges Profil seines Amtes. Seine festzulegen“. Modrow: „Wollen wir doch Antrittsrede basiert auf einem vertrauliFamilien zu erfüllen. chen Positionspapier, das ihm der 1986 ausModrow zu Schalck: „Wir müssen se- erst mal mit den anderen verhandeln.“ Freie Wahlen will dieser Reformsozialist geschiedene Spionagechef Markus Wolf, hen, wie wir da rauskommen.“ Nachdem der Premier im Politbüro den seinem Volk nur gewähren, wenn der Klas- der nun als Reformer auftritt, wenige Tage zuvor übergeben und erläutert hat. heulenden Geldbeschaffer getröstet hat, senfeind ihn dafür mit Devisen belohnt. Eifersüchtig beäugt Modrow seine „KoTeilweise vertritt Schwanitz, Wolfs Foreilt er in die Geheimdienstzentrale. Im bisherigen Ministerium für Staatssicherheit – alitionspartner“: Er argwöhnt, dass sich die mulierungen folgend, die Forderung, mit nun umetikettiert in Amt für Nationale Blockparteien bis zur Wahl („Ich gehe da- der Vergangenheit zu brechen. „Wovon Sicherheit (Nasi) – will er den zwangsge- von aus, dass das im Herbst 1990 sein müssen wir uns trennen, Genossen?“, fragt wendeten Stasi-Führern zu neuem Le- kann“) Vorteile auf Kosten der SED zu ver- er in die Runde, um sogleich zu antworten: schaffen suchen. „Von der These, wir müssten alles wissen, bensmut verhelfen. Sauer ist Modrow vor allem auf die was in diesem Staat geschieht oder nicht Anlass für Modrows Auftritt ist die Ernennung von Generalleutnant Wolfgang LDPD, die sich heftig der Opposition an- funktioniert, und überall Einfluss nehmen.“ Schwanitz weiter: Schwanitz, Erich Mielkes bisherigem Stell- biedert. Modrow: „Wer sich einbildet, dass das vertreter, zum neuen Amtschef. Gleich zu Beginn der Dienstbesprechung, beim Aus- Neue Forum Blutspender für eine der Par- Dieses falsche Herangehen führte zu einer sprechen des ungewohnten Amtsnamens, teien werden will und dass die LDPD viel- Aufblähung unseres Apparates. Um es ganz verhaspelt sich der Ministerpräsident: „Es leicht meint, dass das Neue Forum sozusa- deutlich zu sagen, Genossen, solch einen fällt noch schwer, das über die Lippen zu gen in Scharen zur LDPD zieht und daraus riesigen Sicherheitsapparat kann sich kein kriegen“, entschuldigt er sich bei den Ge- die mächtige Partei erwächst, der hat eine Staat dieser Welt mit dieser BevölkerungsIllusion.“ zahl und dieser Wirtschaft leisten. nerälen. „Bislang überhaupt keine Vorstellung“ Modrows Ansprache – festgehalten in Ebenso müsse der Dienst sich „trennen einem internen Wortprotokoll – erhellt, hat der Ministerpräsident, wie er der alten wie der DDR-Spitzenmann gegenüber dem Stasi-Elite gesteht, vom „Umgang mit die- von der operativen Bearbeitung Andersdenkender“ und von der Ansicht, „die PoWesten und seinen Koalilitik habe das Primat in der operativen Artionspartnern zu operieren beit“. Diese Auffassung habe „faktisch zu gedenkt. der Tatsache geführt, dass das MfS immer Die Blockparteien, plaumehr das Machtorgan des Generalsekretärs dert Modrow in der vertrauwurde“. ten Runde, habe er davon Es gibt, so Schwanitz, „auch unter uns überzeugt, dass die DDR genoch Genossinnen und Genossen, die meigenüber Bonn nicht voreilig nen, wir können nach außen die Linie der Positionen preisgeben dürfe: Erneuerung deklarieren und ansonsten so „Wenn sozusagen gar nichts weitermachen wie bisher“. mehr da ist, dann sind wir Das, schärft Schwanitz seinen Leuten nur am Bettelstab. So kann ein, gehe „auf keinen Fall“ – einerseits. die Geschichte ja nicht geAndererseits laviert Schwanitz, um den Lahen.“ den zusammenzuhalten. Mit den Blockpartei-VorDas Amt müsse Auflösungserscheinunsitzenden sei er sich einig, gen entgegenwirken: „Nicht dass uns jetzt alles hier anarchisch auseinanderrennt.“ Vor allem gelte es, dafür Sorge zu tragen, dass dem Gegner kein belastendes Material in die Hände fällt. „Was dieses Vernichten“ von Stasi-Akten angehe, empfiehlt Schwanitz: „Macht das wirklich sehr klug und sehr unauffällig.“ Denn: „Wir werden stark kontrolliert.“ Die kompromittierenden Papiere, weiß Schwanitz aus Äußerungen führender Bürgerrechtler, sollen „für ihr ,Gericht‘ aufgehoben werden, das in ihren Vorstellungen Nasi-Chef Schwanitz, Reißwolf ja schon existiert“. „Macht das sehr unauffällig“ 164 Werbeseite Werbeseite 100 TAGE IM HERBST: »WIR SIND EIN VOLK« gehörigkeit zu den Militärbündnissen und zur Möglichkeit eines Friedensvertrags aufgeschrieben hat. „Wie Sie sehen“, sagt der Russe, „denken wir in der deutschen Frage alternativ über alles Mögliche, sogar quasi Undenkbares nach.“ Er könne sich vorstellen, dass die Sowjetunion mittelfristig einer wie immer gearteten deutschen Konföderation grünes Licht geben werde. Teltschik ist „wie elektrisiert“. Offenbar denken die Regierenden in Moskau schon weiter als die in Deutschland. Der Berater eilt zu seinem Kanzler. Der hatte noch eine Woche zuvor durch seinen Unterhändler Walther Leisler Kiep der DDR-Regierung bei einem Geheimtreffen im Ost-Berliner Palasthotel signalisiert, die deutsche Einheit stehe nicht auf der Tagesordnung. Wenn nun jedoch die sowjetische Führung die Möglichkeit der Wiedervereinigung erörtere, erkennt Teltschik, dann sei es „höchste Zeit, dass wir das nicht mehr länger im stillen Kämmerlein tun, sondern in die Offensive gehen“. Fast zur selben Zeit spricht Außenminister Hans-Dietrich Genscher im Weißen Haus vor. Präsident George Bush gibt zu erkennen, dass in den USA seit dem Mauerfall viele Vorbehalte gegen eine Wiedervereinigung Deutschlands geschwunden seien. Allerdings: „Friedlich“, fordert Bush, müsse der Prozess des Zusammenwachsens schon vonstatten gegen. Die deutsche Einheit, verspricht Genscher daraufhin dem US-Präsidenten, werde nicht als „brüllende Löwin“ auferstehen, sondern als „Taube des Friedens“. Und er zitiert, was seine Landsleute tags zuvor in Leipzig gerufen haben: „Wir sind ein Volk.“ ACTION PRESS Nikolai Portugalow, 61, einer der führenden sowjetischen Deutschland-Experten, hat sich bei Kohls außen- und deutschlandpolitischem Berater Horst Teltschik, 49, angemeldet. Der Kanzlergehilfe kennt Portugalow seit zehn Jahren als unverkrampften Gesprächspartner, „äußerst schlitzohrig“ und „fast übertrieben freundlich“. Heute jedoch wirkt der Russe auf Teltschik „um vieles ernsthafter“ als sonst, ja „fast feierlich“. Portugalow übergibt dem Kanzlerberater ein handgeschriebenes Papier. Höflich entschuldigt er sich für seine Schrift und für die angeblich schlechte Übersetzung ins Deutsche. Der erste Teil, erläutert der Gast, habe regierungsamtlichen Charakter. Die weiterführenden Überlegungen im zweiten Teil dagegen seien lediglich mit Walentin Falin besprochen, dem früheren Bonn-Botschafter und jetzigen Moskauer ZK-Abteilungsleiter für internationale Beziehungen, mit dem Portugalow persönlich befreundet ist. Gorbatschow, heißt es im amtlichen Teil, gehe davon aus, dass in Bonn kein Zweifel bestehe, dass die Wende in der DDR ACTION PRESS Bonn Gesprächspartner Teltschik, Portugalow „Höchste Zeit, in die Offensive zu gehen“ Im zweiten Teil des Portugalow-Papiers geht es um Fragen der Zusammenarbeit zwischen den beiden deutschen Staaten. Und auch diese Passagen lassen Teltschik „aufhorchen“. Bereits am Freitag hat er den Wortlaut einer erstaunlichen Rede bekommen, die Gorbatschow am 15. November vor Studenten in Moskau gehalten hatte. Darin sprach der Kremlchef ausdrücklich von einer „Wiedervereinigung“ Deutschlands, die zwar „heute keine Frage der aktuellen Politik“ sei, die er aber, wie die Formulierung nahe legt, auch nicht erst in ferner Zukunft sieht. AP Mittwoch, 22. November 1989 Ost-Berlin Gesprächspartner Bush, Genscher in Washington*: „Taube des Friedens“ ohne die Sowjetunion und erst recht gegen sie undenkbar gewesen wäre. In Moskau habe man schon sehr früh gewusst, „im Grunde seit Morgendämmerung der Perestroika“, wohin die DDR steuern werde. Das ist für Teltschik „eine kleine Sensation“: Es bedeutet, „dass die Sowjetunion sich mit der Entwicklung in der DDR identifiziert, ja mit dem Hinweis auf die Perestroika sogar die Verantwortung dafür übernimmt“. 166 Gorbatschow bezeichnete die Frage der Einheit ausdrücklich als „innere Angelegenheit“ beider deutscher Staaten, nicht nur der DDR. Und er fuhr fort: „Wie die Geschichte weiter verfügen wird? Kommt Zeit, kommt Rat.“ Die Gorbatschow-Worte im Kopf, liest Teltschik, was Portugalow über Wiedervereinigung, EG-Beitritt der DDR, Zu* Am 21. November im Weißen Haus, mit einem Stück Beton aus der Berliner Mauer. d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Ehrhart Neubert vom Demokratischen Aufbruch ist überrascht: Die Wendehälse von der SED scheinen plötzlich „die Opposition überholen zu wollen, um die Initiative wiederzugewinnen“. Während einer Besichtigung der Energieanlagen-Fabrik VEB Bergmann-Borsig in Pankow hat Egon Krenz blitzschnell einen tags zuvor präsentierten Vorschlag der Systemkritiker aufgegriffen: Alte und neue Parteien sollten gemeinsam an einem „Runden Tisch“ über die Zukunft des Landes beraten. Die Idee stammt aus Polen. Dort war das kommunistische Regime, das sich seit 1981 auf Ausnahmeverordnungen stützte, im Februar 1989 gezwungen worden, den Weg friedlicher Verhandlungen mit der Opposition einzuschlagen. Vier Monate später führten Neuwahlen zu einem gewaltfreien Werbeseite Werbeseite 100 TAGE IM HERBST: »WIR SIND EIN VOLK« ULLSTEIN BILDERDIENST JÜRGEN OST + EUROPA PHOTO Auf der Bühne, inmitten des beifallumÜbergang vom totalitären zum demokra- er gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann protestiert hatte, war tosten Filmteams aus alten DDR-Zeiten, tischen System. Die diversen Oppositionsgruppierungen er bei den SED-Kulturpolitikern in Un- zeigt sich Krug überglücklich: Offenbar gebe es „nun doch noch andere Wege der künstin der DDR träumen davon, dem polni- gnade gefallen. Nun ist der Star zurückgekehrt: Nach lerischen Auseinandersetzung“ als jene, „deschen Beispiel zu folgen. Doch organisatorische Zersplitterung, diffuse Programma- 23 Jahren des Verbots wird im „Inter- rentwegen ich meine DDR verlassen habe“. Kaum einer der begeisterten Zuschauer tik und strategische Defizite haben ein Zu- national“ der legendäre Spielfilm „Spur der Steine“ (Hauptdarsteller: Manfred bemerkt, dass während der Vorstellung ein standekommen bisher verhindert. Das Neue Forum, die breiteste opposi- Krug) wieder aufgeführt – ein zeitkri- Sicherheitsoffizier zu Krenz eilt und ihm tionelle Bewegung, hat zwar 200 000 Un- tischer Streifen, der wie viele andere zuflüstert, „Genosse Honecker“ wolle ihn terschriften gesammelt. Aber auch zwei Defa-Produktionen 1966 das Missfallen am Telefon „unbedingt sprechen“: „Er lässt Monate nach der Gründung gibt es noch der SED erregt hatte und nach inszenier- sich nicht abweisen.“ ten Krawallen in den Giftschrank verVon einem Nebenraum aus telefoniert keinen legitimierten Sprecherrat. Krenz mit seinem Vorgänger. Honecker Nachdem die Bürgerrechtsgruppe De- bannt worden war. ist außer sich: „Ich habe mokratie Jetzt! die seit Wochen herumeben in den Nachrichten geisternde Idee eines Runden Tisches in gehört, dass ein Parteivereine konkrete Einladung umgesetzt hatte, fahren gegen mich eingeleisagte als erste der alten Blockparteien tet wurde.“ die LDPD ihre Mitwirkung zu. Parteichef Tatsächlich hat die ZenManfred Gerlach, vormals ein besonders trale Parteikontrollkommiswillfähriger Gehilfe der SED und nun der sion beschlossen, den Gefixeste Reformer unter den Blockflöten, nossen mit dem Personalmeint, die drängendsten Probleme müssausweis A 000 000 1 (siehe ten gemeinsam angepackt werden: „Die Porträt Seite 178) nach fast Talsohle der Krise ist noch nicht erreicht.“ 60-jähriger Mitgliedschaft Der Zustand der Opposition ermutigt aus der SED zu verbannen. Krenz, den Vorschlag aufzugreifen: Ein Gegen Honecker – der noch Runder Tisch gibt der SED die Chance, am 18. Oktober im ZK und sich an die Spitze der Bewegung zu setzen. am 24. Oktober in der VolksSo kann der umstrittene Generalsekretär kammer mit Dank verabvor dem nächsten Parteitag, auf dem über schiedet worden ist – läuft seine politische Zukunft entschieden wird, nun ein förmliches Ausnoch rasch ein Signal seiner Reformbe- Filmstar Krug, Kinobesucher Krenz*: „Geht auch anders“ schlussverfahren. reitschaft aussenden. Krenz bemüht sich, den Anrufer zu beWer am Runden Tisch sitschwichtigen. Wegen Honeckers angezen und was dort verhandelt schlagenem Gesundheitszustand seien werden soll, ist ebenso offen „keinerlei Aussprachen“ zu erwarten: wie die Frage, welche Ent„Das heißt, die Sache ruht.“ scheidungskompetenz das Doch der Abgehalfterte will sich nicht Gremium hat. Der Runde beruhigen. „Ich habe den Eindruck“, hält Tisch, so Neuberts wolkige Krenz in seinem Tagebuch fest, „Honecker Interpretation, habe „zufürchtet den Ausschluss aus der Partei nächst einmal keine parlamehr als ein Gerichtsverfahren.“ mentarische Funktion“, sondern „mehr ein politischmoralisches Gewicht“. Die Vertreter der alten Freitag, 24. November 1989 Macht können auch aus Ost-Berlin einem anderen Grund optimistisch sein: Die BlockparSchon vor 14 Tagen hat der SED-Chef seiteien und die Oppositionsnen Großen Bruder in Moskau dringend gruppierungen, mit denen sie Krug in „Spur der Steine“ (1966): „Hieb auf die Birne“ um politische Orientierungshilfe gebeten: sich an einen Tisch setzen Wie soll es weitergehen mit DDR und wollen, sind noch immer dicht durchsetzt „Ich habe damals den ersten Hieb auf BRD? mit Einflussagenten der Stasi-Nasi. die Birne gekriegt“, erzählt Krug vor der Gorbatschow hat seinen Berater WaWiederaufführung einem anderen promi- lentin Falin nach Ost-Berlin in Marsch nenten Kinobesucher: Egon Krenz, der gesetzt. In der sowjetischen Botschaft Donnerstag, 23. November 1989 durch seine Präsenz demonstrieren will, soll er die ostdeutschen Genossen vordass es in der Kulturpolitik „auch anders sichtig auf einen Moskauer Kurswechsel Ost-Berlin geht“ als einst. mit weltpolitischen Konsequenzen vorSchon während der Vorstellung gibt es bereiten. Autogrammstunde im Kino „InternatioAls Krenz nach dem vielstündigen Genal“ in der Karl-Marx-Allee. Menschen- Szenenapplaus für nach wie vor „aktuelle trauben ballen sich um Manfred Krug, 52, Passagen“ (Krug) des Films.Als der Abspann spräch die Botschaft verlässt, schwirrt ihm der – Brille auf der Nase und flotte Sprüche läuft, reißt es auch jene aus den Klappses- der Kopf: Falin hat ihn – und Modrow, der verspätet hinzukam – doch tatsächlich aufauf den Lippen – unermüdlich seinen Na- seln, die 1966 noch in die Krippe gingen. gefordert, über eine „Neuvereinigung“ der menszug schreiben muss. Der einst populärste DDR-Schauspieler, * Bei einer Autogrammstunde im Ost-Berliner Kino „In- beiden deutschen Staaten nachzudenken. Held in 40 Filmen und 20 Fernsehspielen, ternational“ anlässlich der Wiederaufführung des Films Im Übrigen solle die SED, um nicht weiter in die Defensive zu geraten, ihre „Theorie war 1977 nach West-Berlin ausgereist. Weil „Spur der Steine“ in der DDR. 168 d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite 100 TAGE IM HERBST: »WIR SIND EIN VOLK« U. v. d. HEIDT / PLUS 49 / VISUM JÜRGENS OST + EUROPA PHOTO Lebensmittel und „Untertrikotage“, wie Dessous auf DDR-Deutsch heißen, sind nur noch gegen Vorlage des blauen DDR-Ausweises erhältlich. Polnische Autofahrer dürfen die Transitstrecken durch die DDR nicht mehr verlassen. „Endlich mal, dass unsere Regierung was Ordentliches unternimmt“, freuen sich die Werktätigen. Schon lange schwelt der Unmut über Durchreisende, die über die offenen Grenzen kommen und in Riesenmengen ostdeutsche Produkte wegschleppen. Denn mehr als vier Fünftel der tatsächliSowjetbotschaft in Ost-Berlin: „Eigenartiges Gefühl“ chen Kosten für die Herstelvon den zwei deutschen Nationen“ revi- lung oder den Import von Lebensmitteln werden in der DDR vom Staat und damit dieren. Die Kursänderung ist schwer zu ver- von der Bevölkerung getragen – allein kraften für Krenz. Im „Wiedervereini- 1989 schießt die Regierung 33,1 Milliarden gungsgerede“ hat er immer nur eine Spiel- Mark zu. Schnittfeste Salami beispielsweise, die art des Rechtsradikalismus gesehen. Und stets hat er betont, seine Heimat sei nicht für 10,80 Ost-Mark das Kilogramm über die Ladentheke geht, müsste eigentlich Deutschland, sondern die DDR. Den treuen Vasallen Moskaus be- 24,80 Mark kosten – die Differenz zahlt schleicht „in diesem Herbst zum ersten der Staat drauf. In der DDR-Presse werden die SchmugMal das eigenartige Gefühl, um die DDR wird gefeilscht“ zwischen der maroden gelaktionen immer häufiger angeprangert. So ist zu lesen, dass am Grenzzollamt GörUdSSR und den kraftstrotzenden USA. „Nabelt sich die Sowjetunion ab?“, no- litz bei einem Polen zwei Zentner Hatiert Krenz über das Gespräch mit Falin. selnüsse sowie 16 Angelruten, 26 AngelUnd tief verunsichert fügt er hinzu: „Ich netze und 60 Rollen Angelschnur beschlagwill es nicht glauben, schließe es aber auch nahmt worden seien. Das ist die eine Seite des freien Reisenicht mehr aus.“ verkehrs. Die andere erleben DDR-BürOst-Berlin ger, wenn sie in den Westen fahren. Weil die Ost-Mark als reine DDR-BinSie tragen zwar keine Uniformen, aber die in beige-braune Kittel gekleideten Kassie- nenwährung nicht konvertierbar ist, entrerinnen im „Centrum“-Warenhaus am wickeln sich Willkürkurse nach dem PrinAlexanderplatz erfüllen hoheitliche Auf- zip von Angebot und Nachfrage, und der gaben: Sie wollen die Personalausweise ihrer Kunden sehen. Wenn die irritiert mit den Schultern zucken, fragt das Personal nach „Dokumenta“ – das verstehen die zumeist polnischen und rumänischen Käufer, die sich in der DDR massenhaft und billig mit staatlich hoch subventionierten Waren eindecken. Körbeweise kaufen Kundinnen Wurst, Backpulver und Gewürze ein. Ihre Männer deponieren die Ware bis zur Heimreise in Schließfächern am nahe gelegenen S-Bahnhof, während sie selbst erneut auf Einkaufstour gehen. Damit soll nun Schluss sein. Die Regierung Modrow hat „unpopuläre Maßnahmen“ verkündet, mit denen der befürchtete Ausverkauf subventionierter Waren ins westliche wie ins östliche Ausland verhindert werden soll. Ostdeutsche in West-Berlin „Beteiligt euch nicht am Ausverkauf“ 170 Reisestrom der letzten Wochen drückt den Schwarzmarktpreis. Für eine Ost-Mark erhält der DDR-Bürger gerade noch fünf Pfennig West. Für denselben Betrag kann ein West-Berliner im Ostteil der Stadt zwei Pfund subventioniertes Brot kaufen. Modrow beschwört seine Landsleute, ihr hart erarbeitetes Geld „im Westen nicht wegzuwerfen“. Doch die opfern ihr Erspartes – verächtlich „Ostlappen“ oder „Kosakendollar“ genannt – gern für Waren, die sie daheim nicht kaufen können. Seit der Öffnung der Grenze am 9. November sind nach offiziellen Angaben fast drei Milliarden Mark Ost illegal nach WestBerlin und in die Bundesrepublik geschafft worden. Das Neue Forum appelliert daher an die DDR-Bürger: Beteiligt euch nicht am Ausverkauf unseres Landes ... Nehmt keine Schwarzarbeit auf, verkauft keine Kunstwerke und subventionierte Waren, tauscht keine DDR-Mark zum Schwindelkurs – die gleiche DDRMark kauft uns später die Regale leer. Doch der Aufruf verpufft – allzu begrenzt sind die Möglichkeiten, legal an die ersehnten Devisen zu kommen. Die SED, um Selbstreinigung bemüht, straft die Verursacher der Misere ab: Als Hauptschuldiger wird der ehemalige Wirtschaftslenker Günter Mittag ausgemacht. Gerhard Schürer, 24 Jahre lang Leiter der Staatlichen Plankommission der DDR, nennt Mittag nun den „Mephisto im Politbüro“. An Mittags verhängnisvollem Kurs, die Wirtschaft auf Verschleiß zu fahren, ökologischen Raubbau zu betreiben und soziale Wohltaten auf Pump zu finanzieren, hatte Parteichef Erich Honecker niemals Kritik zugelassen – mit eiserner Konsequenz führten der Generalsekretär und sein Vertrauter die DDR in den Ruin. Sonnabend, 25. November 1989 Ost-Berlin Staunend sieht das Volk, wie seine Führer wohnten. Das schrille TV-Jugendmagazin „Elf99“, erst seit September auf Sendung, zeigt das süße Leben der früheren Politprominenz im Bonzenghetto Wandlitz. Egon Krenz, die Nase immer im Wind des Wandels, hat den Privilegienpfuhl am vergangenen Wochenende fluchtartig verlassen. Er ist in ein früheres Gästehaus für westdeutsche Politiker in Pankow gezogen. Das „Elf99“-Team ist Anfang der Woche unangemeldet, aber mit laufender Kamera zu der geheimen Waldsiedlung am Nordrand Berlins gefahren, die hinter grauen Mauern versteckt ist. Am Eingang wurden die Reporter von den Wachposten abgewiesen. Ein Offizier des „Wohnobjekts Waldsiedlung“ erklärte, die Anlage sei ein „militärisch gesichertes Objekt“. Eine Drehgenehmigung müsse bei der Abteilung Agitation des SED-Zentralkomitees beantragt werden. Also fuhr das Team zum ZK-Gebäude. Dort bequemte sich ein Funktionär schließlich vor die Kamera und erklärte, die Agitationsabteilung sei aufgelöst – was zu diesem Zeitpunkt nicht stimmte. Er werde den Wunsch der „Elf99“-Redaktion aber an die SED-Spitze weiterleiten. Tags darauf rief Günter Schabowski, der PR-Mann des gewendeten Politbüros, in der Redaktion an. Nach einigen nörgelnden Sätzen darüber, warum das Fernsehen denn in dieser Wunde wühlen müsse, versprach er freien Eintritt für ein Kamerateam – von der „Aktuellen Kamera“. Nach langem Hin und Her durfte dann auch „Elf99“ mit. Den wahren Luxus bekamen die TV-Reporter nicht zu sehen: Um das Wohl der zwei Dutzend Politbüro-Familien hatten sich mehr als 600 Domestiken gekümmert. Der Hofstaat der Greisenriege erledigte alles: vom Hausputz bis zum Einkauf, von der Reparatur des Wasserhahns bis zur Gartenpflege. Sämtliche Chauffeure, Gärtner, Pförtner und Verkäuferinnen waren Stasi-Leute. Beliefert wurden die Wandlitzer von der Abteilung Kommerzielle Koordinierung des unentbehrlichen Schalck-Golodkowski, auch er ein Offizier im besonderen Einsatz der Staatssicherheit. Schalck verscherbelte die für teure Devisen gekauften Artikel zu Sonderkonditionen: westlicher Großhandels-, also Einkaufspreis plus die Hälfte der im Westen üblichen Handelsspanne – und dies dann in Ost-Mark zum Kurs eins zu eins. Ein Farbfernseher etwa, der im Großhandel für 1500 Mark zu haben ist und für 1900 bis 2000 Mark über westliche Ladentische geht, kostete die Wandlitzer nur 1700 bis 1750 Ost-Mark. Ein normaler d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite bezirk Pankow. Eine Kasernierung, argumentierte das MfS, sei aus Sicherheitsgründen unumgänglich. Jedes Politbüromitglied musste fortan nach Wandlitz. Es war ein „absurder Sicherheitskult“, urteilt Schabowski im Nachhinein. Zur Tarnung standen rund um das Gelände irreführende Schilder, die immerhin hintersinnig die Jagdleidenschaft der alten Herren spiegelten: „Wildforschungsgebiet“. Sonntag, 26. November 1989 Ost-Berlin In vielen Zeitungen des Landes erscheint ein Aufruf „Für unser Land“. Initiiert haben den Appell für die Rettung der DDR die Intellektuellen Stefan Heym, Konrad Weiß, Volker Braun und Christa Wolf: Entweder: können wir auf der Eigenständigkeit der DDR bestehen ... Oder: wir müssen dulden, dass, veranlasst durch starke ökonomische Zwänge und durch unzumutbare Bedingungen, an die einflussreiche Kreise aus Wirtschaft und Politik in der Bundesrepublik ihre Hilfe für die DDR knüpfen, ein Ausverkauf unserer materiellen und moralischen Werte beginnt und über kurz oder lang die Deutsche Demokratische Republik durch die Bundesrepublik vereinnahmt wird. Noch, meinen die intellektuellen Wortführer, gebe es die „Chance, in gleichberechtigter Nachbarschaft zu allen Staaten Europas eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik zu entwickeln“. Zum Entsetzen der gutgläubigen Initiatoren unterzeichnen – und entwerten – den Aufruf auch zwei prominente Trittbrettfahrer: Hans Modrow und Egon Krenz. J OCH E N B ÖLSCH E ; N ORBE RT F. P ÖTZL , I RI NA R E PKE , C ORDT S CH N I BBE N JÜRGENS OST + EUROPA PHOTO JÜRGENS OST + EUROPA PHOTO DDR-Bürger musste für ein vergleichbares Gerät 6500 OstMark hinblättern – sechsmal so viel, wie ein Facharbeiter im Monat verdient. Von dem Angebot wurde reichlich Gebrauch gemacht. Wirtschaftslenker Mittag etwa legte sich jedes Jahr durchschnittlich zehn TV-Geräte zu. Als das „Elf99“-Team am 23. November anrückte, waren die anstößigen West-Waren aus Wandlitz entfernt worden. StasiGeneralleutnant Günter Wolf, TV-Reporter Carpentier (r.)*: Inszenierte Enthüllung weder verwandt noch verschwägert mit Ex-Spionagechef Markus Häuser waren durchnummeriert, denn die Wolf, aber im Tarnen und Täuschen nicht Straßen der Siedlung hatten keine Namen. minder begabt, hatte die Enthüllung inNeben der Waldsiedlung standen der szeniert. Nomenklatura riesige Jagdreviere samt Der Leiter der Hauptabteilung Perso- Jagdhäusern und -personal zur Verfügung. nenschutz und Betreuung sorgte dafür, Mielke, wie Honecker leidenschaftlicher dass das Fernsehteam filmen durfte. Zuvor Weidmann, ließ das Halali von Stasi-Mänaber hatte die Stasi Kühlschränke, Fernse- nern in Jägeruniform bewachen. her und Radios, Delikatessen und TextiWenn die Strecke zu knapp ausfiel, wurlien beiseite geschafft – ins Palasthotel ge- de sie schon mal angereichert. So mussgenüber dem Palast der Republik. Als die ten Arbeiter aus dem VEB Fleischkombinat Luft wieder rein war, ließ der Stasi-Gene- Erfurt vorsorglich tiefgefrorene Hasen aufral die Ware nach Bohnsdorf in der Nähe tauen, die fürs repräsentative Foto zudes Flughafens Schönefeld karren. Auch rechtgelegt wurden. davon bekam das „Elf99“-Team Wind. Kurt Hager, ehemaliger Chefideologe Als die Fernsehleute am Lager eintrafen, der SED, kann der Vorzugsbehandlung waren jedoch gerade zwei Staatsanwälte neuerdings nichts mehr abgewinnen. dabei, die Tore zu versiegeln. Wieder gab Er wird nebst Gattin von dem TV-Team es keine Bilder von der Schieberware des auf der Straße angetroffen und wünscht sich Politbüros, aber Reporter Jan Carpentier „angesichts der Hetze, die überall getriekonnte die Staatsgewalt in ein hübsch an- ben wird, dass man das als Internierungslazuschauendes Interview verwickeln. ger erklärt“. Er habe sich nur „den BeWandlitz war der erste Versuch, Kom- schlüssen gebeugt“, als er hergezogen sei. munismus auf deutschem Boden zu verVom 31. Mai 1960 stammt der Beschluss, wirklichen: Hier zählte nicht die Leistung, dem die Prominentensiedlung ihr Entstehier bestimmten allein die Bedürfnisse der hen verdankt. Bis dahin wohnte die SEDBewohner. Die SED-Elite verfügte über ei- Führung überwiegend im Berliner Stadtnen eigenen Supermarkt, ein Gästehaus, ein Clubhaus und ein Schwimmbad. Die * In Bohnsdorf, mit Staatsanwälten. A. PACZENSKY / IMAGES.DE 100 TAGE IM HERBST: »WIR SIND EIN VOLK« Fernsehreporter, Swimmingpool in der Waldsiedlung Wandlitz: Halali mit aufgetauten Hasen aus dem Tiefkühlhaus 174 d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite 100 TAGE IM HERBST: »WIR SIND EIN VOLK« Allen Ernstes erklärte er im Dezember 1988 vor dem ZK, „das Volk der Deutschen Demokratischen Republik“ habe „einen PORTRÄT Lebensstandard erreicht wie noch nie in seiner Geschichte“ – „im Grunde genommen“ sei er sogar „höher als in der Bundesrepublik“. Den Bezug zu Land und Leuten hatte Honecker, als er gestürzt wurde, längst verloren. Da regierte der Mann, dessen Personalausweis die Seriennummer A0000001 trug, seine DDR schon jahrelang wie ein feudalistischer Despot. Das Politbüro war ein Marionettentheaelten ging es im SED-Zentralkomitee ging, desto kräftiger malten Honeckers ter. Rat nahm Honecker nur von drei Geso lustig zu wie in der Sitzung vom Hintersassen das Trugbild von der schöns- nossen an: vom Wirtschaftspapst Günter Mittag, vom Stasi-Chef Erich Mielke und 22./23. Juni 1989. Niemand ahnte, dass ten und größten DDR der Welt. Überall errichteten seine Vasallen Po- von dem Agitationsjournalisten Joachim es die letzte von Generalsekretär Erich temkinsche Dörfer. Als Honecker 1983 Ei- Herrmann. Honecker geleitete Tagung sein würde. Vorlagen waren so aufbereitet, dass Mitten in der gewohnt langatmigen Aus- senach besuchte, ließen sie entlang der sprache las der Parteichef vor, wie der West- Sightseeing-Strecke die Fassaden auch je- Honecker bloß sein „Einverstanden“ oder Berliner „Feindsender Rias“ die Bewer- ner baufälligen Häuser tünchen, die zum „Nicht einverstanden“ drauf malen mussbung Leipzigs um die Olympischen Spiele Abbruch vorgesehen waren, und hängten te. Die Paraphe „EH“ – großes E, großes H, ohne Punkt und Zwischenraum – war bis2004 kommentierte: „Also geht doch zu- Gardinen hinter die toten Fenster. Von Jahr zu Jahr jonglierte der Wirt- weilen wichtiger als Paragrafen. mindestens Erich Honecker davon aus, dass In dem DDR-spezifischen Eingabewedie DDR auch noch im Jahr 2004 existiert.“ schaftsplan mit höheren Erfolgszahlen, die Die Funktionäre fanden das so ulkig, dass auf dem Dienstweg von unten nach oben sen, das sich mangels Rechtsweg entwickelt sie in schallendes Gelächter ausbrachen. immer schöner wurden. Das bestärkte hatte, wurde der Staatschef auch zur BeHonecker und sein Kronprinz Egon Krenz Honecker in der Überzeugung, die DDR rufungsinstanz, die in keinem Gesetz vorlachten lauthals mit über das – wie sie gehöre zu den zehn führenden Wirt- gesehen war. Wer sich von irgendeiner Behörde ungerecht behandelt fühlte, meinten – Wunschdenken des Klassen- schaftsnationen der Welt. schrieb einfach an Honecker feinds, in 15 Jahren werde es oder drohte zumindest dakeine DDR mehr geben. mit, was oft auch schon half. Die führenden Parteikader Ein „EH“ an der Eingabe lebten in einem Wolkenbewirkte Wunder, denn nun kuckucksheim. Vor allem war wurde nach unten „durchgeder erste Mann im Staat, der stellt“: Die niederen Organe von anderen stets die „Anerwurden angewiesen, an Gekennung der Realitäten“ einsetzen und Vorschriften vorforderte, selbst längst reabei den Willen des Herrlitätsblind geworden. schers zu erfüllen. Willkür Honecker, urteilte Michail und Privilegienwirtschaft Gorbatschow am 1. Novemgriffen um sich. ber 1989 im Gespräch mit Katastrophal wirkte sich Egon Krenz, habe „sich ofder barocke Regierungsstil fensichtlich für die Nummer auf die DDR-Ökonomie aus. eins im Sozialismus, wenn Statt Beschlüsse des Politnicht sogar in der Welt“ gebüros herbeizuführen, schrieb halten. Der Mann habe Mittag oft Briefe an „nicht mehr real gesehen, Honecker. Wenn der sie mit was wirklich vorgeht“. seinen Initialen versah, hatDabei hatte der Dachten sie quasi Gesetzeskraft. decker aus dem saarländiWelches die hervorsteschen Neunkirchen seinen chenden Eigenschaften des Vorgänger, den Altstalinisten Generalsekretärs waren, hatWalter Ulbricht, 1971 mit te Werner Krolikowski, ebendieser Begründung geHoneckers Wohnungsnachstürzt: Ulbricht halte sich für bar im Bonzenghetto Wand„unwiederholbar“ und prolitz und in der SED-Spitze jiziere eine „übertriebene zuletzt zuständig für LandEinschätzung seiner Person“ wirtschaft, schon 1980 seinem auf die DDR. privaten Tagebuch anverTatsächlich gab es in den traut: Die Nummer eins habe ersten Jahren der Honecker„schlechten Ehrgeiz“, „EitelRegentschaft eine Tendenz keit“ und „Größenwahn“. zu mehr Pragmatismus und Der Eitelkeit des PotentaLebensnähe. Je weiter es alten schmeichelten die in den lerdings mit dem ArbeiterAmtsstuben allgegenwärtiund-Bauern-Staat abwärts Ehepaar Honecker in Chile (1993): Wasserstrahl gegen Reporter DDR-Bürger A 000 000 1 Erich Honecker: Wie ein eitler, realitätsblinder Machtmensch die DDR zu Grunde richtete ACTION PRESS S 178 d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 ADN / BUNDESARCHIV mir etwas vor und ließ mir oft etwas vortäuschen“. Kurz zuvor, beim 40. Jahrestag der DDR-Gründung, hatte Gorbatschow dem SED-Chef unter vier Augen vergebens einen ehrenvollen Rücktritt nahe gelegt, wie der Präsidentenberater Anatoli Tschernjajew berichtet. Als Honecker sich weigerte, unter Hinweis auf sein Alter und vier Operationen den Dienst zu quittieren, habe Gorbatschow ihn ein „Arschloch“ (mudak) genannt. Schwere Krankheiten, die im Sommer 1989 einsetzten, schützten den gestürzten Staatschef letztlich vor Strafe – wegen UnSED-Chef Ulbricht, Nachfolger Honecker (1968)* treue verfolgte ihn die Ost„Übertriebene Einschätzung seiner Person“ Justiz, wegen der Todesschüsse gen stark retuschierten Porträtfotos, auf an der innerdeutschen Grenze wollten ihn denen er in den letzten 20 Jahre nicht ge- West-Juristen hinter Gitter bringen. Honecker hatte sich von einer Nierenaltert war. Besuchte der DDR-Fürst die Leipziger operation gerade halbwegs erholt, da griff, Messe, musste ihn das „Neue Deutsch- am 29. Januar 1990, die Staatsgewalt zu. land“ mit jedem Gesprächspartner abbil- Eine Nacht verbrachte Honecker im Rumden – der Rekord waren 43 Honecker- melsburger Gefängnis, doch der Haftrichter entließ ihn wegen seines schlechten Fotos in einer einzigen Ausgabe. Und wenn er, weil er den Hubschrauber Gesundheitszustands. Da ihm das Domizil in Wandlitz zum ungern benutzte, mit seiner Wagenkolonne durchs Land reiste, dann wurden Auto- Monatsende gekündigt worden war, hatte Honecker faktisch kein Obdach mehr. Ein Pastor in Lobetal nördlich von Berlin erBinnen drei Jahren orderte barmte sich des Entmachteten und nahm ihn privat bei sich auf. die DDR für Honecker Im April 1990 vermittelte der Ost-Berliner Sowjetbotschafter Wjatscheslaw Kound Mittag 4864 Softpornos tschemassow dem Ehepaar Honecker Unund andere Videofilme terschlupf im Militärhospital Beelitz bei Potsdam. Als ihm dort Verhaftung drohte, für 1,3 Millionen West-Mark. wurde Honecker im März 1991 per Militärjet nach Moskau ausgeflogen. Doch Gorbatschow mochte ihm im Debahnen und Straßen stundenlang gesperrt. Eskortiert von seiner Leibgarde, ließ er sich zember 1991 nicht länger Asyl gewähren. in einem silbergrauen Citroën kutschieren, Nun ahmte Honecker nach, was ihm im von dem, um potenzielle Attentäter zu ir- Sommer 1989 zehntausende seiner Unterritieren, immer ein völlig identisches Zweit- tanen vorexerziert hatten: Er kramte ein paar Habseligkeiten zusammen und flüchexemplar mitfuhr. Seine Jagdleidenschaft ließ Honecker tete in eine Botschaft – in die chilenische. Im Juli 1992 musste der Botschaftsden Staat was kosten. Drei Jagdhäuser wurden für ihn herausgeputzt, mit flüchtling aufgeben und sich den deutschen Schwimmbädern, Tennishallen, Schieß- Strafverfolgern stellen. Doch die Diagnose ständen und Bootshäusern. Sein privater Leberkrebs beendete rasch seinen im NoFuhrpark bestand zeitweilig aus 14 Autos. vember eröffneten Prozess: Das Berliner Und binnen drei Jahren orderte die Verfassungsgericht ließ den Todkranken DDR im Westen 4864 Videofilme, vor allem am 13. Januar 1993 ins chilenische Exil zieSoftpornos wie „Die schwarze Nympho- hen, wo er Reporter schon mal mit einem manin“, für 1,3 Millionen West-Mark – je Gartenschlauch abzuwehren versuchte und zur Hälfte gingen sie an die Busenfreunde wo er, 81-jährig, im Mai 1994 starb. Als dem Häftling Honecker im Sommer Honecker und Mittag. Fehler gestand Honecker zögerlich erst 1992 eröffnet wurde, dass seine Krankheit ein, als es zu spät war. Am 1. Dezember unheilbar sei und er längstens noch zwei 1989 bekannte der Gestürzte, „dass ich das Jahre zu leben habe, reagierte der so, wie reale Leben im Lande in der letzten Zeit sich der Politiker Honecker zeitlebens vor nicht unmittelbar wahrnahm. Ich täuschte unangenehmen Einsichten geschützt hatte. Von seinen Anwälten befragt, wie er * Auf einem Staatsratsempfang anlässlich der Rückkehr mit dem tödlichen Befund umgehe, der Olympiamannschaft aus Mexiko, mit DDR-NOKantwortete er: „Ich versuche, das zu verChef Heinz Schöbel und seinem Stellvertreter Rudolf drängen.“ Norbert F. Pötzl Hellmann. d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 179 100 TAGE IM HERBST: »WIR SIND EIN VOLK« ANALYSE »Ick fühl mir wie im Krankenhaus« Korruption und Amtsmissbrauch: Die geheime Waldsiedlung Wandlitz und die Privilegien der DDR-Nomenklatura I DPA n seinem langen Leben war Willi Stoph (1914 bis 1999) Maurer, Stabsgefreiter der großdeutschen Wehrmacht, Armeegeneral der Nationalen Volksarmee, Vorsitzender des Ministerrats und des Staatsrates der DDR und – so lange er sich zurückerinnern konnte – Kommunist. Als solcher kämpfte er seit seinem 14. Lebensjahr unverdrossen für die Gleichheit aller Menschen. Ebenso wie Frau Dr. iuris publici et rerum cameralium Rosa Luxemburg war Stoph, der die KP-Gründerin gern zitierte, für die „Abschaffung aller Standesunterschiede, Orden und Titel“, jedenfalls prinzipiell und als Kommunist. Als „führender Repräsentant“ der Deutschen Demokratischen Republik, als jahrzehntelanges Mitglied ihrer „Partei- und Staatsführung“ sowie als General sah er die Dinge naturgemäß anders. Sein Wohnhaus in der geheimen Waldsiedlung Wand- Leer stehendes Honecker-Ferienhaus bei Waren (1991): Je höher der Rang, desto westlicher das Leben litz, wo 20 der 26 Mitglieder des Politbüros der SED und ihre Familien sam eingezäunte Bonzensiedlung enterte, Citroën und Volvo), ernährte sich und die lebten, war das größte und schönste, je- präsentierte die Kamera minutenlang Seinen aus „Sonderläden“, importierte denfalls vergleichsweise. Es hatte einen se- Küchen und Bäder, die chromglänzenden auch die Medikamente vom Klassenfeind. paraten Swimmingpool, einen Anbau für Nirostaspülen und funktionierenden Du- Je höher der Rang, desto westlicher das die Haushälterin, und draußen im gepfleg- schen. „Macht euch selbst ein Bild“, riet Leben. In Wandlitz stammte nicht mal das ten Garten kultivierte ein fleißiger Akade- der Reporter. Die funktionierende Sanitär- und Knäckebrot aus der DDR. Der alte Erich miker Grünzeug und Gemüse. Willi Stoph Küchentechnik made in West Germany Honecker bezog seine taillierten Anzüge mochte das. Mit seinen Nachbarn, den anderen und das großzügige Ambiente der Häuser aus dem West-Berliner KaDeWe, die Softführenden Repräsentanten wie Honecker, – rund 250 Quadratmeter Wohnfläche, pornos von Beate Uhse und die Jagdwagen Mielke, Krenz und Schabowski hatte der Holzvertäfelung, Blick ins Grüne – mach- von Daimler-Benz und Range Rover; griesgrämige Genosse wenig im Sinn. Am ten die DDR-Bürger wütend und empört. Honecker hatte vier. Der schönste war für liebsten weilte er in seinem Jagdhaus mit Wandlitz war für die Zweiraumbewohner 290 000 West-Mark aufgehübscht worden. Luxus und Komfort galten in den NoGärtnerei bei Speck an der Müritz. Das aus Plattenbauten der lang gesuchte Bemecklenburgische Domizil hatte 8,35 Mil- weis: Die da oben predigen Wasser, saufen menklatura-Kreisen als völlig selbstverständlich. Westliche Waren – wie etwa lionen Mark gekostet, nicht gerechnet den aber Wein, Moselwein. Dass die „führenden Kader“ der kleinen Aspirin von Bayer – wurden selbst dann zwei Kilometer langen, eigens gegrabenen Wasserweg von der Müritz zum Specker DDR sich nach dem Vorbild der großen See. Er erleichterte dem Weidmann die An- Sowjetunion ein komfortables Parallel-Universum aufgebaut hatten, kam nach und fahrt in sein Jagdrevier. Wer in den geheimen Orden Stophs Wochenend-Datsche im Grünen nach ans Licht. aufgenommen war, von Wer zur „Nomenklatura“ gehörte – so hatte neun Garagen und bot jeglichen Komfort, der für West-Mark zu haben war. nannte man die hauptberuflichen höheren dem die Bevölkerung nichts Auch die anderen Politbürokraten mussten Partei- und Regierungsfunktionäre, alles in sich nicht mit Plaste und Elaste aus allem mehr als 3000 Menschen –, der wusste, mit dem ging wohnte vergleichsweise herrschaftlich, hatSchkopau herumärgern. Als im Herbst 1989 ein kesses Team des te zusätzlich ein Wochenendhaus am See, es immer weiter nach oben. DDR-Staatsfernsehens die getarnte, sorg- fuhr zuverlässige West-Autos (Mazda, 180 d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 E. GRAMES / BILDERBERG geordert, wenn es haargenau das gleiche Präparat unter Ostnamen gab. Die glitzernde Warenwelt des Westens, nicht die Lehre von der Freiheit des Menschengeschlechtes, hat die kommunistischen Ideale der Arbeiterführer ruiniert. Am Ende wurde die DDR, wie deren Dissident Wolf Biermann sang, nur noch von „verdorbenen Greisen“ regiert. Das Nomenklatura-System gewährte Schutz und Fürsorge im Austausch für Parteitreue. Wer einmal in den geheimen Orden, von dem die Bevölkerung nichts wusste und dessen Existenz selbst den gewöhnlichen SED-Genossen verborgen bleiben sollte, aufgenommen war, mit dem ging es immer weiter nach oben. Die alten Ideale der Arbeiterbewegung – ihre Funktionäre sollten „wählbar, abwählbar und rechenschaftspflichtig“ sein – waren außer Kraft gesetzt. Eine Fluktuation, heute Funktionär, morgen wieder in der „materiellen Produktion“, fand nicht statt. Vor der Arbeit als Dachdecker (Honecker), Maurer (Stoph) oder Expedient (Mielke), als Kuchenbäcker (SchalckGolodkowski), Rinderzüchter (Gysi) und Schlosser (Modrow) fürchteten sich die führenden Persönlichkeiten. Ihr Ideal war ein Leben im Büro. Deshalb nannten sie ihr höchstes Gremium Politbüro und den Chef Generalsekretär. Seine Arbeit erledigte das Büro des Politbüros. Dort verdiente man rund fünfmal so viel wie ein Arbeiter. Der wahre Luxus einer gehobenen Nomenklatura-Existenz bestand jedoch nicht im Moselwein und den Bananen satt, auch nicht im Volvo fahren. Er bestand im Service. J. KOEHLER Verfallenes Gebäude in Görlitz: Beim Anblick der DDR-Wirklichkeit blankes Entsetzen DDR-Staatsjacht „Ostseeland“ Der wahre Luxus bestand im Service Jedem führenden Kader stand gut gedrilltes Personal in Hülle und Fülle zur Verfügung. Die Politbüro-Siedlung Wandlitz wurde von 641 Mitarbeitern umsorgt; für diese Privilegierten gab es Bademeister, Chauffeure, Köche und Diener ohne Zahl, sogar eine Gardinennäherin. Alle parierten ohne Widerworte. Der Leibwächter, auf dessen Schulter der alte Staatsmann Honecker sein Jagdgewehr beim Schießen abstützte, ist jetzt auf dem rechten Ohr taub. Die neofeudalistischen Lebensgewohnheiten – man ging zur Jagd, wohnte auswärts im Schloss (Mielkes war das schönste), ließ sich Orden umhängen (Mielke hatte die meisten, 274), brauchte nirgendwo Geld für Speis und Trank – wurden vor dem Volk sorgsam geheim gehalten. Nur die Inflation der Titel fiel auf. So hielt sich das Ministerium für Staatssicherheit eine eigene, geheime Hochschule, von der so viele zum „Doktor der Tschekistik“ promoviert wurden (485), dass dem Proleten Mielke die Geduld ausging: Er verbot das Führen der Doktortitel in seinem Ministerium, denn „ick fühl mir ja sonst wie im Krankenhaus“. Je länger die DDR bestand und je schlechter ihre ökonomische Situation wurde, desto üppiger wucherte der Warenhunger der Nomenklatura und desto großzügiger fielen die Geschenke aus. Dem Zentralkomitee der SED, einer Art Ständeparlament, in das jede Lobby ihre Vertreter entsandte – vom Generaloberst bis zum LPG-Vorsitzenden, vom Staats- bis zum Heilkünstler – , wollte das Politbüro, als die kleine Republik schon im Sterben lag, noch schnell 213 goldene Uhren dedizieren, jedem Nomenklaturisten eine. Deren Durchschnittsalter betrug 1989 bereits 64 Jahre. Die alten Herren hatten sich synchron zum DDR-Aufbau viele beneidenswerte Privilegien gesichert. Besonders begehrt war der „A-Schein“, er entband von den Verkehrsregeln, in Sonderheit von der dem Volk verordneten Höchstgeschwindigkeit von 100 Stundenkilometern. Im Falle eines Falles wurden Nomenklatura-Mitglieder nur sehr vorsichtig und dann von ihresgleichen zur Rechenschaft gezogen. „Sind Sie bei uns eine führende Persönlichkeit?“, hieß die tastende Frage d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 der Volkspolizisten. Wurde sie bejaht, trat der Respekt in sein Recht. Verständlicherweise suchte die Nomenklatura ihren leiblichen Kindern den lieb gewordenen Lebensstil zu sichern. Abitur und Studium, das war kein Problem. Als die Berliner Humboldt-Universität Anfang der achtziger Jahre feststellen musste, dass weniger als zehn Prozent ihrer Studenten der Arbeiterklasse entstammten, zog sie sofort die Konsequenz: Sie stellte die Statistik ein. Die Selektion des Nachwuchses aus den Kaderfamilien – sie galten als „werktätige Intelligenz“ – war so erfolgreich, dass die Humboldt-Studenten 1989/90 ganz brav blieben. Kein Graffito verunzierte die Universität. Nur ein einziger Spruch – „Unseren Heiner nimmt uns keiner“ – ist überliefert. Er sollte den Rektor, einen StasiSpitzel, retten. Beim Volk hielt sich die Trauer um die Nomenklatura in engen Grenzen. Das Verhalten der Arbeiterführer hat die Idee des Sozialismus dauerhaft ruiniert, vor allem bei den Arbeitern. Auch Erich Honecker soll sich enttäuscht gezeigt haben. Als er aus dem Ghetto Wandlitz vertrieben worden war, so berichtet es der DDR-Volkswitz, machte er mit seiner lieben Ehefrau Margot einen ersten kleinen Spaziergang. Den führenden Repräsentanten der Partei und des Staates überfiel beim Anblick der DDRWirklichkeit blankes Entsetzen: „Drei Tage ist der Egon Krenz jetzt an der Macht, und schon hat er das ganze Land zu Grunde gerichtet!“ Hans Halter Im nächsten Heft „Volksauge, sei wachsam“ – Kohl irritiert die Verbündeten – Schalcks geheimnisvolle Flucht – Das Doppelspiel des Agentenchefs 181 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Ausland Panorama TÜRKEI-GIPFEL Deal am Bosporus BALKAN Vorwürfe gegen Montenegro D as Uno-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag erhebt schwere Vorwürfe gegen die Regierung Montenegros. Sie soll mutmaßlichen Massenmördern Zuflucht gewährt und die Zusammenarbeit mit dem Tribunal verweigert haben. Die Ermittlungsrichter weisen darauf hin, dass sich der angeklagte Oberst Veselin ljivan‡anin zumindest zeitweise in Montenegro aufhält. ljivan‡anin führte 1991 im Krieg gegen Kroatien die serbisch-montenegrinischen Truppen in Ostslawonien an, die unter seinem Kommando bei Vukovar ein Blutbad an Bundeskanzler Schröder, Präsidenten Chirac und Jelzin in Istanbul Krieg beendet sei. Das Dreier-Treffen begann mit einer polternden Zurechtweisung Jelzins, der sich jede westliche Einmischung in die „inneren Angelegenheiten Russlands“ verbat – dann offerierte er, sich auf den 21. Dezember in Paris zu vertagen. Schröder und Chirac akzeptierten, forderten jedoch eine Gegenleistung: Wenigstens in der Schlusserklärung des Gipfels sollte festgezurrt werden, dass die OSZE sich alsbald um den Konflikt im Kaukasus kümmern könne. Überraschend stimmte Jelzin zu und reiste ab, das Treffen war gerettet. Außenminister Iwanow freilich nahm Freitagabend das in Artikel 23 enthaltene Versprechen wieder zurück: „Wir haben keine Vermittlungsbemühungen akzeptiert und beabsichtigen auch nicht, dies zu tun.“ Die Moskauer Presse, die durch das „antirussische“ Klima von Istanbul bereits die „Zukunft Russlands“ gefährdet sah, feierte Gipfelstürmer Jelzin als „Retter des Vaterlandes“ („Nowyje Iswestija“): „Angriff ist die beste Verteidigung, die Attacke des Gegners ist abgewehrt, der Feind zerstreut.