DER SPIEGEL Jahrgang 1999 Heft 45

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DER SPIEGEL Jahrgang 1999 Heft 45
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DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN
Hausmitteilung
8. November 1999
Betr.: Havel, Speer, Wehrmacht, Limbach
D
er tschechische Staatspräsident Václav Havel bat um Entschuldigung: „Ich
komme zu spät, ich weiß“, sagte er den zum Gespräch angereisten SPIEGELRedakteuren Olaf Ihlau, 57, und Walter Mayr, 39. Grund für die Verspätung: Das
Staatsoberhaupt hatte gerade seine Fahrer und Sicherheitsbeamten angewiesen, ihn
künftig wie einen normalen Menschen durch die Gegend zu kutschieren – nicht
mehr mit Hupe, Blaulicht und in rasender Geschwindigkeit. „Unheimliche Qualen“
habe er in den vergangenen Jahren bei dem rabiaten Fahrstil in den Dienstkarossen ertragen, erzählte Havel den SPIEGEL-Leuten, „es ist so unangenehm, wenn
mir die Leute auf der Straße die Zunge rausstrecken oder drohend winken“. Damit solle jetzt Schluss sein (Seite 218).
ahrelang hatte sich der Frankfurter Architekt Albert Speer, 65,
einem Gespräch mit dem SPIEGEL
verweigert. Speer ist einer der erfolgreichsten deutschen Stadtplaner, scheute aber, als Sohn des Hitler-Architekten, die Öffentlichkeit.
Nun – auf dem Höhepunkt seiner
Karriere – überwand er sich doch.
Sieben Stunden sprach Speer mit
den SPIEGEL-Redakteuren Susanne Beyer, 30, und Dietmar Pieper,
36, erklärte ihnen stolz seine Pläne Beyer, Speer, Pieper
für den Bau des Europaviertels in
Frankfurt am Main und berichtete von Kindheitserinnerungen an Adolf Hitler:
„Aus meiner Perspektive war er ein Onkel wie jeder andere auch“ (Seite 239).
U
F. SCHUMANN / DER SPIEGEL
m die Aufklärung von Verbrechen der Wehrmacht bemüht sich seit 1995 das
Hamburger Institut für Sozialforschung mit einer viel beachteten Ausstellung.
Schon vor einem Jahr hatte sich allerdings der Historiker Bogdan Musial beim
SPIEGEL gemeldet und von Fehlern berichtet: Einige Bilder zeigten nicht Opfer deutscher Soldaten, sondern des sowjetischen Geheimdienstes. Redakteur Klaus Wiegrefe, 34, ging den Hinweisen
nach und fand zusätzliche Belege (SPIEGEL 4/1999). Nun zogen die
Initiatoren ihre Ausstellung für mindestens drei Monate aus dem Verkehr – alles soll überprüft werden. Einige Kritiker erklären bereits
den größten Teil der Bilder für falsch. „Das ist blanker Unsinn“, sagt
Historiker Wiegrefe, „wer so etwas behauptet, hat noch nachlässiWiegrefe
ger recherchiert als die Ausstellungsmacher“ (Seite 107).
V
or acht Jahren war die heutige Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts,
Jutta Limbach, Justizsenatorin in Berlin. SPIEGEL-Autor Thomas Darnstädt,
50, sprach damals mit ihr über die juristische Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit.
Die Diskussion verlief eher hitzig, ein paar Mal fuhr Limbach den SPIEGEL-Mann
energisch an. „Fragen wird man ja dürfen“, wehrte der sich. Als Darnstädt und Kollege Dietmar Hipp, 30, vergangene Woche die oberste Richterin in Karlsruhe trafen, begrüßte sie Darnstädt: „Wir reden oft über Sie, Ihre damalige Bemerkung ist
zum geflügelten Wort in unserer Familie geworden.“ Auch das aktuelle Gespräch
mit Limbach über den Einfluss des Verfassungsgerichts auf die Politik hatte Klippen – „darauf will ich nicht antworten“, versuchte sie wiederholt heikle Themen
zu umschiffen. Darnstädt: „Fragen wird man ja dürfen“ (Seite 72).
Im Internet: www.spiegel.de
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G. GERSTER
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In diesem Heft
Deutschland
Panorama: Wirtschaftsminister Müller
gegen SPD-Fraktion / Kosovo-Albaner
werden abgeschoben ......................................... 17
Korruption: Ließ sich die CDU beim
Panzergeschäft schmieren? ............................... 22
Wie Staatssekretär Holger Pfahls Widerstände
gegen das Panzergeschäft mit
Saudi-Arabien aus dem Weg räumte................. 24
CDU: Bedingt regierungsbereit ......................... 26
Prozesse: Gartenschlägers Tod vor Gericht ..... 64
Internet: Boom der virtuellen Auktionshäuser ... 68
Justiz: SPIEGEL-Gespräch mit der
Verfassungsgerichts-Präsidentin Jutta Limbach
über den Einfluss auf die Politik ....................... 72
Jahrtausendwende: Polizei wappnet sich
gegen Chaos und Katastrophen ........................ 80
Zeitgeschichte: Reemtsmas Rückzug ........... 107
Kriminalität: Amoklauf von Bad Reichenhall
lässt Experten und Polizei ratlos ..................... 110
Schmiergeld für die CDU?
Seite 22
Mit seiner Aussage vor dem Haftrichter hat der
ehemalige CDU-Schatzmeister Walther Leisler
Kiep sein jahrelanges Schweigen in der Affäre um
die Lieferung von „Fuchs“Panzern an Saudi-Arabien
gebrochen: Eine Million
Mark in bar habe der Waffenhändler Karlheinz Schreiber übergeben – angeblich
für die CDU-Parteikasse. Die
Union verspricht Aufklärung,
die Grünen verlangen einen
Untersuchungsausschuss.
„Fuchs“-Spürpanzer, Kiep, Kohl (1982)
MELDEPRESS (li.); F. DARCHINGER (r.)
Titel
Weltmacht wider Willen ................................... 30
Einheit – nur langsam wächst im Osten
die Zuversicht................................................... 40
Wie der Mauerfall die Globalisierung
beschleunigt...................................................... 44
Westöstliche Mischungen in der Kunstund Literaturszene............................................ 50
Arnulf Baring über die deutsche
Apathie angesichts der
osteuropäischen Herausforderung .................... 56
Europa der Verschwender
Seite 116
Der Europäische Rechnungshof schlägt zu: In ihrem neuen Jahresbericht legen die
Kontrolleure Verschwendung gigantischen Ausmaßes offen. Allein für die Vernichtung
von überschüssigem Obst und Gemüse gab die EU knapp eine halbe Milliarde Euro
aus. Fazit: Brüssel bedient vor allem Lobbyisten und macht es Betrügern leicht.
100 Tage im Herbst
Wirtschaft
Trends: Neues zur Hypobank-Affäre /
Modefirmen drängen ins Internet /
Subventionsskandal in Sachsen-Anhalt ........... 113
Geld: Dubiose Fonds-Werbung / Gute
Chancen mit japanischen Internet-Aktien ....... 115
Europa: EU-Rechnungshof enthüllt
Schlamperei und Milliardenverschwendung .... 116
Staatsfinanzen: Kanzler Schröder drängt
auf höhere Erbschaftsteuer ............................. 120
Kartelle: So kungelt die Betonindustrie ......... 124
Affären: Raffgierige Ohrenärzte ..................... 126
Geldanlage: Klage gegen BHF-Bank .............. 128
Stromkonzerne: Der Aufstieg des
Jurastudenten Michael Zerr zum Mr. Yello...... 130
Medien
Trends: „Big Brother“ demnächst bei RTL 2 /
Überraschungserfolg für „Praline-Interaktiv“ ... 133
Fernsehen: Historien-TV boomt .................... 134
Vorschau ......................................................... 135
Boulevard-Presse: Zotig und angepasst –
die neue Generation der Klatschreporter........ 136
Der Star-Macher von „Bild“ ........................... 138
Journalisten: Interview mit dem
„Frontal“-Duo Hauser/Kienzle
über ihren TV-Abschied ................................... 142
Reality-TV: Eifersucht als Quotenknaller ........ 148
Fernsehspiel: Der TV-Film „Hin und weg“
und die neue Nüchternheit ............................. 154
Hass auf schwarze Dealer
Seite 168
Sie sind die Letzten beim
Geschäft mit illegalen
Drogen: junge Afrikaner,
die in deutschen Großstädten kleinste Rauschgiftmengen verdealen.
Die meist illegal eingereisten Asylbewerber,
die nicht arbeiten dürfen
und keine Perspektive
haben, lösen Ängste und
Fremdenhass aus.
Afrikanischer Rauschgiftdealer (in Hamburg)
Promi-Jagd in Deutschland
Seite 136
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E. HERBST
Gesellschaft
Szene: US-Psychologin Nancy Etcoff über
biologische Gründe von Schönheitsidealen..... 167
Drogen: Die schwarzen Dealer vom
Hamburger Schanzenviertel............................ 168
Showbusiness: Interview mit dem Sänger
Patrick Lindner über Rex Gildo
und Homosexualität in der Schlagerbranche ... 176
Kredite: Autos als Leihhaus-Pfand................ 180
„Bild“-Klatschreporterin Keßler bei der Arbeit
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R. JANKE / ARGUS
Wende und Ende des SED-Staates (7)
„Die Mauer muss weg“ –
Grenzöffnung aus Versehen .......................... 85
Porträt: Günter Schabowski –
unbequem zwischen allen Stühlen .............. 104
Früher zählten die Klatschreporter zu den heimlichen
Stars der Society, die das Volk
mit Anekdoten aus dem Sündenbabel der Reichen und
Schönen fütterten. Heute rangeln sich Horden von ihnen
auf drögen PR-Veranstaltungen um jeden Prominenten.
Unter dem Konkurrenzdruck
der Medien verflacht das Genre zunehmend. Und weil die
Berühmtheiten von heute mit
Gegendarstellungen nicht lange fackeln, ist der Glamourberuf zum harten Job geworden.
M. WIENHÖFER / PRINT
Ausland
Fürstenschloss im liechtensteinischen Vaduz
Lauschangriff auf Geldwäscher
Seite 202
Kultur
Der Bundesnachrichtendienst hat den Datentransfer der Geldhäuser nach Liechtenstein angezapft. Das Ergebnis ist fatal für das Image des Finanzplatzes: Ein Geflecht
aus Beamten, Politikern und Treuhändern lädt laut BND-Bericht die Gangster aller
Länder geradezu zur Wäsche ihres schmutzigen Geldes ein.
Der Kaukasus brennt
Panorama: Montenegros Premier Vujanoviƒ
über den Bruch mit Belgrad /
Spekulationen um Papstnachfolger ............... 183
Kaukasus: Im Visier der Großmächte........... 186
Georgien: Präsident Eduard Schewardnadse
über einen Beitritt zur Nato .......................... 190
Frankreich: Rückschlag für Jospin ................ 192
Ostasien: Schröders Reisespaß..................... 194
Klima: Front gegen den Verschmutzer USA... 196
Jugoslawien: Milo∆eviƒ rechnet ab............... 198
Liechtenstein: Wie der Zwergstaat das
Geld von Mafia, Drogenkonzernen
und russischen Großkriminellen wäscht ........ 202
Schweden: Angriff der Neonazis ................. 208
Europa: Neue Ängste vor britischem Beef .... 212
Tschechien: SPIEGEL-Gespräch mit dem
tschechischen Präsidenten Václav Havel
über die Osterweiterung der EU ................... 218
Russland: Schwarzgeld in der Südsee .......... 226
Japan: Star-Ruhm für Frauen
in Männerkleidern......................................... 228
Szene: Hundertwasser verhübscht den
Bahnhof von Uelzen / Regisseur Eyal Sivan
über seine Eichmann-Dokumentation ........... 233
Kino: David Finchers neuer Film „Fight Club“
bricht mit der Hollywood-Ästhetik ............... 236
Städtebau: SPIEGEL-Gespräch mit
Albert Speer über sein Frankfurter
„Europaviertel“ und sein Leben als Sohn
des Hitler-Architekten................................... 239
Stars: Stimmwunder und Pop-Schönheit –
Mariah Carey auf neuen Wegen .................... 248
Autoren: Gerold Späth über
den urschweizerischen
Sprachkünstler Peter Weber .......................... 252
Bestseller..................................................... 254
Film: „Helden wie wir“, ein Kino-Ereignis
mit Ost-Charme ............................................ 258
Schönheit: Interview mit Kunst-Theoretiker
Bazon Brock über die Graffiti-Attacke auf
den Hamburger Findling ............................... 264
Seiten 186, 190
Mit Russlands Krieg gegen die Tschetschenen sollen die Hoffnungen auf Souveränität
im Kaukasus eingeschüchtert werden. Während Moskau vom Streit zwischen den verfeindeten Völkern zu profitieren sucht, ruft Georgiens Staatschef Eduard Schewardnadse nach der Nato. Und alle wollen den Zugriff auf das Öl im Kaspischen Meer.
Eine amerikanische
Show-Karriere Seite 248
Wissenschaft • Technik
FAIRLIGHT
Gesangsakrobatik und Süßstoff-Soul: Mariah Carey, 29, ist die erfolgreichste Popsängerin der neunziger Jahre. Ihre Lebensgeschichte wirkt wie das Märchen vom
Aschenputtel: eine traurige Kindheit, miese
Jobs und dann die Entdeckung durch den
Traumprinzen – den Sony-Music-Manager
Tommy Mottola. Doch statt glücklich bis
ans Ende ihrer Tage zu leben, ließen sie sich
scheiden. Mit ihrem Album „Rainbow“ will
Carey nun ein neues Leben beginnen.
Sängerin Carey
Prisma: Chirurgen verpflanzen Eierstöcke
in den Arm / Esoterik-Autor Sheldrake über
telepathische Fähigkeiten von Haustieren ..... 267
Medizin: US-Ingenieure erproben
Kunstherz aus Titan ...................................... 270
Hochschulen: Der Einfluss der Konzerne
auf die amerikanische Uni-Forschung ........... 276
Tiere: Berliner Biologen sind Meister
im Quallenzüchten ........................................ 282
Archäologie: Neue Funde in der
französischen Chauvet-Höhle ....................... 286
Der Hund als Gefährte des
Eiszeit-Menschen .......................................... 288
Flugzeugkatastrophe: Nach dem EgyptAirAbsturz – wie sicher ist die Boeing 767? ....... 294
Sport
T. EVERKE
Herz aus Titan
Seite 270
Amerikanische Ärzte planen eine Medizin-Revolution. Im nächsten Frühjahr wollen sie einem Patienten ein komplettes Herz
aus Titan und Kunststoff einsetzen. Die Vorbereitungen laufen
mit größter Umsicht. Denn im letzten Jahrzehnt endeten ähnliche Versuche im Debakel: Die Patienten vegetierten unter elenden Qualen ihrem Tod entgegen.
Kunstherz
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Fußball: Der norwegische Weg
zum Erfolg .................................................... 300
Schach: Interview mit Weltmeister
Alexander Khalifman
über den Wert seines Titels ........................... 306
Briefe ............................................................... 8
Impressum ................................................... 312
Leserservice ................................................ 312
Chronik ......................................................... 313
Register........................................................ 314
Personalien .................................................. 316
Hohlspiegel/Rückspiegel............................ 318
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Briefe
„Einzigartig wurde das Phänomen
Hitler durch die Bereitwilligkeit, mit
der die große deutsche Kulturnation
einem derartig zwielichtigen
politischen Heilsbringer glaubte –
und offensichtlich auch
liebend gern glauben wollte.“
Dr. Rolf Cornelius Müller aus Kreuzlingen (Schweiz) zum Titel
„Das Monster des 20. Jahrhunderts“
Antiaufklärerischer geht’s nimmer
Nr. 43/1999, Titel: Das Monster des 20. Jahrhunderts –
Joachim C. Fest: Hitler – Die reale Macht des Bösen
Wie beruhigend zu erfahren, dass Hitler das
„Monster des 20. Jahrhunderts“ war. Kein
Mensch war er also, nein, ein Monster. Nicht
so richtig real. Von einer anderen Welt. Wir
Menschen brauchen uns da zukünftig keine
Sorgen zu machen. Diese ewigen Mahner,
die darauf bestehen, dass wir wissen müssen, was warum geschah, dass wir uns unserer demokratischen Tugenden nicht so sicher sein sollten, wir sie pflegen müssen,
alles Quatsch. Hauptsache, wir haben genug
Ghostbusters und halten das Tor zur Unterwelt verschlossen. Dann bleibt alles gut.
Dresden
Sabine Friedel
Wenn man sich auf die Einmaligkeit und
Universalität des Bösen in Hitlers Denken
und Handeln festlegt wie Fest und andere
fortschrittliche Denker, landet man pfeilgerade in der intellektuellen Sackgasse. Einzig
möglicher Schluss: Dieses ultimative Monster kann nur einem Monstervolk entsprungen und von einem solchen permanent gestützt, wenn nicht getrieben worden sein.
Für Monstervölker gibt es keine Absolution,
lediglich die Pflicht zu ewiger Demut. Wer
diese Goldhagensche Sicht nicht akzeptieren will, dem bleibt wie Fest letztlich nur
mehr die Ratlosigkeit. Ein halbes Jahrhundert danach würde man sich von deutschen
Denkern etwas mehr erwarten.
Wien
Hans Egger
Die Bewunderung für einen Mann mit agitatorischen Fähigkeiten und die Relativierung des extrem antisemitischen deutschen
Gedankenguts, dem sechs Millionen Juden
in Vernichtungslagern und Konzentrationslagern zum Opfer fielen, ist in diesem Artikel durch den Vergleich mit anderen Diktaturen deutlich geworden. Joachim Fest
rechtfertigt die deutschen Verbrechen nicht,
aber er verharmlost sie, indem er auf Stalin
und Mao verweist. Er verrechnet sie mit
anderen.
Dorsten (Nrdrh.-Westf.)
Marcel Trocoli-Castro
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Sehr interessant, die Ausführungen von
Joachim Fest: Hitler als jemand, der im
Grunde genommen Politik lediglich als
Handlungsrahmen des eigenen „Aggressionswillens“ benutzt hat. Leider gelingt in
meinen Augen die Argumentation gegen
den Idealismus des Humanismus jedoch
auch hier – wie schon bei Sloterdijk – nicht:
Die Existenz des „Bösen als reale Macht“
widerlegt den Humanismus nicht, als dieser „das“ Böse nicht leugnet oder er zumindest nicht auf eine solche Leugnung
angewiesen ist, um als ein ernst zu nehmendes Konzept bestehen zu können.
Trier
Berlin
Anna Teut
Hitler stellte einen Homo novus und keine
Konsequenz deutscher Geschichte dar. Die
nachhaltigen Irritationen, die diese in sich so
seltsam farblose Persönlichkeit auslöst, ergeben sich aus der Fähigkeit, ein normales
Volk Schritt für Schritt zum Komplizen zu
machen. Gerade dies weist auf den Kernpunkt des Schreckens hin: Er kann sich jederzeit wiederholen. Es braucht nur den
richtigen Mann zur richtigen Zeit. Die richtige Zeit allein reicht niemals aus.
Unna
Volker Böning
Ach, hätten sie doch bei Fest in die Schule
gehen können: Goldhagen, Horkheimer,
Dominik Maletz
Ich bitte Sie inständig: Entmythologisieren
Sie Hitler! Entschlüsseln Sie diese Erklärungsversuche alter Herren, die immer
wieder mit neuen Thesen ihre erlebte und
noch immer innewohnende Begeisterung
für Adolf Hitler zu erklären versuchen. So
wie das Christentum den Satan, so brauchen offensichtlich alle Ethiker Hitler.
Ulm
M. EHLERT / DER SPIEGEL
SPIEGEL-Titel 43/1999
denen die mit den Kriegszerstörungen und
der „Schuld“ am Ersten Weltkrieg belasteten deutschen Sportler wie vier Jahre zuvor
in Antwerpen nicht geladen waren.
Markus Junginger
Müssen Sie die anfängliche Anziehungskraft
des „faschistischen Experiments“ auf ausländische Besucher ausgerechnet mit einer
Aufnahme aus dem Riefenstahl-Film illustrieren, die dem flüchtigen Betrachter zeigt,
zeigen sollte, dass die französische Olympiamannschaft bei ihrem Einmarsch in das
Berliner Olympiastadion den „Führer“ mit
dem Hitlergruß ehrte? Faktum ist, der seitlich ausgestreckte rechte Arm der Spieler
gehorchte einem Ritual, das die französische Mannschaft bereits während der Olympischen Spiele 1924 in Paris praktizierte, zu
Hitler auf dem Nürnberger Parteitag (1935)
Einem Monstervolk entsprungen?
Mommsen, Broszat. Dabei ist die Widerlegung der Aufklärung so einfach: Hitler hat
deren Grundannahmen ein für alle Mal exekutiert. Und Fest weiß noch mehr: Hitler
wollte seinen „doppelten Vernichtungsvorsatz vollstrecken: den gegen die Juden und
gegen das eigene Volk“. Alle sind eben Opfer Hitlers, dieser Inkarnation des Bösen, Juden wie Deutsche. Noch Fragen?
Filderstadt
Wigbert Benz
Vor 50 Jahren der spiegel vom 10. November 1949
Adenauer zeigt außenpolitischen Machtwillen Nach bewährtem Altreichs-Rezept wie bei Bismarck. Die neuen Landespressegesetze liegen
vor Trauen die Alliierten den Deutschen und der Bonner Grundordnung
nicht? Wettrennen der Großmächte um die Freundschaft der einstigen
Feinde Neue Deutschlandkonzeption der USA. Der Jemen will seine
strenge Isolation aufgeben Bau- und Exportfirmen aus England, Italien
und den USA entwickeln Pläne. „Endstation Sehnsucht“ von Tennessee
Williams hat in London Premiere Inszenierung von Sir Laurence Olivier.
Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter http://www.spiegel.de
Titel: Deutsche Eislaufmeisterin Irene Braun
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Briefe
Je kapitaler und wilder eine Charakterisierung gerät, desto nichtssagender wird sie
auch! In Wirklichkeit war Hitler ein Kleinbürger mit einem besonderen Talent für
Demagogie, schauspielerische Gestik und
Rhetorik, der erst durch die erstaunlich
große Resonanz und den frenetischen
Applaus seines Publikums, der damaligen
Deutschen, zur vollen Form und Wirksamkeit auflaufen konnte.
Sindelfingen
Günther Häffner
Man könnte Fests Festhalten an der „Spitzenstellung“ Hitlers unter den Massenmördern des Jahrhunderts auch so bezeichnen:
übersteigerter, pedantischer Nationalismus
des deutschen Historikers, der den Russen
einfach deren „Spitzenstellung“ mit den
Mördern Lenin und Stalin „neidet“.
Tamm (Bad.-Württ.)
Karl-P. Schlor
Hitler kam nicht, wie es Fest sehen will, als
Monster auf die Welt. Hitler spielte seine
„deutsche Schicksalssinfonie“ auf einem
von Militär und Kapital und vom „deutschen Hausmeister“ gestimmten Klavier.
Berlin
Lieber gleich auf den Kopf hauen
Nr. 43/1999, Rente: Wie Rot-Grün den
Generationenkrieg anheizt; So reich sind die Alten
Das verkrampfte Bemühen um „Generationengerechtigkeit“ lenkt in erster Linie
von der dramatisch wachsenden sozialen
Ungleichheit innerhalb aller Generationen
ab. Statt darüber nachzudenken, wie aus einer Verschiebung der Altersstruktur resultierende Schwierigkeiten solidarisch zu bewältigen sind, spielt man einzelne Gruppen
und ganze Generationen gegeneinander aus
und funktioniert die Demografie zu einem
Mittel politischer Demagogie um.
Köln
Prof. Dr. Christoph Butterwegge
Es ist doch leicht abzusehen, was passiert,
wenn die gesetzliche Rente zur Grundversorgung wird und man für einen wohlversorgten Lebensabend selbst Geld beiseite
legen muß: Es wird mehr „reiche Alte“ geben, aber auch viele „arme Alte“, die eben
nicht vorgesorgt und das Geld lieber anderweitig ausgegeben haben. Dann diagnos-
Gert C. Möbius
Fests Hitler-Psychogramm ist eine präzise, differenzierte Analyse der Person
des Diktators. Treffend das Titelbild mit
der Überschrift „Das Monster des 20.
Jahrhunderts“. Das könnte man angesichts der absolut beispiellosen Barbarei
der Judenvernichtung ins Universalhistorische ausweiten: „Das Monster
der Menschheitsgeschichte“.
Würzburg
Prof. Dr. Theo Meyer
Laut Nietzsche ist der Verbrecher seiner Tat häufig nicht gewachsen: Er verkleinert und verleumdet sie. Ganz anders Hitler: Er hat seine Mordabsichten
niemals verleugnet, sondern sogar vor
aller Welt angekündigt und es dennoch
geschafft, sein Verbrechen so lautlos und
präzise durchzuführen, dass keiner etwas
gewusst haben will, am wenigsten die Mittäter. Das macht ihn „einzigartig“.
Köln
Johannes Habig
Antiaufklärerischer geht’s nicht. Wie sollen
wir je das NS-System begreifen, wenn
weiterhin die Schuld dem einen, dem angeblichen „Monster“ Hitler, zugeschoben
wird? Um den Nationalsozialismus zu verstehen, müssen wir erforschen, aus welchen Motiven sich die Millionen deutscher
Männer und Frauen dafür engagierten.
frankfurter allgemeine
tiziert irgend jemand eine „soziale Schieflage“, der Ruf nach „sozialer Gerechtigkeit“ wird laut und lauter, und ein Weg wird
gefunden, den „ungerechten“ Vorteil derer,
die für ihre Altersversorgung gespart haben, „umzuverteilen“. Da haue ich das Geld
lieber gleich auf den Kopf, dann kann es
mir wenigstens keiner mehr abknöpfen.
Mainz
Thomas Roessing
Die Faszination Hitler ist nicht das von ihm
ausgehende „Böse“, andere haben ihn im 20.
Jahrhundert darin meilenweit übertroffen
und sprechen von einem „schülermäßigen
Hitlerregime, das dem Westen den Blick getrübt hat“ (Solschenizyn). Die Faszination
war seine unbestrittene Ausstrahlung.
Wer ist eigentlich auf die putzige Idee gekommen, eine Rente auf Kapitaldeckungsbasis stelle eine geringere Belastung jüngerer Generationen dar als eine durch Umlagen finanzierte? Die nicht produzierenden
Einkommensbezieher einer Volkswirtschaft
werden in jedem Fall von den wirtschaftlich
Aktiven mitgetragen, denn nur sie stellen
her, was alle „konsumieren“. Arbeitsplatzbesitzer werden also immer den entsprechenden Anteil der von ihnen erwirtschafteten Werte mit Alten teilen – oder ihnen irgendwie den Hahn abdrehen müssen.
Haan (Nrdrh.-Westf.)
Rechtmehring (Bayern)
Stegen (Bad.-Württ.)
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Dr. Stephan Marks
Dr. Heinrich Kraus
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Helmut Reuter
W. SCHUERING
Exportgut „Leopard 2“-Panzer
Aus der Geschichte nichts gelernt?
Schlechte Karten für Exportblockierer
Nr. 43/1999, Regierung: Die Grünen und der Leo 2;
Interview mit Umweltminister Trittin
Nunmehr soll die Verbesserung der Menschenrechtssituation in der Türkei zum
Maßstab des kommenden möglichen „Leopard“-Exports werden. Doch Menschenrechte erfüllen sich nicht per Appell, sie
bedürfen aktiver Politik. Die bleibt die
Bundesregierung uns und den Menschen in
der Türkei bislang schuldig.
Berlin
Dr. Angelika Claußen
Intern. Ärzte f. d. Verhütung des Atomkriegs
Sie schreiben mit Recht, dass das türkische
Militär traditionell auf deutsche Hilfe baute. Nicht nur, dass die Geschütze am Bosporus im Wesentlichen aus dem Hause
Krupp stammten, auch die Truppen des osmanischen Heeres sind seit 1880 mit deutschen Mausergewehren ausgerüstet worden.
Bis zum Ersten Weltkrieg sind von der Mauserschen Waffenfabrik über eine Million Gewehre an die Türkei geliefert worden. Ab
1914 sahen sich dann die Bewohner Armeniens osmanischen Truppen gegenüber,
deren Gewehre eine deutsche Herkunftsbezeichnung trugen. Hat unsere Regierung
denn aus der Geschichte nichts gelernt?
Bonn
Erwin Hartmann
Warum regt man sich eigentlich so auf? Immerhin exportiert Deutschland seit Jahrzehnten Umweltvernichtungsmittel in alle
Welt, sogar die alte DDR-Flotte ging nach
Indonesien, und „Exportblockierer“ hatten
auch vor Scharping immer schon schlechte
Karten. Also warum nicht 1000 Panzer an
die Türkei, damit sie Kurden und Griechen
im Zaum halten können? Natürlich bieten
1000 „Leopard“ eine strategische Erweiterung geradezu an: Irak, Iran, Syrien und
natürlich den Kaukasus. Zwingt eigentlich
jemand die Deutschen, Panzer zu bauen?
Vila Nova de Gaia (Portugal)
J. Kappert
Herr Fischer weiß durchaus zu differenzieren, wo man der Türkei Zugeständnisse machen sollte und wo nicht. Die Türkei sollte
ihre Bemühungen auf gesetzlicher und wirtschaftlicher Ebene, den EU-Standards zu
entsprechen, honoriert bekommen.
Istanbul
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Eva Röben
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Briefe
mer. Warum wird in diesem Fall den Eltern
alles geglaubt? Wer fragt, was das Mädchen
an Schäden davontragen kann? Was sind
das für Eltern, die ihren Sohn allein zurücklassen?
Untermeitingen (Bayern)
Peter Tögel
Was erwartet man von einer Gesellschaft,
in der sogar „Händchenhalten“ unter den
Kindern in Camps verboten ist und wo jeder Betreuer sich ständig durch Zeugen
absichern muss, damit er nicht verklagt
wird?
Narkoseüberwachung im OP: Genaue Erinnerung an die Operation
Es war die Hölle
Nr. 43/1999, Medizin:
Das schreckliche Erwachen während der Operation
Nach dem aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik lassen sich flache Narkosestadien, in denen die Gefahr von
Wachheitserlebnissen des Patienten besonders groß ist, sicher vermeiden. Die
Überwachung der Hirnfunktion während
der Narkose anhand der Hirnströme (EEG)
ist als Routinemaßnahme durchführbar.
Der in Hannover entwickelte EEG-Monitor
„Narcotrend“ bewertet die Schlaftiefe des
Patienten während der Narkose sogar automatisch. Das System ist sehr einfach
handhabbar, dem Patienten werden lediglich drei Elektroden auf die Stirn geklebt.
Mit dem EEG-Monitoring wird der Patient
auch vor Überdosierungen geschützt. Es
trägt zu einer verbesserten Befindlichkeit
im postoperativen Zeitraum bei.
Hannover
Dr. Barbara Schultz
Klinikum Hannover-Oststadt
Dazu ein eigenes Horrorerlebnis, es liegt
zwar schon 40 Jahre zurück, ist aber (leider) noch total frisch in der Erinnerung. Im
Berliner Wenckebach-Krankenhaus wurden mir die Mandeln entfernt. Ich bekam
drei Spritzen in den Hals und dadurch das
Gefühl zu ersticken, denn ein Schnupfen
hatte sich fürchterlich weiterentwickelt.
Dann gab es Lachgas, und die Operation
begann. Ich erlebte alles wie auf einem
kleinen Monitor über mir mit. Das hätte ja
eigentlich ganz interessant sein können,
nur – ich erlebte auch die Schmerzen des
Schneidens, und es kam für einen kurzen
Moment das Allerschlimmste: Als die Lachgasmaske abgenommen wurde, war das so,
als würde an jedem Nerv meines Körpers
gerissen werden. Das werde ich nie vergessen, es war die Hölle.
Spranz (Nieders.)
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Ich wurde im Alter von sieben Jahren vor einer ambulanten, operativen Entfernung von
Nasenpolypen mit Äther betäubt. Ich erinnere mich leider zu genau an die Operation,
bei der der Arzt mit einem Instrument in
meinem Rachen hantierte und ich schreckliche Angst vor ihm hatte und das Gefühl,
keine Luft mehr zu bekommen. Als ich „erwachte“, war die Angst immer noch so groß,
dass ich den Raum fluchtartig verließ. Man
sagte mir, ich hätte einen Alptraum gehabt.
Ich selbst dagegen hatte immer das Gefühl,
es wirklich erlebt zu haben. Ihr Artikel bestärkt mich in meinem Gefühl, dass ich eben
nicht vollständig bewusstlos war.
Bonn
Astrid Sondermann
Grausige Aussichten
Nr. 43/1999, Justiz: Kinder im US-Strafvollzug
Als wir in Denver wohnten, konnten wir
erleben, wie minderjährige Kinder ihre Geschwister umbrachten. Soll all das mit
„kindlicher Neugier“ abgetan werden? Kinder in den USA benehmen sich im Vergleich
zu Deutschland viel früher wie Erwachsene.
Und wenn die elterliche Führung fehlt, sind
die Folgen leider um ein Vielfaches schlim-
VERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe für Panorama,
Korruption,Titelgeschichte (S. 40), Prozesse, Jahrtausendwende, Kriminalität, Kredite, Liechtenstein: Ulrich Schwarz; für CDU, Titelgeschichte (S. 30), Justiz, Zeitgeschichte, Ostasien, Klima: Michael
Schmidt-Klingenberg; für 100 Tage im Herbst: Jochen Bölsche; für
Titelgeschichte (S. 44), Internet, Trends, Geld, Europa (S. 116), Staatsfinanzen, Kartelle, Affären, Geldanlage, Stromkonzerne, Boulevard-Presse, Journalisten, Reality-TV: Gabor Steingart; für Panorama Ausland, Kaukasus, Georgien, Frankreich, Jugoslawien,
Schweden, Europa (S. 212), Tschechien, Russland, Japan, Chronik:
Hans Hoyng; für Titelgeschichte (S. 50, 56), Fernsehen, Fernsehspiel,
Szene, Showbusiness, Kino, Städtebau, Stars, Autoren, Bestseller,
Film, Schönheit: Dr. Mathias Schreiber; für Prisma, Medizin, Hochschulen, Tiere, Archäologie, Flugzeugkatastrophe: Johann Grolle;
für Fußball, Schach: Alfred Weinzierl; für die übrigen Beiträge: die
Verfasser; für Briefe, Register, Hohlspiegel, Personalien, Rückspiegel: Dr. Manfred Weber; für Titelbild: Stefan Kiefer; für
Layout: Rainer Sennewald; für Hausmitteilung: Hans-Ulrich Stoldt;
Chef vom Dienst: Thomas Schäfer (sämtlich Brandstwiete 19,
20457 Hamburg)
TITELFOTO: Herbert Schlemmer
Gisela Zittwitz
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Jan Vieth
Camp-Betreuer und Student
Ein Land, in dem man 21 sein muss, um ein
Glas Bier zu trinken, aber schon viel früher
in den Krieg ziehen oder zumindest eine
Waffe besitzen darf. Und nicht zuletzt ein
Land, das seine verklemmte Geilheit an den
widerwärtigen Sexspielen seines Präsidenten auslebt, um sich danach mit der fast
schon perversen Bestrafung angeblicher
elfjähriger „Triebtäter“ die kollektive Absolution zu erteilen. Und mit diesem Land
an der Spitze soll die Welt ins 21. Jahrhundert schreiten? Grausige Aussichten!
Gödöllö (Ungarn)
Alexander Tatrai
Mal wieder ist alles schlecht in den USA.
Wenn die Eltern des Kindes die US-Staatsbürgerschaft innehaben, bedeutet dies
einen mehrjährigen
Aufenthalt und somit
die Kenntnis der Dinge, wie solche Strafsachen ablaufen können. Jeder, der sich in
den USA auskennt,
nimmt sich einen Anwalt und geht dann
den Weg, den die Gesetze aufzeigen. Ist
die Handhabung in Beschuldigter Raoul
Deutschland oder in
der EU besser? Wo zum Beispiel Kindergärtner, erst nachdem sie über 100 Kinder
geschändet haben, vor Gericht gestellt
werden.
Seminole (Florida)
Wolfgang Boldt
Menschenverfolgung wegen gewaltfreier
sexueller Beziehungen hat ihre Ursache in
absurden christlichen Sexualanschauungen.
Die Schande der US-Brachialjustiz gegen
Kinder hat ebenso ihre religiöse Wurzel.
Klagenfurt (Österreich)
Rolf Fuchs
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit Anschrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen.
In der Heftmitte dieser Ausgabe befindet sich in einer Teilauflage ein 12-seitiger Beihefter der Firma C&A, Düsseldorf. Einer Teilauflage ist eine Postkarte der Firma Handelsblatt/WiWo, Düsseldorf, und eine Postkarte des SPIEGEL-Verlages/Abo, Hamburg, beigeklebt. Einer Teilauflage liegen Beilagen der Firmen Apple, Feldkirchen, Schöffel Sportkleidung, Schwabmünchen, Spektrum der Wissenschaft, Heidelberg, und Teppich Kibek, Elmshorn, bei.
DPA
ACTION PRESS
Hamburg
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Deutschland
D. HOPPE / NETZHAUT
Panorama
STROMMARKT
Müller gegen
„Penner-Prämie“
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in neuer Streit steht der Bundesregierung bevor. Wirtschaftsminister Werner Müller und die SPD-Bundestagsfraktion können sich nicht über die Wettbewerbsregulierung auf
dem Strommarkt einigen. Beim Energiegipfel mit ÖTV-Chef
Herbert Mai und dem IG-Chemie-Vorsitzenden Hubertus
Schmoldt, der diesen Montag im Kanzleramt stattfinden soll,
droht jetzt ein Eklat. Minister Müller weigert sich bislang, ein
langfristiges Förderkonzept für die umweltfreundliche KraftWärme-Koppelung (KWK) vorzulegen – die Energiepolitiker
der SPD wollen nun den parteilosen Minister unter Druck setzen und einen eigenen Antrag ins Parlament einbringen.
Abschiebung im Frühjahr
D
ie Innenminister von Bund und
Ländern haben sich auf die massenhafte Abschiebung von Kosovo-Albanern geeinigt, wenn diese nicht
freiwillig zurückkehren. Vom kommenden Frühjahr an soll mit der Rückführung begonnen werden. In einigen
Bundesländern werden die anerkannten Kriegsflüchtlinge und die illegal
eingereisten Kosovaren bereits zur Ausreise aufgefordert. Wer dann nicht innerhalb von vier Wochen freiwillig
geht, dem wird die Abschiebung angedroht. Die soll allerdings nicht in den
Wintermonaten geschehen. Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) hat in
einem Brief an seine Länder-Kollegen
bereits festgestellt, „dass die Rückkehr
von Kosovo-Albanern“ möglich sei.
Mit „hoher Priorität“ suche sein Mi-
Die Abgeordneten möchten die vornehmlich von
Stadtwerken betriebenen Kraft-Wärme-Kopplungs-Anlagen vor den Auswirkungen des liberalisierten Strommarktes schützen.Wegen des Preis- Müller
sturzes von über 30 Prozent seit 1997 droht den
meisten der bundesweit über 4000 KWK-Anlagen das Aus. Die
ÖTV rechnet mit dem Verlust von bis zu 40000 Arbeitsplätzen.
KWK-Anlagen gelten als umweltfreundlich, derzeit liefern sie
zehn Prozent des deutschen Stroms und vermeiden so jährlich
die Emission von rund 34 Millionen Tonnen Kohlendioxid. „Im
Wirtschaftsministerium wird die eigentliche Dimension des Problems nicht erkannt“, klagt SPD-Fraktionsvize Michael Müller.
Bei einem Krisentreffen mit Gewerkschaftern und Parlamentariern im September war der Minister beauftragt worden, bis
Ende Oktober drei Konzepte zum Erhalt der KWK durchrechnen zu lassen. Die Stadtwerker hofften auf Abnahmegarantien
oder Bonuszulagen für den klimaschonend erzeugten Strom.
Doch Müller nennt das Bonus-Modell eine „Penner-Prämie“ für
Stadtwerke, die auf den Wettbewerb nicht vorbereitet seien.
nisterium nach Wegen, die „Möglichkeiten der zwangsweisen Rückkehr“ zu
verbessern. Im April will der Bund
seine Zahlungen von 500 Mark pro
Monat und Flüchtling einstellen. Die so
genannte Arbeitsgruppe Rückführung
von Bund und Ländern hat jetzt den
Auftrag, die Details der Abschiebungen
zu klären.
B U N D E S TAG
Freie Rede
M
DPA
FLÜCHTLINGE
Rückführung von Kosovo-Albanern
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J. H. DARCHINGER
Demonstration von Stadtwerke-Mitarbeitern (in Rheinhausen)
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it einer ungewöhnlichen Initiative
will der FDP-Bundestagsabgeordnete Dirk Niebel, 36, für mehr Leben
im Parlament sorgen: Er stellte den Antrag, dass in der letzten Sitzungswoche
des Jahres alle Abgeordneten am Rednerpult auf Notizen, Stichwortzettel
oder ausgearbeitete Vorlagen verzichten
sollten. „Monotones Ablesen langweilt
die Zuhörer“, begründet Niebel seinen
Vorschlag, „eine frei gehaltene Rede ermöglicht Spontaneität und Flexibilität.“
Der von Niebel angeregte Gruppenantrag zur „Stärkung der Freien Rede im
Deutschen Bundestag“ hat durchaus
Chancen auf Verwirklichung: 40 Abgeordnete aus allen Parteien haben ihn
unterzeichnet, darunter Angela Marquardt (PDS) und Wolfgang Zeitlmann
(CSU).
17
Panorama
U M W E LT
Falscher Müll?
as Duale System Deutschland
(DSD) – ausschließlich zur Verwertung des Verpackungsmülls eingerichtet
– soll angeblich auch Gewerbemüll einsammeln und so seine Kosten künstlich
hoch rechnen. Diesen Vorwurf erhebt
der Ex-DSD-Sprecher und Bonner Umweltpublizist Gunnar Sohn. So würden
Kunststoffabfälle von Baustellen oder Verwertung von Plastikabfall
aus Handel und Gewerbe bei den Recyclingunternehmen illegal den Grüner-Punkt-Verpackungen gebenen Sammelmengen von 76 Kilogramm pro Jahr und Kopf
„untergeschoben“. „Große Abfallmengen“ stammten somit der Bevölkerung zu erreichen, so rechnet DSD-Insider Sohn,
nicht aus den Sammlungen mit dem gelben Sack, sondern aus müsse jeder Bundesbürger täglich „30 bis 40 Verpackungen“ in
gesetzlich nicht vorgesehenen Quellen in der Industrie. Für jede die Grüne-Punkt-Sammlung geben, „eine utopische Zahl“.
Tonne verarbeitetes Material beziehen die Kunststoffverwerter „Diese Vorwürfe treffen nicht zu“, sagt dagegen DSD-Sprechevom DSD durchschnittlich 2400 Mark, die als Kosten über die rin Petra Rob, „bei uns wird sauber abgerechnet, die StoffströLizenzabgabe den Verbraucher belasten. Um die offiziell ange- me werden von den Aufsichtsbehörden kontrolliert.“
Werbung in Dubai
N
AP
ach dem Eklat um „Leopard“-Panzer für die Türkei droht der rot-grünen Koalition ein neuer Streit um Rüstungsexporte: Verteidigungsminister Ru-
dolf Scharping will nächste Woche die
Türkei, Ägypten und die Vereinigten
Arabischen Emirate besuchen. Denen
hat die Berliner Regierung soeben 32 gebrauchte „Alpha Jet“-Kampf- und
Schulflugzeuge bewilligt. Aber während
Scharpings Visite wird bei der „Dubai
Air-Show“, einer Luftfahrt- und
Rüstungsmesse, auch der „Eurofighter“ vorgeführt. Das europäische Konsortium, an dem auch
Deutschland beteiligt ist, möchte
mindestens 24 der Kampfjets an
die Emirate verkaufen. Saudi-Arabien ist weiter an „Leopard 2“Panzern interessiert und will „ErdErkundungssatelliten“ in Deutschland bestellen. Israel hat schon in
Berlin protestiert, weil die zivilen
Himmelsspäher auch israelisches
Gebiet beobachten könnten und
militärisch nutzbar seien.
„Eurofighter“
JUGENDLICHE
Neue Härte
B
aden-Württemberg will konsequenter gegen jugendliche Serientäter
vorgehen. Dazu treffen sich in den
37 Polizeidirektionen des Landes neuerdings regelmäßig Arbeitsgruppen mit
Ermittlern, Jugendarbeitern und Vertretern der Ausländerämter. Sie sollen
schnell entscheiden, was mit den rund
500 Serientäter im Land passieren soll.
Den auffälligsten droht die Unterbringung in geschlossenen Heimen, bei Aus-
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ländern, die 45 Prozent der Problemfälle stellen, die Abschiebung. Schon bevor
im Dezember erste Ergebnisse folgen
sollen, hat Innenminister Thomas
Schäuble (CDU) in der vergangenen
Woche die neue harte Linie nach bayerischem Vorbild demonstriert. Münchner Behörden hatten im vergangenen
Jahr den 14-jährigen „Mehmet“ ausgewiesen. Am Mittwoch wurde der in
Deutschland geborene 14 Jahre alte Türke Mustafa D. aus Baden-Württemberg
nach Ankara abgeschoben. Er saß wegen Diebstahls, räuberischer Erpressung
und schwerer Körperverletzung ein.
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ENTSCHÄDIGUNGEN
Zwei Milliarden drauf
K
anzler Gerhard Schröder hat sich
massiv in die stockenden Verhandlungen über die Entschädigung von ehemaligen NS-Zwangsarbeitern eingeschaltet. Industrievertreter berichten,
der Kanzler habe Hans-Olaf Henkel,
dem Präsidenten des Bundesverbandes
der Deutschen Industrie, vorgeschlagen,
das derzeitige Angebot an die Opfer von
sechs Milliarden auf acht Milliarden
Mark zu erhöhen. Vor der deutsch-amerikanischen Verhandlungsrunde, die für
den 16. November in Bonn vorgesehen
ist und von Experten als letzte Chance
angesehen wird, könnte laut Schröder
die Regierung ihren Anteil von zwei auf
drei Milliarden, die deutsche Industrie
ihren von vier auf fünf Milliarden Mark
aufstocken. Die Unternehmen haben allerdings die bislang zugesagten vier Milliarden noch längst nicht gesammelt.
S. SPIEGL
RÜSTUNGSEXPORT
A. BASTIAN
D
Henkel, Schröder
Deutschland
„Transporte kommen“
Umweltminister Jürgen Trittin, 45,
zum Streit um Atomtransporte und
überfüllte interne Zwischenlager
registrieren die Fahnder zwischen
1996 und 1998 einen Anstieg von
410 auf 1072 Ermittlungsverfahren –
immerhin eine Zunahme um 161
Prozent. An der Spitze liegt Hamburg mit 198 Verfahren, gefolgt von
Berlin (193) und Nordrhein-Westfalen (176). Den letzten Platz teilen
sich Rheinland-Pfalz und Mecklenburg-Vorpommern mit jeweils 7
Verfahren. Schwerpunkt der Bestechung ist wie bereits in der Vergangenheit der Bereich der allgemeinen öffentlichen Verwaltung, vor
allem im Zusammenhang mit Bauprojekten, aber auch Polizei und
Justiz sind betroffen. Nach Feststellungen der Expertise wächst die
Gefahr der Bestechlichkeit mit der
„Dauer der Aufgabenwahrnehmung“.
Mehr als 70 Prozent der Geschmierten
waren länger als fünf Jahre auf ihrem
Posten. Angesichts dieser Zahlen urteilt
das BKA, „dass die Korruption in unseren Verwaltungen und Wirtschaftsbereichen einen festen Platz innehat“.
DPA
SPIEGEL: Die Stromwirtschaft wirft Ihnen
vor, dass Sie sechs Kernkraftwerke entgegen früheren Absprachen kalt abschalten
wollen, indem Sie Genehmigungen für den
Abtransport von Brennelementen verweigern. Scheitern die Konsensgespräche?
Trittin: Das will ich nicht hoffen. Die Industrie hat uns selbst ein korrektes Verfahren bescheinigt. Wir haben
den Unternehmen für jedes einzelne Kraftwerk Lösungen zum
Weiterbetrieb ohne Transporte
angeboten. Wenn beim Schaffen
von Zwischenlösungen vor Ort
Verzögerungen eintreten, dann
liegt das auch daran, dass die
Anträge zu spät gestellt wurden.
SPIEGEL: Und nun?
Trittin: Im September haben
wir zusätzlich angeregt, an den
Standorten Lagermöglichkeiten
zur Überbrückung der Frist bis Trittin
zur Fertigstellung der neuen Zwischenlager zu schaffen. Auch damit wäre
der Weiterbetrieb ungeachtet fehlender
Abtransportmöglichkeiten gesichert.
SPIEGEL: Gibt es auf dieses Angebot eine
definitive Reaktion der Betreiber?