“ negros, Milo Djukanoviƒ, im Obersten 261 Zivilisten verübt haben sollen. Auch Verteidigungsrat Jugoslawiens und segder in Den Haag angeklagte Generalnete die Kriegsabenteuer seines politistabschef der jugoslawischen Armee, schen Mentors Milo∆eviƒ mit ab. Dragoljub Ojdaniƒ, konnte sich unbehelligt zu Gesprächen mit der Regierung Montenegros in der Hauptstadt Podgorica aufhalten. Ojdaniƒ befehligte im vergangenen Jahr die Truppen im Kosovo und gilt neben Präsident Slobodan Milo∆eviƒ als Hauptverantwortlicher für Massaker an albanischen Zivilisten. Zudem weigert sich die Regierung, Dokumente über die Beteiligung Montenegros am Bruderkrieg mit Kroatien und Bosnien dem Uno-Tribunal auszuhändigen. Damals saß der heutige Präsident MonteGesuchter Kriegsverbrecher ljivan‡anin (1998) d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 185 AP in zähes politisches Tauschgeschäft rettete Ende voriger Woche in letzter Minute den Gipfel der 54 Staats- und Regierungschefs in Istanbul. „Sie haben kein Recht, Russland wegen Tschetschenien zu kritisieren“, hatte der gesundheitlich sichtbar angeschlagene Kreml-Hausherr Boris Jelzin gleich zu Beginn der Tagung seine Kollegen angefahren – deutliches Zeichen dafür, dass die Russen die Veranstaltung eher platzen lassen würden, als eine Verurteilung ihrer Militäroperation im Kaukasus hinzunehmen. Ohne ein klares Wort zum Kaukasus aber wäre die Veranstaltung am Bosporus für den Westen eine Farce gewesen. Tatsächlich fuhr sich die Konferenz schnell in unversöhnlichen Statements fest. Auch das für Donnerstagnachmittag angesetzte Treffen mit Bundeskanzler Gerhard Schröder („Krieg ist kein Mittel zur Beseitigung des Terrorismus“) und mit Frankreichs Präsident Jacques Chirac geriet in Gefahr: Die Russen signalisierten, Jelzins Aufnahmekapazität sei erschöpft. Hintergrund: Der Präsident fürchtete, das deutsch-französische Duo werde ihn ebenso hart herannehmen wie zuvor US-Präsident Clinton. Als Ersatz bot die Moskauer Delegation an, ein Treffen für den 21. Dezember in Paris oder Berlin zu verabreden – in der Hoffnung, dass bis dahin der Tschetschenien- REUTERS E Panorama M A L AY S I A Demokratisches Feigenblatt Wan Azizah, 46, Ehefrau des gestürzten malaysischen Vizepremiers Anwar Ibrahim, 52, über dessen Haft, die Opposition gegen Regierungschef Mahathir und die Neuwahlen am 29. November Parlament aufgelöst. Am 29. November wird gewählt, der Wahlkampf dauert nur elf Tage. Was treibt ihn so zur Eile? Azizah: Nächstes Jahr wären rund 680 000 Jungwähler erstmals stimmberechtigt, die meisten sind Gegner der Regierung. Mahathir regiert Malaysia seit 18 Jahren – mit Vetternwirtschaft und Korruption. SPIEGEL: Anwar möchte sich aus der Zelle um einen Sitz im Parlament bewerben. Wie kann das funktionieren? Azizah: Er ist nicht rechtskräftig verurteilt, weil wir in die Berufung gegangen sind. Und jeder Angeklagte, dessen Verfahren noch läuft, darf laut Verfassung kandidie- FOTOS: AP SPIEGEL: Frau Azizah, wie ist der Gesundheitszustand Ihres Mannes? Azizah: Er klagt immer noch über starke Kopfschmerzen. Ärzte meinen, das komme von den Faustschlägen, die ihm nach seiner Inhaftierung im September 1998 der Polizeichef zugefügt hatte. SPIEGEL: Sie behaupten auch, man habe Ihren Ehemann Anwar vergiften wollen. Die Regierung bestreitet das. Azizah: In seinen Haaren sind Spuren von Arsen festgestellt worden. Experten sagen, dies sei ein deutliches Indiz. SPIEGEL: Premier Mahathir hat Anfang dieses Monats überraschend das Ex-Vizepremier Ibrahim, Ehefrau Azizah, Premier Mahathir RUSSLAND Die Scharfmacher werden mächtiger I P. KASSIN n Moskau wächst der Einfluss von Staatsschützern und ehemaligen Agenten des früheren Sowjetgeheimdienstes KGB. Auf Vorschlag des Tschetschenien-Feldherrn und Premierministers Wladimir Putin („der Scharfmacher“, so „Die Zeit“), der bis August Chef des jetzigen Inlandsgeheimdienstes FSB war, hat Präsident Jelzin den stellvertretenden FSB-Direktor Sergej Iwanow noch einflussreicher als bisher gemacht und zum Sekretär des nationalen Sicherheitsrats berufen. Iwanow leitete in der FSB-Zentrale Lubjanka, dem einst berüchtigten Hauptquartier der sowjetischen Geheimpolizei, die Abteilung für Analyse, Prognose und strategische Planung. Zum ständigen Mitglied des Sicherheitsrats avancierte auf Jelzins Befehl auch FSB-Chef Nikolai Patruschew, 48, der 1974 zum KGB gestoßen war. Die Wiederkehr der Staatsschützer an der Moskwa gehört zur Strategie von Putin, mit Hilfe des alten Kaderstamms im Militär- und Sicherheitsapparat unter der Parole „Konsolidierung der Nation“ mit Notstandsmaßnahmen eine innere Abkehr vom Westen zu erreichen. Sein Nachfolger Patruschew, so Putin, tue jedenfalls „alles, damit der Sicherheitsdienst immer mächtiger wird“. Geheimdienstzentrale Lubjanka 186 d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 ren. Ich befürchte nur, dass die Regierung irgendeinen Trick anwendet, um das in letzter Minute zu verhindern. SPIEGEL: Als Vorsitzende Ihrer im April gegründeten Nationalen Gerechtigkeitspartei (Keadilan) treten Sie in der Provinz Penang an, dem ehemaligen Wahlkreis Ihres Mannes. Was sind die Themen? Azizah: Mehr Transparenz in dieser Gesellschaft, Schluss mit der Geldverschwendung. Mahathir hat sicherlich wirtschaftlichen Fortschritt gebracht, aber er ließ auch teure Prestigeobjekte bauen, die nur eine kleine Elite um ihn und den Finanzminister bereicherten. Er sollte die Armut bekämpfen, anstatt Denkmäler zu errichten. SPIEGEL: Sie haben in Ihr Oppositionsbündnis Alternative Front auch die fundamentalistische PAS aufgenommen, die für die Einführung der Scharia eintritt. Azizah: Die PAS bestand nicht darauf, dass unser Bündnis die Forderung nach einem islamischen Staat politisch vertritt. SPIEGEL: Mahathir sagt, wenn sein Parteienbündnis Barisan Nasional weniger als zwei Drittel der Stimmen bekomme, sei das eine Niederlage. Warum? Azizah: Mit einer klaren Mehrheit kann er die Verfassung nach Belieben ändern. Die Opposition ist für ihn lediglich ein demokratisches Feigenblatt. SPIEGEL: Wie würden Sie das System in Malaysia beschreiben? Indische Geschützstellung KASCHMIR Teurer Krieg um Berge und Gletscher W ir schneiden uns nur in den Finger, Pakistan aber wird ausbluten.“ So ironisch wertete im Sommer Indiens Finanzminister Yashwant Sinha den Höhenkrieg im Norden von Kaschmir, bei dem sich pakistanische und indische Truppen monatelang Ausland Vorstadt Huntingdon erwiesen sich als Bestseller. Der Grund: Ganz ungewöhnlich für seine Zunft beschreibt Major ohne diplomatische Schmeicheleien die Tragödie eines Pragmatikers, dem seine Parteifreunde zu wenig ideologisches Feuer vorwerfen. Ohne Schnörkel auch die Kurzporträts seiner Kollegen aus aller Welt: Clinton, ein Opportunist, der ausschließlich nach dem Stand der Umfragen entscheidet; Gorbatschow, der allem Aufbruch zum Trotz sich nicht aus seinen kommunistischen Fesseln befreien kann; Mitterrand, der von Wirtschaft ebenso wenig versteht wie Gorbatschow, dafür aber seine Kollegen mit großem historischem Atem anödet. Was das Buch auch für Nicht-Briten lesenswert macht: Wie kaum jemand vor ihm beschreibt Major, auf welch masochistische Art sich Großbritannien aus dem Kreis der europäischen Vormächte verabschiedet hat. Ungerührt schildert er Thatchers zunehmend hysterische antieuropäische Ausfälle. Ohne jedes Selbstmitleid beschreibt er seinen immer peinlicheren Spagat zwischen den europäischen Partnern und den verfeindeten Lagern der eigenen Partei. Selten wurde der Marsch des Vereinigten Königreichs in den Schmollwinkel Europas präziser nachgezeichnet. BÜCHER Guter Mensch von Huntingdon „Petronas“-Doppeltürme in Kuala Lumpur Azizah: Nach der Verfassung ist es eine konstitutionelle Monarchie. Aber in einer Kabarettvorstellung hieß es neulich, die würde bei uns gerade umgekehrt funktionieren wie in Großbritannien. In Malaysia bleibt der Premier ein Leben lang im Amt, und der König wechselt hin und wieder. BALDEV / CORBIS SYGMA Artillerieduelle um die Serpentinenstraße National Highway 1-A lieferten. In Wirklichkeit aber kamen die Scharmützel und die Rückeroberung strategisch wichtiger Gipfel im Grenzgebirge des Himalaja Indien teuer zu stehen: Sie belasten das Budget Neu-Delhis mit 1,2 Milliarden Dollar und liegen damit weit über der ursprünglichen Schätzung Sinhas, der von nur 250 bis 350 Millionen Dollar ausgegangen war. Weil Indien auch im Winter die Höhenzüge an der Waffenstillstandslinie zu Pakistan besetzt halten will, muss Sinha sogar noch weitere 600 Millionen Dollar bereit stellen. Pakistan hat damit ein selbst erklärtes Kriegsziel erreicht und Indiens Kosten für die Versorgung des Siachen-Gletschers im äußersten Norden Kaschmirs vervielfacht, den indische Truppen seit 1984 kontrollieren. „Das war immer unsere Absicht“, erklärt Rashid Qureshi, Sprecher der Streitkräfte Pakistans im Armeehauptquartier von Rawalpindi, „die Inder sollen für den Gletscher teuer bezahlen.“ r galt als das graue Nichts zwischen der konservativen Revolution seiner Vorgängerin Margaret Thatcher und dem Cool Britannia seines Nachfolgers Tony Blair. Zuweilen empfand er selbst die sechseinhalb Amtsjahre in 10 Downing Street als derart unglücklich („zu wenig wagemutig, zu defensiv, nur noch reagierend“), dass der glücklose John Major die eigene Abwahl als eine Art Happy End interpretieren konnte: die Befreiung eines aufrechten, vielleicht etwas tumben Toren, der es zu früh zum Außenminister, Schatzkanzler und Premierminister gebracht hatte, aus einem Sumpf von parteiinterner Tücke und Verrat. Den unvermeidlichen Memoiren des abgewählten Premiers*, das galt schon im Voraus als sicher, war ein ähnliches Schicksal vorherbestimmt – bestenfalls schnell vergessen. Es kam anders: Die Erinnerungen des konservativen Abgeordneten aus der Londoner * John Major: „The Autobiography“. Harper Collins Publishers, London 1999; 776 Seiten; 25,00 Pfund. dort die Einhaltung der Menschenrechte anmahnen – denn die werden von Iraks Führung mit Füßen getreten. Der Papst hat sich in den Kopf gesetzt, im „Heiligen Jahr“ 2000 die zentralen Orte der christlichen Geschichte zu besuchen: angefangen bei Ur, wo Abraham seinen Weg nach Palästina begonnen haben soll, bis zu den Jesus-Orten Nazaret, Betlehem und Jerusalem. Wenn man „durch so viele Länder vagabundiert“ sei, davon ist der Reiselustige überzeugt, müsse man „am Ende an diesen heiligen Orten ankommen“. VA T I K A N Papst besucht Saddam N och vor seiner Tour durchs Heilige Land will Papst Johannes Paul II. in den Irak reisen. Geplant ist der Besuch für Ende Januar kommenden Jahres. Die Reise des Katholikenoberhaupts in die Heimat des biblischen Urvaters Abraham, die historische Stätte Ur, ist heftig umstritten. Die Amerikaner und Engländer, die einstigen Anführer im Golfkrieg gegen den Irak, haben Sorge, dass der Papst den „Teufel von Bagdad“, wie sie Präsident Saddam Hussein nennen, aufwerten und mit neuer Legitimation versehen könnte. In der Tat hat die staatliche irakische Nachrichtenagentur Ina vorige Woche päpstliche Höflichkeitsfloskeln in einem Schreiben an Saddam Hussein sofort propagandistisch umgesetzt: Der Papst habe dem Präsidenten seine „Freundschaft“ versichert und hinzugefügt, er „bete für Sie und Ihr Volk“. Dabei ist auch dem Diktator in Bagdad keineswegs nur wohl bei dem Gedanken an den hohen Besuch des eigenwilligen Polen. Der will d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 AP DPA E Johannes Paul II. 187 Ausland USA Supermacht sucht Saubermann AP M. PETERSON / SABA Zehn Wochen vor den ersten parteiinternen Vorwahlen liegen die Präsidentschaftsbewerber im Wettstreit um Werte und Würde: Peinlich berührt von den Affären der Clinton-Ära, sehnen sich die Amerikaner nach einem integren Kandidaten für den Job im Weißen Haus. Konkurrenten Bush, Gore im Wahlkampf: Präsidentensohn und Vizepräsident genießen einen Bonus, doch ihr Vorsprung schrumpft D er heilige Gral aller aufrechten USKonservativen hat 40 Kilometer nordwestlich von Los Angeles seinen Schrein: Der ockerfarbene Flachbau der „Ronald Reagan Presidential Library“, ein weitläufiges Anwesen im Stil spanischer Landgüter, dokumentiert mit 75 000 Exponaten die unglaubliche Karriere des Kaliforniers – vom Bademeister zum mächtigsten Mann der Welt. Diese Weihestätte für den Ex-Präsidenten, der nach der Parteilegende mit seinem Feldzug gegen das „Reich des Bösen“ den Kommunismus im Alleingang besiegte, hatte sich George W. Bush, 53, ausersehen, um vorigen Freitag seinen außenpolitischen Kurs „für eine Welt auf dem Weg zum Frieden“ abzustecken. Vor der grandiosen Kulisse der ausgedörrten, staubbraunen Santa Susana Berge, zu Reagans Schauspielerzeiten noch Drehort für Wildwestfilme, stellte sich der texanische Gouverneur als Sachwalter sei188 nes Vaters vor, der Ronald Reagan 1989 ins höchste Amt Amerikas nachgefolgt war – und als politischer Enkel des noch immer beliebten Populisten. Mit dem symbolträchtigen Auftritt wollte Bush Junior nicht nur das Anrecht auf die republikanische Erbfolge für sich reklamieren, seine außenpolitische Grundsatzrede und die Forderung nach einem „deutlich amerikanischen Internationalismus“ machten klar, dass das Vorgeplänkel für die Präsidentschaftswahlen im nächsten Jahr vorüber ist und der Aufgalopp der Kandidaten begonnen hat. Auch die Rivalen preschten vor. Schon Anfang vergangener Woche hatte Vizepräsident Al Gore, 51, ebenfalls die Westküste besucht; sein demokratischer Konkurrent, Ex-Basketballer Bill Bradley, sammelte bei einer Galavorstellung mit Sport- und Filmstars im New Yorker Madison Square Garden Stimmen, Sympathien und Spendendollars. d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Zwölf Monate vor dem Wahltag am 7. November 2000 ist bei Demokraten wie Republikanern das Bewerberfeld dichter zusammengerückt. Alle Aspiranten drücken jetzt aufs Tempo: Der Reigen der „Primaries“ – der wichtigen parteiinternen Vorwahlen – beginnt Ende Januar mit Entscheidungen in Iowa und wenig später in New Hampshire. Auch Bushs aussichtsreichste republikanische Mitbewerber, Vietnam-Veteran und Senator John McCain sowie Milliardär Steve Forbes, stiegen mit großen Fernsehkampagnen in das Nominierungsrennen ein. Sogar die beiden Außenseiter-Bewerber um die Kandidatur der Reformpartei – der rechtsextreme Ideologe Pat Buchanan und der Baulöwe Donald Trump – bestritten vorige Woche Wahlkampftermine. Zwar analysiert der ebenfalls anschwellende Medientross jede Geste der Rivalen und wägt jede Nuance ihrer Reden ab, doch in den politischen Entwürfen der FOTOS: SIPA PRESS (li.); AP ( re.) Ex-Basketballer Bradley, Veteran McCain im Wahlkampf: Jagd auf den Spitzenreiter der eigenen Partei C. BORNIGER / AGENTUR FOCUS Auch bei den Rivalen menschelt es: SeMöchtegern-Präsidenten fanden sie bislang würdigen Nachfolger alle Themen überlawenig Substanz: Die Pläne, mit denen sie gert, an denen sich die rivalisierenden Kan- nator McCain aus Arizona stellt mehr Hilfe für „arbeitende Familien“ in Aussicht, Amerikas Defizite ausgleichen wollen, ad- didaten messen lassen könnten.“ Clintons Charakterdefizite sind aller- Milliardär Steve Forbes fordert „größere dieren sich nicht zu neuen Perspektiven. „Nur Töne“, rüffelte der „New Yorker“, dings nicht der einzige Grund, warum die Freiheit daheim wie im Ausland“. Der steiPolitiker sich auf stimmungsvolle Allge- fe, stets distanziert wirkende Gore gibt sich „aber keine Musik.“ Ausgerechnet am Vorabend des neuen meinplätze verlegen. Trotz aller rhetori- als Kumpel und verspricht „Ich kämpfe für Millenniums, das in allen Wahlkampfreden schen Auseinandersetzung haben sich die euch“, Bradley verheißt gar die Neuauflage als „Herausforderung“ beschworen wird, Bewerber beider großen Parteien in vielen des „Amerikanischen Traums“. In Abwesenheit inhaltlicher Kontroverbieten die Kandidaten nur politische Pla- Fragen einander verblüffend angenähert. Selbst bei kontroversen Themen wie Ab- sen blieben auch die zum Medienereignis titüden. Fehlen die Visionen? Sicher ist, dass der erste Urnengang im treibung, Schusswaffenkontrolle oder Steu- hochgeredeten TV-Debatten der Bewerber neuen Jahrtausend, bei dem es um die erreform sind fast alle Wahlkämpfer auf blutarm. Beim ersten Auftritt vor handverlesenen Demokraten tauschten Gore Wahl des Präsidenten und die Mehrheit im Ausgleich und Kompromiss bedacht. Denn in der „moderaten Mitte“, so je- und Bradley nur höfliche Floskeln aus. Bei US-Kongress geht, weniger von politischen Kontroversen beherrscht wird als von De- denfalls sieht es der Politologe James Thur- den Republikanern geriet der Talkshowbatten um Anstand und Moral, Vertrauen ber von der Amerikanischen Universität Auftakt erst recht zum Flop – Spitzenmann und Ehrlichkeit. Bei unverändert starkem in Washington, ballt sich das Wechsel- Bush glänzte durch Abwesenheit. Statt inhaltlicher Auseinandersetzung Wirtschaftswachstum und verbreiteter Pro- wähler-Potenzial unter den 200 Millionen sperität stehen wolkige Werte, nicht knall- stimmberechtigten Amerikanern. Und ge- dominieren schöne Bilder: Die Werbung nau deswegen „vermeiden die Kandidaten der Wahlkämpfer, unterlegt von fetzigem harte Konzepte zur Wahl. Pop oder öliger Klassik, erzählt von LandDenn am Ende der achtjährigen af- politische Extreme“. So rügt Bush Jr. schon mal den radika- schaften, Menschen und Momenten, welfärenreichen Amtszeit von Bill Clinton wünschen sich die Amerikaner wieder ei- len Sozialabbau seiner erzkonservativen che die Kandidaten prägten, und beschert nen Präsidenten, zu dem sie aufblicken Parteifreunde als „herzlos“ und geht auf sentimentale Erinnerungen an Familie und können, eine charakterfeste Vaterfigur, die Distanz zu ultrareligiösen Rechten. „Seine Jugend – die private Vergangenheit scheint Intelligenz und Integrität ausstrahlen soll. Parole vom mitfühlenden Konservativis- wichtiger zu sein als die politische Zukunft. In dieser Kür der Charakterdarsteller Die Supermacht sucht einen Saubermann. mus“, so ein demokratischer WahlkampfNicht länger soll das Weiße Haus in stratege neiderfüllt, „gehört patentiert – holen die derzeit Zweitplatzierten – Deden Ruch einer Absteige geraten, in der sie verbindet Nächstenliebe mit dem mokrat Bradley und Republikaner McCain – auf. Beide, der eine als ehemaliger SportÜbernachtungen in historischen Schlaf- Appell zur Selbsthilfe.“ star, der andere als Kriegsheld, zimmern an dollarschwere Parteispender vermittelt werden. Das Weißes Haus in Washington: Debatte um Anstand und Moral sind Teil des Mythos Amerika. Das Duo punktet, so „Newsweek“, mit Amtszimmer des Präsidenten, einer „Aura der Authentizität“. durch Clintons Quickie-Sex zum Basketball-Star Bradley, 56, der „Oral Office“ degradiert, soll wie1964 als Kapitän der Olympiader die Würde einer Weltmacht mannschaft in Tokio die Russen ausstrahlen. besiegte, war stets erfolgreich: „Bill Clinton hat die AtmosphäNoch während seiner Sportkarriere dermaßen mit Zweifeln an seire studierte der Rhodes-Stipendiat nem Charakter durchsetzt“, in Cambridge und Princeton. Als schrieb die „Washington Post“, er nach 18 Jahren im US-Senat „dass die Suche nach einem glaub189 Ausland FOTOS: AP 1996 der Politik den Rücken kehrte, gelang anderen Bewerber. Denn ihm wird nicht ihm ein schneller Aufstieg zum erfolgrei- nur Anteil an den unbestrittenen Erfolgen chen Wirtschaftsberater. der vergangenen acht Jahre gutgeschrieDer Ex-Senator, verheiratet mit einer ben. Bleischwer trägt Gore am Ballast deutschstämmigen Literaturwissenschaft- des affärengeplagten Weißen Hauses: lerin, pflegt ein professorales Image – bis „Clinton-Müdigkeit“ nennen die Wahlhin zum schlecht sitzenden Konfektions- kampfforscher dies politische Handicap. anzug – und setzt auf seinen guten Ruf. „Er Alle Anstrengungen, sich von Clinton ist ein Hit“, rühmt ihn ein früherer Team- zu distanzieren und das Image eines unkollege von den New York Knicks, „und verbesserlichen Langweilers abzustreifen, H-I-T steht für Ehrlichkeit (Honesty), An- gerieten zum Fiasko. Seit obendrein beständigkeit (Integrity) und Glaubwürdig- kannt wurde, dass Gore die feministische keit (Trust).“ Im Heimatstaat New York Autorin Naomi Wolf für ein Monatsgehalt liegt er in Umfragen bereits deutlich vor von 15 000 Dollar angeworben hatte, um dem Konkurrenten Gore. ihm – dem ewigen Zweiten – das Verhalten Ähnlich positive Charaktereigenschaf- eines aggressiven „Alpha-Männchens“ anten wie Bradley kann auch der republika- zutrainieren, spottet die Nation über die nische Senator McCain, Versuche des Vize, sich 63, für sich reklamieren. „neu zu erfinden“. Der Sohn und Enkel In diesem Punkt zuberühmter US-Admiramindest hat Gouverneur le wurde 1967 bei seiBush es leichter. Zwar ist nem 23. Einsatz als Maseine vergangene Woche rineflieger über Vietnam publizierte Lebensgeabgeschossen. Er verschichte nicht gerade brachte über fünf Jahre eine fesselnde Heldenlein Gefangenschaft, wurgende. Doch der fliede gefoltert und musste Sohn, Vater Bush (1968) ßend Spanisch spreein „Geständnis“ unterchende Texaner kann schreiben. zumindest auf eine bürgerliche Karriere als GeHeute kann der Polischäftsmann in der Erdtiker aus Arizona, der ölbranche zurückblicken 1982 als Seiteneinsteiger und reüssierte als Manain die Politik wechselte, ger und Mitbesitzer eiseine Vergangenheit als nes erfolgreichen SportWahlempfehlung nutclubs. zen. Das Haft-Epos Dass der Gouverneur „Glaube meiner Väter“, in seiner Jugend als im September als Buch Trinker und Frauenheld erschienen, erklomm bekannt war und dabei rasch die Bestsellerliswomöglich auch Drogen ten; den ursprünglich geausprobiert hat, dürfwaltigen Rückstand zum te ihm eher als PlusRivalen Bush konnte er punkt angerechnet werschnell verringern. den: Bush Junior unterNeben solch romanscheidet sich dadurch reifen Biographien wirkaum vom Durchken die geordneten Le- Präsident Nixon, McCain (1973) schnittsamerikaner. bensläufe von George Das gilt allerdings ebenso für die außenW. Bush und Al Gore banal: Der Gouverneur von Texas verdankt vor allem seinem politische Kompetenz des Kandidaten: Ein Namen den Aufstieg zum republikanischen Fernsehinterview mit Testfragen zur aktuSpitzenbewerber. Nicht zuletzt mit der ellen Weltpolitik entlarvte unlängst klafHilfe seines Vaters konnte er eine Wahl- fende Lücken. „Ich habe mich nie für ein kampfkasse von 60 Millionen Dollar zu- großes Genie ausgegeben“, gestand der sammenbetteln – eine auch für US-Ver- Gouverneur nach dem blamablen Quiz, „trotzdem bin ich ganz schön aufgeweckt.“ hältnisse astronomische Summe. Auch damit outete sich George W. Bush Nach acht Jahren an der Seite Bill Clintons ist Vizepräsident Gore zwar der logi- als wahrer Erbe Ronald Reagans: Der nämsche Spitzenkandidat seiner Partei. Aber lich brachte schon vor seiner Alzheimer-Erder Sohn einer Politikerdynastie aus Ten- krankung die Namen fremder Länder nessee, in der Penthouse-Etage eines durcheinander und vergaß auch mal die Washingtoner Nobelhotels aufgewachsen, seiner Kabinettsmitglieder. „Ich habe gesunden Menschenverstand wirkt wie das genaue Gegenteil eines Volkstribuns, seine pfeilgerade Polit-Kar- und guten Instinkt“, rühmt der derzeit aussichtsreichste Präsidentschaftsbewerriere bietet keinen Stoff für Legenden. Da nützt es wenig, dass Gore sich durch ber die eigenen Qualitäten: „Das ist es, Fleiß, Intelligenz und Erfahrung besser für was das Volk von seinem Führer erwardas Präsidentenamt qualifiziert hat als alle tet.“ Stefan Simons 190 d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite AP Ausland Erdbebenschäden in Düzce: Der geologische Zufall traf eine dünn besiedelte Region TÜRKEI Warten auf das Killer-Beben Nach dem zweiten schweren Erdstoß in drei Monaten versetzen einander widersprechende Warnungen von Seismologen die Bewohner von Istanbul in Panik. K urz nach Mittag kam Boris Jelzin aus Moskau, ein paar Stunden später Jacques Chirac aus Paris, vor Einbruch der Dämmerung kehrte US-Präsident Bill Clinton von einem Tagesausflug an der türkischen Ägäis zurück. Hochrangige Abgesandte aus 54 Staaten trafen am vergangenen Mittwoch zum OSZE-Gipfel in Istanbul ein. Die NationalhymnenKapelle war gar nicht erst ausgerückt, denn die Maschinen landeten zeitweise im Minutentakt. Die Gastgeber am Bosporus sahen den diplomatischen Empfangsreigen mit Wohlwollen, doch wirklich interessiert hat sie das größte außenpolitische Defilee in der türkischen Geschichte nicht. Die ängstlichen Blicke der Istanbuler gehen seit Tagen am Atatürk-Flughafen vorbei Richtung Süden, ein paar dutzend Kilometer hinaus aufs Marmarameer, wo in mehr als 15 000 Metern Tiefe eine geologische Sollbruchstelle verläuft – die so genannte Marmara-Sektion der Nordanatolischen Ver- Bewegtes Anatolien Die kleinere Anatolische Platte liegt im Schnittpunkt der eurasischen, arabischen und afrikanischen Kontinentalplatten. Durch die Verschiebung der Kontinentalplatten entstehen Spannungen, die sich in Erdbeben entladen. Bewegungsrichtung tektonischer Platten Ränder tektonischer Platten werfung, an der die Eurasische und die Anatolische Kontinentalplatte aufeinander stoßen. Von dort unten, darin sind sich Seismologen einig, wird irgendwann im Verlauf der kommenden Jahrzehnte ein schwerer Erdstoß die Region erschüttern. Noch arbeiten Forscher weltweit an zitierbaren Wahrscheinlichkeitswerten, doch das Risiko eines weiteren „Killer-Bebens“, so die „Turkish Daily News“, am Bosporus ist vermutlich ebenso hoch wie in der Bucht von San Francisco: Dort liegt die Wahrscheinlichkeit eines „big one“, also eines Bebens von mehr als 6,7 Punkten auf der Richterskala, für die nächsten 30 Jahre bei 70 Prozent. Dass Istanbul in einer extrem gefährdeten Zone liegt, weiß man seit Beginn der modernen Seismographie. Geophysiker beschreiben die tektonische Grundlage, auf der die Ägäis und Teile der westlichen Türkei ruhen, als „breiigen, zersplitterten Mischmasch“, dessen Bruchlinien sich permanent öffnen, wieder „zuheilen“ und die dabei entstehenden Spannungen von Verwerfung zu Verwerfung weitergeben. Nach dem schweren Beben vom August, bei dem mehr als 17 000 Menschen ums Leben kamen, war aus dieser akademischen Gewissheit eine alltägliche Angst geworden: Tagelang übernachteten Bewohner der südlichen Stadtteile Istanbuls im Freien; wer es sich leisten konnte, ließ sich Statiker ins Haus kommen, um die Stabilität seiner Wohnung zu prüfen. Die Immobilienpreise im vermeintlich sicheren Norden der Stadt zogen an. Drei Monate nach der Katastrophe legte sich die Angst allmählich. Auch im japanischen Kobe und im kalifornischen San Fernando Valley, trösteten sich viele, waren den verheerenden Erdstößen zahlreiche Nachbeben gefolgt, ohne größeren Scha- jüngste Erdbebenherde Schwarzes Meer Eurasische Platte Düzce 12. Nov. Istanbul Eurasische Platte Izmit 17. Aug. Anatolische Platte Athen 7. Sept. Afrikanische Platte Arabische Platte Arabische Platte Mittelmeer Afrikanische Platte 192 d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Ausland „Der Staat tut alles ihm Mögliche, der Rest liegt bei Gott“ chem der zahlreichen Seitenarme der Verwerfung im Marmarameer man dabei beginnen sollte, blieb ebenso unklar wie die technische Machbarkeit eines solchen Verfahrens. Am Dienstag schließlich mahnte Ministerpräsident Bülent Ecevit die Seismologengemeinde zur Ruhe: Der Staat tue alles, was er zur Verhinderung einer Katastrophe tun könne, der Rest liege bei Gott. Die geologische Deutungshoheit am Bosporus konzentriert sich seither wieder 194 d e r auf Ahmet Mete Isikara, 59, den Leiter der Istanbuler Erdbebenwarte. Isikara, ein grauhaariger Gelehrter mit Hosenträgern und Einstein-Gesicht, war nach dem Erdbeben vom August schlagartig berühmt geworden. Zeitungen kürten den Forscher, an dessen Lippen die Nation hängt, zum „erotischsten Mann der Türkei“; seine Prognosen werden verschlungen wie Sprüche des Orakels von Delphi. Dass Isikara im August die Bewohner der Millionenstadt Bursa – wie sich später herausstellte grundlos – mit der Warnung vor einem schweren Nachbeben in Panik versetzte, hat man ihm inzwischen verziehen. Seit dem Beben von Düzce folgt der Doyen der türkischen Geophysik nun dem Tagesbefehl seines Premiers, dessen besonderes Vertrauen er genießt: Beruhigung und nochmals Beruhigung. „Die Bevölkerung“, sagt Isikara, „soll sich nicht mit Spekulationen über Ort und Zeitpunkt eines großen Bebens verrückt machen, sondern Vorkehrungen treffen.“ Der Ballungsraum Istanbul sei auf eine Erdbebenkatastrophe denkbar schlecht vorbereitet: 15 Millionen Menschen leben in einer Stadt, deren Häuser zum größten Teil an allen Bauvorschriften vorbei errichtet wurden. Da liege die Verantwortung bei jedem Einzelnen. Mit einer überraschenden Frohbotschaft, die diesem Appell freilich glatt zuwiderläuft, ging der Geophysiker am vergangenen Mittwoch an die Öffentlichkeit: Messungen einer Ölgesellschaft hätten ergeben, dass die Hauptlinie der Nordanatolischen Verwerfung etwa 50 bis 60 Kilometer südlich von Istanbul verlaufe, also 30 Kilometer weiter entfernt als bisher angenommen. Die Schäden bei einem möglichen Erdbeben dürften also geringer ausfallen als befürchtet. Isikaras Kollegen und viele Istanbuler, die das Beben vom August in den Süddistrikten der Stadt erlebt haben, mögen dem Forscher dabei allerdings nicht folgen. Den gesunden Menschenverstand, in Situationen persönlicher Bedrohung ein besonders treuer Verbündeter, haben sie auf ihrer Seite: Am 17. August lag das Epizentrum des Bebens sogar 80 Kilometer südöstlich von Istanbul, und dennoch stürzten im Stadtteil Avcilar ganze Straßenzüge von Häusern ein. Mehr als 1000 Istanbuler kamen ums Leben. Bernhard Zand s p i e g e l M. GÜLBIZ / AGENTUR FOCUS den anzurichten. Nach dem Beben von Izmit, so die Hoffnung, werde nun erst einmal Ruhe sein – wenigstens für die Spanne eines Menschenlebens. Der erneute Erdstoß im nordwesttürkischen Düzce am 12. November hat diese Hoffnung als trügerisch entlarvt. Zwar lag die Opferzahl mit mehr als 600 Toten diesmal weit niedriger als im August, und die Rettungsmaßnahmen liefen schneller an. Doch daran hatte auch der geologische Zufall seinen Anteil: Die Region um Düzce ist wesentlich dünner besiedelt als die Küsten des Marmarameeres. Genauso gut hätte sich die Spannung an einem der weiter westlich gelegenen Äste der Nordanatolischen Verwerfung entladen können – und dann wäre Istanbul Schauplatz der Katastrophe gewesen. In der 15-MillionenMetropole brach nach dem Beben von Düzce Panik aus. Gerüchte von einem unmittelbar bevorstehenden Beben an der Marmaraküste gingen um. Zu hunderten flohen am vergangenen Montag die Be- Seismologe Isikara wohner des bereits im August schwer getroffenen Stadtteils Avcilar Richtung Norden. Zeitweise fielen die Mobilfunknetze im Istanbuler Südwesten aus; der Autobahnverkehr Richtung Osten, auch unter normalen Umständen überlastet, kollabierte vollends. Ein gutes Dutzend – einander zum Teil widersprechender – Seismologen heizte die Stimmung zusätzlich an. Auf allen Fernsehkanälen wurden komplexe geophysische Karten gezeigt, vermeintliche Bruchsysteme analysiert und Krisenszenarien durchgespielt. Selbst die künstliche Sprengung von besonders gefährdeten Störungslinien wurde erwogen – freilich: Mit wel- 4 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Ausland Russische Raketenwerfer beim Angriff: Mit dem gesamten Waffenarsenal gegen ein Völkchen von 400 000 Unbequemen AFP / DPA TSCHETSCHENIEN „Die Russen kämpfen feige“ FOTOS: C. NEEF / DER SPIEGEL Ungeachtet weltweiter Proteste setzt Moskau seine gnadenlose Intervention in der abtrünnigen Kaukasusrepublik fort. Sie trifft immer härter die Zivilbevölkerung. Trotz militärischer Rückschläge hoffen die tschetschenischen Kämpfer auf eine baldige Wende. Zerstörtes Stadtzentrum von Grosny: Alle paar Minuten schwere Einschläge E s ist eine schlimme Nacht, mit Eisregen und Sturmböen. Der Bergfluss Argun brodelt seit Stunden schon. Er hat das Schrottauto am Ufer über und über mit Schlamm bespritzt. Der Wagen Marke „Wolga“ steht mit der Schnauze Richtung Georgien und trägt statt des Kennzeichens ein handgemaltes Schild: Es verkündet, dass dieses Auto zu „Itschkerija“ gehört, zur abtrünnigen Kaukasusrepublik der tschetschenischen Muslime. Neben einer notdürftig getarnten 196 Bretterhütte markiert das Vehikel den einzigen noch von Tschetschenen verwalteten Grenzübergang. Nur wenige stolpern diese Nacht den Pfad hinunter in den Rebellenstaat. Die meisten nehmen den umgekehrten Weg, am kümmerlichen Hoheitssymbol vorbei die Berge hinauf, Richtung Süden – ins rettende Georgien. Dabei ist auch der kleine Saïd aus Grosnys Vorstadt Prigorod. Dem Siebenjährigen kommt es vor wie ein böser Traum, d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 dass er in stockfinsterer Dunkelheit frierend und zitternd an dieser Stelle steht. Statt sich in wenigen Stunden auf den morgendlichen Weg zur Schule zu machen, ist der Erstklässler mit seiner Mutter auf der Flucht. Der Krieg war ihnen jede Minute auf den Fersen. Bei Schatoi hatten die Russen die einzige Straßenbrücke zerbombt. So blieb nur das Durchqueren des reißenden Flusses. Zweimal beschossen Flugzeuge den Treck, kurz vor der Grenze löschten Raketen das Leben einer ganzen Flüchtlingsfamilie aus. Und noch immer können sich Saïd und seine Mutter nicht sicher wähnen. Georgiens Grenzer, die am malerischen Bergdorf Schatili auf Wacht stehen, lassen zwar Frauen und Kinder durch – aber keine Männer zwischen 16 und 60. Doch um nach Tiflis zu gelangen, muss noch das 3000 Meter hohe Bärenkreuz bezwungen werden – ein verschneiter und vereister Pass, über den lediglich ein schmaler Geröllweg führt. Wer 200 Dollar erübrigen kann, für den stehen Taxifahrer mit Geländewagen bereit. Die Fahrt freilich ist ein Horrortrip: Der kleinste Ausrutscher, und sie endet im Abgrund. Die Georgier spüren den russischen Druck. Moskau hält den Weg entlang des Argun für jene Trasse, über die der Waffenund Munitionsnachschub für die Freischärler der Rebellenrepublik läuft. Eine absurde Beschuldigung: Kein Lastwagen würde die Passage schaffen. Trotzdem haben die Russen vor Schatili jetzt Plastikminen abgeworfen – direkt auf georgisches Gebiet. Sie drohen, den Nachbarstaat mit in den Krieg zu reißen. von Schweizern erbaute Mühle Selbst die tschetschenischen gesprengt. Wegen der zerstörten Kämpfer in ihrer Bretterbude Brücken kommen indes ohnehin fühlen sich ungemütlich. Wegen keine Lebensmittel mehr nach der Bombenangriffe haben sie Itum-Kale durch. Der Ort ist abihr Quartier 200 Meter höher in geschnitten. die Berge verlegt. Die bärtigen Madina Machaschewo, 35, bieMänner, die bunte Pullover mit tet in ihrem Dorfladen nur noch Aufschriften wie „Chicago eingelegte Gurken und Tomaten Bulls“ und „High Performance“ feil, Zigaretten der Sorte „Pritragen und aus Emailleschüsseln ma“; dazu Senfpflaster, StreichNudeln mit dünnen Fleischhölzer, ein paar Knoblauchzestückchen löffeln, kümmern sich hen und einen 99er Kalender mit kaum um die Grenzgänger. Sie dem Bild der Backstreet Boys. haben nur einen Auftrag: zu verVon 5000 Einwohnern sind noch hindern, dass die Russen an die3000 im Dorf, auch Frauen und ser Stelle Luftlandetrupps abKinder. Den meisten fehlt für die setzen. Flucht das Auto oder einfach nur In der Hütte hängt ein Plakat Geld. Wer noch Mehl hat, backt mit dem Bildnis des im ersten Frontchef Islamow, Kämpfer: Verräter unter den Tschetschenen Brot für die anderen mit. Krieg vor dreieinhalb Jahren geWenn es nur so wäre. Doch die TscheFreischärler gibt es nicht im Ort. Trotzfallenen Tschetschenen-Führers Dschochar Dudajew. Das Poster ist eingerissen und tschenen bekommen den Gegner kaum zu dem schlugen jetzt zwei Bomben ein. Eine verblasst, es wirkt wie ein Symbol dafür, Gesicht. Der ist in seinen Bombern uner- traf den Friedhof, auf dem gerade eine Bedass den Kaukasiern im Kampf gegen die reichbar. „Die Russen kämpfen feige nach erdigung stattfand, zwei Frauen wurden Russen das hehre Ziel abhanden gekom- der Methode Kosovo“, sagt Rasan Maga- durch Splitter schwer verletzt. Der eigentliche Krieg findet 50 Kilomemen ist. Längst geht es nicht mehr um den madow, 70, der Lehrer von Itum-Kale, dem Traum von der eigenen Unabhängigkeit. ersten größeren Dorf auf tschetschenischer ter nördlich statt. Gudermes, TscheNur noch Hass treibt die Männer an – ge- Seite. „Sie haben keine Terroristen im Vi- tscheniens zweitgrößte Stadt, haben die gen die Eindringlinge aus dem Norden, die sier, sie selbst terrorisieren die Bevölke- Russen genommen. Nun schießen sie die Dörfer rund um Urus-Martan sturmreif, diesen zweiten Krieg mit bislang unbe- rung, um uns zur Aufgabe zu zwingen.“ Um die Brotversorgung der Region zu eine stark besiedelte Gegend südwestlich kannter Grausamkeit betreiben. „Jetzt kämpfen wir Auge um Auge und Zahn um stören, haben die Russen in Staryje Atagi der Hauptstadt Grosny. In den vergangeganz bewusst die nach dem letzten Krieg nen Stunden haben sie mit einem HubZahn“, sagt Grenzer Naid. Bombenopfer Kwais in Staryje Atagi „Sie zielen auf jedes Auto, das noch fährt“ schrauberkommando eine Anhöhe bei Goiskoje besetzt. In der Nacht sieht Tschetscheniens Himmel aus, als nehme jemand das Millennium-Feuerwerk vorweg. „Christbäume“ weisen den Bomben das Ziel, Salven von Raketenwerfern orgeln durch die Luft, mit rotem Feuerschweif schlägt eine der aus Russland abgeschossenen Boden-BodenRaketen ein. In Goiskoje klirren die Scheiben, hilflos bellt ab und an ein tschetschenisches Maschinengewehr gegen die Flugzeuge an. Eine Großmacht hat ihr gesamtes Waffenarsenal mobilisiert, gegen ein Völkchen von vielleicht noch 400 000 Unbequemen. General Leitscha Islamow, genannt „Boroda“ (der Bart), ist am Abend von Georgien her nach Hause zurückgekehrt. Der Vize-Befehlshaber der tschetschenischen Südwestfront und Chef der Sonderpolizei „Scheich Mansur“ hatte sich im Ausland um islamische Hilfe bemüht. Aber was heißt nach Hause? Sein zweistöckiges Heim in Goiskoje ist nicht mehr vorhanden – die Bomber haben es in einen Schutthaufen verwandelt. Bruder Ruslan, 32, der gerade in der Küche stand, ist tot, die Mutter schwer verletzt. Der General mit dem krausen schwarzen Bart, der eine kunstvoll verzierte Pistole und einen filigran ziselierten Dolch am Koppel trägt, gilt eigentlich als hartgesottener Kerl. Jetzt aber drückt ihm hilflo198 in letzter Zeit von Erfolgsmeldungen nicht gerade verwöhnt. Bei Atschchoi-Martan hatten die russischen Truppen tiefe Einbrüche erzielt – im Schutz der kilometerlangen Kolonne tschetschenischer Flüchtlinge, die sich an der geschlossenen Grenze zu Inguschien stauten. „Wir waren ohnmächtig, sollten wir unsere eigenen Leute dem Feuer aussetzen?“, erklärt Islamow die Niederlage. Unübersehbar, dass viele Kommandeure auf die geänderte Taktik der Russen nicht vorbereitet sind, es gibt nicht die von ihnen erhofften Kämpfe von Mann zu Mann. „Aber die Russen sind nicht wirklich stark, die haben keinen Glauben, die können nur Bomben werfen“, tröstet Gelajew. „Wir warten auf den Moment, der uns gelegen kommt.“ Die Tschetschenen wissen freilich auch, dass Moskau diesmal genügend „Enten“ unter ihnen hat, Verräter. Käufliche Leute, Tschetschenischer Vizepräsident Arsanow die Hand in Hand mit Russlands Geheim„Alles Trennende beiseite geschoben“ dienst FSB arbeiten. Und die des Nachts für die Flieger Zielobjekte markieren. „Ohne deren Hilfe hätten sie mein Haus nicht so punktgenau bombardiert“, glaubt Boroda. Da erfreut das Video, das die Männer vom Geheimdienst mitgebracht haben: Es zeigt das Verhör eines Oberstleutnants der russischen Armeeabwehr GRU, der ihnen vor Tagen samt einer in FreischärlerZerbombtes Haus in Grosny: „Nicht mal Leichenteile gefunden“ Uniformen steckenses Schluchzen den Kopf auf die Tisch- den Diversantengruppe ins Netz ging. Laut platte – mit Ruslan ist der dritte von ins- Aussage des Offiziers sollte der Trupp gesamt sieben Islamow-Brüdern tot. tschetschenische Flüchtlingstrecks durch Im Haus des Onkels findet das Trauer- Überfälle verunsichern und Attentate auf zeremoniell statt. Die Frauen weinen, dann Kommandeure verüben. Die Männer hatziehen sie sich an den Herd zurück. Front- ten Waffen mit Schalldämpfern sowie Michef Hamsat Gelajew, einst in Grosny Vi- nen dabei. „Der Russe ist natürlich erzepremier, ist mit mehreren Kommandeu- schossen worden“, sagt Islamow lakonisch. ren der „tschetschenischen Streitkräfte“ Die Männer nicken zustimmend. Sie zum Kondolieren erschienen. Die Männer trinken den nächsten Tee und zitieren den sitzen am Küchentisch, nagen an Ham- Propheten, außerdem Lermontow und Dumelknochen, trinken Tee. dajew: „Wer nicht mit allen Mitteln danach „Nur Allah, der Allerhöchste, weiß, wie strebt, der Sklaverei zu entfliehen, der hat es weitergeht“, tröstet Gelajew. Die Kerzen sie doppelt oder dreifach verdient.“ flackern, über die quäkenden „Motorola“In der Früh geht es wieder in die vordeSprechfunkgeräte der Kommandeure sind ren Gräben. Erstmals ist auch die mit Borodie neuesten Kriegsnachrichten zu ver- da eingetroffene Verstärkung dabei: der Jornehmen. danier Chalid, der sein vorzügliches Rus„Dschihad an Engel“, bittet jemand, mit sisch im ukrainischen Kiew gelernt hat, und Engel ist Gelajew gemeint. Die russischen der Tschetschene Ramadan, eben wegen Posten auf der Fernstraße bei Atschchoi- des Krieges aus Syrien zurückgekehrt. RaMartan seien überrannt, sechs Fahrzeuge madan hat in Pakistan studiert und zuletzt erbeutet, sagt die Stimme. Es gebe „Gäste“ mit weiteren Landsleuten an der Scharia– das Codewort für Gefangene. Fakultät der Uni von Damaskus. Natürlich Solche Nachrichten sind Balsam für die gehörte auch Militärausbildung dazu. KeiKommandeursseele, die Männer wurden ner habe ihn nach Hause gerufen, sagt Rad e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Ausland die Frau direkt ins Herz getroffen, als sie sich mit ihren vier Kindern und der Kuh über die Landstraße retten wollte. Zwei Autos mit vier Schwerverletzten rasen auf den Hof; bevor die Getroffenen den OP erreicht haben, sind zwei von ihnen tot. RUSSLAND 50km Tschetschenien Tere k Grosny Gudermes Inguschien UrusDagestan Martan Goiskoje Arg un madan, „mein Herz hat es mir befohlen“. Zwei seiner Brüder sind bereits tot. Der Morgenhimmel ist erschreckend wolkenlos und blau: Flugwetter. Entsetzt stehen die Einwohner von Goiskoje vor ihren Häusern und beobachten, wie zwei Kilometer vor ihnen die Welt ins Wanken gerät. Zuerst geht der Mitschurin-Kolchos am Ortsrand von Urus-Martan in Flammen auf; dann explodiert im Bombenhagel der Russen die nahe gelegene Tankstelle, schließlich pflügen Raketen die Straße hinter Goiskoje um. „Sie zielen auf jedes Auto, das dort noch fährt“, schreit Nachbar Ismail wutentbrannt. Da lobe er sich die Deutschen, „die 1942 hier absprangen: Die waren korrekt und hilfsbereit, die haben meiner Mutter aus ihrer roten Fallschirmseide sogar noch Decken gemacht“. Dass in Urus-Martan viele Wahhabiten sitzen, Tschetscheniens religiöse Eiferer saudiarabischer Provenienz, weiß Ismail sehr wohl. Er sieht in ihnen Agenten, „die von den Juden gesteuert sind“, so wie er Extremistenführer Schamil Bassajew für einen „russischen Judas“ hält – „alles Leute, die in Russlands Auftrag hier den Krieg schüren“. Das Ergebnis des russischen Bombardements ist eine Stunde später im Krankenhaus von Goity zu besichtigen. Hilflos steht Chefarzt Junadi Datschajew neben der Leiche der 32-jährigen Jesita: Ein Splitter hat Itum-Kale K a u k a s GEORGIEN u Schatili s „Ich habe keine Verbände mehr, kein Narkosemittel, keine Spritzen – nur noch meine Hände“, Datschajew sagt es resigniert. Er operiert im Keller bei Kerzenschein und hat weder ein rotes Kreuz aufs Dach gemalt noch eine weiße Fahne herausgehängt: „Das würde die Bomber doch nur anziehen.“ Auch im Krankenhaus von Staryje Atagi herrscht das Elend. Dicht an dicht liegen die Opfer der russischen Terroristenjagd: der leblose zehnjährige Sulidan, der an der Bushaltestelle verwundet wurde, als eine Rakete ein vorbeifahrendes Auto traf: Schädeltrauma; Tarana, die Flüchtlingsfrau aus Baku, der die Druckwelle einer Bombe die Brust zerquetschte; Kwais, 47, der auf eine Mine trat: das linke Bein ist amputiert; der 14-jährige Alik aus Perwomaiskoje, der auf dem Hof Holz hackte, als zwei Granaten einschlugen: das linke Auge ist weg, auch die linke Hand und das linke Bein scheinen unrettbar verloren. In den Betten nebenan liegen noch immer die Verbrannten und Verstümmelten vom russischen Raketenangriff auf den Markt von Grosny – mittendrin hängt ein bereits Gestorbener am Tropf. „Ein Stein, der oben liegt, muss nicht immer oben bleiben, lehrt uns der Prophet“, flüstert die 69-jährige Lena Riwilog kraftlos, aber voller Verachtung aus ihrem Bett heraus. Sie meint Putin, Russlands Kriegspremier, den sie nur „Rasputin“ nennt. In der Hauptstadt Grosny arbeitet längst kein Krankenhaus mehr. Wozu auch? Vor der Brücke am Minutka-Platz klafft ein riesiger Trichter. Daneben liegen ein Schrank, Betten, ein paar Koffer. „Die Bombe ist direkt auf einen Flüchtlings-Lkw gefallen“, sagt ein Anwohner, „wir haben nicht mal Leichenteile gefunden.“ Alle paar Minuten erschüttern schwere Einschläge die Stadt. Am Sieges-Prospekt brennt ein getroffenes Wohnhaus, drei Menschen wurden im Keller verschüttet. Vor der bombardierten Staatsbank flattern Behördenbriefe und Kontoabrechnungen über die Straße. Das einzig Bunte in der kaltgrauen Ruinenstadt ist ein großes Dudajew-Porträt, das die Einöde an der Stelle des früheren Präsidentenpalastes ziert. Nur schemenhaft bewegen sich die Zurückgebliebenen durch die Geisterkulisse. Schukran Armokajewa, 43, macht in den wackligen Holzständen am Markt letzte Vorräte zu Geld. Sie verkauft eingelegte Tomaten, das Glas für 35 Rubel, und gebratene Koteletts zu 7 Rubel das Stück. Ihre Kundschaft sind Freischärler und die Bewohner der Keller von Grosny. Vier Frauen sind sie noch auf dem Hof in der Es gibt nicht wenige, die den Krieg weiter nach Georgien tragen wollen Rosa-Luxemburg-Straße Nr. 15, allen fehlt das nötige Geld zur Flucht. Wacha Arsanow will bleiben. Der Mann mit der Papacha, der tschetschenischen Pelzmütze auf dem Kopf, steht mit nur zwei Leibwächtern auf dem leeren Platz vor dem gestürzten Lenin-Denkmal: Es ist Tschetscheniens Vizepräsident. Dass die Führung angeblich das Land Richtung Georgien verlassen will, ist „eine böse Propaganda-Ente der Russen“, sagt Arsanow, der einst für den Geheimdienst zuständig und im letzten Krieg Befehlshaber der Nordwestfront war. Die Einnahme von Gudermes scheint den Vizepräsidenten nicht zu bedrücken: „Wir bereiten den Russen dort in den nächsten Tagen eine große Überraschung vor“, sagt er schmunzelnd. Auch an Waffen mangele es nicht – sie kämen aus Russland. Schließlich säßen genügend Generäle in Moskau, die dem Jelzin-Günstling Putin einen Erfolg in Tschetschenien missgönnten. Es gebe aber auch nicht wenige, die den Krieg weiter nach Georgien tragen wollten, damit Russland der Zugang zu den Ölquellen des Kaukasus erhalten bleibt. Dass der Sieg über die Russen an mangelnder Einigkeit der Tschetschenen scheitern wird – Arsanow glaubt das nicht. „Wir haben alles Trennende beiseite geschoben“, behauptet er – „vorerst.“ Er meint den extremistischen Feldkommandeur Bassajew, der mit seinem Dagestan-Einmarsch im August den Krieg erst richtig losgetreten hat. „Wenn wir mit Russland fertig sind, werden wir aufklären, was in Dagestan wirklich geschah – vor einem Scharia-Gericht. Allah wird uns sagen, was dann zu tun ist.“ Arsanow stülpt die Papacha auf und verschwindet in den Ruinen von Grosny. Christian Neef d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Ausland Kontrolle ist alles Premierminister Tony Blair will verhindern, dass der überaus populäre Labour-Linke Ken Livingstone Bürgermeister von London wird. A ls Ken Livingstone am Donnerstag vergangener Woche nach vier Stunden inquisitorischer Befragung das Hauptquartier der Labour Party verließ, konnte er einen Etappensieg verbuchen: Seine Partei bestätigte ihn endlich als einen von drei Bewerbern für das Amt des Bürgermeisters von London. Doch nur Stunden später stellte sein Parteichef Tony Blair klar, dass Livingstone im parteiinternen Vorwahlkampf keinerlei Gnade zu erwarten habe: Solange er noch atme, erklärte der Premierminister, werde er dagegen kämpfen, dass die Partei zum Extremismus der achtziger Jahre zurückkehre. Es gehe um nichts Geringeres „als die Zukunft der Labour Party“. Der Hauskrach bei Labour wird noch einige Monate anhalten. Denn erst Mitte Februar wird endgültig entschieden, wer für die Bürgermeisterwahl am 4. Mai ins Rennen gehen darf. Neben Livingstone bemüht sich die einstige Schauspielerin und Oscar-Gewinnerin Glenda Jackson um die Kandidatur. Über wesentlich bessere Chancen verfügt allerdings der altgediente Londoner Lokalpolitiker und ehemalige Gesundheitsminister Frank Dobson, der die rückhaltlose Unterstützung der Parteiführung genießt. „Es herrscht heilloses Chaos“, freut sich derweil der skandalumwitterte Bestsellerautor und Multimillionär Jeffrey Archer, der für die Konservativen antritt. Dabei hatte Tony Blair den Londonern eigentlich nur mehr Demokratie versprochen und ihnen die Wahl einer Stadtverordnetenversammlung sowie eines Bürgermeisters in Aussicht gestellt. Kaum jedoch waren die Reformpläne verabschiedet, tauchte zum Entsetzen von Blair ein Wiedergänger aus düsteren Zeiten auf: Ken Livingstone, der von 1981 bis 1986 dem Stadtrat Groß-Londons vorgesessen hatte und seitdem als „Red Ken“ ebenso gefürchtet wie geliebt wird. Die „Sun“ erklärte ihn damals zum „hassenswertesten Mann Britanniens“. Unter Livingstones Führung versuchte der Rat, die Tarife für den öffentlichen Nahverkehr zu senken; er unterstützte Homosexuelle bei ihrem Kampf gegen Diskriminierung und lud den als Terroristen verschrieenen nordirischen Londoner Akzent, aber auch seine schrulligen Hobbys wie die Zucht von Salamandern, die ihn so beliebt machen. Der Rote Ken, so sagen sich die meisten Londoner, mag ein Egozentriker sein, ein Opportunist ist er nicht. Und genau davor fürchten sich Tony Blair und seine Gefolgsleute, denn Livingstone ist alles andere als ein braver Parteisoldat. Ursprünglich sollte der Labour-Kandidat – wie bei den Tories – mittels einer Urwahl von den rund 68 000 Londoner Parteimitgliedern bestimmt werden. Doch angesichts Livingstones Popularität an der Basis werden bis Februar drei Gruppen entscheiden, die von der Parteispitze leichter beeinflussbar sind: die Londoner Abgeordneten des Unterhauses und des Europäischen Parlaments, die lokalen Gewerkschaften und die Wahlkreisgliederungen der Partei. Es wird in jedem Fall sehr knapp werden. Blair und seine Vertrauten versuchen nun mit allen Mitteln, den befürchteten Durchmarsch des verpönten Bewerbers doch noch aufzuhalten. Dabei sind sie nicht zimperlich in der Wahl ihrer Mittel. Der Premier warnte, es sei Livingstone gemeinsam mit solchen Altlinken wie Arthur Scargill und Tony Benn gewesen, die es beinahe geschafft hätten, „Labour über die Klippe in den Untergang zu stoßen“. Überdies fanden sämtliche Londoner Parteimitglieder Werbebriefe von Dobson in ihren Briefkästen. Da der Bürgermeister relativ wenig Macht haben wird, ist die Härte der internen Auseinandersetzung ein Indiz dafür, dass es Wahlkämpfer Livingstone*: Beliebter Egozentriker um mehr geht. Blair sieht Parlament auskommen. Vertreter der City Livingstone als Inbegriff eines Sozialisten und der 32 Bezirke versuchen in zahllosen alter Schule, der nicht gehorsam auf dem Kommissionen ihre Planungen mit etlichen dritten Weg mitmarschieren will. Bislang hat die Parteispitze die noch verMinisterien zu koordinieren, doch den Verfall der städtischen Infrastruktur konnten bliebenen Linken an den Rand drängen können. Doch das rücksichtslose Vorgehen sie nicht aufhalten. Vom Mythos seines Kampfes mit der dabei hat Blair und seinen Vertrauten den Eisernen Lady zehrt Livingstone bis heu- Vorwurf beschert, „Control Freaks“, Konte. Obwohl der schwer berechenbare Indi- trollfanatiker zu sein. Parteiintern trägt Blair die Spitznavidualist als Unterhaus-Abgeordneter weitgehend isoliert blieb, liegt er in sämtlichen men „Bambi“ (nach seinem Aussehen) Meinungsumfragen kaum einholbar vor al- und „Stalin“ (nach seinem zuweilen rülen anderen Bewerbern. Auch wenn er als den Umgang mit Genossen). Sein Kampf unabhängiger Kandidat anträte, wäre ihm gegen Livingstone erinnert zumindest an eine Parole, die Walter Ulbricht im der Sieg so gut wie sicher. Es sind seine schonungslose Offenheit, Mai 1945 ausgab: „Es muss demokratisch sein Charme und Witz, sein nasaler Süd- aussehen“, verlangte der Kommunist, „aber wir müssen alles in der Hand haben.“ * Mit Londoner Stadtführern in historischer Kleidung. Michael Sontheimer Sinn-Fein-Politiker Gerry Adams ins Rathaus ein. Zwar erscheint Livingstones Politik (bis auf den großzügigen Umgang mit den Stadtfinanzen) heute kaum mehr skandalös. Doch in den Amtsjahren der konservativen Margaret Thatcher war sie ihrer Zeit weit voraus. Die skrupellose Regierungschefin ließ, um Livingstone und seine Genossen zum Schweigen zu bringen, am 1. April 1986 die Stadtverordnetenversammlung per Gesetz abschaffen. Seither musste die Sieben-Millionen-Metropole London ohne Bürgermeister und ALPHA LABOUR d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 201 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Ausland Verdächtige Schiffe sollen schon in in- Nahost auf dem Sprung – „ganze Dörfer“, ternationalen Gewässern gestoppt werden. so Ruddock. Michael O’Connor, Direktor der AustraSchleusern drohen künftig bis zu 20 Jahren Haft nebst 250 000 Mark Geldstrafe. Aner- lian Defence Association, forderte prompt kannte Asylanten bekommen keine unbe- ein hochmodernes Waffen- und Technikgrenzte Aufenthaltsgenehmigung mehr, arsenal, etwa mit Sensoren bestückte Hubsondern nur noch ein Drei-Jahres-Visum, schrauber, sowie eine 4000-köpfige Grenzund die Familienzusammenführung wird schutztruppe. Die USA, argumentierte der Landesverteidiger, sichern ihre Küsten mit erschwert. Auf abenteuerlichen Wegen Expertisen bescheinigen den 19 Millio- 42 000 Mann, 175 Suchbooten und 211 Fliekommen immer nen Australiern, ihre Überflussgesellschaft gern, Gesamtbudget pro Jahr: 7,3 Milliarmehr Boatpeople ins Land. Die böte auch für 30 Millionen eine ordentli- den Mark. che Existenzgrundlage. Nur Regierung in Canberra sind das reine Zahlenspieverschärft die Abschreckung. le. Angst vor Überfremdung ine Küste von rund 37 000 Kilometer bestimmt die Debatte; selbst Länge hat nicht nur einen hohen die Grünen möchten „die Freizeitwert. Sie ist auch ein schier Ära des Einwanderungslandes“ beendet wissen. Sie endloses Sicherheitsrisiko. So landet nachts an Australiens einsa- sprechen von einer „Bedromen Gestaden jede Menge Schmuggelwa- hung“ durch „unkontrolre, beispielsweise Heroin aus dem Golde- lierte Zuwanderung“. Die war lange Zeit eher nen Dreieck für die Junkies in Sydney oder Melbourne. Vor allem aber ist in der ersten marginal. In den siebziger Jahreshälfte die Zahl asiatischer Boat- Jahren nahm Australien people, eingeschleust von indonesischen zwar bereitwillig zehntau- Aufgebrachtes Flüchtlingsboot: „Nationaler Notstand“ Schlepperbanden und chinesischen Tria- sende Vietnamesen auf, Die meisten Boatpeople sind Chinesen, den, im Vergleich zu 1998 um 240 Prozent doch zwischen 1990 und 1998 wurden nicht gestiegen. Die Regierung in Canberra will einmal 4000 Boatpeople registriert und die mit blumigen Versprechen auf Arbeit in nun ihre ohnehin restriktiven Einwande- meist gleich wieder nach Hause geflogen. Sydney, der Olympia-Baustelle, geködert Nur ein Bruchteil erhielt den Status politi- werden. Ihre Schlepper kassieren laut Rudrungsgesetze weiter verschärfen. dock knapp 75 000 Mark für die BereitGrenzschützer monieren ihre eher be- scher Flüchtlinge. Erst seit Anfang dieses Jahres boomt das stellung eines Schiffs und nochmals 4500 scheidenen Aufklärungsmittel – 14 Flugzeuge der Küstenwache und 15 veraltete Geschäft der Menschenhändler. Die Behör- pro Passagier. Immigranten ohne ErsparPatrouillenboote – und fordern Nachbes- den zählten 67 Boote mit 2453 Personen an nisse müssen ihren Kredit oft jahrelang in serung. Einwanderungsminister Philip Rud- Bord; die Dunkelziffer ist unbekannt. An- China-Restaurants oder als Drogenhändler dock spricht von „nationalem Notstand“ fang November wurden sechs Seelenver- abdienen. Die anderen Flüchtlinge stammen aus und verlangt wirkungsvollere Maßnahmen käufer mit 513 Irakern und 147 Afghanen gegen die Fremdenflut. Diesen Mon- aufgebracht. Geheimdienstler verbreite- Vietnam, Indonesien und, immer häufiger, tag berät das Parlament über eine harte ten vorige Woche die Schreckensmeldung, aus den Konfliktgebieten Afghanistan und weitere 10 000 Habenichtse stünden in Irak. Letztere gelangen mit gefälschten PäsGangart. sen über eine „Nahost-Pipeline“, wie es der australische Geheimdienst nennt, in die Boote: Als Gastarbeiter warten sie hauptsächlich in Jordanien und Kuweit, dann geht es über das Sultanat Oman oder den Hafen Bandar-e Abbas (Iran) nach Pakistan und von dort zum Brückenkopf Indonesien. Üblicher Tarif für diese Route: 10 000 Dollar. Vom Land ihrer Träume haben sie nur vage Vorstellungen. Manche Pechvögel lernen es gar nicht erst kennen, weil sie umgehend verhaftet und bis zur Abschiebung auf unbewohnten Inseln arrestiert werden. Die westaustralischen Auffanglager in Port Hedland und Derby sind derzeit überfüllt, weitere Camps werden eilig errichtet. Besonderes Pech hatte eine Gruppe von 60 Chinesen, die in Macksville, einem Nest 500 Kilometer nördlich von Sydney, gelandet war und auf raffinierte Weise jedes Aufsehen vermeiden wollte. Von schnieken Nadelstreifen-Anzügen versprachen sich die Asiaten im reichen, geschäftstüchtigen Australien optimale Tarnung – ein Fehler, wie sich zeigte. Ortsübliche Tracht in Macksville sind Shorts und T-Shirt. Asiatische Boatpeople (in Westaustralien): Vage Vorstellungen vom Land der Träume Rüdiger Falksohn AU S T R A L I E N Landgang in Nadelstreifen AP 204 d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 ROPI E Werbeseite Werbeseite Ausland ÖSTERREICH Verführer aus dem Bärental AP Unter Jörg Haider wurde die FPÖ im Oktober zur zweitstärksten Partei. Der heftigen Kritik im In- und Ausland begegnet der Rechtspopulist seither mit einer Charme-Offensive: Er distanziert sich halbherzig von früheren verbalen Entgleisungen. Politiker Haider nach seinem Wahlerfolg*: Sät Zorn und erntet Beifallsstürme A m Ecktisch im Klagenfurter Restaurant „Oscar“ sitzt er gelassen über Rucola mit geraspeltem Grana-Käse. Am Nachmittag war Jörg Haider zu „Sondierungen“ beim Kanzler in Wien. Jetzt ist Feierabend. Bei der Regierungsbildung sei noch alles drin, sagt er. Und erzählt dann zwischen zwei Happen Salat eine Geschichte aus seinem früheren Leben. Sie liegt nur ein paar Jahre zurück und handelt davon, wie er, der Chef der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ), in Los Angeles das Simon-Wiesenthal-Zentrum besucht hat. Ganz am Ende der Besichtigung, direkt vor dem Raum, wo die Gaskammern nachgebildet waren, sei er da auf eine Wand mit Fotos unappetitlicher Zeit- genossen gestoßen. „Da hing dann der Idi Amin und daneben so ein Burenführer“, sagt Haider: „Und daneben – ich.“ „Ich sag zu dem jungen Burschen, der mich rumgeführt hat: Sie, wer is’n der da? – Sagt der: Ein ganz gefürchteter Rechtsradikaler aus Österreich.“ Er habe nichts erwidert, sagt Haider, sich aber selbst die Frage gestellt: „Wie komm eigentlich ich dahin?“ Ja, wie eigentlich? Durch anerkennende Worte für die Beschäftigungspolitik der Nazis vielleicht? Haider weiß es nicht, verbale Ausrutscher seien wohl vorgekommen in seiner „Phase des Sturm und Drangs“, aber das war einmal. Über das Erlebnis im Wiesenthal-Zentrum kann er inzwischen schmunzeln. Seit einigen Tagen ist jeder Verdacht, er könnte ein rechter Hetzer sein, von ihm genommen. Findet Haider. Wie über einen Modellbaukasten gebeugt, analysiert er kühl die zurückliegenden Schritte seiner Karrierestrategie: Zum Chef einer regierungsfähigen Partei der Mitte habe ihm zuletzt „noch ein Element gefehlt – Klarheit zum Dritten Reich, zu den ganzen Vergangenheitsfragen“. Um der FPÖ den Weg zur Macht zu ebnen, habe er Farbe bekennen müssen: „Ich selbst bin letztendlich der Punkt gewesen, wo manches unklar war.“ Antworten gab es dann am vorvergangenen Freitag in den Redoutensälen der Wiener Hofburg. Eskortiert von einer Hand voll Männern, Typ Pitbull mit aufrechtem Gang, betritt Haider dort am Jahrestag der Ersten Republik die Szene, steigt aufs Podium, verliert einige Worte über die Demokratie im Allgemeinen und kommt schließlich zur Sache. Er spricht von seiner Sicht der NS-Zeit, von den „bitteren Erfahrungen mit der braunen Diktatur“, der „Einmaligkeit und Unvergleichlichkeit des Holocaust“, und er redet davon, dass er keinen Schatten von Nazi-Verdacht auf sich zu dulden bereit sei. Das inszenierte Stück Trauerarbeit lässt Haider in einem grammatikalisch so unsinnigen wie bezeichnenden Schuldeingeständnis gipfeln: Frühere „Äußerungen, die mir zugeordnet werden, waren unsensibel und missverständlich“. Zugeordnet werden? In den Siebzigern wird er gefilmt, wie er mit dem NDP-Führer Norbert Burger gemeinsam die SS-Hymne singt: „Wenn alle untreu werden, so bleiben wir doch treu.“ 1985 bescheinigt er den 206 d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 AP Anti-Haider-Demonstration in Wien „Äußerungen waren missverständlich“ * Am 3. Oktober in Wien. Werbeseite Werbeseite Ausland M. MAGNANI / GAMMA / STUDIO X Kriegsveteranen am Ulrichsberg: „Sie alle „Wenn du eine Familie ernähren musst, ragen heute heraus wie ein Fels im Meer.“ deklarierst dich ned so leicht als FPÖ“, Jahre später äußert er am gleichen Ort: „Am sagt Haider. Er selbst habe es da leichter – als Sohn eines Fabrikarbeiters geboren, ist Kärntner Wesen soll Österreich genesen.“ 1991 kostet ihn die im Kärntner Landtag er durch die 1565 Hektar Land im Bärenprotokollierte Feststellung, im Dritten tal nahe der slowenischen Grenze, die ihm Reich habe es immerhin eine „ordentliche ein Onkel vererbt hat, zum Millionär geBeschäftigungspolitik“ gegeben, zwar das worden. Ein „Laschierer“, wie das bei ihm Amt des Landeshauptmanns, nicht aber heißt, ein Faulenzer, ist er dadurch nicht geworden. Und seine Sendie politische Zukunft. Als soren hat er auch noch in er 1995, von einem HobBodennähe. byfilmer festgehalten, VeEr studiert die Nöte der teranen der Waffen-SS-Kaeinfachen Menschen, hört meradschaft IV in Krumzu, speichert ab und verpendorf als „anständige stärkt auch Ängste, wo sie Menschen, die einen Chaihm nützen. Schon optisch rakter haben“ würdigt, in Opposition zur Politisteht die FPÖ gerade vor kerkaste, mit juvenilen dem Sprung in die BunTommy-Hilfiger-Leiberln desregierung. Auch diesen oder Kärntneranzug, köRückschlag überwindet dert er das Volk mit dem Haider und erobert im Gestus des Kerls, „der sich Frühjahr 1999 zum zweiwas traut“. Vor allem aber: ten Mal das Amt des Haider ist ein brillanter Kärntner Landesvaters. Redner, ein demagogisches Die Wurzeln für den Naturereignis. Unerreicht Aufstieg ab 1986, schreibt in der Kunst, Wahres mit Christa Zöchling in ihrem nur Gehörtem zu verBuch „Haider – Licht und quicken und Einzelfälle Schatten einer Karriere“, von Willkür umzudeuten lägen in der parallel einin Unterdrückungsmuster setzenden Isolation Österder „herrschenden Klasreichs unter dem Präsise“, positioniert er seine denten Kurt Waldheim: Partei als unerschrockene „Während Waldheim, der Bewegung gegen das satte alte Mann, hilflos von Establishment. ,Pflichterfüllung‘ sprach, Die rhetorischen Figuals es um seine NS-verren sind dabei wiederstrickten Kriegsjahre ging, kehrend: Haider zitiert hob Haider forsch den scheinbar das Volk und Teppich, unter den das al- Marathonläufer Haider* spricht doch selbst – von les jahrzehntelang gekehrt worden war. Er behauptete, dass sich nie- einer „mutigen Mitarbeiterin“ einer Wiener Behörde, selbstverständlich namenlos, mand dafür genieren müsse.“ „Sie haben in diesem Land ja keinen die sich der „Gesinnungsapartheid“ vergehabt, der enttabuisieren konnte“, sagt weigert und nicht zur verordneten Haider und meint – außer mir. Seit den Na- Demonstration gegen Haider geht; von der tionalratswahlen am 3. Oktober ist seine Jugend, die der „ideologischen Hetze der Partei mit mehr als 27 Prozent der Stim- Herrschenden“ trotzt; von der Arbeitermen die Nummer zwei in Österreich. Bevor schaft, die das linke, „pseudointellektueler sie übernahm, waren es um die 5 Prozent. le Geschwafel von der AusländerfeindHaider will nun mitregieren. Auch Bun- lichkeit“ durchschaut; vom jüdischen deskanzler Viktor Klima (SPÖ) will regie- Bundesrat, der gegen die Haider-Ausgrenren, aber nicht mit Haider, sagt er. Die kon- zung protestiert. Haider sät Zorn und erntet Beifallsstürservative ÖVP wiederum stößt sich weniger an Haider als an ihrem vor der Wahl me bei seinen Anhängern. Er lässt feindgegebenen Versprechen, als drittstärkste liche „Gedankenpolizisten“ vor ihrem geistigen Auge aufmarschieren, „GlaubensPartei in die Opposition zu gehen. Haider wartet auf Angebote und singt krieger“ und „Kreuzritter“, „fanatische derweil weiter das garstige Lied vom klei- Gutmenschen“ eben, die seine Politik der nen Mann, der im großkoalitionär regier- Vernunft als Rassismus missdeuteten. Auf ten Proporzstaat der Dumme ist. Er singt der Straße, sagt Haider, drohe von Gutes seit einem Vierteljahrhundert, mit zu- menschen-Seite der „Radau der Demonnehmendem Erfolg: Österreich, pro Kopf stration“ – „der wird unseren erbitterten gerechnet das siebtreichste Land der Welt, Widerstand ernten müssen“. Körperlicher Widerstand allerdings war erlahmt nicht nur in seinen Augen nach 13 Jahren SPÖ/ÖVP-Regierung unter dem bisher nicht nötig. Haiders Gegner randaDiktat von Parteibuchwirtschaft und Funk* Beim New-York-Marathon am 7. November. tionärsmacht. 208 d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Ausland Haider, Bundeskanzler Klima: „Sehr persönliches Gespräch“ 210 d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 zählt später, wie es wirklich war: Der Kanzler, politisch vereinsamt seit seiner Wahlniederlage, habe das Treffen spürbar genossen. So viele Gesprächspartner seien dem ja nicht mehr geblieben. Will Haider selbst auf den Sessel? Er, den Freunde, aber auch Gegner, nach Kreisky für „das größte politische Talent“ der Zweiten Republik halten, er, der für sich keine andere Richtung kennt als nach oben, gibt plötzlich den Zauderer und spricht von lohnenden Aufgaben im Land Kärnten. Vielleicht, weil er weiß, dass es diesmal noch nicht reichen wird. Andererseits, er hat die Partei natürlich nicht so hochgebracht, um im Fall des Falles die Früchte anderen zu überlassen: „Wenn, dann hat’s bloß an Sinn, wenn’st selber Kanzler wirst“, räumt Haider ein: „Da musst scho wos derheb’n.“ Hinter ihm in der FPÖ ist nicht mehr viel. Das weiß er am besten, denn er hat durch Vertreibung der besseren Köpfe selbst dafür gesorgt. Da glänzen neben dem neuen Zweiten Nationalratspräsidenten Thomas Prinzhorn – „Die FPÖ ist einen weiten Weg gegangen. Bei uns sehen Sie jetzt sogar Neger und Ausländer in unseren Wahlbroschüren“ – vor allem die Mitglieder der so genannten Buberl-Partie mit Stellungnahmen zur Tagespolitik. Der dynamisch frisierten Männerschar in mittleren Jahren dient als Sprachrohr und Einpeitscher der Generalsekretär Peter Westenthaler, vulgo Hojac. Der hat zuerst seinen slawischen Familiennamen teutonisieren lassen und sorgt seither dafür, dass der politische Diskurs in heiklen Fragen wie der Ausländerpolitik FPÖ-seitig ohne Schamschwellen verläuft. Nicht die „Überfremdungs“-Plakate aus dem Wahlkampf seiner Partei seien am derzeit vergifteten Klima schuld, sagt Westenthaler und fügt, ohne zu zucken, hinzu: „Brandstifter ist die linke Jagdgesellschaft unter Muzicant.“ Ariel Muzicant, Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, hatte sich erlaubt, auf eine deutliche Zunahme antisemitischer Vorfälle seit dem Wahlerfolg der FPÖ zu verweisen. Wird’s klingen wie bei Westenthaler, wenn die FPÖ eines Tages die Musik macht? Jörg Haider ist ganz Vorsicht und Geduld. „In diesem Land dauert alles wahnsinnig lang“, sagt er: „Österreich ist ned für eine Revolution geeignet.“ Dass aber ein kleineres Beben in der Republik schon am Wahltag zu registrieren war, das räumt auch er, der Verursacher, ein: „Der Krug geht bekanntlich so lange zum Brunnen, bis er bricht“, sagt Haider: „Am 3. Oktober ist er gebrochen.“ Walter Mayr AP ehemalige Vorzeigeschüler nun auch in Sachen Patriotismus schwer das Wasser reichen. Und die Sache mit dem braunen Sumpf im Land? Wäre die FPÖ wirklich eine Nachfolgeorganisation der NSDAP, dann hätte sie die absolute Mehrheit, hat Haider 1985 dekretiert. Auch da ist er inzwischen weiter. Es sei bodenlos, Österreich als Hort Ewiggestriger zu verunglimpfen, sagt er heute. Positionen kommen und gehen, das Rezept bleibt. Haider setzt auf das Kurzzeitgedächtnis der Wähler und auf die Konzeptlosigkeit des politischen Gegners. Der ÖVP gehen Christen und Bauern verloren, der SPÖ Arbeiter. Und je mehr die beiden großen Volkspar- Ehepaar Haider teien deshalb von ihren ideologischen Grundfesten abrücken, desto leichter tut sich Haider. Er ist ein Meister blitzschneller Landnahme in frei werdenden Wählersegmenten. Mit kaum verhohlener Wonne verfolgt er nun, wie Bundeskanzler Viktor Klima – die beiden duzen sich – um eine neue Mehrheit ringt. Wie der hinter der gravitätischen Maske des standfesten Demokraten, der sich mit Rechtslastigen nicht einlässt, Gefahr läuft, auch die Mitte zu verlieren. Als die beiden nach dem ersten Sondierungsgespräch gemeinsam vor die Presse treten, schaut Klima so stumm und abweisend drein, als habe ihm ein räudiger Hirtenhund drinnen im Kanzlerzimmer gerade die Sitzgarnitur eingeschmuddelt. Haider hingegen spricht fröhlich von einem „sehr persönlichen Gespräch“ und er- DPA lieren nicht. Sie kämpfen anhaltend auf den Debattenseiten der Zeitungen (nicht selten gegeneinander) oder schieben sich zu zehntausenden durchs abendliche Wien, bewaffnet mit Blinklichtern als Warnsignalen. Die Welle, von der Haider getragen wird, haben sie noch nicht gebrochen. Denn der große Verführer aus dem Bärental besticht nicht mit sachlichen Argumenten oder ideologischen Leitlinien. In Ausländerfragen rigoros, in der Sozialpolitik zwischen marktliberal und staatssozialistisch schwankend, segelt er seit Jahren hart an jenem Wind, der den Regierenden aus den kleinbürgerlichen Milieus entgegenbläst. „Wir sagen euch ganz klar – wir wollen keine Osterweiterung“, ruft er noch im September dem Publikum im Festzelt der steirischen SPÖ-Hochburg Kapfenberg zu. Um jetzt, nach erfolgreich geschlagener Wahlschlacht, die Waffen zu strecken. Natürlich sei er für die EU-Osterweiterung, verkündet Haider vergangenen Mittwoch in Brüssel, vorausgesetzt, das Lohnniveau der Kandidaten gleiche sich an. „Wir brauchen keine Ausländer, wir brauchen eine vernünftige Familienpolitik“, sagt er im Wahlkampf. Und wundert sich, wieso er als Rassist gescholten wird wie unter anderem von Demonstranten beim jüngsten New-York-Marathon. Von weiter zurückliegenden Überzeugungen ist noch weniger geblieben. Als „ideologische Missgeburt“ hat der deutschnational erzogene Haider die österreichische Nation 1988 in orthodoxer Nazi-Diktion bezeichnet. Heute sagt er, diese „Krampfhypothese“ habe halt erst mit Leben erfüllt werden müssen. Inzwischen sei eine eigene österreichische Identität entstanden. Folgerichtig lässt sich der Werbeseite Werbeseite Ausland Cockpit einer Boeing 767 Knopf Autopilot Knopf Autopilot Schubhebel TreibstoffSperrhahn TreibstoffSperrhahn Kopilot D PA Pilot L U F T FA H R T Amok über dem Meer? FOTOS: AP Drama im Cockpit der Unglücksmaschine von EgyptAir: War der Absturz eine Wahnsinnstat des Kopiloten, in selbstmörderischer Absicht? Piloten an Bord der Boeing 767*: „Was ist denn hier los?“ D as Freitagsgebet in Kairos Moscheen ist beendet und mit ihm das Knurren und Scheppern der Lautsprecher an den Minaretten. Am TahrirPlatz macht sich der Schuhmacher Hamid Wagdi auf den Weg. Er zürnt wie die Prediger und die Männer an den Marmortischen der Kaffeehäuser den Amerikanern: „Wir Ägypter sind nicht so naiv, ihnen zu glauben. Unser tapferer Pilot hat nie und nimmer Selbstmord begangen.“ Genau das aber hielten letzte Woche Experten in Washington für die wahrscheinlichste Erklärung des Todesfluges jener EgyptAir-Maschine vom Typ Boeing 767, die am 31. Oktober vor der Ostküste der USA in den Atlantik stürzte. 217 Menschen * Kopiloten al-Batuti, Nur al-Din, Anwar, Flugkapitän al-Habaschi. 212 starben, darunter 106 US-Bürger und 62 Passagiere aus Ägypten. Von den Ägyptern an Bord waren 33 Angehörige des Militärs und insgesamt 6 Piloten von EgyptAir. Zwei von ihnen saßen angeblich seit dem Start in New York im Cockpit: Flugkapitän Ahmed al-Habaschi, 57, ein Veteran mit 35 Dienstjahren, und der Kopilot Adel Anwar, 36. Auch eine Reservecrew war für den Langstreckenflug von elf Stunden mit an Bord: Pilot Rauf Nur al-Din, 52, und der Erste Offizier Gamil al-Batuti, 59. Die beiden weiteren Flugzeugführer waren „deadheads“, wie sie im Slang der Luftlinien genannt werden: Piloten, die den Einsatzort wechseln und mitfliegen. Den Part des Selbstmörders, der beispiellos viele Menschen mit in den Tod gerissen hat, nimmt nach Ansicht amerikanid e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 scher Experten der Erste Offizier Gamil al-Batuti ein. Er habe die Boeing im Verlauf eines bizarren Kampfes um die Kontrolle der Maschine in einen todbringenden Sturzflug überführt, meinten sie nach einem synchronen Vergleich des Flugdatenschreibers und des Cockpit-Voicerecorders der Unglücksmaschine. Die Ägypter dagegen wähnten den Verdächtigen vorige Woche als Helden und als Opfer einer amerikanischen Verschwörung. Der Flugdatenschreiber sei manipuliert worden, um den Luftfahrtgiganten Boeing zu decken, lautete in Kairo eine Spekulation. Eine noch wildere ging von einem Anschlag des israelischen Geheimdiensts aus, der den 33 Offizieren, darunter 2 Brigadegeneräle, gegolten habe. Weil die amerikanische Verkehrssicherheitsbehörde ihre Erkenntnisse nur zögerlich bekannt gab, eskalierte die Auseinandersetzung rasch in politische Höhen. US-Außenministerin Madeleine Albright versuchte, ihren ägyptischen Kollegen telefonisch zu beschwichtigen. Kairos Botschafter in Washington hörte das Stimmenaufzeichnungsgerät persönlich ab. Doch die amerikanischen Unfall-Analytiker sind sich ihrer Sache sicher. Jedenfalls so gut wie. Batuti sei nach dem Start ins Cockpit gekommen mit der Bitte, den Kopiloten Anwar ablösen zu dürfen. Dann habe der diensttuende Kapitän Habaschi einmal das Cockpit verlassen. Um 1.49 Uhr, so viel steht fest, begann das Drama. Batuti habe folgende Sätze gemurmelt: „Ich vertraue ganz auf Gott. Ich habe meine Entscheidung getroffen.“ Er habe den Autopiloten ausgeschaltet und acht Sekunden später die Steuersäule nach vorn geschoben. Der Sturzflug aus der Reiseflughöhe von 10 000 Metern begann. Kapitän Habaschi sei mit der Bemerkung „Was ist denn hier los“ ins Cockpit zurückgeeilt. Er habe versucht, die Steuersäule anzuziehen, um wieder Höhe zu gewinnen, und dem Ersatz-Kopiloten Batuti zugerufen: „Zieh mit, zieh mit!“ Der aber tat offenbar das Gegenteil: Er drückte die Steuersäule weiter nach vorn. Das Ergebnis war, dass die Höhenruder am Heck der Maschine praktisch funktionsunfähig wurden. Batuti fand auch noch genug Zeit, die Abdeckung eines Griffs vor der Steuersäule zu entfernen. Dann betätigte er diesen Hebel, der die Versorgung der Triebwerke mit Kerosin lahm legt, die Maschine war verloren. Warum sie dennoch aus dem Sturzflug kurz herauskam und auf 7300 Meter Höhe stieg, blieb den US-Fachleuten ein Rätsel. Das Flugzeug erlitt am Scheitelpunkt der Kurve einen Strömungsabriss, den gefürchteten „stall“, und fiel wie ein riesenhafter Ziegelstein zum Meer hinab. Was könnte den Ägypter, dem im März die Pensionierung winkte, zu einem solch mysteriösen Amokflug veranlasst haben? Werbeseite Werbeseite Ausland Wohl schien Batuti ein aufrechter Muslim zu sein, der zweimal nach Mekka gepilgert war. Seine Familie verteidigt ihn aufs Äußerste (siehe Interview). Auch die Kollegen von EgyptAir sind voll des Lobes über ihn. Und überhaupt beweise die Gebetsformel „tawakkaltu ala Allah“ („Ich vertraue ganz auf Gott“) eher das Gegenteil von böser Absicht. Religionsgelehrte wurden bemüht, die den Satz als alltägliche Formel braver Gläubiger auslegten. Auch Ägyptens Soldaten, die 1973 im Krieg gegen Israel den Suezkanal überschritten, hätten diesen Satz skandiert. Irren die Amerikaner, selbst Arabischkundige von FBI und CIA, die den Cockpit-Voicerecorder abhörten? Das New Yorker „Wall Street Journal“ behauptete am Freitag, sie hätten einen Teil der Tonbandaufzeichnungen falsch interpretiert. Der Satz „Ich habe meine Entscheidung getroffen“ sei gar nicht gefallen. US-Untersucher schildern den frommen Batuti jedenfalls als problembeladen. Zeugen bekunden, er habe in letzter Zeit „etwas depressiv“ gewirkt; er habe darunter gelitten, nie zum Flugkapitän befördert worden zu sein, obwohl er auch Ausbilder bei der ägyptischen Luftwaffe war. Finanzielle Schwierigkeiten seien ihm womöglich entstanden, weil eine Tochter in den USA wegen einer Erkrankung des Immunsystems behandelt werden muss. Vor dem Todesflug habe Batuti ausrichten lassen, „alles Geld“ nach Kairo zu schicken. Während ägyptische Experten nunmehr die Tonbänder inspizieren, treten die ersten US-Anwälte nach vorn. Sie wollen EgyptAir und Boeing auf Schadensersatz verklagen. Joachim Hoelzgen „Uns ging es gut“ Umeima al-Dahi, 58, Witwe von Kopilot Gamil al-Batuti, über die Vorwürfe, ihr Mann habe den EgyptAir-Absturz herbeigeführt SPIEGEL: Frau Dahi, Ihr Ehemann hat AP nach Meinung von US-Experten die EgyptAir-Maschine abstürzen lassen, um Selbstmord zu begehen … Dahi: … eine haltlose und beleidigende Behauptung. SPIEGEL: Es wäre nicht das erste Mal, dass sich ein Pilot auf so spektakuläre Weise das Leben nimmt. Dahi: Gamil war ein gläubiger Muslim, so wie viele amerikanische Piloten sicher auch gläubige Christen sind. Menschen, die an Gott glauben, verabscheuen die Sünde des Selbstmords. Kopilot al-Batuti mit Familie Sie sind zu solch einer Tat nicht fähig. „Keine Schuldsprüche“ SPIEGEL: Eine plötzliche Depression wäre denkbar oder dass Ihr Mann an felsfrei, wann dieser Ausspruch getan einer unheilbaren Krankheit litt. wird: wenn man eine kritische SituaDahi: Ausgeschlossen. Gamil war kern- tion rasch mit Gottes Hilfe meistern gesund, sonst hätte EgyptAir ihn doch will. Wer sich von der Welt verüberhaupt nicht fliegen lassen. abschiedet unter Missachtung des SPIEGEL: Vielleicht hatte er Schulden islamischen Selbstmordverbots, würund Ihnen das verschwiegen. de dieses Zitat niemals benutzen. GaDahi: Uns ging es gut, Allah hatte es mil al-Batuti wäre der Letzte gewesehr gut mit uns gemeint.Warum wird sen, der sich in Todesnot vom Islam jetzt mit allen Mitteln versucht, mei- entfernt. nen Mann, mit dem ich in wenigen Wo- SPIEGEL: Und wie erklären Sie sich die chen unser 35-jähriges Ehejubiläum Selbstmord-These? feiern wollte, als gewissenlosen Selbst- Dahi: Ich wundere mich, dass sie aufmörder und Mörder abzustempeln? rechterhalten wird, aber ich verteile SPIEGEL: Warum hat er denn, kurz vor keine Schuldsprüche. Was ich über dem Absturz, den Koran zitiert: „ta- meinen geliebten Ehemann, den Vater wakkaltu ala Allah“ – „Ich vertraue der jetzt zu Waisen gewordenen Kinder, gesagt habe, ist doch ganz leicht ganz auf Gott“? Dahi: Jeder, der unsere Redewendun- zu überprüfen. Interview: Volkhard Windfuhr gen und Gebräuche kennt, weiß zwei- 214 d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Ausland M. HORACEK / BILDERBERG Mafia-Hochburg Corleone: „Mit neuem Gesicht, aber dem gleichen harten Herzen“ I TA L I E N „Aus Killern werden Banker“ Ein Verdacht geht um in Sizilien: Sind die gefeierten Erfolge des Staates im Kampf gegen die Mafia nur schöner Schein? Die Paten der Unterwelt ließen lächelnd ihre alte Organisation zerstören und schufen längst neue Machtstrukturen. 216 im vorigen Jahr umgebracht, aber „keiner von der Mafia“. In der Stadt begann neues Leben. Das Teatro Massimo wurde 1997 wieder eröffnet. 23 Jahre stand es leer, mit 1400 Plätzen eines der größten Opernhäuser Europas, einst Mahnmal für den Verfall Siziliens. Nun zieht es wieder feinstgekleidete Menschen ins Zentrum. Bars, Restaurants, Boutiquen haben sich rundherum angesiedelt. 1985 begann Orlando seinen Kampf. Dann, 1990, stellte der Christdemokrat seine Mafia-verfilzte Partei vor die Wahl: „Entweder Andreotti oder ich.“ Er verlor und verließ die Partei. Doch bald darauf war die Democrazia Cristiana (DC) nach immer neuen Korruptions- und Parteispendenskandalen am Ende. Und der siebenmalige Ministerpräsident Giulio Andreotti verschwand von der politischen Bühne. Orlando trat 1993 mit einer Koalition um seine neu gegründete Partei La Rete (das REUTERS W ir haben die Mafia aus den Köpfen der Menschen verbannt.“ Leoluca Orlando, 52, Bürgermeister der sizilianischen Hauptstadt Palermo und Italiens bekanntester Anti-Mafioso, bilanziert stolz, was er erreicht hat: „Die kulturelle Hegemonie der Mafia in Palermo ist gebrochen.“ Tag und Nacht stehen Polizeiwagen vor Orlandos Haus in der stillen Via Dante. Neun Leibwächter sollen sein Leben schützen. Zwei Vorgänger liegen auf dem Friedhof. Erschossen. Einer sitzt im Knast, er wurde als Mafia-Mitglied enttarnt. Orlando, schwarze Haare, gebräuntes Gesicht, rundlich, aber ständig auf vollen Touren, sitzt im Wohnzimmer seiner prächtigen Villa, die er mitsamt den wertvollen alten Möbeln von einem Onkel aus Corleone geerbt hat – alles Jugendstil – und erzählt und erzählt: wie seine Freunde und er Licht in die zuvor düstere Stadt gebracht, Schutt weggeräumt, Ruinen gesäubert haben. Und wie sie seither versuchen, Meter für Meter Palermo aus den Klauen der Unterwelt zurückzuerobern. Palermos Bürgermeister Orlando Die mächtigen „Familien“ wurden unruhig Als Leoluca Orlando Mitte der achtziger Jahre Bürgermeister wurde, „wagte sich niemand am Abend zu Fuß in die Altstadt“. 200 bis 240 Morde gab es damals in Palermo jedes Jahr. Heute kann man nachts um drei herumspazieren. Sieben Menschen wurden d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 GAMMA / STUDIO X Zerbombtes Auto von Richter Falcone (1992): Tausend Kilogramm Sprengstoff R. KOCH / CONTRASTO / AGENTUR FOCUS Netz) wieder an und holte über 75 Prozent der Stimmen. Das machte ihn zum König Palermos: Er verjagte die Angst, vertrieb die Mafia. Cosa Nostra (Unsere Sache), wie sie sich in Sizilien nennt, verlor den Nimbus der Unbesiegbarkeit. Bald, jubelten die Menschen, wird die bleierne Zeit unter der Knute der Mafia Geschichte sein. Wirklich? Orlandos Stimme wird leiser. Gewiss, hunderte von Killern und Helfern, Bosse und Paten sitzen im Knast, oft verraten von ihren Ex-Kumpels. Aber er werde einen schrecklichen Gedanken nicht los: Was Italien schon als Sieg über die Mafia feiere, sei womöglich ein Trick, „eine gezielte Aktion“ der Mafia selbst. Die Cosa Nostra mache sich „fit für das nächste Jahrtausend“: Sie verbrenne ihre alten Strukturen, opfere Stützpunkte und Kommunikationsnetze, weil sie längst „eine neue, noch geheimere Formation“ aufgebaut habe. Ist das denkbar? Die Verhaftungen und die Geständnisse, die beschlagnahmten Millionen – Häuser, Autos, Goldbarren, Schmuck –, alles ein Werk der Paten selbst? Alles ausgeklügelt vom Superhirn des Bösen? Nicht nur Orlando hat diesen Verdacht. Auch Staatsanwälte und Fahnder der Anti-Mafia-Sondereinheiten treibt dieser Alptraum um. Chefankläger Piero Luigi Vigna beschreibt die „neue Strategie“ der organisierten Unterwelt so: „Den Eindruck erwecken, dass die Mafia nicht mehr existiert, dass sie keine Gefahr mehr darstellt.“ Nicht weil sie plötzlich gute Menschen geworden seien, „ermorden sie plötzlich niemanden mehr“, warnt Tommaso Buscetta, sondern weil sie in neue, größere geschäftliche Dimensionen vorstoßen wollen. Der einstige Mafia-Statthalter in Brasilien war der erste prominente Insider, der auspackte. Hunderte seiner Kumpel kamen durch ihn in den achtziger Jahren in den Knast. Auch Giuseppe Cipriani, Bürgermeister der berüchtigten Mafia-Hochburg Corleone, sieht „eine neue, intelligente Führung“ am Werk. Sie haben andere Strukturen geschaffen und eine „Mafia mit neuem Gesicht, aber dem gleichen harten Herzen“. Die Maschinenpistolen kommen in den Schrank, die Salzsäurebecken werden geleert. Primitiv-Kriminalität, etwa die Schutzgelderpressung, bleibt den kleineren Lichtern der Dunkelwelt überlassen – die neue Mafia formiert sich zu einer global verflochtenen, effizienten Organisation. Neben den klassischen Geschäftsbereichen wie Frauen-, Waffen- und Drogenhandel und ihren Interessen in der Bauwirtschaft, im Gesundheitswesen, in der Abfallbeseitigung und im Energiesektor liegt der Kern künftiger Aktivitäten, so Anti-Mafia-Demonstration in Palermo (1989): „Fit für das nächste Jahrtausend“ denken die Fahnder, im Geldhandel. Orlando: „Aus den Killern werden Banker.“ Wer wie Orlando mit dem Vornamen Leoluca heißt, stammt fast immer aus Corleone. Denn der Heilige Leoluca ist Schutzpatron des Städtchens im sizilianischen Bergland, dem Zentrum der Mafia. Die Orlandos sind uralter CorleoneAdel. Ihnen gehörte einst der Palast im Herzen der Stadt, in dem heute Gericht und Rathaus logieren. Reich und in engster Nachbarschaft zu Paten und Killern, so wuchs der kleine Leoluca auf. In den fünfziger und sechziger Jahren war es beinahe noch idyllisch: Die „uomini d’onore“ (Ehrenmänner), wie sich Mafiosi selbst gern nennen, träumten davon, dass ihre Söhne einmal Richter oder Politiker würden. Sie beneideten das Establishment – schossen es aber nicht nieder wie ihresgleichen. Das ändert sich in den siebziger Jahren. Die „Corleonesi“ übernahmen die Macht in der Verbrecherorganisation, Clans, die d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 mit äußerster Brutalität und mit neuen Wertvorstellungen zu Werke gingen: Ihre Söhne sollten große Bosse werden, nicht Richter oder Politiker. Die kaufte man oder ließ sie abknallen. Rückendeckung bekamen die MafiaSchwadronen aus der Politik: Alles, was im Kalten Krieg gegen die – in Italien durchaus populären – Kommunisten half, war im konservativ-bürgerlichen und sozialistischen Lager willkommen. Besonders die Spenden. Auch die radikal antikommunistische Kirche ließ die, meist streng katholischen, Paten unbehelligt wirken. „Die Mafia gibt es gar nicht“, so schrieb 1963 etwa der Erzbischof von Palermo, Ernesto Ruffini, an den Papst. Das ganze Theater darum sei „eine Erfindung der Kommunisten, um einer christlich inspirierten Partei zu schaden“. Aber die „Corleonesi“ unter der Führung Totò Riinas übertrieben. Sie ermordeten den KP-Chef der Region, Pio La 217 Ausland „Pentiti“ (Reuige) hießen die Gangster in Italien, die sich auf einen Deal mit der Justiz einließen: Strafrabatt und Sicherheit gegen den Verrat der Kollegen. Über 1200 Mafiosi kollaborierten bis heute mit den Juristen. Aber „nicht einer, auch unter den hochrangigen Pentiti, kannte Bankverbindungen und Kontonummern“, wunderte sich Palermos Bürgermeister anfangs. Heute ist Orlando „ziemlich sicher“: „Das Ganze ist gesteuert.“ Die „cupola“ (Kuppel), das Führungsgremium selbst, habe die Order gegeben, uraltes Mafia-Recht zu brechen: „Redet Leute, erzählt alles!“ Auch Sonderstaatsanwalt Vigna glaubt an solch einen Befehl. „Kollaboriert nur“, habe die Devise gelautet, „aber vergesst nicht die Interessen der Organisation dabei.“ Ockertöne dominieren im Herbst das sizilianische Hochland. Die Berge sind schroff, die Wege schlecht. „Straße zwischen Kilometer 1 + 2 und Kilometer 11 + 12,500 weggebrochen“, steht auf einem Schild. Corleone, 13 000 Einwohner, ist ein lebhaftes, hübsches Städtchen. In der verwinkelten Altstadt hocken alte Männer auf CORBIS SYGMA Torre, und den Präfekten von Palermo, Carlo Alberto dalla Chiesa samt Ehefrau. Sie richteten Blutbäder an in Rom, Mailand und Florenz. Tausend Kilogramm Sprengstoff zerfetzten im Mai 1992 den Richter Giovanni Falcone und seine Frau sowie Auto und Leibwächter. Es gab acht Tote. Am 19. Juli exekutierten sie seinen Kollegen Paolo Borsellino und sieben Beschützer. Der elfjährige Giuseppe Di Matteo wurde entführt und nach 18-monatiger Gefangenschaft erwürgt, sein Körper in Säure aufgelöst, weil sein Vater mit der Justiz kollaborierte. Die Empörung in Italien wuchs. Wie nie zuvor mussten Polizei und Militär – unter dem Druck eines aufgebrachten Bürgertums – gegen die Mafia vorgehen. Klammheimliche Partnerschaft zwischen den Paten und Politikern wurde über Jahrzehnte hingenommen, nun lösten sie Presseskandale und Proteste in den Straßen aus. Auch international wurde es für die Cosa Nostra ungemütlich. Die mächtigen „Familien“ in den USA wurden unruhig. Verändert hatte sich zudem auch die politische Großwetterlage: Mit dem Fall der Berliner Mauer endete der Kalte Krieg. Der Antikommunismus gab als Legitimation und Schutzschirm nicht mehr viel her. Mutige Staatsanwälte und Richter begannen an vielen Orten zu recherchieren. Das Angeklagter Riina (1993) Kleine und große „Pentiti“ packten aus Leben für die Mafiosi wurde härter, die Profite der Organisation gingen zurück. Der Weltkonzern Mafia wankte. In dieser Lage, davon ist Orlando überzeugt, beschlossen die Aufsichtsräte des Mafia-Imperiums, dessen Firmen und Geschäfte sich zu dreistelligen Milliardensummen in Dollar addierten, dass etwas passieren musste. Und etwas Seltsames geschah: Kleine und große Mafiosi packten aus. Die „omertà“, das Gesetz des Schweigens, heiliges Gut der sizilianischen Unterwelt, galt auf einmal nicht mehr. AGENZIA CABRUZZO Mit Hilfe eines Compuweißen Plastikstühlen am ters haben die Fahnder ein Straßenrand. Die Jungen Jugendbild künstlich gealknattern auf Mopeds vortert. Aber die wenigen, die bei. ihn je zu Gesicht bekamen Giuseppe Cipriani, 37, und darüber aussagten, beseit sechs Jahren Bürgerhaupten stets, er sehe völlig meister, wohnt im dritten anders aus. Stock eines Neubaus, ohne Blond, untersetzt, der Bewachung. „Ich bin keine Blick etwas einfältig – so Zielscheibe wie Orlando“, war er damals, als er unsagt er lächelnd, „ich bin tertauchte. „Ungehobelt, nicht so prominent.“ ein Analphabet“, erinnert Er hat im Bett gelegen, sich Buscetta an den junfühlt sich schlapp und gen Mann. Den „Traktor“ elend, seit Wochen: „Der nannten sie ihn, weil er unÄrger“. Kein Wunder, ein beirrbar, kraftvoll und bruerklärter Anti-Mafioso als Provenzano (Phantombild) tal seinen Weg nahm – über Bürgermeister in Corleone – brutaler kann ein Gegensatz kaum sein. alles hinweg. Heute, hat Cipriani gehört, Denn hier ist die Mafia heute so stark wie spreche Provenzano vier, fünf Sprachen. Er eh und je – das Zentrum des Cosa-Nostra- habe „enorme Management-Fähigkeiten“, steht in einem Polizei-Dossier. Aber viel Reiches. Von hier verschwand, in einer Voll- mehr weiß man nicht über den vermutlimondnacht im Herbst 1963, ein damals ge- chen „Boss der Bosse“. Eine Task-Force rade 30-jähriger Nachwuchs-Mafioso: Ber- mit 300 Leuten jagt ihn seit vielen Jahren. nardo Provenzano. Fast drei Jahrzehnte Immer wieder waren die Ermittler ihm, später wird er „Schöpfer, Urheber, Füh- wie sie glaubten, ganz nahe gekommen – er entwischte ihnen jedes Mal. rer“, so Cipriani, einer neuen Mafia. Bunte Geschichten über ihn kursieren Provenzano, 1933 in Corleone geboren, ist ein Phantom. Ganz oben auf den Fahn- in Sizilien, aber niemand weiß, ob sie stimdungslisten der Polizei in aller Welt steht men. Dass er, wenn er reisen will, seinen er, aber als Einziger ohne echtes Foto. Seit Fahrer erst im letzten Moment einbestellt und der nie das Ziel der Tour kennt, wenn 36 Jahren gibt es kein Bild von ihm. er abfährt. Oder dass er Anfang dieses Jahres schwer krank gewesen sei und sich in einer Kinderklinik in der Toskana habe behandeln lassen. Oft wurde der Schattenmann im Laufe der Jahrzehnte totgesagt. Etwa im April 1992, als seine Frau, Saveria Benedetta Palazzolo, mit ihren Kindern plötzlich wieder in Corleone auftauchte. 20 Jahre zuvor war sie ihrem Mann in den Untergrund gefolgt. Nun schloss sie das alte, leer stehende Haus Provenzanos wieder auf – und lebte fortan wie eine Witwe. „Er ist tot“, flüsterten die Leute. Dabei rüstete er gerade auf, um die Spitze der Organisation zu übernehmen. Am 30. Juni 1992 wurde Totò Riina verpfiffen. Luciano Liggio – im Knast, aber damals „unbestrittenes Oberhaupt von Corleones Mafia-Society“ (Buscetta) – habe den Daumen gesenkt, und mit ihm alle Clan-Chefs, hieß es. Riina ging ins Gefängnis, Provenzano übernahm den Laden und krempelte ihn um. Er ist der Modernisierer im erstarrten Traditionsverein der sizilianischen Unterwelt: Effizienter, lukrativer denn je soll das Verbrechen werden. Und er weiß, wo neue hoch profitable Geschäftsfelder liegen. Schon zu Beginn seiner Karriere, als seine Kollegen sich auf Heroin-Geschäfte konzentrierten, zog es ihn in den kommunalen Dienstleistungssektor, vorzugsweise T. GENTILE / SINTESI Hafen von Palermo: Die Ehrenmänner kämpfen mit äußerster Brutalität 220 selbst wundern, haben der Polizei gesteckt: So will es „Zu Binnu“, im sizilianischen Unterwelt-Dialekt „Onkel Bernard“. Provenzano hat heute offenbar mehr Macht als jeder seiner Vorgänger. Nach einer Aufstellung der italienischen Sicherheitsbehörden, von der römischen Zeitung „la Repubblica“ veröffentlicht, zählt seine Gesellschaft aktuell 4791 „Ehrenmänner“, organisiert in 177 „Familien“. Bei Bedarf können die hauptberuflichen Gangster auf 414 nebenberufliche Spezialisten zurückgreifen: „Ingenieure, Kaufleute, Unternehmer, Mediziner, Politiker, große Händler, Funktionäre der Verwaltung, AFP / DPA zum Umweltschutz: In der westsizilianischen Hafenstadt Trapani übernahm er, über einen Strohmann, die komplette Müllabfuhr. Jedenfalls die Einnahmen. Für die tatsächliche Müllbeseitigung musste viele Jahre lang ein einziger kleiner Lieferwagen für die ganze Stadt reichen. Und in Palermo spülte auf ganz ähnliche Weise der Bau einer großen Kläranlage viel Geld in seine Kassen. Provenzano macht alles anders als seine Vorgänger. Seine Frau, mutmaßen die Fahnder, wird zur engen Vertrauten mit weit reichenden Kompetenzen bei der Leitung diverser Bau- und Dienstleistungsfirmen aus dem Imperium ihres Mannes – ein Novum im sizilianisch-katholischen Mafia-Patriarchat. Auch die zwei Kinder leben gar nicht so, wie es früher unter Mafiosi üblich war: Der ältere Sohn leitet eine Versicherungsagentur in Palermo, der jüngere studiert. Selbst vor heiligen Traditionen schreckt Provenzano nicht zurück. Für antiquiert erklärt er das blutige Ritual bei der Aufnahme eines Neulings. „Man sticht ihm in den Finger und lässt das Blut auf ein Heiligenbildchen tropfen. Das Bild wird dann in seine Hand gelegt und angezündet“, schildert Tommaso Buscetta die Mafia-Taufe. Mit dem brennenden Papier in den Händen bekennt sich der Adept alsdann auf ewig zur Cosa Nostra: „Mein Fleisch möge verbrennen wie dieses Heiligenbildchen, wenn ich nicht in Treue fest zu meinem Schwur stehe.