Trittin: Nein. Sie klagen weiter die Transporte ein. Dabei war immer klar: Wenn es
für einen Transport erstens ein berechtigtes Interesse gibt und er zweitens sicher durchgeführt werden kann, dann
muss er genehmigt werden. Da gibt es
keinen Ermessensspielraum.
SPIEGEL: Ist die Sicherheit nicht gewährleistet?
Trittin: Die Bundesanstalt für Materialprüfung prüft noch technische Probleme
der Castorbehälter, die wir für lösbar halten. Zeitlich mehr Schwierigkeiten macht
die Untersuchung der Transportbedingungen für die „Stachelbehälter“, die in
die Wiederaufarbeitungsanlagen im Ausland fahren sollen. Wir rechnen damit,
dass man in wenigen Wochen sagen kann,
ob und wie es geht. So ist das
vorgeschriebene Verfahren.
SPIEGEL: Was passiert mit den
deutschen Abfällen aus der Wiederaufarbeitung im Ausland,
gegen deren Rücktransport die
Anti-Atomkraft-Initiativen in
Gorleben seit Monaten mobilisieren?
Trittin: Es gibt keinen sachlichen,
keinen politischen und keinen
moralischen Grund, der dagegen
spräche, das Material zurückzunehmen. Wir dürfen die von
der vorherigen Regierung organisierte illegale Zwischenlagerung von
deutschem Atommüll im Ausland nicht
weiter tolerieren. Das sind wir als Grüne
auch jenen Grünen in Frankreich schuldig, die dort dagegen klagen. Es wird in
überschaubaren Zeiträumen zu Rücktransporten aus La Hague kommen.
K.-B. KARWASZ
AT O M E N E R G I E
Bauarbeiten (am Frankfurter Flughafen)
KORRUPTION
Fester Platz im Amt
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as Bundeskriminalamt (BKA)
warnt vor einem alarmierenden
Anstieg der Korruption in Deutschland. In dem jetzt vorgelegten Bericht
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Panorama
Stolpes ganzer Stolz
Der
„kleine
Trompeter“ war
einst Erich Honeckers Lieblingslied. Das
„lustige Rotgardistenblut“ gab
sein Leben für die Revolution und
wurde dafür von allen verehrt.
Das Lied ist immer noch sehr
beliebt, auf Ostalgiepartys im
ganzen wilden Osten, vor allem
aber im Land Brandenburg, das
den Kosenamen „die kleine
DDR“ trägt. Nicht zu Unrecht,
denn rund um die Hauptstadt
Potsdam hat man schon früher als
woanders damit aufgehört, Abgeordnete auf mögliche Stasi-Verwicklungen zu überprüfen, es
wurden ehemalige DDR-Kader in
den Öffentlichen Dienst übernommen und der „IM Sekretär“
dreimal zum Ministerpräsidenten
gewählt. Und Manfred Stolpe hat
neulich, in klarer Einschätzung
der politischen Wetterlage, erklärt, er habe „immer die Auffassung vertreten“, das Etikett „kleine DDR“ solle „stolz“ getragen
werden. Darauf gab es einen kurzen Aufschrei der Entrüstung bei
der CDU, der von Landeschef
Jörg Schönbohm mit dem Diktum abgewürgt wurde, Stolpes
Worte seien erstens „missverständlich“ und zweitens „mit
Sicherheit nicht an die Christdemokraten, sondern an zwischen SPD und PDS wandernde
Wähler“ gerichtet. Damit war der
kleine Skandal in der kleinen
DDR beendet. Ganz so wie
früher, als das „Neue Deutschland“ seinen Lesern erklärte, wie
die Worte des Vorsitzenden zu
verstehen seien, je nachdem, in
welche Richtung sie gesprochen
wurden. Der kleine Trompeter ist
lange tot, doch sein Ton macht
immer noch die Musik in Brandenburg.
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BUNDESWEHR
Gesponserte Soldaten
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gesetzgeber“ die Aktion im Wehretat
„nicht veranschlagt“. Gegen „massiven
Widerstand“ (Scharping) der Beamten
ließ der Minister die Anlage Ende September installieren – und die Soldaten
ermuntern, bei jedem Gespräch für
mildtätige Zwecke zu spenden. Seither
kamen dank der Telefoniersucht der
Truppe gut 50 000 Mark zusammen. Das
Geld soll Angehörigen der bei Unfällen
im Kosovo getöteten Kameraden zugute
kommen sowie jenen Soldaten, die bei
Minenexplosionen verwundet wurden.
it einer Betreuungsmaßnahme für
Soldaten im Kosovo hat Verteidigungsminister Rudolf Scharping Freude
in der Truppe ausgelöst – und Unmut
im Bürokraten-Apparat seines Ressorts.
Die Kfor-Soldaten in Prizren können
neuerdings über eine Satellitenanlage
gratis in die Heimat telefonieren – gesponsert von der Deutschen Telekom.
Sie stellte die Anlage für ein
Jahr kostenlos zur Verfügung.
Die Bundeswehr musste nur
für Transport und Bedienungspersonal sorgen. Die
Aktion hatte Radsport-Fan
Scharping schon im Juli bei
der Tour de France mit Telekom-Chef Ron Sommer verabredet. Die Ministerialbürokratie versuchte zunächst, die
neue Idee und das förmliche
Angebot der Telekom abzublocken: „Sponsoring“ sei
beim Militär „nicht üblich“,
zudem habe der „Haushalts- Deutsche Soldaten in Prizren
B E R AT E R
Sprachkurs für Grüne
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er Frankfurter PR-Berater Walther
Kraft soll den Politikern von Bündnis 90/Die Grünen dabei helfen, sich
künftig verständlicher auszudrücken.
Für die Bundestagsfraktion hat der ehemalige Sat-1-Marketingleiter das grüne
Parteivokabular auf Klarheit und Überzeugungskraft überprüft – das Ergebnis
M. MALETZ / BMVG
Am Rande
Deutschland
war niederschmetternd: Wenn die Ökologiebewegten etwa „Nachhaltigkeit“
fordern, dann habe das schon deshalb
keinen Nachhall, weil die Leute den Begriff nicht verstünden. Auch vor inflationärem Gebrauch des Wortes „Zukunft“ sollten sich die Grünen hüten.
Nach jahrelanger Debatte über Ozonlöcher, Klimakollaps und Grenzen des
Wachstums blicke das Wahlvolk beim
Thema Zukunft nicht immer frohgemut,
sondern eher sorgenvoll nach vorn.
Nachgefragt
Jünger in Rente
Gewerkschaften verlangen die „Rente mit 60“. Um diese Forderung zu
realisieren, müssten alle Arbeitnehmer einen Teil ihrer Lohnerhöhungen in
einen Tariffonds einzahlen. Was halten Sie davon?
Gesamt
18–24
Jahre
25–29
Jahre
30–44
Jahre
45–59
Jahre
60+
Jahre
bin dafür
62%
65%
61%
62%
73%
52 %
bin dagegen
26%
17%
30%
30%
19%
30 %
keine Meinung
12%
18%
9%
8%
8%
18 %
Emnid-Umfrage für den SPIEGEL vom 2. und 3. November;
rund 1000 Befragte;
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Werbeseite
Werbeseite
L. KUCHARZ
Parteifreunde Kiep, Kohl auf dem CDU-Parteitag 1985: Ein Typ, mit dem man „Pferde stehlen kann“
A F FÄ R E N
„Krummes Ding abgezogen“
Aus der Schmiergeldaffäre um einen Panzer-Deal mit Saudi-Arabien wird womöglich ein Parteispenden-Skandal. Der einstige CDU-Schatzmeister Walther Leisler Kiep behauptet, nicht er,
sondern seine Partei habe von dem Waffenhändler Karlheinz Schreiber eine Million Mark kassiert.
D
ie Gerichtsstraße im idyllischen Königstein im Taunus lag noch verlassen da. Nur ein eilig herbeigerufener Wachtmeister, eine Protokollführerin
und die Haftrichterin Christine Rademacher waren am vergangenen Freitagmorgen schon vor sieben Uhr erschienen. Immerhin hatte ein Prominenter aus der
Nachbarschaft angekündigt, sich stellen
zu wollen.
Tags zuvor, als der Haftbefehl gegen ihn
vollstreckt werden sollte, aß der Beschuldigte gerade mit Siemens-Chef Heinrich
von Pierer im Münchner Hotel Vier Jahreszeiten zu Mittag. Anschließend reiste er
zu einer Lesung aus seinem neuen Buch
„Was bleibt, ist große Zuversicht“ zum Automobilclub nach Stuttgart – und war
schon wieder weg, als dort am Donnerstag
die Polizei erschien.
Walther Leisler Kiep, 73, ist schwer zu
fassen.
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Als der einstige niedersächsische Finanzminister, der auch 21 Jahre die Kasse
der Union hütete, gegen 12.15 Uhr durch
den Hinterausgang des Königsteiner Gerichtsgebäudes verschwand, war die Justiz
beruhigt. Dafür jagt ihn jetzt die CDU.
Denn Kiep – wegen des Verdachts der
Steuerhinterziehung von der Staatsanwaltschaft Augsburg gesucht, weil er
Schmiergelder aus einem Panzer-Deal mit
Saudi-Arabien nicht angegeben haben soll
– hatte in der fünfstündigen Vernehmung
sein bisheriges Schweigen gebrochen. Die
drohende Untersuchungshaft vor Augen,
gab er dem Fall eine Wende, die womöglich
den Beginn einer neuen ParteispendenAffäre bedeutet und die ins Herz der
Christdemokraten zielt.
Das Geld, eine Million Mark, erklärte
der konservative Grandseigneur mit der
Vorliebe für schwere Motorräder, sei nie
für ihn, sondern für die CDU bestimmt ged e r
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wesen. Und sein Anwalt, der Kölner Steuerstrafrechtler Günter Kohlmann, assistiert: „Das war eine Spende für die CDU.
Herr Kiep hat von dieser Million keinen
Pfennig bekommen und musste deshalb
auch nichts versteuern.“
Beschuldigte Pfahls, Schreiber: Millionen als
Deutschland
CP
AFP / DPA
F. STOCKMEIER / ARGUM
In der Essener Konzernzentrale von
Die Verteidigungsstrategie
Thyssen wurden Unterlagen beschlagihres ehemaligen Schatzmeisnahmt, wonach bei dem Geschäft mit eiters löste in der Union, die sich
nem Auftragsvolumen von 446,4 Millionen
gerade daran gewöhnt hatte,
Mark „als Provisionen und nützliche Aufdie Pannen der rot-grünen Rewendungen“ – vulgo: Schmiergeld – insgegierung genüsslich auszukossamt 219,7 Millionen Mark geflossen sind;
ten, helle Panik aus. CDU-Geallein Schreiber soll davon 24,4 Millionen
neralsekretärin Angela Merkel
Mark erhalten haben. Nach Überzeugung
sprach von einem „bemerkensder Staatsanwaltschaft ist er einer der Mänwerten Vorgang“ und ganer, die für die Verteilung zuständig waren.
rantierte „rückhaltlose Auf3,8 Millionen soll Pfahls von Schreiber
klärung“.
dafür bekommen haben, dass er den Deal
Gleichzeitig räumte sie aber
auf der Hardthöhe durchsetzte, 12,5 Milein, dass dies derzeit leider
lionen sollen an die beiden Thyssen-Obenicht möglich sei. Das Geld sei
ren zurückgeflossen sein.
auf einem Treuhandkonto geUnd noch gegen drei weitere angebliche
landet, da komme man nur
Helfer wird ermittelt: gegen den Straußschwer an die Unterlagen ran.
Auch der von Kiep benannte Vernommener Kiep: „Ich muss erst mal nach Amerika“ Sohn Max Josef, den früheren CSU-Wirtschaftstaatssekretär Erich Riedl und eben
Zeuge, immer noch ein Geschäftspartner der Union, sei unerklärli- genen Fraktion den Kanzler eindringlich Kiep. Alle dementieren, als wirklich heiß
galt keine dieser Spuren.
cherweise nicht zu erreichen. Parteichef vor der Ernennung gewarnt.
Mühelos schaffte der Ex-Politiker die
Erst in der vorvergangenen Woche inWolfgang Schäuble habe schon seinen Vorgänger Helmut Kohl gefragt, aber auch der von der Haftrichterin festgelegte Kaution formierten die Augsburger Fahnder das
von 500 000 Mark in bar herbei, um sich bayerische Justizministerium von dem geAltbundeskanzler wisse von nichts.
Fehlende Unterlagen, Erinnerungslü- vorerst einen Gefängnisaufenthalt zu er- planten Haftbefehl gegen Kiep. Die Auscken, Schmiergeldübergabe im Koffer – die sparen. Alle drei Wochen hat Kiep sich jetzt wertung von Geldbewegungen auf einem
Umstände der Panzer-Affäre erinnern fatal bei der Polizei zu melden,
an den Flick-Skandal der achtziger Jahre. solange der Haftbefehl nur
Damals hatte der Konzern flächendeckend außer Vollzug gesetzt ist.
Politiker und Beamte großzügig mit Ba- Nach der Vernehmung fiel
rem versorgt, um umstrittene Steuer- der rastlose Geldeinsammentscheidungen zu beeinflussen. Es scheint, ler in alte Verhaltensmuster
als wiederhole sich ein düsteres Kapitel zurück: „Ich kann jetzt
der Geschichte – das Ermittlungsverfah- nichts sagen, ich muss erst
ren 502 Js 127135/95, das schon so gut wie mal nach Amerika.“
Die Zurückgebliebenen
erledigt schien, hat plötzlich das Potenzial
machen sich derweil auf die
für eine Staatsaffäre.
Die seit über vier Jahren laufenden Er- Suche nach der Wahrheit.
mittlungen der Augsburger Staatsanwalt- Ein CDU-Vorständler war
schaft hatten Kiep und seine zahlreichen im Urteil über den alten
Freunde bisher einfach ignoriert. Der Pen- Parteikameraden schnell
sionär ist immer noch viel beschäftigt. Er bei der Hand. Kiep habe
sitzt im Beirat der Deutschen Bank und „ein krummes Ding abgesteht nicht nur der European Business zogen. Er lügt, dass sich die
School, sondern auch dem deutsch-ameri- Balken biegen“.
Ganz so einfach aber
kanischen Eliteclub Atlantik-Brücke vor.
Kanzler Gerhard Schröder zählt er zu wird die Union den lästiseinen Duzfreunden. Der Regierungschef gen Nestbeschmutzer wohl Panzer im Golfkrieg (1990): Hilferuf der Saudis
hatte ihn gerade erst im Juli gebeten, sich nicht los.
Im Mittelpunkt der Affäre steht der Schweizer Rubrik-Konto Schreibers, das
in seinem Namen um die fragilen deutschtürkischen Beziehungen zu kümmern. Da- Kauferinger Geschäftsmann Karlheinz die Ermittler Kiep zuordnen, hat nach ihbei hatten führende Mitglieder seiner ei- Schreiber, 65, ein alter Kumpan des ver- rer Ansicht aus dem „seit längerem bestestorbenen Franz Josef Strauß. Schreiber henden Tatverdacht“ einen „dringenden
soll 1991 im Zusammenhang mit dem Golf- Tatverdacht“ gemacht. Mit der Begrünkrieg die umstrittene Lieferung von 36 dung, Kiep habe ein Haus in Lenzerheide
„Fuchs“-Panzern an Saudi-Arabien mit im schweizerischen Kanton Graubünden,
Bargeld befördert haben, derzeit kämpft er wurde eine Fluchtgefahr bejaht.
in Kanada gegen seine Auslieferung nach
Bis dahin hatten die Indizien gegen ihn
Deutschland. Zwei damals verantwortli- als ziemlich dünn gegolten: In einem bei
che Manager des Fuchs-Herstellers Thys- Schreiber beschlagnahmten Kalender aus
sen sind nur gegen Millionenkaution auf dem Jahr 1991 – das war das Jahr des Panfreiem Fuß. Der ehemalige Verteidigungs- zer-Deals – fanden sich zwölf Hinweise auf
staatssekretär und Verfassungsschutzprä- Kiep: „Max wg. LK wie gehts weiter“, hieß
sident Ludwig-Holger Pfahls wird von es etwa. Oder „LK 1 = 1 000 000 DM“. EiZielfahndern des Bundeskriminalamts nen weiteren von Schreiber offenbar für
(BKA) gejagt, seit er im Juli in Hongkong die Tarnung von Geschäftspartnern gewie ein gewöhnlicher Krimineller unter- brauchten Codeschlüssel glauben die Fahntauchte.
der geknackt zu haben: Statt des Kürzels
„Provisionen und nützliche Ausgaben“
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Füchse für die Wüste
Wie Staatssekretär Ludwig-Holger Pfahls Widerstände gegen das
Panzer-Geschäft mit Saudi-Arabien aus dem Weg räumte.
„LK“ stand dann für den einstigen CDUFunktionär und Hobbyjäger der Name
„Waldherr“. Aus allen Hinweisen folgert
die Staatsanwaltschaft, Kiep habe 1991 eine
Million von Schreiber erhalten und die bei
seiner Steuererklärung nicht angegeben
und so 529 000 Mark Steuern hinterzogen.
Kiep, der die Vorwürfe „Unsinn“ nennt,
W
ann ist ein Geschäft perfekt?
Als Thyssen-Manager Jürgen
Maßmann am 5. Januar 1991
nach Saudi-Arabien flog, um den Liefervertrag über 36 „Fuchs“-Panzer zu
unterzeichnen, fingen seine Probleme
erst richtig an.
Der Fuchs-Panzer galt als Kriegswaffe und durfte deshalb nicht in Krisengebiete verkauft werden. Gegen die
Lieferung nach Saudi-Arabien gab es
denn auch ressortübergreifende Ablehnung in der Bundesregierung. Hinzu kam: Selbst bei Erteilung einer Exportgenehmigung war Thyssen gar
nicht in der Lage, auf die Schnelle die
bestellten 36 Panzer zu liefern.
Bereits parallel zu den Verhandlungen in Riad hatte das Unternehmen
versucht, die Widerstände im Wirtschafts- und Außenministerium aus
dem Weg zu räumen – ohne Erfolg.
Am 11. Januar 1991 beschrieb Maßmann in einer vertraulichen Notiz an
den Kaufmann Karlheinz Schreiber
präzise sein Problem. Um möglichst
schnell liefern zu können, sei „im Wesentlichen Folgendes erforderlich“:
Man benötige die „Genehmigung der
Ausfuhr dieser Fahrzeuge“ und die
„Zurverfügungstellung von Transportpanzern aus Bundeswehrbeständen“.
In den folgenden Wochen lösten sich
die Widerstände gegen das Geschäft in
den Bonner Ministerien auf. Am 27. Februar genehmigte schließlich der Bundessicherheitsrat die Lieferung.
Doch Thyssen mangelte es nach wie
vor an Ware. Deshalb wandte sich Maßmann am 12. März 1991 schriftlich an
Rüstungsstaatssekretär Ludwig-Holger
Pfahls mit der Bitte, „uns aus Bundeswehrbeständen Fahrzeuge zur Verfügung zu stellen“.
Pfahls reagierte prompt. Noch am
selben Tag genehmigte er den ThyssenWunsch und bat die Chefs der Rüstungsabteilung und des Heeresstabes
im Verteidigungsministerium, „unverzüglichen Bericht über die eingeleiteten Maßnahmen“ zu erstatten.
Die Militärs sperrten sich. Zwei Tage,
nachdem er die Thyssen-Bitte durchgestellt hatte, gab die Heeresleitung in
einem internen Vermerk ihre Linie vor:
„Dieser Vorgehensweise bzgl. Spürpanzer nicht zustimmen.“ Für die Ablehnung gab es gute Gründe: Während
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Spürpanzer „Fuchs“: Die Bedenken der Heeresleitung einfach ignoriert
des Golfkriegs hatte die Bundeswehr
79 Spürpanzer an andere Nato-Staaten
sowie drei weitere an Thyssen abgetreten, der Bestand war von 140 auf 58
Fahrzeuge geschrumpft.
Damit sah die Armeeführung die
„ABC-Abwehrfähigkeit des Heeres“
und die „Ausbildungsfähigkeit der
ABC-Abwehrtruppe erheblich beeinträchtigt“. Bei den staatsanwaltschaftlichen Vernehmungen erklärten ranghohe Militärs später, dass „die Heeresleitung darüber sehr verwundert war“,
wie Pfahls diese Bedenken einfach
ignorierte.
In einer Sitzung der beteiligten Abteilungen am 20. März 1991, an der auch
Thyssen-Vertreter teilnahmen, vermerkt das Protokoll: „Dr. Pfahls hat
entschieden.“ Binnen 14 Tagen seien
36 Panzer Thyssen als Sachdarlehen zur
Verfügung zu stellen. Zudem sollten
saudische Soldaten an der ABC-Schule Sonthofen ausgebildet werden. Damit war das Geschäft perfekt.
Pfahls’ Einlassung, dass dieses Vorgehen der „Wunsch des Kanzleramtes
und maßgeblicher Kräfte im deutschen
Bundestag“ sei, wurde nachträglich aus
dem Ergebnisprotokoll gestrichen.
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beteuerte vor der Haftrichterin: „Ich bin
unschuldig.“
Zur Untermauerung seiner Angaben
hatte Kiep seinen früheren Vertrauten
Horst Weyrauch und einen Vermerk seines
Anwalts Kohlmann mitgebracht. Der
Frankfurter Wirtschaftsprüfer Weyrauch
galt in der CDU als Helmut Kohls Mann für
größere und kleinere Krisen. Mit zweifelhaften Methoden und undurchsichtigen
Geschäften sanierte er in den neunziger
Jahren die klamme Union.
Nicht er, verwies Ex-Schatzmeister Kiep
auf die von Kohlmann verfasste Erklärung,
sondern Finanzexperte Weyrauch habe damals das Geld von Schreiber in Empfang
genommen. In dem Schriftstück heißt es:
„Am 26. August 1991 begab sich Herr Horst
Weyrauch auf Ersuchen des Bundesschatzmeisters (damals Kiep –Red.) zu einem Termin nach St. Margrethen.“ In dem
Schweizer Bodensee-Ort habe Kiep seinen
Mitarbeiter Weyrauch mit Schreiber bekannt gemacht: „Nach einigen erklärenden Worten wurde Herrn W. ein Behältnis übergeben, in dem angabegemäß DM
1 Mio. enthalten sein sollten.“ Geöffnet
habe der Kohl-Vertraute Weyrauch den
Koffer erst zu Hause in Frankfurt „und den
Betrag in Geldscheinen vorgefunden“.
Die Million floss fast ein halbes Jahr,
nachdem Schreiber versucht hatte, Kiep und
Deutschland
mann zum SPIEGEL, sei die Nachfolgerin Wiesheu oder CSU-Generalsekretär ThoKieps, Brigitte Baumeister, mit eingebun- mas Goppel als Spende zukommen ließ.
Die Union wehrt sich verzweifelt, mit in
den gewesen und habe ihm zugestimmt.
Die Zahlungen seien „unter Einbehal- den Schmiergeldsumpf gezogen zu wertung der Lohn- und Kirchensteuer und ent- den. Die inzwischen ebenfalls ausgeschiesprechender Abführung an das zuständi- dene Schatzmeisterin Baumeister widerge Finanzamt“ erfolgt. Danach sei „das sprach der Darstellung von Kieps Anwalt.
Treuhänder-Anderkonto restabgewickelt Sie sagte dem SPIEGEL, ihr sei „weder
zu Beginn meiner Amtszeit
und geschlossen“ worden. Weynoch danach bekannt geworden,
rauch und Lüthje waren bis Freitag vergangener Woche nicht für Den Geldkoffer dass leitende Mitarbeiter des
zu Hause
Konrad-Adenauer-Hauses Geleine Stellungnahme erreichbar.
geöffnet und der irgendwelcher Art außerVor der Haftrichterin bezeugte Weyrauch jedoch Kieps Dar- den Betrag von halb ihrer vertraglich vereinstellung, man versprach zudem, einer Million in barten Gehaltszahlung erhalhätten.
Belege für diese Version beizuGeldscheinen ten“
Der Haftbefehl gegen Kiep
bringen. Gegen Kiep habe sich
vorgefunden ließ Ende der vergangenen Wo„der Verdacht fast verflüchtigt“,
che in Berlin die politische Deresümierte daraufhin der Königsteiner Amtsgerichtsdirektor Axel Rohr- batte, ob nicht ein Untersuchungsausbeck nach der Vernehmung. Der Betrag sei schuss die Vorgänge aufklären müsse, wiewohl nie „ins Vermögen oder auch nur in der aufleben. Die Grünen sind bereits
den Besitz von Herrn Kiep gelangt“. Der entschlossen, das parlamentarische KonHaftbefehl sei nur deshalb noch nicht auf- trollgremium einzusetzen – nur der Kogehoben worden, weil die Angaben der alitionspartner zögert noch. An diesem
Montag will der von der SPD mit einer
beiden noch überprüft werden müssten.
Mit dieser Wendung ist Kiep womöglich Prüfung beauftragte Bundestagsabgeordaus dem Schneider, für seine Partei aber nete Frank Hofmann den Fraktionsspitzen
beginnen die Probleme. Bisher galt als aus- die Ergebnisse seiner bisherigen Ermittgemacht, dass Schreiber allein ein Problem lungen vorlegen.
Es geht nämlich nicht nur um Schreiber.
der bayerischen CSU sei. Die Bayern-Ikone Franz Josef Strauß steht im Verdacht, Auch beim Verkauf des ostdeutschen Mimit ihm dunkle Geschäfte gemacht zu ha- nol-Tankstellennetzes und der Raffinerie
ben. Immer mal wieder tauchten fünfstel- Leuna an den französischen Mineralöllige Beträge auf, die Schreiber CSU-Politi- konzern Elf Aquitaine sollen politische
kern wie dem Wirtschaftsminister Otto Entscheidungen durch Geldzahlungen beeinflusst worden sein. Nach Überzeugung von Schweizer Ermittlern
flossen rund 100 Millionen Mark
Schmiergeld und Provisionen.
Auch hier sollen Kiep und der
flüchtige Pfahls eine undurchsichtige Vermittlerrolle gespielt haben.
So viel ist sicher: Kiep wandte sich
mehrfach an das damals noch
CDU-geführte Kanzleramt.
Die Vorgänge der vergangenen
Woche bringen aber auch den
SPD-Kanzler Schröder in die Bredouille. Von einem Sonderauftrag
für Kiep in Sachen Türkei will die
Regierung schon nichts mehr wissen. Der CDU-Mann habe lediglich den Status eines „Experten“,
auf dessen „Know-how man von
Fall zu Fall zurückgreife“.
So viel Distanz ist neu: Noch im
September adelte Schröder seinen
Kiep, den er aus gemeinsamen Tagen im VW-Aufsichtsrat kennt. Der
Kanzler hielt bei dessen Buchvorstellung eine überschwängliche
Laudatio auf Werk und Autor: Der
„liebe Walther“ sei ein „deutscher
Patriot im besten Sinne“, ein Typ,
mit dem man „Pferde stehlen
kann“.
H. HAGEMEYER / TRANSPARENT
S. SCHULZ / RETRO
seine exzellenten Verbindungen zu Kohl für
das Panzer-Geschäft einzuspannen.
Das belegt ein Brief Schreibers („Via Telefax Vertraulich“) vom 20. Februar 1991 an
Kiep. Zu diesem Zeitpunkt drohte der Panzer-Deal Richtung Nahost im Bundessicherheitsrat zu scheitern. Nur die Hälfte
der Fahrzeuge, diejenigen, die als Ambulanzen oder zum Aufspüren von
ABC-Kampfmitteln ausgerüstet
waren, sollten nach dem Willen des
Auswärtigen Amts freigegeben
werden.
Vorgeblich „in großer Sorge um
die Auswirkungen jüngster deutscher Außenpolitik“ wandte sich
Schreiber deshalb per Fax an Kiep.
Bei einem „Zusammentreffen mit
einem Mitglied des saudi-arabischen Königshauses“ habe er erfahren, wie sehr die Monarchen
„durch die Verhaltensweise der
Bundesregierung verletzt sind“.
Die Genehmigung zur Ausfuhr der
Panzer müsse im Bundessicherheitsrat dringend erteilt werden:
Daher „bitte ich Sie eindringlich,
im Interesse unseres Landes den
Herrn Bundeskanzler über diese
Vorgänge zu informieren“. Schreiber bat noch, Helmut Kohl eine
„freundliche Empfehlung“ auszurichten, den Parteipatriarchen habe
er kürzlich in Kanada gesehen.
Tatsächlich wurde eine Woche
später, am 27. Februar, doch die
Genehmigung zur Ausfuhr aller 36 Panzer
erteilt. Wie es zu dem Wandel kam, ist bis
heute unklar (siehe Kasten).
In den Rechenschaftsberichten der Union taucht die Schreiber-Million nicht auf –
und das liegt an einer ziemlich zwielichtigen Konstruktion. Nach der Darstellung in
dem Vermerk zahlte Weyrauch das Geld
„umgehend auf ein Treuhänder-Anderkonto zu Gunsten der CDU“ ein. Dort sei
es als Festgeld anlegt geblieben, bis die
Union Anfang 1992 über eine Trennung
von ihrem Schatzmeister diskutierte.
Kiep war nach jahrelangen Gerichtsverfahren im Mai 1991 wegen „fortgesetzter
Beihilfe zur Steuerhinterziehung“ im Zusammenhang mit der Flick-Affäre zu
675000 Mark Geldstrafe verurteilt und deshalb nach Ansicht vieler Parteifreunde
untragbar geworden. Als der Bundesgerichtshof im Oktober 1992 die Entscheidung des Landgerichts Düsseldorf aufhob,
war ein Wechsel auf dem Sessel des CDUKassenwarts schon beschlossene Sache.
Kiep, heißt es in dem Vermerk weiter,
hatte sich da schon entschieden, das Schreiber-Geld als „Gratifikation/Sondervergütung“ an zwei alte Weggefährten zu verteilen.Weyrauch und auch Kieps langjähriger Generalbevollmächtigter Uwe Lüthje,
der mit ihm im Flick-Prozess auf der Anklagebank gesessen hatte, hätten etwas abbekommen. In dieses Vorgehen, so Kohl-
Zeuge Weyrauch: Gratifikation für Weggefährten
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Markus Dettmer, Wolfgang Krach,
Georg Mascolo, Dietmar Pieper
25
Deutschland
CDU
Angst vor der Macht
Die Krise der Regierung wird auch für die Opposition zum Problem.
Muss die Union früher als geplant mitregieren?
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M. AUGUST
B
CDU-Politiker Rühe, CDU-Chef Schäuble, Kollegen*: Was tun, wenn Schröder der Union ein
Kanzler. Das ist das Einzige, worauf sich
„Das wäre besser, als drei mühsame JahGerhard Schröder bei uns verlassen kann.“ re Papiere für die Schublade zu schreiben
Was also, wenn Schröder den ungelieb- und zu hoffen, dass die Regierung weiter
ten kleinen Partner vor die Tür setzt und murkst“, sagt ein CDU-Landeschef. Auch
stattdessen der Union ein Angebot zum in der Großen Koalition von 1966 habe der
Mitregieren macht? Schon antichambrieren kleinere Partner, damals die SPD, bei der
Sozialdemokraten der zweiten und dritten folgenden Wahl profitiert, erinnert er sich.
Reihe bei ihren Unionskollegen: „Wir haSo könnte 2002 auch die CDU wieder
ben die Schnauze von den Grünen voll. den Kanzler stellen, geht diese Rechnung
Eigentlich würden wir ja lieber mit euch.“ – auch wenn noch nicht klar ist, wer dann
Die Unionsspitze weist solche Planspie- der Kandidat sein soll. Derzeit gilt in der
le zwar offiziell weit von sich. „Es wird Parteispitze Schäuble als Favorit, Volker
keine Große Koalition mit der CDU ge- Rühes Anhängerschaft in Berlin ist gering,
ben“, erklärt der Parteivorstand unisono. seit er sich völlig auf den schleswig-holLieber wäre es Schäuble, die Koalition ver- steinischen Wahlkampf konzentriert.
schlisse sich weiter in der Regierung. Doch
Die Wirtschaftsprognosen legen Eile
intern gilt als fraglich, ob sich die Konser- nahe, bald in einer SPD-geführten Regievativen dem Druck der Öffentlichkeit und rung mitzumachen. Sinkende Arbeitsloder eigenen konsensversessenen Klientel senzahlen und ein steigendes Wirtschaftsentziehen könnten, wenn Schröder ihnen wachstum im nächsten Jahr könnten Rotdie Hand reicht.
Grün wieder Auftrieb geben, während der
Hinzu kommt, dass sich viele CDU-Ab- CDU nach der Landtagswahl in NRW im
geordnete ohnehin zu einer Art Großer Ko- Mai eine mehr als zweijährige Durstalition über den Bundesrat gedrängt sehen. strecke bevorsteht. „In Zukunft wird es
Dann schon lieber richtig. Denn anders als für die Union schwieriger“, räumt selbst
in einer informellen Großen Koalition könn- Schäuble ein.
te sich die Union in einem
formalen Zweckbündnis CSU-Chef Stoiber*: Mit dem Vizekanzler-Posten locken
auf Zeit als Retter in der
Not präsentieren, über Minister- und Staatssekretärsposten Nachwuchspersonal
aufbauen und bei der Wahl
2002 selbst vom Amtsbonus
profitieren.
* Oben: Parlamentarischer Geschäftsführer Hans-Peter Repnik,
Helmut Kohl; unten: im BMWWerk Spartanburg (South Carolina) im Oktober.
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N. PIERCE
eim CSU-Sozialexperten Horst Seehofer reichte es nicht einmal mehr
zur Schadenfreude. „So etwas habe
ich in 19 Jahren noch nicht erlebt“, meinte der ehemalige Gesundheitsminister
kopfschüttelnd.
Zwar hatte die rot-grüne Regierung ihre
Gesundheitsreform durch den Bundestag
gebracht, doch die Abstimmung geriet zu
einem neuen Debakel für die Koalition.
Sie musste verschoben werden, weil der
Gesundheitsausschuss verschlampt hatte,
die Gesetzesvorlage auf den aktuellen
Stand zu bringen. Dass sich am Ende die
Regierung mit 325 gegen 241 Stimmen
durchsetzte, konnte den wieder einmal bestätigten Eindruck nicht mehr entkräften:
Die können es einfach nicht.
Doch die Opposition trumpft keineswegs siegesgewiss auf. Ihr wird das Versagen der Regierenden langsam unheimlich. Zwar sagt Fraktionschef Wolfgang
Schäuble mannhaft: „Wenn die Regierung
ihren Auftrag nicht erfüllen kann, dann
muss sie das sagen und ihr Mandat an den
Auftraggeber zurückgeben.“
Aber was, wenn die das wirklich täte?
Mindestens vier, wahrscheinlich aber eher
acht Jahre, so das Kalkül der Unionsstrategen nach der verlorenen Bundestagswahl, hätten sie Zeit für eine Erneuerung
ihrer verschlissenen Regierungspartei.
Doch nun häufen sich die Anzeichen des
Koalitionszerfalls, und weitere Konflikte
sind voraussehbar.
Neue Entscheidungen über Waffenlieferungen stehen an, die Türkei möchte ein
deutsches Atomkraftwerk kaufen, und Innenminister Otto Schily rührt am Recht
auf Asyl. Und nach stabilisierenden Wahlerfolgen für Rot-Grün in Schleswig-Holstein (Februar 2000) und Nordrhein-Westfalen (Mai 2000) sieht es derzeit nicht aus.
Schneller, als ihr lieb ist, droht der
Union also die Frage: Was tun, wenn die
Koalition platzt? Dass es dann Neuwahlen
geben könnte, wie die CDU-Spitze fordert,
glaubt die im Ernst selbst nicht. Grüne und
SPD würden das, als voraussagbare Verlierer, auf keinen Fall mitmachen.
Für ein konstruktives Misstrauensvotum,
die einzige Möglichkeit der Opposition,
den Kanzler zu stürzen, fehlt der CDU/
CSU-Fraktion die Mehrheit. Sie müsste
sich erst mal mit FDP und PDS auf einen
Kanzlerkandidaten einigen. PDS-Fraktionschef Gregor Gysi schließt das aus:
„Wir wählen Herrn Schäuble nicht zum
M. URBAN
Angebot zum Mitregieren macht?
Schon werden trotz Ermahnungen der
Parteispitze denkbare Varianten durchgespielt und Posten verteilt, natürlich „rein
hypothetisch“. Nur wenn Schröder das
Feld für einen anderen Kanzler räume, sei
der Einstieg als Juniorpartner in eine
Große Koalition möglich, meinen viele.
Am liebsten wäre der Union der bedächtige Rheinland-Pfälzer Rudolf Scharping. Mit dem können viele CDU-Abgeordnete verlässlich zusammenarbeiten,
gleichzeitig wäre der an Charisma arme
Langsamsprecher ein ungefährlicherer
Gegner bei der nächsten Bundestagswahl.
Ein Vorstandsmitglied ist da weniger
wählerisch: Selbst bei einem Kanzler
Schröder sei ein Nein zum Mitregieren
kaum vermittelbar. „Wenn Schröder morgen anruft, sind wir übermorgen dabei.“
Als unwahrscheinlich gilt aber, dass
Schäuble sich in die Kabinettsdisziplin eines SPD-Kanzlers einbinden lässt. Lieber
würde er nach Einschätzung von Parteifreunden als CDU- und Fraktionschef die
Fäden in der Hand behalten.
Das größte Hindernis für eine Große
Koalition ist die CSU, die fürchten müsste,
zwischen den großen Volksparteien zum
bedeutungslosen Fortsatz zu verkommen.
Letztlich ist aber auch das eine Frage des
Preises. Die CDU könnte Stoiber zum Beispiel mit dem Posten des Vizekanzlers zum
Mitmachen bringen.
Dabei sollte nach den Plänen von
Schäuble und CDU-Generalsekretärin Angela Merkel die Oppositionsarbeit gerade
erst richtig beginnen. Denn die Wahlerfolge, darüber macht sich in der Union kaum
jemand Illusionen, beruhen nicht etwa auf
der eigenen Stärke, sondern sind der
d e r
Schwäche des Gegners zu verdanken. Gesiegt hat die Union mit einer Vermeidungsstrategie: Alternativen zur Regierungspolitik legte sie nicht vor.
Das sollte jetzt anders werden. In einem
„geordneten Verfahren“, so die Vorstellung Merkels, müsse die CDU überholte
Positionen räumen und zeitgemäße Konzepte erarbeiten.
Familie, Bildung, Soziales – die Reihenfolge wurde auf dem Erfurter Parteitag im
April festgelegt. Doch die Dauerkrise der
Regierung bringt sie gründlich durcheinander. Schon mehren sich intern die Stimmen, bereits im nächsten Jahr und nicht
erst Ende 2001 ein neues Sozialstaatskonzept vorzulegen.
Was in den vergangenen Monaten durch
die Siegesserie der Union und den Dauerzwist in der Regierungskoalition verdeckt
wurde, rückt nun wieder in den Blick:
Auch in der Union stehen Modernisierer
gegen Traditionalisten. Ob über den richtigen Umgang mit der PDS oder die Definition des Begriffs Familie, ob über die beste
Strategie für den Bundesrat oder die Rentenreform: Sobald es konkret wird, streiten
die Konservativen nicht weniger heftig als
die Sozialdemokraten.
Weit entfernt ist die Union von einem
schlüssigen, parteiweit akzeptierten Konzept auch in zentralen Fragen wie Rente
und Soziales. Vom Karenzmonat beim
Arbeitslosengeld über die Einführung
einer Selbstbeteiligung bei Arztbesuchen bis zum einkommensunabhängigen Familiengeld reicht die Palette der
Reformvorschläge, mit denen sich die
Union in einem Moment ins neoliberale
Lager schlägt, sich im nächsten Augenblick
aber sozialdemokratischer als die SPD
präsentiert.
Fast einen ganzen Tag lang ließen sich
vergangene Woche deshalb die Mitglieder
der CDU-Kommission „Sozialstaat 21“ von
Experten über Konzepte zur Bekämpfung
der Arbeitslosigkeit und der Sanierung des
Sozialstaats aufklären. Sie bekamen wenig Erfreuliches zu hören.
In Sachen Rente, kritisierte der Wirtschaftsprofessor Ulrich van Suntum, sei die
Union auf einem „verhängnisvollen Weg“.
Merkels Vorschlag, einen Rentenbonus für
kinderreiche Familien einzuführen, ziele
genau in die falsche Richtung: Noch mehr
Menschen hätten Ansprüche an die Rentenkasse, ohne Beiträge zu zahlen, was
das System für alle anderen immer teurer
mache.
Was von der Behauptung Schäubles, die
Union habe die besseren Konzepte, zu halten ist, stellte Wolfgang Peiner, Schatzmeister der Konrad-Adenauer-Stiftung, klar.
Das letzte schlüssige CDU-Konzept zur sozialen Marktwirtschaft sei von Alfred Müller-Armack und Ludwig Erhard erarbeitet
worden. Und das war bekanntlich vor
mehr als 50 Jahren.
Susanne Fischer,
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Tina Hildebrandt
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Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Titel
Planetarische Visionen
Zehn Jahre nach dem Mauerfall verbreitet sich wieder die Furcht vor
deutscher Macht in ganz Europa. Bundeskanzler Schröder pocht auf die Größe des
vereinten Landes. Doch Weltmacht will und kann Deutschland nicht sein.
P
lötzlich ist die niedrige, rot-weiß
lackierte Schranke weg. Es ist 23.20
Uhr. Wie erstarrt steht die Frau im
lila Mantel am 9. November 1989 auf dem
Asphalt am Grenzübergang Bornholmer
Straße in Berlin. Zwei Schritte hat sie sich
vorgewagt – nun ist sie fast schon in einer
anderen Welt, im Westen.
Verwirrt tastet sie nach ihrer Handtasche. Vor ihr liegt die offene
Grenze. Hinter ihr drängen ihre
Ost-Berliner Mitbürger. Und dann
ist kein Halten mehr. Die
Frau rennt los, ein Mann im
dunklen Mantel reißt sie mit,
30
zwei junge Leute in Jeans und Turnschuhen stürmen an ihr vorbei. Hunderte folgen,
tausende. Das Ende der DDR hat begonnen.
Im kollektiven Gedächtnis der Deutschen
sind diese Bilder fest verankert: Menschen,
die sich am Grenzübergang umarmen, auf
Trabis trommeln, auf der Mauer tanzen und
„Wahnsinn“ rufen, immer wieder: „Wahnsinn“; der Bürgermeister mit dem roten
Schal, der verkündet, dass „die
Deutschen das glücklichste Volk“
sind; die Nationalhymne im
Bonner Parlament.
Eine Stadt, ein Land, ein
Kontinent im Taumel der
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Veränderung. 44 Jahre nach dem Ende des
von Adolf Hitler entfesselten Weltkriegs, 28
Jahre nach dem Bau der Berliner Mauer ist
die eingefrorene Weltordnung des Kalten
Kriegs in einer einzigen Nacht aufgebrochen. So viel Bewegung war lange nicht in
dem Land, das den Status quo der Teilung
für ewig als Strafe der Geschichte verinnerlicht zu haben schien. Jetzt tanzten die
Verhältnisse.
Doch deutsche Bewegung macht Angst.
Die europäischen Nachbarn waren alarmiert. Machten sich die Teutonen wieder
einmal auf den Marsch zur Vorherrschaft in
Europa?
gehört, konzentrierten sich die West-Politiker von Anbeginn darauf, den irrationalen Aufbruch im Osten unter Kontrolle zu
bringen.
Sie folgten damit den Wünschen des
Volkes – im Osten wie im Westen. Denn
wie an ein Rettungsfloß klammerten sich
die Menschen, über die das größte Experiment in der Geschichte Nachkriegsdeutschlands hereinbrach, an die Parole,
mit der schon Konrad Adenauer in den
fünfziger Jahren Mehrheiten hinter sich
versammelt hatte: „Keine Experimente“,
wenigstens keine zusätzlichen.
FOTOS: C. BACH / BACH & PARTNER ( li.); SPIEGEL TV ( re.)
Aber die satten Deutschen hatten selbst
viel zu viel zu verlieren. Und so taten sie
alles – angeführt vom beharrlich konventionellen Kanzler Helmut Kohl –, um die
radikale Wende ohne ernsthafte Erschütterungen in bewährte Bahnen zu lenken.
Gemessen an den Ungewissheiten von damals, verglichen mit den Befürchtungen
und Hoffnungen der stürmischen Tage des
Übergangs nennt der britische Zeithistoriker Timothy Garton Ash die vergangene
Dekade „eine große Erfolgsstory“.
Zehn Jahre ist es erst her. Und schon
wirken die Szenen, die das Fernsehen zum
AFP / DPA
Blick vom künftigen Kanzleramt auf den Reichstag, Grenzöffnung an der Bornholmer Straße (1989): So viel Bewegung war lange nicht
Deutsche Panzer auf dem Balkan (1999)
Ein Rest von Misstrauen bleibt
Jubiläum des Mauerfalls zeigt, wie eine
Fiktion. Zu schön, um wahr gewesen zu
sein. Gefilmte Erinnerung an eine ferne,
glückliche Nacht, längst TV-Konserve.
Waren wir das wirklich? Wollen wir das
überhaupt gewesen sein?
Der innere Widerspruch des historischen
Augenblicks war schon damals zu spüren.
So echt wie die Freude war auch die Furcht
der Menschen vor drohender Veränderung.
Kalkweiß wurde Johannes Rau, als er am
Abend des 9. November im Foyer des Leipziger Hotels Merkur vom damaligen WDRIntendanten Friedrich Nowottny erfuhr:
„Die Mauer ist auf!“ Angespannt und verwirrt stand Helmut Kohl neben Willy
Brandt am Tag darauf vor dem Schöneberger Rathaus. Ihn traf die historische Chance seines Lebens genauso unvorbereitet wie
den Rest der Republik. Dass sich im Osten
bedeutsame, womöglich chaotische Entwicklungen anzubahnen begannen, erfüllte
ihn eher mit Besorgnis als mit Genugtuung.
„Wahnsinn“ wurde zum Wort des Jahres. Und weil der bekanntlich gefährlich
ist und in die geschlossene Abteilung
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Zehn Jahre später ist nichts mehr, wie es
war. In Berlin treffen sich die einstigen politischen Erzfeinde Peter Gauweiler (CSU)
und Klaus Bölling (SPD), um gemeinsam
Ex-Bundeskanzler Kohl im früheren Arbeitszimmer von Margot Honecker zu interviewen, in dem „der Alte“ jetzt residiert. In Erich Honeckers ehemaligem
Amtssitz, dem DDR-Staatsratsgebäude,
führt Kohls Nachfolger Gerhard Schröder
die Regierungsgeschäfte.
Gewissheiten gelten nicht mehr. Mit
der Deutschen Demokratischen Republik
ist auch die alte Bundesrepublik verschwunden. Der Staat, der aus seiner
neuen alten Hauptstadt regiert wird,
heißt bei seinen Bürgern schlicht „Deutschland“. Und doch wollen die Deutschen
das Neue noch immer nicht so recht beginnen lassen. Das vereinte Land verharrt
im Übergang.
„Von politischer Aufbruchstimmung“,
konstatiert der Molekularmediziner und
ehemalige Bürgerrechtler Jens Reich,
„fehlt heute jede Spur.“ Stattdessen habe
sich ein stagnierender Konservativismus
31
Titel
breit gemacht. Die Gesellschaft ist erstarrt
in der Furcht vor dem Verlust ihrer Geborgenheit.
Normalität, hatte der jüngst gestorbene
Publizist Johannes Gross 1995 in seinem
Buch „Begründung der Berliner Republik“
prophezeit, werde künftig vor allem „Normalität der Instabilität“ bedeuten. Eine bittere Erkenntnis besonders für die Westdeutschen, die seit dem rasant gelungenen
Wiederaufbau der fünfziger und sechziger
Jahre auf einer Insel der Stabilität lebten.
Die Avantgarde in
Ost und West verweigerte
sich der Realität
Eine Heimat, so Gross, „aus der vertrieben
zu werden überaus schmerzlich ist“.
Nur zu gern hatten deshalb die Deutschen in Ost und West an die „blühenden
Landschaften“ geglaubt, die ihnen Kohl in
Aussicht stellte. Es würde auch nichts kosten, behauptete er – und gewann Wahlen
und den Titel „Kanzler der Einheit“.
Die geistigen Beweger der beiden deutschen Teilstaaten, die Bürgerrechtler im
Osten ebenso wie die Intellektuellen im
Westen, von der Gruppe 47 bis hin zu den
68ern, verweigerten sich im November
1989 der Realität. Das vorwärts drängende
Volk war der Avantgarde unheimlich. Viele gingen auf Distanz, einige, wie Günter
Grass, verschanzten sich hinter dem Argument, „nach Auschwitz“ dürfe es keine
deutsche Einheit geben.
In einem Punkt aber waren sich die
Wähler-Mehrheiten in Ost und West von
Anfang an einig: Die Westdeutschen wollten, dass bei allem Umbruch möglichst viel
so bleibt, wie es ist, die Ostdeutschen
wünschten, dass es endlich so werde, wie
es 40 Jahre lang im Westen war.