“ Nach innen fügt Provenzano die Organisation noch fester – wenn nötig, wie eh und je, mit blutiger Gewalt, nach außen verschwindet Cosa Nostra nach und nach. Keine Bomben gegen Staatsanwälte mehr, keine Kugeln für Journalisten. Zwei Jahre Body-Count null in Palermo, seit November 1997: Das hat es dort seit 100 Jahren nicht gegeben. Kleine Mafiosi, die sich Andreotti nach Freispruch (im Oktober) Die Mafia hat gewonnen Rechtsanwälte, Notare“. Dazu kommen „mindestens 20 000 Helfer“ im Ausland, schätzt die Anti-Mafia-Sondereinheit DIA. Entsprechend sind die Umsätze und Einnahmen. Die kriminellen Organisationen seien heute so vermögend, heißt es in einer Untersuchung des italienischen Handelsverbandes, „dass die ,Gelben Seiten‘ (der Branchen-Telefonbücher) nicht reichen würden, deren Reichtümer aufzulisten“. Allenfalls vier bis fünf Prozent des MafiaBesitzes werden von den Behörden aufged e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 spürt und beschlagnahmt. Immerhin summierte sich dieser kleine Anteil auf weit über 500 Millionen Mark allein im vergangenen Jahr. Die Mafia baut Straßen und Brücken, leitet Krankenhäuser, verwaltet Universitäten – immer mit dem Ziel, versteht sich, ein Maximum an öffentlichen Geldern in die eigenen Kassen zu lenken. Bauträger, Handels- und Dienstleistungsgeschäfte sind für die Mafia aber nicht nur wegen der Profite wichtig. Die illegalen Einnahmen aus dem Drogen- und Waffenhandel, aus Prostitution und Zigarettenschmuggel können in den „sauberen“ Branchen „gewaschen“, also legalisiert werden. Täglich wird auf diese Weise weltweit eine Milliarde US-Dollar gewechselt. Den relativ größten Anteil daran hat, schätzen die Fahnder, Provenzanos neue Cosa Nostra. Die vermutlich besten Möglichkeiten, schmutziges Geld zu waschen, Milliarden dubioser Herkunft sauber zu investieren, bieten dabei Banken- und Investmentgesellschaften. „Als Banker“ stellt sich Leoluca Orlando denn auch „die heutigen Paten“ vor. „Die sitzen womöglich in Frankfurt oder London“, glaubt er, und niemand käme bei ihnen auf die Idee, Mafia-Bosse vor sich zu haben. Nur eines weiß Sonderstaatsanwalt Piero Luigi Vigna wirklich über Provenzanos neue Cosa Nostra: Sie ist „reicher, internationaler, technisch besser als je zuvor“. Dagegen ist das Interesse, mit allen Mitteln gegen den kriminellen Kraken vorzugehen, dramatisch geschwunden. Vor allem das Ende der Andreotti-Prozesse hat die Stimmung in Italien gekippt. Der DCPolitiker wurde nach dreieinhalbjährigen Verhandlungen von der Anklage der MordAnstiftung und der Mafia-Beihilfe freigesprochen. Nun sind die Italiener der unendlichen Prozesse um bestechliche Politiker und verschobene Millionen müde, da sie am Ende, wie man sieht, doch zu nichts führen. Resigniert stellt auch Buscetta, der einst gefeierte Kronzeuge gegen die Mafia, fest, „dass man in Italien um jeden Preis das Kapitel Mafia schließen“ und den „Kampf gegen die Mafia beenden“ wolle. Seine Memoiren, die soeben veröffentlicht wurden, tragen den bezeichnenden Titel: „Die Mafia hat gewonnen“. Mit überwältigender Mehrheit änderte jetzt das römische Parlament einen Verfassungsartikel, der die Rechte und Pflichten für Staatsanwälte und Richter regelt. Unter der Überschrift „Der gerechte Prozess“ engt das neue Gesetz den Spielraum der Fahnder und Ankläger so ein, dass der Mailänder Generalstaatsanwalt Gerardo D’Ambrosio lakonisch feststellt: „Das ist das Ende der Ermittlungen gegen die Korruption und gegen die Mafia.“ Hans-Jürgen Schlamp Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Ausland KALININGRAD „Es war die reine Hölle“ Als die Deutschen bei Kriegsende vertrieben waren, kamen russische Siedler nach Ostpreußen. Jetzt berichten sie, wie es damals war. A Die Sowjetregierung ließ das Beuteland neu besiedeln. Am 27. August 1946 gelangte der erste organisierte Zug aus Brjansk mit russischen Zuwanderern in das verwaiste Gebiet. 12 024 Familien kamen in jenem Jahr in die fremde Provinz, 52 906 Personen. Bis 1948 hatten 130 000 Sowjetbürger im nördlichen Ostpreußen eine neue Heimat gefunden – tausende Deutsche, die nicht geflüchtet oder deportiert waren, starben an Terror, Unterernährung und Seuchen. Die restliche Bevölkerung wurde ab Oktober 1947 in die sowjetische Zone Deutschlands abgeschoben. SÜDD. BILDERDIENST lles war zerstört, die Häuser beschädigt, auf den Schienen standen total verbogene Waggons, überall waren Draht-Igel zur Panzerabwehr und Stahlbetonbefestigungen“, erinnert sich der ehemalige Frontkämpfer Jurij Tregub, der mit seinen Eltern aus dem kasachischen Alma-Ata zuzog. „Als wir in das ehemalige Ostpreußen einreisten, begann die reine Hölle.“ Das Land war leer: Die meisten der 1,2 Millionen Einwohner Nord-Ostpreußens hatten die Flucht ergriffen, zumal die Kunde vom Massaker der Roten Armee in Nemmersdorf Horror verhieß. Aus Ostpreußen flüchtende Deutsche 1944, nachrückende Russen 1945 (u.) „Es war niemand zum Arbeiten da“ Schweden Lettland Russland Litauen Belorussland Polen Den meisten neuen russischen Einwohnern fiel es schwer, sich in den ostpreußischen Städten mit der gotischen Architektur und zwischen den Backsteinhäusern mit den roten Ziegeldächern einzuleben. Das Land war „der russischen Seele fremd und der russischen Wahrnehmung ungewohnt“, protokollieren die Autoren eines Buches, in dem jetzt erstmals russische Zeitzeugen zu Wort kommen*. Es sind Menschen, schreibt der Herausgeber Eckhard Matthes, „die sich so über Jahrzehnte nicht äußern durften“ und nie zuvor „Gegenstand individuell-biografischer, historischer oder zeitgeschichtlicher Reflexion und Darstellung“ waren. Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen sind in Deutschland amtlich dokumentiert, literarisch verarbeitet und bis heute wach gehalten. Doch das entvölkerte Land entschwand hinter dem Eisernen Vorhang. Nur spärlich sickerten Nachrichten über die Herkunft der Neusiedler und deren Lebensbedingungen aus dem militärischen Sperrgebiet in den Westen. Erst jetzt, über ein halbes Jahrhundert später, werden die Schicksale jener bekannt, die damals die verlassene Region einnahmen. Autoren des Buchs sind junge russische Wissenschaftler unter Leitung des Historikers Jurij Kostjaschow von der Universität Kaliningrad. Sie führten in den Jahren 1990/91 in 51 Orten des Kaliningrader Gebiets 320 Interviews mit Neusiedlern und zeichneten sie auf 2500 Seiten auf. In ihrem nun in Deutschland erschienenen Werk fassen die Forscher die authentischen biografischen Aussagen zusammen. Sie beschreiben den Verlauf der Neubesiedlung, vom Anwerben der Bevölkerung bis zum Umzug, Einleben und Wiederaufbau. Ein umfangreiches Kapitel ist der Beziehung der neuen russischen Einwohner zu den in ihrer Heimat verbliebe* Eckhard Matthes (Hrsg.): „Als Russe in Ostpreußen – Sowjetische Umsiedler über ihren Neubeginn in Königsberg / Kaliningrad nach 1945“. Edition Tertium, Ostfildern 1999; 504 Seiten; 59,80 Mark. Neu angesiedelte Sowjetbürger von 1945 bis 1953 210 000 Ostsee Kaliningrad (Königsberg) Baltijsk (Pillau) Memel Slawsk (Heinrichswalde) Pregel Nemmersdorf Gebiet Kaliningrad Gestorbene 130 000* und deportierte Deutsche *geschätzt 224 von April 1945 bis Oktober 1948 EDITION TERTIUM russische Exklave 50 km d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Zerstörtes Königsberg 1944 „Wie schön vor dem Krieg“ nen Deutschen gewidmet. Zusätzlich dokumentieren alte Fotos, Zeitungsnotizen und Befehle der Gebietsverwaltung die Nachkriegsepisode. Aus den Berichten der allmählich aussterbenden Augenzeugen wird deutlich, dass sie bei ihrer Ankunft trotz der gewaltigen Zerstörungen von Königsberg beeindruckt waren. Anna Ryschowa, die Wieder aufgebauter Dom in Kaliningrad 1999 1947 als 17-Jährige in die einstige preu- „Konfliktverdächtige Thematik“ ßische Krönungsstadt kam, faszinierte die „Mächtigkeit der Gebäude, ihre Fes- Prozent gesenkt und für nicht arbeitende tigkeit und Unbezwingbarkeit“. Doch bei Familienmitglieder ganz gestrichen. Noch Regenwetter, erinnert sie sich, schlug ihr fehlte das Wohnungsamt, das generell in „die Enge der Straßen auf das Gemüt“. der Sowjetunion ein Obdach zuwies. AnaBei ihr wuchs „eine Empfindung für die tolij Jarzew berichtet, wie er zwischen fünf zeitliche Begrenzung unserer Anwesen- Wohnungen in fünf verschiedenen Ortheit, und wir fühlten, dass wir hier Frem- schaften wählen konnte. „In der Ortschaft de sind“. Dobrino (Nautzken) hat man uns sofort Anna Kopylowa befand: „Noch an den ein Haus gegeben“, erzählt er. „Wenn du in Gebäuderesten konnte man sehen, wie diesem Haus nicht wohnen willst“, hörte schön die Stadt vor dem Krieg gewesen er, „such dir in der nächsten Ortschaft ein war … Dass hier einst Menschen gelebt anderes.“ haben, die die Natur, die Schönheit und Nicht überall standen Wohnungen leer. behagliche Wohnlichkeit schätzten.“ In einigen Gebäuden hausten Deutsche. Der Neubeginn in dem hinzugewonne- Weil die Lehrerin Manefa Schewtschenko nen westlichsten Territorium der So- einen langen Arbeitsweg hatte, erhielt sie wjetunion erschien wie eine Verheißung eine „Einzugsberechtigung für jedes bedes gelobten Landes: Staatliche Werber liebige Haus im Stadtteil der Schule“. Nach reisten kreuz und quer durch Zentral- langer Suche fand sie ein „Haus nach unrussland, die Ukraine, Belorussland und serem Geschmack“. Die Verwaltung forLitauen, sie versuchten Menschen mit al- derte die vier deutschen Bewohner auf, inlerlei Versprechungen zur Umsiedlung zu nerhalb von 24 Stunden auszuziehen. bewegen. Das Leben auf dem Lande war gefährMit den in Aussicht gestellten Privilegien lich, der Boden mit Bunkern, Schützenhofften Verzweifelte, der Nachkriegsarmut gräben, Blindgängern und Minen durchzu entrinnen. Familienväter empfingen als setzt. „Wenn wir mähten, dann gingen wir Begrüßungsgeld 1000 Rubel – etwa zwei erst mit dem Rechen durch das Gras, ob Jahreslöhne – sowie 300 Rubel für jedes Fa- nicht irgendwo noch Munition lag“, bemilienmitglied und ein Darlehen von 3000 richtet Jekaterina Morgunowa. „Die Erde Rubel oder eine Kuh. Als weitere Starthil- war fruchtbar“, lautet die angenehme Refe erhielt die Sippe kostenlosen Transfer miniszenz der Larissa Amelina, die aus und ein Haus auf dem Land. dem Gebiet Orjol kam. „Ich habe Halme in Das Leben war äußerst hart. Im Sep- Erinnerung, die waren fingerdick, Tomatember 1946 wurde die Brotration um 30 ten reiften direkt auf den Stauden, die 226 d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 A. SAREMBO ULLSTEIN BILDERDIENST Kohlköpfe waren riesig, es gab sehr viele Gurken.“ Beim Pflügen entdeckten die Neusiedler tönerne Rohre, zogen sie heraus und warfen sie in Brunnen. So zerstörten sie das Drainage-System, das Ostpreußen seinen Wohlstand beschert hatte. Dämme, Kanäle, Pumpstationen verrotteten, die einst so ertragreichen Felder der „Kornkammer des Reichs“ versumpften – bis heute. Gleichzeitig mit dem Zuzug der Russen in das nun nach dem Altbolschewiken Kalinin benannte Gebiet begann die Aussiedlung der deutschen Bevölkerung. „Sie wollten nicht wegfahren. Sie standen mit ihren Bündeln an der Haltestelle, warteten auf die Wagen, einige weinten“, beschreibt Galina Roman, damals acht Jahre alt, den Bevölkerungsaustausch. Der zurückgelassene Besitz – Schränke, Stühle, Tische – musste in Schuppen gebracht werden, so Alexander Puschkarjow aus Slawsk (Heinrichswalde): „Wenn die Neusiedler kamen, sollten die Möbel für sie bereitstehen. Alles Quatsch, alles ist kaputtgegangen. Die Straßen waren zerstört, und bis die Möbel ins Lager kamen, waren nur noch Bretter übrig.“ Tatjana Mulinkowa arbeitete in einer Schneiderei in Baltijsk (Pillau) mit deutschen Frauen zusammen. Sie erzählt aus dem Jahre 1948: „Als wir eines Tages zur Arbeit kamen, waren die Deutschen weg, es war niemand zum Arbeiten da. Innerhalb einer Nacht hatte man sie abtransportiert – wie weggeblasen.“ Die Beziehung der Neusiedler zu den Letzten der angestammten Bevölkerung bleibt eine „konfliktverdächtige Thematik“. Damit mussten die Autoren, so der Lüneburger Osteuropa-Historiker Matthes, „unweigerlich Tabugrenzen berühren“, die in der Sowjetunion jahrzehntelang nicht angetastet werden durften. Entsprechend kritisch reagierten russische Verlage und Behörden bei der Vorlage des Buch-Manuskripts. Noch immer können Kaliningrader über ihre eigenen Wurzeln in der Landschaft nichts lesen. Aber sie interessieren sich längst für die historischen Ursprünge – sie suchen in den Trümmern nach der deutschen Vergangenheit. Der Königsberger Dom mit dem KantGrab wurde mit deutschen Spendengeldern wieder aufgebaut, und die ostpreußische Dichterin Agnes Miegel erlebt eine Renaissance: Sie beschreibt, so meint Sem Simkin, der russische Herausgeber ihrer Werke, die Heimat auch der Russen, die dort geboren sind. Carsten Voigt Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite PA / DPA Premierminister Blair, Thronfolger Charles: Streit wie auf dem Billardtisch ausgetragen G R O S S B R I TA N N I E N Warten auf William den Letzten Die Briten lieben die Monarchie, haben aber den Glauben an ihren Bestand verloren: Diana vergessen, Camilla im Kommen, Charles im Konflikt mit Tony Blair. Der Prince of Wales rebelliert gegen Cool Britannia – und das Volk setzt auf seinen Sohn. Von Carlos Widmann W enn dem Gehör zu trauen ist, wird His Royal Highness von den 5000 Menschen im Saal zur Begrüßung ausgepfiffen. Hierauf ertönt recht unfeierlich „God Save the Queen“: in schrägem Rhythmus und mit schrillen Trompetenstößen, als würden die Musiker sich über die Landeshymne lustig machen. Und auch die nächste Nummer klingt nicht gerade wie eine Verneigung vor Britanniens künftigem Monarchen – zumal in der Woche, da dieser seinen 51. Geburtstag feiert. Auftrumpfendes Blech und dumpfe Beckenschläge verkünden das amerikanische Gleichheitsideal: in der etwas bejahrten „Fanfare für den gemeinen Mann“ (Frauen gab es 1942 noch nicht) des Komponisten Aaron Copland. Charles, Fürst von Wales, hat mit diesem Gaudium keine Probleme. Er interpretiert das Pfeifkonzert und das Gejohle korrekt als jugendliche Beifallsbekundung. Und über die musikalischen Frotzeleien hört er, selber Cellospieler, amüsiert hinweg. Die Leuchtkraft seiner sichtlich gut durchbluteten Wangen strahlt herzwärmend von der königlichen Loge auf die Menschenmasse in Londons gigantischer Albert Hall aus. Doch des Prinzen vertraute Gesten der Volksermunterung wir230 ken stets distanziert, wie durchpulst von Selbstironie. Charles Windsor Mountbatten lächelt in Anführungszeichen. Gerade jetzt, da „HRH“ eine Aufsehen erregende Privatfehde mit dem populären Labour-Premier Tony Blair austrägt, registriert sein Gefolge genau, welche Resonanz der ewige Thronanwärter in der Bevölkerung noch findet. So auch während der „Schools Prom“ in der Royal Albert Hall: Auf dem Höhepunkt des alljährlichen Musikwettbewerbs, bei dem junge Menschen alle Strömungen der britischen Multikultur lautstark zu Gehör bringen, wird der Herr im grauen Zweireiher wie ein Pop-Star umjubelt. Das ist für ihn besonders darum angenehm, weil die Zeitungen wieder vom „getrübten Verhältnis zwischen Prinz und Regierung“ berichten, gar von einem „wütenden Tony Blair“ – wie es im „Guardian“ heißt –, der Charles zum „Showdown“ an seinen Amtssitz Downing Street bestellt habe: und dies, so weiß die linksliberale Zeitung, weil der Thronfolger „die Autorität der Regierung unverblümt herausgefordert“ habe. Aus der Sicht Tony Blairs unternehme Charles wieder einmal einen „wohlberechneten Versuch, die öffentliche Meinung zu manipulieren“. d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Freilich würde kein offizielles Mundstück in der Downing Street oder dem St. James’s Palace (wo der 21. Prince of Wales der letzten 698 Jahre derzeit in London residiert) je solche Verstimmungen zugeben. Es gehört zu Englands ungeschriebenen Gesetzen und Überlebensregeln, dass Königshaus und Regierung niemals Kritik aneinander üben. Darum wird der Streit zwischen Prinz und Premier wie auf dem Billardtisch über die Bande ausgetragen – durch Gesten und durch anonym bleibende Formulierer, die giftige Bemerkungen fallen (oder auch gleich drucken) lassen. Die Streitgegenstände wirken läppisch, der ganze Disput scheint sich um fast nichts zu drehen – um die Teilnahme an einer Fuchsjagd, die Verweigerung einer chinesischen Mahlzeit, das Eintreten gegen genmanipulierte „Frankenstein-Nahrung“ sowie die offen ausgedrückte Geringschätzung des Prinzen für gewisse Hervorbringungen der modernen Architektur. Die Fuchsjagd scheint der explosivste Konfliktstoff zu sein. Dieser berittene Zeitvertreib der alten bodenständigen Oberschicht wurde schon vor hundert Jahren von Londoner Intellektuellen mit Sarkasmus überschüttet: „Die Unsäglichen Werbeseite Werbeseite Ausland REX FEATURES REUTERS Liebhaber einer restaurativen, sind wieder hinter den Unhistorisierenden Bauweise hat genießbaren her“, lästerte Charles seit jeher die „MonOscar Wilde. Heute sind es die strositäten“ und den „NeoMitleids- und Neidinstinkte Brutalismus“ gegeißelt, die der breiten städtischen MehrBritanniens Großstädten wähheiten, die sich gegen den teurend der letzten 50 Jahre von ren und schönen, für Ross, modernen Architekten zugeReiter und Fuchs überaus gefügt wurden. fährlichen Sport wenden. Hat ein Thronfolger denn Tony Blair und New Labour keinen Anspruch auf eine sind für alles Populäre und sopersönliche Meinung, wenn er mit auch gegen den „Blutdamit nicht gerade in die Tasport“, bei dem bisweilen ein gespolitik eingreift? Charles’ Fuchs von der Hundemeute ureigenste Mischung aus ökozerrissen wird. (In der Regel logisch-sozialem Engagement jedoch wird das Raubtier vom und ausgeprägtem Wertekonblitzartigen Nackenbiss des servatismus hat den Prinzen Leithundes erledigt – wenn es schon zu Margaret Thatchers der hechelnden Meute nicht Zeiten in Konflikt mit den Resogar entkommt.) Gegen die gierenden gebracht. Damals Bemühungen Tony Blairs und höhnte Maggies liebster Toryseiner Parteifreunde, dieses Häuptling Norman Tebbitt Weidwerk per Gesetz zur Streüber den Einsatz des Prinzen cke zu bringen, sagte der für die Armen und ObdachloPrince of Wales kein einziges sen: „Er zeigt so viel SympaWort: Dafür nahm er seine thie für Leute, die keinen Job beiden Söhne William und haben, weil er selber gewisserHarry – die Lieblinge der Bou- Königin Elizabeth II., Sohn Charles: „Schatten des Zweifels“ maßen ein Arbeitsloser ist.“ levardpresse und der Nation – Dafür haben nun die Konservativen vor einigen Wochen demonstrativ auf die dringlich vor den Gefahren genmanipuFuchsjagd mit. Der Aufschrei aller Gut- lierter Nahrungsmittel warnte – ganz gegen ihren Spaß daran, dass die führenden Köpfe von Blairs Labour Party – die in dem menschen war markerschütternd, und Blair den Kurs von New Labour. Und richtig gefreut hat es den Briten- Prinzen einst einen natürlichen Verbündesoll einen Wutanfall bekommen haben. Stummen und doch beredten Wider- Premier wohl auch nicht, als Charles seine ten gesehen hatten – jetzt unter seinen stand leistete Charles auch, als im Oktober private Meinung über das Lieblingsprojekt schnoddrigen Seitenhieben und provozieder chinesische Machthaber Jiang Zemin in des Bauherrn Tony Blair durchsickern ließ renden Gesten zu leiden haben. Auf diese London empfangen und umworben wurde: – über den protzig-gewaltigen „Millennium wiederum reagieren die Linken betont unAuf dem Staatsbankett, zu dem Jiang die Dome“, der zur Jahrhundertwende in Lon- zimperlich: Im „Observer“ wird hervorgebritische Prominenz in die chinesische Bot- don eröffnet werden soll: Nicht einmal wil- hoben, dass Charles durch seine Freude schaft geladen hatte, erschien der Thron- de Pferde, hat der Kronprinz wissen lassen, am Weidwerk indirekt in Berührung mit folger nicht – er konnte andere gesell- könnten ihn in diese Scheußlichkeit hin- ultrarechten Kreisen gekommen sei – als einzerren. Überraschend war das nicht: Als ob Fuchsjagd und Faschismus irgendwie schaftliche Verpflichtungen nachweisen. zusammenhingen. Aber das war gleichwohl ein Statement. Was Charles so aufgekratzt und kämpDenn Charles ist mit dem Dalai Lama beferisch stimmt, ist auf Anhieb nicht ausfreundet, dessen Tibeter in China unterzumachen. Er lehne sich innerlich gegen drückt werden. Und angeblich wollte der Tony Blairs Schaumschlägerei, gegen Cool Prinz damit auch auf einen kleinen, amtBritannia auf, meinen Beobachter der liche Scheinheiligkeit verratenden WiderRoyals. Außerdem kämpfe der Prince of spruch hinweisen: Wales schlicht um die Würde und den BeDieselbe britische Regierung, die den stand der Monarchie – die er selbst noch greisen Ex-Diktator Augusto Pinochet seit vor wenigen Jahren durch frivoles Fehleinem Jahr im Hausarrest hält, umschmeiverhalten aufs Spiel gesetzt hatte. „Schatchelte nun den „Schlächter vom Tiananten des Zweifels“ orakelt eine Schlagzeile men“ – den alten Apparatschik, der 1989 des Massenblatts „Daily Mail“: Dem 933 die Demonstranten in Peking von Panzern Jahre alten Königshaus drohe am Beginn niederwalzen ließ und heute noch Disdes 21. Jahrhunderts schwere Gefahr. sidenten und Demokraten in den KerDer dicke und lebenslustige Exil-König ker wirft. Faruk aus Ägypten, der 1952 von nationalCharles redet mit den Pflanzen, berevolutionären Offizieren abgesetzt wurde, haupten Spötter seit Jahren, weil der Prinz wagte später an der Côte d’Azur eine unsich um den Umweltschutz bemüht und kollegiale Prophezeiung: In 50 Jahren werdemonstrativ für den organischen Ackerde es auf der Welt nur noch fünf gekrönte bau eintritt. Gemeint ist aber auch, er sei Häupter geben – die vier Monarchen des ein weltfremder Sonderling mit zu viel poKartenspiels und die Königin von England. litischem Engagement, somit für die ThronEin präziser Prophet war Faruk sicher folge nicht geeignet. Von Tony Blair wienicht: Die westeuropäischen Königshäuser derum heißt es, er sei bleich vor Zorn über haben das vergangene Halbjahrhundert so Prinz Charles geworden, als der im letzten Single Charles, Lebensgefährtin Camilla weit gut überstanden. Eines, in Spanien, Sommer in einem Zeitungsartikel ein- Das Prestige der Royals beschädigt 232 d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite PA / DPA Jagdfreund William: Blond, schlank, unverkrampft kam sogar noch dazu. Aber ob ausgerechnet die britische Monarchie am längsten überdauern werde, ist nun doch sehr zur Frage geworden: Wie die „Daily Mail“ mit großem demoskopischem Aufwand ermitteln ließ und am Vorabend von Charles’ Geburtstag bekannt gab, haben die Royals – trotz mancher Scheinsiege der jüngsten Zeit – partout keinen Grund zum Optimismus. Zwar ist richtig, dass die Queen unlängst in Australien den ersten Wahlsieg ihres Lebens errungen hat, und das auch noch kampflos: Die dortigen Republikaner, die Charles’ Mutter als nominelles Staatsoberhaupt loswerden und durch einen einheimischen Präsidenten ersetzen lassen wollten, erlitten bei der Volksabstimmung eine bittere Niederlage; Elizabeth II. kann ihre Untertanen auf der anderen Seite der Welt zunächst einmal behalten. Nur, die meisten Australier hätten der Queen durchaus einen eigenen Präsidenten vorgezogen – wenn sie ihn denn selber hätten wählen dürfen. Stattdessen war vorgesehen, den Queen-Ersatz vom Parlament küren zu lassen. Das machte das Referendum unattraktiv. Nächstes Mal siegen in Canberra garantiert die Republikaner – und die Nabelschnur zum Mutterland wird gekappt. Auch die Demoskopie hielt für das Geburtstagskind Charles nur eine mäßig frohe Botschaft parat. Gewiss, nahezu drei Viertel der Briten wünschen den Fortbestand des Hauses Windsor (bis 1917 Sachsen-Coburg und Gotha) und der Monarchie, 69 Prozent würden in einer Volksabstimmung für das Königreich optieren, und nur ein Drittel wäre überhaupt für ein Re234 ferendum zu haben – die breite Mehrheit findet die Frage überflüssig. Kann ein Royal mehr verlangen? Doch so fest, wie es scheint, ist der britische Volkswille nicht. Den Untertanen Ihrer Majestät fehlt neuerdings der Glaube an das Überleben jener Institution, zu deren Verteidigung sie noch patriotisch zusammenstehen. Weniger als ein Drittel der Erwachsenen meint, dass Britanniens Monarchie die nächsten 50 Jahre überstehen werde. Nahezu die Hälfte hat diese Hoffnung schon nicht mehr. In der überfüllten Royal Albert Hall liefert eine junge schwarze Ansagerin unbewusst Aufschluss über den Vertrauensschwund. Eine Ghetto-Kindergruppe aus Sheffield tritt auf, alle möglichen lärmerzeugenden Gegenstände in den Händen, um damit Musik zu machen. Als „Instrumente“ kündigt die Ansagerin flott „Anything that vibrates!“ an, um sich sogleich mit einem lustig-verschämten „Ooops!“ auf den Mund zu schlagen. Zögernd bricht im Publikum prustendes Gelächter aus: Man versteht die Anspielung auf „Vibrator“. In Gegenwart der Königin wäre niemand auf einen Sexualscherz verfallen. Vor dem Kronprinzen aber dürfen die Untertanen sich schon einiges herausnehmen. Die Auftraggeber der Meinungsumfrage, die den Pessimismus der britischen Royalisten feststellten, datieren die Entzauberung der Königsfamilie auf das Jahr 1992: Auf die Zeit, da Prinz Charles und Prinzessin Diana ihre Ehekrise vor aller Welt bloßlegten. Nur hätten Dianas Seitensprünge im Reitermilieu das Vertrauen in die Monard e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 chie kaum erschüttern können. Eher schon hat Charles’ Verhältnis zur Gesellschaftsdame Camilla Parker Bowles, der Ehefrau eines geduldigen Freundes – vor allem aber die Art, wie diese Beziehung in den Medien breitgetreten wurde –, das Prestige der Royals beschädigt: Ein Handy-Zwiegespräch des Thronfolgers mit seiner Maitresse war abgehört und aufgezeichnet worden, wodurch alle Welt eine der originellsten Liebeserklärungen des ausgehenden 20. Jahrhunderts vernehmen durfte – den Wunsch des Prince of Wales, sich in Camilla Parker Bowles’ Tampon zu verwandeln. Diana, die „Prinzessin des Volkes“ (Tony Blair), ist schon 27 Monate nach ihrem Tod in Vergessenheit geraten. Die Trauerexzesse von damals hinterließen nichts als Schaum, der rasch im Sand versickerte. Dafür gewinnt Camilla – der einst von Diana verabscheute „Rottweiler“ – immer mehr Sympathien. Geradezu volksnah muten denn auch die Pläne für die Millenniums-Neujahrsparty des Kronprinzen an: Charles und Camilla wollen zu Hause auf dem Landsitz Highgrove bleiben und die Nachbarschaft einladen. „The Sun“ jubelt schon jetzt: „Jeder bringt eine Flasche mit – und Camilla kocht!“ Immerhin spricht die Hälfte der Bevölkerung sich bereits dafür aus, dass Charles die fast gleichaltrige Geliebte heiraten soll. Dass er zum König tauge, hält eine Mehrheit der Briten zwar für wahrscheinlich – aber die Frage, ob dann Camilla mit ihm Königin sein solle, beantworten vier Fünftel mit schroffem Nein. Es ist, als hätten es die Briten irgendwie im Gefühl, dass aus dem 21. Prince of Wales, möge er nun mit den Pflanzen reden oder nicht, niemals König Charles III. werden könne. Dass bei der Thronfolge eine Generation übersprungen wird, wäre so ungewöhnlich nicht – besonders in einem Herrscherhaus mit langlebigen Frauen. Die höchst professionelle Queen ist 73 und zeigt nicht die geringste Amtsmüdigkeit; ihre Mutter, die Queen Mum, wird demnächst 100. Blond, schlank, unverkrampft – und mit den vorteilhaften Gesichtszügen seiner verunglückten Mutter Diana – betritt der 17-jährige Prinz William die Szene. Auf ihn vor allem sind die Hoffnungen gerichtet, wenn von einer Zukunft der Monarchie die Rede ist. Tony Blair hat schon wissen lassen, dass er sich für den jungen Mann, sobald er das vornehme Eton hinter sich hat, ein Studium auf einer Business School wünscht. Soll Cool Britannia einen König erhalten, der geschäftstüchtig ist? Wenn aus dem schönen Prinzen der König William V. wird, bekäme die Monarchie – so sehen es viele Briten – noch eine Bewährungschance. Sollte das Haus Windsor sie nicht zu nutzen wissen, mag aus dem Hoffnungsträger durchaus William der Letzte werden. ™ Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Sport Münchner Trainer Lorant: Mit jedem Kraftspruch einen Krümel Wahrheit durchs Land verschickt FUSSBALL Die Stimme des Stammtischs Die angebliche Beleidigung eines Schiedsrichters hat Werner Lorant in die Schlagzeilen gebracht. Die Bundesliga braucht den lärmenden Trainer von 1860 München als Antityp zu den Krawattenträgern. Diese Woche tritt seine Elf wieder beim Klassenfeind an, dem FC Bayern. N FIRO Dann fragte ein Journalist, eulich, als in Münder auch des Mittags auf der chen der erste Schnee Eckbank sitzen darf, wie das fiel, saß Werner Lomit dem Job denn nun eirant mittags um zwölf im gentlich sei. Werner Lorant „Löwenstüberl“ auf seiner zog wieder Luft durch die Eckbank und blickte nach Schneidezähne und antwordraußen. „So ’n Pisswetter“, tete: „Alles gesagt, is kein bellte der Mann, über den so Thema, kein Thema jetzt, gar viel in der Zeitung steht, kein Thema.“ durch das Vereinslokal des Ein paar Tage später Fußballclubs TSV 1860 Münmusste der Platzhirsch vom chen, und dann wühlte sich „Löwenstüberl“ nach Frankseine Zunge durchs Gebiss furt am Main reisen, wo es auf der Suche nach den Resdarum ging, sich etwas geten von Rahmschnitzel und nauer zur Sache einzulassen. Gurkensalat. Lorant war beim Sportge„Christel, bring noch ’n richt des Deutschen FußballEspresso“, sagte er, was imBundes wegen Schiedsrichmer ein Signal dafür ist, dass terbeleidigung angeklagt. er jetzt seine Ruhe haben „Ihr seid alles Würste, ihr will. Aber dann ging die Tür auf, und ein Mann mit Münchner Stadtderby 1860 gegen Bayern: „Flüchtlinge arbeiten eh nix“ habt uns mal wieder beschissen“, soll er während dickem Bauch trat ein. Er Werner Lorant zog dreimal Luft durch eines Spiels seiner Mannschaft in Leverstellte sich als Vertreter des Fanclubs „Donaulöwen 79“ vor, hatte einen Blumen- die Schneidezähne, wobei er mit der Zun- kusen gesagt haben. Damit stand er schon groß in der Zeistrauß mitgebracht und war in schwe- ge fletschende Laute produzierte, und sagrer Sorge. In der Zeitung stand, dass Lo- te: „Kein Thema, is kein Thema, schöner tung. Aber als Lorant später sagte, er werrant, 51, angedroht hatte, seinen Job zu Strauß, kannst dir da hinten einen Platz su- de als Bundesligatrainer zurücktreten, falls schmeißen, und deswegen überreichte der chen und Kaffee trinken, is kein Thema.“ ihn das Gericht deswegen zu einer befrisMann mit dem dicken Bauch nun sein Ge- Der Mann mit dem dicken Bauch entfern- teten Arbeitssperre im Stadion verurteilen binde und hielt einen knappen Vortrag: te sich, und Werner Lorant zog Silbergeld sollte, stand er noch viel größer in der Zei„Bittschön, sein S’ so liab, bleiben S’ unsa aus der Tasche. „Christel, ’ne Schachtel tung. Und im Gerichtssaal war es vorigen Marlboro.“ Dienstag dann so, als ging es nicht um WerTrainer.“ 238 d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 FOTOS: BONGARTS d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 einmal – nicht mehr richtig in den Arsch treten, leider Gottes. „Diese Generation ist so versaut, die können sich nicht mal alleine eine Wohnung suchen. Korrekt? Korrekt.“ Aber Ansprüche stellen, ja? Stellen Ansprüche „und spielen wie die Bratwürste, diese Wahnsinnigen. Korrekt oder nicht korrekt?“ Also bitte, „das nervt mich jetzt langsam, das nervt mich wirklich, das nervt mich jetzt richtig langsam“. Der Redner legt eine rhetorische Pause ein. Er wischt sich mit der flachen Hand durchs Gesicht, und als er damit fertig ist, wirkt es so, als habe er soeben den letzten Gedanken gekillt. Was soll der Scheiß? „Kein Thema. Christel, noch ’n Espresso.“ Nun ist es ja nicht so, als sei das alles nur dummes Zeug. Lorant hält sich bei 1860 München jetzt schon sieben Jahre im Amt; seine Mannschaft sprüht zwar selten Funken, trifft aber in aller Regel ordentlich durchgetrimmt auf dem Spielfeld ein. Laufen, treten, Schnauze halten – in diesem Dreieck hat er sich selbst als Fußballspieler bewegt und ist damit immerhin auf 325 Bundesligaspiele gekommen. Für die Ewigkeit blieb dabei allerdings nur jener Moment, in dem er seinem Gegenspieler Jupp Kapellmann derart ins Gemächte langte, dass der zur Behandlung in die Ambulanz musste. Lorant war das älteste von sieben Kindern, sein Vater ging als Maurer auf den Bau, und als das eigene Haus gebaut wurde, musste Lorant Steine schleppen, „bei sengender Hitze und strömendem Regen“. Die Koordinaten passen noch immer. Ob er vor dem Spiel eine Rede vor der Mannschaft hält? „Gar nichts mach’ ich. Aufstellung an die Wand, fertig.Wäre ja noch schöner. Bin ich ein Pfarrer oder was?“ Je verzweifelter die Kollegenschaft im Kampf gegen Machtfülle des spielenden Personals um Hilfe winselt, desto mehr festigt sich die Marktposition des Münchner Schreihalses. Einen Pressespiegel, den H. RAUCHENSTEINER ner Lorant und die Würste, sondern um ausgewachsener Juristen der Begriff „WürsEgon Krenz und die Menschenrechte. Acht te“ ventiliert. „Hinsichtlich der Würste“, Kamerateams jagten den Angeklagten nach will beispielsweise der Chefankläger Horst dem Urteilsspruch durch die Gänge der Hilpert im Plädoyer festgehalten wissen, Fußballzentrale. Mit dem Ergebnis, dass sei zweifelsfrei, „dass der Begriff Würste despektierlich ist.“ Als Werner Lorant zur ein Blumentopf vom Sockel kippte. Dass Werner Lorant, das Schmuddelkind Urteilsverkündung erscheint, pfeift er eine der deutschen Fußball-Lehrer aus Welver Melodie in den Saal, richtet das Silberin Westfalen, nun schon über Wochen re- kettchen am Hals und plumpst breitbeinig publikweit Qualm verbreiten darf, deutet in seinen Stuhl. „Sperre für zwei Spiele und 25 000 Mark auf einen anschwellenden Notstand des Gewerbes hin. Deutschlands Fußball macht Geldstrafe.“ Schuldig. Der Verurteilte zieht Umsatz, Deutschlands Trainer tragen Kra- Luft zwischen die Schneidezähne und geht watte, aber wo ist die Story? Seit kurzem eine rauchen. ist beim Fußball durchgehend geöffnet, montags bis sonntags, gespielt wird immer, und die Männer, die hinterher was dazu sagen müssen, sagen es wie kleine Unternehmenssprecher. Deshalb muss der Antitypus her. Zackig, knackig, prollig – Lorant. Lorant redet, als hätte er nach der Pubertät die Kurve nicht mehr gekriegt. Lorant wirbt nicht für Boss-Anzüge und Energiegetränke, sondern für Kaugummis, mit denen man sich das Rauchen abgewöhnen soll; und wenn keine Kamera in der Nähe ist, saugt er an einer Marlboro. Lorant trägt eine Frisur, die aussieht wie ein Sturzhelm. Und Präsidenten Beckenbauer, Wildmoser: „Es passt ois“ hätten sich die Dinge nicht so geDer Vereinspräsident Karl-Heinz Wildfügt, dass er jeden Morgen im Mercedes mit dem Kennzeichen M – WL 3333 auf seinen moser hat den Trainer erst mal für eine reservierten Parkplatz vor dem Vereins- ganze Woche nach Spanien geschickt, weil gelände vorfahren würde, um das Training er findet, dass der jetzt Ruhe braucht. Dass zu leiten, dann käme er wahrscheinlich mit Lorant so nun ausgerechnet am kommendem Moped, um beim Training zuzugucken. den Samstag im Stadtduell mit dem FC Bayern fehlt, ist schon ein Jammer. Bei solEtwas zu meckern fände sich immer. „Ihr seid alles Würste“. Ja, okay, hat er chen Gelegenheiten war nämlich sonst imgesagt, kein Thema, gar kein Thema. „Al- mer mächtig was los im „Löwenstüberl“, les Würste auf dem Platz“, wiederholt er weil der Mann auf der Eckbank zu höchster mit ausgebreiteten Armen im Gerichtssaal. Form fand. Bayern ist gewissermaßen der Aber „beschissen?“ Lorant winkt mit dem Klassenfeind, wo sie – wie Lorant sagen Zeigefinger: „Mit beschissen war goa nix.“ würde – die Leute zuscheißen mit ihrem Achtundzwanzigmal wird am Dienstag Geld. Und wer zu viel Geld verdient, dem vergangener Woche vor einer Mannschaft kann man – so sieht das Werner Lorant nun 239 sein Arbeitgeber täglich erstellen lässt, grammkarte, und heute hat er eine Geschleudert er ungelesen in den Papierkorb heimnummer, damit nicht jeder Hanswurst – „interessiert mich nicht“. Lorants Sicht bei ihm daheim anrufen kann. auf die Welt speist sich vorzugsweise aus Ganz unabhängig davon fühlt sich der den Sportseiten der „Bild“-Zeitung („steht Vorsteher mit dem leitenden Angestellten am meisten drin“), und deshalb ist die im Geiste verbunden. Jetzt zum Beispiel Mehrheit vollkommen einverstanden mit nur mal der Umgang mit den „Einkomdem, was er von sich gibt. Als Stimme des mensmillionären, wissen S’, des ist ganz Stammtischs hat er sich unverzichtbar ge- schwer“. Also früher, als Wildmoser selbst macht, und mit jedem Kraftspruch ver- noch zur Schule ging, „da gab’s unter Umschickt er so auch immer einen Krümel ständen scho mal drei Tatzn“. Tatzn? „A Wahrheit durchs Land. Tatzn is, wenn der Lehrer mit dem RohrNeulich erst war bei „Bild“ in München stock auf die ausgestreckte Hand mal kurz wieder der Teufel los, weil Leser aus ganz a bisserl draufklopft.“ Geht ja heute nicht Deutschland mit Anrufen nervten. Lorant mehr. „Alles lockerer geworden des Ganhatte in einem Interview ein paar grundsätz- ze.“ Aber nicht unbedingt besser. Deshalb liche Thesen zum Fußball erarbeitet, und braucht er Lorant. Zum einen. die Leute meinten, das habe schon lange mal gesagt werden müssen. Lorants Botschaft im Kern war die: alles Müll. Beckenbauer? Große Worte, nix dahinter. Champions League? „Wenn ich das schon höre.“ Ausländer: „Wir haben die deutsche Fußball-Mentalität verkauft.“ Nachwuchs? Fernsehen? Zum Davonrennen. Ja und? Die Sprache des Fußballs, sagt Lorant, ist eine deutliche Sprache, „war immer so, wird immer so sein. Kor- Pressegespräch im „Löwenstüberl“: „Gar kein Thema“ rekt? Korrekt“. Viel Gebrüll und wenig Hintersinn, da macht ihm keiner Zum anderen, weil der auch ideologisch was vor. „Ich hab’ immer Recht“, und seine Funktion hat. 1860 hütet seinen Ruf manchmal tut die Wahrheit eben weh. Dass als Arbeiterverein, weil die Sympathiewerer einmal über die Zeitung dem Schieds- te für Widerständler gegen die Geldsäcke richter Dardenne ausrichten ließ, der kön- vom FC Bayern von jeher konstant sind. ne froh sein, dass er ihm keine gelangt Arbeiterverein? Aber klar, findet Werner habe, war möglicherweise nicht ganz kor- Lorant.Warum? „Weil wir uns alles hart errekt, aber was ist denn schon passiert? arbeiten müssen.“ Etwas präziser war da „Hab’ ich meine Strafe gekriegt. Hab’ ich schon einmal Wildmoser, als er gegen den mich aufgeregt? Nein. Bezahlt, akzeptiert, Plan protestierte, Heimspiele im Olympiafertig. Gar kein Thema.“ stadion auf den Freitagabend zu legen.WarKlar ist, dass so einer bei ernst zu neh- um? Na, weil die Fans von 1860 freitags lanmenden Arbeitgebern keinen Job mehr fin- ge arbeiten müssten, im Gegensatz zu denen den dürfte. Umgekehrt gilt aber auch: Wer des FC Bayern: „Von denen kommen 70 sonst außer Lorant könnte leisten, was Prozent aus Siebenbürgen. Bei den FlüchtLorant bei 1860 München leistet? lingen ist es doch eh wurscht, die arbeiten Käme – beispielsweise – einer dieser an- sowieso nix.“ Jo mei, war halt ein Scherz. ständig frisierten Krawattenträger daher, Denn in Wirklichkeit sieht die Sache ja gäbe es vermutlich schon den ersten Ärger längst anders aus. In Wirklichkeit hat 1860 mit dem Präsidenten. Der Großgastronom eine schnieke Clubzentrale mit Marmor Karl-Heinz Wildmoser, allein von seiner und Halogenstrahlern und leistet sich SpieErscheinung her der Schrecken jedes Tür- ler wie Thomas Häßler für viele Millionen stehers, schiebt immer dann, wenn es Är- Mark. In Wirklichkeit ist 1860 das Aldi-Bayger gibt, seinen Bauch vor und sagt: „Es ern. 1860 hat Theo Waigel zum Fan, Bayern passt ois.“ hat Edmund Stoiber. Der Unterschied sind Das ist zunächst mal ganz persönlich zu Lorant und das „Löwenstüberl“. verstehen. Es gab nämlich mal eine Zeit, da Zwei Spiele Sperre plus 25 000 Mark. war Wildmoser, der den Beruf des Metz- Und? Schmeißt er jetzt hin? Hat er doch gers erlernte, in München rein gesell- längst gesagt, auf seiner Eckbank, wo er schaftlich ein Niemand. Wohin der Weg immer sitzt und Zigaretten in einen führen könnte, ahnte er, als Franz Josef Aschenbecher drückt, auf dem das Wort Strauß in eine seiner Gaststätten einkehr- „Stammtisch“ steht. „Is kein Thema.“ Hat te und mit „Servus, Wirt, wie geht’s?“ er bloß mal so gesagt. War ja auch groß grüßte. Dann kam Werner Lorant, 1860 in der Zeitung. War aber nie ein Thestieg in die Bundesliga auf,Wildmoser wur- ma. Wo soll er auch sonst hin? Korrekt? de ein Fußballpräsident mit eigener Auto- Korrekt. Matthias Geyer 240 d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 S. MATZKE / S.A.M. Sport Werbeseite Werbeseite DPA Fernsehware Herrentennis*: Irgendwo zwischen „Tigerenten Club“ und „Fliege“ TENNIS „Nicht mehr sexy“ Leere Hallen, schwache TV-Quoten, abwandernde Sponsoren: Die Krise bei den Herren-Turnieren ist größer als die Strahlkraft des deutsch-amerikanischen Mixed Steffi Graf/Andre Agassi. D er Mann besitzt einen goldenen Arm. 20 Profi-Turniere hat Jewgenij Kafelnikow schon gewonnen, mehr als 14 Millionen Dollar Preisgeld vereinnahmt. Er könnte glücklich sein. Bei der Arbeit vermittelt der Russe indes den Eindruck, auf dem Tennisplatz zu stehen sei ähnlich lausig wie an einem Hochofen zu schuften. „Spielen fast jede Woche“, quetscht er gequält heraus, „Spiele verlieren, Spiele gewinnen“ – das ProfiLeben, will er sagen, sei eine Geschichte, die sich laufend wiederhole.Was gebe es da schon mitzuteilen? Auch im Sport gibt es notorische Jasager und notorische Neinsager. Kafelnikow ist ein notorischer Nichtssager. Außer er hat mal wieder eine sechsstellige Prämie kassiert. Dann kommt es vor, dass er noch auf dem Center Court sein Handy auspackt, die Nummer seiner Frau wählt und ans ferne Schwarze Meer berichtet: „Wir haben wieder einen schönen Scheck.“ Der Weltranglisten-Zweite aus Sotschi wird diese Woche in Deutschland zu begutachten sein: Und dass er von den Veranstaltern der ATP-Weltmeisterschaft in Hannover als Top Act angepriesen wird, sagt viel aus über den Zustand des internationalen Herrentennis. Denn vom Amerikaner Andre Agassi abgesehen, umweht * Marcelo Rios bei den U. S. Open 1998 in New York. 242 Kafelnikows Konkurrenten beim Saisonfinale noch weniger Star-Appeal: Nicolas Lapentti aus Ecuador etwa oder Todd Martin aus den Vereinigten Staaten oder Thomas Enqvist aus Schweden – Gesichter, die niemand kennt und Namen, mit denen kaum einer etwas anfangen kann. Über zwei Jahrzehnte wuchs der Tenniscircuit zu einem florierenden Wirtschaftszweig, weil es Helden gab, die sich Duelle lieferten: Björn Borg und Jimmy Connors, John McEnroe und Ivan Lendl, Boris Becker und Stefan Edberg. Doch je professioneller die Branche wurde, desto stromlinienförmiger gerieten die Hauptdarsteller. Das Publikum ist gelangweilt. In Deutschland, dank Becker mehr als eine Dekade lang die Wirtschaftswunderzone des Herrentennis, ist das Desinteresse mittlerweile so greifbar wie nirgendwo anders. Klaus-Dieter Heldmann, Turnierveranstalter in Stuttgart, verteilte Ende Oktober Freikarten – viele Plätze blieben trotzdem leer. Trocken konstatiert er: „Tennis hat zurzeit den Stellenwert, den es verdient.“ Selbst der jüngste Aufstieg zweier Profis in die Weltklasse stößt hier zu Lande auf Gleichgültigkeit. Nicolas Kiefer gilt als schwer vermittelbar, weil er chronisch schlecht gelaunt ist, und Thomas Haas gilt als schwer vermittelbar, weil er chronisch gut gelaunt ist. Was ihre Beliebtheit bed e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 trifft, rangieren beide, so eine Studie des Kölner Instituts Sport + Markt, auf dem Niveau der Schwimmerin Sandra Völker. Wie groß die Sehnsucht der Zuschauer nach Stars und nach Show noch immer ist, wird dieser Tage offenbar: Nichts erregt die Republik mehr als die Liaison zwischen der aktuellen Nummer eins der Männer und der ehemaligen Nummer eins im Frauentennis. Als Steffi Graf neulich beim Hallenturnier in Stuttgart während eines Matches von Andre Agassi in der Loge Platz nahm, geriet das Publikum in Wallung wie bei keinem Ballwechsel. Tags zuvor war die Blonde gar in Tennisklamotten auf dem verwaisten Center Court erschienen und hatte mit Agassi ein paar leichte Bälle gespielt. Die spontane Übungseinheit, um die der Turnierdirektor Markus Günthardt die Superpromis inständig gebeten hatte, geriet zum Höhepunkt der gesamten Turnierwoche. Denn das deutsch-amerikanische Mixed, weiß Boris Becker, „ist das Heißeste, was es derzeit auf diesem Planeten gibt“. Doch auch das Zusammenspiel von Herzbube mit Herzdame ändert nichts daran, dass Herrentennis bei Fernsehsendern längst als Quotenkiller gilt. Verfolgten 1996 noch 5,27 Millionen Deutsche das Endspiel in Stuttgart, schauten in diesem Herbst nur noch 1,4 Millionen hin. Beim WM-Finale zwischen den Spaniern Carlos Moya und Alex Corretja guckten voriges Jahr gar nur 500 000 Fans zu. Kurz vor dem Matchball blendete das ZDF aus. Jan Hendrikx, Geschäftsführer des Sponsors Eurocard, meint: „Tennis ist nicht mehr sexy.“ Als Handelsware rangiert das Spiel für die TV-Verantwortlichen folglich irgendwo zwischen „Tigerenten Club“ und „Fliege“. Zwar haben sich die Öffentlich-Rechtlichen erst Ende September den Daviscup für drei Jahre gesichert. Doch den Zeitpunkt des Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Sport DPA AP traliers Mark Philippoussis. ersten Aufschlags, das Er wollte 100 000 Dollar im schreibt der Kontrakt fest, voraus – schließlich sei er bestimmen allein die TV-MaWeltranglisten-Neunter. cher. „Wir denken da an elf Jewgenij Kafelnikow korUhr“, erläutert Sportkoorrigierte, nachdem er zu dinator Peter Jensen emoJahresbeginn die Australian tionslos. Die Tennismatches Open gewonnen hatte, seine sollen nicht mal in die Nähe Forderung für ein Turnier in der Prime Time geraten. Prag um 100 000 auf 175 000 „Wenn das VorabendproDollar nach oben. gramm beginnt“, sagt der Die Veranstalter in TscheNDR-Mann, „müssen die chien, ihren Sponsoren geSpiele durch sein.“ genüber zu einem namhafDie Quoten-Schwindsucht ten Teilnehmerfeld verschreckt auch die Sponsoren pflichtet, schlugen ein. Doch ab. Eurocard, das seit 1991 als als sich Kafelnikow in der Patron des Hallenturniers in ersten Runde widerstandsStuttgart jährlich 5,5 Millionen Mark beisteuert, steht Traumpaar Agassi, Graf (in Stuttgart): „Das Heißeste auf dem Planeten“ los aus dem Wettbewerb verabschiedete, verweigerte der vor dem Absprung. „Selbst bei der Übertragung lateinamerikanischer meisten Vorschläge sind so krude wie hilf- Turnierdirektor den Scheck: „Wenn man Tänze“, nörgelt Geschäftsführer Hendrikx, los: mal sollen die Bälle schwerer gemacht eine Putzfrau anheuert, dann muss sie das „ist die Quote besser.“ werden, mal der zweite Aufschlag abge- Zimmer säubern – sonst gibt es kein Geld.“ Der lustlose Russe hat seinen Ruf als Vorvergangene Woche zog Opel Konse- schafft oder die Zählweise vereinfacht. quenzen. Der Autokonzern, der in den Beschlossen ist die Reform der Welt- Raffke weg, seitdem er Anfang dieses Jahletzten 15 Jahren wie wenige Firmen in rangliste: Vom 1. Januar 2000 an starten alle res sechsmal in Folge auf wundersame WeiTennis investiert hat, kündigte seinen Aus- Profis mit null Punkten – statt mit einem se im Auftaktspiel scheiterte. Der Basler stieg an. Sämtliche Verträge, darunter auch Stand, der sich aus den Resultaten der ver- Turnierleiter Roger Brennwald warnt vor mit dem deutschen Daviscup-Team, wer- gangenen zwölf Monate errechnet. Die Än- Kafelnikow wie die Polizei vor Falschspieden nicht mehr verlängert. „Wir konzen- derung dürfte jedoch nur kosmetische Wir- lern: „Er ist das Musterbeispiel für einen, trieren uns“, so Opel-Sprecher Dieter kung haben, solange die Veranstalter den dem man kein Antrittsgeld zahlen sollte.“ Dabei passen die Ansprüche der AkteuMeinhold, „noch mehr auf Fußball.“ Spielern die Vorhände küssen – etwa inTurniere, die wegen des Booms kreiert dem sie „appearance money“ zahlen, eine re zum System – bei den Turnieren werden die Top-Profis wie Staatsgäste umschwirrt. wurden, finden jetzt ihr natürliches Ende. garantierte Gage fürs bloße Erscheinen. So steht der 1990 gegründete Grand Slam „Die Herrschaften“, sagt der St. Pölte- Zum Verwöhnprogramm gehört in Monaco Cup seit kurzem ohne Sponsoren da – Un- ner Turnierdirektor Hans Holzer, „stecken die Offerte, sich steuergünstig im Fürstenternehmen wie Coca-Cola oder Beck’s ha- in der Regel zwischen 100 000 bis 250 000 tum niederzulassen; in Palma de Mallorca ben das Interesse verloren. Die Daseins- Dollar ein.