Als Garant dafür galt Helmut Kohl, der
noch zweimal – 1990 und 1994 – wiedergewählt wurde. Und auch Gerhard Schröder gewann
1998, weil er „nicht alles
anders, aber vieles besser“ zu machen
Im Aufbruch
versprach. Die Deutschen wollten ein neues Gesicht, aber keine andere Politik.
Wie unter einem Brennglas lässt sich
dieses Beharrungsvermögen in Berlin betrachten. Ausgerechnet in der Hauptstadt,
die weltweit als Symbol des Aufbruchs gilt,
wird der zäheste Verteidigungskampf gegen die neue Zeit geführt.
„In Berlin müsste eine Koalition aus
CDU und PDS regieren“, meint Jens Reich
mit Blick auf die jüngste Landtagswahl, bei
der die CDU im Westen und die PDS im
Osten der Stadt stärkste Parteien wurden.
Doch wie im kältesten Kalten Krieg stehen
sich die Zehlendorfer CDU und die Hellersdorfer PDS unversöhnlich gegenüber.
Sie würden eher ein neues Passierscheinabkommen vereinbaren als eine Koalition.
Berlin, klagt die Finanzsenatorin Annette Fugmann-Heesing, leide an „der
Krankheit Wirklichkeitsverweigerung“.
Das ist ein unheilvolles deutsches Schlüsselwort. Zweihundert Jahre lang haben die
Deutschen, als verspätete Nation, Europa
und die Welt beunruhigt, bedroht und verheert. Immer wähnten sie sich entweder zu
groß oder zu klein. Die Nachbarn, klagte
Winston Churchill, hätten die Germans entweder an der Kehle oder zu Füßen.
Nach 1945 waren sie doppelt klein. Ein
Symbol der deutschen Zweisamkeit konnten
Staatsbesucher vor dem Bonner Kanzleramt
besichtigen: eine in die Höhe strebende
große Bronze-Skulptur aus zwei Teilen,
selbstgenügsam und wie von innen erleuchtet – „Two large Forms“ von Henry Moore.
Das Kunstwerk konnte fast mit dem rostfarbenen Stelzenbau aus dem architektonischen Geist der siebziger Jahre versöhnen, in dem der Kanzler arbeitete und
empfing. Brandt ließ ihn so errichten, Helmut Schmidt, der Erstbezieher, sprach ihm
den Reiz einer rheinischen Sparkasse zu.
Für die Staats- und Regierungschefs aus
London, Paris oder Washington, die imperiale Größe und Schönheit gewöhnt waren, mochte die Arbeitsstätte des deutschen Bundeskanzlers ein ästhetischer
Graus sein – politisch gesehen war so viel
Kargheit immer auch eine Genugtuung.
Das neue Kanzleramt am Spreebogen
in Berlin besitzt acht Stockwerke und ist
36 Meter hoch. Massige Säulen umrahmen im Innern das gläserne Portal, viel
Glas soll dem Würfel aus hellem Sandstein mit einem ganz leichten Rosaschimmer die Wucht nehmen, als hätte da jemand ein schlechtes Gewissen wegen so
viel Größe.
Aus seinem Büro hat der Kanzler freien
Blick auf die Skyline der hochschießenden
Hauptstadt; der Reichstag, der nur unwesentlich höher aufragt, wirkt im Fenster
wie eingerahmt. Die Architektur ist groß,
teuer und zeugt von ziemlich viel Mut.
Den anreisenden Staatsgästen aber wird
gar nichts anderes übrig bleiben, als darin
einen ungemütlichen Hang zum Monumentalen zu entdecken, ein beredtes Zeichen vom Ende der Bescheidenheit.
Deutschland und Europa seit dem Mauerfall
9. November Die Mauer fällt:
Die DDR-Führung öffnet die Grenze
zur Bundesrepublik und nach
West-Berlin.
12. April Lothar de Maizière wird
DDR-Ministerpräsident.
13. November Hans Modrow wird
DDR-Ministerpräsident.
AP
28. November Bundeskanzler Helmut
Kohl legt ein Zehn-Punkte-Programm
zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas vor.
1990
18. März Aus den ersten freien
Volkskammerwahlen der DDR
geht die CDU-geführte „Allianz für
Deutschland“ als Siegerin hervor.
1989
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Deutsche Soldaten beim Nato-Einsatz im Kosovo:
Öffnung der Berliner Mauer
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21. Juni Bundestag und Volkskammer verabschieden den
Staatsvertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik und der DDR.
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1. Juli Der Vertrag, der den
Ostdeutschen die D-Mark
bringt, tritt in Kraft.
23. August Die Volkskammer
beschließt den Beitritt der
DDR zur Bundesrepublik.
12. September Mit der Unter-
zeichnung des Zwei-plusVier-Vertrages in Moskau erhält das vereinigte Deutschland die volle Souveränität.
M. MATZEL / DAS FOTOARCHIV
Eine bestimmende Weltkraft in durchaus positivem Sinn?
gewicht zur amerikanischen Hegemonie zu schaffen“, worauf man im Stab des
russischen Duma-Vorstehers Gennadij
Selesnjow zu hoffen scheint? Bauen die
wieder vereinigten Deutschen womöglich
ein „Viertes Reich“, was 1989 gerade bei
westlichen Nachbarn eine weit verbreitete
Befürchtung war?
Die „deutsche Bedrohung“ erneut zu
entdecken, wie das die Pariser Germanistin
Yvonne Bollmann getan hat, belebt derzeit die Umsätze französischer Buchhändler und britischer Zeitungshäuser. Da spekuliert Philippe Delmas,Vorstandsmitglied
bei Airbus und Intimus des einstigen
Außenministers Roland Dumas, auf 205
Seiten über den „nächsten Krieg mit
Deutschland“.
Also doch: Großmachtgelüste. Wollen
sich nun, zehn Jahre nach dem Mauerfall,
die Deutschen nicht länger zurückhalten?
Drängt es sie endlich zu zeigen, dass sie
wieder wer sind? Zum Beispiel, wie der ehemalige tschechische Ministerpräsident Václav Klaus glaubt, „eine bestimmende Weltkraft in durchaus positivem Sinn“? Oder
vielleicht das „Zentrum des sich herausbildenden Europäischen Systems“, was der
britische Politologe William E. Paterson behauptet? Und das mit einer Hauptstadt, die
„unbezweifelbar das künftige Herz Europas
sein wird“, wie die amerikanische StarFotografin Annie Leibovitz schmeichelt?
Ist Deutschland
gar schon auf dem
Wege, „ein Gegen-
Alain Griotteray, Kommentator des konservativen Pariser „Figaro“, der eine Art
spirituellen Führer durch das neue
Deutschland herausgebracht hat, entdeckt
beim Nachbarn einen „neuen Pangermanismus“ und hält Deutschlands Hauptstadt
für das neue Rom eines „Heiligen Germanischen Reiches“.
Jenseits des Ärmelkanals wird noch gröber geholzt. „Wir dürfen uns nicht von den
Deutschen herumstoßen lassen“, predigt
etwa die „Daily Mail“ ihren Lesern bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit. Der „Sunday Times“-Korrespondent
AA Gill, in seinen modischen Lifestyle-Kolumnen stets um möglichst innige Verschmelzung mit dem Zeitgeist bemüht, appellierte in einer Reportage über das neue
Berlin an seine Leser: „Geben wir es doch
zu, wir alle hassen die Deutschen.“
Wie zu Beginn des Jahrhunderts ist das
wieder vereinte Deutschland mit 82 Millionen Menschen das mächtigste Land auf
dem europäischen Kontinent. „Die Größe“, sagt Kanzler Schröder, „macht den
Unterschied“ zwischen der alten Bundesrepublik und dem vereinten Deutschland.
Und sein Außenminister Joschka Fischer
weiß: „Ein Staat kann von seinem strategischen Potenzial, das sich aus seiner Bevölkerungsgröße, seiner Wirtschaft, seiner
Rüstung und seinen Interessen ergibt, nicht
einfach zurücktreten, kann seine geopolitische Lage nicht ignorieren und bleibt
demnach ein objektiver Machtfaktor, ob
er das politisch will oder nicht.“
In der EU ist die Berliner Republik
die stärkste Wirtschaftskraft, sie besitzt
die größten Währungsreserven und ist
weltweit die zweitgrößte Handelsnation.
Deutschland schickt Soldaten mit der Nato
in das Kosovo, Beobachter in die Uno-Mission nach Abchasien und Sanitäter nach
Osttimor. Für Ost- und Südosteuropäer ist
Berlin Lotse in den Sicherheit und Marktwirtschaft spendenden Westen.
„Deutschland ist groß, ist präsent im
übrigen Europa, und zwar viel mehr als
andere Staaten“, sagt der deutsch-britische
Soziologe Ralf Dahrendorf. Es ist der
wichtigste Handelspartner Russlands im
Westen und auch so etwas wie dessen An-
1991
20. Juni Der Bundestag beschließt,
den Parlaments- und Regierungssitz
von Bonn nach Berlin zu verlegen.
25. Juni Jugoslawien zerfällt.
Kroatien und Slowenien erklären
ihre Unabhängigkeit.
9. Oktober Vertrag zwischen
15. Oktober Friedensnobelpreis für Michail
Gorbatschow.
P. R O N D H O L Z
Bonn und Moskau über den
Abzug der sowjetischen
Truppen aus Deutschland.
Abschied eines russischen
Soldaten
20. September Mit dem Angriff auf
ein Ausländerwohnheim im sächsischen Hoyerswerda beginnt eine
Serie von Überfällen und Brandanschlägen auf Ausländer im vereinten Deutschland.
d e r
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9. bis 10. Dezember Der Europäische Rat
beschließt die Weiterentwicklung der EG zur
Wirtschafts- und Währungsunion EU.
20. Dezember In Berlin wird für
Archivierung und Sichtung der
Stasi-Unterlagen die so genannte
Gauck-Behörde errichtet.
25. Dezember Rücktritt
Gorbatschows. Sechs
Tage später löst sich
die Sowjetunion
offiziell auf.
Michail
Gorbatschow
bei seiner
Rücktrittserklärung
S YG M A
3. Oktober Ende der DDR.
Mit einem Staatsakt in der
Berliner Philharmonie wird
die Vereinigung der beiden
deutschen Staaten gefeiert.
33
S I PA P R E S S
Moskau in die Bundesrepublik
Deutschland ausgeliefert.
34
Und ausgerechnet dieser erste Nachkriegs-Regierungschef, dem von Herkunft
und Attitüde alle Voraussetzungen für klirrende staatliche Großmachtsauftritte abgehen, führte sein Land wieder in einen
Krieg. Aber nur mit 14 Flugzeugen – und
auch nicht allein. In der Nato, das ist die
schlichte Lehre, gibt es die Vormacht USA
und ansonsten Länder minderen Ranges,
* Beim EU-Gipfel in Köln am 3. Juni.
1995
1993
29. Juli Erich Honecker wird aus
Krieg in Bosnien-Herzegowina
Kanzler Schröder, Außenminister Fischer*: Was muten sie den Verbündeten zu?
12. Januar Das Strafverfahren
gegen Honecker wird eingestellt.
2. April Erster Kampfeinsatz von deutschen
Soldaten: Hilfe bei der Überwachung des Flugverbots
über Bosnien-Herzegowina.
1994
16. Oktober CDU/CSU und
FDP gewinnen die Bundestagswahlen.
d e r
1. Januar Finnland, Schweden
und Österreich treten der
EU bei.
darunter – keineswegs in der ersten Reihe
– die Bundesrepublik Deutschland.
In Wahrheit zeigte der Kosovo-Einsatz
vor allem, wie angestrengt die Deutschen
versuchten, neue „Sonderwege“ zu meiden. Der Zuzug aus dem Osten und der
Umzug nach Berlin änderten nichts an ihrer kulturellen und politischen West-Orientierung. Immer gewahr,
dass die deutsche Politik
1996
4. März Der Bundesgerichtshof
verurteilt erstmals einen Offizier
der DDR-Grenztruppen wegen
Totschlags.
26. März Mit dem In-Kraft-Treten
des Schengener Abkommens
fallen die Grenzkontrollen
1997
zwischen Deutschland,
12. bis 13. Dezember
Frankreich, den BeneluxStaaten, Spanien und Portugal. In Luxemburg beschließt die
EU, mit Zypern und fünf osteuropäischen Staaten Ver21. November Das Abkommen
handlungen über einen
von Dayton bringt Frieden
Beitritt aufzunehmen.
für Bosnien-Herzegowina.
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M. DARCHINGER
1992
DPA
walt. Schon 1996 nannte Moskaus damaliger Außenminister Jewgenij Primakow die
vereinigte Republik eine „Weltmacht“.
Keine Frage – Deutschland ist eine
Macht in der Welt, womöglich sogar eine
Großmacht. Eine Weltmacht aber will und
darf es nicht sein. „Bei aller Freude über
die Einheit sollten wir bescheiden bleiben“, mahnte Helmut Kohl schon 1990.
Das ist nicht nur sachlich berechtigt. Ein
Staat ohne atomare Waffen, ohne nennenswerte Rohstoffe, in schlechter strategischer Lage, abhängig von Exporten, auf
Jahrzehnte durch die Milliarden teure Renovierung der ehemaligen DDR belastet –
was für eine Weltmacht sollte das sein?
Entscheidender aber ist die historische Hypothek, die sich das Reich der
Deutschen im zu Ende gehenden Jahrhundert durch sein Hegemoniebestreben aufgelastet hat. Seit Kaiser Wilhelm II.
zur Jahrhundertwende einen Platz an der
Sonne forderte – ein Anspruch, für den
seine Untertanen und deren Kinder in
zwei Weltkriegen bluteten und Europa
zerstörten –, ist Weltmacht ein Wort, das
deutschen Politikern nicht leicht über die
Lippen geht.
Tatsächlich sind es in Deutschland nur
die Kritiker der Vereinigung, die den Regierenden in Bonn und Berlin „WeltmachtIllusionen“ („taz“) oder eine „Neue Weltmachtrolle“ („Neues Deutschland“) unterstellen. Der Argwohn entzündet sich vor
allem daran, dass aus zwei deutschen
Nachkriegsgeschichten wieder eine deutsche Nationalgeschichte geworden ist.
Plötzlich stand „das Volk“ wieder auf
der politischen Bühne, nicht als „die Leute“, sondern als Nation. Das gab der Berliner Republik, die zumindest als symbolisches Staatsgebilde die Nachfolge des
Deutschen Reiches angetreten hat, eine ungemütlich vertraute Färbung.
Nun war jene angebliche „Normalität“
ins nationale Leben der Deutschen zurückgekehrt, an die im Ernst niemand geglaubt
hatte. Als Kanzler im Spreebogen wird
Schröder nicht nur Nachfolger sein von
Konrad Adenauer und Willy Brandt. Er
wird auch in einer Reihe stehen mit Bismarck und Adolf Hitler.
Bundeskanzler
Gerhard Schröder
1998
27. September Rot-Grün ge-
winnt die Wahl. Gerhard
Schröder wird Kanzler.
Titel
in Europa weiter unter Generalverdacht
steht, mühten sich Kohl wie Schröder um
den Nachweis, dass sie ihre wiedergewonnene nationale Souveränität sofort wieder
aufzugeben und in die multinationalen
Bündnisse einzubringen bereit waren.
Die Nachbarn vermerkten es mit misstrauischer Erleichterung. Im Westen mag
geholfen haben, dass die wirtschaftliche
Dominanz eher nachzulassen schien. Die
plötzliche Öffnung der Grenzen riss die
Deutschen wirtschaftlich brutal in den
Strudel der Globalisierung. Sie hatten das
Preis-Dumping nun direkt vor der Haustür.
Im Osten aber wich anfängliches Misstrauen schnell vertrauensvoller Zuversicht.
Warschau blieb auf Distanz, solange Kanzler Kohl zögerte, die polnische Westgrenze
an Oder und Neiße endgültig anzuerkennen. Und bis zum Versöhnungsabkommen
mit den Tschechen 1997 hatte es über die
Ansprüche der Sudetendeutschen in Prag
deutliche Verärgerung gegeben.
Tatsächlich hatte das wieder vereinigte
Deutschland ja zunächst in den mitteleuropäischen Staaten auch nicht viel mehr
als einen Cordon sanitaire gesehen, eine
Pufferzone zum Schutz nicht nur gegen
etwaige Überraschungsangriffe, sondern
auch gegen ein Millionenheer von Wirtschaftsflüchtlingen aus dem Osten.
Doch schon bald florierte der Handel.
Heute ist Polens Außenminister Bronislaw
Geremek „fest überzeugt, dass das Deutschland der Berliner Republik die Aussöhnung
zwischen Polen und Deutschen schafft“, die
für Europas Zukunft von entscheidender
Bedeutung sei. „Der Fall der Mauer gilt den
Polen als Symbol für das Ende der Nachkriegsordnung von Jalta und für die Rückkehr unseres Landes nach Europa.“
Sein ehemaliger tschechischer Kollege
Ji≤í Dienstbier, heute Uno-Beauftragter für
Jugoslawien, wundert sich, in „welch starkem Ausmaß es gelang, die Schatten der
Vergangenheit zu überwinden“.
Dennoch – ein Rest von Misstrauen
bleibt. Vergangenheit und Größe Deutschlands sind für die Nachbarn Risikofaktoren. Ob sie also ihre Hauptstadt neu
bauen, am Kosovo-Krieg teilnehmen oder
Anspruch auf einen ständigen Sitz im Si-
1999
1. Januar Der Euro
ist da – vorerst nur
im bargeldlosen
Zahlungsverkehr.
12. März Mit einem
Festakt im amerikanischen Independence
werden die drei ehemaligen Ostblockländer Polen, Tschechien
und Ungarn in die Nato
aufgenommen.
cherheitsrat der Vereinten Nationen erheben, immer werden im Ausland letzte
Fragen an sie gerichtet: Was wollen sie?
Was muten sie den Verbündeten zu? Was
nehmen sie auf sich?
Keiner ist sich dessen so bewusst gewesen wie Helmut Kohl. Nach dem Fall der
Mauer hatte er nur allzu deutlich erfahren, wie tief auch bei den befreundeten
Nachbarn im Westen die Ängste vor einem
vereinten Deutschland saßen. Die sahen
einen deutschen „Koloss“: 78 Millionen
Bürger stark und mit einem Bruttosozialprodukt von 2,75 Billionen Mark.
„Das heutige Deutschland
ist ein europäischer Staat, frei
von imperialen Ambitionen“
Der französische Präsident François
Mitterrand hielt es plötzlich nicht für ausgeschlossen, „dass man in die Vorstellungswelt von 1913“ zurückfalle – eine
britisch-französisch-russische Allianz als
Gegengewicht. Auch Margaret Thatcher,
entdeckte der Bundeskanzler, habe nicht
hinnehmen wollen, dass Deutschland –
nach zwei verlorenen Weltkriegen – am
Ende dieses Jahrhunderts „als der große
Gewinner“ dastehe.
Dass bei den Jubiläumsfeiern im Berliner Reichstag in dieser Woche neben Helmut Kohl auch Ex-Präsident George Bush
und der frühere Generalsekretär Michail
Gorbatschow reden werden, ist mehr als
eine Geste. Es war wohl tatsächlich das
Vertrauensverhältnis zwischen diesen drei
Männern, das die gewaltfreie und zügige
Vereinigung ermöglichte und die ewige
„deutsche Frage“ entschärfte.
Mittel- und Osteuropa 1989
Die einzig verbliebene Supermacht, Gewinnerin des Kalten Kriegs, hatte Deutschlands Wiedervereinigung von Anfang an
unterstützt, weil Kohl garantierte, dass
auch das ganze Deutschland Mitglied des
Atlantischen Bündnisses bleiben werde,
fest eingebunden in multinationale Strukturen wie etwa die Europäische Union.
Auch die Russen waren erstaunlich umgänglich. Obwohl sie die eigentlichen Verlierer im Machtpoker des Kalten Kriegs waren, verschmerzten sie das Wegbrechen ihres westlichsten Vorpostens überraschend
leicht. Im wieder vereinigten Deutschland
gewannen sie einen Partner, der – zumindest
unter Kohl – besonderes Verständnis für die
Nöte des Kreml entwickelt hatte. Seit dem
Fall der Mauer hat die deutsche Regierung
die Hälfte aller westlichen Hilfsleistungen
an das marode Riesenreich übernommen.
Weltpolitisch bereitet die Bundesrepublik den Russen keinen Grund zur Sorge.
„Die Befürchtungen, mit der Vereinigung
könne ein Superstaat entstehen, der Europa dominiert, haben sich als unbegründet
erwiesen“, glaubt der Politologe Wjatscheslaw Daschitschew, einst Berater
von Michail Gorbatschow. „Das heutige
Deutschland ist ein europäischer Staat frei
von imperialen Ambitionen.“
Am deutschen Kurs hat sich in den vergangenen zehn Jahren nichts Grundsätzliches verändert.
Der grüne Außenminister Joschka Fischer
sagt zwar nicht, wie Kohl, dass die europäische Einigung eine Frage von Krieg und
Frieden sei, aber auch aus seiner Sicht ist die
Erweiterung und Vertiefung der EU eine
Sache der Friedens- und Sicherheitspolitik.
Wie sein Kanzler Schröder denkt er dabei
freilich weniger an die Vergangenheit, wie
die Flakhelfer-Generation, sondern eher an
Bis 1999 veränderte Staatsgrenzen
Finnland
Estland
Norwegen
Schweden
Russland
Lettland
Dänemark
Litauen
zu Russland
Sowjetunion
Niederlande
Belorussland
DDR
Belgien
Polen
Bundesrepublik
Tschechoslowakei
FrankDeutschland
bombardiert die Nato
reich
Serbien. Deutsche Soldaten
Schweiz Österreich Ungarn
sind zum ersten Mal im
Deutschland
Kriegseinsatz.
23. August Kanzler Schröder
beginnt seine Arbeit in
Berlin.
September/ Oktober Bei den
Wahlen in Brandenburg, Thüringen, Sachsen und Berlin
etabliert sich die PDS weiter
als ostdeutsche Volkspartei.
Slowakei
Rumänien
Italien
Bulgarien
Albanien
Moldawien
Slowenien
Kroatien
Jugoslawien
Ukraine
Tschechien
24. März Im Kosovo-Konflikt
BosnienHerzegowina
Jugoslawien
Kosovo
Mazedonien
Griechenland
d e r
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35
A. VÖLKEL / MELDEPRESS
Titel
Großbaustelle Potsdamer Platz in Berlin (1999): Auferstanden aus Ruinen
gangenheit endlich“. Mit der Einheit und
der Diskussion um die „Berliner Republik“
ist er zurückgekommen, und Schröder, der
Enkel, verwendet ihn ohne Zaudern: „Das
Deutschland, das wir repräsentieren, wird
unbefangen sein, in einem guten Sinne
vielleicht deutscher sein.“
Das lässt der Kohl-Nachfolger ungeniert
seine Partner spüren, besonders die Franzosen. Wegen dringender Geschäfte lehnte er im November vorigen Jahres eine Einladung zu den Feierlichkeiten ab, mit denen Paris das Ende des Ersten Weltkriegs
begeht, der in Frankreich der Große heißt.
Seither haftet der Regierung Schröder/Fischer der Ruf an, sie lasse dem
deutsch-französischen Verhältnis nicht die
gebührende Pflege angedeihen. Freilich
gibt es auch in Paris Stimmen, die Versöhnung für getane Arbeit halten, ein abgeschlossenes Kapitel. Die begrüßen es, dass
der Kanzler und seine Minister sich endlich
trauen, im Europäischen Rat die nationalen
Interessen der Deutschen zuweilen auch
mal schroff zu vertreten.
Für sie ist das eine willkommene „Banalisierung“ des symbolisch überhöhten
Verhältnisses. Der französische Außenminister Hubert Védrine sagt: „Es ist ein
großes, normales Land und ein großer, nor-
maler Partner, der für Europa arbeitet, aber
auch seine nationalen Interessen verteidigt. Das ist weder schockierend noch beunruhigend.“
Empfindsamer reagieren hingegen die
kleinen Staaten in der Europäischen Union auf die rabiaten Umgangsformen der
neuen deutschen Regierung. Das grobe
Gebaren des deutschen Kanzlers mag unklug sein, takt- und stillos gewiss auch,
doch Großmachtansprüche verbergen sich
nicht dahinter. Mit der Balance zwischen
Anbiederung und Auftrumpfen haben die
Dass man in Berlin
Deutschen offenbar noch immer SchwieAuschwitz vergessen könnte,
rigkeiten. Aber ein „Viertes Reich“ ist nirerscheint absurd
gendwo zu sehen.
Im Gegenteil. Das neue Deutschland,
lobte der israelische Ministerpräsident
scheint aus deutschem Blickwinkel nur folEhud Barak unlängst anlässlich seines ersgerichtig und wünschenswert.
ten Besuchs in der Regierungshauptstadt
Das alles ist für die neuen Regierenden
Berlin, sei eine „stabile, sensible und dyso selbstverständlich, dass sie sich auch
namische Demokratie“. Es gebe niemandann nicht als Nationalisten fühlen, wenn
den, „der sich ernsthaft vor deutschen masie so klingen. Soll sich der Regierungschef
nipulativen Machtspielen fürchtet“.
unter dem Verdacht sehen, WeltmachtAuch erscheint die Vorstellung, dass die
gelüste zu haben, nur weil er auf DeutschDeutschen in Berlin Auschwitz vergessen
lands neue Größe verweist?
könnten, in der Tat absurd. Die Diskussion
Gerhard Schröder ist weder Willy Brandt
um das Holocaust-Denkmal hält an. Wehrnoch Wilhelm Zwo. Er hat kein geschlosmachtsausstellung, Walser-Rede, Bubis,
senes Weltbild und keine reflektierte Sicht
Goldhagen – an Stichworten, die von der
auf die Geschichte. Sein postmoderner Ponachhallenden Präsenz der
litikstil benutzt SprachbilGeschichte künden, ist kein
der und Beispiele aus der Maueröffnung am Potsdamer Platz (1989): Gefilmte Erinnerung
Mangel.
Historie unbekümmert um
Schwer vorstellbar, dass
ihre emotionale Aufladung.
ein deutscher Kanzler, auch
Die Konkurrenz-Generawenn er aus seinem neuen
tion der Enkel findet dieAmtszimmer hoch über
sen robusten Redestil einden Tiergarten hinausblickt,
fach modern.
in Sichtweite des Reichstags
In den achtziger Jahren
und des Denkmals für die
hat Friedrich Dürrenmatt
siegreiche Rote Armee die
„Deutschland“ einen BeVergangenheit aus den
griff genannt, „den es nur
Augen verlieren könnte,
noch in der Erinnerung
um wieder Weltmachtpläne
gibt, in der Nostalgie, im
zu schmieden. Undenkbar,
Sentimentalen, in der VerSPIEGEL TV
die Zukunft, an die Bändigung von Nationalismus und ethnischer Konflikte auf dem
Balkan oder im Kaukasus.
Wie für Kohl führt auch für Fischer ein
gerader Weg von der gefallenen Mauer
nach Maastricht: Der Euro ist der Preis für
die Einheit. Die Transformation der Wirtschafts- und Währungsunion in einen
europäischen Staatenverbund mit gemeinsamer Außen- und Sicherheitspolitik er-
36
Werbeseite
Werbeseite
Die kommt nicht ungelegen. Bisher ist
Auch die immer noch ungeklärte Frage
der Entschädigung für Zwangsarbeiter ge- Frankreich in der EU der einzige voll intewinnt in der alten Reichs- und neuen Bun- grierte Staat gewesen, der weltweit aktiv ist
deshauptstadt eine andere Gewichtung. In und einen globalen Status beansprucht.
Berlin, wo die Verbrechen geplant, admi- Aber zur Weltmacht reichte es nicht. Von
nistriert und befohlen wurden, sieht sich Charles de Gaulle bis zu Chirac projizierdie Regierung unter verschärfter Beob- te Frankreich diesen Anspruch deshalb auf
die EU: Europa müsse über Freihandelsachtung.
Und doch – wenn heute der Berliner zone und Binnenmarkt hinaus eine autoRepublik von Londoner Tageszeitungen nome Großmacht neben den USA werden.
ein Hang zum wilhelminischen Auftrumpfen unterstellt
wird, horcht man im Bundeskanzleramt auf. Sind wirklich
die Deutschen gemeint? Oder
soll mit der grobschlächtigen
Karikatur Berliner Buhmänner – sogar Außenminister Fischer wird dann schon mal
zum „Gauleiter“ dämonisiert
– das vereinigte Europa eine
möglichst hässliche Fratze
kriegen?
Während viele Briten ihre
Abneigung gegen eine sich
formierende Großmacht Europa gern in Kraut-Klischees Außenminister Fischer*
verbergen, preisen die Fran- Ein gerader Weg von der Mauer nach Maastricht
zosen die neue Bereitschaft
Der Bonner Republik – die ebenso atder Deutschen, in allen Feldern der Politik
mitzumischen – auch bei militärischen lantisch wie europäisch orientiert war –
Einsätzen. Den Willen, ein „globaler waren solche Gedankenspiele befremdlich.
Spieler“ zu werden, verkörpere nie- Jetzt aber, so frohlocken die Franzosen,
mand besser als Fischer, dem Paris nicht seien die „neuen Deutschen endlich in der
nur Seiltänzerqualitäten unterstellt, son- Lage, psychologisch, politisch und histodern auch den Hang zu einer „planetari- risch nicht mehr zurückzubleiben, sondern
sich uns anzuschließen“.
schen Vision“.
Der Grundstein dazu wurde aus Pariser
Sicht am 14. Oktober dieses Jahres gelegt
* Oben: mit seiner amerikanischen Amtskollegin Made– als der Zusammenschluss der französileine Albright am vorigen Mittwoch in Washington;
schen Aerospatiale Matra mit der deutunten: im Flugzeug des US-Präsidenten im Mai 1998.
schen Dasa zum drittgrößten Luft- und
Raumfahrtkonzern der Welt unter der
Schirmherrschaft beider Regierungschefs
besiegelt wurde. Der französische Verteidigungsminister Alain Richard jubelte:
„Die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik ist möglich geworden.“
Auch der gaullistische Staatschef Chirac
stellte fest: „Für die Europäische Union ist
der Augenblick gekommen, sich die institutionellen Mittel und die militärischen
Fähigkeiten zu geben, die es ihr erlauben,
jedes Mal zu handeln, wenn es nötig ist –
ob mit der Nato oder selbständig.“
Dass die Deutschen dabei mitmachen
werden, gilt in Paris als ausgemacht. „Die
Logik der deutsch-französischen Partnerschaft hat sich durchgesetzt“, freut sich Europaminister Pierre Moscovici.
Tatsächlich ist Schröder der Deal willkommen. Gute Geschäfte gefallen ihm immer. Und wie alle Nachkriegsdeutschen,
inzwischen auch viele aus den neuen Ländern, hat der Kanzler gelernt, dass es gefälliger wirkt, die Welt zu kaufen, als sie zu
erobern.
Susanne Fischer, Romain Leick,
REUTERS
dass Schröder auf solche Ideen verfällt, solange er noch am Schlossplatz Nr. 1 regiert.
Denn aus seinem Büro im ehemaligen
DDR-Staatsratsgebäude blickt er mitten in
die deutsche Geschichte. Vor ihm liegen
die freigelegten Fundamente des 1950 gesprengten Hohenzollernschlosses. Daneben steht die größte Ruine der untergegangenen DDR, der braun getönte Glas„Palast der Republik“.
Gleich nebenan findet sich ein weiteres
Wahrzeichen deutscher Kriegs- und Nachkriegsgeschichte, die Reichsbank. Das Riesenbauwerk aus der Nazi-Zeit, ab 1959 Sitz
des Zentralkomitees der SED, wird für
Joschka Fischers Außenamt hergerichtet.
Auferstanden aus Ruinen – Zeugnisse
dreier katastrophaler Phasen deutscher
Vergangenheit stoßen hier im Umkreis von
wenigen hundert Metern aufeinander. Solche Schnittstellen gibt es nur in Berlin. Wohin Schröder und seine aus Bonn zugereisten Minister auch kommen, gehen oder
blicken: Überall drängen sich die steinernen Hinterlassenschaften aus Wilhelms,
Adolfs und Erichs Zeiten ins Bild.
Das gab es im rheinischen Regierungsbetrieb nie. Bonn lag abseits deutscher Erinnerungen, und das war durchaus gewollt.
In Berlin aber gibt es kein Entrinnen.
Als Helmut Kohl noch im Westen regierte, kam niemand auf die Idee, die OstErweiterung der EU mit deutschen Großmacht-Träumen in Verbindung zu bringen.
In Berlin aber will ein spanischer Journalist vom Regierungssprecher wissen, ob es
ein Zufall sei, dass mit der von den Deutschen vorangetriebenen Expansion der
Einfluss auf jenen Bereich östlich von Oder
und Neiße ausgedehnt werden solle, der
einst zum Reich gehörte.
Regierungschefs Clinton, Kohl*: Unterstützung von der Supermacht
38
d e r
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Jürgen Leinemann, Hartmut Palmer,
Gerhard Spörl, Klaus Wiegrefe
IMO
Titel
Werbeseite
Werbeseite
Jugendliche in Ost-Berlin
Schwere Last des DDR-Erbes
J. RÖTZSCH / OSTKREUZ
EINHEIT
Ein Experiment für die Zukunft
Zehn Jahre nach dem Zusammenbruch der DDR sind die
Lebensbedingungen der Deutschen noch immer höchst
unterschiedlich. Nur langsam wächst im Osten die Zuversicht.
A
ls die DDR ihm den Krieg
erklärte, war Jochen Läßig
27 Jahre jung und ein
gescheiterter Mann. Der
Theologiestudent saß im
Januar 1989 eine Woche im
Gefängnis, weil er eine Demonstration mitorganisiert hatte. Für den Staat war er
ein Asozialer; er verdiente sein Geld als
Straßenmusiker.
Neun Monate später, im Herbst 1989,
begann für Läßig der „Aufbruch zu
einem neuen Leben“. Er wurde Mitbegründer des Neuen Forums und Fraktionschef von Bündnis 90 in der Leipziger
Stadtverordnetenversammlung. Die HansBöckler-Stiftung finanzierte sein Jurastudium, im Sommer 1999 eröffnete er mit
einem Kollegen eine Anwaltssozietät.
„Es war, als hätte ich eine zweite Chance
bekommen.“
40
Hans-Jürgen Lüder, 49, war bis zum
Ende der DDR ein erfolgreicher Mann. Er
hatte Mechaniker gelernt, Maschinenbau
studiert und stieg im Ost-Berliner Kabelwerk Köpenick zum Gruppenleiter auf. Für
den Staat war er ein ordentlicher Bürger –
obwohl er weder Parteimitglied noch Stasi-Zuträger war.
Als die DDR zusammenbrach, begann
Lüder mit dem Abbau Ost. Maschine um
Maschine half er mit, ein Ost-Berliner
Hüttenwerk zu demontieren. Dann war
Schluss. 1992 ließ er sich zum technischen
Sachbearbeiter umschulen, 1997 bestand
er eine Weiterbildung für Ingenieure mit
Bestnote. Seither ist er arbeitslos und lebt
von 950 Mark Sozialhilfe. „Ein fester Job
wäre für mich ein Traum.“
Bis heute leiden viele Menschen in den
neuen Ländern daran, dass die Überführung der maroden DDR-Wirtschaft mit
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ihren überalterten Maschinenparks und
ihren immensen Schulden im westlichen
Ausland in lebensfähige Strukturen „kaum
gelungen“ ist, wie die thüringische Wissenschaftsministerin Dagmar Schipanski
bilanziert. Von der wirtschaftlichen Einheit, räumt auch der Ost-Beauftragte der
Bundesregierung, Rolf Schwanitz, ein,
sei der gesamtdeutsche Staat „noch weit
entfernt“.
Die Last des DDR-Erbes war wohl zu
schwer. Die Politik der Vollbeschäftigung,
die der SED-Staat ohne Rücksicht auf Produktivität lange Zeit durchhielt, war unter
den Wettbewerbsbedingungen der Marktwirtschaft zum Scheitern verurteilt.
Zu DDR-Zeiten wollten und sollten alle
arbeiten – auch, anders als im Westen, die
Frauen. Die „Erwerbsneigung“, wie Arbeitsmarktexperten den Wunsch nach Berufsausübung nennen, ist in den neuen
Ländern bis heute weitaus größer als in
den alten.
So kommt es, dass die so genannte Beschäftigtenquote, der Anteil aller Erwerbspersonen an der Wohnbevölkerung, im
Osten sogar höher als im Westen ist. Weil
in den neuen Ländern aber mehr Menschen, vor allem Frauen, arbeitswillig sind
als im Westen, ist die Arbeitslosenquote
mit offiziell 17,2 Prozent mehr als doppelt
so hoch wie in den alten Ländern (8,3 Pro-
Titel
Denk-Mauern
„Vor gut zehn Jahren ist
st die Berliner
Mauer gefallen. Haben Sie sich im
Nachhinein mal gesagt, es wäre
besser, wenn die Mauer noch
stehen würde?“
Gesamt
59
Nie
Gelegentlich
Häufig
26
13
27
25
13
9
Emnid-Umfrage für den SPIEGEL im August; rund 1000
Befragte; an 100 fehlende Prozent: weiß nicht
West
58
Ost
63
schwund: Die Einwohnerzahl sank seit
dem Einheitsjahr 1990 um etwa 800000 von
16 auf rund 15,2 Millionen. Die Zahl der
Ost-West-Wanderer steigt, die der WestOst-Wanderer fällt. Bis 2010 wird der Osten
nach Schätzungen des Statistischen Bundesamtes eine weitere Viertelmillion Menschen verlieren (siehe Grafik Seite 43).
Es sind nach Beobachtung der
Rostocker Statistikerin Ursula
Kück vor allem „extrem viele junge Frauen“, die sich
auf nach Westen machen.
Experten fürchten, dass
die Bevölkerungsstruktur
noch weiter aus dem Lot gerät. Seit der
Wende fehlt es den neuen Ländern an
Nachwuchs. Wegen der unsicheren Lage
wollten viele Frauen keine Kinder mehr
bekommen. Zudem wurden aus finanziellen Gründen viele Kinderkrippen und
Horte geschlossen, die zu SED-Zeiten die
Rundumbetreuung der Kids garantierten
– der Typus der arbeitenden Mutti war ein
Leitbild des Ostens, nicht des Westens.
Viele gehen, obwohl ihre Heimat viel
wohnlicher und komfortabler geworden ist.
Landauf, landab sind die Fassaden der
Häuser gestrichen, die Dächer neu gedeckt
und die Straßen geteert. Die Zeiten seien
vorbei, sagt der Leipziger Kameramann
Lutz Knauth, 39, in denen eine Fahrt von
West nach Ost „wie von einem Farbfilm in
einen Schwarzweißfilm“ war.
Doch das entscheidende Handicap ist geblieben: Noch immer erreicht die Wirtschaftskraft Ost gerade mal 60 Prozent der
Wirtschaftskraft West. Das Pro-Kopf-Steueraufkommen hat nicht einmal die Hälfte
des Westniveaus erreicht – der Osten wird
noch lange am Tropf hängen. Ein Grund:
Von den Transferleistungen in Höhe von
zuletzt 189 Milliarden Mark für 1998 fließt
nur ein Sechstel in Investitionen: Der größte Teil geht für soziale Absicherung drauf.
Nur die Agrarwirtschaft des einstigen
Arbeiter-und-Bauern-Staates brachte es zu
den von Kohl versprochenen blühenden
Landschaften. Die wenigen verbliebenen
Landwirte haben von der Wende profitiert,
sie können mit ihren durchschnittlich 126
Hektar großen Vollerwerbsbetrieben
höchst rationell und zu Weltmarktbedingungen wirtschaften, der Zwangskollektivierung in den fünfziger Jahren sei Dank.
Von so viel Betriebsfläche können die
meisten West-Bauern mit ihren durchschnittlich 41 Hektar nur träumen. „Die
Landwirtschaft“, sagt Dietmar Ehrenholz,
41, Vorsitzender der Agrargenossenschaft
Minzow nahe der Müritz stolz, „ist der
einzige Wirtschaftszweig im Osten, der besser funktioniert als im Westen.“
Ehrenholz war vor der Wende Chef der
Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) „Rosa Luxemburg“, gründete mit Kollegen die Genossenschaft und
übernahm große Teile der LPG. Mit Millionen-Krediten wurde der Maschinenpark
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komplett ausgetauscht; 20 Mitarbeiter bewirtschaften heute rund 1000 Hektar Land,
lassen 300 Stück Vieh grasen und mästen
etwa 4000 Schweine.
Der Preis: Ehrenholz musste etwa 180
der rund 200 Mitarbeiter entlassen.
Die Landwirtschaft läuft.Wer aber große
Industriebetriebe sucht, fahndet in den
neuen Ländern meist vergebens. Es gibt
Westableger wie Volkswagen in Mosel bei
Zwickau (4500 Beschäftigte) oder Vorzeigefirmen wie Jenoptik (8500). Der Optikproduzent jedoch hat, in Jena beheimatet, drei Viertel seiner Arbeitsplätze im
Westen eingerichtet. Unter den 100 größ-
FOTOS: TRANSIT
zent); hinzu kommen 300 000 Menschen,
die in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und
Umschulungen untergebracht sind.
Tatsächlich ist jeder Fünfte arbeitslos.
Und: Wer in Lohn und Brot steht, verdient
durchschnittlich ein Viertel weniger als Berufskollegen in Westdeutschland.
Das subjektive Gefühl von Unzufriedenheit steht dennoch häufig
genug im Gegensatz zur Realität:
So erhalten etwa viele Ostrentner aufgrund ihrer im OstWest-Vergleich längeren Erwerbsbiografien mehr Ruhegeld als Pensionäre. Beinahe jeder zweite Ostdeutsche lebt heute auch
nach eigenem Bekunden „besser als zu
DDR-Zeiten“.
Statistisch gerechnet, geht es den Ostdeutschen so gut wie nie. Binnen sieben
Jahren verdreifachte sich das Vermögen
der Haushalte beinahe. Wie im Westen hat
fast jeder Zweite ein Auto.
Trotzdem hat sich in den vergangenen
zehn Jahren jeder dritte Ostdeutsche „häufig“ oder „gelegentlich“ die Mauer zurückgewünscht (siehe Grafik). „Es gibt eine
Angst vor der Zukunft, die wir als DDRBürger nicht kannten“, sagt der Leipziger
Jens Eßbach. Der 34-Jährige gehört zu den
Einheitsgewinnern: Er arbeitete einst im
VEB Gebäudewirtschaft, der kommunalen
Wohnungsverwaltung, und studierte nach
der Wende Sozialpädagogik. Sein früherer
Betrieb stellte ihn wieder ein, als Sozialarbeiter.
Wie zu DDR-Zeiten ergreifen Ostdeutsche auch heute die Flucht – aber sie suchen im Westen Arbeit, nicht Freiheit. Die
neuen Länder leiden an Bevölkerungs-
Ost-Bürger Läßig*
„Aufbruch zu einem neuen Leben“
ten Konzernen der Republik findet sich
denn auch kein echter Ostbetrieb.
Entstanden ist eine ökonomische Landschaft voller Widersprüche: Der Osten ist
ein großindustrielles Brachland, durchsetzt
mit kleinen Hightech-Oasen und den Keimen einer neuen Unternehmergeneration.
Die Fördermilliarden aus dem Westen,
aber auch der schnelle Anstieg der Löhne
* Oben: 1989; unten: 1999.
41
R. ZÖLLNER
G. SCHLÄGER
halten muss, macht sich politisch auf zweifache Weise Luft.
Rechtsextremisten sind auf
dem Vormarsch. In den brandenburgischen Landtag zogen
bei der Wahl im September fünf
DVU-Abgeordnete, im sachsenanhaltinischen Parlament saßen
nach der Wahl im April vorigen
Jahres 16 Vertreter der DVU; inzwischen gehören drei nicht
mehr der Fraktion an. Auf
100 000 Einwohner kamen statistisch 2,4 rechtsextremistische
Gewalttaten, in Westdeutschland waren es nur 0,7.
Die Politik empört sich und
bleibt hilflos. Konzepte wie
„Tolerantes Brandenburg“, für
das die Landesregierung in diesem Jahr 3,5 Millionen Mark
zur Verfügung stellte, greifen
kaum. Im ersten Halbjahr 1999
wurden dort 33 fremdenfeindliche Gewalttaten registriert, 50
Prozent mehr als in den ersten
sechs Monaten 1998.
Die andere Form des Protestes spiegeln die enormen Erfolge der PDS. Die Postkommunisten sind seit Jahren konOstdeutsche Landwirtschaft: „Der einzige Wirtschaftszweig, der besser funktioniert als im Westen“
tinuierlich im Aufwind. Seit die
führten dazu, dass viele Ostunternehmer Im vergangenen Jahr ging er an die Börse; PDS im Osten zur neuen Volkspartei auflieber in Maschinen als in Menschen in- der Kurs der Aktie hat sich mehr als ver- stieg und die SPD auf den dritten Platz
vestierten. Herausgebildet hat sich im doppelt, und sein Unternehmen ist nun ein verwies, funktioniert die alte Bonner Koalitionsarithmetik nicht mehr. Das ParteiLaufe der Jahre eine hocheffiziente, aber paar hundert Millionen Mark wert.
Doch die meisten Ostbetriebe wursteln ensystem der Republik ist aus den Fugen
menschenleere Struktur. Und es scheint,
als nähme der Osten damit eine Entwick- sich mehr schlecht als recht durch. Hasso geraten, aber immer noch tun sich dessen
lung vorweg, die dem Westen noch be- Düvel, IG-Metall-Bezirkschef für Branden- Protagonisten schwer mit der neuen
burg, Berlin und Sachsen, muss mit anse- Realität.
vorsteht.
Die SPD hat bis heute kein strategisches
In manchen Landstrichen von Mecklen- hen, wie sich immer mehr Unternehmen
burg-Vorpommern oder Sachsen-Anhalt den Zwängen des Flächentarifvertrags ent- Konzept für den Umgang mit der neuen
hat jeder Dritte keinen Job, während im ziehen, sich aus den Arbeitgeberverbänden Konkurrenz zu ihrer Linken. Die CDU
Großraum Dresden, um die Chipwerke von verabschieden und Löhne zahlen, die oft- streitet im Jahre 10 der Einheit, ob die
AMD und Siemens, das „Silicon Saxony“ mals deutlich unter dem üblichen Tarif- SED-Nachfolgerin jetzt auch anders als mit
entsteht – eine Wachstumsregion, die ein niveau liegen. Der Osten sei „ein Experi- dem ewigen Hinweis auf ihre Vergangenpaar hundert innovative Computer- und mentierfeld für die Zukunft Deutschlands“, heit bekämpft werden darf. Die Grünen
haben auf der Regierungsbank ihre Rolle
Softwarefirmen, Handy-Zulieferer und PC- sorgt sich Düvel.
Die gekränkte Seele vieler Ostdeutscher, als Protestpartei eingebüßt und sind, wie
Hersteller angezogen hat.
Der partielle Aufschwung machte einige die Arbeitslosigkeit und Zukunftsangst aus- die FDP, im Osten auf dem Weg in die Bedeutungslosigkeit.Weder grüne
sogar reich, rund 260 Ossis versteuern ein
noch wirtschaftsliberale Ideen
Einkommen von einer Million oder mehr,
haben dort je wirklich Fuß
im Westen sind es nahezu 25 000.
gefasst.
Zu den Erfolgreichsten gehört Hans-DieDie aus dem Osten stamter Lindemeyer, 45, aus Taucha, einer Stadt
mende grüne Bürgerrechts-Abam Rande von Leipzig. In den Wirren der
teilung hatte in den Augen der
Wende, noch vor der Währungsunion, lieh
Wähler mit dem Fall der Mausich der Diplommathematiker bei Freuner ihre wichtigste Aufgabe erden und Verwandten 50 000 Ost-Mark und
füllt. Wer reisen darf, seine
gründete ein Ein-Mann-HandelsunternehMeinung sagen und sich jedermen für Computer. Bei einem Taiwaner in
zeit versammeln kann, braucht
Hamburg holte er mit seinem Trabi im
keine Bürgerrechtler mehr.
März 1990 seinen ersten Rechner ab und
Wo sich die Ostdeutschen
verkaufte ihn daheim.
enttäuscht von den WestparHeute ist aus der Garagenfirma ein kleiteien abwenden, kann die PDS
ner Technologiekonzern geworden. Lindeals Protestpartei reüssieren. Im
meyer gebietet über rund 300 Mitarbeiter
Osten zeichnet sich ein Dreiund steuert die am schnellsten wachsende PDS-Wahlkampf (in Ost-Berlin)
parteiensystem aus CDU, PDS
Firma im deutschen Osten, die Lintec AG. Aufstieg zur neuen Volkspartei
42
d e r
s p i e g e l
4 5 / 1 9 9 9
Titel
Im Glanz der Einheit gefiel die alte Republik sich plötzlich wieder sehr. Die Einheit hat, so paradox das klingt, die politischen Verhältnisse in Deutschland zunächst
auf dem Status quo (West) festgeschrieben.
Der Zusammenbruch des Ostblocks bestärkte die Westdeutschen in dem Glauben,
dass bei ihnen alles in Ordnung sei. Die
reformbedürftigen Sozialversicherungen
wurden nicht nur ohne jeden Ansatz einer
Änderung auf den Osten übertragen, sondern auch noch mit zusätzlichen Kosten
belastet.
Weil Kohl versprach, die Einheit lasse
sich ohne Steuererhöhungen finanzieren,
wurden vereinigungsbedingte Ausgaben
wie etwa die Auffüllung der Rentenbeträge für Rentner aus den neuen Ländern in
die Sozialkassen verlagert. Mit drastischen
Folgen: Von 1991 bis 1998 stiegen
die Beitragssätze zur SozialversiBevölkerungswanderung
cherung von 35 auf mehr als 42
Prozent.
zwischen den neuen und den alten Bundesländern
Vielleicht waren die Fehler unvermeidlich. Denn der vom OstVolk geforderte schnelle Beitritt
Von Ost- nach
Von West- nach
nach Artikel 23 des Grundgesetzes
Westdeutschland
Ostdeutschland
ließ lange Verhandlungen gar
nicht zu. Im Westen waren sie oh395343
36217
1990
nehin nicht erwünscht.
80267
249743
1991
Zwar jammern viele Ostdeutsche immer noch, sie seien vom
111345
199170
1992
Westen kolonialisiert worden.
Tatsächlich aber gab es noch nie
119100
172386
1993
ein Volk, das seine „Kolonialherren“ sogar unter Androhung von
135774
163034
1994
Sanktionen („Kommt die DM
nicht zu uns, kommen wir zur
143063
168336
1995
DM“) ins Land gezwungen hat.
Die Debatte, ob sich die Repu151973
166007
1996
blik mit der Vereinigung auch eine
neue Verfassung geben solle, wur157348
167789
1997
de schnell beendet, auch weil die
182478
151750
Ostdeutschen „nach Jahrzehnten
1998
des realsozialistischen Abenteuers keine weiteren Experimente
Quelle: Statistisches Bundesamt
über sich ergehen lassen“ wollten, wie die Politikwissenschafttraditionelle Milieus der Parteien weg- ler Kurt Sontheimer und Wilhelm Bleek
brechen. Roth: „Der moderne Wähler feststellten. Der Umzug nach Berlin war
lebt im Osten.“ Er ist in seinem Wahl- für das vereinte Deutschland die einzig
verhalten höchst flexibel, Parteitreue ist sichtbare Zäsur im institutionalisierten politischen System. Jetzt agiert die Politik in
ihm fremd.
Doch die Politiker reagieren weit weni- einem völlig neuen Umfeld. Viele Abgeger flexibel auf die Veränderungen – kein ordnete haben in Berlin-Mitte Quartier beWunder, bis auf wenige Alibi-Figuren ist zogen, auf dem Territorium der ehemaligen
die westdeutsche politische Elite unter sich DDR, und begegnen dort den ostdeutschen
geblieben. Angela Merkel, die CDU-Ge- Mitbürgern nun täglich auf Hausfluren und
neralsekretärin, und Bundestagspräsident Straßen.
Die unmittelbare Begegnung von OstWolfgang Thierse sind die einzigen Ostdeutschen, die an der Spitze mitmischen. und Westbürgern führt nicht immer zu
Im Kabinett dürfen Ossis sich um Frauen höherem Verständnis füreinander. Als zum
und Familie kümmern (Christine Berg- Beispiel die von der Wupper an die Oder
mann) und als Staatsminister im Kanzler- geratene Chefarzt-Gattin Gabriela Mendamt um den Aufbau Ost (Rolf Schwanitz). ling jüngst in ihrem Buch „NeuLand“ nach
Sowenig das westdeutsche Volk wegen der Kolonialherren-Art über ihre Erfahrungen
Einheit auf den gewohnten Wohlstand ver- mit spießigen Ossis berichtete, entfaltete
zichten wollte, sowenig waren westdeut- sich vor Ort kollektive Wut. Besonders aber
dringt des Westvolkes Stimme durch, wenn
sche Politiker zu Abstrichen bereit.
und SPD ab, es könnte sich auch bundesweit etablieren. Zwei Volksparteien, CDU
und SPD, mit je einem regionalen Radikal-Satelliten an ihren Flanken, der CSU in
Bayern und der PDS im Osten – das könnte das System der Zukunft sein.
Daneben haben die Wahlanalytiker noch
einen weiteren Trend ausgemacht: Die
Orientierung an Personen ersetzt, zumindest bei den Gewinnern der Einheit, die
Bindung an Parteien – eine plausible Erklärung für die Wahlerfolge der CDUMinisterpräsidenten Bernhard Vogel in
Thüringen und Kurt Biedenkopf in Sachsen. Beide haben sich mit Erfolg als Landesväter profiliert. Dieter Roth von der
Mannheimer Forschungsgruppe Wahlen
glaubt, dass diese Entwicklung auch im
Westen in dem Maße greifen wird, wie
d e r
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43
Titel
Sie verdienen gut, sie können sich eine
große Wohnung und zwei Autos leisten und
wollen, nachdem sie Italien, die Schweiz,
Kanada, Kenia und die Karibik kennen
gelernt haben, nach Australien und Neuseeland. Verlierer der Einheit wie der OstBerliner Ingenieur Lüder indes suchen
auch zehn Jahre nach der Wende nach ihrer Zukunft. Lüder hat in Berlin-Köpenick
einen Arbeitslosen-Selbsthilfeverein gegründet. Die Mitglieder, allesamt arbeitslos, bieten Hauseigentümern Hilfe bei Renovierungen und Kleinbetrieben Unterstützung bei Büroarbeiten an. Sie hoffen,
durch diese Kontakte Arbeit zu finden.
Wer die Hoffnung aufgebe, bis zum Rentenalter doch noch einen Job zu finden,
sei „vom Absturz bedroht“, sagt Lüder. Er
wird im nächsten Jahr 50.
den Ostdeutschen pauschal das Ende des
westdeutschen Wohlfahrtsstaates angelastet wird. Der Ossi sei „eine ästhetische Zumutung“, der absahne, „was an Milliarden
abzusahnen geht“, provozierte der WestBerliner Klaus Bittermann in seiner
Schmähschrift „It’s a Zoni“.
Sahnt der Osten wirklich ab? Politiker
aller Couleur verteidigen die Last, die sie
die Bürger in West und Ost schleppen lassen – vom Solidaritätsbeitrag, der das Netto-Einkommen aller Arbeitnehmer spürbar belastet, bis zum Sparpaket, das zum
Teil eine Folge der enormen Staatsverschuldung für den Aufbau Ost ist. Ihr
Argument: Die Lasten des verlorenen Krieges trug die Bevölkerung des Ostens weit
mehr als die des Westens – nun sollen alle
ein Volk sein, solidarisch bis in jedes
Portemonnaie.
Der Leipziger Kameramann Knauth und
seine Ehefrau können damit bestens leben.
Carolin Emcke, Susanne Fischer,
Florian Gless, Carsten Holm,
Hartmut Palmer, Ulrich Schäfer
W I RT S C H A F T
Der Markt ohne Mauern
Mit dem Ende der DDR begann ein ungeahnter Siegeszug der
Marktwirtschaft. Neue Absatzmärkte, Billigarbeiter und der
schnelle Start des Euro haben die Globalisierung beschleunigt.
D
44
über die Entwicklung der Zinsen – nicht
die Bundesbank in Frankfurt. Der Europäische Gerichtshof hat das letzte Wort
in strittigen Fragen der Wirtschaftspolitik –
nicht der Bundesgerichtshof in Karlsruhe.
Europa hat ein neues Gesicht und neues Gewicht bekommen. Der Fall der Mauer und das anschließende Ende des Sowjetreiches haben aber noch weit mehr ausgelöst: Mehr als 400 Millionen Menschen,
rechnet man China dazu, sogar fast ein
A. SCHOELZEL / ZENIT
ie Menschen nannten es
„Wahnsinn“, als die Mauer
fiel. Welcher Prozess damals, im Spätherbst 1989, in
diesem Moment des nationalen Taumels, in Gang gesetzt wurde, ahnte niemand. Von da an,
Ironie der Geschichte, verlor der Nationalstaat seine Bedeutung.
Denn zugleich begann der Aufstieg des
neuen Europa. Helmut Kohl, der Kanzler
der Einheit, opferte die D-Mark für den
Euro, damit die Nachbarn, allen voran die
Franzosen, der Wiedervereinigung zustimmten. Nicht ein deutsches Europa sollte das Ziel sein, versicherte er, sondern ein
europäisches Deutschland.
Heute ist der Kontinent auf dem besten
Weg zu Kohls Vision. Die gemeinsame
Währung ist für Unternehmen und Investoren bereits Realität. In gut zwei Jahren halten die Bürger die neuen Scheine
und Münzen in der Hand. Weitere Staaten
in Osteuropa werden sich der EU anschließen. Das Zentrum Europas verschiebt
sich nach Osten, der Kontinent wächst allmählich zu einem fast grenzenlosen Markt
zusammen.
Die Nationalstaaten geben immer mehr
Kompetenzen ab. Die Europäische Kommission entscheidet über Finanzhilfen und
Fusionen – nicht die Regierung in Berlin.
Die Europäische Zentralbank bestimmt
Drittel der Weltbevölkerung, sind dabei, in
die Marktwirtschaft einzutreten. In 29
Staaten entstehen neue Standorte und Absatzmärkte.
Wie ein Katalysator hat die Beseitigung
des Eisernen Vorhangs der Globalisierung
Schubkraft gegeben. Im Osten sahen sich
zigtausende Staatsbetriebe plötzlich dem
internationalen Wettbewerb ausgesetzt.
Und im Westen überließ der Staat ehemals
staatliche Domänen wie Energieversorgung oder Telekommunikation dem Spiel
der Kräfte.
Überall auf der Welt wird heute privatisiert und dereguliert, Unternehmen werden vereinigt oder zerschlagen. Mit dem
Untergang des Kommunismus hat auch das
Modell des fürsorgenden Wohlfahrtsstaates
im Westen rapide Anhänger verloren – der
Markt triumphiert, der Staat ist auf dem
Rückzug.
Nirgendwo sonst erleben die Menschen
den epochalen Wandel so unmittelbar wie
am Potsdamer Platz in Berlin. Auf wenigen
Hektar Fläche dokumentieren Konsum
und Lebensstil, wie sich die Welt verändert hat.
Vor zehn Jahren wucherte noch Unkraut
über dem öden Areal. Ein paar Schutthaufen erinnerten an den Krieg, der Deutschland und die Welt teilte – ein Niemandsland zwischen Ost und West.
Heute zieht es jeden Tag 70 000 Menschen, meist Touristen, in die neue Mitte
Berlins. Die Besucher spazieren durch die
zugigen Straßen einer Retortenstadt und
bestaunen die bunte Warenwelt der globalen Wirtschaft.
Nur einen Blick entfernt von der Stelle,
wo einst der Todesstreifen verlief, streckt
sich heute der Bürokomplex von DaimlerChrysler in den Himmel. Wie ein Denkmal
der Globalisierung kündet er weithin sichtbar davon, dass die Idee von der Marktwirtschaft sich durchgesetzt hat gegen die
Ideologie vom alles planenden Übervater
Staat.
Energiekombinat „Schwarze Pumpe“ bei Spremberg (1989): Aufbruchstimmung verflogen
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Braunkohlekraftwerk „Schwarze Pumpe“ bei Spremberg (1998): Konservierung alter Industrien – in moderner Form
Dumping-Konkurrenz ist nur noch einige
Lkw-Stunden entfernt von Deutschland.
Plötzlich konkurrieren niedersächsische
Gießereien mit tschechischen Metallbetrieben, ungarische Dentisten mit deutschen Zahnärzten.
In der grenzenlosen Wirtschaft entstehen Unternehmen, die keine Heimat und
keine Traditionen mehr kennen. Ihre Produkte und ihr Marketing sind nicht auf einen Staat zugeschnitten – ihr Markt ist die
Welt, ihre Sprache englisch, ihr Stil global.
So weit ist der Prozess der Globalisierung gediehen, dass manche fürchten, der
Staat habe bereits kapituliert. Die supranationale Wirtschaft dirigiere mit ihrer Kapitalmacht die nationale Politik
nach Belieben. Der Staat aber
9
19
Am Tropf
geschätzt
verliere allmählich die SouveZahlungen für den
ränität über das wirtschaftliche
189
Aufbau Ost
7
18
Geschehen im eigenen Land.
5
183
18
in Milliarden Mark
„Es ist das Ende der Volkswirtschaften“, sagt der ehemaQuelle: DIW,
Deutsche
lige US-Arbeitsminister Robert
169
Bundesbank 167
Reich. Selbst Spekulant George
Subventionen
Soros warnt, dass die „uneinInves- 16 Milliarden Mark
geschränkte Intensivierung
151
titionen
des Laisser-faire-KapitalisSozial33
mus über alle Bereiche des
139
leistungen
Milliarden Mark
Lebens die Zukunft unserer
84
Allgemeine
offenen und demokratischen
Milliarden
Mark
FinanzGesellschaft gefährdet“.
zuweisungen
In der Tat scheinen die Pro56 Milliarden Mark
portionen zwischen Wirtschaft
und Politik merkwürdig verrückt, wenn zum Beispiel Mannesmann rund 60 Milliarden
1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999
Mark für die britische Mobilda
vo
n
Bis in die letzten Regionen ist das Prinzip des Marktes inzwischen vorgedrungen.
Der Kreis der Teilnehmer im weltweiten
Wettbewerb hat sich nach dem Mauerfall so
sprunghaft erhöht, dass es eigentlich erst
seitdem gerechtfertigt ist, von Globalisierung zu sprechen. Gewiss wären die Tigerstaaten Asiens auch ohne das Ende des Sozialismus zu Wirtschaftsmächten gereift.
Und mehr noch vielleicht hat die Revolution in der Informationstechnik die Weltwirtschaft auf Trab gebracht: Nachrichten
und Kapital können heute so schnell und
billig transportiert werden wie nie.
Doch erst die Öffnung des Ostens hat die
globale Arbeitsteilung neu sortiert. Die
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P. LANGROCK / ZENIT
funkfirma Orange bietet – während Finanzminister Hans Eichel und seine Kabinettskollegen sich krumm legen müssen,
um nur die Hälfte dieses Betrages im
Staatshaushalt einzusparen.
Ist das Pendel nach dem Mauerfall also
zu weit ausgeschlagen – zu viel Markt, zu
wenig Staat?
Margaret Thatcher in Großbritannien
und Ronald Reagan in den Vereinigten
Staaten hatten in den achtziger Jahren den
radikalen Umschwung in Richtung Markt
in Gang gesetzt. Was unter staatlicher
Kontrolle stand, wurde nun liberalisiert,
dereguliert und privatisiert. Genau in
dieser Situation fiel der Gegenentwurf
zur Marktwirtschaft, der Sozialismus, in
sich zusammen. Mit dem Fall der Mauer
öffnete sich eine Schleuse, um die gerade
wiederbelebte liberale Idee des Marktes
auch dort zu verbreiten, wo bislang der
Plan regierte.
China hat sich seitdem in eine „sozialistische Marktwirtschaft“ gewandelt mit
Sonderwirtschaftszonen im Süden, die das
Wachstum des Landes tragen. Indien wandte sich mit dem Ende der Sowjetunion dem
Westen zu und entwickelt sich in einen
Hightech-Standort; dort sind heute sechs
der zwölf weltweit führenden SoftwareEntwicklungszentren beheimatet.
Auch Lateinamerika hat sich verabschiedet von der Idee, das Wohlergehen
der Länder hänge vor allem vom Staat ab,
der die Wirtschaft dirigiert und abschottet. Nun hat es sich dem Welthandel geöffnet, die Zollbarrieren werden abgebaut,
der einst verhasste Feind im Norden, die
45
FOTOS: AP
Börse in New York, russischer Veteran bei McDonald’s (in St. Petersburg): Der Markt triumphiert, der Staat zieht sich zurück
Vereinigten Staaten, ist heute der wichtigste Wirtschaftspartner.
„Es ist unglaublich, was seit 1990
passierte“, sagt der US-Finanzminister
Lawrence Summers, „wirtschaftlich gesehen ist es beinahe eine neue Welt.“
Der erstaunlichste Wandel vom Staat
zum Markt aber geschah in den ehemaligen Ostblockländern. Vor zehn Jahren, im
so genannten Konsens von Washington,
glaubten die meisten Politiker noch, man
müsse einfach eine Schocktherapie anwenden, also auf einen Schlag die Preise
freigeben, Märkte öffnen, Staatsbetriebe
privatisieren, den Handel liberalisieren –
und schon würde die Marktwirtschaft von
allein ihre segensreiche Wirkung entfalten.
Zu Beginn sah es tatsächlich so aus, als
werde die Transformation ein Kinderspiel.
Vor allem in Deutschland war man optimistisch, dass die neuen Bundesländer
schnell Anschluss an den Westen fänden.
Die Menschen in der DDR würden eine
wirtschaftliche Entwicklung in Gang setzen, glaubte der damalige Wirtschaftsminister Helmut Haussmann, „von deren
Schubkraft sich viele keine Vorstellung machen“. Schließlich ähnelten die Umstände
dem Vorbild, das die Westdeutschen noch
in bester Erinnerung hatten: dem Wirtschaftswunder, das ihnen nach dem Krieg
den Wohlstand gebracht hatte.
Doch das Wunschszenario erfüllte sich
nicht. Die Produkte der Ostbetriebe waren
nach der schnellen Einführung der D-Mark
um ein Vielfaches teurer geworden, der
Außenhandel der DDR kollabierte, die
Zahl der Erwerbstätigen schrumpfte um
3 Millionen auf 5,5 Millionen, alle Aufbruchstimmung war verflogen.
Immer wieder schoss der Westen Geld
nach, um den Abwärtstrend aufzuhalten.
Bis heute sind 1,569 Billionen Mark in den
Aufbau Ost geflossen, der größte Teil der
46
Transfers wurde für den Konsum ausgegeben, nicht für den Aufbau von Firmen.
Wenn die Wirtschaft investierte, wurden
häufig alte Strukturen konserviert. Im brandenburgischen Spremberg etwa entstand
das modernste Braunkohlekraftwerk der
Welt, wo früher das Energiekombinat „Schwarze Pumpe“ stand. 111,8
Es sei das „allzu undifferenzierte Vertrauen auf die Marktkräfte“ gewesen,
meint heute der ehemalige Hamburger
Bürgermeister und Ostberater Klaus von
Dohnanyi, das einen erfolgreichen Aufbau
Ost behindert habe: „Die ‚Markt‘-Wirtschaftler unterschätzten erstaunlicherweise die Kräfte des Marktes.“
Ähnliche Schwierigkeiten erfuhren auch
die Staaten in Osteuropa.Viele waren überMotor Ost
fordert, sich mit den neuen Prinzipien –
Der Handel Deutschlands
Eigentum,Wettbewerb, Gewinnstreben – zu
EXPORT
mit Osteuropa und Ländern
arrangieren. Oft fehlten schlicht die Spielder ehemaligen Sowjetunion
82,8 regeln für die neue Marktwirtschaft.
in Milliarden Mark
Russland leidet bis heute daran, dass es
64,7
an erfahrenen und wirksamen Institutionen
Zum Vergleich
Exporte nach Frankreich 1998:
beispielsweise in der Justiz mangelt.
105,8 Mrd. Mark
Doch es ging auch anders, wie die EntIMPORT
48,1
wicklung in Polen beweist. Der Aufbruch in
die Marktwirtschaft scheint geglückt, weil
37,3
56,7
Polen einen entscheidenden Vorteil etwa
23,5
gegenüber Russland besaß: Der Prozess
44,9
der Transformation hatte im Grunde schon
35,0
18,7 1980 mit der Gewerkschaftsbewegung So21,8 Gesamtdeutschland
lidarnośƒ begonnen. Ohnehin bedeutete
der Sozialismus für Polen, aber auch für
Ungarn, Tschechien oder die Slowakei nur
Weltweite Direktinvestitionen
eine Episode in ihrer Geschichte. Die Train Osteuropa und Ländern
dition privater Initiative war noch lebendig
11,6
der ehemaligen
in der Erinnerung vieler Bürger.
Sowjetunion
Von diesen Ländern im Osten geht der
in Milliarden US-Dollar
Impuls aus, der jetzt das neue Europa
entstehen lässt. Der Kontinent
davon 1998
besitzt heute mit rund 14 Billio5,8
aus:
nen Mark eine gewaltige WirtDeutschland
20,2 %
schaftskraft, 370 Millionen Men3,0
USA
14,6 %
schen leben in diesem größten
Binnenmarkt der Welt. Wenn die
Niederlande 10,4 %
0,4*
ersten Staaten des ehemaligen OstFrankreich 7,7 %
blocks dazustoßen, werden es 430 Mil*ohne ehem. Sowjetunion;
lionen sein.
Österreich 7,5 %
Quelle: Statistisches
Bundesamt, Wifo
Ein ganz neues Geflecht an Wirtschaftsbeziehungen entwickelt sich, und Deutsch1990 91 92 93 94 95 96 97 98
land gehört zu seinen größten Profiteuren.
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Titel
Es ist der wichtigste Handelspartner für
die östlichen Nachbarn; der Handel mit
den Reformländern entspricht dem Volumen, das mit Frankreich erwirtschaftet
wird. Mit dem Euro wird der Kontinent
zum führenden Finanzplatz neben den
USA aufsteigen. Die gemeinsame Währung
zieht Kapital aus der ganzen Welt an.
Die Chancen des neuen Europa sind gewaltig. Doch manche empfinden den Wandel auch als Bedrohung. Sie fürchten, dass
die jungen Marktwirtschaften soziale Standards gefährden, die das alte Europa so
mühsam errungen hat. Sie warnen davor,
dass die neue Konkurrenz aus dem Osten
in eine Abwärtsspirale führe.
Kein Zweifel, der Wettbewerb zwischen
Atlantik und Ural wird sich weiter verschärfen. Wenn Europa sich nach Osten
hin erweitert, werden Unternehmen aus
dem Westen stärker noch als bisher neue
Standorte direkt vor ihrer Haustür aufbauen – gelockt von niedrigen Löhnen und
der Nähe zu neuen Absatzmärkten.
Früher hat Volkswagen Autos in
Deutschland gefertigt und ins Ausland exportiert. Dann wurden Werke vor Ort aufgebaut, Komponenten geliefert und die
Fahrzeuge montiert. Nun aber werden immer mehr Autos in Tschechien oder der
Slowakei produziert, von dort wird sogar
der einstige Heimatmarkt Deutschland beliefert – es ist ein stufenweiser Prozess, der
den Arbeitnehmern in den Werken in
Wolfsburg, Braunschweig oder Emden
schwer zu schaffen macht.
Sie müssen heute um jedes Stück Arbeit
kämpfen. Wenn es um die Vergabe der Produktion neuer Modelle geht, stehen sie in
Konkurrenz zu den neuen Standorten im
Osten. Sie haben den Beweis zu erbringen,
dass sie mindestens ebenso billig Fahrzeuge oder Motoren herstellen können wie
ihre Kollegen in Györ oder Bratislava.
Auch umgekehrt wird der Druck aus
dem Osten spürbar. Schon heute drängen
Niedriglöhner auf den Arbeitsmarkt im
Westen. Kaum eine Baustelle in Berlin, auf
der nicht Polen oder Tschechen arbeiten.
Vielleicht schon 2003 werden diese Länder der EU angehören, ihre Bürger haben
damit das Recht, überall in Europa zu leben und zu arbeiten. Die einheitliche
Währung aber wird Unternehmern den
Kostenvergleich noch erleichtern.
Die fast schon vergessene Standortdebatte dürfte damit in eine neue Runde
gehen. Wie sind in diesem neuen Europa
soziale Sicherheit und wirtschaftliche Freiheit in Einklang zu bringen, so lautet die
zentrale Frage.
Der notwendige Wandel nach der Wende hat erst begonnen. Die größten Veränderungen stehen noch bevor, glaubt Romano Prodi. „Der Fall der Berliner Mauer“, sagt der EU-Kommissionspräsident,
„hat die erste Seite eines völlig neuen Kapitels der europäischen Geschichte aufgeschlagen.“
Alexander Jung
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Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Titel
Codes sind westdeutsch geprägt. Andererseits fällt es immer schwerer, die deutsche
Kulturlandschaft ideologisch oder gar
stammeskundlich aufzuteilen.
KU LT U R
Der Boom des deutschen HipHop etwa
begann tatsächlich nach dem Ende des
SED-Staates – etwa zur gleichen Zeit, als
die Techno-Bewegung samt Love-Parade
ihren Siegeszug antrat. Seitdem finden sich
Der Westen hat, kein Zweifel, auch kulturell „gesiegt“. Zugleich
nicht zufällig die besten Clubs im ehemaligen Osten Berlins, und das neue deutsche
fällt es immer schwerer, die deutsche Kunstszene nach Ost
Nachtleben hat einen einzigen Namen:
und West aufzuteilen. Die Blicke richten sich auf die Zukunft.
Berlin-Mitte, bis November 1989 noch das
lysol-, schwefel- und Stasi-verseuchte Doin samstäglicher Gang durch dert hat. Zwar ist nicht einfach „zusam- rado der allertreuesten Parteikader.
Immer neu überraschend: All jene prodas herbstliche Berlin, da, wo mengewachsen“, was „zusammengehört“,
die Stadt 28 Jahre lang durch wie Willy Brandt prophezeite, doch hat minenten Schauspieler, Regisseure und
Mauer und Stacheldraht geteilt sich eine gesellschaftliche, auch geistige Künstler, die das Publikum in Bann ziehen,
war, offenbart die einschnei- Dynamik entwickelt, die Anlass zu Opti- ob Corinna Harfouch oder Katharina Thaldendste Veränderung: Zwi- mismus bietet. Dass es dabei nicht ohne bach, Nina Hagen oder Armin Muellerschen Lustgarten und Pergamon-Museum, Streit und Konflikte abgeht, ist selbstver- Stahl, Kurt Masur oder Ulrich Mühe – sie
Oranienburger Straße und Brandenburger ständlich. Die ungebrochene Popularität waren Honnis mal geplagte, mal privileTor herrscht die Kakophonie der Welt- des Ossi-Witzes wetteifert mit dem Sie- gierte Untertanen. Heute sind sie Stars der
sprachen. Englisch, Französisch, Italienisch, geszug der PDS, der Jammerton Ost kon- deutschen und internationalen Kulturszene.
Aber auch Wolf Biermann gehört in dieJapanisch, Spanisch, Russisch, Polnisch, kurriert mit der Gleichgültigkeit West.
Kein Zweifel: Der Westen hat auch kul- se gesamtdeutsche Kulturbilanz – wie sein
Schwyzerdütsch und andere globale Dialekte haben die alte Amtssprache im Re- turell „gesiegt“, doch es ist zugleich ein verstorbener Freund, der mutige DDRvier, das sozialistische Tremolo des Polit- Triumph der weltweiten, angloamerikani- Aufklärer Jürgen Fuchs, die Regisseure
schen Popkultur. Vom Westen kommt, zum Andreas Dresen („Nachtgestalten“) und
büro-Sächsisch, für immer verdrängt.
Leander Haußmann („Sonnenallee“) ebenEine neue Internationalität hat sich breit Westen drängt fast alles.
Nicht zu vergessen freilich: die hunder- so wie die Theaterleute Thomas und Matgemacht, die beileibe nicht nur von den
freilich gewaltigen Touristenströmen her- te von Millionen Mark teuren Sanierun- thias Langhoff.
„Westdeutschland war nie nur westlich“
rührt. In der Lebensmittelabteilung der gen ganzer historischer Stadtkerne wie in
„Galeries Lafayettes“ an der Friedrich- Weimar, Schwerin, Potsdam, Leipzig oder – an diese schlichte Tatsache erinnert Chrisstraße etwa versichert die französische Dresden, wo derzeit, neben der Frauen- toph Stölzl, scheidender Generaldirektor
Verkäuferin einer hilflosen Kundin aus kirche, auch noch das alte Schloss für 300 des „Deutschen Historischen Museums“ in
Berlin. Schon lange vor dem
Pankow mit Nachholbedarf
Fall der Mauer sind DDRin Trinkkultur im verfühBürger wie Uwe Johnson,
rerischsten Akzent: „Diese
Günter Kunert, Jurek Becker
Wein Sie können trinken imund Manfred Krug in den
mer, egal, was kommt auf die
Westen übergesiedelt.
Tisch.“
Doch wenn ein Stück
Berlin, Zentrum des deutDDR-Kultur in Reinform erschen Ost-West-Dramas, enthalten geblieben ist, dann in
wickelt sich fast beiläufig zu
der einst realsozialistischen
einer wirklichen Metropole,
Volksmusik, die bruchlos an
und wie jede Metropole der
die bayerische „JodelidumWelt wird sie multikulturell
dödeldi“-Seligkeit andocken
sein, voller fremder Menkonnte. Ob Dagmar Fredeschen, die die innerdeutsche
ric, Achim Mentzel, Ingo DuBeziehungskiste mit ihrem
binski oder Stefanie Hertel –
riesigen Arsenal gegenseitinirgendwo sonst ging die so
ger Kränkungen eher wenig
genannte innere Einheit reiinteressiert.
bungsloser vonstatten als im
„Was bleibt?“ lautete der „Hackesche Höfe“ in Berlin-Mitte: Biografisches Hintergrundrauschen
Schlager- und VolksmusikTitel jener etwas verquälten
autobiografischen Erzählung der DDR-Pa- Millionen Mark wieder aufgebaut wird. Business. Ingo Dubinski, Moderator der
radeautorin Christa Wolf, die 1990 für ei- Von einer „wunderbaren Gesundung“ der „Goldenen-1-Hitparade“ (ARD), über das
nen wahren deutsch-deutschen Literatur- Museen im Osten gar spricht Werner segensreiche Wirken seines volkstümelnstreit sorgte. Wieder einmal ging es um Schmidt, pensionierter Generaldirektor der den Haussenders, den Mitteldeutschen
Rundfunk: „Der gibt den Menschen in Ermachtgeschützte Innerlichkeit inmitten Staatlichen Kunstsammlungen Dresden.
Doch all das mag diejenigen nicht inter- furt und Dresden noch einen Haltepunkt.“
einer Diktatur, um die Verantwortung
Welten entfernt kreist die große Leipzider Intellektuellen und die Fähigkeit zur essieren, die darin stets den Geist der „KoSelbstkritik, um deutsche Vergangenheit lonisierung“ erblicken. Denn auch die in ger „Faust“-Inszenierung des Ost-Regisund künstlerische Identität. Heute, zehn regelmäßigen Abständen ausbrechenden seurs Wolfgang Engel (Dauer: rund neun
Jahre nach dem Fall der Mauer, heißt die Feuilletondebatten, der ganze Diskurs-, Stunden) um das intellektuelle Selbstbild
entscheidende Frage: Was wird denn nun? Preisverleihungs- und Veranstaltungszir- des ewigen Suchers und Zweiflers an MeDieser Perspektivenwechsel zeigt, wie kus, nicht zuletzt die geballte Medien- phistos Seite. „Dass sich das größte Werk
viel sich binnen eines Jahrzehnts verän- macht, kurz: Die maßgeblichen kulturellen vollende, / Genügt Ein Geist für tausend
Im Osten was Neues
W. BAUER
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CINETEXT
A. SCHOELZEL
H. J. ANDERS / STERN
Ost-Star Harfouch: Ein Haltepunkt für die Menschen zwischen Erfurt und Dresden
Ost-Stars Masur, Hagen: Von Honnis Untertanen zu Promis der Kulturszene
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Hände“, so phantasiert Faust, doch Engels
Version des berühmtesten deutschen Dramas bricht unübersehbar mit dem notorischen Anspruch vor allem der ehemaligen
DDR-Künstler, durch ein Gemälde die
ganze Gesellschaft erschüttern, die Welt
verändern zu wollen.
Gerade die Repression in der DDR hatte diese fatale Illusion genährt, die sich
zuweilen heute noch artikuliert, etwa im
ostdeutschen Lamento über die akute Bedeutungslosigkeit der Kunst unter dem programmatischen Banner des Werbemottos
„Die Freiheit nehm ich mir“ – aber was
verändert sie außer dem Kontostand?
Auch gestandene Ost-Politiker kommen
mit den Ambivalenzen der Freiheit immer
noch nicht zurecht. Nach neun Jahren im
Dienst der parlamentarischen Demokratie
äußerte sich die abgetretene Brandenburger Sozialministerin Regine Hildebrandt
(SPD), die Jeanne d’Arc des Ostens, jüngst
im „Stern“ mit tief empfundener Verachtung über die Pressefreiheit: „Die ist für
mich pervertiert. Was alles so geschrieben
werden darf, ist unverantwortlich. Wir sind
aus der Einfalt in die Vielfalt geraten.“
Vielfalt als kulturelles Feindbild. Gleichzeitig beklagen viele das „Plattmachen“
von DDR-Kultur. Dabei wurden große
Theaterhäuser zunächst vor allem in WestBerlin geschlossen: 1992 die Freie Volksbühne, ein Jahr später das Schiller-Theater.
Viel Geld fließt dagegen derzeit ins Berliner Ensemble (BE) am Bertolt-BrechtPlatz Nummer 1, wo ab 8. Januar 2000
der neue Intendant Claus Peymann allen
korrupten Glattgesichtern der Berliner Republik zeigen will, was eine linke Schnürbodenharke ist.
Derweil sammeln sich jeden Sonntagnachmittag, einen Steinwurf vom BE entfernt, hunderte vorwiegend ältere Menschen vor dem Friedrichstadtpalast. Die
Welt dreht sich hier, wie zu Honnis Zeiten,
immer noch und unverdrossen um phantastisch lange Frauenbeine.
Doch derart Seichtes beeindruckt den
gelernten Ost-Protestler schon gar nicht.
Gegen das Ende vieler Jugendclubs kämpft
er bis heute so, als ob sich in den zumeist
winzigen Neubauwürfeln der Trabantenstädte die Arbeiterjugend zum Lesen expressionistischer Lyrik getroffen hätte –
und als ob aus orientierungsschwachen
Burschen rechtsradikale Schläger werden
mussten, nachdem es diese Treffpunkte aus
Beton und Platte nicht mehr gab.
Dass es tatsächlich – ökonomisch wie
politisch motiviert – auch an die kulturelle Substanz geht, ist unbestritten. Obwohl
unter anderem in Frankfurt (Oder) erst
Ballett und Chor, schließlich die gesamte
Musiktheatersparte abgebaut, die Potsdamer Oper praktisch abgeschafft und das
Theater der Stadt Brandenburg fast auf
Null gefahren wurden, geht es jetzt noch
mal richtig zur Sache: Die Brandenburgische Philharmonie Potsdam wird aufgelöst
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Titel
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Osten wird immer nur über den Osten geredet, als wäre die Zeit stehen geblieben.“
Vielerorts hat man sich in einer überschaubaren Nischenkultur eingerichtet,
feiert Ost-Partys, liest die „Junge Welt“
und hört Ost-Rock, dessen Code dem
Nichteingeweihten nur schwer verständlich ist. Die populärste Rockband der
DDR, die Puhdys („Alt wie ein Baum /
A. SCHOELZEL
scher Weltbetrachtung unvergessliche
Stunden vor dem Fernsehgerät, wenn er
im raunend-gehusteten Nachtgespräch mit
Alexander Kluge über Stalingrad, Aldi,
Hölderlin und Sophokles redete, als schöpfe er aus einem nie versiegenden Reservoir von Geschichten und Gedanken – immer mit Whisky und Zigarre.
Aus dieser Haltung heraus hat auch
Frank Castorf die Ost-Berliner „Volksbühne“ am Rosa-Luxemburg-Platz als stolzen
„Panzerkreuzer“ vor dem Prenzlauer Berg
in Stellung gebracht. Mit diesem Gerät ballert der 48-jährige Theaterintendant und
Stückezerfetzer nun schon seit sieben Jahren wüst in die vertraute Gegend – mit einem Programm, das die spezifische Aggressivität und Asozialität des Ostens konserviert, dabei sein junges Publikum findet
und von der gesamtdeutschen Theaterkritik geliebt wird, noch im Verriss.
Indes, der Prenzlauer Berg, den er gegen
die Obszönität der kapitalistischen Warengesellschaft verteidigen will, ist auch
nicht mehr, was er war. Seit die Leidenschaft für subversiv-poststrukturalistische
Dichtung nur noch halb so groß ist, seit
sich die demonstrativ amoralische Literaten-Szene nach der Entlarvung ihres
Führungsoffiziers Sascha „Arschloch“ Anderson als „Inoffizieller Mitarbeiter“ der
Stasi plötzlich doch in einem
moralischen Diskurs wiederfand, ist die Luft raus. Der
Mythos von den anarchistischen Hinterhausdichtern ist
dahin. Dafür gibt es jetzt bessere Kneipen.
Jenseits des entschwundenen Untergrunds und seiner
alten Helden ist derweil eine
neue Generation am Werk.
Für sie sind, spiegelbildlich zu
ihren Altersgenossen im Westen, die ideologischen Klassen- und Grabenkämpfe, Prag
’68 oder die Biermann-Ausbürgerung 1976 keine bestimmenden Grunderfahrungen
mehr. Die DDR ist ihnen
allenfalls biografisches Hintergrundrauschen, tauglich
weder als Quelle für Verbissenheit noch für nostalgisches
Sehnen.
An der Tatsache, dass der
Osten in der Kultur des vereinten Deutschland unterrepräsentiert ist, scheint er selbst
nicht schuldlos zu sein. OstAutor Thomas Brussig, dessen
Roman „Helden wie wir“ in
dieser Woche als Film in die
Kinos kommt, sagte jüngst:
„Es gibt das Internet, die
digitale Revolution, es gibt
Kleinanleger, Einschaltquoten,
deutsche Soldaten im Krieg
BE-Intendant Peymann
und die neue Mitte. Aber im
Linker Schnürbodenhaken gegen das Establishment
D. BALTZER / ZENIT
und durch ein Kammerorchester ersetzt.
Das Theater- und Musikangebot soll durch
„Fremd- und Verbundproduktionen“ ersetzt werden – ein Hauch VEB Spaß und
Entertainment.
Nach dem Ende der DDR verschwanden aber nicht nur Bühnen und Ensembles, sondern vor allem die Autorität des
Künstlers. Kurz: Dem Osten ist die alte intellektuelle Mitte abhanden gekommen.
Zwar ist Christoph Hein gesamtdeutscher
PEN-Präsident geworden, sein aktuelles
Drama „In Acht und Bann“ aber, eine Art
Fortschreibung seiner erfolgreichen Politbüro-Travestie „Die Ritter der Tafelrunde“
von 1989, fand nur mäßiges Interesse. Über
Christa Wolf redet man zehn Jahre nach
der Wende nur noch, weil sie 70 wurde,
und Heiner Müller ist tot. Vor allem der
Verlust dieses intellektuellen Übervaters
stürzte den geistigen Osten in einige Depressionen: War Müller es doch, der nicht
nur gewaltige Menschen- und Menschheitsdramen aufs Papier warf, sondern mit
seiner eschatologischen Sehnsucht nach
dem ganz Anderen und seiner pointierten
Polemik gegen die kapitalistische Warenwelt dem weit verbreiteten Ost-Unbehagen
zur Sprache verhalf.
Doch auch dem interessierten Minderheiten-Wessi bereitete der Meister zyni-
Ost-Dichter Müller (1994)
Einst intellektueller Übervater
Möchte ich werden“), ist weder auf MTV
noch bei Viva präsent, füllt im Osten aber
noch spielend die Säle. Gleichzeitig bekennt eine Mehrheit in der alten Bundesrepublik, noch nie „drüben“ gewesen zu
sein und schon gar nichts von den Puhdys
gehört zu haben.
Wie östlich oder westlich ist also die Kultur des „neuen Deutschland“ zehn Jahre
danach? Ist sie ernster und protestantischer
geworden, wie manche fürchteten, oder ist
sie gar noch beliebiger, konsumistischer
und orientierungsloser als zum Ende der
achtziger Jahre?
Es mag sein, dass das kulturelle und politische Klima zugleich südlicher, also heller, und nihilistischer, also dunkler, geworden ist, desillusioniert-ironisch und geradezu atheistisch-neuheidnisch im Sinne der
Harald-Schmidt-Show.
Gleichzeitig zischen immer wieder ideologische, quasireligiöse Erlösungswünsche
durch die Ventile der Spaßgesellschaft, rudimentäre Proteste gegen jene utopielose
Ex-und-hopp-Gegenwart, an der man selber teilhat.
So ist die gesamtdeutsche Enttäuschung
über das rot-grüne Gemurkse von Schröder & Co. auch ein Reflex auf die Erfahrung, dass offenbar nicht einmal das eigentlich Mögliche politisch Wirklichkeit
wird, vom Visionären ganz zu schweigen.
Zeithistoriker Stölzl entdeckt denn auch
in dem „absoluten Nihilismus“ einer jungen Generation von Ost-Autoren und -Regisseuren einen neuen „GrimmelshausenTon“ – als Protest gegen diese Tabula-rasaEpoche, gegen den „lemmingartigen Zug
zur Mitte, ohne jede Theorie“, gegen den
hohl klingenden Konsens einer Gesellschaft, die sich selbst nicht mehr zu verstehen scheint. Vielleicht wird gerade
diese Erklärungsnot zur kulturellen Herausforderung des neuen Deutschland.
Andreas Lehmann, Reinhard Mohr
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Titel
D E B AT TE
„Unsere Schläfrigkeit ist unbegreiflich“
Arnulf Baring über den Wohlfahrtsstaat, die Berliner Republik, den Euro und Ost-Europa
D
AP
ie 50-Jahr-Feiern der Bundesrepublik sind er- wert, wäre er nicht so symptomatisch für die Stimstaunlich matt ausgefallen, lustlos, fast beiläufig. Ist mung und Tonlage, in denen Deutsche über
das ein gutes Zeichen – ein Beweis der Selbstver- sich und ihr Land sprechen. Von den NS-Verständlichkeit des Erreichten? Oder ist es ein brechen ist überall und täglich die Rede. Kein
schlechtes Zeichen, ein Beweis geringen Stolzes Fernsehabend, der ohne diese Chiffre
auf die große Leistung dieses halben Jahrhun- des Schreckens auskäme.
Weil unsere ganze, viele Jahrhunderte
derts, ein Beleg müder Gleichgültigkeit, emotionaler Distanz gegenüber der Bundesrepublik – während das zehnjährige Jubiläum lange Geschichte das Verhängnis 1933 nicht
verhindert habe, heißt es weithin, sei sie insgesamt zu verwerfen.
des Mauerfalls spektakulär gefeiert wird?
Ich habe eine seltsame, irritierende Erfahrung in diesem Som- In der frühen Nachkriegszeit haben sich die Deutschen noch gemer gemacht. Ich veröffentlichte im Frühjahr ein Buch mit dem gen die Behauptung verwahrt, dass eine gerade historische Linie
Titel „Es lebe die Republik, es lebe Deutschland“. Politiker aus von Luther zu Hitler führe. Heute ist dies die Auffassung breiter
allen ernst zu nehmenden Parteien, aber auch Verlagsleute, Jour- Kreise, wenn nicht die herrschende Meinung.
Im Unterricht spielt demgemäß unsere Geschichte keine wichnalisten, viele Freunde und Bekannte haben mir von diesem „provokativen“ Titel abgeraten. Er werde mich in den Verdacht des tige Rolle, vom Stolz auf große Zeiten, vorbildhafte Deutsche der
Vergangenheit kann im öffentlichen Bewusstsein keine Rede sein.
Rechtsradikalismus bringen.
Ich konnte das nicht glauben, insistierte, was denn an diesem Die 68er haben weit mehr in Misskredit gebracht als die eigene
Ruf radikal oder extrem sei – den ich doch aus Frankreich über- Elterngeneration. Sie haben alles Vergangene entwertet und ins
nommen hätte, wo selbstverständlich der Präsident der Repu- Vergessen gerissen. Aus der selbstherrlichen Geschichtsbesessenblik, aber auch einfache Bürgermeister in feierlichen Momenten heit eines übertriebenen, fatalen preußisch-deutschen ReichspaAnsprachen mit dem Ruf schlössen: „Vive la République, vive la triotismus sind wir ins andere Extrem, in die fast völlige Geschichtsvergessenheit geFrance!“ Es sei für einen
raten, die NS-Zeit ausgeDemokraten doch eine
nommen.
Selbstverständlichkeit,
Aber was soll man von
die Republik hochleben
der emotionalen Stabizu lassen, ihr Glück zu
lität von Menschen halwünschen.
ten, die ihre Vorfahren,
Das wurde mir zöihre eigenen Eltern und
gernd zugegeben. Und
Großeltern nicht kennen,
wie die Republik leben
nicht verstehen wollen
könne, wenn Deutschund in keiner Hinsicht
land nicht lebe, nicht
anerkennen können? Ein
blühe, es Deutschland
Mensch, der seine Vornicht gut gehe? Auch das
fahren nicht kennt, bleibt
wurde eingeräumt. Imwurzellos, orientierungsmer wieder erlebte ich
los. Ähnlich geht es einer
ein entspanntes Lächeln,
Nation, die ihre Verganstilles Leuchten, ja ein
genheit verleugnet. Es
tiefes Aufatmen, wenn
fehlt uns an der rechten
das Missverständnis ausMischung von Nähe,
geräumt war.
Neugier und Distanz geMich hat diese Erfahgenüber früheren Deutrung aufgestört und beJubelnde Deutsche (1989): „Es lebe die Republik, es lebe Deutschland!“
schen, es fehlt uns an inunruhigt. Unser emotionales Verhältnis zum eigenen Land scheint mir tiefer gestört, als nerer Balance, Abgewogenheit des Urteils. Aber wen nicht interman vermuten sollte. Wir ruhen überhaupt nicht in uns selbst, be- essiert, was vor ihm war, der wird im Zeitalter der Selbstverwirkjahen uns, Deutschland, auch die Republik nicht wirklich, weil wir lichung auch wenig Verständnis für Generationen aufbringen, die
seit Jahrzehnten wesentlich negativ über die eigene Nation haben nach ihm kommen.
Wir alle haben aber eine Verantwortung für die Kinder, die Enreden hören, denken lernen. Immer wieder heißt es in deutschen
Reden, in Reden über Deutschland, die Franzosen hätten ihr 1789, kel. Meine Kinder werden vermutlich die Mitte, meine Enkel die
die Briten ihre lange demokratische Tradition, die USA seit 200 Jahrzehnte des ausgehenden 21. Jahrhunderts erleben. BevölkeJahren, seit Thomas Jeffersons Unabhängigkeitserklärung, eine rungswissenschaftler sind sicher, dass die Deutschen dann unstrahlende Republik. Grundlage unserer eigenen Identität hinge- weigerlich nur noch 30 Millionen sein werden. Wer bedenkt vergen sei Auschwitz. Günter Grass nannte seine Frankfurter Poetik- antwortungsbewusst, was das heißt, welche Entschlüsse es heute
Vorlesung 1990 nicht etwa „Schreiben in Deutschland“, nein: erfordert? In unseren Jahrzehnten hat man den älteren Genera„Schreiben nach Auschwitz“. Ein Titel, nicht weiter erwähnens- tionen, die das Dritte Reich erlebt haben, selbstgerecht und vor56
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Titel
J. ECKEL / RETRO
wurfsvoll ihre Versäumnisse vorgehalten. An diesem strengen Demokratie, wie viel vorbildliche Staatstätigkeit jener JahrhunMaßstab müssen auch wir Heutigen, unter ganz anderen Voraus- derte kennt unsere Geschichte! Europa solle endlich erwachsen
setzungen, vor völlig verschiedenen Herausforderungen, uns mes- werden, meinte kürzlich wieder einmal „Die Zeit“. Ein Mensch
sen lassen. Wir sind den Vorfahren wie den Nachkommen Re- ist erwachsen, wenn er sich so annimmt, hinnimmt, wie er nun einchenschaft schuldig. Gewiss lässt sich fragen: Sind 30 Millionen mal geworden ist. Wenn er sich weder über- noch unterschätzt.
Deutsche nicht genug? – Nicht, wenn der Großteil im Rentenal- Auch mit den eigenen dunklen Seiten zurechtkommen, leben
ter ist und die Übrigen die sozialen Lasten zu tragen haben. Was kann, sich nicht mehr als einzigartig empfindet, in die Generationsfolge stellt. In diesem Sinne muss erst einmal Deutschland erbedeutet dieser Schwund für unsere Einwanderungspolitik?
Ein Volk, dessen Sozialsystem einen ausgewogenen Altersauf- wachsen werden, um in Europa bescheiden und gleichzeitig selbstbau benötigt, bekommt natürlich gewaltige Probleme, wenn kaum bewusst seine Rolle zum gemeinsamen Besten auszufüllen.