“ Der Weltranglisten-Erste darf wurde bei der Spielerparty eine Harley berechtigung der einwöchigen Veranstal- noch einmal mit einem Zuschlag von 80000 Davidson verlost; und in Halle am Teutotung bestand in dem horrenden Preisgeld, Dollar rechnen. Selbst bei den höher do- burger Wald stehen eine Woche lang Tag das weltweit unerreicht blieb: 6,7 Millionen tierten Super-9-Turnieren, bei denen der und Nacht 20 Hostessen parat, „hübsche Dollar. Nächstes Jahr soll das Ereignis mit Weltverband Antrittsgagen verbietet, kas- Mädels, die die Spieler ein bisschen verder Weltmeisterschaft verschmolzen wer- sieren die Spieler kräftig ab. Das Startgeld, wöhnen und“, wie Turniersprecher Frank den – die findet dann allerdings aus markt- berichtet ein Branchenkenner, wird dann Hofen es formuliert, „für das Wohlfühlwirtschaftlichen Gründen nicht mehr in mit einem „Promotion-Vertrag“ verschlei- klima sorgen“. Spiel, Satz und RoomHannover statt, sondern in Lissabon. ert: Der Profi stellt sich beispielsweise für Service. Neidisch schauen die Vermarkter auf das Fachkundige Köpfe streiten über Wege Fotoaufnahmen zur Verfügung. aus der Baisse. Während Ion Tiriac Tennis Zu selten regt sich Widerstand gegen die Damentennis, das bis vor drei Jahren in eiimmer noch für die fernsehtauglichste Abzockerei. So verzichtete Niki Pilic, der ner schweren Rezession steckte. Dann erSportart hält, fordert RTL-Chefredakteur Chef des Sandplatzturniers in München, schien eine neue Spielerinnen-Generation Hans Mahr „Regeländerungen“. Doch die dieses Jahr auf ein Engagement des Aus- auf der Bühne – und die Manager der Turnierserie erklärten ihnen, es sei gut, dem 17 Publikum etwas von sich preiszugeben. 16,8 % Marktanteil Seither sind die Rollen geschäftsför15,5 % dernd verteilt: Die Weltranglisten-Erste 16 Weniger am Netz Martina Hingis gibt das Biest, die Russin Herrentennis Anna Kurnikowa die Kindfrau, die Fran15 bei ARD und ZDF zösin Mary Pierce die Diva. Und, HöheMarktanteil in Prozent, punkt der Show, die Williams-Schwestern 14 Zuschauer in Millionen, Venus und Serena geben die Ghetto-Kids. Jahresdurchschnitt Die Top-Akteure im Herrentennis ha13 Zuschauer ben kein Image; sie haben nicht mal Spitz1,2 0,8 0,7 0,6 1,2 namen, die Respekt bekunden. Borg war 12 „Ice Borg“. McEnroe war „Big Mac“. Und 11,8 % Becker war „Der Rote Baron“. 10,5 % 11 10,3 % Kafelnikow dagegen wird zuweilen „Kalaschnikow“ genannt. Er hat sich den unQuelle: ARD, ZDF bis 31. 10 Okt. galanten Spitznamen verbeten. Profi Kafelnikow 1995 1996 1997 d e r 1998 s p i e g e l 1999 4 7 / 1 9 9 9 Maik Grossekathöfer, Michael Wulzinger 245 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Wissenschaft•Technik Prisma ELEKTRONIK Rock aus dem Füller E MPI FÜR ASTRONOMIE r sieht aus wie ein fetter Füllhalter, passt in jede Jackentasche und macht Musik: Letzte Woche stellte die Firma Sony den „Vaio Music Clip“ vor. In dem rund 12 Zentimeter langen und zwei Zentimeter dicken Stab verbirgt sich ein komplettes Abspielgerät für Musikdateien aus dem Internet. Gefüttert wird das Gerät per Kabel am heimischen PC, wobei eine Sicherheitssoftware darüber wacht, dass der Benutzer urheberrechtlich geschützte Titel auch brav bezahlt. Bei vollem Speicher (64 Megabyte) garantiert der tönende Stift bis zu zwei Stunden Dauerberieselung. Ein Klangregler mit drei Voreinstellungen für Rock, Pop und Jazz soll das Hörvergnügen steigern. Der Music Clip kommt nächstes Jahre zum Preis von etwa 300 Dollar auf den amerikanischen Markt. „Vaio Music Clip“ „Iso“-Aufnahme der Milchstraße (weiß), Sternenstaub (rot) ASTRONOMIE Staub der Sterne H eidelberger Astronomen haben im Universum „unerwartet große Staubmassen“ entdeckt – winzige Partikel aus Gold, Eisen, Silizium und anderen schweren Elementen. Gestützt wird die These vom „dusty universe“ durch sensationelle Bilder, die der Satellit „Iso“ lieferte. Im langwelligen Infrarotbereich erscheint der – ansonsten unsichtbare – Sternenstaub rötlich. Die Dichte der Materiekörnchen, Reste zerborstener Sonnen, sei „bis zu zehnfach höher“ als bislang angenommen, so der Astronom Dietrich Lemke: „Allein der Staub der Milchstraße ergäbe zusammengepresst einen Würfel mit einer Kantenlänge von einer Milliarde Kilometern.“ ARCHÄOLOGIE Feuersteinbergwerk Rhe Ötzi – Verkäufer von Flintstein? Feuersteinhandel vor 5000 Jahren Göttingen Iserlohn Fundstätten mit Baiersdorfer Plattenfeuerstein Monti-Lessini-Feuerstein in Pilsen Baiersdorf E iner neuen Hypothese zufolge starb der Gletscherläufer Ötzi, den Experten bisher für einen Jäger oder Hirten hielten, als Außendienstmitarbeiter eines Flintsteinwerks. „Vor 5200 Jahren existierte in Europa ein weit verzweigter Handel mit Feuerstein“, sagt der Geologe Alexander Binsteiner vom Landesamt für Denkmalpflege in Landshut. Neue Funde zeigen, dass der prähistorische Handel von zwei Bergwerken dominiert wurde, die hochwertigen Rohstoff lieferten – den Flint-Gruben in den Lessinischen Alpen (beim Gardasee) und Baiersdorf (in Bayern). Von Don Hornstaad 100 km au Augsburg Landshut Bodensee Rosenheim Tesserriegel Fundort von Ötzi A l p e n Monti Lessini Gardasee CORBIS SYGMA dort reisten Händler über weite Strecken bis nach Niedersachsen, Böhmen und Österreich, um das begehrte Material zu verkaufen. Binsteiner vermutet, dass auch Ötzi – er hatte mehrere Feuerstein-Utensilien vom Gardasee im Gepäck – als Mitglied einer Handelskarawane über den Alpenhauptkamm zog. „Was soll ein Viehtreiber oder ein Jäger in einer 3000 Meter hohen Gesteinswüste?“, fragt der Forscher. „Vieles spricht dafür, dass der Mann bei einem Verkaufstrip nach Bayern verunglückte.“ Steinzeit-Mumie Ötzi d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 249 Prisma Wissenschaft•Technik U M W E LT POLARFORSCHUNG Ökoleder dank Rhabarber Wesen im Frost D er Wostoksee, 4000 Meter unter dem antarktischen Eis liegend, stockdunkel und minus vier Grad kalt, scheint Leben zu enthalten. Trotz der extrem unwirtlichen Bedingungen in dem 12 000 Quadratkilometer großen Untergrundgewässer haben US-Forscher dort jetzt robuste Kleinstlebewesen nachgewiesen. „Bei einer Tiefe von 3590 Metern stießen wir auf MikroorganisStich durchs Eis men“, erklärt David Karl, Ozeanograf an Die Erforschung des der Universität von Wostoksees Hawaii. Aus Angst vor einer Verunreinigung des Sees trieben die 0m ANTARKTIS Experten ihren Bohrer nicht bis in das Wostoksee Wasser selbst, sonGeplanter Jupitermond-Roboter „Cryobot“ (Nasa-Zeichnung) dern nur in eine Schicht knapp ober1000 km halb der Flüssigkeitsblase. In diesem Abschnitt, er besteht aus wiedergefrorenem Seewasser, fanden sich die abgestorbenen BOHRLOCH Mikroben. Die spektakuläre Entdeckung hat auch die Astronomen inspiriert. Unter EISDECKE Tiefe dem Frostpanzer des Jupitermondes Euro3600m pa wogt ein ähnlich bizarres Gewässer. GEFRORENES Derzeit basteln Nasa-Ingenieure an einem SEEWASSER Roboter („Cryobot“), der den fernen 3800m Mondozean untersuchen soll. Voll steriliWOSTOKSEE siert soll die Stahldrohne, in einem Bohrgestänge sitzend, dereinst in die Tiefe abFELSUNTERGRUND tauchen. Ziel der geplanten Mission ist die 4300m Suche nach außerirdischem Leben. M S P L /AG . F O C U S it Rhabarberpflanzen lassen sich Tierhäute weich gerben. Biochemiker von der Hochschule in Bernburg (Sachsen-Anhalt) haben aus den Wurzeln des Knöterichgewächses ein Extrakt gewonnen, das Leder „in hoher Qualität“ färbt und gerbt. Das Öko-Verfahren soll Kürschnern als Alternative zur Chromsalz-Gerbung dienen. In Deutschland entstehen bei dieser Methode bisher 175 000 Tonnen an umweltschädlichen Abfällen. Auf den Testfeldern des Instituts wachsen Rhabarbersorten mit zehn Kilo schweren Wurzeln, aus denen die hellorange Tinktur gewonnen wird. Erste Kollektionen von Schuhen und Taschen sind bereits auf dem Markt. Auch die Firma Audi zeigt Interesse an den sauren Stielen. Sie prüft derzeit die Eignung von mit Rhabarber behandeltem Leder für Autositze und Armaturen. METEOROLOGIE Spione über den Wolken D iese Woche präsentiert die Raumfahrtbehörde Esa eine neue Generation von Wetterspähern. Jeder der insgesamt drei geplanten „MSG-Satelliten“ soll 20-mal mehr Informationen liefern als sein Vorläufer. Hauptinstrument ist ein verbessertes Bildaufnahmegerät („Radiometer“), das laut Esa „einzigartige Möglichkeiten“ zur Erfassung von Wolkendecken und Nebelfeldern sowie der „Messung der Erdoberflächen- und Wolkengipfeltemperaturen“ biete. Statt SEUCHEN Allianz gegen den Aussatz MSG-Satellit (Fotomontage der Esa) bisher alle 30 Minuten liefern die Spione alle 15 Minuten ein Wetterbild. Auch die „Vorhersage und Warnung vor schweren Stürmen und anderen Phänomenen mit hohem Gefahrenpotenzial“ würden entscheidend verbessert. Der Start des ersten MSG-Satelliten soll noch im Jahr 2000 erfolgen. 250 ine Anti-Lepra-Allianz, letzte Woche in Abidjan (Elfenbeinküste) gegründet, hat dem Aussatz den Kampf angesagt. Rund 2,5 Millionen Menschen weltweit sind von der Seuche befallen, die zu schweren Verstümmelungen führt. Die neue Initiative, angeführt von der Weltgesundheitsorganisation WHO, will die Geißel mit Hilfe der „Multidrug Therapy“ zurückdrängen, einer sechs- bis zwölfmonatigen Behandlung mit drei Präparaten, die den Erreger töten. In den letzten 15 Jahren wurden so bereits zehn Millionen Kranke geheilt und die Lepra in 98 Ländern eliminiert. Nun soll auch der Krankenstand im Rest der Welt – vor allem in Ländern Zentralafrikas, aber auch in Indien, Indonesien oder Brasilien – drastisch gesenkt werden. Die nötigen Medikamente stellt der Schweizer Pharmakonzern Novartis kostenlos zur Verfügung. Lepra-Kranke in Ägypten d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 A. TAUBERT EUMETSAT E Werbeseite Werbeseite Wissenschaft Umstrittene Rennbahn R. JANKE / ARGUS Das Deutsche Elektronen-Synchrotron (Desy) wurde 1959 als Großforschungszentrum in Hamburg gegründet. In dem 6,3 Kilometer langen Beschleunigerring Hera, der durch einen Tunnel unter dem Volksparkstadion führt, lassen die Wissenschaftler Protonen und Elektronen aufeinander prallen, um so die Struktur der Materie zu untersuchen. 3400 Wis- Großforschungszentrum Desy senschaftler, darunter rund 1200 Teilchenphysiker, forschen an dem Zentrum. Jetzt planen sie eine neue Teilchenrennbahn: den 33 Kilometer langen Linearbeschleuniger Tesla. In einem Beitrag für den SPIEGEL brachte der Elementarteilchenphysiker Hans Graßmann, 39, der an der Suche nach dem Top-Quark beteiligt war, scharfe Kritik gegen das Desy vor: Seit Jahren werde dort nur noch irrelevante Physik betrieben. Andere Beschleuniger wie das Cern bei Genf oder das Fermilab bei Chicago seien dem Desy weit überlegen. „Sperrt das Desy zu!“, forderte Graßmann, der an der Universität im italienischen Udine lehrt. Harald Fritzsch, 56, Professor für Theoretische Physik an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, hält Graßmanns Forderung für Unsinn. Er arbeitet seit Anfang der siebziger Jahre daran, die Wechselwirkung der Quarks zu verstehen, und hofft, seine Theorien mit Hilfe des Desy überprüfen zu können. Graßmann wie Fritzsch haben in Büchern versucht, ihr Fach einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Teilchendetektor am Desy: „Merkwürdige und SPIEGEL-STREITGESPRÄCH Am Ende der Aufklärung? Die Teilchenforscher Harald Fritzsch und Hans Graßmann über den Nutzen des Desy und die Zukunft der Physik 252 A. PENTOS SPIEGEL: 250 Millionen Mark zahlt der Steu- A. PENTOS SPIEGEL: Herr Professor Fritzsch, hier sitzt der Mann, der gefordert hat: „Sperrt das Desy zu!“ Würden Sie ihn dafür am liebsten auf den Mond schießen? Fritzsch: Gut formuliert. Es war ein Biologe, der mich auf den Artikel hinwies. „Was ist das denn für ein Unsinn?“, hat er mich gefragt. Daraufhin hätte ich Herrn Graßmann in der Tat gern auf den Mond geschossen. Ich habe mich aber auch über den SPIEGEL geärgert. Wenn so ein Artikel schon erscheint, dann hätte ich mir wenigstens ein relativierendes Wort dazu gewünscht. Und eine andere Überschrift. Die Parole „Sperrt das Desy zu!“ war doch sicher nicht Herrn Graßmanns Erfindung. Graßmann: Aber natürlich war sie das. Fritzsch: Dann dürfen Sie sich über Proteste allerdings nicht wundern. SPIEGEL: Herr Graßmann, Herr Fritzsch ist nicht der Einzige, der sich über Ihren Artikel geärgert hat. Wir haben aus vielen physikalischen Instituten empörte Zuschriften bekommen. Haben Sie auch Zustimmung geerntet? Graßmann: Durchaus, wenn auch nicht aus der Teilchenphysik. Bezeichnend bei den oft extrem heftigen Reaktionen meiner Kollegen fand ich, dass es ihnen gar nicht so sehr um den Inhalt zu gehen scheint. Die Teilchenphysiker Graßmann, Fritzsch „Forschung ist immer Spekulation“ Empörung galt vor allem der Tabuverletzung: Man wendet sich als Elementarteilchenphysiker nicht an die Öffentlichkeit. Fritzsch: Für mich ist das Desy immer ein Vorzeigelabor gewesen. Es ist das Flaggschiff der deutschen Grundlagenforschung. Ich kann überhaupt nicht nachvollziehen, warum Sie sich so dagegen wenden. Graßmann: Nehmen wir einmal an, dass ich Recht habe und das Desy macht tatsächlich keine interessante Physik, warum wäre es dann so unerhört, das Desy zu schließen? Fritzsch: Es macht aber interessante Physik. Graßmann: Da bin ich eben anderer Meinung. Das muss doch erlaubt sein. d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 erzahler alljährlich für das Desy.Was rechtfertigt diesen Aufwand? Fritzsch: Mich hat vor etwa 20 Jahren Björn Wiik vom Desy davon überzeugt, dass die damals geplante Hera-Maschine eine gute Idee ist. Warum? Wiik erklärte: „Um etwas Neues zu finden, muss man etwas Neues anfangen.“ Hera war in der Tat etwas Neues: Zum ersten Mal wurden Atomkernteilchen, also Protonen, frontal fast mit Lichtgeschwindigkeit gegen Elektronen geschossen. Das halte ich in der Tat für relevant: Es erlaubt uns herauszufinden, ob die Quarks wirklich elementar sind oder ob sie vielleicht aufbrechen, wie viele es damals vermuteten. Hera ist eine gute Maschine, um diese Vermutung zu testen. Graßmann: Das geht mit den Maschinen am Cern oder am Fermilab auch, zum Teil sogar besser. Seit Jahren tut das Desy nichts anderes, als zu verkünden: „Wir haben neue Physik entdeckt“ – nur um dann gleich wieder einzuschränken: „Wir haben doch keine neue Physik entdeckt.“ Dafür muss man doch keine 250 Millionen Mark im Jahr ausgeben. Fritzsch: Aber ich bitte Sie, was soll denn das Desy anderes sagen? Die beobachten dort einige Ereignisse, die sehr merkwür- Graßmann: Aber natürlich. Ich P. GINTER / BILDERBERG habe aus meiner Bibliothek ein hoch interessantes Buch mitgebracht, das mich in meiner Jugend sehr beeindruckt hat. (Er legt „Quarks“ von Harald Fritzsch auf den Tisch.) Dieses Buch handelt davon, wie die Welt aus Teilchen aufgebaut ist. Vermutlich gibt es davon neuere Ausgaben; mein Exemplar ist 18 Jahre alt. Fritzsch: In diesem Jahr ist gerade eine neue Auflage erschienen. Graßmann: Nun, ich habe es so lieb gewonnen, dass ich es noch in dieser Fassung in meiner Bibliothek habe. Wenn Sie sich nun dieses Buch anschauen, finden Sie, dass darin eine Menge Sachen fehlen, die man heute unbedingt noch ergänzen müsste. Zum Beispiel ist in diesem Buch nicht die Rede von W- und Z-Teilchen – die hatte man damals noch nicht entdeckt. Auch das Top-Quark taucht nicht darin auf. Fritzsch: In der neuen Auflage ist das alles drin. Ich habe es jährlich aktualisiert. Graßmann: Genau. Dass Neutrinos eine Masse haben, müsste zum Beispiel auch noch rein. Das alles sind Durchbrüche, die in den letzten 18 Jahren geschehen sind. Aber nun zeigen Sie mir auch nur einen einzigen Satz, den Sie geändert haben aufgrund der Physik, die am Desy passiert ist. Fritzsch: Mit Hilfe von Hera war es möglich, bei der Untersuchung der Protonen-Feinstruktur in andere Energiebereiche vorzustoßen. So konnten wir feststellen, ob die Theorie, die wir schon seit vielen Jahren hatten, stimmt. Ich ging in meinem Buch davon aus. Aber es war unklar. Mittlerweile sind die Unklarheiten zum großen Teil beseitigt. Das ist ein Verdienst des Desy. SPIEGEL: Wie viel Geld ist es denn wert, beharrlich zu bestätigen, was die Theoreti- noch unerklärte Ereignisse“ dig und noch unerklärt sind. Bisher aber ist die Intensität des Teilchenstrahls zu gering, um diese Phänomene richtig zu verstehen. Deshalb muss man sie jetzt verstärken und dann sehen, was herauskommt. Das ist ein langwieriger Prozess. So ist das in der Forschung, und das sollten Sie auch wissen. Graßmann: Sie verteidigen eine Position, die das Desy inzwischen schon klammheimlich geräumt hat. Diese angeblich so wichtigen Phänome gibt es doch überhaupt nicht. Fritzsch: Ich habe die Daten selbst angeschaut. Ich habe sie selbst studiert. Graßmann: Die sind bedeutungslos, sie sagen überhaupt nichts. Fritzsch: Sie zeigen in eine gewisse Richtung, die interessant ist. Graßmann: Unsinn. Fritzsch: Es könnte sein, dass schon in einem Jahr gerade am Desy die ersten Hinweise für einen Zusammenbruch unserer heutigen Vorstellung von der Teilchenwelt gefunden werden. Graßmann: Das ist reine Spekulation. Aus den Daten jedenfalls folgt das nicht. Fritzsch: Forschung ist immer Spekulation. Wir gehen in unbekannte Regionen. Und das Desy macht das auch. Graßmann: Die Physik hat die Aufgabe, zur Weiterentwicklung unseres Weltbildes beizutragen. Und das Desy tut das nicht. Fritzsch: Die Maschine existiert, und wir müssen sie für die Physik nutzen. Es gibt, wie gesagt, Hinweise darauf, dass da etwas Merkwürdiges passiert. Und das müssen wir untersuchen. Mit Hera können wir die Details der Quark-Wechselwirkung studieren. Ich selbst gehöre zu denen, die diese Theorie Anfang der siebziger Jahre aufgestellt haben, und habe ein ganz natürliches Interesse, dass diese Physik weitergeführt wird. Graßmann: Das Desy jedenfalls hat auf mei- nen Artikel nur mit einem Feuerwerk von Scheinargumenten reagiert. Fritzsch: Sie sprechen immer von „dem Desy“. Aber das Desy ist keine Einheit. Es besteht aus Physikern, nicht nur deutschen übrigens. Da arbeiten Italiener, Amerikaner, Holländer, Engländer. Sie sind es, die sich über Ihren Artikel ärgern, nicht „das Desy“. Graßmann: Das heißt: Viele Forscher können nicht irren? Fritzsch: Schon die Tatsache, dass so viele Physiker aus dem Ausland zum Desy gehen und dort experimentieren, zeigt, dass sie das von Interesse finden. Graßmann: Ich bestreite ja gar nicht: Die Elementarteilchenphysik ist eine extrem wichtige und interessante Sache. Aber das Desy macht eben leider irrelevante Physik. SPIEGEL: Machen andere Teilchenbeschleuniger denn relevantere Physik? Kerne, Teile, Teilchen Mit bloßem Auge lässt sich nicht erkennen, dass sich die Materie aus Atomen zusammensetzt. Die Struktur der Materie Der Durchmesser eines Atoms beträgt knapp ein millionstel Millimeter. In seinem Innern befindet sich der Atomkern, der von Elektronen umschwirrt wird. Der Atomkern wiederum besteht aus Protonen und Neutronen, die ihrerseits aus jeweils drei Quarks zusammengesetzt sind. Diese wechselwirken durch den Austausch von Gluonen. Proton Atomkern Neutron Elektronen Gluon Quarks 10–3m d e r s p i e g e l 10–10m 4 7 / 1 9 9 9 10 –15m 253 ker in ihren Büchern ohnehin schon schreiben? Fritzsch: Eine Theorie aufzustellen und sie experimentell zu testen, sind zwei verschiedene Dinge. Auch heute gibt es Phänomene in der Teilchenwelt, die völlig unverstanden sind. Die extrem hohe Masse des TopQuarks zum Beispiel hat mich völlig verblüfft. Und auch Herr Graßmann wird kaum wissen, warum das Ding so schwer ist. Ich hätte gewettet, dass es viel leichter ist, und ich hatte auch Theorien dafür. Man muss seine Theorien eben immer wieder aufs Neue testen. Irgendwann brechen sie zusammen, die Frage ist nur, wo und wann. SPIEGEL: Nach welchen Beschleunigerring Maßstäben wird entschieden, ob ein neuer, teurer Beschleuniger nun interessante Ergebnisse zu liefern verspricht oder nicht? Fritzsch: Natürlich hat man das auch bei Hera im Voraus überlegt. Es galt damals als durchaus möglich, dass die Quarks genau in dem Energiebereich aufbrechen, in den Hera vordringt. Dann hätte man eine völlig neue Substruktur gefunden, was natürlich eine sehr wichtige Entdeckung gewesen wäre. Man findet aber bis heute nichts. Ich will das einmal vergleichen mit einem Kriminalfall, den der Detektiv Sherlock Holmes löste: Der entscheidende Hinweis war die Tatsache, dass ein Hund in der Nacht nicht bellte. Hier ist es ähnlich: Wenn man etwas nicht findet, kann das genauso wichtig sein, wie wenn man etwas findet. Nullexperimente sind natürlich nicht sehr beliebt bei den Experimentalphysikern. Aber sie sind manchmal sogar wichtiger als die anderen. Graßmann: Es mag ja richtig sein, dass Hera nicht von Anfang an sinnlos war. Aber nachdem man jetzt mehrere Jahre lang Daten genommen hat, ist klar: Es gibt für Hera keine Zukunft mehr. Ich beklage gar nicht, dass man da etwas gemacht hat und dann gescheitert ist. Das konnte man damals nicht wissen. Schlimm ist, dass die Leute jetzt sagen: Wir haben diesen Beschleuniger nun mal, und da lassen wir ihn eben weiterlaufen – einfach deshalb, weil wir ihn haben. Es gibt am Desy sicher Leute, die neue, kluge Ideen vorbringen könnten. Stattdessen geht das Desy immerzu in dieselbe Richtung, wie ein großer Öltanker, der einmal in Fahrt ist. Ich bin genau deswegen gegen Desy, weil es von Schaden für die deutsche Teilchenphysik ist. Fritzsch: Hera jetzt zuzumachen, hielte ich für glatten Wahnsinn. Das wäre ein Missbrauch von Steuergeldern. Im übrigen können Sie nicht sagen, das Desy habe keine 254 d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Wissenschaft in einem Tunnel am Cern bei Genf: „Wir brauchen mehr Ideen“ Visionen: Wie Sie wissen, ist jetzt der neue Linearbeschleuniger Tesla geplant. SPIEGEL: Muss denn der Mensch in immer feineren Details wissen, wie es im Innern des Protons aussieht? Fritzsch: Es könnte sehr wohl sein, dass die Quarks nicht die letzte Antwort sind, dass also noch eine weitere Substruktur existiert. Man kann natürlich die Frage stellen: Ist das letztlich so wichtig? Damit stellt man dann aber die Grundlagenforschung überhaupt in Frage. Man sollte dabei nicht vergessen: Es gibt eine Menge Spin-offs. Wenn wir gute Grundlagenforschung machen, produzieren wir auch gute Wissenschaftler und gute Ingenieure. Das Desy hat nicht umsonst die besten Elektroingenieure, die wir in Deutschland haben. SPIEGEL: Björn Wiik, den Sie vorhin zitierten, hat es als „Fluch der Teilchenphysik“ bezeichnet, dass die Maschinen, mit denen man etwas anschauen will, umso größer werden, je kleiner das ist, was man sich anschaut … Fritzsch: … eine einfache Konsequenz der Quantentheorie. SPIEGEL: Wann kommt dieser Prozess zum Stillstand? Fritzsch: Irgendwann wird man keine Be- schleuniger mehr bauen können. Dann wird man nach neuen Wegen suchen müssen. Aber man sollte einen falschen Eindruck vermeiden: Die Beschleuniger werden immer größer, die Kosten aber nicht zwangsläufig höher. Ihr Anteil am Forschungsbudget ist gleich geblieben oder sogar zurückgegangen. Wir sollten auch den Maßstab nicht aus dem Auge verlieren: Um das Cern, das Desy und die anderen Zentren in Europa zu bezahlen, muss jeder Europäer pro Jahr drei Viertel des Preises einer Maß Bier bezahlen – wobei ich die bayerischen Bierpreise zu Grunde lege, nicht die Hamburger. SPIEGEL: Ein neuer Linearbeschleuniger in Hamburg würde jedenfalls Milliarden kosten. Wird auch er vor allem Nullexperimente liefern? Graßmann: Das hängt letzten Endes von den Menschen ab, die das Instrument be- treiben. Wenn die Physiker es wirklich nutzen, um neue Ideen und Verfahren zu entwickeln, dann wird das sicher hoch interessant. Ein Labor wie das Desy muss viel mehr Ideen produzieren, Vorstellungen, Denkweisen. Es muss zum Geistesleben der Gesellschaft, die es trägt, etwas beitragen. Fritzsch: Aber das tut es doch. In Hamburg waren 14 000 Leute beim Tag der offenen Tür. Desy hat mal einen Vortrag von mir im Rahmen einer Tagung organisiert: 2500 Zuhörer im Kongresszentrum. Die Hamburger sind stolz auf das Desy. Die Eigenheimbesitzer dort waren stolz, dass die Maschine zwanzig oder dreißig Meter unter ihrem Grundstück hindurchgeht. Graßmann: Das belegt nicht die wissenschaftliche Qualität. Da wird die schwarzrot-goldene Flagge missbraucht, um Missstände zu kaschieren. SPIEGEL: Was dürfen wir uns denn vorstellen unter „neuen Denkweisen“? Wie sollte denn eine der Öffentlichkeit zugewandtere, lebendigere Physik aussehen? Graßmann: Eine lebendigere Physik hat man dann, wenn man es schafft, die Physik in unserer Kultur zu verankern. Wir müssen über Physik sprechen, und zwar kritisch. Eine Kommunikation, die nur Bewunderung und Lob erlaubt, ist keine. Meine Kritik am Desy ist nur ein Beispiel. Ich will aufmerksam machen auf den schleichenden Rückzug der Physik aus unserer Gesellschaft und damit einhergehend den Rückzug von Verstand und Vernunft. Daran gemessen sind die 250 Millionen, die man am Desy ausgibt, eigentlich irrelevant. Wir sind an einem Punkt, wo wir uns fragen müssen, ob wir das Ende der Aufklärung miterleben. Fritzsch: Mir scheint das, ehrlich gesagt, sehr verquast – obwohl ich das Anliegen durchaus teile. Auch mich beunruhigt der Abstand, der sich mittlerweile zwischen Naturwissenschaft und allgemeiner Bevölkerung auftut. Aber viele Forscher in Deutschland widmen sich doch inzwischen der Popularisierung von Wissenschaft, auch mit gutem Erfolg. Der Abstand ist nicht Wissenschaft A. PENTOS P. GINTER / BILDERBERG größer, er ist vielleicht sogar SPIEGEL: Was ist denn Ihrer etwas kleiner geworden. Auffassung nach die Physik? SPIEGEL: In den letzten neun Graßmann: Die Physik hat in Jahren hat sich die Zahl der der Geschichte überall da Studienanfänger im Fach eine entscheidende Rolle Physik halbiert … gespielt, wo wichtige Weichenstellungen für unsere Fritzsch: Gott sei Dank Identität gemacht worden nimmt sie inzwischen aber sind. Die europäische Aufwieder langsam zu. Trotzklärung zum Beispiel ist dem: Es studieren zu wenig nicht denkbar ohne Physik. junge Leute Informatik, Die Physik muss Fixpunkte Physik oder Ingenieurwisliefern, damit sich die Phisenschaften. Dagegen muss losophie, die Politik, die Reman kämpfen. Aber das ist ligion und die Kunst entschwierig. Für viele ist es wickeln können. Ohne die nicht mehr schick, sich mit Koordinaten, die die Physik den schwierigen Fragen der liefert, kommen Sie mit der Naturwissenschaften zu bePhilosophie oder der Politik schäftigen. Die Physik war nicht weiter. Und deshalb ist die Wissenschaft unseres es so schlimm, dass die Phyausgehenden Jahrhunderts. sik auf dem Rückzug ist, in Sie hat die Gesellschaft bedrohlichem Ausmaß. wie keine andere verändert. Es fing an mit der QuantenFritzsch: Das ist aber eine theorie, ging weiter zur Detektor-Reparatur am Desy: „Die Vernunft ist auf dem Rückzug“ sehr romantische VorstelKernphysik, zur Atombomlung von Physik. Ich glaube, be natürlich und den Kernreaktoren, bis sik sei nichts als eine Ansammlung von Sie messen ihr da eine zu große Bedeutung hin zur Festkörperphysik und den Chips. Formeln, sie bestehe aus Kondensatoren zu. Das nächste Jahrhundert ist in meinen Ein großer Teil der Bevölkerung interes- und Computern. Das ist absolut nicht das, Augen nicht das Jahrhundert der Physik siert sich wirklich für diese Dinge. Aber was Physik tatsächlich ist. Die Physik hat oder der Biologie, sondern das Jahrhunes ist halt nur ein Teil. Was uns fehlt, sind eine ganz und gar andere Rolle. dert der Vernetzung der verschiedenen sozusagen die anderen 70 oder 80 Pro- Fritzsch: Sind Sie da überrascht, wenn Sie Wissenschaften. zent. mal unser Schulsystem anschauen? Graßmann: Ich bin überzeugt davon, dass SPIEGEL: Entfremdet sich die Physik nicht Graßmann: Das Schulsystem ist doch ein die Physik die entscheidende Rolle spielen wird – wenn sie sich nicht ganz aus der auch von den Menschen, indem sie immer Produkt unserer Gesellschaft. schwieriger, immer unanschaulicher wird? Fritzsch: Ich finde es auch absurd, dass Gesellschaft zurückzieht. Fritzsch: Zweifellos. Das fing ja schon mit Physik und Chemie in den Gymnasien erst Fritzsch: Ich will die Gefahr gar nicht beder Quantentheorie an. Sie ist faszinie- so spät gelehrt werden. Wir müssen den streiten, dass im nächsten Jahrhundert der angelsächsischen Weg einschlagen. Dort Fundamentalismus erstarken könnte. Wir rend, aber unanschaulich. Graßmann: Ach was, jedes Kind kann die werden die Kinder bereits sehr früh mit sehen das ja schon in den USA. Da gibt es einem gemeinsamen Fach Naturkunde eine technische Elite und den großen AnPhysik begreifen. Fritzsch: Das stimmt nicht ganz. Richard konfrontiert, wo alles vorkommt, auch teil der anderen, die keine Ahnung haben Feynman, mein früherer Kollege in Pa- möglichst vernetzt. Später sollte man es von Naturwissenschaft und den schlimmssadena, hat mir immer gesagt: „Du aufspalten in Physik, Chemie und Biologie. ten Vorstellungen huldigen. Das führt dann verstehst erst dann ein Problem, wenn du De facto ist es jedoch so, dass Abiturienten zu Entscheidungen wie im US-Staat Kanes auch deiner Großmutter erklären Medizin studieren wollen und nie richti- sas, wo christliche Fundamentalisten die kannst.“ So weit hatte er recht. Wenn gen Physikunterricht hatten. Das ist ein biblische Schöpfungsgeschichte gleichwertig neben die Evolutionstheorie gestellt haich Vorträge für die Öffentlichkeit halte, Skandal. dann merke ich manchmal bei der Vorbe- Graßmann: Der Physikunterricht vermittelt ben – ein Skandal. Ich bin auch erschreckt reitung, wie ich auch fachlich neue Ideen eben den völlig falschen Eindruck, die Phy- darüber, dass große Teile der russischen bekomme. Man muss nicht Mathematik sik sei eine Ansammlung von Formeln, die Bevölkerung mittlerweile an alles mögliche können, um etwas über die Quarks lernen man gar nicht verstehen kann. Und ge- glauben, aber im Gegensatz zu früher imzu können. Wenn ich Kollegen höre, die sa- braucht würden sie nur, um irgendwelche mer weniger für Naturwissenschaft übrig haben. Wir müssen sicher darauf hinwirgen: „Hier kann ich Ihnen nicht weiter- neuen Geräte zu bauen. ken, dass die Physik, die bis an die Wurzeln helfen, da müssen Sie erst die Lagrangeunserer Existenz geht, bis an die UrknallGleichung studieren“, dann kann ich ausexplosion, wirklich Fuß fasst in der Gerasten. sellschaft. Graßmann: Ja, aber nichts anderes sage ich doch. SPIEGEL: Ein wachsender Teil der Bevölkerung, so scheint es, wendet sich auch in Fritzsch: Es gibt allerdings VerständnisstuDeutschland der Esoterik zu. fen, wo es ohne Mathematik schwierig wird. Die Mathematik ist von zentraler BeFritzsch: In solchen Entwicklungen sehe ich deutung in der Physik. in der Tat eine echte Gefahr. Und sie ist schlimmer als die Gefahren, die durch die Graßmann: Die Mathematik braucht man, Nuklearwaffen entstanden sind. Der wachum neue Physik zu entwickeln, nicht um sende Irrationalismus ist die eigentliche sie zu erklären. Viele Leute glauben, PhyGefahr der Zukunft. Graßmann, Fritzsch, SPIEGEL-Redakteur* SPIEGEL: Herr Fritzsch, Herr Graßmann, * Johann Grolle (M.), im Arbeitszimmer von Professor Fritzsch an der Universität München. wir danken Ihnen für dieses Gespräch. „Physik ist nicht mehr schick“ 256 d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Wissenschaft ZAHNMEDIZIN „Die lachen bis zum Zäpfchen“ Ästhetik-Zahnarzt Berstein: „Am liebsten lattengerade und kalkweiß“ S chon im Empfang der Düsseldorfer Gemeinschaftspraxis soll nichts an bohrenden Schmerz erinnern. Nicht die klinische Kühle eines zahnärztlichen Ambulatoriums erwartet den Patienten, sondern die Wärme eines gutbürgerlichen Wohnzimmers. Wer hierher kommt, ist bereit, etwas dazu zu bezahlen – oft sogar sehr viel. „Bis zu 25 000 Mark kann die ästhetischkosmetische Zahnbehandlung kosten“, sagt Alexander Berstein, 38, und fügt sogleich hinzu: „Pro Kiefer natürlich.“ Zusammen mit zwei Kollegen hat er eine Nische im immer härter umkämpften Markt entdeckt. Nicht Löcher stopfen, Kronen setzen und Prothesen anpassen ist sein Tagesgeschäft, sondern ästhetische Zahnversorgung. „Dentalästhetica“ heißt das angeschlossene zahnheilkundliche Privatinstitut. Während in den letzten zehn Jahren die Zahl der Zahnärzte in Deutschland um 30 Prozent anstieg, nahm unter deutschen Jugendlichen die Karies rapide ab. Waren vor einem Jahrzehnt bei Zwölfjährigen in Westdeutschland im Schnitt noch 4,1 Zähne löchrig, waren es 1997 nur noch 1,4. Den Rückzug der Karies schreiben die Experten 260 der verbesserten Vorsorge und vor allem der verstärkten Fluoridierung des Speisesalzes zu. Auf Dauer, so möchte es scheinen, gehen der Zunft die Patienten aus. Da kommt die neu entdeckte Zahnschönheit gerade recht. Im Schnelldurchgang rekapituliert Berstein die Geschichte seines Fachs: „Einst ging es nur darum, den Schmerz loszuwerden, dann sollten die Zähne möglichst lange halten, und heute wollen die Menschen eben auch noch ein HollywoodLächeln.“ Blitzende OralKunstwerke gelten als weithin sichtbares Statussymbol, sie signalisieren Jugend, Erfolg und Biss. Seine Zusatzausbildung für kosmetische Techniken hat Berstein denn auch im Land des teuren Lächelns absolviert – Kalifornien. In den USA sind makellose Frontzähne, „am liebsten lattengerade und kalkweiß“ (Berstein), selbst für Ältere inzwischen unverzichtbar. Hatte die „American Academy of Cosmetic „Dazzler“: Ist der Trend out, wird die Folie entfernt d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 STOCKMEIER / ARGUM U. BAATZ / LAIF Unter deutschen Jugendlichen nimmt die Karies rapide ab, die Zahl der Zahnärzte aber steigt. Jetzt entdeckt die Branche das perfekte Lächeln als neue Geldquelle. Dentistry“ bei ihrer Gründung vor 15 Jahren lediglich 60 Mitglieder, sind es inzwischen 4000. Die „New York Times“ rief bereits das „goldene Zeitalter der Zähne“ aus. Einstiegsdroge für die komplette DentalRestauration ist häufig die Chemikalie Wasserstoffsuperoxid. Mit Hilfe dieses Bleichmittels – auch zum Blondieren von Haaren geeignet – entgilben die Ärzte koffein- und rotweingegerbte Zähne. Zieht der neue Glanz erst den Blick auf die Mundöffnung, fallen dort plötzlich weitere Hässlichkeiten ins Auge: wucherndes Zahnfleisch, Fehlstellungen oder der schrundige Schneidezahn, der in der Jugend auf einen Fahrradlenker gekracht ist. Hauchdünne, aufgeklebte Keramikverblendungen, so genannte Veneers, verwandeln die Zahnruinen Stück für Stück wieder in naturidentische Gebisse. Oralchirurgen wie Berstein möbeln auch zurückweichendes Zahnfleisch auf, modellieren es, setzen bei Bedarf künstliche Zahnwurzeln und korrigieren zunehmend auch bei Erwachsenen mit Zahnspangen schief gewachsenes Kauwerkzeug. Auch die KörperschmuckSzene hat nach Piercing und Tattoos die Zähne entdeckt. Zahntechniker Bernd Heinemann ist über die Nachfrage entzückt. Seit Januar bietet sein Labor im hessischen Neckargemünd neben dem üblichen zahntechnischen Sortiment ausgefallenen Zahnschmuck an: Keramik-Kronen mit eingebrannten Blümchenornamenten, aufklebbare Goldfolien („Dazzler“) in Form von Delfinen, Anarchie- oder Dollarzeichen und abnehmbare Zahnkappen mit eingefassten Brillanten. „Für Frankfurter Banker, die sich so etwas nur in der Freizeit erlauben können“, erklärt der Zahntechniker, der stolz darauf ist, dass er schon vor 30 Jahren den Tänzer Ru- Werbeseite Werbeseite Wissenschaft Dass das Geschäft mit den Sonderleistungen boomt, bestätigen auch die Bilanzen der Kassen: Während in den gesetzliZahnarztbehandlungen* Niedergelassene Zahnärzte chen Krankenkassen die Leistungsausgain den alten Bundesländern in den alten Bundesländern ben für die Zahnbehandlung je VersicherVeränderung gegenüber 1970 in Prozent 42071 tem innerhalb von zehn Jahren nur um 4,3 Prozent stiegen, schossen diese bei den pri0% 40025 vaten Kassen, die bis zu 80 Prozent der Sonderleistungen übernehmen, um 84 ProFÜLLUNGEN zent in die Höhe. 33018 Ob allerdings der teure Trend zum schö–20 % nen Gebiss auch für gute Qualität bürgt, ist 29991 zumindest zweifelhaft. Ende letzten Jahres 27651 27 443 sondierte das Wissenschaftliche Institut der –40% Allgemeinen Ortskrankenkassen die Güte ZAHNEXTRAKTIONEN der Versorgung. 20 Probanden suchten jeweils 10 verschiedene Zahnärzte auf und –60 % ließen sich von ihnen einen Heil- und Kos*von den gesetzlichen Krankenkassen abgerechnet Quelle: Bundeszahnärztekammer tenplan aufstellen. Das Ergebnis: mangelhafte Befunderhebungen, drastisch unter1970 75 80 85 90 95 97 1970 75 80 85 90 95 98 schiedliche Behandlungskonzepte und Differenzen bei den Kostenvoranschlägen von dolf Nurejew mit einem Brillanten verBei dem Erhalt der Zähne allein blieb es bis zu 600 Prozent. „Völlig beliebig“ nennt sorgte. nicht. „Weil man heute eben schöne Zäh- Klaus Zok, einer der Autoren, die ärztliNoch sind 90 Prozent der Kunden Frau- ne haben muss“, stellt die Illustrierte chen Strategien. Einer hat mittlerweile den Kampf um en. Besonders beliebt sind unter ihnen glit- „Schweizer Woche“ fest, leistet man zernde Edelsteine. Manche Kundinnen las- sich gern auch noch etwas mehr: Über eine bessere Zahnmedizin unter gesetzsen sich die Preziosen gar außen auf die 300 Franken jährlich lässt sich der lichen Rahmenbedingungen aufgegeben. Backenzähne montieren. „Die haben ei- Durchschnittsschweizer die Zahnkosme- Armin Jäkel, 56, behandelt nur noch privat. „Für eine stramm wissenschaftliche nen so großen Mund“, sagt Heinemann, tik kosten. „dass sie bis zum Zäpfchen lachen.“ Ist In Deutschland hingegen lohnte sich die Behandlung“, sagt der Eckernförder der Trend wieder out, lässt sich der Zierrat Prophylaxe lange Zeit nicht. „Zu Hoch- Zahnarzt, „brauche ich eben Zeit.“ Für entfernen: Dazzler rückstandslos, Brillan- Zeiten der Prothetik“, sagt Berstein, „gab 20 Mark Pauschale könne er nur vier Miten hinterlassen ein kleines Loch. es eine Menge Versäumnisse.“ Die Ärzte nuten lang untersuchen. Eine aufwendige Diagnose von Kieferfunktion Doch auch die eher konventionell an- bohrten munter drauf los; die und Zahnstatus aber dauere mutende Prophylaxe erweist sich für fin- hörigen Patienten nahmen es „Wenn der schon mal eine Stunde. Das Erdige Zahnärzte als lukrativ. Bei mangelnder duldsam hin; die Kassen zahlten Patient nicht gebnis der anschließenden geMundhygiene droht durch Parodontose der – zu 100 Prozent. Zahnausfall, und durch das Bakterium Heute sind auch in Deutsch- krank ist, kann wissenhaften Versorgung wissen besonders Patienten mit raStreptococcus mutans erneuter Löcherfraß. land die Preise happig und die das Gebiss Kaum erlahmt die hartnäckige Dauerpfle- Ansprüche höher. Unter Bun- so schief sein, senden Kopfschmerzen und schmerzhafter Kaumuskulatur ge, flackert Karies wieder auf. Ärzte wie desgesundheitsministerin Antje wie es will“ durch fehlerhafte KieferstellunBerstein fordern deshalb umfangreiche Huber stiegen die Kassen 1977 gen zu schätzen. Dentalhygiene auch an Stellen, zu denen aus der Vollfinanzierung des Jäkel ist Dental-Idealist. Die Erhaltung nur die Fachkraft vorstößt: Politur, Reini- Zahnersatzes aus. Seitdem leisten die Pagung mit Polierstreifen zwischen den Zäh- tienten einen zunehmend größeren Eigen- der eigenen Zähne, weiß er, ist eine lenen und Kürettage unterm Zahnfleisch. anteil, an Luxus-Versorgungen beteiligten benslange Aufgabe. Den Kosmetik-Exzessen der Amerikaner steht er skeptisch geDoch wer bezahlt diesen aufwendigen sich die gesetzlichen Kassen gar nicht. Kampf ums Naturgebiss? Wer finanziert Im letzten Jahr trug das Bundesgesund- genüber. „Wenn der Patient nicht krank das Streben nach dem makellosen heitsministerium vorübergehend dem neu- ist, kann das Gebiss so schief sein, wie es Lächeln? Spangen für Erwachsene werden en Schönheitsideal Rechnung. Die Kassen will“, sagt er. Bis sich die deutschen Zahnmediziner von den gesetzlichen Krankenkassen nur in vergüteten zumindest die Kosten der Baseltenen Fällen erstattet, Veneers oder gar sisversorgung, was darüber hinausging, durch ästhetische Ansprüche der PatienZahnschmuck nie. Und selbst der Anreiz zahlten die Patienten dazu: Der Eigen- ten und mehr Konkurrenz fachgerechte zur Vorsorge ist für Patient wie Zahnarzt anteil der üblichen Goldkrone betrug rund Regeln für eine bessere Zahnmedizin vermager. Bezahlt wird zweimal im Jahr eine 300 Mark, die schönere Keramik gab es für ordnen, mag Jäkel nicht warten. Vor einem Zahnsteinentfernung für je 27 Mark, das 600 Mark Aufpreis. Bundesgesundheitsmi- halben Jahr hat er den Qualitätszirkel nisterin Andrea Fischer jedoch stoppte den „MacDent“ gegründet. Bis jetzt hat Jäkel war’s. Dass sorgfältige Vorsorge fruchtet, zeigt kurzen Ausflug in die teilfinanzierte Ästhe- ein Dutzend Mitstreiter in verschiedenen das Beispiel der Schweiz. Dort bilanzierten tik für Arme. Seit Anfang dieses Jahres ge- Bundesländern, die sich vor allem einem die Zahnärzte bei Zwölfjährigen schon vor hen Sonderwünsche wie Vollkeramiken strikten Prophylaxe-Konzept verpflichten. Vorgesehen sind außerdem jährliche Konzehn Jahren nur 2,0 Löcher pro Gebiss. Als wieder voll zu Lasten des Patienten. Vieles deutet allerdings darauf hin, dass trollbesuche bei den Kollegen. Ursache des Eifers beim Zähneputzen gilt, Die Qualitätswächter sollen in jeder Pradass Plomben und Kronen in der Schweiz die Patienten bereit sind, für ihr Mundteuer sind. Schon seit Jahrzehnten über- werkzeug tief in die Tasche zu greifen. Die xis willkürlich drei Akten ziehen und die nehmen die Krankenkassen dort nicht Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung Patienten einbestellen. „Stellt sich dabei mehr die Kosten für Zahnbehandlungen ermittelte in einer Umfrage unter 342 heraus, dass einer Murks gemacht hat“, ervon Erwachsenen. Prophylaxe zahlt sich Zahnärzten, dass die Hälfte aller Patienten klärt Jäkel, „fliegt er aus unserem Verein eben raus.“ „offen für Zuzahlungen“ seien. für den Bürger also aus. Harro Albrecht Wenig Löcher, viele Bohrer 262 d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Wissenschaft R AU M FA H R T „Reden macht wenig Sinn“ Ein Berliner Psychologe und drei russische Ärzte ließen sich monatelang in eine lange Röhre einsperren. Sie durchlitten das Psycho-Experiment mit bitterem Ernst. S Ärzte am Mittwoch vorletzter Woche aus ihrer Kapsel kletterten, sprach Johannes die bewegenden Worte: „Back on earth again!“ Schön gesagt, nur leider falsch. Die vier Helden waren bloß Simulanten. Im Dienst der Forschung ließen sie sich 110 Tage lang in eine nachgebaute Raumstation einsperren. Die knapp 50 Meter lange Röhre, „Isolator“ genannt, steht im Moskauer „Institut für Biomedizinische Probleme“ und hat sich keinen Zentimeter vom Fleck bewegt. Forscher des Instituts hatten sich das Psycho-Experiment im Auftrag der russischen Raumfahrtbehörde ausgedacht. Auch die europäische Raumfahrtagentur Esa und die japanische Nasda beteiligten sich. Der Test galt der Frage, wie es Multikulti-Raumfahrer auf engstem Raum miteinander aushalten – ein Probelauf für das Zusammenleben auf der künftigen InPsychologe Johannes*: „Back on earth again!“ ternationalen Raumstation ISS. Johannes hatte schon bei einem früheren Drei Wochen später endete die entbehrungsreiche Reise durchs All. Als der deut- Isolationsversuch mitgewirkt. Um ihm die sche Psychologe und die drei russischen erneute Teilnahme schmackhaft zu machen, beförderten ihn die Versuchsleiter flugs zum Kommandanten und unterstell* Nach Abschluss des Experiments, im Hintergrund der ten ihm eine Crew aus drei russischen ÄrzEinstieg zur nachgebauten Raumstation. P. BLAKLEY / SABA einen 45sten Geburtstag feierte Bernd Johannes auf dem Rückflug vom Mars. Das Fest verlief deshalb eher spartanisch: Dicht gedrängt saßen er und seine Mannschaft in der Raumschiffkabine und sangen schwermütige Balladen. Training auf dem „Fly-Wheel“ Alltag in der nachgebauten Raumstation Angst vor russischem Schlendrian ten. Hoch motiviert, mit vier Pfund Kaffee und einem Päckchen Skatkarten beladen, bestieg er Ende Juli die Röhre. Der Deutsche, ein durchtrainierter Mann mit einer gewissen militärischen Zackigkeit, nahm seinen Job bitter ernst. Als erstes versuchte er, seine Mannen für die Mission zu motivieren. „Alles, was den Dingen hier drin einen fassbaren Sinn gibt, hilft uns“, erklärte er, „also stellen wir uns vor, dass wir zum Planeten Mars fliegen.“ Schon bald musste der Psychologe allerdings seine deutsche Ordnungsliebe zügeln; überall auf der Pseudo-Raumstation herrschte russische Improvisation: Auf der Toilette hingen vier Schläuche ins Becken, durch die das Kondenswasser aus der Atemluft abströmen sollte. Das funktionierte mehr schlecht als recht. Also tropfte es von der Decke, es breitete sich Schimmel aus. Russischen Schlendrian hatte Kommandant Johannes wie nichts anderes gefürchtet. Energisch versuchte er gegenzusteuern, etwa beim regelmäßigen Stubenputz. Der Berliner Psychologe bestand darauf, dass der Isolator einmal pro Woche von oben bis unten desinfiziert werden müsse. Eine lästige Pflicht. Schon bald schoben Freizeitgestaltung Test der Unterdruckhose die Russen wichtige Arbeiten vor; die Behausung blieb, wie sie war. Schweigend griff Johannes selbst zum Putzeimer. Auch sonst gab er es rasch auf, Probleme, so wie er es an der Uni gelernt hatte, durch Reden zu lösen. „Das können sich nur Psychologen so ausdenken“, begriff der Psychologe, „aber tatsächlich hat es wenig Sinn – es dauert zu lange.“ Und Zeit an Bord war schließlich kostbar, hatten die Wissenschaftler doch wichtige Aufgaben: Sie testeten eine Unterdruckhose, die in der Schwerelosigkeit den Blutfluss in die untere Körperhälfte erleichtern soll; oder sie schwitzten auf dem „Fly-Wheel“, einem Rudergerät für die spätere Raumstation ISS. Sie durften also all die furchtbar aufregenden Dinge tun, mit denen sich auch echte Raumfahrer die Zeit vertreiben. Richtig nervtötend waren die endlosen Fragebögen, die aus der Außenwelt zu ihnen drangen. Denn die Fragen wiederholten sich. Mal wollten die Japaner, dann wieder die Deutschen wissen: „Spüren Sie Rückenschmerzen? Haben Sie Muskelkater? Wo? Und wie haben Sie geschlafen?“ „Nur so können wir herausfinden, wodurch Konflikte zwischen Innen und Außen entstehen“, erklärt Wiktor Baranow, der Leiter des Experiments. „Anfangs sind das vielleicht nur Kleinigkeiten. Aber sie könnten uns helfen, die zunehmende Entfremdung innerhalb eines Teams rechtzeitig zu erkennen und zu verhindern.“ Bei all der Wissenschaft blieb Johannes noch genug Zeit, die Russen das Skatspiel zu lehren. Als Einsatz dienten Schokoriegel, gereizt wurde natürlich auf Deutsch, und den Satz „Trrumf ist das Chärrz vom Schpiel“ verwendeten die Russen bald bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Allmählich verschmolz das Team zu einer verschworenen Gemeinschaft, die laut Johannes von einem Gedanken beherrscht war: „Wir machen hier nicht irgendein Experiment – wir sind auf einer Mission.“ Dennoch zeigten sich nach etwa zwei Monaten erste Ermüdungserscheinungen. Immer häufiger starrte Johannes nur noch dumpf auf den Bildschirm mit Wolken und blauem Himmel darauf. Einmal pro Woche durfte er 20 Minuten lang mit seiner bulgarischen Ehefrau telefonieren. Sie sprachen über die Fische im heimatlichen Aquarium oder übers aktuelle Fernsehprogramm. Vorbereitung für den Einsatz am Flugsimulator Seinen Frust strampelte der Deutsche auf dem Fahrrad herunter. Am Ende hatte er sieben Kilo abgenommen – im Gegensatz zu seinen eher gemütlich veranlagten russischen Mitstreitern, die im Schnitt sogar ein paar Kilo zulegten. Kurz vor der Landung wurde es endlich einmal richtig spannend. Per Telefon ereilte die Männer eine Alarmmeldung: Ein Defekt sei aufgetreten, die Raumflieger müssten noch zweimal die Erde umkreisen. Die Landung verschob sich um drei Stunden – eine letzte Psycho-Prüfung zum Abschluss. Als die Eingeschlossenen blass mit angespannten Gesichtern aus der Röhre kletterten, weinte einer von ihnen. Die Auswertung der medizinischen und psychologischen Daten wird wie immer viele Jahre dauern. Vielleicht, so hoffen die Forscher, wird die Moskauer WeltraumWG sogar bereit sein, über die im Isolator aufgetretenen Konflikte zu reden. Kommandant Johannes dämpft allerdings Hoffnungen auf allzu pikante Enthüllungen: „Eine gute Mannschaft trägt ihre Konflikte nicht nach außen.