Niemand außerhalb unserer Grenzen hat je die Vorstellung genoch Junge nachwachsen. Ich will nicht suggerieren, dass die
Deutschen durch bevölkerungspolitische Maßnahmen aufgepäp- teilt, dass Europa, die EU, an die Stelle der Nation treten solle oder
könne. Es war immer vom
pelt werden müssen. Aber
Fortbestehen der Natioich will sagen, dass wir
nen, zumindest auf absehlangfristiger denken, auch
bare Zeit, die Rede. Die
für die Enkelgenerationen
Völker, auch das unsere,
planen müssen.
werden für die Lösung der
Wenn man das Problem
dringenden eigenen Prounseres langfristig unaufbleme erwartungsvoll auf
haltsamen Bevölkerungsdie eigene Regierung, das
schwundes durch Einwaneigene Parlament blicken.
derung lösen will, dann
Und das eigene Land, die
muss man sich über die fieigene Nation wird darnanziellen, vor allem die
über entscheiden, niepsychologischen Folgen
mand sonst, keine Allianz,
im Klaren sein. Bisher sind
keine Union, ob man ökoja die Vertreter des Multinomisch, technologisch in
kulturellen immer davon
der Spitzengruppe bleibt,
ausgegangen, mehr oder
(wieder) in sie kommt
weniger stillschweigend,
oder (weiter) zurückfällt.
dass die Ausländer einen
Man hat die Deutschen
kleinen Anteil darstellen.
in Ost und West „SozialEine Situation, bei der die
staatspatrioten“ genannt.
Deutschen im eigenen
Grenze bei Frankfurt (Oder): Den Nachbarn auf die Nerven gehen
Wir sind stolz auf unseren
Land auf weite Strecken
in die Minderheit gerieten, wäre nur erträglich, wenn eine Inte- Wohlfahrtsstaat. Die Honecker-Ära kennzeichnete „die Einheit
gration der Ausländer in die deutsche Kultur stattfinden würde. von Wirtschafts- und Sozialpolitik“, was in der Praxis, wie bei uns
Henry Kissinger hat gesagt: „Wenn das, was heute in Amerika heute, auf den Vorrang der Sozialpolitik hinauslief. „Wir haben
und auch in Deutschland vertreten wird, die multikulturelle Über- die Sozialpolitik zu sehr in den Vordergrund gestellt und zu
zeugung, dass man alle so lassen soll, wie sie sind, schon in den wenig die ökonomischen Notwendigkeiten bedacht“, räumte
dreißiger Jahren gegolten hätte, dann wäre mein Aufstieg in Ame- Egon Krenz kürzlich ein. Inzwischen habe er sich zu der Errika gar nicht möglich gewesen, denn dann wäre ich in der Bronx, kenntnis durchgerungen, dass man nur ausgeben könne, was man
wo alle damals Deutsch sprachen, weil sie deutsche Emigranten auch erwirtschaftet habe. Diese schlichte, späte, aber fundamenwaren, als Deutsch sprechender Jude sitzen geblieben.“ Die kul- tale Einsicht des letzten SED-Generalsekretärs möchte man
turelle und politische Integration ist die Voraussetzung, um sich nicht nur seinen Nachfolgern in der PDS-Führung, sondern allen
in der neuen Nation, der Gast-Nation, die dann die eigene wer- deutschen Politikern und natürlich dem Volk dringend ans Herz
den soll, erfolgreich durchzusetzen. Wir haben die Folgen der legen.
Die alte Bundesrepublik war nie wieder so tüchtig, so erfolgveränderten Zusammensetzung der Bevölkerung bisher in keiner
Weise zu Ende gedacht. So gehen wir mit fundamentalen Pro- reich wie in den ersten beiden Jahrzehnten ihres Bestehens (1949
bis 1969); in der zweiten Hälfte ihrer Existenz begann sie, in dem
blemen Deutschlands um!
Alle Welt weiß, dass wir ein Umsetzungs-, nicht aber ein Er- Irrglauben, die Konjunktur sei staatlicherseits beliebig steuerbar,
kenntnisproblem haben. Längst ist allen Verantwortlichen klar, in durchaus unterschiedlichen Phasen sich auf den Lorbeeren der
was getan werden müsste. Wir tun das Erforderliche jedoch nicht, beiden Anfangsjahrzehnte auszuruhen, über ihre Verhältnisse zu
weil wir mit uns selbst nicht im Reinen sind, den Frieden mit uns leben. Schon lange vor der Wiedervereinigung war sichtbar, dass
selbst, mit dem eigenen Land nicht gemacht haben, wesentlich von wesentliche Entscheidungen unerledigt blieben, ja unerörtert vernegativen Gefühlen Deutschland gegenüber erfüllt sind, Deutsch- tagt, ignoriert wurden. Joachim Fest hat gemeint, der Nationalland nicht bejahen können, ihm eigentlich keine, schon gar keine sozialismus sei im Tiefsten Wirklichkeitsverneinung gewesen.
glückliche Zukunft wünschen, es am liebsten in einer größeren Hannah Arendt beklagte, dass die Deutschen Tatsachen von MeiEinheit, beispielsweise in Europa, vielleicht auch gleich in den Ver- nungen nicht unterscheiden könnten, Meinungen für Tatsachen
hielten, Tatsachen wie bloße Meinungen behandelten. Sind uns
einten Nationen, wie Zucker im Tee auflösen würden.
Ohne die NS-Verbrechen je zu vergessen, für die auch die diese Züge nicht immer noch, immer weiter eigen?
Die deutsche Tatsachenblindheit, Realitätsverleugnung wurde
Nachgeborenen historisch haften, müssen wir gleichzeitig einsehen, dass sie lediglich eine kurze Phase einer großen, reichen Ge- noch erstaunlicher mit der Wiedervereinigung 1989/90. Jedem
schichte der Deutschen kennzeichnen, nur eine – wenn auch un- aufmerksamen Zeitgenossen hätte sofort klar werden müssen,
begreiflich schreckliche – Unterbrechung der langen, insgesamt dass es innen- wie außenpolitisch um weit mehr ging als eine bloße
außerordentlich positiven Rolle bedeuten, die wir auf diesem Ausdehnung der Bundesrepublik. Innenpolitisch mussten sich die
Kontinent gespielt haben. Welchen kulturellen Reichtum in Mu- ungelösten, aufgeschobenen alten Probleme und die beträchtlisik, Philosophie, Literatur verdankt die Welt zum Beispiel den chen neuen, auch mentalen Lasten, die eine abgewirtschaftete
Deutschen des 18. und 19. Jahrhunderts, wie viel frühe städtische DDR in das vereinte Land einbrachte, zu einer gefährlich großen
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Titel
FOTOS: J. GIRIBAS
Herausforderung auftürmen. Außenpolitisch war 1991 ohne lan- Neue, tiefe Krisen dort würden uns aber stärker gefährden als
ges Nachdenken unschwer zu sehen, dass das Verschwinden der andere, weiter entfernt lebende Gesellschaften – vielleicht nicht
Sowjetunion aus Ost-, Mittel- und Südosteuropa die westliche militärisch, obwohl auch das nicht ausgeschlossen ist, zuminAllianz und in erster Linie – weil geografisch als östlichste Macht dest aber mit dann immer wieder drohenden neuen Flüchtlingsdes Westens am stärksten von dortigen Veränderungen betroffen strömen.
Ausdruck unseres anhaltenden Zögerns, die neuen Realitä– Deutschland vor die Frage stellte, was mit dem Erbe des etablierten Sozialismus geschehen müsse, wie man den neuen Regi- ten zum Ausgangspunkt einer entschlossenen, zielstrebigen Polimen im Osten zu begegnen hatte, wie sie demokratisch und markt- tik zu machen, ist die verbreitete Reserve gegen die Formel einer
kommenden Berliner Republik, mit der doch lediglich die Erwirtschaftlich zu ermutigen waren.
Die zügige, zielstrebige Aufnahme eines Großteils der neuen wartung gemeint ist, dass die in Bonn unerörtert, zumindest unDemokratien in die westlichen Systeme war seit 1990 das Gebot erledigt liegen gebliebenen Fragen in der neuen Hauptstadt
der Stunde, das sich in erster Linie Deutschland hätte zu eigen ma- endlich tatkräftig angepackt werden. Eine Autostunde von
der heutigen Ostgrenze
chen müssen. StattdesDeutschlands entfernt
sen betrieb man bei uns
sollten sich die außenpoim Irrglauben,Vertiefung
litischen Perspektiven
und Erweiterung gleichDeutschlands insofern
zeitig voranbringen zu
ändern, als neue Gefahkönnen, vorrangig jene
ren künftig frühzeitiger
Vertiefung der EU, die
erkannt, Lösungen sorgein Stück weit tatsächfältiger im Voraus belich erreicht wurde, aldacht werden. Es darf
lerdings auf französiuns nicht noch einmal
sches Betreiben unter
passieren, dass wir derart
risikoreichen Konditiounbedarft in einen benen, wie insbesondere
waffneten Konflikt wie
dem voreiligen Experiden dieses Frühjahrs hinment des Euro.
eingeraten. Nie wieder
Die EU-Erweiterung
sollte eine deutsche Regeriet leider auf die langierung von den Ereigge Bank, ohne dass das
nissen so überrumpelt
unsere Bevölkerung zu
werden, dass ihr nichts
beunruhigen schien – im
anderes übrig bleibt, als
Gegenteil. Man glaubt
Türken vor dem Schloss Bellevue: „Sind 30 Millionen Deutsche nicht genug?“
einen autoritären, geweithin noch immer, mit
unserer Westintegration seien alle außenpolitischen Orientie- walttätigen Potentaten kurzerhand mit unserem verblichenen
rungsfragen hinreichend beantwortet. Das galt schon vor 1989/90 Führer und Reichskanzler gleichzusetzen – ein abwegiger Verallenfalls bis zum Beginn der Entspannungsphase, der neuen Ost- gleich, wie der weitere Verlauf der bisher keineswegs ausgestanPolitik Brandts und Scheels. Seit der Wiedervereinigung, seit un- denen Kosovo-Krise gezeigt hat.
Wir Deutschen müssen, weil wir den potenziellen Konflikten
serer Rückkehr in die Mitte Europas ist unsere (natürlich begrüßenswerte, wichtige, ja alternativlose) Westverankerung keine am nächsten liegen, uns früher und gründlicher als unsere europäischen Alliierten ein kohärentes Bild jener östlichen Krisenhinreichende Antwort mehr auf die neue Gesamtkonstellation.
Wir bemerken ebenso wenig, dass unsere zur Routine gewor- regionen machen, die sich offenkundig von Albanien bis Weißrussdenen Reuebekundungen wegen der nationalsozialistischen Un- land und ins Baltikum erstrecken. Es ist ein Unding, dass man heutaten unseren östlichen Nachbarn längst auf die Nerven gehen, te, weil wir nicht hinreichend eigene Experten im Lande haben,
sie – etwa die Polen – geradezu wütend machen, weil sie unsere zu Wissenschaftlern nach New York und Washington reisen muss,
Gedankenlosigkeit dahinter spüren. Es sei schön und gut, dass wir um verlässlich zu erfahren, was östlich unserer Grenzen eigentuns Hitlers und seiner Untaten anhaltend schämten, bekommt lich vorgeht, sich dort anbahnt. Wenn die Balten Gesprächspartman in Warschau und anderswo heutzutage immer wieder zu ner suchen, um zu wissen, was von der russischen Politik ihnen
hören. Aber wichtiger sei, dass sich die Deutschen darüber klar gegenüber zu halten ist, dann fahren sie nicht nach Deutschland,
würden, was sie heute und morgen gemeinsam mit unseren sondern nach Amerika. Die ganze Osteuropa-Expertise sitzt in
langjährigen Verbündeten und den neuen osteuropäischen Part- Amerika. Unsere Schläfrigkeit ist mir unbegreiflich.
Seit 1990 komme ich aus dem Staunen über meine Landsleute
nern anzupacken gedächten. Was ist beispielsweise von der polnischen Anregung zu halten, sich gemeinsam um die Stabilisierung nicht heraus. Selbst angesichts der riesigen Staatsverschuldung
neigen sie dazu, jede Regierung abzustrafen, die ihr notwendige
der ukrainischen Demokratie zu bemühen?
Darauf werden die wenigsten von uns eine Antwort wissen, ha- Einschränkungen des hohen Lebensstandards zumuten will. Da
ben wir doch nicht einmal bemerkt, wie fundamental, und zwar kann man nur mit Bertolt Brecht ironisch fragen: „Wäre es da
zum Positiven hin, das lange tiefgestörte polnisch-ukrainische nicht einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein
Verhältnis sich in den letzten Jahren gewandelt hat. Stattdessen anderes?“
endet für die meisten Deutschen noch immer unser Europa an der
Wartburg, allenfalls an Oder und Neiße, die man stellenweise
Arnulf Baring
durchwaten kann, so dass uns längst klar sein sollte, dass wir ein
ureigenes Interesse an der wirtschaftlichen, sozialen und politiwurde durch den Bestseller „Machtschen Stabilität ganz Ost-Mitteleuropas haben müssen.
wechsel. Die Ära Brandt-Scheel“ (1982)
Nach dem Ersten Weltkrieg sind fast alle neuen ost-mittelbekannt. Geboren 1932, lehrt der Histoeuropäischen Staaten rasch autoritär entgleist. Am Vorabend
riker, der auch im Bundespräsidialamt
des Zweiten Weltkriegs war nur noch die Tschechoslowakei eine
arbeitete, bis 1997 Zeitgeschichte und
halbwegs funktionsfähige Demokratie. Weshalb sollten die neuInternationale Beziehungen an der Freien Regime, nach den Verheerungen des Sowjetismus, heute staen Universität Berlin.
biler sein als die Regierungssysteme dieses Raumes nach 1918?
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FOTOS: K. GREISER ( li.); P. FRISCHMUTH / ARGUS ( re.)
Ex-DDR-Bürger Gartenschläger (1976 am Tatort), Grabmal in Schwerin: „Eben so’n Ding besorgen“
PROZESSE
„Herren über Leben und Tod“
Einer der spektakulärsten deutsch-deutschen Todesfälle kommt
vor Gericht. Die Anklage zeigt, dass DDR-Verbrechen
allenfalls noch mit juristischer Kreativität zu bewältigen sind.
D
amals, als das Böse aus allen Ritzen
der zusammenstürzenden DDR
quoll, war der Fall natürlich Chefsache. Im August 1990 teilte der Präsident
des Bundesnachrichtendienstes (BND)
dem Generalbundesanwalt neue Erkenntnisse über einen spektakulären Todesfall an
der innerdeutschen Grenze mit.
Für den BND stand fest: Die Schüsse,
mit denen der in Hamburg lebende DDRHasser Michael Gartenschläger im Frühjahr 1976 getötet wurde, seien auf höchste
Weisung gefallen. Stasi-Chef Erich Mielke
persönlich habe „die Ermordung“ befohlen. Daraufhin hätten Spezialisten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) Gartenschläger „auf DDR-Gebiet gelockt und
weisungsgemäß erschossen“ – ein kapitales Staatsverbrechen.
Aus der dringenden Chefsache wurde
ein langes Verfahren. Und die eindeutige
BND-Story vom Mord in der Stasi-Falle
mutierte zu einem juristisch hoch komplexen Drama. „Wir sind auf einige rechtliche
und tatsächliche Probleme gestoßen“, bekennt ein Ermittler.
Ab Dienstag soll der Fall nun endgültig
aufgeklärt werden. Vor dem Landgericht
Schwerin müssen sich die ehemaligen Stasi-Grenzer Walter Lieberam, 50, Uwe
Wienhold, 45, und Peter Raupbach, 44, wegen versuchten Totschlags verantworten.
64
Da Raupbach zur Tatzeit erst 20 Jahre alt
war, findet die Verhandlung vor der Jugendstrafkammer statt.
Wenn es um die allmähliche Verwandlung des DDR-Staatsgebietes in ein Gefängnis ging, log die Staatsführung besonders dreist. So mokierte sich SED-Chef
Erich Honecker im Oktober 1972 vor 4500
Mitgliedern der Freien Deutschen Jugend,
der Westen mache in Empörung über „sogenannte Todesmaschinen, die es gar nicht
gibt“. Dabei hatten Pioniereinheiten im
Jahr zuvor damit begonnen, die trichterförmigen Selbstschussanlagen des Typs SM
70 an der Grenze zu montieren, alle zehn
Meter und in drei verschiedenen Höhen
(0,40, 1,50 und 3,00 Meter).
Das unmenschliche SM-70-Regime nach
Strich und Faden bloßzustellen, das war
ein Bravourstück so recht nach dem Geschmack von Michael Gartenschläger.
Schon als 17-jähriger DDR-Bürger hatte
er sich über den Mauerbau empört und
die Scheune einer landwirtschaftlichen
Produktionsgenossenschaft abgefackelt.
Nachdem ihn das Bezirksgericht Frankfurt
(Oder) am 15. September 1961 „zu lebenslangem Zuchthaus“ verurteilt hatte,
schmähten ihn DDR-Zeitungen als „Staatsverbrecher“, der „für immer von der Gesellschaft isoliert werden“ müsse. 1971
kaufte ihn die Bundesregierung frei.
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Zwar hatte Gartenschläger den Facharbeiterbrief als Dreher, aber für eine regelmäßige Arbeit war er nicht zu haben. Gemeinsam mit Gleichgesinnten, die er häufig im Hamburger Sozialheim „Helfende
Hände“ traf, suchte er lukrative Abenteuer – am liebsten zu Lasten der Ostzone.
Geschick und Glück hatte Gartenschläger vor allem als Fluchthelfer. Er holte
sechs Ostdeutsche in den Westen, schmuggelte auch mal einen Rumänen nach Jugoslawien oder organisierte einen heimlichen Pass-Wechsel in Libyen.
Im November 1975 las Gartenschläger
im SPIEGEL einen Bericht über den Aufbau und die Funktionsweise der DDRGrenzanlagen. Vor allem ein Satz blieb bei
ihm hängen: Wie die Selbstschussautomaten im einzelnen funktionieren, „weiß der
Bundesgrenzschutz bis heute nicht genau“.
Für ihn ein klarer Fall: „Wenn die so’n Ding
brauchen und nicht haben, wirst du denen
eben so’n Ding besorgen.“
Wochenlang ging er an der Grenze auf
Pirsch, studierte die Sprengtrichter durch
seinen Feldstecher und zog Rückschlüsse,
wenn einer der Apparate durch Wildwechsel hochging. Mitte März wählte er seinen
Tatort aus, ein unübersichtliches Terrain
bei Büchen, zwischen dem westdeutschen
Bröthen und dem ostdeutschen Wendisch
Lieps.
In der Nacht zum 30. März 1976 war es
so weit. Während ein Kumpel das Gelände
sicherte, robbte Gartenschläger etwa 50
Meter südlich der Grenzsäule 231 zum
Zaun, durchtrennte die Zündkabel, löste
die Schrauben – und dann „nichts wie
weg“. Die geklaute SM 70 übergab er dem
SPIEGEL, der das Gerät in Labors zerlegen
und analysieren ließ (16 und 18/1976).
Gartenschlägers Coup erregte großes
Aufsehen, in Kreisen eingefleischter DDR-
Deutschland
nen mit Kalaschnikows, einer, Raupbach,
hat gar ein leichtes Maschinengewehr.
Gartenschläger und seine Kumpane stellen trotz der Dunkelheit fest, dass sie auf
der anderen Seite erwartet werden. Flüsternd verständigen sie sich darauf, für heute abzudrehen. Doch Gartenschläger, der
eine spanische „Star“-Pistole bei sich trägt,
macht plötzlich kehrt. Wenigstens, sagt er,
will er einen der Schussapparate zünden:
„Die sollen wissen, Gartenschläger hat
wieder zugeschlagen.“
Stasi-Kämpfer Linß erspäht auf einmal
einen Schemen, eine Gestalt. Er greift zu
seiner Kalaschnikow – und stößt dabei an
ein Magazin. Es klappert metallisch in der
Dunkelheit. Dann peitschen Schüsse durch
die Nacht. Linß behauptet, sein Gegenüber
habe zuerst gefeuert, er habe in Notwehr
reagiert und unmittelbar nach ihm seine
drei schwer bewaffneten Kameraden. Andere Zeugen hingegen hören sofort mehrere Schüsse gleichzeitig.
Sicher ist: Im Licht der DDR-Scheinwerfer liegt nach der Ballerei ein Mann am
Boden, regungslos. Linß tastet sich heran,
hebt den Arm des Getroffenen – und spürt
Gegendruck. „Er lebt noch“, ruft er seinen Kameraden zu. Von hinten brüllt Lieberam: „Weg da vorne!“ Linß springt zur
Seite, die drei anderen feuern auf den
Schwerverletzten am Boden. „Es war eine
wilde Schießerei“, erinnert sich Raupbach.
Für die Staatsanwaltschaft ist die zweite Schussfolge das Verbrechen, denn bei
den ersten Schüssen lässt sich der genaue
Ablauf nicht klar genug nachvollziehen.
Mit den anschließenden Salven aber hätten
sich die drei Schützen „zu Herren über
Leben und Tod aufgeworfen“.
Tatsächlich war Gartenschläger vollkommen wehrlos, und die gerichtsmedizinische Rekonstruktion ergab, dass er offenkundig schon durch die ersten Schüsse
tödlich verwundet worden war. Deshalb
wird nur der Versuch angeklagt, nicht eine
vollendete Tat. Die Logik dahinter: Wenn
er schon so gut wie tot war, konnten die
Stasi-Männer ihn nicht
mehr umbringen. Linß, 44,
der bei der zweiten Salve
nicht geschossen hat, ist
im Prozess nur Zeuge.
Ein paar Wochen später erhielten alle vier
Schützen den DDR„Kampforden in Silber“.
Sie hätten ihrem Staat
„gewissenhaft und zuverlässig“ gedient und sich
„konsequent bei Erfüllung der Aufgabe“ gezeigt. Zur konspirativen
Feier in Berlin überreichte Generalleutnant Kleinjung auch eine Prämie
von 1500 Mark. Es gab
Würstchen und Sekt.
FOTO (rechts): MROTZKOWSKI
Gegner war er auf einmal berühmt. Am sitzer dieses Wagens sei wahrscheinlich
22. April erhielt er einen Brief der „Ar- unterwegs, um eine weitere SM 70 zu
beitsgemeinschaft 13. August“ mit der holen.
Bitte, gegen ordentliches Honorar eine
Die DDR-Truppen, die das Gespräch
weitere Selbstschussanlage abzubauen. mithören, reagieren sofort. GeneralleutNoch in der Nacht des gleichen Tages zog nant Karl Kleinjung, Chef der Hauptabteier los – und knipste nur 200 Meter vom lung I, alarmiert alle seine Einsatzkräfte
ersten Tatort entfernt eine zweite SM 70 im Grenzkommando Nord und schickt
vom Zaun.
weitere Verstärkung an den Abschnitt rund
Die DDR-Machthaber tobten. Stasi-Chef um die Grenzsäule 231. In seinem ausMielke habe, so ein früherer MfS-Offizier, führlichen „Maßnahmeplan“ verlangt
seiner Hauptabteilung I befohlen, „diesen Kleinjung wiederum, „die Täter festzuTäter bei einem erneuten Angriff unbe- nehmen bzw. zu vernichten“.
dingt festzunehmen“.
Gegen Kleinjung, heute 87, und zwei
In den zackig erstellten Plänen der Miel- weitere hochrangige Ex-Offiziere hat die
ke-Untergebenen klingt die Weisung deut- Staatsanwaltschaft 1997 in Berlin Anklage
lich schärfer. Schon einen Tag nach Gar- erhoben. Der Vorwurf lautet nur auf „Tottenschlägers zweitem Coup ist in einer schlag in mittelbarer Täterschaft“. Das
schriftlichen „Information“ von „Festnah- Landgericht hat die Verhandlung gegen die
me oder Liquidierung der Täter“ die Rede. Befehlshaber zwar bereits formell eröffDie zweite Variante lautet „Festnet, doch Termine stehen noch
nahme oder Vernichtung“.
nicht fest. MfS-Chef Mielke, 91,
Ehemalige MfS-Offiziere be- Drei DDR-Grenz- wird von der Justiz nicht mehr
soldaten
streiten bis heute, dass das ein
behelligt, da er verhandlungsunfeuern auf
Mordauftrag war. Im pervertierfähig ist.
ten Deutsch ihres Regimes, er- den SchwerverAm 29. April fällt Gartenläutert einer, habe „vernichten“
schläger Stasi-Leuten nahe der
letzten, der
oder „liquidieren“ lediglich „die
Grenzsäule 231 ins Auge. Die
wehrlos am
Anwendung der Schusswaffe unPosten erstatten Meldung:
Boden liegt
ter den damaligen Schusswaf„14.38 Uhr – eine männliche
fengebrauchsbestimmungen und
Zivilperson … beobachtet das
nicht die Tötung eines Menschen be- Territorium der DDR mittels eines Ferndeutet“.
glases. Beobachtete Person ist identisch
Am 24. April nimmt ein spezielles Ein- mit dem Täter.“
satzkommando der Stasi den Dienst an
In der Nacht zum 1. Mai fährt Gartendem von Gartenschläger bevorzugten schläger wieder los. Im Auto erzählt er, so
Grenzabschnitt auf. Dass sie auf der rich- einer seiner beiden Mitstreiter, „dass er
tigen Spur sind, erfahren die MfS-Leute die DDR so lächerlich machen wolle, dass
am Morgen des 26. April von Beamtenkol- alle Welt ihren Spaß hätte“. Diesmal möchlegen aus Westdeutschland. Über Funk ver- te er den Todesapparat vor der Ständigen
ständigen sich trottelige Bundesgrenz- Vertretung der DDR in Bonn aufstellen
schützer, ein besonderes Augenmerk sei und dazu Schilder: „Vorsicht Zonengrenze
auf einen BMW 2500 zu legen. Der Be- 200 Meter“.
Die Nacht ist kühl, nur drei Grad über
* Links: 1980 bei einer Feier mit SED-Chef Erich
Null. Hinter dem Grenzzaun an der Säule
Honecker; links von Honecker Stasi-Chef Erich Mielke,
231 liegen vier Schützen: Lieberam, der
rechts von Honecker HVA-Chef Markus Wolf, 2. v. r.
Zugführer, Wienhold, Raupbach sowie
Kleinjung; rechts: im Oktober vor seinem Haus in
Herbert Linß. Bewaffnet sind drei von ihBerlin.
Stasi-Spitze, Ex-General Kleinjung*: „Täter festnehmen bzw. vernichten“
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Dietmar Pieper
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Deutschland
Ricardo.de-Homepage: „Natürlich ist da viel Müll dabei“
Friedhof
der Kuscheltiere
Online-Auktionshäuser überbieten
sich mit bizarren PRAktionen. Das Alltagsgeschäft ist
jedoch zäh. Für einige
dürfte bald der Hammer fallen.
E
rwin Liedke, 37, hält sich selbst für
eine gelungene Mischung aus Kaffeefahrt-Clown, Pausen-Füller und
Geschäftsmann. In seiner Büro-Wabe am
Hamburger Hafen drängeln sich mitunter
ein paar hundert Kauflustige – virtuell,
denn Liedke rühmt sich, „der weltweit erste Internet-Auktionator“ zu sein.
Mehrmals pro Woche verhökert der
Schirm-Herr des Online-Versteigerers Ricardo.de via Mausklick „alles, was einen
Stecker hat“: Ramschpaletten voller Kaffeemaschinen und Handys, Restposten von
Staubsaugern und Notebooks.
Mal ging hier eine Statistenrolle in der
„Lindenstraße“ weg, mal eine kanadische
Insel. Liedke versteigert sogar UntergangsTrips der besonderen Art: eine Tauchfahrt
zur „Titanic“ wie einen KanzleramtsRundgang mit Doris Schröder-Köpf „samt
Probesitzen auf Gerhards Sessel“. Der Gag
heiligt die Mittel.
Verrückte wie Liedke und ihre noch verrückteren Offerten sind der letzte Schrei in
einem – zumindest an Lautmalerei – nicht
armen Geschäft. Das Online-Auktionsgewerbe brummt. Der Suchdienst auktionsindex.de bastelt bereits an einer Liste der
Top-500-Firmen. Jung-Unternehmer wie
die Gründer des Berliner Auktionshauses
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alando.de zeigten, wie schnell man in der
bunten Branche reich werden kann. Nach
nur drei Monaten verkauften sie ihre Klitsche im Sommer für einen zweistelligen
Millionenbetrag an den weltweiten Marktführer eBay.
Die wachsende Konkurrenz überbietet
sich mit immer neuen Studien und dubiosen Rekord-Zahlen. Ricardo rühmt sich seiner 300 000 registrierten Kunden, auch
wenn darunter, wie bei anderen auch, ein
hoher Prozentsatz von Karteileichen und
Mehrfach-Anmeldern sein dürfte. Alando/eBay kontert mit einem gigantischen
Flohmarkt von über 500 000 Produkten.
Wer jedoch durch die virtuellen Regale
surft, findet tausendfach Nippes, Schrott
und Klamotten-Müll, für den kein einziges Gebot vorliegt. Was darf es sein? Ein
„Sexy Rio Slip“ für 8 Mark bei eBay? Ein
„Designerstuhl Wurzelholz“ für 250 Mark
bei andsold.de? Oder ein „Steiff Gürteltier
SN00004“ für 699 Mark bei ricardo.de? Die
Internet-Regale sind ein Friedhof der Kuscheltiere, ein Flohmarkt oft unverkäuflicher Nichtigkeiten.
„Natürlich ist da viel Müll dabei“, gibt
Ricardo-Sprecher Matthias Quaritsch zu.
„Aber das macht auch den Charme aus.“
Online-Auktionen bieten das gewisse
W. GRITZBACH
INTERNET
Ricardo.de-Auktionator Liedke
„Alles, was einen Stecker hat“
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Nichts. Nur vier Prozent der NetzSurfer verschlage es regelmäßig
auf die Seiten irgendeines Versteigerers, bilanziert eine Studie der
Marktforscher von Fittkau &
Maaß. Wenn die Kunden dann
noch gefragt werden, was ihnen
an Online-Auktionen besonders
gefalle, nennen über 40 Prozent
den „Unterhaltungswert“.
Kein Wunder: Noch immer geht
es den Firmen vor allem darum,
die eigene Marke bekannt zu
machen. Koste es, was es wolle.
Im ersten Geschäftsjahr gab
Ricardo rund sieben Millionen
Mark für Marketing aus, mehr als
die Firma überhaupt umsetzte. Für
die nächsten Jahre sind rote
Zahlen fest eingeplant, was niemanden stört. Außer eBay weist
keiner Gewinn aus.
Hemdsärmeligkeit gehört zum
Handwerk: Ricardo finanziert seine Werbung gern mit Gegengeschäften. Die
Pro-Sieben-Gruppe bekam für TV-Spots
Aktien im Wert von rund 2,5 Millionen
Mark. Michael Beckel, Ex-Verlagsgeschäftsführer des „Stern“, wurde für einen solchen Tauschhandel schwer getadelt.
Er soll die Verlagsspitze bei Gruner + Jahr
nicht rechtzeitig informiert haben.
Im Geschäft Privat-an-Privat schleusten
alle Internet-Händler im ersten Halbjahr
dieses Jahres gerade mal 810 Millionen
Mark durch ihre Kanäle. Programmiert ist
weniger der Erfolg als der Ärger: Die virtuellen Lager müssen fortwährend nach
Waffen- oder Drogendeals, Päderasten-Perversionen, Pornos und Organ-Offerten
durchstöbert werden. „Bei uns sind Gott
sei Dank noch keine Nieren aufgetaucht“,
grinst Ricardo-Mann Quaritsch.
Die Sicherheitsvorkehrungen seien „primitiv“, urteilt das Fachmagazin „Internet
World“. Auch die Zahlungsmoral sorgt für
Streitigkeiten zwischen Verkäufern und
Käufern. Zudem kaufen rund zehn Prozent im Internet teurer ein als im Laden
zum Listenpreis, schätzt man bei Ricardo.
Für die ersten Auktionsklitschen dürfte
bald der Hammer fallen. Europaweit könnten neben eBay „nur zwei bis drei Anbieter überleben“, glaubt Ricardo-Vorstand
Stefan Glänzer. Sein eigener Börsenwert
sackte im Sommer tief ab.
Momentan verkauft sich nur eines wie
geschnittenes Brot: Gerüchte. Die sechs
Alando-Gründer etwa sollen das Hickhack
mit ihren neuen US-Chefs bei eBay bereits
wieder satt haben. Und Hans-Jörg Assenbaum, entnervter Geschäftsführer des nur
mäßig erfolgreichen Bertelsmann-Ablegers
andsold.de, schmeiße demnächst hin.
Er werde sich nächstes Jahr verabschieden, sagt Assenbaum lapidar, findet
dann aber zu den gängigen FrohsinnsParolen zurück: „Wir entwickeln uns
prächtig.“
Thomas Tuma
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U. DECK / ARTIS
Verfassungsrichter Paul Kirchhof, Limbach, Hans-Joachim Jentsch*: „Wie weit reichen unsere Kompetenzen?“
S P I E G E L - G E S P R ÄC H
„Auch wir können irren“
SPIEGEL: Frau Limbach, das Verfassungsge-
richt macht neuerdings Reklame, lädt die
Bürger in dieser Woche zu ausgesuchten
öffentlichen Verhandlungen ein. Hat Ihr
Haus Image-Probleme?
Limbach: Das Vertrauen der Bürger in das
Bundesverfassungsgericht ist eher zu groß.
Aber wir haben ein Problem, weil viele
nicht wissen, worum es bei uns wirklich
geht, nämlich allein um verfassungsrechtliche Fragen. Viele wenden sich im Irrglauben an das Bundesverfassungsgericht,
dass dieses letzte Instanz sei, die auch noch
einmal guckt, ob die unteren Gerichte das
Zivil- und Strafrecht richtig angewandt haben. Und viele beschäftigen das Gericht
mit Bagatellen.
SPIEGEL: Wundert Sie das? Das Gericht
steht seit langem in dem Ruf, sich sowohl
in die Politik als auch in die Rechtsprechung allzu heftig einzumischen. Sie und
Ihre Kollegen geben sich omnipotent.
Limbach: Das liegt uns fern. Wir werden
nur auf einen Antrag hin tätig. Und unver* Oben: bei der Verhandlung zum Länderfinanzausgleich am 22. September; unten: Ministerpräsidenten
Erwin Teufel, Edmund Stoiber und Roland Koch als Vertreter der klagenden Länder.
72
meidlich wirkt die Interpretation der Ver- normen, die offen und unpräzise sind und
fassung eines politischen Gemeinwesens deshalb Interpretationsarbeit herausfordern.
auf die Politik ein. Usurpationsgelüste ver- SPIEGEL: Kurz und dunkel, meinen Ihre Kolspüren wir nicht. Auch bei uns gilt: Wo legen, sei das Grundgesetz.
kein Kläger, da kein Richter.
Limbach: So kann man es auch sagen. Das
SPIEGEL: Politiker beklagen wohl nicht ohne Musterbeispiel ist das Recht auf informaGrund, dass Ihr Gericht es geschafft hat, die tionelle Selbstbestimmung …
meisten Probleme des Landes als verfas- SPIEGEL: … dass also jeder Bürger Einfluss
sungsrechtliche Frage zu deklarieren, folg- darauf nehmen kann, was mit seinen perlich ein Mitspracherecht zu beanspruchen. sönlichen Daten geschieht.
Limbach: Das ist eine groteske Übertreibung. Wobei ich das Verdienst des
Gerichts nicht schmälern
will, zum Aufbau des
Rechtsstaats in der Bundesrepublik einen erheblichen Beitrag geleistet
zu haben. Wir treffen unsere Entscheidungen ausschließlich am Maßstab
der Verfassung. Aber gewiss haben Sie ein leichtes
Spiel mit Ihrem Vorwurf.
Die Schwierigkeit, unsere
Aufgabe zu begrenzen,
liegt in der besonderen
Gestalt der Verfassungs- Politiker in Karlsruhe*: „Zu gern auf das Gericht verlassen“
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DPA
Die Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, Jutta Limbach, über den Einfluss der
Karlsruher Richter auf die Politik und über die Zukunft des Rechts in Europa
Deutschland
Limbach: Dieses Recht kann nicht unmittelbar, also wortwörtlich, aus dem Grundgesetz herausgelesen werden. Die Mütter
und Väter des Grundgesetzes konnten diese Problemlage auch gar nicht voraussehen. Und doch musste unter dem Eindruck
des technologischen Wandels, der die Privatheit der Bürger empfindlich beeinträchtigen kann, das Verfassungsgericht
eine Antwort finden.
SPIEGEL: Warum eigentlich? Warum kann
man nicht Dinge, die vom Grundgesetz nicht
bedacht wurden, der Politik überlassen?
Limbach: Das könnte bei Untätigkeit der
Politik zu einer gewissen Versteinerung
und sozialem Unfrieden führen. Wenn es
dabei um verfassungsrechtliche Grundpositionen der Bürger geht, wäre eine Fortschreibung der Verfassung erforderlich.
SPIEGEL: Eine Sache der Politik, nicht der
Richter.
Limbach: Man ändert eine Verfassung nicht
bei jedem neu auftretenden Problem.
Das ist viel zu beschwerlich. Die Richter
müssen die Verfassung als ein „lebendes
Instrument“ begreifen, das es im Lichte
der heutigen Verhältnisse auszulegen gilt.
Das Bundesverfassungsgericht ist bewusst
mit dem Auftrag eingesetzt worden, der
Verfassung zur Wirksamkeit zu verhelfen.
Das bedeutet bei einem Wandel der ökonomischen und technologischen Verhältnisse, dass das Gericht behutsam und
mit kleinen Schritten das Grundgesetz
fortschreiben muss, aber im Geiste dieser
Verfassung.
SPIEGEL: Das Gericht ist der Geist?
Limbach: Ich meine damit, im denkenden
Gehorsam gegenüber dem Grundgesetz.
SPIEGEL: Nehmen Sie zum Beispiel das Urteil aus dem Jahr 1993 zum Abtreibungsparagrafen 218 im Strafgesetzbuch. Da hat
sich das Gericht Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch ausgedacht und in Kraft
gesetzt.
Limbach: Damals stand der Senat vor der
Schwierigkeit, dass in beiden Teilen
Deutschlands trotz der Wiedervereinigung unterschiedliches Recht gelten
würde, wenn er nicht eine Übergangsregelung trifft. Dass man das einerseits
verhindern und dem Gesetzgeber andererseits einen gewissen Zeitraum verschaffen wollte, bis zu dem er das Gesetz
noch einmal reformiert, erklärt diese besondere Situation.
SPIEGEL: Ein jüngeres Beispiel: Das Gericht
erklärt eigenmächtig, welche Erziehungsfreibeträge im Steuerrecht in Kraft treten,
wenn der Gesetzgeber bis zu einem bestimmten Zeitpunkt untätig bleibt.
Limbach: Das Gericht, das über keine Vollstreckungsmöglichkeiten verfügt, muss mitunter darauf bedacht sein, durch Fristsetzungen seinen Entscheidungen Wirksamkeit zu verschaffen. Im Übrigen hat das
Bundesverfassungsgericht nicht vorweggenommen, wie der Steuergesetzgeber dem
Tatbestand im Einzelnen Rechnung trägt,
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P. ADENIS / G.A.F.F.
Gericht verlassen und dieses anrufen, weil
sie zu zerstritten oder zu zögerlich sind,
eine unpopuläre Entscheidung zu treffen.
SPIEGEL: Manchmal entfacht das Gericht
aber selbst neuen Streit. Bei der Entscheidung zur Vermögensteuer hat das Gericht
en passant den so genannten Halbteilungsgrundsatz aufgestellt, um den es seither heftige Debatten unter Juristen und
Politikern gibt: Häufig wird das Urteil so
interpretiert, dass die Bürger nicht mehr als
eine 50-prozentige Steuerlast tragen müssen. Selbst Ihr ehemaliger Richterkollege
Ernst-Wolfgang Böckenförde hat festgestellt, dass dies eine unnötige und womöglich unverbindliche Stellungnahme war.
Limbach: Wir Richter – und auch die Richterinnen – pflegen unsere Entscheidungen
nicht zu kommentieren oder zu erläutern.
Demonstration gegen Abtreibungsstrafrecht (1992): „Friedenstiftend gewirkt“
SPIEGEL: Aber solche frei schwebenden
Zahlenspiele machen das Gericht populär.
dass Ehe und Familie unter dem besonde- Limbach: Das Grundgesetz ist in diesem Limbach: Maßstab für unsere Entscheidunren Schutz unseres Staates stehen.
Punkte recht eindeutig. Gleichwohl oder gen kann nicht sein, wie populär sie sind.
SPIEGEL: Aber für den Fall, dass der so gerade deswegen gilt, dass auch das Gericht Wir Juristen haben dafür zu sorgen, dass
schnell keine Lösung findet, selbst über auf die Grenzen seiner Kompetenzen be- das Grundgesetz zu Wort kommt.
dacht sein muss. Es gibt kaum ein Problem, SPIEGEL: Gibt es auf alle verfassungsrechtmehr als 20 Milliarden Mark verfügt.
Limbach: Das ist eine schlichte Behauptung, das von uns so intensiv diskutiert wird: Wie lichen Fragen nur die eine zwingende Antdie gern kolportiert wird. Das Bundesver- weit reichen unsere Kompetenzen? Wo be- wort des Grundgesetzes?
fassungsgericht hat dem Gesetzgeber schon ginnen die Kompetenzen von Legislative Limbach: Ich meine, nein. Selbst das Bunin früheren Urteilen deutlich gemacht, dass und Exekutive? Auch in dem Verfahren, das desverfassungsgericht kann irren. Aus der
Familien auch hinsichtlich ihres Existenz- wir in dieser Woche abschließen.
Offenheit und Vagheit von Grundrechtsminimums zu schützen sind. Keine Regie- SPIEGEL: Beim Länderfinanzausnormen und Grundrechtsprinzirung, kein Parlament ist beglückt, wenn gleich?
pien folgt auch, dass nicht nur
„Das Gericht die eine Interpretation die einein Gericht eine Entscheidung trifft, die Limbach: Ja. Stets pflegen wir uns
das mühsam ausgehandelte Haushaltsar- zu vergewissern, was unsere Auf- ist in der einen zig richtige sein muss.
oder anderen SPIEGEL: Warum schicken Sie die
rangement in Frage stellt. Das wissen wir gabe ist und wo der durch das
wohl.
Grundgesetz beschriebene Ge- Entscheidung Politiker nicht manchmal mit
der Auskunft zurück, sie sollen
SPIEGEL: Das Gericht pfuscht dem Gesetz- staltungs- und Entscheidungsein wenig
spielraum des Gesetzgebers beihre Probleme selber lösen?
geber ins Handwerk.
zu deutlich
Limbach: Das Grundgesetz hat sich deut- ginnt. Ich will nicht leugnen, dass
Limbach: Das Grundgesetz hat
geworden“
lich für den Vorrang der Verfassung ausge- das Bundesverfassungsgericht
dem Gericht die Aufgabe übersprochen und angeordnet, dass die Grund- mitunter in der einen oder andetragen, Kompetenzstreitigkeiten
rechte unmittelbar alle staatlichen Gewal- ren Entscheidung ein wenig zu deutlich ge- zwischen den anderen staatlichen Instanten binden, auch den Gesetzgeber. Es ist die worden ist.
zen zu entscheiden. Viele dieser EntscheiAufgabe des Gerichts, darüber zu wachen, SPIEGEL: Sollte das Gericht diese Entwick- dungen haben auch friedenstiftend gewirkt.
dass die Gesetze im Einklang mit der Ver- lung nicht wieder zurückdrehen?
Denken Sie an das Abtreibungsstrafrecht.
fassung stehen.
Limbach: Von einer Entwicklung im Sinne SPIEGEL: Also doch: Karlsruher Urteile statt
SPIEGEL: Aber jedenfalls gegenüber der ge- einer Tendenz kann nicht die Rede sein. politischer Debatten.
setzgebenden Gewalt fordern Ihre Kritiker Umgekehrt habe ich zuweilen den Ein- Limbach: Nein, das wäre schade. Nehmen
druck, dass sich die Politiker zu gern auf das Sie das Beispiel der Entscheidung von
mehr Respekt.
Deutschland
flüssig werden, wird das Bundesverfassungsgericht durch die europäischen Gerichtshöfe in Straßburg und Luxemburg
überflüssig werden. Umso weniger, als derzeit auf europäischer Ebene ein föderales
Staatswesen gar nicht angepeilt wird.
SPIEGEL: Über dem Bundesverfassungsgericht ist nur der „blaue Himmel“, heißt
es so schön. Der blaue Himmel ist aber
jetzt Europa.
Limbach: Dazu sage ich
nur so viel: Als gute Europäerin ist es für mich
selbstverständlich und zu
respektieren, dass es auf
europäischer Ebene weitere Gerichte gibt, die
auch einmal anders entscheiden als wir. Schließlich wird das Menschenrechtsniveau in Europa
davon abhängen, wie diese Gerichte, die nationalen und die europäischen,
miteinander zusammenarbeiten.
SPIEGEL: Was halten Sie
dann von der Idee eines
Grundrechte-Katalogs für
die EU?
Limbach: Ich sehe dessen
Bedeutung vor allem in
der Symbolik. Schließlich haben wir ja
heute schon einen Grundrechtsschutz auf
EU-Ebene, den der Europäische Gerichtshof aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten und aus der
Europäischen Menschenrechtscharta entwickelt hat.
SPIEGEL: Das Ende des nationalen Verfassungsstaats ist also noch nicht nahe?
Limbach: Im Gegenteil, in dem Maße, wie
wir die europäische Integration vorantreiben, müssen wir im eigenen Lande um eine
lebendige und rechtsstaatliche Demokratie
besorgt sein. Ich halte es für unrealistisch,
dass sich unsere Staatlichkeit einmal im
Supranationalen auflöst.
SPIEGEL: Frau Limbach, wir danken Ihnen
für dieses Gespräch.
T. WEGNER / LAIF
1994 zu den Einsätzen der Bundeswehr chen Besteuerung von Renten und Pensioauf dem Balkan. Diese hatte ja nicht nur nen steht noch an. Sie müssen zunehmend
für die Politik eine Wirkung. Das war Verteilungskämpfe schlichten.
auch für jeden Angehörigen der Bundes- Limbach: Bei diesen Verfahren geht es notwehr und deren Familienangehörige eine wendig um finanzielle Fragen. Doch schlichsehr wichtige Frage. Hier hat das Urteil ten wir nicht Verteilungskämpfe. Es ist Sades Gerichts streitschlichtend gewirkt. Be- che des Gesetzgebers, soziale Gegensätze
denken Sie, dass es sich dabei nicht nur zum Ausgleich zu bringen. Das Gericht hat
um einen politischen Konflikt, sondern um sich in solchen Fragen stets zurückgehaleine auch in der Staatsrechtslehre umstrit- ten. So hat es beispielsweise darauf vertene Verfassungsfrage gehandelt hat.
SPIEGEL: Aber gerade der
Streit um die Auslandseinsätze der Bundeswehr
zeigt doch, dass das Gericht,
wenn es Politik macht, auf
Dauer nicht ernst genommen wird. Als es jetzt gegen
Serbien ging, spielten die
entgegenstehenden Bestimmungen des Völkerrechts
und des Grundgesetzes, die
Sie in Ihrem Urteil von 1994
noch hochgehalten haben,
überhaupt keine Rolle mehr.
Die Deutschen sind einfach
losgeflogen.
Limbach: Unsere Bedingung
ist respektiert worden, dass
der Bundestag darüber ent- Limbach beim SPIEGEL-Gespräch*: „Denkender Gehorsam“
scheiden musste. Im Übrigen
möchte ich das Verhalten der Politik vor wiesen, dass das Existenzminimum wegen
dem Hintergrund unserer Entscheidungen des Sozialstaatsprinzips nicht besteuert werden darf, hat aber die Konkretisierungen
nicht kommentieren.
SPIEGEL: Bundesgesetzgeber und Regierung dem Gesetzgeber überlassen.
versuchen auch die Vorgaben zum Steuer- SPIEGEL: Es gibt kaum einen Bereich mehr,
recht durch alle möglichen Tricks und halb auf den nicht Europarecht zumindest ausgaren Vorschläge zu umgehen.
strahlt. Wenn der Europäische Gerichtshof
Limbach: Das sagen Sie. Auch hier gilt mei- und nicht Karlsruhe das letzte Wort zum
ne Zurückhaltung. Sollten Bürger oder Ge- Europarecht hat, könnte man sich vorstelrichte der Meinung sein, dass neue Steu- len, dass das Bundesverfassungsgericht eierregelungen verfassungswidrig sind und nes Tages so hinfällig wird wie die Deutden Urteilen des Bundesverfassungsge- sche Bundesbank?
richts kein Respekt gezollt wird, dann mö- Limbach: Diese Sorge treibt mich nicht um.
gen sie es wiederum anrufen.