“ Irina Schedrowa Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Wissenschaft Türme im Schlick Gasförderung Erdgas aus dem Wattenmeer 10km Probebohrung abgeschlossen; Förderung geplant Probebohrung geplant Borkum Schiermonnikoog Ameland Terschelling Ems Blija Vlieland Zuidwal Harlingen Leeuwarden Groningen Landsat-Satellitenaufnahme VVD setzt sich für das Projekt ein. „Eine explosive Situation“, meint Umweltminister Jan Pronk (PvdA). Jetzt muss Premier Wim Kok vermitteln. Schon Ende der fünfziger Jahre entdeckten die Niederländer in der Provinz das größte Gasfeld Europas. Im niederländischen Wattenmeer soll erneut nach Gas gebohrt Groningen Seither mauserte sich das Land nach Russwerden – für das Land ein Milliardengeschäft. Doch land und Norwegen zum wichtigsten ErdUmweltschützer fürchten um die einzigartige Naturlandschaft. gasproduzenten Europas. Rund 85 Prozent der Einnahmen fließen in die Staatskasse – enn Paul de Cock von der nie- re sieben bis acht Jahre mit Erdgas ver- zusammen 100 Milliarden Mark in den letzderländischen „Waddenvereni- sorgt. Doch die NAM, zu je 50 Prozent im ten 20 Jahren. Sozialsystem und Wohlstand ging“ aus seinem Küchenfenster Besitz von Esso und Shell, hat die Rech- der Holländer gründen maßgeblich auf schaut, sieht er den Deich, darauf ein paar nung ohne den Wirt gemacht. Eine Arma- dem Schatz unter ihren Füßen. Anfang der siebziger Jahre formierte Schafe und dahinter das graue Meer. „Die da von 22 Naturschutzorganisationen inletzte richtige Wildnis in Holland“, klusive WWF und Greenpeace hat sich sich erster Widerstand. Denn bald nach Erschwärmt der Naturschützer und lässt den mittlerweile gegen den Energieriesen ge- schließung der Gasfelder auf dem Festland Blick über westfriesisches Vorland und Kie- stellt. Jetzt droht selbst die niederländi- erhielt die NAM 1969 die „ewige“ Konsche Regierungskoalition am Wattkampf zession auch für das Gas im Watt. Seither bitze im Torkelflug schweifen. liefern sich Umweltschützer und EnergieAls „prinzipiell horizontal“ beschreibt Schaden zu nehmen. Auf Antrag der regierenden sozialde- riese regelmäßig juristische Scharmützel. de Cock die weite Wattlandschaft. Doch in Mehrfach gelang es der „Waddenvereniletzter Zeit drängt sich vor seinem geistigen mokratischen Arbeiterpartei PvdA votierAuge Vertikales ins Bild. Fördertürme ragen te das Parlament jüngst fast geschlossen ging“ und ihren Mitstreitern, Probebohdann aus dem Schlick, stählerne Gitter- gegen die Gasförderung im Watt. Allein die rungen im Watt zu verzögern. Seit Mitte masten wachsen in den Himmel, Gasfeuer an der Koalition beteiligte rechtsliberale der Achtziger wird zwar auf Ameland, bei Blija und in Zuidwal Wattengas gespiegeln sich in den Prielen. fördert (siehe Grafik). Die groß„Wenn die hier eine Bohranlage flächige Erschließung des Wattenaufstellen, dann ist das, als ob man meeres konnten die Umweltschütauf einem Rembrandt einen Bezer jedoch bislang verhindern. cher Joghurt umwirft“, schimpft Nun reißt den NAM-Managern der Umweltschützer. langsam der Geduldsfaden. Sie „Die“, das sind die Techniker pochen auf ihr lizenziertes Recht der Nederlandse Aardolie Maatzur Gasförderung. „Wir ziehen schappij, der niederländischen Schadensersatzforderungen in BeErdgasgesellschaft NAM. Im Wattracht“, droht Vorstandssprecher tenmeer, direkt vor de Cocks Frank Duut. An zwölf Stellen im Haustür, will das Unternehmen Watt will der Konzern Probenach Erdgas bohren. Bis zu 170 bohrungen durchführen. An drei Milliarden Kubikmeter Gas verStandorten könnte die Förderung mutet der Konzern unterm bereits beginnen. „Es wäre falsch, holländischen Schlick. Könnten wenn sich die Regierung bei der sie gefördert werden, wäre der Entscheidung nur von Emotionen Staat um rund neun Milliarden leiten lässt“, sagt Duut. „Die FakMark reicher, das Volk für weite- Test-Bohrplattform im Watt: Gefahr durch Bodensenkungen? U M W E LT Kampf ums Watt K. ZWANEVELD / HOLLANDSE HOOGTE / LAIF W 268 d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Wissenschaft Niederländisches Wattenmeer: „Prinzipiell horizontale Landschaft“ ten sprechen für uns. Die Gasförderung hat keinen Einfluss auf die Natur.“ Das sehen die Umweltschützer anders. Das Vorhaben, so glauben sie, bedeute eine ernste Gefahr für das Watt. Vor allem warnen sie vor den Folgen von Bodensenkungen, die beim Abpumpen des Gases fast unvermeidlich sind. „Ein Drittel der Wattflächen könnte buchstäblich wegsacken“, sagt Greenpeace-Mitarbeiter Martijn Lodewijkx. Schon wenige Zentimeter Senkung könnten katastrophale Folgen für das fragile Ökosystem haben, befürchtet er. Die matschigen Sandflächen vor den Deichen, zweimal täglich von der Flut überspült, gelten als Kinderstube für viele Fischarten und sind einer der wichtigsten Zugvögelrastplätze Europas. Durch den unterirdischen Gasentzug gleichsam tiefergelegt, drohe dem System der GAU, glaubt Lodewijkx. Schon sieht er Seehundbänke samt Heulern auf Nimmerwiedersehen in den Fluten versinken. Höhere Wasserstände könnten die Salzwiesen vernichten. Watvögeln wie Rotschenkel oder Knutt drohe Nahrungsknappheit. Langfristig befürchtet der Umweltschützer den Ausverkauf des Naturraumes: „Ist die Gasförderung erst erlaubt, können andere wirtschaftliche Aktivitäten nicht mehr gestoppt werden.“ Auch vor Unfällen, die das Watt dauerhaft verseuchen könnten, warnt Lodewijkx. „Kein Mensch kann die Risiken abschätzen.“ NAM-Sprecher Duut hält das alles für Panikmache. „Den Umweltschützern fehlt jedes Verantwortungsgefühl“, sagt er. „Hier geht es um ein Milliardengeschäft.“ Das Unternehmen beteuert, sich im Wattenmeer strikten Umweltauflagen zu unterwerfen. So sollen die Gasfelder horizontal angebohrt werden, damit die Förderanlagen statt im Watt auf dem Festland stehen können. Probebohrungen verspricht die NAM nur noch zwischen Oktober und Februar durchzuführen, wenn weder Jungfische noch Zugvögel im Watt weilen. Ausschließlich per Schiff, nie mehr im lärmenden Helikopter, werde man die Techniker künftig an ihren Arbeitsplatz bringen. Zwar muss Duut einräumen, dass der Wattenboden stellenweise bereits jetzt um 270 d e r mehr als 20 Zentimeter abgesackt ist. Verändert habe sich das Ökosystem jedoch nicht. „Die Umweltschützer lügen“, konstatiert der Industrie-Sprecher. „Wir sehen keine Beeinträchtigung der Salzmarschen“, assistiert Norbert Dankers, Biologe am niederländischen Alterra Greenworld Research Institute. Seit 1986 überwacht er mit staatlich kontrollierten, indes von der NAM bezahlten Studien die Erdgasanlage auf der Ostspitze der Frieseninsel Ameland. „Tellerförmig“ habe sich der Wattboden rund um die seit 1986 laufende Anlage gesenkt, berichtet Dankers. Weil das Watt nun jedoch häufiger überflutet werde, lagere sich mehr Sediment ab, der den Verlust fast wieder wettmache. „Die Wattfläche wird sich etwas verkleinern“, räumt der Biologe ein. „Nach fünf bis zehn Jahren ist aber wieder alles beim Alten.“ Im Vergleich zu den Folgen des klimabedingten Meeresspiegelanstiegs sei der mögliche Landverlust zu vernachlässigen, glaubt Dankers. Auch Tourismus, Fischerei und Militärübungen setzten der Naturlandschaft zu. „Man stelle sich vor, die Regierung würde einen Teil des Geldes aus der Gasförderung in den Schutz des Wattenmeeres pumpen“, sagt er. „Das würde dem Naturraum viel mehr helfen als der derzeitige Protest.“ Wattenmeer-Advokat de Cock ist es leid, um Zentimeter und Geld zu feilschen. „Menschen wollen immer alles messen können“, klagt der Umweltschützer. „Das Wattengas liegt hier seit Millionen von Jahren. Warum muss ein derart empfindliches Gebiet überhastet erschlossen werden?“ „Mein Herz hängt am Wattenmeer“, sagt der Naturschützer und hofft auf ähnliche Einsichten der Politiker. Die nächste Runde im Kampf ums Wattenmeer steht in Den Haag am 8. Dezember an. Ob die Regierung wegen des Gases die Koalition gefährden werde, sei zwar fraglich, glaubt de Cock. Die Öffentlichkeit stehe jedoch klar auf Seiten der Watt-Schützer. Ein kürzlich erschienener Kommentar der Zeitung „NRC Handelsblad“ zur BohrLizenz der NAM brachte den Volkszorn auf den Punkt: „Ewige Genehmigungen sind total out.“ Philip Bethge s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Wissenschaft H E R Z I N FA R K T Leben unter der Lupe Eine Stadt lebt für die Forschung: Gesundheitsdaten, seit fünf Jahrzehnten erhoben an 10 000 Bürgern der US-Kleinstadt Framingham, brachten viele bis dahin unsichtbare Feinde des menschlichen Herzens ans Licht. S. JOHNSON betes und Bewegungsmangel blieben im Laufe der Jahrzehnte im Schleppnetz der amerikanischen Gesundheitsfahnder hängen. Der Begriff des „Risikofaktors“ ist seit Framingham in den Grundwortschatz der Kardiologen eingeflossen. Um ihren Lorbeer in den Hallen der Medizingeschichte brauchen sich die Einwohner der Stadt deshalb nicht zu sorgen. Beim 50-jährigen Jubiläum der Langzeitstudie im Herbst letzten Jahres prasselten die Komplimente der Gesundheitspäpste wie reife Früchte auf die Teilnehmer. Framingham, erklärte Daniel Levy, derzeitiger Direktor der Studie, habe „mehr als jede andere Stadt in den USA dazu beigetragen, die Gesundheit unseres Landes zu fördern“. Auch der nüchternen „New York Times“ waren die „berühmtesten Versuchskaninchen der Welt“, wie sie der Autor nannte, eine Eloge wert. Wenn alle Menschen, die der Herzstudie einen Teil ihres Lebens verdanken, zur Jubiläumsgala angereist wären, hieß es dort, dann hätten die Veranstalter „Millionen und Abermillionen von Klappstühlen auftreiben“ müssen. Viel Ehre für ein Unternehmen, das 1948, mitten in der „Fleisch-Butter-undEier-Ära“ („New York Times“), eher lautlos und bescheiden begonnen hatte. Einer von vier amerikanischen Männern über 55 erkrankte in jenen Jahren am Herzen. Herz-Kreislauf-Erkrankungen rangierten – damals wie heute – an der Spitze der Todesursachenstatistik. Doch über die Hintergründe wussten die Mediziner vor 50 Jahren so gut wie nichts. Als die Studie begann, qualmten noch 70 Prozent der amerikanischen Männer. Nach den Entbehrungen der wirtschaftlichen Depression und des Weltkriegs stellten die Hausfrauen der US-Mittelschicht ihren Ehemännern bevorzugt fettreiche Kost auf den Tisch. Wer an der Pumpe kränkelte, dem rieten die Mediziner zu einem möglichst vorsichtigen und bewegungsarmen Herzstudien-Stadt Framingham: Lorbeer in den Hallen der Medizingeschichte U nzählige Schikanen ließen die Bewohner des kleinen Städtchens über sich ergehen. Seit 1948 haben die Mediziner sie immer wieder gemessen und gewogen, geröntgt, in den Computertomografen gesteckt oder zur Blutabnahme gebeten. Manche der menschlichen Testkandidaten verbrachten die Nächte verkabelt mit Elektroden. Andere wurden vom Finger des Urologen traktiert oder auf einen schier endlosen Parcours von Hör-, Seh-, Gedächtnis-, Leistungs- und Intelligenztests geschickt. „Es war nicht immer angenehm“, erinnert sich ein Teilnehmer, „aber ich sagte mir: Für die Wissenschaft tust du das. Was immer sie von uns verlangten, wir haben es gemacht.“ 50 Jahre lang haben rund 10 000 Bürger von Framingham, einer unscheinbaren 65 000-Einwohner-Stadt in der Nähe von Boston, in der Gummiaufkleber und HiFi-Lautsprecher produziert und GeneralMotors-Wagen montiert werden, an einer Art medizinischer Rasterfahndung teilgenommen. Sie wurden nach ihren Essensgewohnheiten und Ängsten, nach Alkohol und Zigaretten, Ausbildung, Kopfschmerzen und Schlafgewohnheiten befragt und 274 in zweijährigen Abständen nach allen Regeln der medizinischen Diagnostik durchleuchtet. Den Probanden, zu erkennen an den weißen Herzen auf ihren Bademänteln, wurde die ärztliche Inquisition niemals zu viel. Nur knapp fünf Prozent der ersten Testgeneration von 1948 scherten aus der Untersuchung aus. 1971 rekrutierten die Forscher über 5000 Nachkommen der Ursprungskohorte. Jetzt warten bereits die Kinder dieser zweiten Generation darauf, in das Forschungsprogramm aufgenommen zu werden. Der gigantische Aufwand hat sich gelohnt. Dank der „Framingham-Herzstudie“ gilt der Infarkt in der Medizin nicht mehr als unerklärlicher Maschinenschaden des Pumpmuskels. Zwar wurde die Beteiligung von Bakterien (Chlamydia pneumoniae) an der Entstehung von Herzschäden, derzeit heißestes Thema der Infarktforschung, zuerst in Schweden aufgedeckt. Doch die Forscher in Framingham waren es, die mit als erste den Zusammenhang zwischen erhöhten Blutfettwerten und Herzinfarkt erkannt haben. Auch andere schädliche Einflüsse wie Nikotin, Bluthochdruck, Übergewicht, Diad e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Wissenschaft 276 π Frauen sind gegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen besser gefeit als Männer, weil ihnen das weibliche Sexualhormon Östrogen einen unsichtbaren Schutzschild verleiht. Nach dem Versiegen der Hormonquelle jenseits des Klimakteriums steigt auch ihr Herzrisiko – die Hormonsubstitution beruht auf dieser Erkenntnis der Framingham-Forscher. FOTOS: M. PETERSON / SABA / VISUM Leben. Körperliche Anstrengungen, gar Training, waren tabu. Erst die vom Nationalen Herz-, Lungenund Blut-Institut der USA finanzierte Langzeitstudie brachte Licht ins Dunkel des Ursachengeflechts. Dabei hatten es die Emissäre der Studie anfangs nicht leicht, Teilnehmer für den aufreibenden Medizinmarathon zu ködern. „Man musste die Leute förmlich anbetteln“, erinnert sich eine heute 83-Jährige. „Keiner hatte es gern, dass ihm andere im Privatleben herumschnüffelten.“ Die Zeiten haben sich geändert: „Jetzt“, sagt die Frau, „würden sie sich den Arm dafür brechen lassen, dass sie in die Studie aufgenommen werden.“ Gut zehn Jahre vergingen nach 1948, bis die US-Forscher die Millionen von Gesundheitsdaten gesichtet hatten und in Fachblättern erste Teilergebnisse veröffentlichten. Seither hat vieles, was die Studie aus der Kleinstadt Framingham über die unsichtbaren Feinde des Herzens ans Licht brachte, das medizinische Wissen revolutioniert: π Bluthochdruck zählt auch im Alter nicht zu den lässlichen Sünden des Wohlstands. Wer für den systolisch gemessenen Blutdruck einen Wert von 100 plus Alter akzeptiert, riskiert Schäden für Herz und Kreislauf. Bei einem 70-Jährigen mit einem systolischen Blutdruck von 170 ist das Schlaganfall-Risiko vervierfacht. Framingham-Forscher wie William Castelli, Leiter der Studie von 1979 bis 1995, haben den idealen Blutdruck radikal nach unten korrigiert. Werte von mehr als 140/90 erschienen ihnen als zu hoch. Nach neuesten Empfehlungen der WHO sollten sie nicht über 130/85 liegen. π Nikotin schadet dem Herzen, mit dieser Erkenntnis begann für die FraminghamForscher ein jahrzehntelanger Clinch mit der Tabakindustrie. Er endete erst 1981, als Framingham-Daten auch die Zweckbehauptungen der Zigarettenhersteller Lügen straften, Filter könnten die Gesundheitsgefahren bannen. π Idealgewichtige leben nicht länger als Mollige. Wer mit Messer und Gabel in Maßen sündigt und ein paar Pfund zu viel auf die Waage bringt, muss dafür nicht eher sterben. Der Jo-Jo-Effekt vieler Diäten, bei denen die Pfunde erst purzeln und sich anschließend wieder an die Hüften hängen, zieht den Pumpmuskel stärker in Mitleidenschaft als ein moderater Speckring. Echte Fettsucht bleibt dagegen ein ernst zu nehmender Risikofaktor. π Körperliche Aktivitäten bringen den Pumpmuskel wieder auf Vordermann. Wer nach dem ersten Knacks im Körpermotor ängstlich auf jeden Sport verzichtet, hat bei der Wiedergenesung und bei der Vorbeugung gegen den Zweitinfarkt die schlechteren Karten. Tests zur Herzstudie in Framingham „Weltberühmte Versuchskaninchen“ Schulmediziner haben das mit der Framingham-Studie in die Lehrbücher eingegangene Risikofaktoren-Modell in der Vergangenheit gelegentlich zu mechanistisch interpretiert. Eine Art Fahndungsmedizin nach Herzkillern setzte ein. Ebenso wichtige „weiche“ Faktoren wie psychosozialer Stress, Angst, depressive Verstimmungen, soziale Isolation, mangelnde Anerkennung, Hoffnungslosigkeit oder auch emotionale Überforderung wurden zwar immer wieder als Gefahren für das Herz genannt, aber nicht weiter verfolgt. Ein Fehler, den die Mediziner erst seit kurzem ausbügeln, denn über 50 Prozent aller Herzerkrankungen sind nach Ansicht von Psychokardiologen mit den StandardRisikofaktoren von Framingham allein nicht zu erklären. Auch das riskante Verhalten von Rauchern, Vielessern und Workaholics sowie die lebensgefährliche d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Trägheit der Couch-Potatoes rühren nach Ansicht dieser Mediziner in vielen Fällen von biografischen Konflikten her, für die die Risikofaktoren allein noch keine Erklärung liefern. „Welche Lebenskonstruktionen es sind“, kritisiert Annelie Keil, Gesundheitsforscherin an der Uni Bremen, „die beim Einzelnen im Laufe der Zeit bis auf die Ebene der Zellen durchschlagen, wurde durch Framingham nicht beantwortet.“ Dennoch haben die US-Mediziner mit ihrer Langzeitstudie den Vormarsch des Zivilisationsleidens zumindest verlangsamt. Die Zahl der Herz-Kreislauf-Erkrankungen ist in den USA in den vergangenen 30 Jahren um über 50 Prozent gesunken. Die potenziellen Opfer sind vorsichtiger geworden: Nur noch 28 Prozent der amerikanischen Männer rauchen, der regelmäßige „Work-out“ zählt zum gesellschaftlichen Ritual. Seit einigen Jahren destillieren die Framingham-Forscher aus ihren Daten auch Erkenntnisse über andere Zivilisationsleiden wie Krebs, Diabetes, Alzheimer, Osteoporose, Schlaf-, Hör- und Sehstörungen. Auch genetische Untersuchungen gehören seit 1987 zum Untersuchungsprogramm. Doch was auch immer die Mediziner beispielsweise in den Genen der Studienteilnehmer noch entdecken werden, eine Botschaft halten sie schon heute für ausgemacht: Den im Erbgut verschlüsselten Befehlen wird beim Kampf gegen die Herz-Kreislauf-Geißel keine größere Bedeutung zukommen als dem Verhalten und dem Lebensstil der Menschen. „Übergewicht etwa“, erklärt Christopher O’Donnell vom Nationalen Herz-, Lungen- und Blut-Institut, „trägt ebenso viel zum Bluthochdruck bei, wie es die Gene tun.“ Nicht mehr alle Mitstreiter der Jahrhundertstudie können sich in ihrem Ruhm als Daten spendende Medizinpioniere sonnen. Nur jeder Dritte aus der Testgeneration von 1948 ist noch am Leben. Dass die Übriggebliebenen ihren Körper nach so langen Jahren noch immer bereitwillig in den Dienst des medizinischen Fortschritts stellen, erfüllt manche mit einer Art kindlichem Stolz: „Sie glauben gar nicht, wie oft ich den Satz hier schon gehört habe: ,Ich bin nämlich noch einer von den ersten, wissen Sie, Frau Doktor‘“, erzählt Sue Anderson, klinische Managerin der Studie. Seit die Mediziner ihren Versuchspersonen neuerdings auch nahe legen, ihr Gehirn nach dem Tod dem nicht weit von Framingham entfernten Harvard Brain Tissue Resource Center in Belmont zu vermachen, gesellt sich zur Genugtuung gelegentlich auch ein Schuss Selbstironie: „Am Ende“, unken die StudienOldies verschmitzt, „haben wir also doch noch das Hirn gehabt, nach Harvard zu gehen.“ Günther Stockinger Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Technik „Deutlich mehr als 80 Prozent der Arbeit“, so der Neckarsulmer Werksleiter Otto Lindner, „werden nun durch Automaten erledigt.“ Audi will bis zu 60000 A2 pro Jahr produzieren und sich in Zukunft sogar noch weiter vorwagen: Ab 2005 soll auch der A6, von dem jährlich knapp 200 000 Exemplare gebaut werden, mit Alu-Karosse vorfahren. Dem A2 ist die Aufgabe zugedacht, an den Marktanteilen der A-Klasse von Mercedes zu knabbern. Das Basismodell wird vom 75-PS-Benziner aus dem Baukasten des VW-Konzerns angetrieben. Der Clou der Baureihe aber ist die „A2 1.2 TDI“-Version, die im Sommer in den Handel kommt. Mit dem dreizylindrigen Turbodieselmotor (61 PS) wird dies, nach dem VW Lupo, das zweite deutsche Dreiliterauto sein. Noch denken die Audi-Strategen darüber nach, ob sie das Ökomobil mit einem vergleichsweise bescheidenen „Kampfaufpreis“ von nur gut 1000 Mark in den Markt drücken sollen. Weniger Masse führt zu geringerem Verbrauch – diese simple Formel lässt den A2 Produktion der A2-Karosserie: Aussöhnung mit den Robotern TDI mit 2,99 Litern Kraftstoff 100 Kilometer weit AU T O M O B I L E kommen. Die Alu-Karosserie wiegt 43 Prozent weniger als vergleichbare Stahlbauten; das Auto, das im Innenraum mehr Platz als der A3 bietet, wiegt als TDI nur 825 Kilogramm. Von der Leichtbauweise Das Dreiliterauto A2 von Audi des A2 werden die Käufer wird das erste Massenauto sein, auch bei ihrer Versicherung dessen Karosserie ganz aus profitieren. Die AssekuranSpar-Audi A2: Knabbern an der A-Klasse von Mercedes zen haben signalisiert, dass Aluminium besteht. Ab 2005 soll zaghafte Versuche: In Neckarsulm hat- sie den A2 wegen geringerer Reparaturauch der A6 stahlfrei sein. ten die NSU-Werke, damals „Königlicher kosten bei Bagatellunfällen in die Vollkasie schüchterne Einser-Abiturien- Hoflieferant“, schon 1913 einen Prototyp koklasse 11 einstufen wollen – die zweitten mühten sich die hohen Her- aus Aluminium entwickelt – und wenig niedrigste von 30 möglichen Eingruppieren im Neckarsulmer Audi-Werk, später verworfen. 1948 holperte der erste rungen. Lob gibt es von allen Seiten, selbst Land-Rover aus Alu durchs Gelände, 1990 ihren Stolz unter Kontrolle zu halten. Endlich, nach Monaten kränkender Kri- verarbeitete Honda den Rohstoff Bauxit Greenpeace findet wohlwollende Worte für tik am Fahrverhalten ihrer TT-Baureihe, in der Alu-Karosse seines Sportwagens Audis Alu-Engagement. Schon nach dem zweiten Recycling der Leichtbau-Karosse, konnten Vorstandschef Franz-Josef Paef- NSX. gen und Technik-Vorstand Werner MischIm Wettstreit der Werkstoffe setzte sich sagt deren Autoexperte Günter Hubmann, ke auftrumpfen und die Vorzüge ihres fast immer der Stahl durch – auch wenn sei „die Energiebilanz im Vergleich mit der Hightech-Produkts A2 anpreisen. der durchschnittliche Alu-Anteil in Perso- Stahlproduktion gleich“. Wer aber wird bereit sein, für das IngolDer Stolz der Ingenieure ist nicht unbe- nenwagen seit 1955 von 19 auf 85 Kilogründet: Die Entwicklung des kompakten gramm stieg. Die Herstellung von Alu- städter Dreiliterauto mit der Alu-Karosse A2, der im Frühsommer nächsten Jahres minium ist energieintensiv und teuer, das Geld draufzulegen? Vorstandschef Paefgen bei den Händlern stehen soll, kommt ei- Material stand zudem lange im Ruch, nicht hält sich mit optimistischen Prognosen nem Quantensprung in der Automobil- genügend verwindungssteif zu sein. Robo- zurück. Mit 50 000 Käufern rechne er, aber ter reagierten auf Alu mit Arbeitsverwei- nur jeder Zehnte werde sich für den Turtechnik gleich. Erstmals verzichtet ein Hersteller in der gerung, der hohe Anteil von Handarbeit bodiesel entscheiden. In den letzten Jahren Massenfertigung auf den Einsatz von Stahl rechnete sich für die Autokonzerne nicht. sei „der Anspruch an bessere Fahrleistung Seit 1994 bietet Audi die aus Aluminium und mehr Komfort deutlich schneller gebeim Karosseriebau und setzt ganz auf das Leichtmetall Aluminium. „Aus optischen hergestellte Limousine A8 an, in der sich wachsen als die Bereitschaft, für geringen Gründen“ soll der Einstiegspreis knapp auch Kanzler Gerhard Schröder werbe- Verbrauch einen Mehrpreis zu zahlen“. Ein stiller Helfer könnte die rot-grüne unter dem des A3 liegen – für rund 32 000 wirksam durch die Republik chauffieren Mark wird Audi ein Vernunftauto anbieten, lässt. Beim teuren Flaggschiff – Jahrespro- Bundesregierung sein: Der im Zuge der dessen Karosserie mit geringem Ener- duktion 15 000 Exemplare – kann es sich Steuerreform in den nächsten Jahren drasder Konzern leisten, nur 20 Prozent der tisch steigende Benzinpreis, so ein Audigieaufwand recycelbar ist. Stratege, werde dem Absatz des DreiliterAnders als im Flugzeugbau fristete der Arbeitsschritte Robotern zu überlassen. Für die A2-Herstellung gelang es, die Ma- autos „gewiss nicht schaden“. Leichtbau in der Autobranche bisher ein Nischendasein. Zwar gab es immer wieder schinen mit dem Leichtmetall auszusöhnen. Carsten Holm Wettstreit der Werkstoffe W 280 d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Kultur Szene FILM „Wie beim Gladiatorenkampf“ DPA SPIEGEL: Herr Emmerich, ähnlich wie an amerikanischen High Schools laufen jetzt auch in Deutschland Jugendliche Amok mit tödlichen Folgen. Tragen Filme wie „Tötet Mrs. Tingle!“ daran eine Mitschuld? Emmerich: Nun ja, im Kino sieht es eben oft sehr cool aus, wie Leute umgebracht werden. Doch viele Jugendliche können offenbar nicht mehr unterscheiden zwischen Realität und Fiktion. Die erschießen jemanden, und dann lachen sie sich tot, weil sie gar nicht kapieren, dass der nicht mehr aufsteht. SPIEGEL: Hat es im Kino nicht schon immer Gewalt gegeben? Emmerich: Richtig, und doch hat sich in den letzten Jahren etwas verändert. Als Sam Peckinpah 1969 in Zeitlupe zeigte, wie Geschosse menschliche Körper zerreißen, waren die Zuschauer ungeheuer schockiert. Wenn heute in einem Film am Ende der Gute den Bösen auf brutalste Art und Weise umbringt, jubeln alle wie verrückt – wie beim Gladiatorenkampf. SPIEGEL: Klingt wie ein Schuldeingeständnis. Emmerich: Jeder muss mit sich selbst abmachen, wie weit er gehen will. 1992 habe ich „Universal Soldier“ gedreht mit JeanClaude Van Damme und Dolph Lundgren. Was sollte ich da anderes machen, als sie sich die Köpfe einschlagen zu lassen? SPIEGEL: Drehen Sie so etwas gern? Emmerich: Nein, es war eine rein mechanische Angelegenheit. Bummbumm-bumm – und das war’s. Nachdem meine Mutter den Film gesehen hatte, sagte sie: Roland, das war schon ziemlich extrem. Schon deswegen habe ich auf so etwas keine große Lust mehr. Emmerich L I T E R AT U R Waldemars Traum vom Steinzeitsex J unger Mann aus Polen bricht, fast ohne Geld, zu seiner ersten Reise in den Westen auf – und landet dabei unter miesen Ausbeutern, fremdenfeindlichen alten Damen und pfiffigen Tagedieben im schönen, schaurigen Wien. Im schlimmsten Fall hätte aus diesem Buch eine Art Papalagi-Roman der Neunziger werden können, voller wohlfeiler Kritik an der westlichen Dekadenz, gesehen diesmal nicht mit den Staune-Augen eines Südsee-, sondern eben eines Ostblock-Insulaners. Im Glücksfall des in Wien lebenden und aus Polen stammenden Autors Radek Knapp, 35, wurde dard e r CINETEXT Roland Emmerich, 44, deutscher Hollywood-Regisseur („Independence Day“, „Godzilla“), über Gewalt im Kino und seinen Zeitreise-Thriller „The 13th Floor“, der jetzt in die deutschen Kinos kommt Emmerich-Film „Universal Soldier“ (1992) SPIEGEL: Auch in dem von Ihnen produzierten neuen Film „The 13th Floor“ gibt es einen Kopfschuss zu sehen. Emmerich: Ja, aber es ist ein realistischer Kopfschuss. Jemand stirbt tatsächlich, das zeigt die Grausamkeit des Tötens. So etwas nur anzudeuten hätte bei weitem nicht diese Wirkung. aus der wunderbar filigrane Schelmenroman „Herrn Kukas Empfehlungen“. Knapps Held heißt Waldemar und ist nur vordergründig ein unschuldigtraumäugiger Parzival; in Wahrheit lernt er, angeleitet von den Tipps des höchst zwielichtigen Orakel-Onkels Kuka aus der Warschauer Heimat, sehr schnell, sich in der westlichen Großstadt durchzuschlagen. Dabei ist Wien naturgemäß ein mit allerlei Skurrilitäten gesegneter Schauplatz, der obendrein von bizarren Typen bevölkert wird. Ausgerechnet ein Stuttgarter Medizinstudent beispielsweise erweist sich in diesem Buch als skrupelloser Kleptomane, der so virtuos Feinkostspezialitäten und Walkmen zusammenklaut, wie s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 es Harald Schmidt und das Stammtischklischee gern den Polen nachsagen. Waldemar staunt: „Mir wurde klar, dass ich soeben einen Künstler bei der Arbeit gesehen hatte.“ In scheinbar kunstlosen, geradlinigen Sätzen voller hintergründigem Humor erzählt Knapp von erotischen und kapitalistischen Versuchungen, lässt seinen Helden von „regelmäßigem Steinzeitsex“ delirieren und in böse Fallen tappen – und zimmert aus den Verwirrungen des Zauberlehrlings Waldemar eines der unterhaltsamsten und durchtriebensten Bücher der Saison. Radek Knapp: „Herrn Kukas Empfehlungen“. Piper Verlag, München; 252 Seiten; 38 Mark. 283 Szene AU S S T E L L U N G E N Kunst der Verfemten ie hießen „Schreckenskammer“ oder „Entartete Kunst“: Ausstellungen, in denen die Nazis von 1933 an moderne Kunst verhöhnten. Sie prangerten Werke von bekannten Avantgarde-Malern wie Wassily Kandinsky oder Max Beckmann an – aber auch von Kollegen, die erst dabei waren, sich einen Namen zu machen: junge Künstler, um 1900 geboren, die einmal eine zweite Generation der Moderne bilden sollten. Malverbote verhinderten schon den Beginn ihrer Karrieren. Einige konnten emigrieren, Isenburger-Bild (1926/30) nicht wenige starben im Krieg oder in Konzentrationslagern. Die Überlebenden aber fanden nach 1945 mit ihrer oft figürlich und expressiv orientierten Kunst schwer Anschluss an die neue abstrakte Zeit im Westen oder an den sozialistisch genormten Realismus im Osten Deutschlands. Viele Bilder aus der Vorkriegszeit verschwanden auf Speichern. Der Kunstantiquar Gerhard Schneider stieß in den achtziger Jahren auf einen der verschollenen Kunstschätze, er begann zu forschen und zu sammeln. Jetzt stellt das Museum Baden in Solingen-Gräfrath unter dem Titel „Verfemt, Vergessen, Wiederentdeckt“ 540 Gemälde und Grafiken aus Schneiders Bestand bis 12. März aus. Sie stammen von meist unbekannten, oft aber hoch talentierten Künstlern; darunter der Maler Slavi Soucek oder sein Kollege Valentin Nagel mit seinen kubistisch beeinfluss- MUSEUM BADEN S Nagel-Gemälde (um 1927), Soucek-Zeichnung (1933, o.) ten Porträts. Nagel, vom NS-Kunstterror zermürbt, war 1942 nach mehreren Herzinfarkten mit 50 Jahren gestorben. Eric Isenburger, Jahrgang 1902, flüchtete 1939 nach Frankreich – und landete im Internierungslager. Ihm gelang eine zweite Flucht in die USA. Der Mann, der in den späten zwanziger Jahren das ernste Bildnis eines „Jüdischen Mädchens“ geschaffen hatte, blieb wie viele seiner namenlosen Künstlergeneration auch im Exil ein Außenseiter. Kino in Kürze „Es beginnt heute“. Weit weg von Paris (Philippe Torreton) leitet die Vorschule einer Kleinstadt, in der die Arbeitsplätze rar sind und die Familien an Armut, Alkohol, Gewalt oder Hoffnungslosigkeit zerbrechen. Wie Sisyphos stemmt sich Daniel gegen den grassierenden Verfall, versucht, Sozialarbeiter zu alarmieren, Gelder zu beschaffen und verstörte, misshandelte Schützlinge zu retten. Mit leidenschaftlicher Wut schildert Regisseur Bertrand Tavernier, wie gerade die Schwächsten der Gesellschaft von der Politik im Stich gelassen werden. „Es beginnt heute“ ist weniger ein klassischer Spielfilm als eine Bestandsaufnahme und ein Appell: das verzweifelte SOS eines Sisyphos, dem allmählich die Kräfte ausgehen. ARSENAL und den Beziehungsspielchen selbstverliebter Metropolen-Yuppies, die der französische Film sonst so liebevoll ausbreitet, ist dieses herbe sozialrealistische Drama angesiedelt. Sein Held Daniel Szene aus „Es beginnt heute“ 284 d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 „Wonderland“. Was er anpackt, ist jedes Mal frisch und lebhaft: Das macht Michael Winterbottom zum Power-Mann unter den jüngeren britischen Regisseuren. Diesmal verfolgt er mit 16-mm-Handkamera und ungefiltertem O-Ton ein Wochenende lang die Mitglieder einer Londoner Kleinbürgerfamilie: ein vom Leben zermürbtes Elternpaar, dazu drei erwachsene Töchter und ein spätgeborener Sohn, die alle längst mit den eigenen Miseren ihre eigenen Wege gehen. Nichts Sensationelles geschieht; Frust siegt über Lust; man trifft sich, ohne sich viel zu sagen zu haben; ein Hund wird vergiftet, und ein Kind wird geboren, das den Namen Alice bekommt, weil man doch nie aufhört zu hoffen, diese Welt könnte sich als „Wonderland“ erweisen. Mit einer Hand voll wunderbarer Schauspieler lässt Winterbottom aus banalem Lebensrohstoff Lebenswahrheit hervorscheinen. Kultur POP Am Rande Postumer Krieg Schwer hystorisch D D AFP / DPA er Hotelgast in Zimmer 524 des Ritz Carlton in Sydney war nackt, als er gefunden wurde; sein Hals hing in der am Türgriff befestigten Schlinge eines Ledergürtels. Selbstmord? Ein Unfall beim Experimentalsex? Darüber streitet Paula Yates, die Verlobte des Toten, bis heute, zwei Jahre danach, mit den australischen Behörden, die den Fall längst unter der Rubrik „Suizid“ zu den Akten gelegt haben. Ein Skandal war es auf jeden Fall – denn der Tote hieß Michael Hutchence, war erst 37 Jahre alt und Sänger der australischen Popgruppe INXS. Zuletzt hatte vor allem sein Zwist mit Yates’ Ex-Mann, dem „Live Aid“Konzert-Organisator Bob Geldof, für hässliche Schlagzeilen gesorgt. Nun gibt es einen postumen Kommentar zur Liebesschlacht: „Alles ist erlaubt in der Liebe und im Krieg“, singt Hutchence auf einem zum zweiten Todestag erschienenen Soloalbum (V2 Records). Hutchence (1997) Und als hätte er die erbitterten Kämpfe um sein Erbe vorausgesehen – es geht um mehrere Millionen Pfund –, tönt Hutchence in „Slide Away“: „Ich will einfach nur davonsegeln – und wieder lebendig werden.“ archäologischer Fundstücke und zahlreiche – erstmals öffentlich zugängliche – Handschriften Freudscher Schlüsseltexte; dazu Originaldrucke wie die schmucklose Broschüre „Warum enau ein Jahrhundert nach dem ErKrieg?“, in welcher der Völkerbund scheinen der „Traumdeutung“, ei1933 den Briefwechsel zwischen Freud nem Hauptwerk Sigmund Freuds, erinund Einstein veröffentlichte. Kritisches nern zwei Ausstellungen in Wien an den zum Paternalismus der Seelendoktorei Begründer der Psychoanalyse. „Konflikt gibt es ebenfalls: „Freud war der Vater und Kultur“ heißt die umfangreichere der Psychoanalyse. Mutter hatte sie keine“, verkündet im Großformat ein feministisches Bonmot von Germaine Greer. Als fortwirkende Diskussion, nicht als starres Museumsobjekt zeigt auch die Parallelausstellung „Psychoanalyse in Bewegung“ ihren Gegenstand – in der legendären Berggasse 19, wo der Erforscher des Unbewussten Freud (1938), Notizen für eine BBC-Rundfunkrede (1938) von 1891 bis 1938 lebte und praktizierte. Das Kernstück dieser von beiden, die zunächst in Washington Schau ist ein 16-mm-Stummfilm von zu sehen war und nun bis zum 6. Febru1929, in dem der Freud-Analysand und ar im „Aurum“ der Nationalbibliothek Kamera-Amateur Philip R. Lehrman den am Josefsplatz präsentiert wird. Im Meister im Kreise seiner Schüler zeigt. Zentrum dieser Schau steht, hinter Unter ihnen eine von Freud analysierte Glas, eine Rekonstruktion der berühmUrgroßnichte Napoleons – Marie Bonaten Couch mit dem originalen Teppichparte (1882 bis 1962), die mit ihrem erÜberwurf. Darum herum gruppieren erbten Vermögen 1938 dem greisen und sich so verschiedenartige Dokumente krebskranken Gelehrten zur Flucht vor wie das (glänzende) Abiturzeugnis und den Nazis ins Londoner Exil verhalf. die Steinbeile des besessenen Sammlers K U LT U R G E S C H I C H T E Stummfilmheld Freud SIGMUND FREUD HAUS ARCHIV WIEN COURTESY MARK PATERSON ASS. / LIBRARY OF CONGRESS G d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 er wachsende Bauch, das schwindende Haar, die Verständnislosigkeit in den Gesichtern der Jüngeren, wenn der reifere Fußballfreund sehnsuchtsvoll den Namen Wolfgang Overath ausruft – echte Kümmernisse des Älterwerdens. Dann aber gibt es Sorgen, die hätte der Angejahrte gern. Sie stehen in der „FAZ“, hinter der offenbar nicht nur ein kluger, sondern manchmal auch ein wackelnder Kopf steckt. „Wie lange wird es dauern“, fragt der Herausgeber Frank Schirrmacher, „bis irgendein relevanter Künftiger uns allsamt und das, wofür wir stehen, zu Geschöpfen des letzten Jahrtausends erklären wird?“ Wie aufregend schrecklich, diese drohende numerische Entwertung: Ätsch, ich hab die 20 in meinem Geburtsjahr und ihr bloß die 19. Nun müssen die „FAZ“-Leser zusammen mit vielen Edelfedern unter dem Titel „Das Moses-Projekt“ über das hundsgemeine Weiterfließen der Zeit nachdenken und die hochwichtige Frage, ob die Gegenwart „elegisch“ oder gar „vergeudet“ sei – als gäbe es am Ende der Geschichte den großen Spaßbewerter und Abrechner. Schon recht: Rückblicke zum Jahrtausendende sind angebracht, so viel Zeit für Geschichte muss sein. Aber die Frage, wie es der in der Gegenwart ergrauende Mensch schaffen könnte, mit historischen Selbstbeschreibungen künftigem Vergessen oder künftigem Naserümpfen durch später Geborene zuvorzukommen, hat doch schwer hystorische Züge. Gegen geschichtliche Blässe hilft geschichtliche Reflexion wenig. Immerhin, ihr 2000er, ihr habt die Nullen, wir aber hatten Overath. 285 Kultur MUSIK Von der Wall Street nach Walhall Der amerikanische Multimillionär Alberto Vilar ist der spendabelste Mäzen der internationalen Musikszene. Jetzt will der Investor und Opernfreak auch in Deutschland einsteigen: Bayreuth und Baden-Baden können auf reichen Dollarsegen hoffen. Von Klaus Umbach O nossen: „Unglaublich, traumhaft, jedes Mal großartiger.“ So einer wie Vilar steckt nicht nur seine geschäftlichen Flugrouten, sondern seinen ganzen privaten Lebensplan nach den Hochburgen der Gesangskultur ab, Kurs Salzburg und Wien, London und St. Petersburg, Bayreuth, Glyndebourne, New York. Vilar jettet nach Noten. Die 30 Räume seines Appartements in Manhattan hat er als Schrein der Tonkunst ausstaffiert, mit Zimmerdecken wie im Salzburger Mozarteum und Kronleuchtern wie in der New Yorker Met, mit Statuen von Mozart und Mozarts Don Giovanni in den Gemächern und einem gläsernen Esstisch in Form einer Laute. In diesem Fundus fühlt er sich wohl, dieser Single und, nach eigener Einschätzung, „gesellschaftlich scheue Mensch“: „Mein Leben brauche ich mit niemandem zu teilen: keine Katze, keine Frau, kein Hund.“ Kaum Kino, kaum Bücher, kaum Fernsehen. Nur Oper, Oper, Oper – und Dollars zuhauf. So einen wie diesen Alberto Vilar hat die Welt noch nicht gesehen, nicht mal die verrückte Welt der trällernden Primadonnen und der schmachtenden Tenöre. Denn Vilar ist vielfacher Millionär und schmeißt, wie es aussieht, den Singtempeln das Geld nur so zum Fenster rein. Für sein lieb Kind verschenkt er ein Vermögen. „Ich kann keine Schecks ausstellen, um den Hunger in Biafra zu stillen, das ist Sache der Politiker“, kommentiert Vilar seine zielgerichtete Geberlaune, „aber ich helfe den Menschen, Spaß an der Oper zu haben. Ich weiß, wie man Money macht, hoffe, Gutes zu tun und an meiner Legende zu basteln.“ Dabei ist dieser großzügigste Mäzen der heutigen Musikszene längst Legende – ein Robin Hood aller Toscas und Traviatas. Allein letztes Jahr hat er der New Yorker Met 25 Millionen Dollar überwiesen, zusätzlich für vier Neuproduktionen je 2 Millionen zugesagt und für künftige Projekte noch einmal 20 Millionen in Aussicht gestellt. 2,5 Millionen Dollar stiftete er der New Yorker Carnegie Hall für die Restaurierung ihrer Fassade an der Seventh Avenue, wo ein neues Theater eingerichtet werden S. HARTZ / AGENTUR FOCUS per ist Opium fürs Volk der Melomanen. Belcanto benebelt herrlich die Sinne, schon ein einziges hohes C stimmt high, jedes satte Crescendo sorgt für den Kick zur seligen Dröhnung. Oper singt die Leute um den Verstand, und genau deshalb gehen die Leute hin. Mit „Aida“ im Ohr heben sie ab, Mimis eiskaltes Händchen treibt ihren Puls, die chromatischen Räusche von Wagners „Tristan“ entzücken gar ihre Lenden. Und hängen sie erst mal am Stoff, dann knien sie ein Leben lang vor ihrer heiligen Maria mit dem Nachnamen Callas. Kurzum, der gemeine Opernnarr ist selten ganz bei Trost. Doch so einer wie dieser Amerikaner ist selbst unter all den schöngeistigen Schwärmern und Spinnern ein Radikaler, ein schrulliger, manischer Extremist, der bei der ersten Koloratur den klaren Kopf verliert: „Wenn ich eine tolle Stimme höre, bin ich weg“, diagnostiziert Alberto Vilar, 59, seine Sucht, „ein paar schöne Töne, und ich raste aus.“ Von Oper kann dieser Mister den Hals nicht voll kriegen. Jedes Jahr sitzt er, im Schnitt, rund hundert Abende in Musiktheatern und Konzertsälen. 1998 hat er sechsmal dieselbe Inszenierung von Puccinis „Turandot“ ge- Metropolitan Opera in New York: „Ich mag nun mal Hülle und Fülle“ 286 d e r s p i e g e l Festspielhaus Baden-Baden: Ein riesiger Tempel 4 7 / 1 9 9 9 tall und viel Glas der greisen Königinmutter gewidmet. Queen Mum, ganz in Grellblau und trotz Schnupfens guter Dinge, gab ihm denn auch die Ehre, der Weihe der Halle persönlich beizuwohnen, „und sie hat sich bei mir sehr herzlich bedankt“, sagt Vilar stolz. „Dass jemand danke sagt, ist leider keine Selbstverständlichkeit.“ London jedenfalls dankt ihm. Schon ist der Name des Gönners unübersehbar in den Stein der neuen Opernhausfassade gemeißelt: Die Floral Hall heißt fortan Vilar Floral Hall. Der Samariter steht damit unter Denkmalschutz. Nun, im neuen Millennium, zieht es den globalen Gönner auch nach Deutschland. Hier, in Bachs und Beethovens Germany, hat er seinerzeit zwei Jahre bei der Army gedient und den Standort genutzt, um seine klassische Plattensammlung aufzustocken und eine Stereoanlage von Grundig zu erstehen, damals der letzte Schrei der Technik. Jetzt kommt er als gemachter Mann zurück, und nun halten auch die Deutschen die Hände auf: Haste nich’ mal ’ne Million? Natürlich hat er. Aber so ein ausgebuffter Geldvermehrer investiert – Oper hin, Oper her – nicht ins Blaue, weder in Bayreuth noch in Baden-Baden, die neuerdings ganz oben in seiner Gunst stehen. „Das alles“, sagt der Nadelstreifen in Sarastros gedämpftem Tonfall, „will und muss wohl überlegt sein.“ Auf dem Grünen Hügel hat er schon vor Jahren Feuer gefangen. „Of course“ mag er Wagners Opern, der Komponistenenkel Wolfgang mache als Festspielchef „a very good job“, der Bayreuther Chor sei „the best worldwide“, die Akustik „a dream“. Klar, wenn an diesem mythischen Ort die Kasse nicht mehr stimme, weil sich bei- auf höchst wackligem Grund REX FEATURES T. BARTH / ZEITENSPIEGEL S. VALESKA wird auch deren geplanter Prokofjew-Oper „Krieg und Frieden“ kräftig unter die Arme greifen. Für den neuen „Fidelio“ im Sommer 2000 kann auch das britische NobelFestival Glyndebourne mit einer Millionen-Spritze aus Vilars Kasse rechnen, und eben erst hat dieser Wohltäter die Starsopranistin Jessye Norman für einen Abend an seine frühere Universität in Pennsylvania engagiert: „Macht locker 100 000 Dollar“, sagt er, ein teurer Spaß. Letzten Dienstag hatte Vilar sogar einen königlichen Auftritt. Kurz bevor nächsten Monat Londons völlig renovierte Covent Garden Opera wieder eröffnet wird, durfte er in kleinstem, feinstem Kreise schon mal jene Floral Hall betreten, deren viktoriaOpernmäzen Vilar: „Keine Katze, keine Frau, kein Hund“ nische Kuppel sich einst soll. Gleichzeitig sicherte er dem Institut über einem Blumenmarkt wölbte und für die nächsten Jahre die sündhaft teuren deren maßstabgetreues Remake nun das Gastspiele der Wiener Philharmoniker zu. neue Foyer überdacht, wo die Ladys and Sechs Millionen Dollar will er in den Gentlemen auf ihrem Weg zu Augennächsten fünf Jahren für die Salzburger schmaus und Ohrenweide demnächst lustFestspiele lockermachen. Dem Mariinski- wandeln werden. Rund 30 Millionen Mark hat Vilar für Theater im chronisch klammen St. Petersburg finanzierte er einen „Lohengrin“ und Covent Gardens Comeback bereits ausgegeben oder noch in petto. Der Wiederaufbau der Floral Hall ist vor allem durch seine milden Gaben finanziert worden, und er hat diesen prachtvollen Dom aus filigranem Me- Covent Garden Opera in London mit Vilar Floral Hall: Jetten nach Noten d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 287 spielsweise die öffentliche Hand zurückziehe, dann werde er helfen; Ehrensache. Diese Woche hat er daheim in New York zur Wagner-Party geladen. Wolfgang und Gudrun, das festspielleitende hohe Paar, sind Ehrengäste, 85 handverlesene Herrschaften der Wagner-Society kommen zum Gipfel. Nicht ausgeschlossen, dass der Gastgeber schon bald dem legendären Bayernkönig Ludwig II. nacheifert und sein Füllhorn auch über dem Festspielhaus öffnet. Seine Schecks sind bekanntlich nicht von Pappe, und dem amtierenden Festspielchef, dem viele gern längst den Thron vor die Tür gesetzt hätten, käme so ein Freak in Spendierhose jetzt gerade recht. Zögerlicher äußert sich Vilar zu einem Engagement in Baden-Baden, wo die Geldnot ungleich größer ist: Schon ein paar Mal stand dort der riesig dimensionierte Festspieltempel vor dem Kollaps und dem Konkurs, und immer noch steht er auf wackligem Grund. Das Haus sei zu groß, die Stadt zu klein und zu arm, sagt Vilar. Aber natürlich reizt ihn, der längst den Durchmarsch von der Wall Street nach Walhall geschafft hat, der spekulative Kitzel um eine fragwürdige Investition. Immerhin wird auch am Rand des Schwarzwalds Oper gespielt, da spitzt er wie immer die Ohren. Schon ein paar Mal war Vilar vor Ort der Helfer aus der Bredouille. Das Baden-Badener Gastspiel des Met-Orchesters unter James Levine hat er „mit vielen Millionen Dollar“ ermöglicht, und als eine Tour des St. Petersburger Mariinski-Theaters an die Oos auf der Kippe stand, übernahm er einfach die kompletten Kosten, und die Zuschauer durften gratis ins Haus. Aber auf ein längerfristiges Konzept und damit eine feste Bindung will er sich noch nicht festlegen. Kann sein, dass er mit drei, vier anderen, vermutlich deutschen Investoren gemeinsame Sache macht; über einen Gesellschaftervertrag ist schon verhandelt worden, auch über Vilars mögliche Rolle als Primus; abwarten. Helfen, diesen Koloss wieder flottzumachen, will er auf jeden Fall. Aber Peanuts, das weiß er, reichen da nicht: „Das kostet viel, viel Geld.“ Wie kommt eigentlich ein amerikanischer Geschäftsmann dazu, Millionen aus seiner Privatschatulle in Opernbühnen und Orchestergräben zu stecken, bis weit ins badische Hinterland? Ist es ein smarter Spleen? Oder philanthropisches Sendungsbewusstsein, das in den Augen kritischer Beobachter bei Vilar längst zu reaktionärem Kulturgehabe wurde? Eher das Resultat eines – letztlich segensreichen – Erziehungsfehlers. Für Vilar, den Mann aus New Jersey, der als Sohn eines kubanischen Zuckerbarons geboren wurde, ist der manische Hang zur klassisch-europäischen Musik einfach die skurrile Folge väterlichen Liebesentzugs. d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Der Herr Papa hatte auf Castros Kuba sein ganzes Vermögen verloren. Aber er war fest davon überzeugt, dass der linke Vogel auf der Insel schon bald umgebracht werde und sich die Zeitläufte dann wieder zum Besseren, zu vollen Kassen, wenden würden. Für diesen Fall sollte Alberto vorbereitet sein und folglich Banker werden. Doch der Junge hatte, als er zehn war, anderes vor und den Kopf voll Klassik: Geige wollte er lernen oder Dirigent werden. In jeder freien Minute hörte er Platten mit Klaviersonaten, Opernarien, Sinfonien. Er sei ein „Langhaar“, schalt ihn der Vater, dieser Latino-Macho wie aus dem bösen Bilderbuch, und bestand auf einer Laufbahn Richtung Wall Street. Alberto parierte – Big Business vor Augen, große Oper im Sinn, viel Wut im Bauch. Sein Groll über das väterliche Diktat sitzt tief, bis heute, und aus dem Groll wurde eine Ob- Salzburger Busoni-Inszenierung „Doktor Faust“: „Im wahrsten Sinne glücklich“ session: Er, Alberto Vilar, möchVersteht sich, dass so ein steinreicher das viele Geld geblieben?“ Und auch dass te als heiligster aller Mäzene in die Musikgeschichte eingehen. Könnte hinhauen, Kassenwart auch gern sieht, wenn die Oper die Met ihre Mäzene nicht hinreichend würklotzt: „Ich mag nun mal Hülle und Fülle.“ digt, macht ihn gelegentlich zornig.Wenn er die Mittel dafür sind da. Nach High School und College verding- Franco Zeffirelli, Italiens Grossist für Büh- das Programmheft aufschlage, lese er erst te sich Vilar zunächst bei der Citibank, be- nenpomp und Garderobenplunder, ist bis einmal, wer das Libretto geschrieben habe. gann 1967 als Portfolio-Manager und Ana- heute sein Lieblingsregisseur, von dem „Und was ist mit dem Kerl, der den Scheck unterschrieben hat?“ lyst und gründete 1980 die Firma Amerin- kann er nicht genug kriegen. Im zweiten Akt von Zeffirellis steinalter Und doch ist Vilar kein Berserker, kein do Investment Advisors. Mit ihr setzte er in der Morgenröte der Hightech-Ära auf die „Bohème“ an der Met tummeln sich hun- Vielfraß des Musiktheaters, der Bullshit Zukunftsmärkte des Internet, kaufte sich derte von Mitwirkenden im Guckkasten, schreit, wenn keiner aast. Bei allem Hang bei Microsoft, Compaq, Intel, Oracle, Cis- ein Esel ist darunter und auch ein Pferd da- zur großen Kiste sieht er die Oper nicht mit co und Yahoo ein, gewann einige der größ- bei: „Das ist richtige Oper“, sagt Vilar dann Scheuklappen und hat durchaus auch ein Ohr für Nuancen, für leise Klänge und Zwiten Pensionsfonds in den USA und England begeistert, „so ist die Met! Great!“ Kein Wunder auch, dass er empfindlich schentöne. als Kunden und verwaltet heute, als Die neue Salzburger Busoni-InszenieAmerindo-Präsident mit Zwölf-Stunden- reagiert, wenn sich Widerspruch regt. Tag, ein Vermögen von über acht Milliar- Nachdem die „New York Times“ Zeffirel- rung von „Doktor Faust“, die der nicht gelis letzte „Traviata“ verrissen hatte, emp- rade traditionshörige Peter Mussbach auf den Mark. Tendenz: steigend. fahl er deren Kritiker, „bes- die Bühne gebracht hat, findet er „fantasser angeln zu gehen“, der tisch, einfach großartig“. Die neutönerisch Typ verstehe „nichts von gestimmte Vortragsreihe des Pianisten seinem Job.“ Das Publikum Maurizio Pollini lobt er als „eines der auf– „und das ist nicht blöd“ – regendsten Erlebnisse meines Lebens“. habe getobt und er seine Und wenn er an einem Sonntagmorgen zwei Millionen Sponsoren- in Salzburgs Großem Festspielhaus sitzt Dollar goldrichtig angelegt. und anderthalb Stunden „nonstop“ BruckNein, in Geschmacksfra- ner oder Mahler hört, dann hebt dieser gen ist Mister Vilar nicht ge- coole Börsenhai regelrecht ab, „dann bin rade pingelig. Noch immer ich im wahrsten Sinne glücklich“. rühmt er seine Weitsicht, Bei Wotan, dieser glückliche Alberto vor Jahren zu Bob Wilsons Vilar hat sich die Oper verdient und um die „Lohengrin“ keinen mü- Oper verdient gemacht. Er ist der leibhafden Cent beigesteuert zu tige Beweis dafür, dass Dow Jones und haben: „Nichts als Kno- „Don Giovanni“ durchaus zum Zweckchen“ habe es auf der Büh- bündnis taugen. Bayreuth und Badenne gegeben: „Wo, ver- Baden könnten daraus schon bald Kapital dammt noch mal, ist nur schlagen, ganz Deutschland sollte daraus seine Lehren ziehen: Opernnarren sind zwar Narren, aber – demnächst wohl in al* Mit Opernsänger Thomas Hamplen Theatern – unverzichtbar. ™ son, Begleiterinnen. Salzburger Partygast Vilar (r.)*: Räusche in den Lenden d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 289 FOTOS: F. NEUMAYR Kultur Kultur abgefilmter Wirklichkeit ist gar nicht so leicht nachzuahmen. Das „Blair Witch Project“ aber verrät sich nicht. Es bleibt in jeder Einstellung glaubhaft. Die im Wald herumirrenden Darsteller haben die richtigen DurchschnittsgesichDie Schauerfabel „Blair Witch ter und tragen die richtige Kleidung, sie Project“ war der Überraschungshit pflegen den richtigen Sarkasmus und spredes amerikanischen Kinojahres – chen unverfälschten Jugendslang – einob zu Recht, lässt sich nun auch in schließlich der rund 150 „fucks“, mit denen sie ihre Sätze garnieren. Insofern kann Deutschland überprüfen. sich jeder jugendliche Zuschauer an ihre Stelle alpträus war eine Schnapsidee, men. Heather, Joshua und Mike einer dieser Late-Nightsind Statthalter der amerikaniGedankenblitze, die einem schen Jugend mit ihrer Sorgeinfallen, wenn man ziemlich losigkeit, ihrer Selbstgewissheit jung ist, zu viel Zeit, zu wenig und dem festen Glauben, dass Geld und ziemlich was getrunken nichts wirklich schief gehen hat. Einer fragte: Was hat uns zukann. letzt wirklich Angst eingejagt? Aber es geht natürlich schief. Und dann haben alle gegrübelt Die drei merken nach einiger und irgendwelche halb vergesZeit, dass sie im Kreis laufen; senen Alien-Filme aus ihrem sie verlieren ihre Landkarte; sie Gedächtnis hervorgekramt, derfinden sonderbare Steinkreise entwegen sie sich als Kinder um ihr Zelt; in den Bäumen schlotternd im Schrank verkrobaumeln rätselhafte, aus Zweichen hatten. gen gebastelte Fetische. Sie Am Ende sagte einer: Genau streiten um die Anführerschaft, so einen Film sollten wir dreschreien sich an, verlieren die hen. Aus 999 von 1000 solcher Nerven. Ihre Selbstsicherheit Ideen wird nie etwas, höchstens Darstellerin Heather Donahue schwindet so schnell wie ihr ein schwerer Kater am Morgen Proviant. danach. Aber ein paar besesseDie Zivilisation fällt von ihne Jungs von einer Filmhochnen ab; darunter lauern atavisschule in Florida widmeten tische Angst und Aberglauben. diesem Gedankenblitz einige Aus den vernunftgläubigen BilJahre ihres Lebens. Heute ist derjägern des ausgehenden 20. die Schnapsidee wohl der proJahrhunderts werden Gejagte fitabelste Film aller Zeiten: einer Schimäre. „Blair Witch Project“. HerstelTaumelnd, widerwillig und lungskosten 35 000 Dollar, USfassungslos steigen sie in einen Kassensturz 170 Millionen Schrecken hinab, der ihr WeltDollar. bild auseinander reißt. Wer Hollywood war baff in dieHeather, Joshua und Mike als sem Sommer, und die Medien Statthalter seines eigenen Erleerklärten den Leinwand-David, bens akzeptiert, wer glaubt, der den arroganten Goliath in dass es genauso gut ihn hätte der Gunst der Zuschauer nietreffen können, den liefert das dergerungen hatte, zum Helden „Blair Witch Project“ der Frage einer neuen filmischen Ära Darsteller Joshua Leonard, Michael Williams nach dem Unerklärlichen in der (SPIEGEL 33/1999). Die Zau- Szenenfotos aus „Blair Witch Project“: Gejagte einer Schimäre Welt aus. berformel des „Blair Witch ProDieses innere Grauen trägt den Film, ject“, so lautete der Konsens, steckte in Die Regisseure Daniel Myrick, 35, und seiner PR-Kampagne. Eduardo Sanchez, 30, hatten sich für die und darum muss er es nicht abbilden. Ob Zugegeben: Zwischen Dreh und Film- amateurhaften, irritierend unruhigen Bilder tatsächlich eine Hexe hinter den ketzeristart lag ein cleverer, gut einjähriger Wer- im Anti-Hollywood-Stil eine einleuchtende schen Jungfilmern her ist oder nicht, bleibt befeldzug via Internet, der den Film so Erklärung ausgedacht: Angeblich sehen wir offen. Es fließt kein Blut, es geschieht nicht geschickt seiner Zielgruppe – der ameri- einen Zusammenschnitt von authentischen viel Furchterregendes, sekundenlang bleibt kanischen Jugend zwischen 16 und 24 – als Aufnahmen, die drei Filmstudenten namens die Leinwand gar dunkel, während unGeheimtipp verkaufte, dass es gar nicht Heather, Joshua und Mike während einer heimliche Geräusche durch die Nacht spunach Hype aussah. Und dazwischen lagen mehrtägigen Recherche in den Wäldern von ken. Aber die Erwartung des unabwendauch rund 15 Millionen Dollar, die der Ver- Maryland gedreht haben. Die drei waren baren Schicksals klebt zäh und schwarz leih letztendlich in den Feinschliff des An- einer alten Hexenlegende auf der Spur und wie Teer an der Geschichte. Was hat uns zuletzt wirklich Angst einfängerwerks und in die Publicity steckte. verschwanden – wie vom Erdboden verAber kein Film der Welt schafft so riesi- schluckt. Nur ihre Ausrüstung tauchte ein gejagt? Die Macher des „Blair Witch Project“ haben nicht nur die richtige Frage gege Zuschauerzahlen, wenn er nicht selbst Jahr danach wieder auf. einen unwiderstehlichen Reiz ausstrahlt. Die meisten gefälschten Dokumentarfil- stellt. Sie haben auch die richtige Antwort Irgendetwas muss dran sein an der rätsel- me, „mockumentaries“ genannt, verraten gefunden: Es ist der Gedanke an die eigehaften Hexe. sich irgendwann, denn die Kunstlosigkeit ne Sterblichkeit. Susanne Weingarten KINO Reine Hexerei Der Spektakelwert kann es nicht sein, denn den hat die Schauermär nicht. Keine Special Effects, keine Stars. Dazu reichte das Geld nicht, logisch. Das langte nicht mal für eine Profi-Kamera oder einen Kameramann: „Blair Witch Project“ ist von seinen Darstellern (die 400 Dollar pro Woche bekamen und im Film ihre eigenen Namen tragen) selbst auf einem High-8-Camcorder und einer 16-Millimeter-Kamera gedreht worden. FOTOS: ARTHAUS E 290 d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Kultur S P I E G E L - G E S P R ÄC H „Da leben lauter nette Leute“ Filmemacher David Lynch über „The Straight Story“, die idyllische mittelwestamerikanische Provinz und Überlebenskämpfe in Hollywood Eine einfache Geschichte, eine gerade Geschichte, eine wahre Geschichte: Alvin Straight, 73, ein knorriger Sonderling aus dem Dorf Laurens in Iowa, will seinen Bruder im Dorf Mount Zion in Wisconsin besuchen. Weil Alvin keinen Führerschein hat, doch seine Unabhängigkeit keinesfalls preisgeben will, unternimmt er die 400-Kilometer-Reise ostwärts rittlings auf einem Motor-Rasenmäher mit einer Spitzengeschwindigkeit von knapp zehn Stundenkilometern. Das war 1994. Der Regisseur David Lynch, 53, hat nun Straights abenteuerliche Fahrt als Spielfilm rekonstruiert: Aus dem kuriosen Road Movie wird eine bewegende Lebensreise. SPIEGEL: Mr. Lynch, wahrscheinlich hören Sie die ganze Zeit: „The Straight Story“, das ist nicht der David-Lynch-Film, den man von Ihnen erwartet hätte. Geht es Ihnen vielleicht auch selber so? Lynch: In der Tat, und ich weiß immer noch nicht genau, was ich dazu sagen soll. Man muss sich rückhaltlos in eine Geschichte verlieben, sonst wird nichts daraus, und diesmal war es diese kleine Geschichte, die so große Emotionen auslöst. Es ist wahr, ich habe noch nie in einem Film so viel daran gesetzt, alle Zuneigung auf eine Figur zu bündeln. SPIEGEL: Was Sie als Filmemacher berühmt gemacht hat, war ein geradezu visionärer G. SMITH / FSP Lynch-Film „The Straight Story“: Reise auf dem Regisseur Lynch: „Der Himmel lächelte auf uns herab“ 292 d e r Blick für den unterschwelligen Horror, für das Abgründige und Zerstörerische unter der harmlosen Oberfläche des Alltags, besonders in einer ländlichen oder dörflichen Szenerie. Ein Film wie „Blue Velvet“ oder eine Fernsehserie wie „Twin Peaks“, die Sie konzipiert haben: Das waren geradezu Lektionen in Misstrauen gegenüber dem Schein der Harmlosigkeit und der scheinheiligen Harmonie. Lynch: Soll ich widersprechen? SPIEGEL: Und nun überraschen Sie uns mit einem Film, der ganz ungebrochenes Vertrauen in diese Harmonie ausstrahlt. Das ist wie ein Widerruf. Es gibt in dieser ganzen „Straight Story“ keinen Bösewicht. Überrascht das nicht auch Sie selbst? Und ist es eine Wendung von Dauer? Lynch: Was soll ich sagen? Ich glaube, ich weiß es nicht. Die wesentlichen Entscheidungen – zum Beispiel, was ich als Nächstes machen werde – geschehen ganz irrational, ganz intuitiv. Ich weiß wirklich nicht, wovon mein nächster Film handeln wird, ich kann es im Grunde erst wissen, wenn ich mich so heftig in eine Geschichte verliebe, dass ich sie einfach machen muss. Vielleicht wird es ganz finster sein. SPIEGEL: Sie empfinden die Güte, die Milde von „The Straight Story“ also gar nicht als etwas Besonderes? Lynch: Auch im Leben von Alvin Straight gab es ganz dunkle, ganz schreckliche Zeiten, und der Film verschweigt sie nicht, seine alptraumhaften Kriegserlebnisse etwa oder das Schicksal seiner Tochter. Aber Das Gespräch führte Redakteur Urs Jenny. s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 SENATOR was ich erzähle, ist eine Geschichte, die im Wesentlichen in Wisconsin spielt, und Sie können sich einfach nicht vorstellen, wie gutartig man dort ist. Da leben lauter nette Leute. Ich konnte es selber nicht fassen, vor acht Jahren, als ich mit meiner Freundin Mary Sweeney zum ersten Mal in den Ort kam, wo sie herstammt; ich war geradezu alarmiert von dieser Nettigkeit und dachte, man mache sich über mich lustig. Aber diese Leute sind wirklich so. Niemand will Alvin Straight böse, und um seiner Geschichte gerecht zu werden, muss man ihr auch darin treu bleiben. Natürlich geschehen in Wisconsin genauso grauenhafte Dinge wie überall auf der Welt, aber nicht in dieser Geschichte. Keine Geschichte fasst die ganze Wahrheit über einen Ort oder eine Person. SPIEGEL: Wie sind Sie an diesen Stoff aus dem wirklichen Leben geraten? Hat Ihre Lebensgefährtin Mary Sweeney Sie darauf gebracht, die seit langem Ihre Cutterin ist und nun zum ersten Mal, zusammen mit Rasenmäher John Roach, auch Ihre Drehbuchautorin? Lynch: Natürlich war es Mary. Sie stammt aus Wisconsin, aus der Gegend, die Alvin Straight durchquerte; sie war von seiner Geschichte schon fasziniert, als sie vor fünf Jahren davon hörte; sie sammelte alle Zeitungsartikel über ihn und sah einen Filmstoff darin. Es hat aber gedauert, bis sie die Filmrechte dafür bekam, und dann hat sie sich an die Recherchen-Arbeit gemacht, zusammen mit John Roach, mit dem sie befreundet ist, seit sie zusammen in die Vorschule kamen. Ich habe mich herausgehalten, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass das ein Stoff für mich wäre. Als ich aber das Drehbuch gelesen hatte, sah die Sache ganz anders aus. Ich war einfach hingerissen. SPIEGEL: Entsprechen denn nur die äußeren Fakten seiner Reise der Realität oder auch, was man über seinen Lebenslauf und einzelne Episoden der Reise erfährt? Lynch: Ich würde sagen, halb und halb. Das sind sicher alles wahre Geschichten, die man sich in der Gegend erzählt, aber nicht alle hat Alvin Straight selbst erlebt. SPIEGEL: Manche Details haben ja doch einen auffällig absurd-komischen DavidLynch-Touch. Lynch: Das war keine Absicht. Und wie zum Beispiel Alvin über einen Hügel auf einen Ort zugerollt kommt und ein brennendes Haus vor sich sieht, weil dort gerade eine Feuerwehrübung stattfindet – das ist absolut authentisch. Wir haben uns wirklich Mühe gegeben, Alvins Reise von Station zu Station exakt zu rekonstruieren, von Laurens in Iowa nach Mount Zion in Wisconsin. Es war logisch und notwendig, d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 * Jocelyn Montgomery with David Lynch: „Lux Vivens“. Mammoth Records, New York. RÖHNERT / KEYSTONE der Route und der Chronologie zu folgen, weil ja Alvin im Lauf der Zeit ein Bart wächst, und wir haben für die Film-Reise nicht viel länger als er selbst, vier Jahre zuvor, gebraucht, gute sechs Wochen, vom Spätsommer in den Herbst hinein. SPIEGEL: Ist Ihnen unterwegs, wenn Probleme auftauchten, nicht angst und bange geworden, mit Ihrem einzigen Hauptdarsteller Richard Farnsworth knapp unter 80 und dem Kameramann Freddie Francis ein bisschen über 80? Lynch: Der Himmel lächelte auf uns herab. SPIEGEL: Hat Ihnen niemand, bevor die Sache konkret wurde, nahe gelegt, für die Hauptrolle einen Star zu gewinnen? Lynch: Ich habe einen Star! Oder könnten Sie sich einen Besseren vorstellen? SPIEGEL: Niemand, der den Film gesehen hat, wird sich einen anderen vorstellen können. Er ist großartig. Aber wäre der Name einer wirklich berühmten Hollywood-Legende für dieses ausgefallene Projekt nicht eine Attraktion gewesen? Lynch: Wir haben viele Namen erwogen, auch wirklich berühmte, aber am Ende alles Nachdenkens war ich mir so sicher, dass ich nicht einmal Probeaufnahmen für nötig hielt. Richard Farnsworth, der mehr als ein halbes Hollywood-Leben als Stuntman zu Pferde verbracht hat, sagt noch heute , dass er gar kein Schauspieler sei. Aber ich finde, ein Schauspieler ist jemand, der eine Person ganz von innen heraus glaubhaft machen kann, und diese Gabe hat Richard in ganz ungewöhnlichem Maß. SPIEGEL: Sie müssen im letzten Jahr in einer besonders versöhnlichen Stimmung gewesen sein: Sie haben mit der jungen Sängerin Jocelyn Montgomery „Lux Vivens“ produziert, eine CD mit Liedern der heiligen Hildegard von Bingen, die in so himmlischen Harmonien schwelgt, dass man sie nur als Weihnachtsgeschenk empfehlen kann*. Wie kam es dazu? Lynch: Jocelyn ist eine wunderbare Sängerin, und sie hat mich mit ihrem Enthusias- Isabella Rossellini in „Blue Velvet“ (1986): Blick für den unterschwelligen Horror des Alltags mus für diese alte Musik einfach überwältigt. Ich habe allerdings nicht wie sie eine Wallfahrt nach Bingen gemacht. Jocelyn hatte damals gerade meinen Freund Monty Montgomery geheiratet, den Produzenten meines Films „Wild at Heart“, und ich hatte mir endlich ein eigenes Aufnahmestudio in einem Anbau hinter meinem Haus eingerichtet, und dort haben wir als erste Produktion „Lux Vivens“ gemacht. SPIEGEL: Von Ihnen sind also die Arrangements, aber Sie spielen doch auch verschiedene Saiten- und Schlaginstrumente auf der Platte? Lynch: Das Wort „Arrangement“ klingt zu wichtig. Was ich entwickelt habe, könnte man eine „soundscape“ nennen, eine Klanglandschaft, über die Jocelyns Stimme sich aufschwingt. SPIEGEL: Früher, so hört man, sollen Sie ein guter Trompeter gewesen sein. Lynch: Nun ja. Als ich Chet Baker zum ersten Mal hörte, habe ich kapituliert. SPIEGEL: Sie sagen, Ihre Wahl von Filmstoffen und Ihr künstlerisches Vorgehen seien ganz intuitiv. Aber Sie gelten doch als ein höchst methodischer, rationaler, präzis organisierter Film-Arbeiter. Lynch: Beides ist notwendig, glaube ich. Man kann nicht nur wild herumspinnen und verrückt sein, sonst findet man ja seine Pinsel und Farbtöpfe gar nicht und bringt nichts zu Stande. Das Methodische und Organisierte ist die Voraussetzung, das Fundament, auf dem man sich dann seinen Kultur kreativen Impulsen überlassen und so verrückt spielen kann, wie man nur will. SPIEGEL: Das ist die Antwort eines Malers, nicht eines Filmemachers. Lynch: Ich sehe da keinen Unterschied. SPIEGEL: Aber Sie müssen doch wissen, dass 95 Prozent aller Regisseure in Hollywood mit Vorliebe darüber klagen, dass sie sich mit ihren fabelhaften Ideen nicht durchsetzen können und dauernd Kompromisse eingehen müssen. Sie etwa nicht? Lynch: Nein. Jedenfalls nicht mehr. Mit dem Film „Dune“ („Der Wüstenplanet“) bin ich, weil ich noch jung und ahnungslos war, bedauerliche Kompromisse eingegangen und dafür bestraft worden, aber das ist bald 20 Jahre her. SPIEGEL: Aber Sie mussten auf manches Wunschprojekt verzichten, weil es sich nicht finanzieren ließ? Lynch: Eigentlich nicht. Ich hatte immer wieder das Glück, dass eine Sache, wenn und was man mir anbietet, haben andere schon abgelehnt. Ich rechne so wenig mit solchen Offerten, dass ich nicht einmal mehr einen Agenten habe. SPIEGEL: Dennoch haben Sie sich Anfang dieses Jahres nach langem Zögern noch einmal auf eine höchst kommerzielle Unternehmung eingelassen. Sie haben eine Fernsehserie konzipiert, mit einer jungen Frau als Hauptfigur, die bei einem Autounfall ihr Gedächtnis verloren hat, und Sie haben mit offenbar beträchtlichem Aufwand den Pilotfilm für diese Serie „Mulholland Drive“ gedreht. Der Ausgang der Sache soll katastrophal gewesen sein. Lynch: Der Anfang immerhin war überhaupt nicht katastrophal, und die Dreharbeiten haben großen Spaß gemacht. Ich war überzeugt, dieser Pilotfilm müsse zweistündig sein, und habe ihn so angelegt, habe mich dann aber nötigen lassen, SIPA PRESS CINETEXT agenturen, deren Interesse bei solchen Projekten das Entscheidendste ist. SPIEGEL: Was wird nun daraus? Lynch: Die Serienidee ist natürlich erledigt. Aber bei einem so teuren Pilotfilm, dessen Handlung ja offen bleibt, ist man immer verpflichtet, als Krisenreserve ein behelfsmäßiges Ende zu drehen. So auch ich. Mit diesem Ende wird der Sender ABC, der ihn finanziert hat, „Mulholland Drive“ irgendwann als Fernsehfilm ins Programm nehmen, und der Disney-Konzern, dem die Rechte gehören, wird ihn wohl auch im Ausland zu vermarkten versuchen. So sind Überlebenskämpfe in Hollywood. Aber natürlich trauere ich einer verlorenen Chance nach. SPIEGEL: Haben Sie eigentlich eine Schublade mit unrealisierten heimlichen Wunschprojekten? Lynch: Es gibt solche Projekte, aber jedes muss auf den richtigen Augenblick warten. Wann er gekommen ist, lässt sich oft schwer sagen. Darum halte ich auch immer nach neuem Stoff Ausschau. SPIEGEL: In einem Interviewbuch* steht, Sie würden gern aus Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“ einen Film machen. Gibt es ein Drehbuch dazu? Lynch: Es gibt ein Drehbuch. Ich liebe diese Erzählung, die so wunderbar einfach Lynch-Film „Wild at Heart“ (1990), TV-Serie „Twin Peaks“ (1990): „Man kann so verrückt spielen, wie man nur will“ und so vieldeutig ist, komisch, absurd, verich sie mit aller Kraft wollte, auch wirklich ihn auf 88 Minuten zusammenzustutzen, zweifelt. Aber ich weiß nicht, ob dafür jetzt zu Stande kam. Aber mir ist bewusst, das und das war ein wirkliches Gemetzel. die richtige Stimmung wäre. Man muss das ist im Film-Business ein sehr seltenes Diese Fassung hat den Geldgebern nicht spüren, und diese Ungewissheit beunrugefallen, dem Testpublikum nicht und am higt mich. Stellen Sie sich vor, Fellini würGlück. SPIEGEL: Kommt es vor, dass große Studios wenigsten den Leuten von den Werbe- de heute „Achteinhalb“ herausbringen – vielleicht würde das kein Mensch sehen Ihnen Projekte anbieten? Lynch: Es kommt vor. Aber ich glaube, ich * David Lynch: „Lynch über Lynch“. Herausgegeben wollen. Es ist eine andere Welt. von Chris Rodley. Aus dem Amerikanischen von Mastehe bei denen nicht auf der so genannten rion Kagerer. Verlag der Autoren, Frankfurt am Main; 356 SPIEGEL: Mr. Lynch, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. A-Liste, das heißt, ich bin nicht erste Wahl, Seiten; 39 Mark. Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite H. TAPPE / DER SPIEGEL / XXP Kultur Schriftsteller Johnson (1964): „Todesstrafe, abzuleisten durch Ableben“ AU T O R E N Liebe auf den zweiten Blick Der Briefwechsel zwischen Siegfried Unseld und Uwe Johnson erzählt ein wahres Märchen aus alter Zeit – von der Fürsorge und Leidenschaft eines Verlegers für seinen Herzens-Autor. 298 R. DREXEL / BILDERBERG E inen Herrn Holtzbrinck soll es ja geben in Stuttgart, aber wer ist Herr Bertelsmann? Kennt jemand den Herrn S. Fischer persönlich, war schon mal einer mit Frau Rowohlt essen oder mit Frl. Hanser in der Tanzstunde? Die deutschen Verlage haben in den letzten Jahren die Welt erobert bis nach Kolumbien und Hongkong, aber Verleger gibt es nicht mehr. Im Konzern weiß die Linke viel zu genau, was die Rechte tut, ein brummendes ProfitCenter hilft über die schlimmsten Defizite in der Literatur hinweg. In diesem Herbst ist ein Buch erschienen, das von einer unendlich fernen, einer märchenhaften Vergangenheit erzählt. Es war einmal und wird nie wieder so sein: ein Verleger, der Bücher liebt und noch mehr seine Autoren. Der Briefwechsel zwischen Siegfried Unseld und Uwe Johnson müsste Verleger Unseld „Wir müssen über Deine Finanzen reden“ d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 den heutigen Marktstrategen dorthin gelegt werden, wo früher einmal das Herz war – aber können Manager im Print-Bereich überhaupt lesen*? Eine winzige, dabei alles entscheidende Fälschung verband die beiden Männerfreunde: Unseld, Peter Suhrkamps designierter Nachfolger, hatte Johnsons erstes Manuskript „Ingrid Babendererde“ 1957 abgelehnt. Das zweite, „Mutmassungen über Jakob“, holte er aus Suhrkamps Sterbezimmer und Johnson in den Verlag, den jetzt Unseld leitete. Auf Wunsch Johnsons wird der Vertrag zurückdatiert auf Anfang März 1959, als Suhrkamp noch am Leben war. Sie fangen gleichzeitig an: der junge, knapp 25-jährige Autor, der mit Erscheinen seines ersten Buches aus der DDR nach West-Berlin umzieht; und Unseld, zehn Jahre älter, Erbe des legendären Verlegers von Brecht und Benjamin, brennend vor Ehrgeiz, endlich etwas zu „bewegen“. Den Tag, an dem Unseld den Verlag übernimmt, den 1. April, werden sie immer wieder begehen, als wär’s der Hochzeitstag. Es war Liebe erst auf den zweiten Blick, aber dafür umso inniger: Unseld selber chauffiert seinen Autor nach Schloss Elmau zur Tagung der Gruppe 47 und schiebt ihn in den westdeutschen Literaturbetrieb hinein. Er macht und tut und werbetrommelt – und setzt den Anfänger sofort durch. Mit Hans Magnus Enzensberger und Martin Walser gehört Uwe Johnson zum engsten Beraterkreis des Verlags, wird mit Gutachten betraut, empfiehlt Bücher zur Übersetzung, soll eine mehrsprachige europäische Literaturzeitschrift herausgeben. Damit sein Autor eine bessere Wohnung bekommt, schickt Unseld ein Leumundszeugnis an das Bezirksamt Berlin-Schöneberg, verschafft ihm ein Stipendium in die römische Villa Massimo, sorgt für Einladungen nach Paris und nach Harvard und setzt ihn auf eine monatliche Rente von anfangs 600 Mark. Der Einsatz lohnt sich auch finanziell, die „Mutmassungen“ verkaufen sich, obwohl spröde und alles andere als Zuckerwatte. Unseld glaubt an seinen schwierigen Autor, schenkt ihm, mit vertraglicher „Vereinbarung“, 5000 Mark. Das vertrauliche „Du“ braucht seine Zeit, aber man kommt sich rasch nahe. „Yours, truly“ unterschreibt sich Johnson, Unseld fragt mit „herzlichen Grüßen“ nach der Arbeit und wie sein Autor vorankomme. Gelegentlich drängt ihn Unseld, „lesbarer“ zu schreiben. „Das dritte Buch über Achim“ erscheint im Sommer 1961, als eben die Mauer errichtet wird. Johnson ist jetzt „Dichter der beiden Deutschland“ und erfolgreich. Er geht für zwei Jahre nach New York, betreut Schulbücher und sam* Uwe Johnson / Siegfried Unseld: „Der Briefwechsel“. Herausgegeben von Eberhard Fahlke und Raimund Fellinger. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main; 1220 Seiten; 68 Mark. Werbeseite Werbeseite Kultur melt Material für die „Jahrestage“, für das „Leben der Gesine Cresspahl“ aus Mecklenburg. Unseld expandiert, entwirft neue Reihen, noch eine Taschenbuch-Edition, ein Wissenschaftsprogramm. Sein Freund Johnson zieht sich zurück, wird immer kleiner, verschneckt. In Berlin findet er sich nach der Rückkehr aus New York nicht mehr zurecht; die Kommune 1 hatte in seiner Wohnung das berüchtigte PuddingAttentat auf den amerikanischen Vizepräsidenten vorbereitet. Max Frisch leiht ihm Geld, und Johnson kauft sich ein Haus in Sheerness-on-Sea, verschanzt sich in einem Arbeitsgefängnis hinter der Flutmauer. Immer mehr verfinstert sich ihm die Laune, immer ungnädiger reagiert er auf noch die leisesten Irritationen, ist bei jeder Gelegenheit gekränkt und wird für Unseld schließlich zu einem Versorgungsfall. Der Geschäftsmann aber möchte auch als Schöngeist gelten, und bereitwillig bezeigt ihm der Schriftsteller seine Dankbarkeit. Häuft noch weiteres Lob auf einen Hut, der Unseld zum Ehrendoktor macht („deine Würde ist dir wie der Gelegenheit angemessen“), gratuliert ihm von Autor zu Autor, wenn Unselds Vorlesungen „Der Autor und sein Verleger“ auch auf Französisch herauskommen. Nur bei Unselds legendärer Selber-Schreibübung „Letzte Abfahrt“ vermisst der strenge Lektor das Literarische und empfiehlt eine Zirkulation allenfalls im engsten Kreis. Die Erzählung erscheint erst sieben Jahre nach dieser freundschaftlichen Ablehnung. Natürlich lässt auch dieser Briefwechsel Lücken; zu einer vollständigen ParallelBiografie reicht es nicht. Dafür sieht man sich zwischendurch zu oft, bespricht manches auch am Telefon. Weil es sich hier aber um ein Haupt- und Staatsunternehmen handelt, ist diese noble Edition angereichert mit Reisenotizen, die der unermüdliche Beweger Unseld anfertigte, wenn er seine Autoren aufsuchte. Die vielfachen Zerwürfnisse mit Enzensberger, Frisch, Walser (und am Ende ist der eingemauerte Autor eigentlich mit allen zerfallen) lassen sich immerhin ahnen. Das Personenverzeichnis allerdings entstellt sogar Haus-Autoren; Uwe Johnson, dieser heilige Pedant, hätte bei seinem Freund Unseld darauf bestanden, deswegen das ganze Buch einzustampfen. Dieser Briefwechsel ist ein Dokument fast unwandelbarer Treue, in der Unseld erst wankend wird, als Johnson die Chronik seiner „Jahrestage“ auf drei, dann auf vier Bände aufteilt und den letzten Band schließlich zehn Jahre lang schuldig bleibt. Ein Herzinfarkt, eine Ehe-, dann eine formvollendete Schreibkrise verzögern den Abschluss. Nichts mehr von der Fröhlichkeit des gemeinsamen Aufbruchs 1959, dafür Stillstand, Depression: „… unvermittelt sitze ich vor dem Tastenfeld gelähmt, und 300 d e r so bis zum Abend, ohne dass das Papier bewegt worden wäre.“ Unseld fasst sich in Geduld und versucht den Geschäfts-Freund zurück an die Arbeit zu führen, bittet ihn um Beiträge für Suhrkamp-Anthologien, Übersetzungen, organisiert die Frankfurter Poetik-Vorlesungen s p i e g e l Bestseller Belletristik 1 (1) Isabel Allende Fortunas Tochter Suhrkamp; 49,80 Mark 2 (2) Günter Grass Mein Jahrhundert Steidl; 48 Mark 3 (4) Noah Gordon Der Medicus von Saragossa Blessing; 48 Mark 4 (3) Elizabeth George Undank ist der Väter Lohn Blanvalet; 49,90 Mark 5 (5) Thomas Harris Hannibal Hoffmann und Campe; 49,90 Mark 6 (7) Ken Follett Die Kinder von Eden Lübbe; 46 Mark 7 (12) Frank McCourt Ein rundherum tolles Land Luchterhand; 48 Mark Immer auf der Suche und nirgendwo daheim: ein irischer Geschichtenerzähler in Amerika 8 (9) Marianne Fredriksson Maria Magdalena W. Krüger; 39,80 Mark 9 (6) Donna Leon Nobiltà Diogenes; 39,90 Mark 10 (10) Henning Mankell Die falsche Fährte Zsolnay; 45 Mark 11 (11) Nicholas Sparks Zeit im Wind Heyne; 32 Mark 12 (8) John Irving Witwe für ein Jahr Diogenes; 49,90 Mark 13 (13) Henning Mankell Die fünfte Frau Zsolnay; 39,80 Mark 14 (14) Siegfried Lenz Arnes Nachlass Hoffmann und Campe; 29,90 Mark 15 (–) Thomas Brussig Am kürzeren Ende der Sonnenallee Volk und Welt; 28 Mark 4 7 / 1 9 9 9 für ihn. Und es hilft: Aus einem Geburtstagsgruß für Max Frisch entsteht die „Skizze eines Verunglückten“, in der Johnson sein eigenes Scheitern literarisch bearbeiten kann und durch die er zu den „Jahrestagen“ zurückfindet. Der Mörder Joe Hinterhand verhängt seine „eigene ToIm Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin „Buchreport“ Sachbücher 1 (1) Marcel Reich-Ranicki Mein Leben DVA; 49,80 Mark 2 (2) Oskar Lafontaine Das Herz schlägt links Econ; 39,90 Mark 3 (3) Sigrid Damm Christiane und Goethe Insel; 49,80 Mark 4 (4) Corinne Hofmann Die weiße Massai A1; 39,80 Mark 5 (6) Waris Dirie Wüstenblume Schneekluth; 39,80 Mark 6 (5) Dale Carnegie Sorge dich nicht, lebe! Scherz; 46 Mark 7 (7) Ulrich Wickert Vom Glück, Franzose zu sein Hoffmann und Campe; 36 Mark 8 (10) Hans J. Massaquoi Neger, Neger, Schornsteinfeger! Fretz & Wasmuth; 39,90 Mark 9 (9) Bodo Schäfer Der Weg zur finanziellen Freiheit Campus; 39,80 Mark 10 (8) Tahar Ben Jelloun Papa, was ist ein Fremder? Rowohlt Berlin; 29,80 Mark 11 (13) Dietrich Schwanitz Bildung Eichborn; 49,80 Mark 12 (14) Ruth Picardie Es wird mir fehlen, das Leben Wunderlich; 29,80 Mark 13 (–) Malika Oufkir/ Michèle Fitoussi Die Gefangene Marion vom Schröder; 39,90 Mark Zwanzig Jahre in Kerkern und WüstenVerliesen: ein Frauenschicksal in Marokko 14 (12) Daniel Goeudevert Mit Träumen beginnt die Realität Rowohlt Berlin; 39,80 Mark 15 (11) Klaus Bednarz Ballade vom Baikalsee Europa; 39,80 Mark d e r desstrafe“ über sich, „abzuleisten durch Ableben“. Johnson tut es ihm gleich, kehrt in sein Wortstanzwerk zurück und vernichtet sich durch Arbeit. Kein halbes Jahr, nachdem der letzte Band der „Jahrestage“ erschienen ist, stirbt Uwe Johnson im Alter von 49 Jahren. Dieser Briefwechsel erzählt noch einmal die Geschichte einer unglücklichen Liebe. Unseld war Motor des frühen Erfolgs, wurde dann der Mäzen einer schier unerträglichen Schreibkrise – und der Vertraute, mit dem Johnson sein Ehe-Unglück besprach. „So bist du für mich der menschliche Ort geworden“, schreibt er seinem Verleger am 1. April 1979 zum 20-jährigen Jubiläum, „ohne den das einsamste Leben unmöglich ist.“ Johnson schreibt diese Liebeserklärung ausnahmsweise mit der Hand und verspricht zugleich, die „Jahrestage“ noch im selben Jahr abzuschließen. Er wird diese letzte Lieferung noch öfter versprechen, Unseld wird vorsichtig und immer drängender nachfragen, bis er seinem liebsten Autor schließlich den Scheidebrief schickt. Die Liebesgeschichte ist zu Ende, das Geschäft geht weiter. „Lieber Uwe“, schreibt Unseld am 7. Dezember 1982, „wir müssen über Deine Finanzen reden. Der Soll-Saldo war am 30.11.1982 DM 230 094,89. Auf dieser Basis kann ich die monatlichen Zahlungen nicht mehr ad infinitum leisten.“ 3000 Mark hat Unseld seinem Freund und Geschäftspartner jeden Monat auszahlen lassen; im kommenden März soll Schluss sein damit. Zweieinhalb Wochen später antwortet Johnson, seinerseits ganz geschäftsmäßig. Falls Unseld ihn und die „Jahrestage“ doch länger finanziere, kann er ihm nach der Lebensversicherung die Tantiemen aus seinem Urheberrecht anbieten. Gern sei er auch bereit, seine Schulden als Lektor im Hause abzuarbeiten, und schließlich brächten die Typoskripte seiner Bücher noch mal 18 000 Mark. Einen elenderen Brief kann man sich kaum vorstellen. Johnsons Witwe Elisabeth erinnert sich an Max Frisch, der Unseld einmal als „Rennstallbesitzer“ bezeichnet habe und die Autoren als seine Pferde. „Sie laufen für ihn.“ Uwe Johnson hat manches Rennen für seinen Besitzer gewonnen und am Ende doch verloren. Am 12. März 1984 schickt der Verleger ein Telegramm nach Sheerness: „Erbitte dringlich Deinen Anruf“. Johnson liegt da bereits seit Wochen tot in seinem Wohnzimmer. Der Kalender ist für den 21. und 22. Februar 1984 aufgeschlagen. Bereits fünf Monate vorher beendet Johnson seinen Briefwechsel mit Unseld; auch bei ihm ist ein Telegramm die letzte Äußerung. Es kommt aus New York, wo sich Uwe Johnson zu Dreharbeiten für einen Fernsehfilm aufhält. Er möchte dort offenbar nicht angerufen werden: „NO CALLS SORRY. PLAN STANDS REGRETFULLY UWE“. Welcher Plan? Willi Winkler s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 301 C. ASHFORD / PICTURE PRESS Sänger Naidoo, Produzent Hofmann bei MTV-Feier in Dublin: „Kelch mit Tränen“ S TA R S Jesus der Hitparaden MTV kürte Xavier Naidoo zum besten deutschen Künstler. Nun verkündet der gottgläubige Star auf einem LiveAlbum neue Heilsbotschaften. A uf diesen Erretter hat die deutsche Popbranche gewartet. Auf einen, der sie von sinkenden Umsätzen erlöst, einen, der die Generationslücke nach Herbert Grönemeyer und Marius Müller-Westernhagen füllt und der endlich ins Ausland, ja, vielleicht sogar nach Amerika exportiert werden kann. Nun scheint es, als sei der Messias da: Xavier Naidoo, 28, verkaufte von seinem 1998 erschienenen Debütalbum „Nicht von dieser Welt“ mehr als eine Million Stück, er singt wie Grönemeyer, nur besser; vor elf Tagen hat ihn der Musiksender MTV Europe in den Popadel aufgenommen und zum „besten deutschen Künstler“ gekrönt. Xavier wird ausgesprochen wie „Saviour“, und als Retter versteht er sich auch: „Meine Augen rot, vom Weinen schwach, den Kelch mit Tränen aufgefüllt, meine Wunden ins Leintuch eingehüllt“, singt der Jesus der Hitparaden und kündet seinen Jüngern die frohe Botschaft: „Ich hab gute Aussichten durch weise Voraussichten.“ Gerade ist Naidoos erstes Live-Album auf Platz neun der Charts eingestiegen. Es ist eine Dokumentation seines Kreuzzugs für den rechten Glauben und für souligen Pop, denn Naidoo hatte auch einen Gospelchor dabei. „Gott hat mir mein Talent gegeben“, sagt er, „damit ich über ihn und die Bibel singe.“ 302 Dafür, dass Naidoo seine Heilsbotschaften so erfolgreich verkündet, sind allerdings auch irdische Plattenproduzenten verantwortlich: die Frankfurter Moses Pelham, Thomas Hofmann und Martin Haas, die vor fünf Jahren mit dem „Rödelheim Hartreim Projekt“ den Siegeszug des deutschsprachigen HipHop mit in Gang setzten und später die Rapperin Sabrina Setlur zum Star machten. Für die Markteinführung von Naidoo wiederholten die drei eine Strategie, die sie bei Setlur schon erprobt hatten: Zuerst war Naidoo als Background-Sänger bei Produktionen ihrer Firma 3p zu hören. Dann ging er 1997 mit Setlur auf Tournee, sang ihr Stück „Freisein“, und die Rapperin trat im dazugehörigen Video auf. Seine erste eigene Single, „20 000 Meilen“, war ein Achtungserfolg, die zweite, „Nicht von dieser Welt“, stand 15 Wochen in den Charts. Seinen größten Hit hatte Naidoo mit „Sie sieht mich nicht“: Er ist die Nummer sechs der bestverkauften Singles des Jahres. Trotzdem ist er nicht zufrieden: „In Deutschland leben 80 Millionen Menschen – was sind da eine Million verkaufte Alben?“ Jedenfalls nicht genug für einen, der sich schon vor der ersten Veröffentlichung vorgenommen hatte, mehr Platten als Grönemeyer zu verkaufen – weil der doch Naidoos Vorbild ist. „Ich bin größenwahnsinnig, weil ich ein Träumer bin“, sagt der Sänger, „größenwahnsinniger als alle anderen bei 3p.“ Und das ist schwer, wofür schon spricht, dass im 3p-Konferenzraum ein Foto der Produzenten hängt: Da sitzen sie mit Anzug und selbstzufriedenem Gesicht vor einem Berg von Geldbündeln. Naidoos Mutter ist Südafrikanerin irischer Abstammung, sein Vater wurde in Südafrika geboren und hatte deutsche und indische Vorfahren. Die Mutter war Schneiderin, der Vater Industrieschweißer. Die beiden hatten sich in London kennen gelernt und zogen später nach Mannheim, wo der Vater eine Stelle als Schichtarbeiter hatte – weshalb es zu Hause immer leise d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 sein musste. „Sehr autoritär“ sei seine Mutter gewesen und „überangepasst wie alle Ausländer“: Jedes Behördenschreiben habe er für seine Eltern „auf der Stelle beantworten“ müssen. Naidoo selbst war, außerhalb der Wohnung, keineswegs so ängstlich: Er lernte Kickboxen und verdiente später Geld als Türsteher. Bei Schlägereien war er aber vorsichtig: „Ich hatte Angst vor Narben, weil ich Popstar werden wollte.“ In diversen Kirchen- und Gospelchören hatte Naidoo gesungen, bevor 1992, nach Mittlerer Reife und abgebrochener Kochlehre, endlich ein Angebot von einer Plattenfirma kam – und das sogar für eine amerikanische Produktion. Naidoo schrieb einige Lieder und flog begeistert zu Studioaufnahmen in die Staaten. Mit der Euphorie war es vorbei, als er das fertige Album hörte. „Da war nichts mehr von meinen Ideen übrig geblieben“, sagt er. Immerhin hatte Naidoo, wie er erzählt, am letzten Tag des trübseligen Jahres 1992 noch zu seiner Bestimmung gefunden. Am Silvesterabend habe er, traurig und allein zu Hause, zufällig die Bibel aus dem Bücherschrank gegriffen, den Petrus-Brief aufgeschlagen und sich erleuchtet gefühlt. Nun, da er seine spirituellen Botschaften zu Geld gemacht hat, verkündet Naidoo, er werde mit dem Erlös auf Erden Gutes tun: Arbeitsplätze wolle er schaffen in seiner verarmten Heimatstadt und hat mit Freunden den Plattenvertrieb „Die Söhne Mannheims“ gegründet. Wie viele Jobs es sind, will er nicht sagen: „Wir sind noch am Anfang.“ Außerdem möchte er, dass es „in Mannheim keine Obdachlosen mehr gibt und kein Kind mehr hungrig zur Schule gehen muss“ – wenn sonst schon niemand die Mannheimer Hungersnot bemerkt hat. Vom Elend der Welt schirmt der Popstar sich ansonsten meist mit sonnig-gelben Brillengläsern ab. Früher stellte Naidoo merkwürdige naturwissenschaftliche Theorien auf und behauptete, die Abgase seiner alten Mercedes-Kollektion würden durch das Ozonloch ins All entweichen. Neuerdings profiliert er sich mit nebulösen Prophezeiungen als Orakel: Im nächsten Millennium werde sich Deutschland und überhaupt alles völlig ändern. Vielleicht zum Schlechteren. Vielleicht aber auch zum Besseren. Als Beweis für die Verlässlichkeit seiner Voraussagen führt er an, dass er schon im Sommer das Lied „Armageddon“ geschrieben und Erdbeben angekündigt habe – es folgte die Katastrophe in der Türkei. Für alle Fälle schiebt Naidoo einen Moses-Witz hinterher: Der habe nach ein paar verregneten Tagen so fest an die Sintflut geglaubt, dass Gott die Erde überflutete, um Moses nicht zu enttäuschen. Da möchte man lieber gar nicht wissen, an welche kommenden Katastrophen Naidoo noch so glaubt. Marianne Wellershoff Werbeseite Werbeseite Kultur T H E AT E R In Basel präsentiert Katharina Thalbach das jüngste Stück ihres Ex-Gefährten Thomas Brasch – eine Soap um den 1819 ermordeten Autor August von Kotzebue. E T. HOEPKER / MAGNUM / AG. FOCUS / XXP Kotzbrocken mit Gänsekiel S. HOPPE r war der Goethe fürs gemeine Volk deutschen Euphorie damals angewidert lie– ein rastloser Routinier für Massen- gen ließ. Jetzt hat er das ernste Politstück ware. Die Bühnen der frühen Bie- wieder herausgekramt und wie ein Windermeier-Zeit belieferte er unablässig mit zer mit einer anderen (Ton-)Lage vereiner Unzahl von Melodramen, Komödien schnitten: mit Teilen von Kotzebues und Schwänken. Der studierte Jurist war „Kleinstädtern“ von 1802 – leicht bearbei- Brasch, Katharina Thalbach (1976): Mut zur Theaterdirektor, eine Art Geheimagent für tet, versteht sich. Ein Dichter und sein „Kleinstädter“-Episoden und Rahmenden russischen Zaren, lebte in Reval, St. Werk – Aug in Aug auf einer Bühne. In Basel kam dieser dramaturgische handlung sind streng getrennt. Auf der Petersburg und Weimar, wurde verbannt und wieder begnadigt, brachte mit einer Wechselbalg am vergangenen Freitag in großen Bühne, die aussieht wie ein WirtsSchmähschrift die gesamte deutsche Ge- der Regie von Braschens ehemaliger Le- haussaal mit gelegentlichem Spielbetrieb, lehrtenschaft gegen sich auf, er zeugte bensgefährtin Katharina Thalbach, 45, zur ist eine Minibühne installiert. Dort haust das „Kleinstädter“-Grauen. Und dort brilein Schock Kinder – und erfand, als flugs Uraufführung. liert – jedenfalls in der Geherniedersausenden Brandneralprobe – Katharina Thalschutz zwischen Bühne und bachs Tochter Anna, 26, und Zuschauersaal, den eisernen spielt sich, zum ersten Mal Vorhang. unter Mutterns sanfter FuchPolitisch aber war August tel, flott nach vorn. von Kotzebue für die rebelSie quiekt und krächzt, lierende Jugend seiner Zeit jauchzt und chargiert im ein rechter Kotzbrocken. Der knappen Minirock als eroAnti-Demokrat verteidigte tisch bedürftiger Twen in eidie deutsche Kleinstaaterei, nem bunten Wohnzimmer im stellte sich den aufbegehwilden Rausch groß gemusrenden Studenten entgegen, terter Tapeten. Hier lässt die ein einig deutsches Vaterdie Regisseurin die „Kleinland forderten, und wurde – städter“ mit ihrer KlippHauptperson in einem der Klapp-Dramaturgie ganz ungroßen deutschen Kriminalverkrampft als vorgeäffte, fälle – am 23. März 1819 im archaische Comedy-Soap abAlter von 57 Jahren von dem rollen. Mit Kalauern von heuBurschenschaftler Karl Ludte und zeitlosen Konstellatiowig Sand erstochen. nen von gestern. Dieser Mord und vielleicht Der krosse Backfisch Sabinoch seine Spießer-Komödie ne (Anna Thalbach) verab„Die deutschen Kleinstädscheut den ihr zugedachten ter“, in der es um kleinbürLangweiler von nebenan und gerliche Wohlanständigkeit will stattdessen einem fremund ihre Brüchigkeit geht und den Jüngling an die Wäsche. die in dem sprichwörtlich Oma bringt wie immer alles gewordenen Ort Krähwinkel durcheinander, und Vattern, spielt, haben Kotzebue einen der Bürgermeister, denkt soblassen Schimmer von Unwieso nur an die Karriere. sterblichkeit beschert. Die anUnd siehe da: Die Klamotderen seiner über 200 Stücke tendramaturgie klappt immer sind im Aktenschredder der noch. Kein Gag zu platt, kein Theatergeschichte gelandet. Theatertrick zu alt, als dass Nun hat sich der Dichter er nicht noch immer funktioThomas Brasch, 54 („Mernierte. cedes“), des fast vergessePlötzlich stehen sie in einen Kollegen angenommen. ner schönen Ahnen-Reihe, „Stiefel muss sterben“ heißt Kotzebue und Al Bundy, Mildas Stück, das Brasch wählowitsch und die „Golden rend des letzten deutschen Girls“. Und wie im Fernsehen Vereinigungsrausches 1989 in werden nun auch auf der der Mache hatte und über der allgegenwärtigen deutsch- Anna Thalbach in „Stiefel muss sterben“: Dem Jüngling an die Wäsche Bühne die blödesten Witze 304 d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 mit Beifall vom Band und eingespielten Lachern bejubelt. Theater als TV – TV-Theater. Und irgendwie – Kunststück! – ist selbst die gnadenlose Parodie noch komisch. Damit es mit dem aufgedrehten Unsinn nicht zu arg wird und der Abend nicht gar zu bunt gerät, agiert zwischen dem aufgemotzten KotzebueQuatsch der Dichter selbst oder jedenfalls einer, den Thomas Brasch dafür hält. Kotzebue, dieser frühe Theater-Tycoon (Vincent Leittersdorf), wetzt da zwischen den aufgepeppten Comedy-EinlaKlamotte gen brav und altväterlich den Gänsekiel, klagt über das eintönige Mannheim und schwätzt am Stehpult davon, endlich den Roman seines Lebens zu schreiben. Alles soll dann mal herauskommen, die politischen Eskapaden in Russland und die amourösen mit der Magd Berta im Bett zum Beispiel. Lebenslügen? Endlich weg damit! Und als ob das reichlich bewegte, wenig erforschte und kaum einem Theatergänger geläufige Leben des historischen Kotzebue nicht reichte für einen Abend, hat sich Brasch noch mancherlei Zutat ausgedacht. Das beginnt schon mit einem Prolog, einer rührenden, aber leider unwahren Geschichte: Ein düsterer Herr weissagt dem Dichter in dessen Mannheimer Theater während der Vorstellung melodramatisch – als sei’s ein Stück von Kotzebue – genau neun Monate vor der Untat das mörderische Ende. Auch sonst erfindet Brasch den einen oder anderen Lebens- und Gedankenlooping zur spärlich überlieferten Dichter-Vita keck hinzu. Für Zuschauer mit geistesgeschichtlichem Assoziationsvermögen bietet er Herrn Hegel auf („Ich bin Polizist, Madame“), der das angekündigte Attentat auf Kotzebue verhindern soll und sich stattdessen in klappernden Reimen und hinterlistigen Intrigen ergeht. Zum Glück setzt Katharina Thalbach gegen allzu tief gründelndes Dichterbetasten couragiert auf Begradigung – und bügelt, gewohnt komödiantisch, allzu verstiegene Momente mit theatralischen Effekten und rigorosen Kürzungen im ausufernden Text glatt. Kotzebue wird durch all den Budenzauber nicht weniger rätselhaft: Einmal zeigen Thalbach und Brasch, wie der Dichter in einem Zinkzuber voll heißem Moorbad versinkt, um seinen vom vielen Dichten krummen Rücken gerade zu biegen. Auf der Basler Bühne ist die braune Brühe nur eine Plastik-Folie, ein theatralischer Fake – und somit ein höchst einprägsames Bild für einen der erfolgreichsten Bluffer der deutschen Bühnen-Geschichte. Joachim Kronsbein d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Kultur G. KLEMENS ben muss, und Dürrs notorische Sonnigkeit wärmt sogar ihn. Es ist ein Theaterliebhaber zu feiern, der sich diese Liebe etwas kosten lässt: Dürr hat einen „Heinz-DürrStückepreis“ gestiftet, mit 40 000 Mark für den Autor plus 75 000 Mark für das Theater, das sein Stück uraufführt, nobel dotiert. Die Nennung des Sponsornamens darf man dabei nicht schlicht als Zeichen von Eitelkeit nehmen, Dürr verspricht sich eben von seinem Namen eine „Hebelwirkung“ bei seinesgleichen: Es könnten doch gut noch ein paar reiche Männer (oder Frauen) mehr darauf kommen, dass es Lust macht, Geld für Kunst auszugeben. Dürr gibt sich gern, als sei alles leicht. Trotz sämtlicher Gelegenheitsposten, die einer wie er neben seinem Hauptjob naturgemäß innehat (einem guten halben Dutzend Aufsichtsratssitze, zum Beispiel bei Stinnes, Preussag, Mannesmann und so Berliner „Baracken“-Inszenierung „Shoppen und Ficken“: Theater mit Hand und Fuß weiter), scheint er ungestresst Zeit für Dinge zu haben, die doch Mühe machen, auch MÄZENE wenn es nur zum eigenen Vergnügen ist: Dürr der Jazzfan, Dürr der Kunstsammler, Dürr der Theaternarr. Die „Wirtschaftswoche“ hat ihn bei Gelegenheit sogar verdächtigt: „Sein Wunschtraum wäre wohl, selbst Künstler zu sein.“ Heinz Dürr verleiht in Berlin den „Heinz-Dürr-Stückepreis“: Sicher ist, dass er die Kunst und den Umeinmal und nie wieder. gang mit Künstlern liebt, woraus er die Lebenserfahrung gewonnen hat, dass es auch äre er nicht fast zwei Meter groß, de er dann vom Bundeskanzler persönlich denen „ganz schön ums Geld geht, besonso möchte man ihn ein schlaues gekeilt, um Bundesbahn und Reichsbahn ders wenn sie älter geworden sind“. Zu seiKerlchen nennen. Heinz Dürr zu einem privatwirtschaftlichen Konzern nen schwäbischen Freunden gehören Marwirkt trotz seiner Länge jungenhaft und zusammenzuklopfen, wozu er einen Frei- tin Walser und Siegfried Unseld, und der wiederum hat ihm den Kontakt zu Thoauch mit 66 Jahren flexibel und flink in fahrschein auf allen Strecken bekam. Am Mittwochvormittag in der vergan- mas Bernhard vermittelt: Dürr und Frau Rede wie Widerrede. Ein Schwabe. Er genießt es, als einer der Top-Manager im Lan- genen Woche prangt Dürr auf einem Po- sind in die österreichische Einöde gepilde zu gelten, und genießt es noch mehr, dium im pompösen Max-Reinhardt-Salon gert, um dem über alles verehrten Liebsich durch vorlaute Sprüche hervorzutun, des Berliner Deutschen Theaters an der lingsdichter ihre Aufwartung zu machen. Dürrs Kunst-Vorlieben sind unorthodox die unter seinesgleichen mit einem grum- Seite des Intendanten Thomas Langhoff, melnden „Hört, hört!