Genauso wenig, wie die VerfassungsgeSPIEGEL: In diesem Jahr hat das Gericht richte der Bundesländer durch uns übermehrfach über die Familienbesteuerung
entschieden, jetzt über den Länderfinanz- * Mit Redakteuren Dietmar Hipp und Thomas Darnausgleich, das Verfahren zur unterschiedli- städt.
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Deutschland
nisteriums mögen sich darauf lieber nicht
verlassen. Eine 200 Mann starke SonderJA H R TAU S E N D W E N D E
truppe bezieht am Silvestermorgen in der
Berliner Zentrale Posten. Die Beamten sollen im Schichtdienst bis zum 3. Januar Kontakt zu Lagezentren im In- und Ausland
halten. Für den Bundesgrenzschutz, der
nicht nur an den Außengrenzen, sondern
Polizei und Feuerwehr rüsten für die Nacht der Nächte:
auch auf Flughäfen und bei der Bahn für
Silvester rechnen die Sicherheitsbehörden mit
Sicherheit sorgt, gibt es Urlaub in der Krisenzeit laut einem Ukas des Ministers „nur
technischen Katastrophen, Selbstmorden und Verbrechen.
noch in Ausnahmefällen“.
Millionen Deutsche, die in dieser Nacht
ihre Party des Jahrtausends feiern wollen,
bringen die Einsatzplaner im ganzen Land
schon jetzt ins Schwitzen. Eine Million
Menschen erwarten die Behörden zur
Stunde null allein am Brandenburger Tor.
Der Berliner Senat hat sich schon mal eine
Wetterprognose geben lassen: Danach wird
sich 1999 bei trockenen minus 2 Grad verabschieden. Das bedeutet, so die Prognose: Im Zentrum der Hauptstadt wird eine
geballte, alkoholisierte und mit Knallkörpern ausgerüstete Masse ins neue Jahrtausend feiern. Was passiert, wenn das Licht
ausfällt, wenn eine Panik ausbricht? „Das
wird ein Riesen-Sicherheitsproblem“,
schwant Hans-Rudolf Zschernack von der
Berliner Senatskanzlei.
Die Berliner Feuerwehr schließt sogar
den „totalen Zusammenbruch des öffentlichen Lebens auf Grund des Ausfalls von
Lebensmittel-, Benzin-, Gas- und Wasserversorgung“ in ihre Planungen ein.
Gerüchte, im Osten der Stadt könnten
Probleme mit der zum Teil noch aus DDRZeiten stammenden Software zur Stromversorgung auftreten, weist das Berliner
Energieunternehmen Bewag zurück. „Die
Silvesterfeuerwerk*: Angst vor dem geballten Chaos
Stromversorgung ist am 31.
Dezember genauso sicher,
n der Uniklinik Frankfurt probten die
wenn nicht sogar sicherer
Sicherheitsleute ungewollt den Ernstals an anderen Tagen“, befall für die Nacht der Jahrtausendwenteuert
Bewag-Sprecher
de. Der Strom fiel aus. 15 Sekunden dauSiegfried Knopf.
erte es, bis die Notaggregate Energie lieFachleute halten solche
ferten. Sie kam mit solcher Kraft, dass erst
vollmundigen Versicheruneinmal die Sicherungen rausflogen.
gen für Pfeifen im Dunkeln.
„Jetzt wissen wir wenigstens, was uns erDas Problem sind nämlich
wartet“, kommentierte Clemens Flock,
zwischen 6 und 25 MilliarMillenniumsbeauftragter des Krankenhauden kleinste elektronische
ses, den Vorfall.
Bauteile, sogenannte EmDamit ist die Klinik vielen Behörden
bedded Systems, die weltund Firmen weit voraus. Was der Republik
weit in alle möglichen Moin der Nacht der Nächte an elektronischen
Katastrophen bevorsteht, ist unklar. Bun- Polizei-Einsatzzentrale*: Magnetplättchen und Schiebetafeln dule vom Airbag bis zum
Kernkraftwerk eingebaut
desweit bereiten sich vor allem Polizei und
Feuerwehr darauf vor, auch dann fit zu lagen versagten, Ampeln erloschen. In sind. Sie sind schwer zu orten, teils zum
sein für den Schutz der Bürger, wenn die Brooklyn, Harlem und auf der Upper West Schutz vor Raubkopierern falsch beschrifprozessorgesteuerte Hightech beim Da- Side plünderten Wegelagerer die Geschäf- tet und häufig nicht 2000-sicher.
Es sei „unseriös zu behaupten, man wistumswechsel verrückt spielen sollte.
te, verwüsteten Rowdys Bürohäuser. Schase, was passieren werde“, sagt die 2000Ein Stromausfall in der Silvesternacht den: mehr als 300 Millionen Dollar.
gilt als GAU. Als Horrorszenario dient der
Die Deutschen sind besser gerüstet: Das Beauftragte Elisabeth Slapio von der InBlackout von New York 1977. Dort gingen Stromnetz wird von mehreren Kraftwer- dustrie- und Handelskammer Köln, die für
nach einem Blitzeinschlag im Atomkraft- ken gespeist, der Ausfall eines Erzeugers ist den Deutschen Industrie- und Handelstag
werk Indian Point für 25 Stunden in der leicht zu verkraften. Die Unternehmen ha- die Silvesterplanungen koordiniert.
Die Hamburger Polizei hat für die meisganzen Stadt die Lichter aus. Alarman- ben Millionen in die Vorsorge investiert,
ein Totalausfall gilt als ausgeschlossen. ten Beamten bereits Urlaubssperre für den
* Oben: in Hamburg; unten: in Offenburg.
Doch die Experten des Bundesinnenmi- 31. Dezember angeordnet. Die Feuerwehr
I. RÖHRBEIN
Pfeifen im Dunkeln
AP
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W. M. WEBER
der Hansestadt verstärkt sich mit Helfern
aus den Freiwilligen Wehren. Sämtliche
Rettungs- und Notarztwagen sowie zusätzliche Löschfahrzeuge werden besetzt
sein. Und in der hochmodernen Funkzentrale wird bereits die stromlose Einsatzlenkung mit Magnetplättchen und Schiebetafeln geprobt.
Auch die Bahn beugt vor: Ein paar
Minuten vor und nach Mitternacht werden alle Züge anhalten. Viele regionale
Verkehrsbetriebe wollen dem Beispiel
folgen. Die Telekom
versichert zwar, in
Deutschland werde es
keine Kommunikations-Probleme geben,
räumt aber ein, Fehler
könnten im internationalen Netz auftreten.
In München bereitet sich ein „Stab für
außergewöhnliche Ereignisse“, der SAE
2000, in dem sämtliche
Behörden der Stadt,
Polizist Rummler
Energieversorger und
die Müllabfuhr vertreten sind, schon lange
auf den Notfall vor. Polizei und Feuerwehr
stellen sich darauf ein, Einsätze wie zu
Großvaters Zeiten zu fahren – ohne Telefon und Computer. Für den Fall, dass gar
nichts mehr geht, werden, so Polizeioberrat Joachim Rummler, „in der ganzen Stadt
SOS-Punkte“ eingerichtet, an die sich die
Bürger direkt wenden können. Über eine
vom Stromnetz unabhängige Funkleitung
gelangen die Meldungen in die Einsatzzentrale.
„Bis zu 80 Prozent aller Einsatzkräfte“,
schätzt Rummler, werden in dieser Nacht
im Dienst sein. Rummler: „Der Schutz von
Menschenleben hat Priorität, dann folgt
Hilfe für Verletzte und danach Verfolgung
von Straftaten.“
Auch sonst ist die Bayern-Metropole
gerüstet. Ärzte und Krankenschwestern in
den Spitälern fahren Doppelschichten, Boten sollen im Notfall Befunde vom Labor
zum zuständigen Mediziner schaffen.
Die Frankfurter Uniklinik wird in der
Silvesternacht per E-mail und Telefon mit
ihren Partnerkliniken in Japan und Australien verbunden sein. Sollte dort das
Chaos ausbrechen, blieben auf dieser Seite der Erde wegen der Zeitverschiebung
noch ein paar Stunden Zeit für Vorbereitungen – vorausgesetzt, die Kommunikation klappt.
Völlig unberechenbar ist, welche Folgen
das magische Datum auf die Psyche mancher Zeitgenossen haben wird. Der Münchener Diplompsychologe Georg Sieber
befürchtet, Gefühle könnten eskalieren
und sich in irrationalen Ausbrüchen entladen – in Selbstmorden etwa oder in großspurigen Aktionen: „Das Ausnahmedatum
2000 wird für viele zum Auslöser.“
Andreas Ulrich
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SPIEGEL-Serie über Wende und Ende des SED-Staates (7)
Die Woche vom 6. 11. 1989 bis zum 11. 11. 1989
»Die Mauer muss weg«
T. ERNSTING / BILDERBERG
Über Nacht bricht die Berliner Mauer – aus Versehen?
Regierende in Ost und West sind gleichermaßen überrumpelt.
Die Massen jubeln, doch Bürgerrechtler, bestürzt über den
drohenden Untergang ihrer DDR, ziehen sich schmollend zurück.
Volksfest am Brandenburger Tor nach der Maueröffnung
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100 TAGE IM HERBST: »DIE MAUER MUSS WEG«
CHRONIK
»Das ist ja unfassbar!«
Ost-Berlin
Im ZK, neuerdings „Zirkus Krenz“ genannt, sind die Volksdompteure ratlos. Die
„Deutsche Demonstrierende Republik“
(Transparent-Text) lässt sich offenbar weder mit Zuckerstücken noch mit der Zuchtpeitsche dressieren.
Eine Flut von Hiobsbotschaften bricht
über den glücklosen Egon Krenz herein,
dessen Zähne noch länger, dessen Augenringe noch dunkler wirken als sonst.
Auf die Straße gegangen sind an diesem
Tag nicht nur die 500 000 in Leipzig, sondern auch 60 000 in Halle, 50 000 in Karl-
K. MEHNER
Mit Lust probt das Volk seine neue Kraft.
Trotz Eiseskälte und Dauerregen strömen
500 000 Demonstranten in die Leipziger Innenstadt, und viele genießen es, ihrer Wut
freien Lauf zu lassen.
Den Karl-Marx-Platz bedeckt ein Wald
von Regenschirmen. Partei-Würdenträgern, die das Wort ergreifen, schlägt Empörung entgegen: „Abtreten!“, „SED, das
tut weh!“, „Zu spät, zu spät!“ Ausgelöst
hat die vieltausendfache Aggression der
Entwurf eines neuen Reisegesetzes, den
die Regierung an diesem Tag vorgestellt
hat.
dem niemand weiß, wie schnell er wahr
wird: „Die Mauer muss weg, die Mauer
muss weg, die Mauer muss weg.“
J. WITT / SIPA PRESS
Montag, 6. November 1989
Leipzig
Bittsteller Schalck, Auftraggeber Krenz: Der Klassenfeind soll zehn Milliarden zahlen
Völlig unbeeindruckt davon, dass 48
Stunden zuvor in der Ost-Berliner City fast
eine Million DDR-Bürger ihr Recht auf
Freizügigkeit eingefordert haben, will die
SED von Dezember an gerade mal 30 Tage
Auslandsurlaub und 15 Mark Reisedevisen
genehmigen – pro Person und Jahr.
Geplant sind obendrein „Bearbeitungsfristen“ von einem Monat und Reiseverbote, die von der Obrigkeit verhängt werden können, wann immer der „Schutz der
öffentlichen Ordnung“ es erfordert.
„365 Tage Reisefreiheit und nicht 30 Tage
Gnade“ verlangen dagegen die Montagsdemonstranten. „Jetzt sollen wir reisen dürfen, mit dem Bettelsack auf dem Rücken“,
ruft ein Redner sarkastisch. Riesenbeifall,
als er endet: „Das Reisegesetz muss weg.“
„In 30 Tagen um die Welt, ohne Geld“,
höhnen die tropfnassen Massen – bis plötzlich ein Sprechgesang anschwillt, der einen verwegenen Traum beschreibt, von
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Marx-Stadt, 25 000 in Schwerin, 10 000 in
Cottbus. Und überall knallen SED-Mitglieder den Funktionären die Parteibücher
auf den Tisch. Ratlos registriert Krenz:
„Unser Bund von Gleichgesinnten, wie wir
die Partei nennen, fällt wie ein Kartenhaus
in sich zusammen.“
Klaus Gäbler, 58, Leiter der Abteilung
Propaganda des Zentralkomitees, hat für
den SED-Chef eine „Erste Einschätzung“
der Alex-Demo gefertigt: Selbst reformbereite Funktionäre, „begonnen bei Genossen Schabowski“, kamen kaum zu
Wort, SED-Kritiker dagegen wurden selbst
dann gefeiert, wenn sie „wenig Konstruktives“ zu bieten hatten.
Krenz selber lief es, als er im Krisenstab
die Demonstration am Bildschirm verfolgte, immer wieder „kalt über den Rücken“.
Die an seiner Partei geäußerte Kritik empfindet er als „so grundsätzlich, dass sich
die Frage stellt: Ist unsere Konzeption vom
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Sozialismus überhaupt noch zu verwirklichen?“
Der millionenfache Protest gegen den
halbherzigen Reisegesetz-Entwurf hat die
SED nun noch weiter zurückgeworfen.
„Was vor einem halben Jahr noch ein
großer Fortschritt gewesen wäre, ist jetzt
schon am Tag der Veröffentlichung Makulatur“, begreift Krenz: „Wieder traben wir
den Ereignissen hinterher.“
Auch in der Stasi herrscht Weltuntergangsstimmung. Erich Mielke lässt seit Tagen
brisante Papiere beiseite schaffen. Geheimhaltungsbedürftige Akten, die Rückschlüsse
auf das Stasi-Spitzelsystem ermöglicht hätten, sollen aus den schlecht gesicherten
Kreisfilialen in die Bezirksverwaltungen gebracht werden. Für die wenigen Dokumente, die vor Ort bleiben dürfen, „sind die erforderlichen Voraussetzungen für ihre kurzfristige Vernichtung zu schaffen“.
Während die Stasi insgeheim Vorsorge für
den Tag X trifft, buhlt sie mit einem absurden Vorstoß um das Vertrauen der Bürger.
Im „Neuen Deutschland“ erscheint ein
vom Ministerium vorformuliertes „Interview“. Darin stellt Rudi Mittig, 64, der momentan aussichtsreichste Kandidat für die
Mielke-Nachfolge, die Stasi als eine Art
Heilsarmee hin:
Der „totale Überwachungsstaat“, das
„allgegenwärtige Spitzelsystem“ existieren nur in der Phantasie westlicher Medien. Das Ministerium für Staatssicherheit
„überwacht“ nicht das Volk, es arbeitet
mit den Bürgern zusammen.
Doch die Bürger sind vom Glauben
längst abgefallen. „Lügen haben kurze Beine“, reimen Montagsdemonstranten, „Egon
zeig, wie kurz sind deine.“
Mehr als die zunehmenden Schmähungen bedrücken den Generalsekretär die
Wirtschaftsdaten: Die ostdeutsche Republik
hat Auslandsschulden von 49 Milliarden Valutamark. Um die Verschuldung zu stoppen,
müsste der ohnehin dürftige Lebensstandard im nächsten Jahr um 25 bis 30 Prozent
gesenkt werden. Das, weiß der SED-Chef,
ist „politisch nicht zu verantworten“.
Rettung erhofft sich der Kommunist
Krenz ausgerechnet vom Konservativen
Kohl. Die Absurdität dieses Ansinnens
wird Krenz-Mitstreiter Günter Schabowski
zehn Jahre später in die Worte fassen: „Es
entspricht der paradoxen Logik jener Zeit,
Montagsdemonstration am 6. November in Leipzig: Die tropfnassen Massen lassen ihrer Wut freien Lauf
dass wir bei dem Versuch, die DDR fünf
Minuten vor zwölf zu retten, auf die Hilfe
der klassenfeindlichen, aber einheitsverpflichteten Bundesrepublik spekulierten“ –
die indes „nicht unbedingt begierig sein
konnte, mit den Geldern ihrer Steuerzahler den Samariter am Bett der siechen
DDR zu spielen“.
Krenz hat den SED-Devisenbeschaffer
Alexander Schalck-Golodkowski in geheimer Mission nach Bonn geschickt: Der
Stasi-Offizier soll Kanzleramtsminister Rudolf Seiters und Innenminister Wolfgang
Schäuble um Milliardenbeträge für die kaputte Kommandowirtschaft anpumpen.
Im Kanzleramt bittet der Goldfinger der
SED seine christdemokratischen Gesprächspartner um „langfristige Kredite …
bis zur Höhe von zehn Milliarden Verrechnungseinheiten“, also D-Mark, außerdem um „Bereitstellung zusätzlicher Kreditlinien in freien Devisen, die – beginnend
im Jahre 1991 – jährlich zwei bis drei Milliarden DM betragen könnten“.
Nun spätestens ist Seiters und Schäuble
klar, in welch desolatem Zustand die DDRWirtschaft ist: Anders als noch 1983 und
1984 können einmalige Milliardenkredite
die DDR nicht mehr retten.
Der Ost-Berliner Unterhändler muss
ohne Zusage heimreisen.
Dienstag, 7. November 1989
Gera
Schneidbrenner zischen, Funken sprühen.
Auf dem Hof des „VEB Maschinen- und
Dampfkesselbau“ in Gera-Liebschwitz zerlegen wutentbrannte Arbeiter in kleinste
Stücke, was sie gerade erst zusammengeschweißt haben: mysteriöse Werkstücke,
offiziell deklariert als „Zaunsegmente“.
Die Metaller haben herausgefunden,
welchem Zweck die angeblichen Zaunteile wirklich dienen sollen. Die Geraer Volkspolizei, die den Auftrag erteilt hat, will sie
als „Sperr- und Räumgitter“ vor ihre Last-
Vopo-Waffe „Übersteigeschutz“: Sichelscharfe Messer gegen Demonstranten
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wagen vom Typ „W 50“ schrauben – ideal
zum brutalen Vorgehen gegen Demonstranten: vorn ein Teil von 2,20 mal 1,20
Metern, links und rechts ein kleineres zum
Ausklappen.
Angefacht hat den Arbeiterzorn ein
„Übersteigeschutz“, der auf die Gitter
montiert werden soll: Mähdreschermesser
mit sichelscharfen Klingen.
Ein Maschinenbauer empört sich: „Wie
können Genossen der Volkspolizei auf die
Idee kommen, eine Technik zu konstruieren, die gegen das Volk eingesetzt werden
soll und die so gedacht ist, dass die Menschen aufgeschlitzt werden?“
Morgens um neun Uhr sind zwei Vopos
in Zivil auf dem Betriebsgelände aufgetaucht, um mit einem Kleintransporter vom
Typ „Barkas B 1000“ die „Zaunsegmente“
abzuholen. 20 Arbeiter haben sich den Polizisten in den Weg gestellt und sie vertrieben. Dann ließen die Metaller ihre
Schneidbrenner fauchen.
Ost-Berlin
Bei den Sachbearbeitern des „Eingabewesens“ im Roten Rathaus herrscht
Hochbetrieb. Bergeweise treffen in der
Kommunalverwaltung Beschwerdebriefe
empörter Bürger ein. Auf Grund von Massenflucht und Misswirtschaft droht selbst
im DDR-Versorgungsparadies Berlin der
Kollaps.
„Wir können weder backen noch braten
– nur Eintopf kochen“, schreibt ein Invalidenrentner aus Treptow an den „lieben
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100 TAGE IM HERBST: »DIE MAUER MUSS WEG«
MERILLON / GAMMA / STUDIO X
Oberbürgermeister“; für seinen schrottreifen Elektroherd finde er nirgendwo in
der DDR-Hauptstadt Ersatz.
„Nun laufen wir schon seit geraumer
Zeit durch Berlin, um eine Doppelliege zu
kaufen“, beschwert sich ein Köpenicker
Familienvater: „Es kann nicht sein, dass
eine Stunde nach Öffnung des Einrichtungshauses alle ausverkauft sind.“
Wo Waren vorrätig sind, fehlt es oft an
Personal; seit Jahresbeginn haben sich über
2000 Verkäuferinnen und Lagerarbeiter aus
Ost-Berlin in den Westen aufgemacht.
Immer häufiger öffnen Bäcker, Fleischer,
Friseur und Kneipier ihr Geschäft nur zeitweise oder gar nicht. An herabgelassenen
Rollläden steht „Technische Störung“ oder
„Vorübergehend geschlossen“ – und jeder
weiß: Auch die sind nun „rüber“.
Die Hiergebliebenen müssen zahllose
Überstunden leisten; NVA-Soldaten, die
ULLSTEIN BILDERDIENST
DDR-Ausreisende*: Das Politbüro verwirft die Idee, eine zweite Mauer zu bauen
Ost-Berliner Regierungssprecher Meyer
Halbheiten und Peinlichkeiten
einspringen sollen, können die fehlenden
Fachkräfte nicht ersetzen. So richtet der
Magistrat, mit wenig Erfolg, Sondertelefone für arbeitswillige Spezialisten ein und
lässt einen Aufruf in den Tageszeitungen
veröffentlichen: „Viele Kassierer, Krankenschwestern und Kraftfahrer werden
benötigt.“
Allen Widrigkeiten zum Trotz wird, wie
jedes Jahr um diese Zeit, im Roten Rathaus der Speiseplan für die Adventswochen festgelegt.
„Der Verkauf von Lebkuchen beginnt
planmäßig am 20. 11.“, versichert die Verwaltung, „eine durchgängige Versorgung
mit Fleisch- und Wurstwaren, alkoholfreien Getränken wird gesichert“ – allerdings
„ohne dass alle Sorten stabil im Angebot
sind“.
Während weitere Versorgungsengpässe
drohen, gedeihen in den Amtsstuben des
Ost-Berliner Rathauses immer neue Blüten
zentralistischer Planwirtschaft.
Soeben vorgelegt: eine „Beschlussvorlage“ mit dem Titel „Einführung von Zuschlägen für die Dienstleistungsart ,Einnähen von Reißverschlüssen im Sofort- und
Schnelldienst‘“.
Schalck informiert, nun lässt Seiters sich
mit dem SED-Mann verbinden.
Das Telefonat mit Schalck-Golodkowski
leitet eine neue Ära in der bislang weitgehend sozialliberal geprägten Ostpolitik ein:
Erstmals verlässt Bonn die Linie der Nichteinmischung in DDR-Angelegenheiten.
Von Kohl beauftragt, diktiert Seiters
dem Ost-Berliner Devisenbeschaffer die
Bedingungen, unter denen die DDR fortan
mit westdeutscher Kapitalhilfe rechnen
darf: „Öffentlich“ müsse Krenz erklären,
dass die SED bereit sei, „die Zulassung
von oppositionellen Gruppen und die Zusage zu freien Wahlen in zu erklärenden
Zeiträumen zu gewährleisten“.
Außerdem, setzt Seiters nach, sei unabdingbar, dass „die SED auf ihren absoluten
Herrschaftsanspruch verzichtet“, wenn sie
Geld sehen will.
In Ost-Berlin informiert Schalck kurz
darauf Krenz über das Telefonat. „Das ist
Erpressung“, empört sich der SED-Chef.
Fünf Jahre später werden die US-Historiker Philip Zelikow und Condoleezza Rice
den Kurswechsel als historischen Einschnitt
bewerten. Mit ihren harten Bedingungen
habe die Regierung Kohl den in Bonn bis
dahin herrschenden „ostpolitischen Konsens aufgekündigt“: „Während Krenz verzweifelt auf Hilfe hoffte, um sein Land zu
stabilisieren, wollte ihm Kohl diese erst gewähren, wenn er das bestehende System
stürzte.“
Ost-Berlin
Bonn
Krenz, von Kohl in die Enge getrieben,
zeigt Wirkung. Um die Staatspleite abzuwenden, stimmt er das Politbüro auf
die Bonner Bedingungen ein – mit einer
List: Er kaschiert die demütigenden Konditionen als Ratschläge der sowjetischen
Freunde.
Der Kanzleramtsminister hat den Kanzler
über das Gespräch mit dem Bittsteller
* An der tschechisch-bayerischen Grenze bei Schirnding.
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Ausführlich berichtet Krenz über seinen
jüngsten Besuch in Moskau. Dringend habe
Gorbatschow ihm empfohlen, mit einer Legalisierung der Opposition nicht zu warten,
bis sich die Bürgerrechtler zu Systemgegnern entwickelt haben.
Dass Schalck auf Betteltour in Bonn war
und Kohl auf der Anerkennung des Neuen
Forums besteht, verschweigt Krenz den
Genossen. Das Politbüro beschließt, die
seit Wochen vorliegende Anmeldung des
Neuen Forums „entgegenzunehmen“.
Mit einigen anderen fixen Korrekturen
versucht die Partei, sich vom Haltegriff am
letzten Wagen des Reformzuges ein Stück
weiter nach vorn in Richtung Lok zu hangeln. Neue Gesichter im Politbüro sollen
dem Volk Veränderungswillen signalisieren.
Daher beschließt die alte Garde des Proletariats, am nächsten Tag, zu Beginn der
10. Tagung des Zentralkomitees, komplett
abzudanken. Doch drei der Nachfolger, die
Krenz vorschlägt, sind bejahrte Bekannte,
alles andere als Hoffnungsträger. Sie fallen
prompt durch, andere Kandidaten werden
auf Druck der Parteibasis in den Bezirken
zurückgezogen. Die elf Vollmitglieder, die
schließlich bestätigt werden, haben mit drei
Ausnahmen dem Gremium schon vorher
angehört. Auch sie tragen also Mitverantwortung für die Politik der Ära Honecker.
Im Zeichen von Glasnost wird, erstmals
in der DDR, ein Regierungssprecher installiert. Doch auch diese Reform ist an Halbheit und Peinlichkeit kaum zu überbieten.
Der neue Mann ist ein alter Haudegen:
Wolfgang Meyer, 55, bisher Hauptabteilungsleiter Presse im Außenministerium,
hat jahrelang als Zensor die in der DDR akkreditierten West-Journalisten geschurigelt.
Als erste Amtshandlung gibt Meyer den
Rücktritt aller 44 Minister bekannt; bis
zur Bildung einer neuen Regierung bleibt
Willi Stoph samt Kabinett geschäftsführend
im Amt – und ist damit verantwortlich für
Werbeseite
Werbeseite
100 TAGE IM HERBST: »DIE MAUER MUSS WEG«
Mittwoch, 8. November 1989
Ost-Berlin
Günter Schabowski, 60, in der SED neuerdings zuständig für Information und Agi90
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tation, muss einen Parteiauftrag ausführen.
„In den Massenmedien“ soll er, hat das
Politbüro beschlossen, unverzüglich „darauf hinwirken, dass die Bürger ihr Land
nicht verlassen“ (siehe Porträt Seite 104).
Eine entsprechende Zusage hat am
Abend zuvor auch Außenminister Fischer
in seinem Gespräch mit dem Moskauer
Botschafter gegeben: „Die Kampagne in
den Medien, die DDR-Bürger zum Hierbleiben zu veranlassen, wird verstärkt“,
verrät ein Vermerk über das Treffen mit
Kotschemassow. Die SED versuche, so
Fischer, „auch andere bestimmte Leute
dafür zu gewinnen“.
Als potenzielle Bündnispartner im
Kampf gegen die Reisewut haben die Parteistrategen Menschen im Auge, die sie
noch vor wenigen Wochen mit Knast und
Knüppeln traktieren ließen: Die Einheitssozialisten planen, die Reformsozialisten
aus der Bürgerbewegung für ihre Zwecke
einzuspannen, um das mehr und mehr vom
Westen faszinierte Volk am Abhauen zu
hindern.
DEUTSCHES RUNDFUNKARCHIV
eine allerletzte Weichenstellung, eine Entscheidung mit historischen Folgen.
Die anhaltende Ausreisewelle verlangt
rasche Reaktionen. Seit Öffnung der tschechoslowakischen Grenze verlassen stündlich im Schnitt 300 DDR-Bürger via ∏SSR
die Republik in Richtung Westen.
Im Politbüro zeichnet Außenminister
Oskar Fischer ein düsteres Bild: Die Prager
Bruderpartei verlange von Ost-Berlin, die
Ausreisewelle sofort zu stoppen – Tenor:
„Wenn ihr die Grenze zu uns nicht dichtmacht, machen wir sie zu.“
Die Idee, eine zweite Mauer zu bauen,
diesmal zwischen DDR und ∏SSR, wird
verworfen. Auch eine vorgeschlagene leichtere Stacheldrahtversion, fürchten die alten
Herren, würde nur neue Probleme schaffen: Massenattacken auf den Zaun ließen
sich nur mit Waffengewalt stoppen.
Außenminister Fischer wird vom Politbüro beauftragt, dem ZK einen neuen Vorschlag zu unterbreiten. Grundgedanke: Die
für Dezember ohnehin geplante weitgehende Freigabe der „ständigen Ausreise“
soll vorzeitig in Kraft treten.
Fischer meint, wenn die DDR als Vorposten des Ostblocks ihre Grenzen durchlässig machen wolle, müsse dieses Vorhaben mit den Freunden in Moskau abgestimmt werden. Deshalb bittet er am
Abend den Sowjetbotschafter in Ost-Berlin, Wjatscheslaw Kotschemassow, 71, zu
sich in sein Außenministerium gegenüber
dem Palast der Republik.
Das Politbüro, eröffnet Fischer dem Diplomaten, neige dazu, das neue Ausreisegesetz so zu formulieren, dass DDR-Bürger
die Möglichkeit erhalten, ohne Umwege
über Drittländer direkt in die Bundesrepublik zu fahren – sofern sie sich entschließen,
dort ihren ständigen Wohnsitz zu nehmen.
Kaum ist Kotschemassow in seine Botschaft zurückgekehrt, um die Ecke Unter
den Linden, ruft er seinen Außenminister
in Moskau an. Eduard Schewardnadse reagiert gelassen: „Wenn die deutschen Freunde eine solche Lösung für möglich halten,
werden wir wahrscheinlich keine Einwände anmelden.“
Die Sowjets durchschauen das Spiel der
SED-Spitze. Die Konsultation Kotschemassows durch Außenminister Fischer, formuliert ein Botschaftsrat an diesem Abend
ganz undiplomatisch, zeuge „von der Feigheit des Genossen Krenz“.
Der Generalsekretär wolle die Mitverantwortung für die Folgen seines Schrittes
den Sowjets zuschieben. Krenz wisse genau,
worauf die geplante Maßnahme hinauslaufe: auf eine Öffnung der Grenze – mit
unabsehbaren politischen Konsequenzen.
Schriftstellerin Wolf (bei ihrem TV-Appell)
„Bleiben Sie bei uns!“
Beide Seiten entdecken in diesen Tagen
aus unterschiedlichen Motiven, so der
Historiker Walter Süß, „einen kleinsten
gemeinsamen Nenner“ – sie wissen:
„Von oben her stabilisiert oder von unten
aus verändert“ werden kann „nur eine
DDR, der die Menschen nicht davonlaufen“.
Am Abend darf denn auch, im Namen
von Bärbel Bohley und anderen Bürgerrechtlern, die Schriftstellerin Christa Wolf
über das von Schabowski kontrollierte
DDR-Staatsfernsehen einen Appell an alle
Ausreisewilligen richten:
Wir bitten Sie, bleiben Sie doch in Ihrer
Heimat, bleiben Sie bei uns! Was können
wir Ihnen versprechen? Kein leichtes, aber
ein nützliches und interessantes Leben. Keinen schnellen Wohlstand, aber Mitwirkung
an großen Veränderungen … Helfen Sie
uns, eine wahrhaft demokratische Gesellschaft zu gestalten, die auch die Vision eines demokratischen Sozialismus bewahrt.
Doch das Volk, so wird sich 24 Stunden
später zeigen, hat seinen eigenen Willen –
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Werbeseite
Werbeseite
100 TAGE IM HERBST: »DIE MAUER MUSS WEG«
und mehrheitlich längst ganz andere Visionen als seine Politiker, seine Pastoren
und seine Poeten.
Donnerstag, 9. November 1989
Ost-Berlin
sen“. Dann kommt er endlich zum Punkt:
Allerdings „ist heute, soviel ich weiß, eine
Entscheidung getroffen worden“. Der Ministerrat habe beschlossen, „heute, äh, eine
Regelung zu treffen, die es jedem Bürger
der DDR möglich macht, äh, über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen“.
„Ab wann tritt das in Kraft?“, will einer
wissen. Schabowski kramt in den Papieren, kratzt sich am Kopf – so genau weiß er
das auch nicht. Hastig liest er den Gesetzestext vor. Darin stehen Sätze wie: „Die
Genehmigungen werden kurzfristig erteilt.“ Und: „Die zuständigen Abteilungen
Pass- und Meldewesen“ der Volkspolizei
seien „angewiesen, Visa zur ständigen Ausreise unverzüglich zu erteilen“. Für jeden
DDR-Bürger ist damit klar, dass er zunächst zur Behörde muss, um einen Antrag
zu stellen. Und weil die Ämter jetzt Feierabend haben, geht das frühstens am nächsten Morgen.
Dann aber unterläuft Schabowski ein für
die Existenz der DDR verhängnisvoller
Fehler. Auf die nochmalige Nachfrage:
„Wann tritt das in Kraft?“, stottert der Informationssekretär des ZK hilflos herum:
„Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das
sofort, unverzüglich.“
Schabowski meint natürlich: morgen
früh, wenn die Ämter öffnen. Er kann nicht
ahnen, dass die DDR-Bürger ihn beim Wort
nehmen und „sofort“ losstürmen.
Als ein Journalist nachhakt, ob die Ausreiseregelung auch für die Übergänge nach
West-Berlin gelte, merkt Schabowski zum
ersten Mal, dass mit dem Zettel von Krenz
etwas nicht stimmen kann. Er schaut nach,
ja, da steht „Berlin (West)“, und ihm jagt,
wie er später erzählt, durch den Kopf:
DPA
Die Dienstbesprechung, deren Folgen Europas Grenzen verändern wie ein Weltkrieg, beginnt um 9 Uhr in Ost-Berlin –
ausgerechnet in der Mauerstraße.
Dort, im Ministerium des Innern, brüten
vier Experten, darunter zwei Stasi-Obristen, über einer kniffligen Aufgabe: Die
SED-Führung hat dem Quartett – unter
dem Eindruck der ∏SSR-Drohung, die
Grenze zu schließen – den Auftrag erteilt,
rasch eine Regelung für jene Bürger zu finden, die das Land für immer verlassen wollen. Schnell ist der Runde klar, dass die
Vorgabe absurd ist: An diejenigen, die nur
mal eben eine Tante in West-Berlin besuchen wollen, ist nicht gedacht worden.
So legen die Experten einen Entwurf
mit dem Titel „Unverzügliche Visaerteilung für ständige Ausreisen“ beiseite
und formulieren einen Passus über „Privatreisen nach dem Ausland“, die „ohne
Vorliegen von Voraussetzungen“ beantragt
werden sollen. Wer weg will aus der DDR,
für immer oder nur kurz, muss nach diesem Entwurf nur noch ein Visum beantragen.
Gegen 12 Uhr kommt das Papier ins
Zentralkomitee, das gerade in die Mittagspause geht. Krenz liest einigen zufällig
noch anwesenden Mitgliedern des Politbüros den Text vor, die nicken ihn ab. Danach geht die Vorlage zum Ministerrat, des-
sen Mitglieder im Umlaufverfahren zustimmen sollen.
Günter Schabowski, der Pressesprecher
des neuen Politbüros, ist nicht im Saal, als
Krenz gegen 16 Uhr im Plenum die neue
Ausreiseverordnung vorliest. Er weiß daher
nicht genau, was auf den zwei DIN-A4Seiten steht, die Krenz ihm mit den Worten in die Hand drückt: „Gib das bekannt.
Das wird ein Knüller für uns.“
Den will Schabowski sich bis zuletzt aufheben. Handschriftlich notiert er einen
Fahrplan für den Ablauf der Pressekonferenz: „Kurz vor Schluss – Nennung MiRaBeschluss“. Er weiß nicht, dass der Ministerrat ihn zu diesem Zeitpunkt noch gar
nicht beschlossen hat und daher auch die
Grenztruppen nicht instruiert sind. Und er
übersieht, dass auf der zweiten Seite des
Papiers der Satz steht: „Über die Regelungen ist die beigefügte Pressemitteilung
am 10. November 1989 zu veröffentlichen.“
Heute ist aber erst der 9. November.
Fast eine Stunde langweilt Schabowski
hunderte von Journalisten im Kinosaal des
„Internationalen Pressezentrums“ mit
Schilderungen, was in einem SED-Aktionsprogramm stehen soll und welche Folgen ein neues Wahlgesetz haben werde.
Die Medienleute sind schon im Aufbruch
begriffen, als um 18.53 Uhr Riccardo Ehrman von der italienischen Nachrichtenagentur Ansa ans Saalmikrofon geht und
eine, wie es scheint, banale Frage nach dem
umstrittenen Reisegesetz-Entwurf stellt.
Umständlich und weit ausschweifend, mit
verschachtelten Sätzen und gespickt mit
„Ähs“, verbreitet sich Schabowski minutenlang über „dieses Bedürfnis der Bevölkerung, zu reisen oder die DDR zu verlas-
Schabowski (Podium, 2. v. r.) am 9. November im Internationalen Pressezentrum: „Das wird ein Knüller für uns“
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A. PACZENSKY / IMAGES.DE
S. BERGEMANN / OSTKREUZ
JÜRGENS OST + EUROPA PHOTO
100 TAGE IM HERBST: »DIE MAUER MUSS WEG«
Grenzöffnung am Übergang Bornholmer Straße (1989), Stasi-Grenzer Jäger (1994), Nevyhosteny (1996): „Ich lasse die Leute raus“
„Hoffentlich wissen die Sowjets davon, dieses Ding berührt ja den Viermächtestatus –
verflucht.“
Unter den hunderttausenden, die Schabowskis Auftritt im Fernsehen verfolgen, ist
auch Dieter Teichmann. Der Generalmajor
hat an diesem Abend die oberste Befehlsgewalt im brandenburgischen Pätz, dem Sitz
des Kommandos der Grenztruppen. Nach
der Sendung geht Teichmann seelenruhig
zum Abendessen und macht sich Gedanken, „was auf die Grenztruppen in den
kommenden Wochen zukommen“ würde.
Als Teichmann vom Abendbrot an seinen Schreibtisch zurückkehrt, wird ein Anruf von Generalmajor Erich Wöllner, dem
Kommandeur des Grenzkommandos Mitte in Berlin, durchgestellt. Wöllner will sich
kundig machen, weil er von überall her
Anfragen erhält, was die Ankündigung
Schabowskis bedeute.
Aber auch sein Vorgesetzter Teichmann,
merkt er nun, weiß von nichts. Trotzig
denkt sich Wöllner: „Wenn die dir vorher
nichts sagen, dann sollen sie auch sehen,
wie sie zurechtkommen.“ Er beschließt:
„Du machst jetzt gar nichts“, und geht
nach Hause.
Von den historischen Ereignissen der folgenden Stunden werden die politischen
Führer der DDR ebenso überrumpelt wie
subalterne Staatsdiener – etwa Bruno
Nevyhosteny, 41, Hauptmann einer Passkontrolleinheit (PKE) des Ministeriums für
Staatssicherheit.
Nevyhosteny ist nachmittags um drei
von der Frühschicht an der Grenzübergangsstelle (GÜSt) Bornholmer Straße
nach Hause gekommen. Ferngesehen hat
er nicht; daher ist ihm die von Schabowski
in die Welt gesetzte Information entgangen,
die sich in den Medien binnen kurzem zu
der Formel verkürzt hat: „Die Grenzen
sind auf.“
Gegen 21 Uhr lässt das Telefon den
Hauptmann in seiner Wohnstube in BerlinLichtenberg hochschrecken. Auf Befehl seines Vorgesetzten fährt Nevyhosteny zusammen mit einem Kollegen zur Bornholmer Straße – auf Schleichwegen, denn es ist
merkwürdig viel los auf den Straßen. Die
Stasi-Männer, die abertausende zur Gren94
ze strömen sehen, bekommen es mit der
Angst zu tun: „Die machen uns fertig.“
Als die Grenzer die Baracken erreichen,
versucht ihr Vorgesetzter, PKE-Vizechef
Oberstleutnant Harald Jäger, 46, gerade
verzweifelt zu erfahren, wie er sich verhalten soll. Über die Schabowski-Mitteilung, die neue Reiseregelung – freie Fahrt
in den Westen – gelte „ab sofort“, kann Jäger nur den Kopf schütteln: „Ab sofort?
Das geht doch gar nicht.“ Zu seinen Mitarbeitern sagt Jäger: „Das ist doch absoluter geistiger Dünnschiss.“
Immer mehr Menschen rücken an, fordern „Macht das Tor auf“. Immer wieder
versucht Jäger, von Oberst Rudi Ziegenhorn, Vizechef der Stasi-Hauptabteilung
VI, konkrete Weisungen zu erhalten. Nach
Beratung mit dem stellvertretenden StasiMinister Gerhard Neiber empfiehlt der
Oberst: „Die am aufsässigsten sind und die
provokativ in Erscheinung treten, die lass
raus. Denen macht ihr im Ausweis einen
Stempel halb über das Lichtbild – und die
kommen nicht wieder rein.“
Nach diesem Verfahren passieren gegen
21.20 Uhr die ersten DDR-Bürger, ausgebürgert per Handbewegung, die Grenze.
Doch das Geschubse und Gedrängel am
Schlagbaum wird immer heftiger.
Schließlich kapitulieren die Stasi-Grenzer, von denen einige Todesängste verspüren. Jäger an Ziegenhorn: „Es ist nicht
mehr zu halten, wir müssen die GÜSt aufmachen. Ich stelle die Kontrollen ein und
lasse die Leute raus.“ Ein Kollege meldet:
„Wir fluten jetzt.“
Die Mauer fällt – zum Einsturz gebracht
nicht durch den Willen des Genossen Generalsekretär, der sich bald zum Grenzöffner stilisieren wird, sondern durch Volkes
Macht, durch den Druck der Bürger.
Wie benommen wanken die Grenzhüter
inmitten des Stroms der Grenzgänger hin
und her. Verschwommen nimmt Hauptmann Nevyhosteny den Jubel im gelben
Nachtlicht wahr, sieht Leute „in Massen
über die Grenze krabbeln“, ganz ohne Formular, ohne Kontrolle, ohne Stempel.
Der Hauptmann hatte Hass erwartet.
Stattdessen gibt es für die Grenzer nun
Blumen, Küsse und Rotkäppchen-Sekt.
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Etwa zur selben Zeit nähert sich Wolfgang Herger, der gerade ins Politbüro aufgerückte ZK-Sekretär für Sicherheitsfragen, seiner Wohnung in der Wisbyer
Straße. Er traut seinen Augen kaum: Westwärts steuernde Trabis bilden einen Rückstau, der vom zwei Kilometer entfernten
Grenzübergang Bornholmer Straße bis zu
seinem Haus reicht.
Herger knipst eilends den Fernseher an
und vernimmt zu seinem Erstaunen, dass
die Tore in der Mauer weit offen stehen.
Das Betonmonster, das West-Berlin auf
165,7 Kilometer Länge umschließt und dem
in der geteilten Stadt mehr als 70 Menschen zum Opfer gefallen sind, hat die
Amtszeit Erich Honeckers genau 22 Tage
und 10 Stunden überdauert. In seinem Arbeitsbuch notiert Herger:
Heute haben wir entweder einen strategischen Fehler gemacht oder eine strategische Flucht nach vorn … Die Grenze ist de
facto geöffnet. Man fährt und läuft hin
und her, obwohl wir heute ganz anderes
beschlossen haben. Es sollte wieder über
das „Amt“ gehen, doch das wurde igno-
Jubel nach der Maueröffnung: „So ein Tag, so
Freudenfest auf der Mauerkrone
„Die sind verrückt geworden“
an und jubelt: „Das kann eine große Sache
für uns werden.“
„Halleluja! Die Mauer kippt!“ – Millionen von Ostdeutschen empfinden in diesen
Stunden wie der ausgebürgerte Liedermacher Wolf Biermann. Für Teile der Opposition dagegen zerplatzt der schöne
Traum von einem eigenständigen deutschen Zweitstaat, der sich einen „dritten Weg“ zwischen bürgerlichem Liberalismus und diktatorischem Staatssozialismus
bahnt.
Nicht wenige reagieren wie Bärbel Bohley: „Die Leute sind verrückt geworden“,
empört sie sich, „und die Regierung hat
den Verstand verloren.“ Die Filmemacherin Freya Klier hält fest, „die Wucht der
Meldung“ von der Maueröffnung habe sie
„unter die Bettdecke getrieben statt auf
die nächtliche Straße“.
Die DDR, fürchtet die Bürgerrechtlerin,
werde sich schon bald „auflösen wie eine
Brausetablette“.
riert. Die Leute sind mit dem Personalausweis an die Grenze gegangen. Jetzt liegt
es an der BRD-Seite … Sie können die
Grenze nicht schließen, und wir wollen es
nicht.
Schabowski fährt unterdessen im Strom
der Trabis zum Grenzübergang HeinrichHeine-Straße, wo sich Ost- und West-Berliner um den Hals fallen und „So ein Tag,
so wunderschön wie heute“ singen. Die
Freude der Menschen nährt die Illusion
des Funktionärs, er habe der DDR einen
Dienst erwiesen. Schabowski ruft Krenz
T. STODDART / KATZ / AGENTUR FOCUS
Warschau
wunderschön wie heute“
Bundeskanzler Helmut Kohl wird von dem
Jahrhundertereignis bei einem Staatsbesuch in Warschau überrascht, beim Essen.
Schon kurz vor 19 Uhr, zeitgleich mit
Schabowskis Pressekonferenz, prophezeit
Solidarnośƒ-Chef Lech Walesa, wie ein
Kanzler-Mitarbeiter festhält, dass „die
Mauer in ein bis zwei Wochen nicht mehr
stehen“ werde.
Wenig später, während des Festbanketts
im Palast des Ministerrats, ruft der KohlVertraute Eduard Ackermann aus Bonn
den Kanzler an.
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STODDART / KATZ / FOCUS
ORBAN / CORBIS SYGMA
Augenzeuginnen am 9. November
„Wahnsinn, ick gloob’s nich“
Ackermann: „Herr Doktor Kohl, halten
Sie sich fest, die DDR-Leute machen die
Mauer auf.“
Kohl: „Sind Sie sicher?“
Ackermann: „Das Fernsehen überträgt
live aus Berlin, ich kann es mit eigenen
Augen sehen.“
Kohl: „Das ist ja unfassbar!“
Mitarbeiter bedrängen den Kanzler,
sofort nach Deutschland zurückzukehren. Kohl will die Polen nicht brüskieren,
doch er weiß: Seinem Vorbild Konrad
Adenauer wurde nach dem Mauerbau am
13. August 1961 immer wieder angelastet, dass er nicht sofort nach Berlin geeilt war, sondern seinen Wahlkampf fortgesetzt hatte.
Gisbert Kuhn, einer der mitgereisten Bonner Zeitungskorrespondenten,
schlägt Kohl vor, den Besuch „nicht abzubrechen, sondern nur zu unterbrechen“.
Nach einem Gespräch mit Außenminister
Hans-Dietrich Genscher entschließt sich
der Kanzler, dem Rat des Reporters zu
folgen.
West-Berlin
Für Walter Momper wird das Unfassbare
kurz nach 23 Uhr zur Gewissheit. Bei ei95
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100 TAGE IM HERBST: »DIE MAUER MUSS WEG«
validenstraße aus kontaktiert
trägt dem Vize-Verteidigungsder Mann mit dem roten
minister die Leitung.
Schal eine Stunde vor MitterDie DDR ist in diesen Stunnacht seinen Polizeipräsidenden, wie Krenz später schreibt,
ten („Da müssen doch Gitter
„einem militärischen Einsatz
her“) sowie die alliierten
näher, als dies manche wahrStadtkommandanten: „Ihr
haben wollen“. In seinen Memüsst die West-Berliner Polimoiren gibt Krenz seine Lagezei ermächtigen – am BranEinschätzung mit den Worten
denburger Tor fangen die Verwieder:
rückten an, überall mit dem
Hammer auf der Mauer rum- General Snetkow
Zeitweilig sind über 1000 Menzukloppen.“
schen auf der Mauer am BranDer Ansturm auf die offene Grenze ge- denburger Tor. Einige springen ins DDRwinnt von Stunde zu Stunde an Wucht – je- Grenzgebiet. Das ist eine sichtbare Verder will dabei sein, notfalls mit dem Man- letzung der Grenze der DDR vom Westen
tel überm Schlafanzug. Noch lange nach her. Wenn es Sinn macht, von gefährlich
Mitternacht erkunden aufgekratzte Westler die höchste Steigerungsform zu bilden,
den Osten und Ostler den Westen der dann ist diese Situation am BrandenStadt: „Wahnsinn, ick gloob’s nich.“
burger Tor die bisher gefährlichste. Sie
Während Leuchtraketen in den Nacht- kann jederzeit militärische Eingriffe aushimmel zischen und beschwingte Zecher lösen.
auf der fußwegbreiten Mauerkrone Sektflaschen schwenken, bangt Momper:
Sowjetbotschafter Kotschemassow, of„Wenn da ein Verrückter drüben losschlägt, fenbar irritiert über die Art und Weise des
da ist doch die Hölle los.“
Mauersturzes, ruft an und will wissen:
Drüben denken zu dieser Stunde ein „Wer hat der DDR das Recht gegeben, die
paar Verrückte bereits an die Mobil- Grenzen zu öffnen?“ Gorbatschow wünmachung der so genannten Volksarmee.
sche umgehend informiert zu werden.