“ zur Kenntnis ge- der immer wie ein runzliges Winteräpfel- und geprägt von einer Abneigung gegen chen aussieht, das man besonders lieb ha- das Feierlich-Repräsentative. Es darf ruhig nommen werden. ordentlich krachen. Als die Zum Beispiel, dass man ein UnternehCDU den Stuttgarter Schaumen nicht als Profitmaschine betrachten spieldirektor Claus Peymann solle, vielmehr als eine „gesellschaftliche wegen angeblicher RAFVeranstaltung“, auch dass die Deutschen Sympathie aus dem Ländle „viel zu materialistisch“ seien. Oder dass vertrieben hatte, setzte der man bei einem Spitzenmanager keinen hoCDU-Mann Dürr sich an hen IQ erwarten dürfe – denn zu viel Bedie Spitze eines schwäbidenklichkeit lähme den Raubtierbiss, ein schen Peymann-Fanclubs, aus der klassischen Dramenliteratur als der demonstrativ zu desHamlet-Syndrom bekanntes Verhängnis. sen Thomas-Bernhard-PreDürr selbst, versteht sich, darf als die glänmieren nach Bochum fuhr. zende Ausnahme von der IQ-Regel gelten. Seit Dürr in der NachSchon vor 20 Jahren hat er den ererbten Wende-Zeit beschlossen hat, Familienbetrieb, einen auf Lackiertechnik Berliner zu werden, versucht spezialisierten „Mittelstands-Multi“, aner, dem dahindümpelnden gestellten Managern anvertraut (die inTheaterbetrieb der Metropozwischen einen Jahresumsatz von zwei le etwas Zunder zu geben. Milliarden Mark ausweisen), um sich „geDas von ihm „postdramasellschaftlichen Veranstaltungen“ größeren tisch“ genannte Treiben von Stils zu widmen: in den achtziger Jahren Regisseuren allerdings, die als Sanierer der AEG, wo er sich nach Exsich den Stoff für ihre Theapertenmeinung wacker schlug, bis nichts terabende selbst zusammenmehr zu sanieren da war. Am Rand der manschen und -panschen, ist Vereinigungsfeier am 3. Oktober 1990 wur- Feiernde Langhoff, Buhr, Dürr: „Weizen in der Spreu“ Sponsor mit Hebelwirkung ULLSTEIN BILDERDIENST W 306 d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Kultur D. BALTZER / ZENIT ihm zu diffus, er hat es gern etwas „dra- Punkt bringe“, lobte aber die Betriebsmen- und fabelfixierter“, also mit etwas ratsszenen („da kenn ich mich aus“) als „absolut treffend“. Dem moralischen Fazit mehr Hand und Fuß. Ein von ihm dirigierter Geldgeber-Zirkel des Werks, „Ehrlich ist noch keiner reich namens „Freunde des Deutschen Thea- geworden“, wollte er aber, mit Verlaub, ters“ hat mit jährlich 100000 Mark die „Ba- nicht beipflichten: „Irgendwo muss es auch racke“ des Deutschen Theaters alimentiert, gute Menschen geben.“ Sein Einsatz für das gesamtdeutsche wo Thomas Ostermeier durch die Aufführung jener jungen britischen Stücke mit Eisenbahnwesen ist Heinz Dürr, wie er den unaussprechlichen Titeln berühmt meint, schlecht gedankt worden: Als er vor werden durfte, leider weniger durch neue zwei Jahren vom Vorstands- auf den Aufsichtsratsvorsitz der Bahn AG wechselte, deutschsprachige Autoren. So entstand die Idee zum „Heinz-Dürr- tat ihm sein Kanzler den Tort an, sich geStückepreis“ für junge Talente (Alters- gen seinen Wunsch und Rat für einen Mann grenze 38), erstmals ausgelobt für unge- namens Ludewig als Nachfolger zu entspielte Werke mit Gegenwartsthematik im scheiden, auf den Dürr von sehr hoch oben herabschaute: Das war September 1997, doch kein Macher mit Biss, dann nicht verliehen, kein Power-Typ, sonweil die „hochkarätige“ dern ein bürokratischer Jury (eine bedeutenAbwickler. de Schauspielerin, drei Die ungemein dybedeutende Dramaturnamische Art, mit der gen) unter gut hundert Dürr alsbald an LudeEinsendungen nichts wigs Stuhl zu sägen fand, was sie einem Pubegann, machte im blikum hätte zumuten SPIEGEL (9/1999) als mögen. „Machtkampf der SonNach diesem Fehlderklasse“ (und also schuss versuchte, so vielleicht auch als Stoff Dürr, „einer der grofür einen Dramatiker, ßen Meister der Reder über Betriebsratsgiekunst“, dessen Nakabalen hinauswachsen men jeder kennt, ihm will) von sich reden: die Preissumme abzuAls auch die neue SPDschnacken mit der VerRegierung Dürrs Ansinheißung, für so gutes Peymann mit Brecht-Standbild nen abwies, den CDUGeld könne man sich ein Peter-Handke-Stück schreiben lassen. Mann Ludewig einen Kopf kürzer zu maDoch Dürr blieb standhaft, lobte den Preis chen, warf Dürr Anfang dieses Jahres seierneut aus, und auch die Jury bewies an- nen Bahnaufsichtsjob Knall auf Fall hin. gesichts von 235 eingereichten Bühnen- Etwaige dadurch entstandene Leerstellen werken viel Ausdauer im Bemühen, ein in seinem Terminkalender waren mit Pospaar „Weizenkörner in der Spreu zu fin- ten bei Zeiss und Krone AG rasch gefüllt. Was aber das deutsche (und insbesonden“ (Dürr). Der adrette Glückspilz, der sich bei die- dere das Deutsche) Theater angeht, so ser Mittwochsfeier im Deutschen Theater nutzt Dürr den Anlass im Max-Reinhardtmit dem Spender und einem 40 000-Mark- Salon zur Erklärung, dass der nun verlieScheck fotografieren lassen darf, heißt Hei- hene erste Heinz-Dürr-Stückepreis auch ko Buhr, ist 35, kommt aus Neumünster, der letzte sei: Für einen umtriebig-unlebt jetzt in Kiel und hat als Qualifikation geduldigen Tatmenschen muss die langeine abgeschlossene Banklehre sowie ein wierige Preis-Prozedur (bis zur Premiere in Literaturstudium samt Doktorarbeit (über vielleicht einem Jahr) „ineffizient“ sein. das Selbstmordmotiv im Drama der Auf- Künftig soll eine inzwischen aus dem Faklärung) vorzuweisen. Der Preis für sein milienvermögen neu entstandene HeinzWerk „Ausstand. Ein Schaustück“ (vier und-Heide-Dürr-Stiftung neben wissenweitere liegen in der Schublade) sei, so sagt schaftlichen und sozialen Zwecken auch er, nach 17 Jahren erfolgloser Schriftstelle- der Theaterkultur dienen, indem sie jeweils drei oder vier Stipendien vergibt, deren rei seine erste echte „Entlohnung“. Buhrs Drama, so ließ die Jury verlauten, Empfänger sich dann ein Jahr lang an einer handle von Wirtschaftskrise, Arbeitslo- Bühne umtun dürfen. Das Deutsche Theater allein wäre damit sigkeit, drohender Werftschließung oder Übernahme durch einen koreanischen überfordert. Auch der Dürrsche „BaMulti sowie einem Auftragsmord, der alles racken“-Protegé Ostermeier, künftig Berglatt macht, und es verbinde Kroetzschen liner Schaubühnen-Chef, und der GroßKleine-Leute-Realismus mit Dürrenmatt- meister des Thomas-Bernhard-Kults Peyscher Parabelhaftigkeit. Sponsor Dürr er- mann, künftig Berliner-Ensemble-Boss, laubte sich, ein wenig schulterklopfend, die könnten sich dann also eines Stipendiaten Meinung, man sollte bis zur Aufführung erfreuen. Wie gesagt, irgendwo muss es „des eine oder andre noch a bissle auf den auch gute Menschen geben. Urs Jenny 308 d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Kultur BUCHMARKT Doppelte Zeit Immer mehr etablierte Verlage drängen mit eigenen Programmen auf den Markt für Hörbücher. Der Erfolg der Audio-Literatur erstaunt die Fachleute. N Jahr haben Reclam, Bertelsmann, Eichborn und Heyne nachgezogen. Allerdings auf der Sparspur: Auffallend viele Produktionen wurden bei öffentlichen Lesungen mitgeschnitten, das drückt die Kosten. Der Frankfurter Eichborn Verlag präsentiert die „Essais“ von Montaigne (gelesen von Otto Sander) und die Reihe „Die Andere Bibliothek im Ohr“. Der Münchner Heyne Verlag startet mit 29 Titeln (darunter Amelie Fried, Horst Tappert und Bill Gates), die meist auch in Buchform vorliegen. Das Bertelsmann-Programm „BMGWort“ bietet Comedy-Ware – und soll, wünscht sich Geschäftsführer Karl Heinz Pütz, „vor allem junge Leute ansprechen“. Wer bereits im Hörbuch-Geschäft ist, baut angesichts der vielen neuen Mitbewerber fix das eigene Angebot aus. So hat der Hamburger Verlag Hoffmann und Campe, seit 1996 dabei, kürzlich die Merian-Reihe „Die Lust am Reisen“ mit zehn Titeln vorgelegt, weitere zehn Titel erschienen im Oktober. Der Berliner Aufbau Verlag, seit drei Jahren im Hör-Geschäft, hat mit dem Südwestrundfunk, dem Mitteldeutschen Rundfunk und dem Deutschlandradio rasch den AudioVerlag (DAV) gegründet. „Wir wollen“, sagt DAVGeschäftsführer René Strien, „einer der großen Spieler werden.“ Unter den 33 neuen DAV-Titeln finden sich etliche, zu denen es keine Buchvorlage gibt – Hörspiele, Features und historische Aufnahmen. „Mir ist wichtig“, so Strien, „das Hörbuch als eigenes künstlerisches Produkt zu etablieren.“ Trotzdem: Kultur-Konservative bemäkeln nicht nur, dass die Vorlese-Produkte im Handel teurer sind als ihre gedruckten Vorlagen, sondern vor allem, dass die Originale oft willkürlich gekürzt vorgetragen werden. Für HörbuchFans fällt das kaum ins Gewicht, gibt es doch einen unschlagbaren Vorzug gegenüber dem Papier: Man kann Hörbücher beim Autofahren oder Bügeln abspielen – „Double your time“, heißt die Parole. Der wachsende Konkurrenzdruck in der Hör-Branche inspiriert zu ausgefallenen Werbeideen. So vereinbarte DHV-Chefin Baumhöver gerade eine Kooperation mit dem Autoverleiher Europcar: In dessen Leihwagen sollen demnächst Trailer-Kassetten ausliegen. Im Übrigen, sagt Baumhöver, glaube sie fest an Odysseus. Der verstopfte einst den Gefährten die Ohren, nicht die Augen, um den Sirenen zu widerstehen. „Es sind die Dichter, die es verstehen, uns mit Worten zu verführen.“ Hört, hört. Sven Siedenberg M. TRIPPEL / OSTKREUZ och Anfang der neunziger Jahre waren die Prognosen düster: Das Hörbuch, ein traditionell vernachlässigtes Medium, galt als MinderheitenVergnügen für Senioren und Sehschwache, bestenfalls als Einschlafhilfe für Studienräte. Nennenswerte Umsätze, so viel schien klar, waren von dem akustischen was mehr als Männer, und die unter 35Jährigen – sieh an – lauschen Büchern lieber als die schon sehschwächeren 55-Jährigen. Wer hören will, verzichtet deshalb aber nicht aufs Lesen: Mehr als zwei Drittel der Interessierten, auch das wurde ermittelt, sind zugleich Buchkunden. Vom wachsenden Erfolg der AudioBücher profitiert seit Jahren vor allem Der Hörverlag (DHV). 1993 wurde er von acht renommierten Verlagshäusern (darunter Hanser, Suhrkamp, Klett-Cotta, Kiepenheuer & Witsch, Verlag der Autoren) in München gegründet und brachte es binnen weniger Monate zum Marktführer. Der Hör-Ableger vertreibt Schauspieler-Lesungen von anspruchsvollen Goethe- bis zu horrortriefenden Stephen-King-Texten, philosophische Reden von Theodor W. Adorno ebenso wie Original-Lesungen von Hörbuch-Kundin (in Berlin): Vom Stief- zum Hätschelkind der Branche Literaturvergnügen nicht mehr zu erwarten. Vorbeigeschätzt: Das Hörbuch (neudeutsch: Audio Book) hat sich vom Stiefzum Hätschelkind der Verlagsbranche entwickelt. Inzwischen, so weiß das „Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel“, vertreiben in Deutschland 150 Verlage mehr als 4000 Titel mit einem Gesamtumsatz von etwa 50 Millionen Mark. Die „FAZ“ spricht von einer „angeblichen Renaissance des Hörens“. Und das „Handelsblatt“ jubiliert: „Der Markt boomt.“ Der vermeintlich unerwartete Hör-Trend deutete sich aber bereits – für jeden nachlesbar – vor knapp drei Jahren an: in einer Umfrage des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels. Das damalige Ergebnis: 40 Prozent der erwachsenen Deutschen interessieren sich für Hörbücher, Frauen et310 Ingeborg Bachmann und Elke Heidenreich. Der Umsatz ist ein sorgsam gehütetes Betriebsgeheimnis, soll aber in den vergangenen Jahren Wachstumsraten von über 30 Prozent ausgewiesen haben. Allein Jostein Gaarders „Sofies Welt“ wurde 50 000-mal als CD und Musikkassette verkauft, bei einem Stückpreis von 143 beziehungsweise 98,80 Mark. Zum Vergleich: Die 1997 zum Hörbuch des Jahres gewählte Lesung von Victor Klemperers „Tagebüchern 1933 – 1945“ aus dem Aufbau Verlag brachte es bisher nur auf 5000 verkaufte Exemplare. „Es ist uns gelungen, ein attraktives Programm zu etablieren und es vom Makel der schnöden Zweitverwertung zu befreien“, erklärt DHV-Chefin Claudia Baumhöver, 40, den Erfolg. Auf den hofft aber auch eine zunehmende Zahl von Konkurrenten. In diesem d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Kultur Rückzug ins Iglu Berühmt wurden die britischen Pet Shop Boys als zynisch-coole Pop-Dandys. Auf Deutschlandtour beweisen sie nun Mut zu bizarren Kostümen und zum großen Gefühl. W enn der Pop-Monarch Elton John Andeutung und Verrätselung ist schließbesonders gute Freunde in sein lich essenziell in diesem Job. „Uns bereitet Anwesen bei Windsor lädt, dür- schon das Einkaufen der Garderobe gefen sie mit ihm schon mal in den Stall ge- waltigen Spaß“, sagt Chris Lowe. Wenn sie wollten, könnten die Pet Shop hen. Den hat der Star zu einer Mischung aus Lagerhaus und Museum ausbauen las- Boys den Rest ihrer Tage längst mit Shopsen: „Alles, was wir am Entertainer Elton ping verbringen. Tennant und Lowe gelten John lieben, ist da: der glitzernde Base- als erfolgreichstes britisches Pop-Duo der ball-Anzug und die Captain-Fantastic-Uni- vergangenen zwei Jahrzehnte. Einen Numform, die er in den siebziger Jahren trug“, mer-eins-Hit zu haben, so behaupteten sie schwärmt der regelmäßige Elton-John-Gast mal, sei für sie ungefähr so aufregend, wie eine Tasse Tee zu trinken – und entspreNeil Tennant, „es ist ein Traum.“ Von Freunden wie Elton John und David chend entspannt gehen sie auch heute noch Bowie haben die Briten Neil Tennant, 45, zu Werke, obwohl ihre jüngeren Platten und Chris Lowe, 40, bekannt unter dem Namen Pet Shop Boys, die Neigung übernommen, Popmusik als großen Kostümball zu inszenieren. Sie finden, wirkliche Stars seien zu äußerer Attraktivität verpflichtet. „Wir sind eher unauffällige Typen und dazu noch schüchtern“, sagt Tennant, „also verkleiden wir uns so lange, bis wir einigermaßen aufregend aussehen.“ Verdammt hohe Ansprüche in einer Zeit, in der immer mehr Musiker aussehen wie ihre Fans und auf der Konzertbühne in den gleichen Fitness-Klamotten von Adidas, Nike und Gap herumturnen wie die Menschen im Publikum – und so haben sich die Pet Shop Boys anlässlich ihres neuen Albums „Nightlife“ und einer Welttournee, die sie von dieser Woche an nach Deutschland führt, nochmals mit viel Spaß in Schale geworfen. Fahlweiß haben sie sich die Gesichter gepudert; dazu tragen sie Sonnenbrillen und gelbblonde Struwwelperücken. In dieser Verkleidung ähneln die beiden Briten dem irren Killer der „Halloween“Horror-Filmreihen; Tennant besteht allerdings darauf, das Ganze sei eher als „Hommage an den kleinen Prinzen“ gedacht. „Aber egal – soll sich doch jeder denken, was er will.“ Das Spiel mit Duo Pet Shop Boys: „Wir sind schüchterne Typen“ 314 d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 K. MAZUR POP mehr von Kritikern als von Käufern geschätzt wurden. Tennant hat ein Landhaus im Norden Englands erworben, wo er gern mit Gummistiefeln der Marke „Wellington“ und seinem Yorkshire-Terrier Kevin den Gärtnern bei der Arbeit zuschaut, während Lowe in den vergangenen Jahren fast nonstop zwischen London, New York und Ibiza auf Party-Ausflug war. Eines Tages aber nervte ein Taxifahrer den führerscheinlosen Multimillionär Tennant mit der Frage, wie denn so das Leben als Frührentner sei – und er befand, dass es „überfällig war, mal wieder ein wenig Staub aufzuwirbeln“. Mit ihrem neuen Album und noch mehr mit ihrem Tourneespektakel erinnert das Duo nun zum Jahrtausendende an seine erstklassige Erfolgsbilanz – und will endlich auch jenen oberschlauen Kritikern den Mund stopfen, die den beiden Pop-Dandys bis heute die Anerkennung als StilPioniere der jüngeren Musikgeschichte verweigern. Damit schon die Bühne fabelhaft aussieht, hat der gelernte Architekt Chris Lowe die Star-Architektin Zaha Hadid engagiert: „Jeder Auftritt soll wirken wie ein Fest, das wir alle paar Jahre für unsere besten Freunde geben“, sagt Lowe. Deshalb steht da eine große Treppe, auf der sie als Gastgeber auf und ab stolzieren können, und darunter ein Iglu, in das sie sich verkriechen, wenn ihnen der ganze Trubel unheimlich wird. Ordentlich geklotzt wird nicht nur bei den Kostümwechseln, sondern auch bei der musikalischen Ausstattung. Mit Band, schwarzem Gospelchor und einer Matrosengarde im Rücken singt Neil Tennant die Hits von „West End Girls“ bis „Go West“ mit einer Wehmut, die besagt, dass es so schön nicht bleiben kann und vielleicht nie wieder wird. Zwischendurch spielt Tennant ganz lässig den einen oder anderen der gemeinsamen Disco-Hits allein zur akustischen Gitarre. Die größte Leidenschaft aber zeigen die Briten bei der Verneigung vor ihrem großen Idol, der im März dieses Jahres gestorbenen britischen Sängerin Dusty Springfield. Tennant und Lowe hatten ihr in den späten achtziger Jahren zu einem so spektakulären wie würdevollen Comeback verholfen, und bei der Beerdigung hielt Tennant die Grabrede. ALL ACTION / ACTION PRESS Auch sonst ist die Begeisterung, mit der die Pet Shop Boys das Spätwerk von unter Einfallsnot leidenden Pop- und Rocksängerinnen aufpolieren, längst legendär. Tina Turner haben sie ebenso betreut wie Liza Minnelli, und selbst das von der britischen Presse oft verhöhnte ewige Pop-Mädchen Kylie Minogue ließen sie auf der neuen Pet-Shop-Boys-Platte mitsingen und leisten Beistand beim kommenden MinogueWerk. Tennant, Lowe mit Pop-Diva Turner Begeisterung für Sängerinnen in Not Höchst grimmig reagierten Tennant und Lowe, als der britische Autor Roger Scruton vergangenes Jahr in seinem Buch „An Intelligent Person’s Guide to Modern Culture“ lästerte, „dass der Beitrag der Pet Shop Boys zu ihrer eigenen Musik eher minimal“ sei. Nach eigener Aussage haben die beiden Stars Scruton wegen Rufschädigung verklagt, das Verfahren laufe noch; schließlich gelten die Pet Shop Boys anderen Kritikern mittlerweile als Komponisten, deren Werk dem von John Lennon und Paul McCartney ebenbürtig sei. Berüchtigt sind Tennant und Lowe allerdings auch ihrerseits wegen ihrer Neigung zu hämischen Kommentaren über die Pop-Konkurrenz: „Natürlich habe ich stets behauptet, dass U2 und Police das Schlimmste sind, was ich mir vorstellen kann“, sagt Tennant, „aber so böse war das nie gemeint. Ich gestehe: Einige PoliceHits habe ich mir heimlich sogar gern und immer wieder angehört.“ Klingt ganz so, als seien die Pet Shop Boys milde geworden und hätten sich vom alten, eleganten Zynismus verabschiedet. Was etwa hat es zu bedeuten, dass im Booklet der neuen CD klein gedruckt vermerkt ist, der Tonträger sei „Carbon Neutral“ hergestellt, also nicht umweltbedenklich? Auf Nachfrage fühlen sich die Künstler ertappt: „Wir wissen auch nicht, was das bedeutet. Müssten wir im Lexikon nachschlagen“, sagt Lowe. „Aber wir möchten uns auf keinen Fall als Vertreter einer guten Sache oder als Retter der Regenwälder hervortun. Diesen Teil der Show überlassen wir lieber anderen.“ Christoph Dallach d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 SERVICE Leserbriefe SPIEGEL-Verlag, Brandstwiete 19, 20457 Hamburg Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: leserbriefe@spiegel.de Fragen zu SPIEGEL-Artikeln Telefon: (040) 3007-2687 Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: artikel@spiegel.de Nachbestellung von SPIEGEL-Ausgaben Telefon: (040) 3007-2948 Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: nachbestellung@spiegel.de Nachdruckgenehmigungen für Texte und Grafiken: Deutschland, Österreich, Schweiz: Telefon: (040) 3007-2869 Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: nachdrucke@spiegel.de übriges Ausland: New York Times Syndication Sales, Paris Telefon: (00331) 47421711 Fax: (00331) 47428044 für Fotos: Telefon: (040) 3007-2869 Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: nachdrucke@spiegel.de DER SPIEGEL auf CD-Rom / SPIEGEL TV-Videos Telefon: (040) 3007-2485 Fax: (040) 3007-2826 E-Mail: service@spiegel.de Abonnenten-Service SPIEGEL-Verlag, Postfach 10 58 40, 20039 Hamburg Reise/Umzug/Ersatzheft Telefon: (040) 411488 Auskunft zum Abonnement Telefon: (040) 3007-2700 Fax: (040) 3007-2898 E-Mail: aboservice@spiegel.de Abonnenten-Service Schweiz: DER SPIEGEL, Postfach, 6002 Luzern, Telefon: (041) 3173399 Fax: (041) 3173389 E-Mail: leserservice@dcl.ch Abonnement für Blinde Deutsche Blindenstudienanstalt e. V. Telefon: (06421) 606267 Fax: (06421) 606269 Abonnementspreise Inland: Zwölf Monate DM 260,– Studenten Inland: Zwölf Monate DM 182,– Schweiz: Zwölf Monate sfr 260,– Europa: Zwölf Monate DM 369,20 Außerhalb Europas: Zwölf Monate DM 520,– Halbjahresaufträge und befristete Abonnements werden anteilig berechnet. Abonnementsaufträge können innerhalb einer Woche ab Bestellung mit einer schriftlichen Mitteilung an den SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, Postfach 10 58 40, 20039 Hamburg, widerrufen werden. Zur Fristwahrung genügt die rechtzeitige Absendung. ✂ Abonnementsbestellung bitte ausschneiden und im Briefumschlag senden an SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, Postfach 10 58 40, 20039 Hamburg. Oder per Fax: (040) 3007-2898. Ich bestelle den SPIEGEL frei Haus für DM 5,– pro Ausgabe mit dem Recht, jederzeit zu kündigen. Zusätzlich erhalte ich den kulturSPIEGEL, das monatliche Programm-Magazin. Das Geld für bezahlte, aber noch nicht gelieferte Hefte bekomme ich zurück. 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Autoren, Reporter: Wolfram Bickerich, Dr. Thomas Darnstädt, Matthias Matussek, Hans-Joachim Noack, Hartmut Palmer; Berliner Büro Leitung: Jürgen Leinemann, Hajo Schumacher (stellv.). Redaktion: Petra Bornhöft, Susanne Fischer, Martina Hildebrandt, Jürgen Hogrefe, Horand Knaup, Dr. Paul Lersch, Christoph Mestmacher, Alexander Neubacher, Dr. Gerd Rosenkranz, Harald Schumann, Alexander Szandar D E U T S C H L A N D Leitung: Clemens Höges, Ulrich Schwarz. Redaktion: Klaus Brinkbäumer, Annette Bruhns, Christian Habbe, Doja Hacker, Carsten Holm, Ulrich Jaeger, Sebastian Knauer, Ansbert Kneip, Udo Ludwig, Thilo Thielke, Andreas Ulrich. Autoren, Reporter: Jochen Bölsche, Henryk M. Broder, Gisela Friedrichsen, Gerhard Mauz, Norbert F. Pötzl, Bruno Schrep; Berliner Büro Leitung: Heiner Schimmöller, Georg Mascolo (stellv.). 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E-Mail: bildred@spiegel.de G R A F I K Martin Brinker, Ludger Bollen; Cornelia Baumermann, Renata Biendarra, Tiina Hurme, Cornelia Pfauter, Julia Saur, Michael Walter, Stefan Wolff L AYO U T Rainer Sennewald, Wolfgang Busching, Sebastian Raulf; Christel Basilon-Pooch, Katrin Bollmann, Regine Braun, Volker Fensky, Ralf Geilhufe, Petra Gronau, Ria Henning, Barbara Rödiger, Doris Wilhelm, Reinhilde Wurst P R O D U K T I O N Wolfgang Küster, Sabine Bodenhagen, Frank Schumann, Christiane Stauder, Petra Thormann, Michael Weiland T I T E L B I L D Thomas Bonnie; Maria Hoffmann, Stefan Kiefer, Oliver Peschke, Monika Zucht REDAKTIONSVERTRETUNGEN DEUTSCHLAND ^ Zahlung nach Erhalt der Jahresrechnung ^ Ermächtigung zum Bankeinzug von 1/4jährlich DM 65,– Bankleitzahl Brandstwiete 19, 20457 Hamburg, Telefon (040) 3007-0 · Fax-2246 (Verlag), -2247 (Redaktion) SP99-003 B E R L I N Friedrichstraße 79, 10117 Berlin; Deutsche Politik, Wirtschaft Tel. 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(0721) 22737 M Ü N C H E N Dinah Deckstein, Wolfgang Krach, Heiko Martens, Bettina Musall, Stuntzstraße 16, 81677 München, Tel. (089) 4180040, Fax 41800425 S C H W E R I N Florian Gless, Spieltordamm 9, 19055 Schwerin, Tel. (0385) 5574442, Fax 569919 S T U T T G A R T Jürgen Dahlkamp, Katharinenstraße 63a, 73728 Esslingen, Tel. (0711) 3509343, Fax 3509341 REDAKTIONSVERTRETUNGEN AUSLAND B A S E L Jürg Bürgi, Spalenring 69, 4055 Basel, Tel. (004161) 2830474, Fax 2830475 B E L G R A D Renate Flottau, Teodora Drajzera 36, 11000 Belgrad, Tel. (0038111) 669987, Fax 3670356 B R Ü S S E L Dirk Koch; Winfried Didzoleit, Sylvia Schreiber, Bd. Charlemagne 45, 1000 Brüssel, Tel. (00322) 2306108, Fax 2311436 I S T A N B U L Bernhard Zand, Be≠aret Sokak No. 19/4, Ayazpa≠a, 80040 Istanbul, Tel. (0090212) 2455185, Fax 2455211 J E R U S A L E M Annette Großbongardt, 16 Mevo Hamatmid, Jerusalem Heights, Apt. 8, Jerusalem 94593, Tel. 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(008610) 65323541, Fax 65325453 P R A G Jilská 8, 11000 Prag, Tel. (004202) 24220138, Fax 24220138 R I O D E J A N E I R O Jens Glüsing, Avenida São Sebastião 157, Urca, 22291-070 Rio de Janeiro (RJ), Tel. (005521) 2751204, Fax 5426583 R O M Hans-Jürgen Schlamp, Largo Chigi 9, 00187 Rom, Tel. (003906) 6797522, Fax 6797768 S A N F R A N C I S C O Rafaela von Bredow, 3782 Cesar Chavez Street, San Francisco, CA 94110, Tel. (001415) 6437550, Fax 6437530 S I N G A P U R Jürgen Kremb, 15, Fifth Avenue, Singapur 268779, Tel. (0065) 4677120, Fax 4675012 T O K I O Dr. Wieland Wagner, Chigasaki-Minami 1-3-5, Tsuzuki-ku, Yokohama 224, Tel. (008145) 941-7200, Fax 941-8957 WA R S C H A U Andrzej Rybak, Krzywickiego 4/1, 02-078 Warschau, Tel. (004822) 8251045, Fax 8258474 WA S H I N G T O N Dr. Stefan Simons, Michaela Schießl, 1202 National Press Building, Washington, D.C. 20 045, Tel. (001202) 3475222, Fax 3473194 W I E N Walter Mayr, Herrengasse 6-8/81, 1010 Wien, Tel. (00431) 5331732, Fax 5331732-10 D O K U M E N T A T I O N Dr. Dieter Gessner, Dr. Hauke Janssen; Jörg- Hinrich Ahrens, Sigrid Behrend, Dr. Helmut Bott, Lisa Busch, Heiko Buschke, Heinz Egleder, Dr. Herbert Enger, Johannes Erasmus, Cordelia Freiwald, Silke Geister, Dr. Sabine Giehle, Thorsten Hapke, Hartmut Heidler, Gesa Höppner, Stephanie Hoffmann, Christa von Holtzapfel, Bertolt Hunger, Joachim Immisch, Michael Jürgens, Ulrich Klötzer, Angela Köllisch, Anna Kovac, Sonny Krauspe, Peter Kühn, Peter Lakemeier, Hannes Lamp, Marie-Odile Jonot-Langheim, Michael Lindner, Dr. Petra LudwigSidow, Rainer Lübbert, Sigrid Lüttich, Rainer Mehl, Ulrich Meier, Gerhard Minich, Wolfhart Müller, Bernd Musa, Werner Nielsen, Margret Nitsche, Thorsten Oltmer, Anna Petersen, Peter Philipp, Katja Ploch, Axel Pult, Ulrich Rambow, Thomas Riedel, Constanze Sanders, Petra Santos, Maximilian Schäfer, Rolf G. Schierhorn, Ekkehard Schmidt, Thomas Schmidt, Andrea Schumann-Eckert, Margret Spohn, Rainer Staudhammer, Anja Stehmann, Dr. Claudia Stodte, Stefan Storz, Rainer Szimm, Dr. Wilhelm Tappe, Dr. Eckart Teichert, Dr. Iris Timpke-Hamel, Heiner Ulrich, Hans-Jürgen Vogt, Carsten Voigt, Peter Wahle, Ursula Wamser, Peter Wetter, Andrea Wilkens, Holger Wilkop, Karl-Henning Windelbandt B Ü R O D E S H E R A U S G E B E R S Irma Nelles I N F O R M A T I O N Heinz P. Lohfeldt; Andreas M. Peets, Kirsten Wiedner, Peter Zobel K O O R D I N A T I O N Katrin Klocke L E S E R - S E R V I C E Catherine Stockinger S P I E G E L O N L I N E (im Auftrag des SPIEGEL: a + i art and information GmbH & Co.) Redaktion: Hans-Dieter Degler, Ulrich Booms N A C H R I C H T E N D I E N S T E AP, dpa, Los Angeles Times / Washington Post, New York Times, Reuters, sid, Time Nachdruck und Angebot in Lesezirkeln nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages. Das gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken und Mailboxes sowie für Vervielfältigungen auf CD-Rom. SPIEGEL-VERLAG RUDOLF AUGSTEIN GMBH & CO. KG Verantwortlich für Vertrieb: Ove Saffe Verantwortlich für Anzeigen: Christian Schlottau Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 53 vom 1. Januar 1999 Postbank AG Hamburg Nr. 7137-200 BLZ 200 100 20 Druck: Gruner Druck, Itzehoe V E R L A G S L E I T U N G Fried von Bismarck M Ä R K T E U N D E R L Ö S E Werner E. Klatten G E S C H Ä F T S F Ü H R U N G Rudolf Augstein, Karl Dietrich Seikel DER SPIEGEL (USPS No. 0154-520) is published weekly. The subscription price for the USA is $310 per annum. K.O.P.: German Language Publications, Inc., 153 South Dean Street, Englewood, NJ 07631. Telephone: 1-800-457-4443. e-mail: info @ glpnews.com. Periodicals postage is paid at Englewood, NJ 07631, and at additional mailing offices. Postmaster: Send address changes to: DER SPIEGEL, German Language Publications, Inc., 153 South Dean Street, Englewood, NJ 07631. d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 Chronik BERLINER FESTE „Bambi“-Verleihung und erster Bundespresseball in der Hauptstadt. SONNTAG, 14. 11. mit hat die Industrie ihren Beitrag von vier auf fünf Milliarden Mark erhöht. Unternehmenssprecher betonen, dies sei das letzte Angebot. Schatzmeister Walther Leisler Kiep wird zehn Stunden von der Augsburger Staatsanwaltschaft vernommen. Er bestreitet Detailwissen über Geldtransfers. Der Haftbefehl gegen ihn bleibt bestehen. MAUERSCHÜSSE Politiker mehrerer Par- FLUGZEUGABSTURZ US-Behörden konzen- teien befürworten eine Begnadigung des letzten Staats- und Parteichefs der DDR, Egon Krenz. trieren sich auf die Annahme, ein Pilot habe die EgyptAir-Maschine absichtlich abstürzen lassen. Ägyptische Ermittler zweifeln an dieser Theorie. MONTAG, 15. 11. HANDEL China wird in die Welthandelsor- ganisation (WTO) aufgenommen, 13 Jahre war über den Beitritt gesprochen worden. KONZERNE Der Frankfurter Bauriese Phi- lipp Holzmann räumt überraschend eine Milliarden-Überschuldung ein. DIENSTAG, 16. 11. DONNERSTAG, 18. 11. OPERNHÄUSER Generalmusikdirektor Christian Thielemann gibt bekannt, dass er aus Verärgerung über den künftigen Intendanten Udo Zimmermann und den Berliner Kultursenat seinen Vertrag als Generalmusikdirektor nicht verlängern wird. WIRTSCHAFT Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung stellt seine jüngste Prognose vor. Die Wirtschaft wird nach Ansicht der „fünf Weisen“ im kommenden Jahr um 2,7 Prozent wachsen, der Arbeitsmarkt werde davon aber kaum profitieren. Die Arbeitslosenquote werde minimal sinken, von 10,5 auf 9,9 Prozent. SPORT Die mehrmalige Grand-Slam-Siegerin Steffi Graf nimmt im New Yorker Madison Square Garden vor 12 000 Zuschauern Abschied vom Profi-Tennis. MITTWOCH, 17. 11. ZWANGSARBEITER-STREIT Bundesregierung und deutsche Industrie bieten NS-Opfern insgesamt acht Milliarden Mark an. Da- MONTAG 23.00 – 23.35 UHR SAT 1 SPIEGEL TV REPORTAGE Feste Feiern! – Die Partymacher PARTEISPENDENAFFÄRE Der Ex-CDU- koalition kündigen an, in Kürze ein Atom-Ausstiegsgesetz vorlegen zu wollen – notfalls auch gegen den Willen der Kraftwerksbetreiber. ATOMAUSSTIEG Vertreter der Regierungs- SPIEGEL TV FREITAG, 19. 11. SPIEGEL TV SAMSTAG, 13. 11. 13. bis 19. November Partygäste Ihr Kapital sind dicke Adressbücher und exzellente Kontakte zu den Wichtigen und Wichtigtuern: Dutzende von so genannten Event-Managern profitieren von der boomenden Party-Szene. Beobachtungen hinter den Kulissen. DONNERSTAG 22.05 – 23.00 UHR VOX SPIEGEL TV EXTRA FUSIONEN Die britische Mobilfunkfirma Der Luxustempel Vodafone Airtouch hat ihr ursprüngliches Übernahmeangebot für Mannesmann um 38 Milliarden Mark auf 243 Milliarden erhöht. Mannesmann zeigt sich unbeeindruckt. Sowohl die Aktien von Vodafone als auch von Mannesmann sinken. Durchschnittlich 80 000 Kunden stürmen täglich das KaDeWe am Berliner Wittenbergplatz. FREITAG 22.10 – 0.15 UHR VOX TSCHETSCHENIEN-KONFLIKT In der Ab- SPIEGEL TV schlusserklärung des Gipfeltreffens der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) hat Russland erstmals eine Vermittlerrolle der OSZE für eine politische Lösung der Tschetschenienkrise anerkannt. Ungeachtet dessen lehnt der russische Außenminister Igor Iwanow eine Vermittlung ab. Stalingrad – Anatomie einer Entscheidungsschlacht THEMENABEND Im Spätsommer 1942 dringen die Angriffsspitzen der deutschen 6. Armee in die von der Roten Armee erbittert verteidigte Stadt ein. Im November werden die Angreifer eingeschlossen. SAMSTAG 22.15 – 0.20 UHR VOX In der Nacht zum Donnerstag prasselte ein kosmischer Staubsturm auf die Erdatmosphäre nieder – er erzeugte tausende von Sternschnuppen. SPIEGEL TV SPECIAL Die letzte Fahrt der „Bismarck“ Dokumentation über das einst größte deutsche Schlachtschiff, den Einsatz im Nordatlantik, seine Versenkung und die Suche nach dem Wrack. SONNTAG 22.50 – 23.40 UHR RTL SPIEGEL TV MAGAZIN REUTERS Mobiltelefone unter Verdacht – wie gefährlich sind Handys wirklich? Brandstifter im Staatsdienst – ein V-Mann des Verfassungsschutzes packt aus; Die Autobahn der Albaner-Mafia – wie gestohlene deutsche Limousinen in Tirana landen. d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 317 Register Paul Bowles, 88. Bekannt wurde er in GASTAUD / SIPA PRESS Deutschland eigentlich nur mit seinem Roman „Der Himmel über der Wüste“ (1949), und auch das erst sehr verspätet durch die erfolgreiche Verfilmung von Bernardo Bertolucci aus dem Jahre 1990 – wobei der alte Schriftsteller als Kommentator der Geschichte eindrucksvoll ins Bild kam. Bowles, Sohn eines New Yorker Zahnarztes, begann seine künstlerische Laufbahn als Komponist, er schrieb vor allem Bühnen- und Filmmusik. Seit 1947 lebte er in Tanger, das er zuvor auf einer seiner vielen Reisen kennen gelernt hatte. Marokko und die Wüste spielten fortan eine große Rolle in den Romanen und Erzählungen, zu denen ihn vor allem seine Frau Jane angeregt hatte, die 1973 starb. Schreiben verlor danach für ihn an Interesse – da er ihr nicht mehr vorlesen könne, sagte er. Paul Bowles starb am vergangenen Donnerstag in Tanger. Daniel Nathans, 71. Dem Sohn russischjüdischer Immigranten verdankt die moderne Genforschung ihr wichtigstes Werk318 d e r Karl Feuerstein, 59. Der Mannheimer, der 1955 als Lehrling bei Daimler-Benz angefangen hatte, bewegte in dem Konzern mehr als mancher Vorstand. Dass der Abbau von über 30 000 Arbeitsplätzen ohne Entlassungen vollzogen wurde, dass die A-Klasse von Mercedes-Benz in Rastatt gebaut wird, sind nur einige der Erfolge Feuersteins, der die letzten zehn Jahre als Betriebsratsvorsitzender wirkte. Ein Klassenkämpfer war Feuerstein nie. Einfluss nahm er im direkten Gespräch mit den Vorstandsvorsitzenden, mit Edzard Reuter und Jürgen Schrempp. Doch dabei scheute er deutliche Worte nicht. Als Schrempp die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall kippen wollte, drohte Feuerstein mit Arbeitskampf („Auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil“) und stoppte den Vorstoß. Karl Feuerstein starb vergangenen Dienstag. s p i e g e l AP ULLSTEIN BILDERDIENST Horst P. Horst, 93. Für mehrere Generationen von Mode- und Werbefotografen war sein Stil, die Art, seine Motive auszuleuchten, sein „dramatic lighting“ maßgebend. 1930 aus Deutschland nach Paris gekommen, wollte er eigentlich bei Le Corbusier Architektur studieren, machte dann aber als „Vogue“-Fotograf und Meister der Oberfläche Fotogeschichte. Die Berühmten, Schönen und Reichen wie Maria Callas, Greta Garbo, Marlene Dietrich, Gertrude Stein, Andy Warhol, den Herzog von Windsor, er fotografierte sie alle – vom Studium der antiken Statuen inspiriert – in der kühlen Strenge des Klassizismus, so dass sie so unnahbar und doch verführerisch wirkten wie ein Stillleben. Horst P. Horst starb vergangenen Donnerstag in Palm Beach Gardens/Florida. Robert Kramer, 60. Der Geist der amerikanischen Jugendrevolte und der AntiVietnamkriegs-Bewegung haben sein Werk geprägt: Mit agitatorischen Kurzfilmen und spröden Bildberichten, die sich auf der Grenze zwischen Dokumentarischem und Fiktivem hielten, war er ein Chronist seiner Generation. Von 1980 an lebte Kramer in Frankreich, wo er als intellektueller Rebell größere Sympathien als in seiner Heimat genoss, zeitweise auch in Portugal (dort war er an dem Film „Der Stand der Dinge“ von Wim Wenders beteiligt), doch über Festivals und die Zirkel von Gleichgestimmten hinaus hatte sein Werk kaum Wirkung: auf Distanz respektiert als Verkörperung der heimatlosen USLinken, blieb er doch immer ziemlich allein. Robert Kramer starb am 10. November in Rouen (Frankreich) an Meningitis. 4 7 / 1 9 9 9 AP zeug. Mit natürlichen Gen-Scheren, so genannten Restriktionsenzymen, gelang es dem Mediziner und Molekularbiologen 1969 erstmals, Erbgut punktgenau zu zerlegen. Die Schneidetechnik ermöglicht unter anderem die Entschlüsselung des menschlichen Erbguts. 1978 erhielt der Wissenschaftler den Nobelpreis für Medizin. Daniel Nathans, der seit 1981 Chef der Fakultät für Molekularbiologie und Genetik an der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore war, starb dort am vergangenen Dienstag an Leukämie. Gestorben Werbeseite Werbeseite Personalien Bill Clinton, 53, US-Präsident, und Ehefrau Hillary, 52, sind in der Gunst der Ameri- Donald Trump, 53, amerikanischer Immobilien-Mogul und selbst ernannter Präsidentschaftskandidat, absolvierte am vergangenen Montag in Miami seine außenpolitische Jungfernrede. Vor einer Menge jubelnder Exil-Kubaner verriet er, was er für den Máximo Líder Castro übrig habe: „Persönlich nur zwei Worte: ,Adios, Amigo!‘“. Dabei vergaß der Casino- und Wolkenkratzer-Besitzer nicht hinzuzufügen, das erste Hotel im freien Kuba sei seins. Die Kubaner schrien: „Viva Donald Trump!“ Seine Mitbewer320 Branson auf Werbetour Richard Branson, 49, britischer Konzernherr (Virgin Records, Virgin Airways), fuhr dieser Tage umgeben von Models auf einem Pritschenwagen durch London. Der Wagen war verglast und als gigantisches Handy gestaltet, die Mädchen waren splitternackt, räkelten sich in roten Kissen und schienen zu telefonieren. Der Multimilliardär und gescheiterte Ballonfahrer, der sich zu Werbezwecken auch schon mal selber bloß zu einem nackten Mann ins Bett gelegt hat, wollte mit dieser Fahrt auf ein weiteres Betätigungsfeld aufmerksam machen, auf seine neue Mobilfunkfirma Virgin Mobile. Der nicht eben zimperliche „Mirror“ reagierte britisch. „Du unanständiger Junge“, schimpfte das Massenblatt, „das ist ein bejammernswerter, elender Versuch, mit einem völlig überflüssigen turbogeilen Foto in die Schlagzeilen zu kommen, aber mach weiter so.“ Schrieb’s und druckte ganzseitig ein Foto von Bransons Fuhre. Jacques Chirac, 66, französischer Staatspräsident, bestätigte auf einer Provinzreise wieder einmal, dass er ein guter Esser und Biertrinker ist. Bei einer Begegnung mit dem Volk von Marseille anlässlich des 2600. Geburtstags der Hafenstadt beschied der Gourmand einen über den vermeintlich zu niedrigen Brotpreis lamentierenden Bäcker unter tosendem Beifall: „Wenn alle Franzosen so viel Brot essen würden wie ich, würden Sie ein Vermögen machen.“ Für die anschließende Visite in dem Marseiller Experimentierviertel für friedliche Koexistenz von Immigranten hatte die multirassische „Vereinigung der Frauen jeglicher Herkunft“ (AFDTO) ein von Algerierinnen, Afrikanerinnen und Spanierinnen angerührtes präsidiales Festmahl vorbereitet: AP F. OSSENBRINK Rolf Schwanitz, 40, aus Jößnitz stammender SPD-Staatsminister und Beauftragter für die neuen Bundesländer, misstraut der Sicherheit im Bundeskanzleramt. Seinen Laptop mit den politisch wichtigen Daten wollte der Ost-Politiker nächtens, Passwort hin oder her, nicht ungeschützt im Amt lassen, das provisorisch im Gebäude des ehemaligen Staatsrats der DDR untergebracht ist. Auch der Hausdienst schien ihm nicht sicher genug. So ersann der gelernte Diplomjurist eine mechanische Verschlussvorrichtung für die Festplatte. Gelegentlich Schwanitz braucht Schwanitz zur Aktivierung des Computers nun die Hilfe seiner Büroleiterin – wenn er vergessen hat, wo er den Schlüssel für das hochgesicherte Hightech-Gerät versteckt hat. BULLS PRESS kaner weiter abgesunken. Bei einer Umfrage des Boulevard-Blatts „New York Post“, wer die schlimmsten Vertreter des Menschengeschlechts in den letzten 1000 Jahren waren, erhielten die beiden geradezu bestürzende Ergebnisse. Bill Clinton sei, so votierten die Leser, nach Adolf Hitler die zweitschlimmste Gestalt des ausgehenden Jahrtausends. Auch Gattin Hillary, derzeitige Konkurrentin von New Yorks Bürgermeister Rudolph Giuliani um den Posten des Senators für die Weltstadt, kommt kaum besser weg. Sie wurde nach den Massenmördern Stalin, Pol Pot und Josef Mengele auf den sechsten Rang verwiesen, noch vor Saddam Hussein und dem Organisator der Transporte von Juden in die Vernichtungslager, Adolf Eichmann. An dieser „Millennium-Umfrage“ hatten sich 19 184 Leser beteiligt. Trump, Knauss d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9 ber wusste er zu deklassieren: „Machten sie Milliarden Dollar in kurzer Zeit? Nein. Können sie das überhaupt? No.“ Und selbst seine verflossenen Ehefrauen (zwei) sowie auch die neueste Freundin an seiner Seite, Melania Knauss, 26, mit der er gelegentlich öffentlich Monopoly spielt, wusste Trump für seine Bewerbung um das Präsidentenamt einzusetzen: „Der einzige Unterschied zwischen mir und den anderen Kandidaten ist, dass ich ehrlicher bin und die schöneren Frauen habe.“ Paella. AFDTO-Präsidentin Marie-Rose Di Vita informierte die Medien: „Er hat gegessen für drei.“ Nur beim Runterspülen des spanischen Nationalgerichts führte der Elysée-Palast dann doch diskret Regie: Die Damen mussten den bereits georderten Lieblingstrunk Chiracs, mexikanisches Corona-Bier, durch elsässisches Kronenbourg 1664 ersetzen. Dass der Bierfreund mit sichtlichem Behagen schlürfte, überraschte Insider nicht: Aus patriotischen Rücksichten hebt Chirac seit seinem Einzug in den Elysée die französische grüne Flasche, lässt sie jedoch vorher von seinen Leibwächtern heimlich mexikanisch umfüllen. November zu hören, ist „ein Kollege aus dem ,heute journal‘“. Übrigens: Der Glückliche ist Berliner und heißt René. Marlène Laffond, 26, französische Verkäuferin, siegte in einem republikanischen Schönheitswettbewerb über das Top-Model Laetitia Casta, 21. Künftig wird sie statt der korsischen Schauspielerin als Büste der na- AFP / DPA Anja Charlet, 30, Nachrichtensprecherin beim ZDF-„heute journal“, erhielt vergangenen Donnerstag eine späte Liebeserklärung von der „FAZ“. Da bedauerte ein Redakteur mit dem Kürzel L. J., dass „alle Liebesbriefe, die sie von ihren Fans bekam, als sie noch Anja Wolf hieß“, nun „umsonst“ gewesen seien. Was der Redakteur nicht mitbekommen hatte: Bereits eineinhalb Wochen vorher, am 6. November, hatte das „heute journal“ die Heirat der Sprecherin verkündet. Nun war der „FAZ“Mann in Not: „Ein paar Tage hatte man das ,heute journal‘ geschwänzt, und als man wieder einschaltete, war alles anders; man wollte seinen Ohren kaum trauen, als Wolf von Lojewski zu dem vertrauten Gesicht mit dem neuen Namen überleitete.“ In Erfüllung geht wohl „der Wunsch“ des enthusiastischen Fans von der „FAZ“, „dass die rotblonde Frau, die die Nachrichten mit der brüchigsten, chansonhaftesten Stimme der Welt verlesen kann, den Sender nicht verlässt“. Warum sollte sich das Ehepaar, kaum getraut, schon wieder trennen? Anja Charlets Ehemann, so war am 6. Laffond A. KIRCHHOF / ACTION PRESS tionalen „Marianne“ das Rathaus ihres Heimatdorfs Roulans bei Besançon zieren. Den Sieg verdankt die künftige Roulans-Marianne einem Zornesausbruch des Bürgermeisters ihrer 1005-Seelen-Kommune, Georges Mailley, 73. Der „maire“ hatte aus Protest dagegen, dass für die landesweite Wahl des Revolutionssymbols – frühere Modelle: Brigitte Bardot, Catherine Deneuve – nur Showstars aufgestellt worden waren, einen lokalen Marianne-Wettbewerb ausgeschrieben. „Der Erfolg warf mich um“ – so Monsieur le Maire: 38 Kandidatinnen zwischen 12 und 61 Jahren stellten sich, die Wahlbeteiligung erreichte den Lokalrekord von 63 Prozent. Roulans’ Marlène-Marianne wird nun, im Unterschied zu den in Massenproduktion in der Gipserei des Pariser Louvre gefertigten Vorgängerinnen, in Granit gehauen. Der lokale Amateur-Skulpteur Gilbert Moigeon, 70, hat sein Künstler-Urteil bereits fertig: „Nichts gegen die Casta, aber Marlène ist hinreißender.“ Christine Bergmann, 60, Bundesfamilienministerin (SPD), geriet beim Kokettieren mit dem Alter an die Falsche. Vergangene Woche besuchte die Politikerin eine Grundschule in Berlin-Mitte und überreichte den ersten so genannten Kinderrechtekoffer stellvertretend für alle Kinder der Republik. Auch eine Geburtstagstorte aus Anlass des 10. Jahrestages der Uno-Kinderrechtskonvention wurde aufgefahren, bestückt mit zehn brennenden Kerzen. „Nun helft ’ner alten Frau mal beim Auspusten“, bat die Ministerin. Doch auf solche Töne ließ sich die siebenjährige Miriam gar nicht erst ein: „Von wegen alte Frau. Du hast doch eine viel größere Lunge als wir.“ Charlet 321 Hohlspiegel Rückspiegel Aus der „Rhein-Neckar-Zeitung“: „Ist Berti Vogts zu anspruchsvoll geworden? Zu schleckig wie die schönen Frauen unserer Jugend, die immer nach dem Nächsten und noch Besseren guckten, und nun ziehen an ihren einst erotischsten Stellen die Spinnen Fäden?“ Zitate Aus der „Süddeutschen Zeitung“: „Der Vater von Eva-Maria Fitze gilt in der Szene als klassische Eiskunstlaufmutter.“ Aus der „Bild-Zeitung“ Aus den „Badischen Neuesten Nachrichten“ Aus der Tageszeitung „15 Uhr aktuell“: „In den nächsten zwei Jahren sollen Studien an menschlichen Versuchstieren die Ergebnisse bestätigen.“ Aus der „Hessisch-Niedersächsischen Allgemeinen“: „Das Bad Wildunger PET (Positron Emissions Tomograf) ist – nach Hamburg und Frankfurt – das bisher dritte in Hessen arbeitende Gerät.“ Peter Gauweiler in der „Süddeutschen Zeitung“ über Franz Josef Strauß und seinen Kritiker Rudolf Augstein: Franz Josef Strauß und seine Kritiker. Von der Parteien Gunst und Hass verzehrt oder so ähnlich. War es Liebe? Oder Hass? Oder Hassliebe? Ein Verhältnis „in tödlichem Clinch“, wie Rudolf Augstein meinte. Umgebracht haben sich diese Gegenkameraden allerdings nie und wenn doch, dann nur so, dass der gerade Niedergestreckte sofort wieder aufstand und weiter tat. Wer in der Nachkriegs-Publizistik darauf aus war, in der Politik Heuchelei und Gewäsch zu entlarven, konnte Straußens Maßstäben an sprachlicher Klarheit und seinem unbedingten Willen, verstanden zu werden, ohnehin den Respekt nie versagen. Der irritierte Augstein über einen Privatbesuch von Strauß bei ihm zu Hause: „Andererseits war er aber auch derart präsent, dass man sagte: Der ist es!“ Michael Jürgs in der „Süddeutschen Zeitung“ in seinem Porträt des früheren Kohl-Beraters Andreas Fritzenkötter über einen Brief Rudolf Augsteins an Helmut Kohl: Da erinnerte sich der ehemalige SpinDoctor an eine schöne Geschichte. Gedenkfeier Adenauer in Rhöndorf. Kohl studiert die Schleifen an den Kränzen. Bei der von Rudolf Augstein stutzt er und sagt, na, von dem werde ich wohl keinen bekommen. Eine Woche später ruft der Kanzler seinen Fritzi und zeigt ihm einen Brief: „Lieber Kanzler, doch, Sie kriegen Ihren Kranz. Rudolf Augstein.“ Das hat den Kohl beeindruckt, sagt Fritzenkötter, das hat ihm gefallen. Die „Berliner Zeitung“ zum SPIEGELBericht „Europa – Tatort eines Krimis“ über Schlamperei und Milliardenverschwendung, die der EU-Rechnungshof enthüllte (Nr. 45(/1999): Aus der „Augsburger Allgemeinen“ Aus einer Beilage der „Allgäuer Zeitung“: „1968 ein kurzer Hoffnungsschimmer: Gewaltsam beenden Sowjettruppen den ,Prager Frühling‘ und marschieren in der damaligen ∏SSR ein.“ Aus dem Kreta-Reiseführer des Nelles Verlages, München: „Kreta hat alles miterlebt – den Untergang des Minoer-Reiches, den Aufstieg Venedigs, die Islamisierung durch die Türken, die Brutalität der Nazis und den gegenwärtigen Tourismus – nichts blieb der Insel erspart.“ 322 Die Europa-Abgeordneten fühlten sich auf den Schlips getreten. Seit Jahren schon versuchen sie, die EU-Kommission und die anderen europäischen Institutionen dazu zu bekommen, bei wichtigen Ereignissen zuerst das Parlament zu unterrichten und dann erst die Presse einzuberufen. Dass das Magazin SPIEGEL den Bericht des Europäischen Rechnungshofes ganze zehn Tage vor ihnen in die Hände bekommen hatte, traf die Straßburger Volksvertreter denn auch an einer besonders empfindlichen Stelle. Ihre Rache: Sie strichen die für Dienstag vorgesehene Debatte über den Rechnungshofbericht von der Tagesordnung und luden den Präsidenten des Hofes, Jan Karlsson, wieder aus. d e r s p i e g e l 4 7 / 1 9 9 9