Im Auftrag von Krenz entwirft Streletz ein besänftigendes Telegramm an den
KPdSU-Chef, das die Grenzöffnung als
Freitag, 10. November 1989
spontane Reaktion der politischen Führung
Ost-Berlin
darstellt – die damit in Wahrheit gar nichts
Früher als sonst nähern sich im Morgen- zu tun hatte.
Zur „Vermeidung schwerwiegender
grauen die dunkelblauen Volvo-Limousinen aus Wandlitz, der geheimen Waldsied- politischer Folgen“, so telegrafiert die
DDR-Regierung nach Moskau, habe Ostlung, der Hauptstadt der DDR.
Um 7 Uhr trifft sich Krenz in seinem Ar- Berlin „größeren Ansammlungen von
beitszimmer im „Großen Haus“ mit Ge- Menschen“ die Ausreise „gestattet“. Die
neraloberst Fritz Streletz. Der übernäch- Grundsätze des „Vierseitigen Abkomtigte Staatschef befiehlt die Bildung einer mens über Berlin (West)“ seien „nicht
„Operativen Führungsgruppe“ und über- berührt“; Besuchsreisen zu West-Berliner
DPA
Mauerbesetzer, DDR-Grenzsoldaten
am Brandenburger Tor
„Das ist ein historischer Tag“
A. SUAU / PLUS 49 / VISUM
ner Live-Diskussion im Studio E des
Senders Freies Berlin steckt ein Sicherheitsbeamter dem Regierenden Bürgermeister unter dem Tisch einen Zettel zu:
„Grenzübergang Bornholmer Straße ist
offen.“
Momper – „Das ist ein historischer
Tag“ – verabschiedet sich vom Bildschirm
und jagt im Senats-Daimler, begleitet von
einem Blaulichtwagen, mit Tempo 80 bei
Rot über alle Ampeln zur Mauer. Dort
herrscht Volksfeststimmung, Hände recken
sich ihm entgegen: „Walter, hättste das gedacht?“
Den Walter trifft die Weltsensation nicht
gänzlich unvorbereitet. Am 29. Oktober
hat er seinen Ost-Berliner Kollegen Erhard
Krack nebst SED-Sekretär Schabowski bei
einem Gespräch im Palasthotel kennen gelernt. Am Ende der Unterredung eröffnete Schabowski ihm, wie Momper fand,
ziemlich unvermittelt: „Übrigens – wir
werden Reisefreiheit geben.“
Was er denn damit meine, fragte Momper. „Richtige Reisefreiheit“, versicherte
Schabowski: „Jeder DDR-Bürger kann reisen, wohin er will. Er kann die DDR auch
auf Dauer verlassen.“
West-Berlins Senat hat daraufhin flugs
eine Projektgruppe installiert – Auftrag:
„Vorbereitung auf einen verstärkten Besucher- und Reiseverkehr aus Ost-Berlin und
der DDR“. Erster Vorschlag: Wegen der ab
Dezember erwarteten 500 000 Tagesbesucher soll der Kurfürstendamm für Autos
gesperrt werden. Zufällig zum 9. November ist eine Begrüßungsbroschüre fertig
geworden, die Momper in Auftrag gegeben hat – ein Willkommensheft für DDRBürger.
In der Nacht des Mauerfalls übernimmt
Momper das Kommando. Von einer Polizeibaracke am Sektorenübergang In-
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100 TAGE IM HERBST: »DIE MAUER MUSS WEG«
Genossen, ich bitte um Verständnis. Ich
weiß nicht, ob wir alle noch nicht oder viele – da will ich niemandem zu nahe treten
– den Ernst der Lage erkannt haben. Der
Druck, der bis gestern auf die tschechoslowakische Grenze gerichtet war, ist seit
heute Nacht auf unsere Grenzen gerichtet
… Der Druck war nicht zu halten.
Eine halbe Stunde später, um 11.30 Uhr,
trifft Krenz, besorgt um die „normale Ordnung in der Stadt“, eine Entscheidung, die
er jahrelang leugnen wird. Er befiehlt, wie
Zeugenaussagen und Dokumente belegen,
„Erhöhte Gefechtsbereitschaft“ für zwei
Eliteeinheiten, die in Potsdam und Umgebung stationiert sind: die 1. Motorisierte
Schützendivision und das Luftsturmregiment 40.
Zehn Jahre später wird Krenz eine
merkwürdig anmutende Begründung nachliefern: Die Regierung habe geplant, neue
Grenzübergangsstellen einzurichten – eine
zusätzliche Aufgabe, mit der „die Grenztruppen der DDR überfordert“ gewesen
wären. Nur „aus diesem Grunde“ sei der
Befehl erfolgt.
In Potsdam jedenfalls munitionieren die
Mot.-Schützen auf, Soldaten rennen zu den
Waffenkammern. Zehntausend Mann halten den Atem an.
Militärisch wie politisch ist der KrenzBefehl (Begründung: „Verteidigung der
souveränen Grenzen der souveränen
DDR“) unsinnig. Wo sollen die Schützenpanzerwagen auffahren? Alle Straßen
Richtung Berlin sind mit Trabis verstopft.
Mit Unterstützung der Sowjetarmee
kann Krenz ohnehin nicht rechnen. Botschafter Kotschemassow hat am Morgen den russischen Armeegeneral Boris
Wassiljewitsch Snetkow ermahnt, sich auch
100
nach der Maueröffnung jeder Einmischung
zu enthalten.
Der Diplomat zum General: „Gehen Sie
in sich und erstarren Sie!“
West-Berlin
Kohl kann nicht auf direktem Weg von
Warschau nach Berlin kommen. Denn nur
Flugzeuge der westlichen Alliierten dürfen bestimmte Luftkorridore über der
DDR benutzen.
Die Maschine des Kanzlers muss einen
Umweg über die Ostsee nach Hamburg
nehmen. Dort lässt der Bonner US-Botschafter Vernon Walters ein amerikanisches
Militärflugzeug für Kohl und seine Entourage bereitstellen.
In Berlin erwarten zehntausende den
Kanzler und seinen Außenminister vor
dem Schöneberger Rathaus. Auf dem überdachten Portalaufgang steht, neben Kohl
und Genscher, Berlins Ex-Bürgermeister
und Altkanzler Willy Brandt, der
bereits die Einheit heraufziehen sieht:
„Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.“
Kohl wird schon vor seiner Rede gnadenlos ausgepfiffen – von „linkem Pöbel“,
wie er bemerkt.
Als habe Momper persönlich die Störer
bestellt, macht Kohl den Bürgermeister für
Sonnabend, 11. November 1989
Ost-Berlin
Gestern Nacht noch, gleich nach der Rückkehr aus Berlin, hat Helmut Kohl seinen
Freund George Bush angerufen: „Die
Grenzen sind absolut offen“, schwärmt er.
„Ohne die USA wäre dieser Tag nicht möglich gewesen.“ Der Präsident revanchiert
sich, er sei „stolz“ darauf, wie geschickt der
Kanzler „dieses außerordentlich schwierige Problem“ behandelt habe. Kohl verabschiedet sich mit Grüßen an Bush-Gattin
Barbara: „Sag ihr, dass ich ihr zu Weihnachten Würstchen schicke.“
Nun, am Vormittag um 10.13 Uhr, lässt
sich der Kanzler mit Egon Krenz verbinden. Er wolle „sagen, dass ich sehr, sehr begrüße diese sehr wichtige Entscheidung der
Öffnung“, beginnt der Kanzler. Krenz quittiert das Lob für sein Malheur brav: „Das
freut mich sehr.“
Der SED-Generalsekretär ist in Sorge.
Er sieht die Wiedervereinigung herannahen und versucht, Kohl festzulegen: „Steht
nicht auf der Tagesordnung.“ Da ist der
Kanzler, mit Blick aufs Grundgesetz und
seinen Amtseid, natürlich „ganz anderer
Meinung“. Doch Kohl beruhigt Krenz: Die
Wiedervereinigung sei „jetzt nicht das
AP
Verwandten habe es im Übrigen bisher
schon gegeben.
In der Sitzung des ZK, die Krenz um
9.05 Uhr eröffnet, fällt zur Maueröffnung
fast eine Stunde lang kein einziges Wort.
Stattdessen beschäftigen sich die Genossen mit den Weltmarktpreisen von Speicherschaltkreisen.
Neun gespenstische Redebeiträge sind
schon gehalten worden, als Krenz gegen 10
Uhr den Raum verlässt. Jemand hat ihm einen Zettel gereicht: „Genosse Kotschemassow möchte dich dringend sprechen.“
Von einem Nebenraum aus ruft der
SED-Chef den Sowjetbotschafter zurück.
„Genosse Krenz“, richtet ihm der Diplomat mit freudiger Stimme aus, „im Namen
von Michail Gorbatschow, im Namen der
sowjetischen Führung beglückwünsche ich
Sie und alle deutschen Freunde zu Ihrem
mutigen Schritt, dass Sie die Berliner Mauer geöffnet haben.“
Krenz eilt in den Sitzungssaal. Erst jetzt,
nachdem Gorbatschow Zustimmung signalisiert hat, wagt er es, die Mauerpanne
anzusprechen und zu verteidigen:
Kundgebungsredner Brandt, Kohl: „Zu Weihnachten Würstchen für Barbara“
das Pfeifkonzert verantwortlich. Als der
glatzköpfige Sozialdemokrat redet, giftet
der Christdemokrat in die offenen Mikrofone: „Lenin spricht, Lenin spricht.“
Zuletzt sorgt auch noch der CDU-Politiker Jürgen Wohlrabe für falsche Töne.
Der stimmgewaltige Rechte, den SPDZuchtmeister Herbert Wehner einst als
„Übelkrähe“ diffamierte, intoniert das
Deutschlandlied, mit kehliger Stimme und
eine Oktave zu tief.
Dissonant fallen Kohl, Genscher, Brandt
und Momper in den Gesang ein.
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Thema, das uns im Augenblick am meisten beschäftigt“. Der Bundeskanzler
rechnet zu diesem Zeitpunkt mit der deutschen Einheit erst in fünf oder zehn Jahren – und nicht in 325 Tagen. Krenz bedankt sich bei Kohl für das freundliche
Gespräch.
Die „Erhöhte Gefechtsbereitschaft“ für
die Nationale Volksarmee hebt der SEDChef noch am selben Tage wieder auf.
I RI NA
J OCH E N B ÖLSCH E ; C H RIST IAN H ABBE ,
H ANS H ALT E R , N ORBE RT F. P ÖTZL ,
R E PKE , C ORDT S CH N I BBE N , BARBARA S UPP
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100 TAGE IM HERBST: »DIE MAUER MUSS WEG«
PORTRÄT
Unbequem zwischen
allen Stühlen
E
ten die lang gedienten Politbürokraten die
Ablösung des reformunwilligen Alten betrieben, um die DDR zu retten. Aber die
Zukunft konnten sie wegen ihrer Vergangenheit beide nicht gewinnen.
Der 1929 im vorpommerschen Anklam
geborene Schabowski war als Chefredakteur des „Neuen Deutschland“ (1978
bis 1985) ein strammer Agitprop-Mann
Honeckers gewesen und auch danach, als
Ost-Berliner SED-Chef, stets linientreu.
Seine Ehe mit einer Russin und seine guten Verbindungen zur Sowjetunion waren
wohl die einzigen Merkmale, die ihn zum
Gorbatschow der DDR prädestinierten.
Mit Glasnost hatte Schabowski indes
nichts im Sinn. In einem Brief an Honecker
regte er sich beispielsweise darüber auf,
dass immer mehr Bürger den „Drecksender Sat 1“ empfangen wollten und sich deshalb größere Fernsehantennen wünschten.
Alexander Osang, Ex-Reporter der
„Berliner Zeitung“, erinnert sich an Vorfälle aus dem Jahr 1988, die Schabowski
als intriganten Hardliner erscheinen lassen. Einem Geschichtslehrer, der in einem
FDJ-Sommerlager äußerte, er wisse nicht
mehr, was er seinen Schülern über die Stalin-Zeit erzählen solle, pflichtete Schabow-
Anzeigenblatt-Journalist Schabowski (1992)
Zurück ins alte Metier
O. JANDKE / CARO
in einziger falscher Zungenschlag sicherte ihm einen Platz in der Geschichte. „Sofort“, sagte Günter
Schabowski, der Sprecher des neuen SEDZentralkomitees, am 9. November 1989 auf
die Journalistenfrage, wann die neue Reiseverordnung in Kraft trete. „Morgen
früh“, hätte er sagen müssen.
Mit seiner Antwort löste Schabowski die
überraschendste Völkerwanderung der
Neuzeit aus. Er selbst „ahnte in diesem
Augenblick nicht“, schrieb er später, dass
er „im Namen der SED-Führung der DDR
gerade das endgültige Verfallsdatum aufdrückte“.
Still litt Schabowski zunächst unter dem
Vorwurf seiner Genossen im Politbüro, er
habe der DDR den Todesstoß versetzt. Seine Antwort gab er erst, als Egon Krenz Anfang Dezember abdankte: „Wenn ein System daran zu Bruch geht, dass sich die
Menschen frei bewegen können, hat es
nichts Besseres verdient.“
Neben der Maueröffner-Episode verblasst Schabowskis Rolle als Königsmörder. Am Sturz Erich Honeckers hatte der
damalige Erste Sekretär der HauptstadtSED jedoch ebenso Anteil wie der kurzzeitige Parteichef Krenz. Konspirativ hat-
L. KOCH / HNA
SED-Wendepolitiker Günter Schabowski: Vom
linientreuen Agitprop-Funktionär zum PR-Manager
Angeklagter Schabowski (1997): „Beschimpft als Schwein, Ratte und Waschlappen“
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ski vor Publikum bei – und mokierte sich
hinterrücks, wie so jemand in einem Jugendforum zu Wort kommen könne.
Der Generaldirektor des Kombinats
Schienenfahrzeugbau, der gegenüber
Schabowski einen unsinnigen Parteibeschluss kritisierte, wurde kurz darauf
strafversetzt. Die Vorschrift, jeder Betrieb
müsse einen bestimmten Prozentsatz an
Konsumgütern produzieren, hatte dazu geführt, dass selbst Schwermaschinenbetriebe Wäscheständer und Partygrills im Überfluss herstellten.
So hatte sich Schabowski innerhalb und
außerhalb der Partei Feinde geschaffen,
die den bisweilen cholerischen „Schah
Bowski“ nun „ab ins Exil“ wünschten. Die
Kurve kriegte Schabowski allerdings flinker als alle anderen.
Als erstes Mitglied des Politbüros ging er
auf die Straße und diskutierte mit empörten Demonstranten. Als erster aus der Parteispitze empfing er demonstrativ zwei Abgesandte des Neuen Forum, den Biologen
Jens Reich und den Physiker Sebastian
Pflugbeil – und verhalf so der Opposition
zu einer gewissen Anerkennung.
Schabowski war es auch, der sich, neben
dem vom pensionierten Agentenführer
zum SED-Vordenker gewendeten Markus
Wolf, am 4. November bei der KünstlerDemo auf dem Alexanderplatz dem Pfeifkonzert von hunderttausenden aussetzte
und sich als opportunistischer Anpasser
ausbuhen ließ.
Mit erstaunlichem Geschick mutierte der
gelernte Partei-Propagandist zum PR-Manager. Er arrangierte Homestories mit den
neuen Regenten, vermarktete die Abrechnung mit dem alten Regime und inszenierte publikumswirksam – „Krenz zieht
aus Wandlitz aus“ – den Verzicht der Nachfolger auf ihre Privilegien.
Da hatte Schabowski allerdings noch die
Illusion, ein DDR-Reformsozialismus könne überleben. Erst später merkte er, dass
„das System, dessen politischer Klasse und
Führung“ er angehörte, „vor dem Leben,
vor der Wirklichkeit versagt“ hatte.
Zu den „herben Dämpfern“, die ihn
schnell am Neubeginn zweifeln ließen,
zählt Schabowski die erste Fernsehrede
des neu gewählten Generalsekretärs Krenz:
„Das war noch die blecherne Diktion des
SED-Zeitalters, allenfalls geeignet, die konservativen Genossen zu beruhigen.“
Kurze Zeit zeigte Schabowski Ambitionen, seinen Mitverschwörer Krenz als Partei- und/oder Staatschef zu verdrängen.
Doch dann fiel er, als Gregor Gysi die
Führung der SED/PDS übernahm, zugleich
mit seinem Verbündeten aus allen Ämtern.
Anfang Januar 1990 verlor Schabowski
seinen Sitz in der Volkskammer.Wenig später wurde er, zusammen mit Krenz, aus
der Partei ausgeschlossen. Von 1992 an
wirkte der gelernte Journalist wieder in
seinem alten Metier: Er wurde Mitgesellschafter eines Anzeigenblatts im südhessischen Rotenburg und arbeitete als Layouter; heute lebt er als Rentner in Berlin.
Schabowskis 1991 erschienener Autobiografie „Der Absturz“ bescheinigt der
westdeutsche Psychoanalytiker Tilman
Moser „Aufrichtigkeit“. Glaubwürdig sei
Schabowskis „Staunen über die Verbohrtheit des Systems und seiner Träger“.
„Wenn ein System
daran zu Bruch geht, dass
sich die Menschen frei
bewegen können, hat es
nichts Besseres verdient.“
Einstigen Kampfgefährten gilt Schabowski als Verräter, seit er seine moralische
Mitschuld an den Mauertoten bekannt und
sich bei den Angehörigen der Opfer entschuldigt hat. Im August 1997 hat das
Berliner Landgericht den einstigen Berliner
SED-Chef zu drei Jahren Freiheitsstrafe
verurteilt; über seine Revision entscheidet
der Bundesgerichtshof in diesen Tagen.
Der Anklage hatte er von Anfang an
widersprochen: Er sei kein „SchreibtischTotschläger“. Zu Krenz, der von „Siegerjustiz“ sprach, ging Schabowski jedoch auf
Distanz: Er halte nichts von derlei „Zungenrollern“. Der einstige „rote Star“ Krenz
leide am „Roten Star“, an „ideologischer
Blickverengung“.
So hat sich Schabowski unbequem zwischen alle Stühle gesetzt: Er wird, so sein
Anwalt im Plädoyer, „von den Kommunisten als Schwein, vom Solidaritätskomitee
als Ratte, von großen Teilen der Bevölkerung als Wendehals, von der Nebenklage als
Waschlappen beschimpft“.
Norbert F. Pötzl
Im nächsten Heft
„Ich liebe doch alle“ – Die Stasi unterwandert
Modrows Reformkabinett – Der „Swingman“
greift ein – Margaret Thatcher flippt aus
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Deutschland
ZEITGESCHICHTE
„Alles, alles, alles überprüfen“
Die Ausstellung über Verbrechen der Wehrmacht muss wegen zahlreicher Fehler zurückgezogen und
kontrolliert werden. Doch auch manche Kritiker sind oft schlampig in der Argumentation.
DPA
Institutschef Reemtsma*
„Außerordentlicher Glaubwürdigkeitsverlust“
* Auf der Pressekonferenz am vergangenen
Donnerstag in Hamburg vor angezweifelten
Fotos der Wehrmachtsausstellung.
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M. AUGUST
S
o sehen Verlierer aus.
Blass und starr blickte
Jan Philipp Reemtsma am
vergangenen Donnerstag in
den Raum, Hannes Heer malte
in seinen Notizen, Bernd Boll,
versteckt zwischen den Journalisten, schaute betreten auf
den Fußboden.
Die drei Wissenschaftler des
Hamburger Instituts für Sozialforschung hatten die spektakulärste zeitgeschichtliche Ausstellung der neunziger Jahre
durch Deutschland geschickt.
Rund 900 000 Menschen in 33
Städten sahen seit 1995 die
Bilderschau über die Verbrechen der Wehrmacht an der
Ostfront und in Serbien, bis
2003 war die Ausstellung ausgebucht.
Die Bilder von lachenden
Landsern vor Leichenbergen,
zusammen mit langen Textdokumenten aus Wehrmachtsbefehlen oder Feldpostbriefen, Wehrmachtsausstellung (in Kiel): Ausgebucht bis 2003
provozierten heftigen Widerstand, führten aber in der Öffentlichkeit einen „außerordentlichen Glaubwürdigauch zu einer neuen Sicht auf die deut- keitsverlust“.
Ein Kuratorium von Wissenschaftlern
schen Streitkräfte in Hitlers Diensten.
Nun haben die Initiatoren ihre Ausstel- soll bald Bildlegenden und Textwände
lung selbst aus dem Verkehr gezogen. Die komplett überprüfen; nominiert wurden
Eröffnung in Braunschweig in dieser Wo- die Historiker Omer Bartov, Cornelia
che ist abgesagt, auch die Tournee durch Brink, Friedrich Kahlenberg, Manfred
die Vereinigten Staaten von Amerika ab Messerschmidt, Reinhard Rürup und
Dezember. „Gravierende Fehler“ räumte Hans-Ulrich Thamer. Hochmütig hatten
Reemtsma ein, Heer gab „Leichtfertigkeit“ die Ausstellungsmacher bis vor kurzem
und handwerkliche Unzulänglichkeiten fast alle Kritik an der Korrektheit etlicher
zu; die Ausstellungsmacher beklagten Teile ihres Werks zurückgewiesen. Schnell
waren sie mit dem Verdacht, wer
an falschen Bildzuschreibungen
oder unvollständigen Zitaten
Anstoß nehme, sei ein Rechtsradikaler.
Ungnädig reagierten die Hamburger zunächst auch auf Recherchen des deutsch-polnischen Historikers Bogdan Musial und des
SPIEGEL. Diese hatten Anfang
des Jahres ergeben, dass Heer und
Boll Fotos mit Opfern der sowjetischen Geheimpolizei NKWD
fälschlicherweise der Wehrmacht zuordneten (SPIEGEL 4/1999).
Heer hatte die Zuordnung der Bilder
übernommen, wie er sie in Moskauer Archiven vorfand, und dabei nicht bedacht,
dass Stalins NKWD die Fotos für Propagandazwecke gesammelt hatte, meist aus
den Brieftaschen toter deutscher Soldaten.
Auch sonst sind ihm Fehler unterlaufen. Als der ungarische Militärhistoriker
Krisztián Ungváry sich einige Bilder der
Ausstellung genauer ansah, stellte er fest,
dass sie statt deutscher Landser finnische
und ungarische Soldaten zeigten. Reemtsmas Mitarbeiter hatten sich nicht einmal
die Mühe gemacht, die Uniformen der
Männer auf den Fotos zu identifizieren.
Für Ungváry und Musial sind solche Versäumnisse nur „die Spitze eines Eisbergs“.
Ungváry war eigentlich angetreten, die
Vergehen der ungarischen Armee aufzuarbeiten. Inzwischen behauptet er, dass
zehn Prozent der Fotos in der Wehrmachtsausstellung keine Verbrechen der
Wehrmacht im juristischen Sinne „beweisen“ könnten.
Bis zur vergangenen Woche glaubten
Reemtsma und Heer, sich mit Korrekturen
an der laufenden Ausstellung begnügen
107
FOTOS: J. MÜLLER ( li.); A. KIRCHHOF / ACTION PRESS ( re.)
Deutschland
Kritiker Musial, Ausstellungsveranstalter Vogel, Reemtsma, Heer*: Eher amateurhaft in das Projekt hineingestolpert
M. AUGUST
Musial hatte allerdings in der Tat Konzu können. Institutsdirektor Reemtsma Instituts schickten eine Rechnung über
wollte die Schau unbedingt in den USA 1007,81 Mark und die Aufforderung, inner- takte in die rechte Szene. Der ehemalige
zeigen; das war nur möglich, wenn sie halb von 24 Stunden eine Unterlassungs- Solidarnośƒ-Aktivist, 1985 in die Bundesrepublik gekommen, zeigt bei seinen Rein Deutschland nicht zurückgezogen wür- erklärung zu unterschreiben.
Reemtsma macht heute den Ex-Kom- cherchen wenig ideologische Scheu: „Ich
de. Zunächst hofften deshalb Mitarbeiter
des Hamburger Instituts auf eine Absage munisten Heer für den rabiaten Umgang rede mit jedem. Es kommt darauf an, dass
des Ausstellungstermins in Braunschweig; mit kritischen Historikern verantwortlich; die Argumente stichhaltig sind.“ An der
das hätte Zeit zur unauffälligen Über- weil es so viele Anwürfe gegen die Aus- umfangreichen Beteiligung der Wehrmacht
prüfung gegeben, ohne die US-Reise zu steller gab und man das hausinterne Ver- an Kriegsverbrechen lässt er allerdings keifahren vereinfachen wollte, konnte Heer nen Zweifel.
gefährden.
Auch Ungváry gibt schon einmal ein InAber Reemtsma und Heer sind nicht unmittelbar mit den Anwälten des Instimehr allein die Herren der Ausstellung; sie tuts agieren. Hinter den Kulissen versuch- terview im rechtsradikalen Blatt „Junge
Freiheit“, seine Promotion veröfwird inzwischen von einem Förfentlicht er in einem rechtslastiderverein betreut, in dessen Kuragen Verlag. Für die beiden gebotorium der ehemalige SPD-Vorsitrenen Osteuropäer, die den real
zende Hans-Jochen Vogel den
existierenden Sozialismus selber
Kurs bestimmt. Auf der erweiternoch erlitten haben, steht der
ten Vorstandssitzung am verganFeind im Zweifelsfall links.
genen Mittwoch machte er klar:
Sonntag vorvergangener Wo„Der Schaden durch punktuelle
che entschuldigte sich Reemtsma
Korrekturen ist größer als durch
bei Musial für die Klage; drei Tage
ein Zurückstellen.“ Reemtsma
danach bot er ihm die Mitarbeit
lenkte sofort ein. Man müsse „alan der Korrektur der Ausstellung
les, alles, alles überprüfen“.
an. Der Deutsch-Pole ist dazu
Den schmählichen Rückzug
grundsätzlich bereit, obwohl er
hatten sich die Ausstellungsmaden Verdacht hegt, dass die vielen
cher so wenig träumen lassen wie
Fehler kein Zufall sind; sein Argden unglaublichen Erfolg beim Puwohn richtet sich gegen Heer.
blikum. Eher amateurhaft war das
Dieser verfügt unter HistoriHamburger Institut in das Projekt
kern über keinen guten Ruf.
hineingestolpert. Reemtsma hatte
Schon Anfang der siebziger Jahre
ursprünglich das Thema Wehrfiel er auf eine Fälschung herein,
macht übersehen, als er Jahre zudie deutschen Gewerkschaftsfühvor mit Mitarbeitern eine Ausstelrern unterstellte, vor Hitlers
lung über den Zweiten Weltkrieg Beanstandetes Ausstellungsfoto*: Aus Moskauer Archiven
Machtantritt mit den Nazis geplante. Dann fand man für die
Schau keinen Ausstellungsraum und ver- te die Reemtsma-Truppe, Musial eine kungelt zu haben. Später veröffentlichte
zichtete nur deshalb darauf, sie in der klei- Nähe zur Anti-Ausstellungs-Kampagne der er Geständnisse, die der NKWD deutschen
nen, eigenen Institutsbibliothek zu zeigen, Rechtsradikalen anzuhängen, was sie heu- Kriegsgefangenen abgepresst hatte; Heer
hält sie für glaubwürdige Quellen zu den
weil sich die Bibliothekarin sträubte, die te bestreitet.
Um die Ausstellung legte sich ein anti- Verbrechen der Wehrmacht.
Bücherei zu räumen. Heer stieß 1993 zu
Schon in einem Konzeptpapier zur
der Reemtsma-Truppe. Die Leitung der faschistischer Schutzwall. „Jeder Kritiker
Ausstellung übernahm er, weil er als Ein- riskierte, an den rechtsradikalen Rand ge- Vorbereitung der Ausstellung hatten die
ziger der beteiligten Wissenschaftler in drückt zu werden“, erinnerte sich Rolf- Macher in eine Richtung gedacht, die den
Dieter Müller, einer der wenigen Histori- späteren Vorwurf, sie hätten die WehrHamburg wohnt.
macht pauschal verurteilen wollen, nicht
Als Musial seine Vorwürfe erstmals im ker, die sich trotzdem trauten.
ganz so unsinnig macht: „Zur Debatte steSPIEGEL publizierte, verwickelte Heer
den damaligen Doktoranden in einen * Oben: auf der Pressekonferenz in Hamburg am ver- he“ die Beteiligung des „kleinen Soldaten
Rechtsstreit über die Frage, ob er auf Mu- gangenen Donnerstag; unten: NKWD-Opfer in Boryslaw an den NS-Verbrechen, seine Rolle als
arbeitsteiliger Täter, als Handlanger, Mitsials Kritik reagiert habe. Anwälte des 1941.
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GARF / STAATSARCHIV DER RUSSISCHEN FÖDERATION MOSKAU
Eine Propagandakompanie des Heeres
helfer, Zeuge, Gaffer und auch als Be- vor, Verbrechen mitzurechnen, die nicht
richterstatter“.
der Wehrmacht anzulasten sind. Er glaubt druckte die Plakate, mit denen Juden aufIn der Ausstellung haben der Historiker inzwischen sogar, dass die Ausstellung die gefordert wurden, sich in Sammelstellen
einzufinden. Die Lastwagen, mit denen
Heer und seine Mitstreiter Fehler dut- Überprüfung nicht überstehen werde.
zendweise zu verantworten. Bilder über
Doch viele seiner Vorwürfe sind unbe- die Opfer in die Schlucht gekarrt wurden,
dasselbe Ereignis sind mit unterschiedli- rechtigt. Er moniert Bildlegenden, die stellte die Wehrmacht. Dennoch zählt Babi
chen Legenden zu sehen, ein Zitat ist sinn- längst korrigiert sind oder die es nie gege- Jar für Ungváry nicht zu den Verbrechen
entstellend geändert worden, Funktions- ben hat; ein Bild hält er auf Grund einer der Wehrmacht, weil kein Landser gebezeichnungen sind falsch, Bilderreihen Vergleichsaufnahme für gefälscht, obwohl schossen hat.
Ungváry möchte auch die Debatte
wurden auseinander gerissen und so zu- gute Indizien dafür sprechen, dass die Versammengesetzt, dass sich daraus ein neu- gleichsaufnahme eine Fälschung ist. Ung- wieder eröffnen, ob nicht Morde der
er Sinn lesen lässt.
váry will die Verbrechen von russischen Wehrmacht an Zivilisten Teil eines klassiHeer redet sich damit heraus, dass his- oder ukrainischen Hilfswilligen (Hiwis) aus schen Partisanenkriegs gewesen seien. Mit
torische Fotoausstellungen oft fehlerhaft der Ausstellung verbannen, obwohl, wie der Begründung, es handle sich um Partiseien, weil sich nur selten die Bilder ein- der Historiker Christian Streit moniert, sanen, haben Wehrmachtseinheiten an der
Ostfront Juden und Zigeudeutig zuordnen ließen. Aber die
ner zu tausenden getötet.
Wehrmachtsausstellung war eine
Doch ob die Erschießung
besondere Ausstellung geworvon Partisanen vom Kriegsden. Ursprünglich sollte sie zeirecht gedeckt wird, ist umgen, dass der Krieg im Osten ein
stritten. Und in der SS galt
Vernichtungskrieg war, ohne
die Devise: „Wo der PartiVorbild in der Geschichte. Die
san ist, ist auch der Jude,
Besucher sahen in ihr stattdessen
und wo der Jude ist, ist auch
eine Dokumentation über die
der Partisan.“ In den ersten
Verbrechen der Wehrmacht; die
Monaten nach dem deutüberwältigend vielen Gräuelschen Überfall auf die Sofotos wurden zu Zeugen der Anwjetunion diente der Partiklage. Und da zählt jedes Detail.
sanenkrieg als Camouflage
Dafür ist Heer der falsche
für den Holocaust. Erst späMann. Als Studentenaktivist des
ter wurden die Freischärler
SDS hatte er in den sechziger
zur militärischen BedroJahren die Aufdeckung der NShung für die Wehrmacht –
Vergangenheit von Größen der
eine Unterscheidung, die
Bundesrepublik ins Visier ge- Ausstellungsfoto mit finnischen Soldaten: Handwerkliche Fehler
Ungváry nicht vornimmt.
nommen. Ziselieren lernt sich
Trotz aller Vorwürfe und der Zerknirbei einer solchen Aufgabe nicht. Im Aus- „kein Wehrmachtsoffizier ein eigenmächstellungsband finden sich denn auch Sätze tiges Handeln von Hiwis geduldet hätte“. schung über die Fehler hofft Reemtsma, in
wie: Die „Mannschaftsgrade der WehrSS und Wehrmacht dividiert Ungváry drei Monaten wieder mit der erneuerten
macht unterschieden sich zu diesem Zeit- streng auseinander. Aber oft hat die Abbil- Ausstellung reüssieren zu können. Die
punkt (zweite Hälfte 1942 –Red.) nicht dung von SS-Männern in der Wehrmachts- Chancen sind eher gering. Viele Sachvermehr von der Mentalität der Himmler- ausstellung ihre Berechtigung, beide arbei- halte lassen sich gar nicht in so kurzer Zeit
Truppe“; nur mit Mühe konnte Chef teten vielfach Hand in Hand. In der klären, die sechs beteiligten Experten
Reemtsma behaupten, aus solchen Formu- Schlucht von Babi Jar bei Kiew wurden am könnten sich noch über manche Details
lierungen resultiere kein Generalverdacht 29. und 30. September 1941 von Polizei und zerraufen.
Der münstersche Historiker Hans-Ulgegen alle acht Millionen Wehrmachtssol- SS 33 771 Juden ermordet; es war ein Wehrdaten, die an der Ostfront kämpften.
machtsgeneral, der das Sonderkommando rich Thamer, ein ausgewiesener Kritiker
Wie viele von ihnen an Wehrmachts- 4a um „radikales Vorgehen“ gegen die Ju- in dem Gremium, ist skeptisch: „Ich weiß
verbrechen beteiligt waren, ist immer noch den gebeten hatte. Durch Sprengkörper, nicht, ob es gelingen wird“, meint er, „in
unbekannt. Kritiker Ungváry rechnet die von Partisanen gelegt, waren hunderte drei Monaten ist das nicht zu machen.“
Zahl eher klein und wirft der Ausstellung deutscher Soldaten zuvor getötet worden.
Klaus Wiegrefe
REUTERS
ne zwei Jahre ältere Schwester, und anschließend sich selbst.
Fassungslos und schockiert blickt die Republik seitdem nach Bad Reichenhall, einen bis dahin beschaulichen Kurort mit
rund 17 000 Einwohnern nahe Watzmann
und Königssee. Dass in Deutschland ein
Jugendlicher Amok laufen könnte, war für
die meisten Bundesbürger bislang außerhalb jeder Vorstellung. So etwas gab es nur
in den USA, wo sich fast jedes Kind eine
Schusswaffe besorgen kann.
Nun wird im Lande eifrig gestritten und
diskutiert. Wie konnte es so weit kommen,
dass ein Jugendlicher derart ausrastet? Wie
konnte er an die Waffen gelangen? Wie lassen sich solche Taten künftig verhindern?
Die ersten Antworten der Experten und
Politiker zeigen vor allem eines: Fast alle
sind rat- und hilflos.
Kein Wunder – ist doch auch die Tat beispiellos. „Noch nie“ sei ihm „ein Jugendlicher begegnet, der zu so einem Gewaltexzess fähig gewesen wäre“, so Franz Joseph Freisleder, Ärztlicher Direktor der
Heckscher-Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in München.
Nicht nur Fachleute erinnert das grausame Verbrechen an den Amoklauf zweier Teenager am 20. April dieses Jahres in
Littleton im US-Bundesstaat Colorado. Dabei hatten der 17-jährige Dylan Klebold
und sein ein Jahr älterer Freund Eric Harris einen Lehrer und zwölf Mitschüler getötet. Anschließend erschossen sie sich selbst.
Die Beschreibungen, die überlebende
Mitschüler damals von den beiden Amokläufern gaben, passen zu dem, was ehemalige Schulkameraden Peyerls heute berichten. Auch Martin sei ein eher schüchterner
Eigenbrötler gewesen, habe daheim Video-
Zerschossenes Klinikfenster, Peyerl-Wohnhaus: „Ausbruch eines Vulkans“
K R I M I N A L I TÄT
„Der Martin war immer nett“
D
ie Vorstellung im Theater des Kurgastzentrums Bad Reichenhall verlief ganz nach Plan. Kurz vor Beginn der Aufführung musste sich der
Hauptdarsteller zwar noch von einem Arzt
aus dem Publikum eine Spritze geben lassen, weil ihn ein Knie stark schmerzte.
Doch dann war Günter Lamprecht, 69,
nichts mehr anzumerken. Auf der Bühne
spielte er vorvergangenen Sonntagabend
den „Tatort“-Kommissar Franz Markowitz,
stets auf der Jagd nach skrupellosen Tätern, routiniert wie immer.
Im wirklichen Leben wurde Markowitz
alias Lamprecht keine 20 Stunden später
110
selbst Opfer eines brutalen Verbrechens.
Getroffen von zwei Kugeln aus einem Revolver Colt Phython, Kaliber .357 Magnum, lag der Schauspieler vorigen Montag
über eine halbe Stunde lang im eigenen
Blut direkt vor dem Städtischen Krankenhaus Bad Reichenhall. Neben ihm seine
Lebensgefährtin Claudia Amm, 57, und
Fahrer Dieter Duhme, 55, beide ebenfalls
schwer verletzt. Lamprecht wollte sich in
der Klinik sein Knie untersuchen lassen.
Auf die drei geschossen hatte ein 16-Jähriger, der Lehrling Martin Peyerl.
Mit weiteren mindestens 16 Schüssen
tötete Peyerl vier Menschen, darunter seid e r
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S. KIENER / BILD ZEITUNG
Der Amoklauf eines 16-Jährigen in Bad Reichenhall
schockt die Republik. Experten rätseln über die Ursachen: War
der Täter ein Neonazi – oder einfach nur lebensmüde?
Amokläufer Peyerl
Die eigene Schwester hingerichtet
Deutschland
malt. Daneben wurden in der ganzen Wohnung Musik-CDs mit rechtsradikalen Liedern sowie Gewaltvideos gefunden.
Sofort nach dem Amoklauf verlangten
Politiker aller Couleur erst mal „Konsequenzen“. Nordrhein-Westfalens Innenminister Fritz Behrens (SPD) plädierte für
ein strengeres Waffengesetz. Der Chef der
Gewerkschaft der Polizei, Norbert Spinrath, widersprach ihm. Nicht das Gesetz
müsse verschärft werden, sondern die Polizei müsse sich mehr darum kümmern,
illegale Waffen aufzuspüren.
Bayerns Innenminister Günther Beckstein (CSU) will sein Augenmerk darauf
richten, dass legal erworbene Waffen sicherer verschlossen werden. Er möchte das Waffengesetz so ändern, dass diejenigen Behörden, die die Erlaubnis zum Besitz der Waffen erteilen, in Zukunft gleichzeitig „Mindestanforderungen für die sichere Verwahrung festlegen“ müssen. Bislang gibt es dafür nur Empfehlungen. Das Bundesinnenministerium Otto Schilys
(SPD) hält dies allerdings
für „einen der üblichen Hauruck-Vorstöße Bayerns“.
Auch Kriminologen, Psychologen und Psychiater taten sich zunächst schwer,
die Ereignisse von Bad Reichenhall zu erklären und
einzuordnen. Zum Teil widersprachen sich ihre Deutungen. In einem Punkt zumindest scheinen sich die
Experten aber einig: Der
Amoklauf des 16-Jährigen
war, wie der Psychiater Lothar Adler formuliert, „keine
spontane oder Affekttat“.
Sie sei, urteilt der ÄrztliOpfer Daniela Peyerl, Lamprecht, Amm: „So ein Gewaltexzess“
che Direktor des thüringiWartungstrupp. 1981 meldete Peyerl der schen Landesfachkrankenhauses für PsyPolizei, eine Waffe gefunden zu haben. Um chiatrie und Neurologie in Mühlhausen,
diese behalten zu können, beantragte er „sicher lange vorbereitet“ gewesen und lebeim zuständigen Landratsamt eine Be- diglich von einem „finalen, vermutlich
sitzkarte. Sie wurde genehmigt. In den fol- kränkenden Ereignis ausgelöst“ worden.
genden Jahren schloss sich Peyerl, dem die „Für uns Außenstehende sieht das alles so
Polizei „Alkoholprobleme“ bescheinigt, wahnsinnig überraschend und plötzlich
aus“, so Adler, der 1993 an der Universität
insgesamt fünf Schützenvereinen an.
Nach seiner Bundeswehrzeit wechselte Göttingen eine der wenigen wissenschaftPeyerl mehrfach den Job. Mal arbeitete er lichen Untersuchungen über Amokläufer
als Zugbegleiter bei der Bundesbahn, mal veröffentlichte. „In Wirklichkeit halten wir
auf der Mülldeponie Bad Reichenhall, mal eine solche Tat vor allem deshalb für plötzals Hausmeister bei der Kurverwaltung. Bis lich, weil sie uns zunächst so sinnlos erzum Freitag vor der grausigen Tat seines scheint.“
Der Polizeipsychologe Adolf Gallwitz,
Sohnes hatte Peyerl eine befristete Beschäftigung im Feuerwehrerholungsheim vergangene Woche selbst in Bad ReichenSt. Florian in Bayerisch Gmain. Zum 31. hall, glaubt, die Kripo könnte sich die
Oktober hatte man ihm gekündigt. Am Suche nach Martins Motiv sparen: „Das
Dienstag voriger Woche sollte er einen werden wir nie erfahren.“ Alles, was sich
sagen lasse, sei, „dass Martin nicht mehr leneuen Job als Hausmeister antreten.
Die Kripo interessiert, wie die Eltern ben wollte, aber nicht zu einem ,normalen‘
dazu stehen, dass die Zimmer ihrer Kinder Selbstmord fähig war“. Deshalb, so Gallvoll von NS-Devotionalien waren. Unter witz, „musste er am Ende zum ersten Mal
anderem hing in Danielas Zimmer ein Hit- in seinem Leben etwas Grandioses veranlerbild, Martin hatte am Kopfende seines stalten und mit einem riesigen Feuerwerk
Bettes ein Hakenkreuz an die Wand ge- untergehen“.
Wolfgang Krach
mögliche Sympathie für rechtsradikales
Gedankengut spielten „keine Rolle“.
Helfen bei der Suche nach dem Auslöser
für den Amoklauf könnten vor allem Martins Eltern, die vorigen Freitag erstmals als
Zeugen befragt wurden. Ihre Vernehmung
könnte diese Woche fortgesetzt werden.
Vor allem dem Vater, einem ehemaligen
Bundeswehrsoldaten, dürfte die Polizei
kritische Fragen stellen. In der Wohnung
fanden die Beamten nach eigenen Angaben
insgesamt 19 Waffen. Drei Waffenbesitzkarten berechtigten ihn jedoch, so das
Landratsamt Berchtesgadener Land, lediglich dazu, 17 Waffen – 5 Revolver und Pistolen sowie 12 Gewehre – zu führen.
Außerdem, heißt es bei der Polizei, seien
„nicht alle Waffen im Schrank gewesen“.
Rudolf Peyerl, gelernter Kfz-Mechaniker, hatte sich Mitte der siebziger Jahre für
zwölf Jahre bei der Bundeswehr verpflichtet. In der Artilleriekaserne Bad Reichenhall arbeitete er als Unteroffizier in einem
FOTOS: BILD ZEITUNG (li.); AP (re.)
spiele gespielt, die für Jugendliche verboten
seien, erzählt der 15-jährige Michael
Schandl. „Der Martin war immer nett, ist
nie aufgefallen, hat aber den Kontakt zu
uns abgewiesen“, so seine ehemalige Klassenkameradin Stefanie Hocheder. „Ein bisschen rechtsradikal“ sei er zudem gewesen, will die 16-Jährige bemerkt haben. So
habe er beispielsweise Hakenkreuze in seine Mappen und Ordner gemalt.
Auch die Traunsteiner Kripo beschreibt
Peyerl, der im September eine Ausbildung
als Betriebsmechaniker begonnen hatte,
als „Einzelgänger“, der „sehr zurückgezogen lebte“.
Ihren Ermittlungen zufolge brach der 16Jährige, als er Montagvormittag allein zu
Hause war, offenbar ohne größere Probleme den Waffenschrank seines Vaters, eines
leidenschaftlichen Sportschützen, im
Wohnzimmer der Erdgeschosswohnung in
der Riedelstraße 12 auf. Martins Eltern,
Theresia und Rudolf Peyerl, waren zum
Friedhof ins benachbarte Piding gefahren,
um – Tradition an Allerheiligen – das Grab
der Großmutter zu besuchen. Martin wollte nicht mitkommen. Schwester Daniela,
gelernte Kinderpflegerin, arbeitete im
Krankenhaus, dessen Eingang keine 50 Meter von der Wohnungstür der Peyerls entfernt liegt, direkt gegenüber auf der anderen Seite der Riedelstraße.
Gegen 12 Uhr mittags kam die Schwester
nach Hause. Was sich dann in der Wohnung abspielte, konnte die Kripo bis Ende
vergangener Woche nicht klären – sie wird
es vermutlich nie mehr können.
Fest steht, dass Martin anfing, aus zwei
Fenstern wild zu schießen. Sechs Kugeln
aus einem Selbstlade-Gewehr Ruger M-14,
Kaliber .223, trafen die Nachbarin Ruth
Zillenbiller, 59, vier ihren Ehemann Horst,
60. Beide waren vermutlich sofort tot. Mit
einem zweiten Gewehr, Kaliber .44-40, traf
der Junge einen Patienten des Krankenhauses direkt in den Kopf. Der 54-Jährige
war nur kurz vor die Kliniktür gegangen,
um eine Zigarette zu rauchen. Er erlag
Dienstagabend seinen Verletzungen.
Als Beamte eines Spezialeinsatzkommandos die Wohnung am Montag gegen
18 Uhr stürmten, fanden sie den 16-Jährigen in der Badewanne. Er hatte sich, so die
Ermittler, mit einer Schrotflinte erschossen. Zuvor hatte er seine Schwester mit
fünf Schüssen – je zwei in Kopf und Brust
sowie einen in den Arm – regelrecht hingerichtet. Auch seine Katze hatte Martin
umgebracht.
Was den jungen Mann zu dem grausigen
Verbrechen bewegte, liegt für die Behörden
ebenfalls noch im Dunkeln. „Irgendetwas
hat den Vulkan zum Ausbruch gebracht,
und das suchen wir“, so Polizeisprecher
Fritz Braun. Für den Traunsteiner Oberstaatsanwalt Wolfgang Giese, der die Ermittlungen leitet, ist lediglich „klar, dass
das Motiv in der Persönlichkeit des Täters
liegt“. Alkohol, Drogen oder auch eine
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Werbeseite
Werbeseite
Wirtschaft
Trends
INTERNET
Lifestyle online
D
er elektronische Handel im Internet (E-Commerce), der
bislang vor allem auf Bücher, CDs und Elektronikartikel beschränkt war, kommt jetzt auch in der Modebranche in
Schwung. Am Mittwoch vergangener Woche ist Boo.com, eine
Online-Firma, die Trendklamotten über das Netz vertreibt, in
sieben Ländern gleichzeitig gestartet. Die schwedischen BooGründer, Kajsa Leander und Ernst Malmsten, beide 28, haben
von Investoren wie Alessandro Benetton, dem französischen
LVMH-Chef Bernard Arnault und der US-Bank Goldman Sachs
weit über 100 Millionen Dollar bekommen, so wird geschätzt.
Nie zuvor hat ein Internet-Start-up in Europa so viel Geld in die
Hand genommen. Auch etablierte Textilhändler bauen ihr Online-Geschäft aus: Mit Apple-Chef Steve Jobs holte sich zum Beispiel die US-Kette Gap, seit 1997 mit einem Laden im Internet,
einen Softwarespezialisten in den Aufsichtsrat. Hennes &
Mauritz, eine der erfolgreichsten Modefirmen Europas, will den
Internet-Verkauf vom Heimatland Schweden aus jetzt auch in
ganz Skandinavien anbieten, weitere Länder sollen folgen. Nur
der Jeanshersteller Levi’s macht einen Rückzieher: Nach Weihnachten wird sein Online-Verkauf eingestellt. Die Kosten waren
zu hoch, und der stationäre Handel ärgerte sich über die Konkurrenz aus dem Netz.
Gap-Internetseite
H Y P O - A F FÄ R E
Peinliche Pleite
Der Nächste bitte
ach dem Konkurs der mit 200 Millionen Mark subventionierten Aluminiumhütte Aluhett bei Halle gibt es
in Sachsen-Anhalt Streit um die Verantwortlichkeit. Regierungschef Reinhard
Höppner hatte 1996 die Rettung des
Werkes zur Chefsache erklärt, dabei
aber Warnungen von Strafverfolgern offenbar nicht ernst genommen. Inzwischen ermittelt die Staatsanwaltschaft
Halle gegen acht Manager des Unternehmens und den Berliner Pleite-Unternehmer Valentin Fischer wegen Steuerhinterziehung und Subventionsbetrug.
Noch im Februar dieses Jahres warnte
der Landesrechnungshof vor Fischer,
der offenkundig nur versuche, „sich
persönlich zu sanieren“. Das Schreiben
zitiert ausführlich Rügen des Europäischen Rechnungshofes über „offenkundige Fehler“ bei der Zuschussvergabe
und Subventionen „ohne Vorlage von
Rechnungen“ sowie „unklare Gesellschafts- und Betreiberverhältnisse“. Die
Staatsanwaltschaft Halle sah dagegen
bei Vorermittlungen „keinen konkreten
strafrechtlichen Anfangsverdacht“. Regierungschef Höppner weist deshalb die
Vorwürfe zurück: Man könne „als Regierung ein privates Unternehmen nicht
total überwachen“.
maligen Hypo-Vorstände in Erwägung
ziehen, sollten diese nicht freiwillig
zurücktreten, berichten Insider. Auch
die Allianz, die 18 Prozent an der Fusionsbank hält, wollte sich daraufhin
nicht die Blöße geben, vier Vorstände
zu behalten, die womöglich kurz darauf
von der Bankenaufsicht ihres Amts enthoben werden. Hausser ist nun der einzige noch als Bankvorstand tätige ehemalige Vorstand der Hypobank.
D
as Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen überprüft derzeit, ob es
Joachim Hausser, den Vorstandschef der
Hypothekenkreditbank (HKB), von seinem Amt abberufen muss. Hausser war
Vorstandsmitglied der ehemaligen Hypobank, schied aber nach der Übernahme des Instituts durch die Vereinsbank
aus dem Gremium aus. Seither führt er
die in Hallbergmoos bei München ansässige und von der HypoVereinsbank
völlig unabhängige HKB, an der er auch
persönlich beteiligt ist. Zusammen mit
allen anderen Ex-Vorständen der Hypobank verantwortet er jedoch die vor
zwei Wochen von Sondergutachtern für
nichtig erklärte 1997er Bilanz der Hypo
(SPIEGEL 43/1999). Darin sind 3,6 Milliarden fauler Immobilienkredite nicht
ausgewiesen. Nach der Veröffentlichung
des Gutachtens sind die vier aus der
Hypobank kommenden Vorstände der
HypoVereinsbank zurückgetreten – und
zwar auf maßgeblichen Druck des Bundesaufsichtsamtes. Die Bankaufseher
hatten dem Vorstand und dem Aufsichtsrat des Kreditinstituts sowie den
Betroffenen deutlich zu verstehen gegeben, dass sie eine Abberufung der eheEhemalige Hypo-Zentrale
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REUTERS
N
S AC H S E N - A N H A LT
Trends
MILLENNIUM
Werbung mit
Computercrash
JUMP
B
Frauen beim Aerobic-Kurs
GESUNDHEIT
Fit for Profit
A
usländische Anbieter drängen in den deutschen Fitness-Markt. Neben der südafrikanischen Healthland-Gruppe, die bis Ende nächsten Jahres bundesweit 30 neue
Studios eröffnen will, plant jetzt auch der britische Gastronomie- und Freizeitkonzern
Whitbread eine eigene Studiokette in Deutschland. Die Firma, die unter anderem die
Hotelkette Marriott sowie die Steakhäuser der Marken Maredo und Churrasco betreibt, war 1995 mit der Übernahme der Studios des früheren Tennisstars David Lloyd
ins boomende Fitness-Business eingestiegen. Deutschland, wo derzeit 4,3 Millionen
Menschen in mehr als 6000 Fitness-Clubs trainieren, gilt den Briten als Wachstumsmarkt:
In den USA und Großbritannien sind prozentual schon doppelt so viele Menschen Mitglied in einem Fitness-Club.
DEUTSCHE BAHN
Teure Trasse
D
J. RÖTTGERS / GRAFFITI
ie neue Hochgeschwindigkeitsstrecke
für den ICE zwischen Köln und
Frankfurt wird später fertig und wesentlich teurer als zuletzt geplant. Der im Jahr
1995 ausgehandelte Festpreis von 7,75 Mil-
liarden Mark ist nach internen Berechnungen der Deutschen Bahn AG nicht mehr
zu halten. Erhebliche Mehrkosten verteuern das Prestigeprojekt des Unternehmens
um 1,75 auf 9,5 Milliarden Mark. Eine
schleppende Planfeststellung, erhebliche
Umplanungen, aber auch Nachforderungen der beteiligten Baukonsortien treiben
die Kosten zum Beispiel für Brücken und
Tunnels um 900, für die Fahrbahn um 270 und die
Streckenausrüstung um 210
Millionen Mark in die Höhe.
Nach dem Vertrag von 1995
mit dem Bundesverkehrsministerium sind „Kostenerhöhungen und nicht zuwendungsfähige Maßnahmen“ im
wesentlichen von der Deutschen Bahn zu tragen. Nach
dem internen Bericht muss
nun die ohnedies gebeutelte
Bahn deshalb rund 1,4 Milliarden Mark mehr ausgeben
als geplant.
ICE-Neigezug
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ürger, Behörden, Banken: Zur
Jahrtausendwende und dem
befürchteten Computercrash geben sich alle betont gelassen. Nur
die Werbewirtschaft ist in heller
Aufregung. Bei Maggi etwa soll ein
Jahrtausendwenderucksack mit
Fertigsuppe und „Nudelspaß“ über
die Sylvesternacht helfen – „mit
oder ohne Stromausfall“. Ein
„Jahrtausend Investment“ verspricht die Commerzbank mit
ihren neuen Branchenfonds – die
Kreditinstitute wollen ihren Kunden die Angst nehmen, durch einen Computercrash könne ihr
Geld verloren gehen. Immerhin jedes siebte Unternehmen will nach
Erhebungen der Nürnberger GfK
gesondert zum Millennium werben, obwohl die große Mehrheit
der Deutschen die Computerumstellung gar nicht fürchtet. Ganz
vorn dabei sind Sekt- und Champagner-Marken. Während Deinhard
die Deutschland-Tournee von Udo
Jürgens („Udo 2000“) sponsert,
werben andere exklusiv im Porsche-Magazin. Moët & Chandon
hat rund 300 Millenniumsflaschen
(Preis: 80 000 Mark) abgefüllt, will
sie aber überwiegend an Prominente verschenken. Versorgungsengpässe erwartet Kraft Jacobs
Suchard zwar nicht. Seinen Umsatz möchte der Lebensmittelhersteller (Miracoli, Jacobs Krönung)
durch die vermeintliche Sylvesterangst
trotzdem nach
Kräften ankurbeln. In eigens produzierten
Fernsehspots fordert der
TV-Komiker Wi- Maggi-Rucksack
gald Boning die
Zuschauer zum sofortigen Horten
von Lebensmitteln auf. In Humor
versucht sich auch die Pressestelle
der Firma: Nach „Flugzeugabstürzen über dem Pazifik“, so eine
Glosse in der Pressemappe von
Kraft Jacobs Suchard, gingen „in
Neuseeland die Lichter aus und
wenig später die ersten japanischen und australischen Kernreaktoren hoch“.
Geld
zelne Werte wie Dialog Semiconductor, Centrotec, Teles oder Pixelpark stiegen innerhalb einer
Woche um mehr als 25 Prozent. Doch die erfolgreichste Börse für kleine, zukunftsorientierte Unternehmen residiert in Japan. Internet- und Software-Werte ließen den Jasdaq-Index in diesem
Jahr um über 200 Prozent steigen. Firmen wie
Softbank, Yahoo Japan oder Masternet inspirieren nun auch die Phantasie internationaler Anleger. „Japan hinkt der Erschließung und Anwendung des Internet um mehrere Jahre hinterher.
Die Aufholjagd hat gerade erst begonnen“,
glaubt Tarek Fadlallah, Analyst von ABN-Amro.
NEUE MÄRKTE
80
Internet-Phantasie in Japan
70
V
or sechs Wochen warnte Microsoft-Präsident Steve Ballmer, dass die Aktienkurse
der Technologieunternehmen „absurde Höhen“
erreicht hätten. Doch nach einem kurzen Zwischentief stieg der Aktienindex der amerikanischen Technologiebörse Nasdaq in der vergangenen Woche auf immer neue Rekordwerte.
Auch der Neue-Markt-Index legte nach den positiven Vorgaben aus den USA wieder zu. Ein-
JASDAQ
Tokio
60
50
40
3000
2800
2600
2400
2200
2000
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30
1999
Nov.
Nov.
NASDAQ
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4000
New York
Frankfurt
3600
Paris
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800
2400
Nov.
NOUVEAU MARCHÉ
Brüssel
900
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Nov.
1100
EASDAQ
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700
1999
Nov.
Nov.
1999
Nov.
Nov.
Nov.
Nov.
INVESTMENTFONDS
Rentenindex
Rex
Sparbücher abschaffen?
W
zen mit tollen Renditen. Doch kein einziger von zehn Fonds der Dresdner
Bank, die seit mehr als 20 Jahren bestehen, hatte das Ziel bis Ende September
(siehe Grafik) erreicht. Der Aktienfonds
Concentra, der vor allem in Standardwerte großer deutscher Unternehmen
investiert, schaffte es dann im Oktober,
aber nur knapp. Im Durchschnitt beträgt der Wertzuwachs dieser zehn
Dresdner Bank-Fonds
lediglich 7222 Mark. Der
Wertsteigerungen von Dresdner-Bank-Fonds
mit einem Sparbuch
jährliche
Was aus einer Anlage von 1000 Mark
vielleicht noch verdurchschnittl.
im Zeitraum vom 30.9.1979
gleichbare Deutsche
Rendite
bis zum 30.9.1999 geworden ist
in Prozent
Rentenfonds schaffte soDeutscher
7,42 gar nur ein Plus von
4186 Rentenfonds
3186 Mark. Mit kleineVermögens7,91 ren Schummeleien
4580 Ertrag-Fonds
prahlt „die BeraterInternationaler
bank“ (Werbeslogan)
9,37
5996
Rentenfonds
auch in ihrem zweiten
VermögensAnzeigenmotiv. „Wer
10,76
7718
Aufbau-Fonds
sein Volk liebt, nimmt
Transatlanta
11,50 ihm die Sparbücher
8826
weg“, legt die Dresdner
DIT Fonds für
11,77 Bank mit weiteren Inse9265
Vermögensbildung
raten nach und empInterglobal
11,84 fiehlt ihren Wertpapier9375
fonds DIT-Kapital-Plus.
Thesaurus
12,14 Dieser Fonds schaffte
9882
seit Jahresanfang 1999
einen Wertzuwachs
Industria
12,49 nur
10532
von rund vier Prozent,
ist lediglich
Concentra
11859 13,16 abzuziehen
ein „Ausgabeaufgeld“ –
Quelle: BVI
von drei Prozent.
er im Jahr 1980 auf dem Sparbuch
1000 Mark angelegt habe, besäße
heute durch Zinseszins rund 1700 Mark,
rechnet Dresdner-Bank-Vorstand Joachim von Harbou in ganzseitigen Anzeigen vor: „Wäre aber damals das Geld in
einen Wertpapierfonds gezahlt worden,
stünde heute ein Vermögen von 12 000
Mark zur Verfügung.“ Die Rechnung
gilt gewiss für etliche Fonds, viele glän-
d e r
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Quelle:
Datastream
1999
4 5 / 1 9 9 9
118
116
114
1999
112
110
Quelle: Datastream
J
F
M
A
M
J
J
A
S
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ANLEIHEN
Schwache Rentenfonds
V
orsichtige Anleger, die aus Furcht
vor allzu stark schwankenden Aktienkursen in diesem Jahr auf den Rentenmarkt geflüchtet sind, gerieten vom
Regen in die Traufe. Mit steigenden Zinsen fielen die Kurse der festverzinslichen Wertpapiere und damit auch die
der Rentenfonds. Seit Jahresanfang verloren etwa 30jährige Bundesanleihen
mehr als 12 Prozent, 10-jährige Pfandbriefe rund 8,5 Prozent. Die Anhebung
der Leitzinsen durch die Europäische
Zentralbank könnte die Bondmärkte
nun beruhigen, glauben viele Ökonomen, zumal die Teuerungsraten in den
Industriestaaten moderat bleiben. Der
Zinsanstieg sei gestoppt, die Anleihenkurse blieben stabil.
115
FOTOS: GAMMA / STUDIO X ( li.); W. v. CAPPELLEN / REPORTERS / LAIF (M.)
Wirtschaft
LANDWIRTSCHAFT
aufgedeckte
Betrügereien,
falsche Abrechnungen
2,6 Milliarden Euro
Obst-Vernichtung, Sitz Brüsseler EU-Kommission: „Schwelle des Akzeptablen überschritten“
E U R O PA
Tatort eines Krimis
Der Europäische Rechnungshof enthüllt eine Verschwendung gigantischen Ausmaßes:
Fehlgelenkte Subventionen, gefälschte Abrechnungen und eine kaum vorhandene
Finanzkontrolle in der EU-Kommission. Milliardensummen wurden willkürlich ausgegeben.
Z
umindest ein Millionenbetrag im
EU-Haushalt scheint gut investiert:
der für den Europäischen Rechnungshof.
Die 545 internationalen Prüfer sind Spürhunde, die nach verschwundenen Euros graben. Sie öffnen die Aktenschränke, wo immer in Europa ein Projekt aus dem Takt
gerät. Sie fahren auf die Azoren und nach
Lappland, zählen Vieh und Butterberge, inspizieren die Labyrinthe der EU-Finanzen.
Ihr Blick auf Europa ist der des gestrengen Kaufmanns. Mit gedrechselter EuroLyrik und Demonstrationen guter Politikerabsichten können die strengen Damen
und Herren wenig anfangen. Die Zahlenmenschen wollen wissen, was es kostet.
Mit ihren Augen gesehen ist Brüssel Tatort eines brutalen Krimis: Über 300 Seiten
dick ist der bislang vertrauliche Jahresbericht des Europäischen Rechnungshofes,
schonungslos legen die Luxemburger Kontrolleure darin die über Jahrzehnte gewachsenen Systemfehler bloß. Ihre Jahresbilanz entlarvt Europa als unfertiges
Gebilde, das es Betrügern kinderleicht
macht. Niemals zuvor schlug der Rechnungshof einen derart scharfen Ton an:
116
π Die EU-Administration schlampe bei
Verträgen und Ausschreibungen, bei
Buchführung und Ausgabenpolitik. „Ein
Drittel aller Auszahlungen sind mit gravierenden Irrtümern behaftet, die Kommission schüttet zu hohe Beträge aus.
Die Häufigkeit der Fehler hat die Schwelle des Akzeptablen überschritten.“
π Die 15 Mitgliedstaaten seien Betrügereien aller Art aufgesessen, bei den Agrar- und Exportsubventionen (2,6 Milliarden Euro), bei Zöllen (eine Milliarde
Euro), aber auch bei der Eintreibung der
Mehrwertsteuer hapere es: „Die Kontrollen der EU-Mittel in den Mitgliedstaaten sind zu schwach, die zuständigen
Stellen zu nachlässig.“
π Die Kommission führe Schattenhaushalte, die mit ordnungsgemäßer Buchführung nichts gemein hätten. „Die
künftigen Pensionszahlungen an Beamte werden rund 15 Milliarden Euro betragen. Diese Beträge müssen aufgeführt
werden“, mahnt der Rechnungshof.
π Die Kommission rechne sich reich, sagen
die Prüfer: „Die potenziellen Schulden
bei den Außenhilfen sind um mindestens
2,798 Milliarden unterschätzt.“
d e r
s p i e g e l
4 5 / 1 9 9 9
π Der Rechnungshof misstraut auch der
Kontenführung in Brüssel: „1998 ist die
Kommission Verpflichtungen in Höhe
von 522, 7 Millionen Euro ohne Ermächtigung eingegangen. Die Legalität mancher Auszahlung ist in Frage gestellt.“
π Viele der Ausgaben bei den eigenen Programmen der Kommission mit einem Gesamtbudget von 4,8 Milliarden Euro waren „irregulär“, „unbegründet“, „aufgeblasen“. Und: „Jede zehnte Ausgabe hätte wieder eingetrieben werden müssen.“
π Selbst die eigene Wirkungslosigkeit haben die Prüfer untersucht. Ihren Recherchen zufolge kümmert sich die
Kommission kaum um jene Schweinereien, die der Rechnungshof in früheren
Jahren aufgedeckt hat.
π Bei Beratern der Außenhilfsprogramme
beispielsweise hätte sie 170 Millionen
Euro anmahnen müssen, für verschwundene Gelder bei der Bosnienhilfe rund 6
Millionen Euro wieder eintreiben können. Doch nichts geschah: „Die Kommission zeigt keinerlei Verantwortung
für die Eintreibung der Gelder.“
Die Europäische Union ist mit ihren 374
Millionen Bürgern und einem Bruttoin-
EUKOMMISSION
23344 Beschäftigte,
davon 16 920 Beamte
ZÖLLE
1 Milliarde Euro
Zollhafen Rotterdam: „Zu schwache Kontrollen“
EU-Haushalt 1998; Ausgabenbereiche
in Milliarden Euro
Gesamt:
82 Milliarden Euro
Sonstiges
Reserven,
Verwaltung
Agrarpolitik
Außenhilfen
5,8
z. B. Humanitäre Hilfen,
Osteuropa
4,1
4,9
Garantiepreise, Exporterstattung
38,8
Struktur- und
Regionalpolitik 28,4
Programme
der Kommission
Infrastruktur, Arbeitsplätze
z. B. Forschung,
Bildung, Energie, Binnenmarkt
Subventionen 1998 nach Ländern pro Kopf in Euro
395
311
285
132
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organisation bislang nicht besonders erfolgreich gewesen, resümieren die Prüfer.
Schon vor der Vernichtung haben Obst
und andere landwirtschaftliche Produkte
die EU-Bürger viele Milliarden gekostet.
Rituell kehren in den Berichten des Rechnungshofes die überhöhten Abrechnungen
der Landwirte bei ihren Prämien für
Fleisch, Milch, Getreide, Obst, Ackerland
und stillgelegte Flächen wieder.
Systematisch geben viele Bauern ganz
offenbar zu hohe Vieh- und Flächenzahlen
an, sie kassieren zu Unrecht Milliarden für
Olivenöl und Rindfleisch. „Die aufgedeckte Fehlerrate bei den Agrarausgaben ist erneut zu hoch“, schreiben die Prüfer.
Offenbar stimmt das gesamte Kontrollsystem nicht. Keiner der Kommissare will
sich mit den nationalen Agrarlobbyisten
anlegen – die Bürger der Union zahlen für
den Schlendrian. Die staatlichen und
halbstaatlichen Auszahlungsstellen, welche
die Agrargelder bewilligen und bei der
Agrardirektion in Brüssel danach abrufen,
funktionieren als Selbstbedienungsapparate, so zumindest legt es der Bericht nahe.
Ausgerechnet in Niedersachsen, dem
Stammland Gerhard Schröders („Die
verbraten unser Geld“) entdeckten die
Luxemburger besonders hohe Fehlerra-
Sprudelnde Euro-Quelle
Gr
iec
nen vernichten – damit die Preise nur ja
nicht sinken.
Diesen Aberwitz zahlen Europas Verbraucher doppelt, denn sie subventionieren
auch noch die gesamte Vernichtungs- und
Marktbereinigungsaktion, im vergangenen
Jahr mit dem „historischen Maximum“
von rund einer halben Milliarde Euro, wie
der Rechnungshof vermerkt.
Bulldozer und Lkw der regionalen, von
der EU unterstützten Organisationen karren
die frische Ware zu Erdgruben, an Brandstellen oder Lagerplätze in Südeuropa, wo
sie mit Öl ungenießbar gemacht werden.
Versuche, die Früchte besser zu konservieren oder zu verarbeiten, seien wegen Miss-
Po
r
landsprodukt von 6,6 Billionen Euro zu einer Weltmacht geworden, nach der Einführung des Euro wird sie sich mit dem
Dollar-Raum messen müssen. Bei Welthandelsrunden vertritt die europäische
Quasi-Regierung die Interessen aller Europäer.Von der „neuen Zivilmacht“ spricht
Außenminister Joschka Fischer im Straßburger Europaparlament.
Doch im Innersten präsentiert sich die
Brüsseler Europa-Regierung als schwerfällige, veraltete Administration. Bis heute,
so viel muss jetzt als gesichert gelten, hat
der Apparat keine effiziente Kontrolle installiert.
Mit ihrem 82 Milliarden Euro teuren
Haushalt bedient die EU-Kommission vor
allem Lobby- und Interessengruppen. Berauscht vom Gefühl der eigenen Bedeutung kümmert sich keiner der Kommissare, auch das wird jetzt überdeutlich, mit
wirklichem Nachdruck um die verschlungenen Pfade des Geldes.
Die Willkür ist regelrecht zum Maßstab
der europäischen Politik geworden. Mit
dem größten Posten ihres
Haushalts, den Agrarsubven856
tionen in Höhe von 38,8 Milliarden Euro, unterstützt die
Union gerade mal fünf Prozent ihrer Bevölkerung, die
560
Landwirte.
Eins der schillerndsten Beispiele dieser Klientelpolitik
vollzieht sich jedes Jahr als Ritual: Im Sommer und Frühherbst, wenn Tomaten, Salate,
Pfirsiche und Äpfel überreichlich auf den Markt kommen,
lässt die Union Millionen Ton-
Sp
fehlerhaft
aufgedeckte
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eine große Zahl der
Verträge
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falsch
TRANSGLOBE
Ein Drittel aller
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118
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A. FROESE / CARO
viel zu selten und duldeten
ein kaum durchschaubares
Wirrwarr.
Manche Maßnahme zur Arbeitsplatzförderung sei nichts
als heiße Luft, bemerkt der
Rechnungshof. Andere EUGelder fließen in Pleitefirmen.
Mit 27 Millionen Euro förderte Brüssel und mit weiteren 21
Millionen die deutsche öffentliche Hand ein Projekt namens
„fx.center“ auf dem Gelände
des Studio Babelsberg. Kurz
nach Eröffnung ging die Betreibergesellschaft „Company
b“ Pleite. Jetzt wurde die Firma wegen des Verdachts auf
Subventionsbetrug
dem
Staatsanwalt gemeldet.
Die letzte EU-Kommission
war an dem schlampigen Umgang mit Geld und einem nur
gering ausgeprägten Verantwortungsgefühl gescheitert.
Zwei Sätze lösten in der
Nacht vom 15. auf den 16.
März den historisch einmaligen Rücktritt einer gesamten
EU-Kommission aus.
„Die Kommission hat ihre
Verwaltung nicht unter Kontrolle. Es findet sich niemand,
der bereit wäre, Verantwortung zu übernehmen.“
Dieses Fazit zog damals das Expertenkomitee der sogenannten fünf Weisen, ein
vom Europäischen Parlament mit einer Untersuchung beauftragtes Gremium. Der
Rechnungshof spürte den damaligen Vorwürfen ebenfalls nach – und zeichnet ein
ähnlich vernichtendes Sittengemälde.
Zumindest die Kommissare regierten
ganz offenbar wie Feudalfürsten. Der
Rechnungshof fand reihenweise umdatierte Verträge, angefangen bei der Industriedirektion des früheren Kommissars Martin
Bangemann über die Agrardirektion Franz
Fischlers bis zur Forschungsabteilung der
französischen Kommissarin Edith Cresson.
„Nicht nur, dass diese Praxis irregulär
ist, sie gibt den Partnern der Kommission
überdies den Eindruck, dass es die Administration mit dem Recht nicht so genau
nimmt“, schreiben die Prüfer.
In der Kommission gibt es bis heute kein
einheitliches Aktenzeichensystem, keine
Vorschriften zur Registrierung von Dokumenten. Protokolle können in diesem System mühelos verschwinden, ihr Inhalt, und
sei er noch so skandalös, interessiert offenbar niemanden so richtig.
Der Rechnungshof mahnt die Politiker,
die derzeit am liebsten über eine Ost-Erweiterung nachdenken, dieses Projekt zu
überdenken – oder „energische“ Reformen einzuleiten: Die Herausforderungen
der Ost-Erweiterung seien sonst nicht zu
bewältigen.
Sylvia Schreiber
M. MORITZ
ten. Auch in Italien wird munter abkassiert: Weil die zuständigen Stellen die Milchquotenüberschreitungen nicht
termingerecht berechneten,
überwies Brüssel im vergangenen Jahr über 221 Millionen
Euro zu viel.
Frankreich zahlte 100 Millionen Euro an die Bauern zur
Bewältigung der BSE-Krise,
auch das wieder ohne Übersicht, ohne Kontrolle. Wer sich
meldete, kassierte ab. In Spa- Studio-Stadt Babelsberg
nien, Irland und Großbritannien fehlten im Prüfungszeitraum verlässliche Register
über die Viehbestände. Griechenland bekam Beihilfen für
minderwertige Baumwolle,
für die Berechnung der betroffenen Baumwollfelder legten die Griechen topografische Karten aus dem Jahr
1938 zu Grunde.
Die Pflege der alten, mediterranen Kulturlandschaften
lässt sich die Gemeinschaft
seit jeher etwas kosten. Sie
unterstützt Olivenbauern und
Ölmühlen, zahlt Prämien für
Bäume, für jeden Liter gepressten Öls, für verkaufte Golfplatz Maria Bildhausen
Kanister. Allein die Hilfen für Deutsche Subventionsempfänger: Kräftig zugelangt
den Olivenöl-Export in Drittländer waren der Union rund 59 Millionen sonders häufig Besuch von den KontrolleuEuro wert.
ren aus Luxemburg. Obgleich der bayeriDoch in Griechenland, Portugal und sche Landesfürst als wortgewaltiger EuroSpanien kontrollieren die Behörden nur pakritiker hervortritt, zählt sein Land zu
schlampig, fand der Rechnungshof heraus. den Brüsseler Großkunden. Bei den StrukDie dort abgerechneten Zahlen gelten als turfonds für den ländlichen Raum kassierProdukte blühender Phantasie. Jetzt sollen te das Laptop- und Lederhosenland bislang
die Südländer Millionenbeträge zurück- allein zehn Prozent der EU-Fördermittel.
zahlen, wünscht sich zumindest der RechMit Brüsseler Gaben förderte die CSUnungshof.
Regierung Golfplätze und KücheneinrichIn Deutschland profitierten Landwirte tungen. 21 000 Mark zahlten die Behörden
und Lebensmittelexporteure mit 5,553 Mil- aus diesen EU- und Landesmitteln für den
liarden Euro ebenfalls von den „Markstüt- Einbau eines Kachelofens in einen Bauzungen“ und „Ausfuhrerstattungen“. ernhof, für einen Bauerntisch mit Stühlen
Deutschland ist bei den so genannten 12 800 Mark, und für eine Bar mit vier
Preisgarantien zweitgrößtes Empfänger- Hockern wurden 17 390 Mark aus der Steuland der EU, nach Frankreich.
erkasse fällig.
Deutsche Bauern nehmen natürlich
Brüsseler Gelder für die armen Landreebenfalls gern am üppig ausgestatteten Prä- gionen wurden auch für ein „Weide-Rinmiensystem teil. Und auch hier zu Lande der-Festival“ und einen „Gourmet-Tag“
wird abkassiert, was irgendwie abzukas- verwendet. Die Prüfer notierten: „Die zur
sieren ist. Landwirte in Mecklenburg-Vor- Verfügung gestellten Belege erwiesen sich
pommern beispielsweise sollen bei den An- als wenig überzeugend.“
gaben ihrer Flächen betrogen haben, um
Noch weniger glaubt der Rechnungshof
immerhin 16 Millionen Euro.
an die von Politikern oft als segensreich
Auf rund 1,7 Milliarden Euro taxiert der beschriebene Wirkung der StrukturfondsRechnungshof die Verluste, die durch den so mittel, mit über 28 Milliarden Euro der
genannten Agrarbetrug europaweit ent- zweitgrößte Posten im Etat. Die Fonds solstanden sind. Die Rückforderungen wegen len für blühende Landschaften in Europa
überzogener Marktpreis- und Exporterstat- sorgen, Arbeitsplätze, Infrastruktur und
tungen gibt er mit 862,5 Millionen Euro an. Ökologie fördern. Ihre Reform benötige
Auffällig geworden ist bei den Recher- „einen langen Atem“, schreiben die Prüfer.
chen auch Edmund Stoibers bayerische ProDenn Kommission und Mitgliedsländer
vinz. Sie bekam in den letzten Jahren be- kontrollierten die Ausgaben und Belege
Werbeseite
Werbeseite
Deutsche-Bank-Niederlassung in Luxemburg: Wartesaal der Steuerhinterzieher
STEUERN
Gründlich ramponiert
Die Regierung will die Erbschaftsteuer erhöhen und
das Bankgeheimnis lockern. Experten
sehen erste Anzeichen einer neuen Kapitalflucht.
V
erschämt blickt der
Mann mit der grellbunten Blümchenkrawatte
zu Boden. In der rechten
Hand hält er ein Zettelchen
mit der Nummer 1264, die linke liegt unauffällig auf einer
schwarzen Tasche.
Am Nachbartisch bekommt
ein etwa 70-Jähriger in Wolljoppe, Typ bayerischer Familienunternehmer, eine Tasse
Kaffee serviert. Andere Kunden des Luxemburger Cafés
tragen Jeans und Anorak, aber
auch Designer-Anzüge. Gesprochen wird kaum, trotz des
großen Andrangs.
Betrieben wird das Café
von der Deutschen Bank. Es
ist eine Art Wartesaal für Steuervermeider und Steuersparer.
Ständig kommen Privatkundenbetreuer und rufen Nummern auf, um dann mit ihren
Kunden in den Besprechungszimmern des Geldpalastes zu
verschwinden. Diskretion ist
Ehrensache, namentliche BeSPD-Politiker Eichel, Schröder
Anleger verunsichert
120
AFP / DPA
B. BOSTELMANN / ARGUM
grüßungen sind absolut tabu.
Fast jeder Besucher hat Bargeld in großen Mengen dabei.
Auch bei der Dresdner
Bank, der Commerzbank und
der DG-Bank sowie den rund
60 übrigen deutschen Instituten in dem Fürstentum
herrscht reger Betrieb. „Zum
ersten Mal seit langem haben
wir wieder mehr Anfragen
von Neukunden“, freut sich
der Chef der Luxemburger
Niederlassung eines deutschen
Kreditinstitutes.
Auch sein österreichischer
Kollege Peter Fröhlich von der
Raiffeisenbank Kleinwalsertal
hat Grund zum Frohlocken.
„Jahrelang ist deutsches Kapital zurückgeflossen“, erzählt
der Kundenberater, „jetzt erleben wir die Trendumkehr.“
Die Banker sehen erste Indizien einer neuen Kapitalflucht aus Deutschland und machen den
steuerpolitischen Zickzack-Kurs der Bundesregierung dafür verantwortlich. Kapital sei scheu, und die Anleger seien verunsichert. Deshalb brächten sie ihr Erspartes
in Sicherheit, dorthin, wo sie auf Kapitalerträge keine oder geringere Steuern zahlen. Und wo sie ein strenges Bankgeheimnis vor deutschen Steuerfahndern schützt.
Nach einem Jahr hat die rot-grüne Regierung ihr Ansehen gründlich ramponiert.
Mehr als zwei Drittel der
Deutschen trauen ihr nach einer Emnid-Umfrage nicht
mehr zu, die Wirtschaft in
Schwung zu bringen, drei
Viertel glauben, sie versage
bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit.
Vor allem in der Steuerpolitik gerät die Riege von Kanzler Gerhard Schröder immer
wieder ins Schlingern. Kaum
eine Woche vergeht, in der
nicht eine neue steuerpolitische Idee für Unruhe sorgt:
π Noch immer ist unklar,
ob, und wenn wie, kleine
und mittlere Unternehmen
von der Unternehmensteuerreform profitieren.
π Der SPD-Fraktionschef Peter Struck will Zinserträge
effektiver belasten.
π Selbst ein Modernisierer
wie NRW-Ministerpräsident
Wolfgang Clement fordert
mittlerweile einen Zugriff
auf höhere Vermögen.
In dieser Woche werden Bundeskanzler Gerhard
Schröder und sein Finanzminister Hans Eichel für neue
Unruhe an der Steuerfront
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Werbeseite
Wirtschaft
Doch die Lösung birgt auch Risiken für
das Führungsduo: Wenn nur die Wertansätze für Haus- und Grundbesitz erhöht werden, müssten vor allem die Erben kleiner
Immobilien draufzahlen, was vor allem die
eigene Klientel hart treffen würde.
Das wollen Schröder und Eichel vermeiden: Als Ausgleich für die höheren
Wertansätze planen sie nun auch die
Freibeträge für nächste Verwandte inklusive Patenkinder anzuheben. Deren Erbschaften bleiben heute bis höchstens
600 000 Mark steuerfrei. Künftig soll
der Freibetrag bei rund 1,5 Millionen Mark
liegen.
Auf vielleicht zwei Milliarden Mark taxieren Eichels Experten die Mehreinnahmen. Fraglich ist, ob sich die Anhänger einer höheren Vermögensbesteuerung durch diese
Maßnahme besänftigen
lassen. Traditionsverbundene Finanzpolitiker der
Fraktion würden lieber
kräftiger zulangen. „1998
sind mehr als 270 Milliarden Mark vererbt worden“, sagt ein SpitzenSozi. „Es wäre doch
schön, wenn wir zehn
Prozent davon einsammeln könnten.“
Schröder und Eichel
ahnen, dass sie, bleiben
sie bei ihrer eher kosmetischen Erhöhung, ihrer
Basis woanders entgegenkommen müssen. Deshalb
DG-Bank-Niederlassung in Luxemburg: Reger Betrieb
haben sie sich für ihr
Für den Mittwoch dieser Woche hat Treffen am Mittwoch noch ein weiteres
Schröder seinen Finanzminister zu sich ins Herzensanliegen der Genossen vorgenomKanzleramt geladen. Dann wollen die bei- men: die „gerechte Besteuerung von Zinsden beschließen, wie sie ihre Partei, deren erträgen“.
An der hapert es nach Einschätzung vieMehrheit eine soziale Schieflage entdeckt
hat, wieder beruhigen können. Die Erb- ler Experten. „Kapitalerträge können eher
schaftsteuer soll jetzt schon steigen, ohne der Zahlungspflicht entzogen werden als
dass beispielsweise der Spitzensteuersatz Arbeits-Einkommen“, klagt SPD-Frakgleichzeitig nennenswert sinkt. Rechtzeitig tionschef Struck, und zahlreiche Ökonozum SPD-Parteitag Anfang Dezember wol- men sehen das genauso. Viele Sparer geben
len Eichels Ministerialbeamte ein Kon- ihre Zinserträge in der Steuererklärung erst
gar nicht an, der Staat hat bisher kaum Zuzeptpapier vorlegen.
Höher belastet werden in Zukunft vor griff auf die Daten.
Eichel würde das Problem am liebsten
allem Erben von Häusern und Grundstücken. Die müssen bislang wegen eines durch eine europäische Harmonisierung
speziellen Bewertungsverfahrens im lösen. Sollte die auf dem EU-Gipfel in HelSchnitt 50 Prozent des Marktwertes an sinki Anfang Dezember wieder scheitern,
Erbschaftsteuer bezahlen. Erbt jemand da- wofür vieles spricht, dann wollen Schröder
gegen Geld oder Aktien, fällt die Steuer auf und Eichel eine nationale Lösung wagen.
Eichels Beamte empfehlen eine Lockeden tatsächlichen Wert an. Demnächst, so
sehen es die Planungen der Beamten vor, rung des Bankgeheimnisses. Auf Kontrollsollen die Ansätze für Immobilien auf rund mitteilungen müssten die Kreditinstitute
dann künftig die gesamten Zinserträge ih80 Prozent steigen.
Die unterschiedliche Behandlung der rer Kunden bei den Finanzbehörden ofVermögensarten gilt als verfassungswidrig. fenbaren. Bei Fraktionschef Struck („Bild“:
Mit der Erhöhung der Erbschaftsteuer er- „Schnüffel-Struck“) stößt das Vorhaben
ledigen Schröder und Eichel also gleich auf Beifall. Kontrollmitteilungen seien
zwei Probleme: Sie beseitigen einen ver- nötig, „damit man besser an die Zinserträfassungsrechtlichen Missstand und kom- ge herankommt“.
Christian Reiermann,
Wolfgang Reuter
men ihrer Partei entgegen.
B. BOSTELMANN / ARGUM
sorgen. Schröder will seinen Widerstand
gegen die Umverteilungswünsche der Genossen nun endgültig aufgeben und Vermögen doch höher belasten.
„Wir führen keine Steuererhöhungsdebatte“, hatte der Regierunschef bislang
stets beteuert. Und auch Finanzminister
Hans Eichel hatte sich gegen die zusätzliche Belastung von Vermögen gestemmt.
Doch das Kanzlerwort ist offenbar wertlos.
Schröder und Eichel haben vor dem linken Flügel ihrer Partei kapituliert. Die
zunächst verfolgte und auch von Experten
begrüßte Linie in der Finanzpolitik – erst
die große Steuerreform mit Senkung aller
Tarife, dann im Gegenzug eine härtere
Gangart für Erben und Aktienbesitzer –
wird nun endgültig verlassen.
122
d e r
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4 5 / 1 9 9 9
Werbeseite
Werbeseite
Wirtschaft
J.-P. BOENING / ZENIT
legt und manchmal auch
Preisempfehlungen für jeden Kubikmeter schriftlich
hinterlassen: „Nicht unter
DM 148 gehen!“
Meistens trafen sich die
Mauschler in den Hinterzimmern abgelegener
Landgasthäuser oder Restaurants, gelegentlich auch
im Steigenberger Airport
Hotel am Frankfurter Flughafen oder im Holiday Inn
am Flughafen Hannover.
Wie in einem mittelmäßigen Krimi wechselten die
Abgesandten der Betonindustrie ständig die Orte
und Lokale.
Doch in der „Branche
mit den mafiosen Strukturen“ (Knochenhauer) geht
es recht kleinbürgerlich zu.
Bei ihren konspirativen
Treffen zahlte jeder Firmenvertreter sein Essen
selbst; die Getränkerechnung übernahm ein so genannter Obmann.
Jedes Vierteljahr stellten die Firmen reihum einen anderen Obmann.
Der musste kein Geld für Schampus ausgeben. Die Herren, die mit ihrer Kungelei
zwischen 1995 und 1998 einen zusätzlichen
Profit von mindestens 220 Millionen Mark,
vermutlich weit mehr einfuhren, genehmigten sich in der Regel allenfalls Pils
und Korn.
Es war nicht die erste Garnitur der Betonindustrie, die klammheimlich und zuweilen im Wochentakt in den Hinterzimmern tagte. Nie trafen die Konzernchefs
die illegalen Abmachungen – sie schickten
die Geschäftsführer ihrer Tochtergesellschaften zu den Treffen, und die Geschäftsführer delegierten die Aufgabe gern
an ihre Untergebenen.
Die Hauptbeschäftigung der Kartellmitglieder war die Kontrolle der getroffenen
Vereinbarungen. Für die Baustellen in der
Region Halberstadt/Quedlinburg/Wernigerode beispielsweise waren die Betonlie-
Anlieferung von Transportbeton: „Eine Branche mit mafiosen Strukturen“
KARTELLE
Die Beton-Brüder
D
er fränkische Baustoffzulieferer hat
sich eine trickreiche Fahrstuhlsteuerung zugelegt. Per Knopfdruck lässt sich eine technische Panne vortäuschen, der Lift bleibt zwischen dem ersten und zweiten Stock stecken. Unliebsame Besucher können so ein Weilchen auf
Distanz gehalten werden – Zeit genug für
die Geschäftsführung, sich vorzubereiten.
Der Spezialschalter für den Lift hat dem
Transportbetonhersteller nicht geholfen,
als Beamte des Bundeskartellamts anrückten: Die Ermittler nehmen grundsätzlich immer die Treppe. Den Trick mit
stecken bleibenden Aufzügen kennen sie
seit den achtziger Jahren, als sie Chemiekonzerne durchsuchten, aber zuvor eine
geraume Zeit in Fahrstühlen verbrachten.
Das fränkische Unternehmen gehört zu
den vielen Betonlieferanten, denen das
Kartellamt unlautere Machenschaften
nachgewiesen hat. Fast alle in der Branche
sind betroffen: Die Firmenchefs teilten sich
die Märkte auf und kassierten von ihren
Kunden überhöhte Preise.
Vergangene Woche gab die Bonner Wettbewerbsbehörde das Ergebnis ihrer Razzia von Anfang Mai bekannt: 33 Transportbetonhersteller müssen Bußgelder von
insgesamt 255 Millionen Mark zahlen, Verfahren gegen weitere Unternehmen laufen
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noch, die Summe der Bußgelder wird dann
über 300 Millionen Mark liegen – der bislang teuerste Verstoß einer Branche gegen
das Wettbewerbsrecht.
In der Liste der ertappten Sünder ist offenbar jeder vertreten, der in der Branche
Rang und Namen hat: Readymix und Heidelberger Zement, Dyckerhoff und B-top,
die Tochter des französischen Branchenriesen Lafarge. Kartellamtspräsident Dieter
Wolf traf „alte Bekannte“, denn die Firmen
sind schon früher wegen illegaler Absprachen aufgefallen: „Unsere Freunde von
damals sind hier wieder komplett vertreten.“ Für Andreas Knochenhauer, der in
der Behörde unter anderem für die Bauindustrie zuständig ist, sind die erwischten
Kartellbrüder „unsere Stammkunden“.
Immer wieder sind es dieselben Firmen
mit ähnlichen Methoden: Das letzte deftige Bußgeld – 230 Millionen Mark – war
Ende der achtziger Jahre fällig. Damals
sprengte Knochenhauers Abteilung ein
Kartell der Zementindustrie.
Jetzt traf es die Firmen, die in stationären Mischanlagen Zement zu Beton
verarbeiten und die flüssige Masse auf Spezial-Lastwagen mit rotierenden Behältern
zu den Baustellen bringen. Um die Preise
hochzuhalten, hatten die Firmen exakte
Lieferquoten für regionale Märkte festged e r
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M. DANNENMANN
Aufregung bei den Herstellern von Transportbeton: Das
Kartellamt sprengte Mauschelringe, die mit
illegalen Absprachen überhöhte Preise durchsetzten.
Kartellamtspräsident Wolf
Die Schummler von früher wieder ertappt
ferungen auf sechs Firmen aufgeteilt. So
durfte die Readymix-Tochter UBN laut
Vereinbarung exakt 28,64 Prozent des Betons liefern, die Firma Schwenk bekam mit
18,05 Prozent die zweithöchste Quote.
Täglich registrierten die Kartellbuchhalter, wer welche Mengen auf die Baustellen
fuhr. Monat für Monat wurde säuberlich in
Tabellen erfasst, ob einer über oder unter
der zugeteilten Quote lag. Bei der Schlussabrechnung für das vergangene Jahr hatte
UBN in dem sachsen-anhaltinischen Gebiet 7764 Kubikmeter mehr geliefert, als
der Firma laut Quote zustand; Schwenk
lag mit 5271 Kubikmetern unter der zugeteilten Quote.
Derart penible Aufzählungen sind verständlich. In der Betonindustrie verfolgt
jeder jeden mit abgrundtiefem Misstrauen: Wer so beharrlich Kunden mit verbotenen Absprachen schädigt, betrügt auch
seinen Kartellbruder.
Schummelei gehört offenbar zu den
Geschäftsprinzipien der Branche. Um
heimliche Lieferungen aufzuspüren, so
berichtet ein Insider, werden Spediteure
ausgehorcht, und wenn ein firmeneigener
Lkw voll beladen das Werksgelände verlässt, folgt ihm zuweilen möglichst unauffällig ein Auto, um zu sehen, welche
Baustellen der Lastwagen als nächstes
ansteuert: „Da wird bis aufs Kilo nachgerechnet.“
Immer wieder wurden die Kontrolleure
fündig. In Berlin, wo der Wiedervereinigungsboom den Betonherstellern die lukrativsten Geschäfte bescherte, erwischte
das Kartell gleich neun Mitglieder beim
Quotenschummeln.
In den vergangenen Jahren brauchten
Baufirmen in Berlin jährlich durchschnittlich rund 2,5 Millionen Kubikmeter Transportbeton. Diese Menge wurde auf 29 Firmen aufgeteilt, von Berger (3,46 Prozent
des gesamten Bedarfs) bis Zemtrans (3,87
Prozent); der Löwenanteil ging, wie so oft,
an Readymix.
Kartellschnüffler fanden heraus, dass
1995 vor allem Readymix heimlich mindestens 80 000 Kubikmeter zu viel geliefert
hatte. „Beschiss“, notierte empört der
Betonhersteller Roba, eine Tochter des
Walter-Konzerns, auf seiner internen Quotenliste.
Dann strafte das Kartell den „Beschiss“
intern ab: Die Quoten wurden neu verteilt. Der Readymix-Anteil in Berlin sank
von 17 auf 11,58 Prozent, bei anderen
Schummlern wurde die Quote geringfügiger heruntergesetzt. Dafür durften von
1996 an die braven Wettbewerbsverhinderer etwas mehr liefern. Den Marktanteil
der Roba beispielsweise setzte das Kartell
von 2,18 auf 2,58 Prozent hoch. Die Liste
mit den neu verteilten Quoten trägt den
handschriftlichen Vermerk „Nach Gerechtigkeitsprinzip“.
Dass illegale Absprachen besonders häufig bei Zement- oder Betonherstellern vom
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Kartellamt aufgespürt werden, ist unter
anderem auf den ausgeprägten Futterneid
der Branche zurückzuführen. Zu den
üblichen Tippgebern, wie sie auch die
Steuerfahndung kennt – gefeuerte Angestellte, verlassene Ehefrauen, eifersüchtige Sekretärinnen –, kommen Firmen
hinzu, die sich vom Kartell hintergangen
fühlen.
Das ständige Misstrauen führt dazu, dass
den Ermittlern immer wieder beweiskräftige Unterlagen in die Hand fallen. Da
wird auf „Objektlisten“ notiert, welcher
Bau von welchem Unternehmen beliefert
wird – aus Furcht, ein Konkurrent könnte
vielleicht ein paar Mark billiger eine LkwLadung Beton still und leise abladen. Bei
den konspirativen Treffen protokolliert einer die Absprachen, weil sich vielleicht
später ein anderer an beiläufige Details
nicht erinnern will – und die handschriftlichen Notizen liegen noch Jahre später als
Gedächtnisstütze in der Schublade.
Trotz seiner langjährigen Erfahrungen
mit Zement- und Betonherstellern wundert sich Bundeskartellamtsdirektor Knochenhauer immer noch, wie verhältnismäßig einfach sich oft die Mauscheleien
aufdecken lassen. Seine Leute finden immer wieder in Schubladen handschriftliche Notizen und auf den Computer-Festplatten „von der EDV ausgedruckte Statistiken, Soll- und Ist-Quoten“.
In den durchsuchten Wohnungen hat das
Kartellamt keine Unterlagen über die illegalen Praktiken gefunden – alles lag, penibel festgehalten, in den Büros. Anders als
bisher meist üblich, haben dieses Mal die
bislang erwischten Firmen die Vorwürfe
nicht abgestritten und keine Beschwerden
über die Höhe der Bußgelder eingereicht,
sondern ganz schnell Zahlungsbereitschaft erkennen lassen.
Geständnisse mildern die Strafen. Die
Bonner Wettbewerbsbehörde kann das 1,5bis 3fache des illegalen Zusatzgewinns abschöpfen. Das Kartellamt hat den ertappten Firmen nachgewiesen, dass sie bei mindestens 22 Millionen Kubikmetern einen
Sonderprofit von mindestens zehn Mark
pro Kubikmeter eingestrichen haben. Die
Strafe ist vor allem deshalb schmerzlich,
weil die Unternehmen die Gewinne versteuern mussten, jetzt aber die Bußgelder
nicht steuermindernd als Betriebsausgabe
absetzen dürfen.
Vielleicht zahlen die Firmen aber auch
deshalb so bereitwillig, weil Knochenhauers Abteilung vermutlich nur einen kleinen
Teil der Mauscheleien aufgedeckt hat: Kartelle in Berlin, im Raum Chemnitz, bei
Magdeburg und im südöstlichen Niedersachsen.
Die Razzia in diesem Jahr ist mit Sicherheit nicht die letzte. Und wenn die
Kartellamtsbeamten wieder ausschwärmen, werden sie wieder die Mahnung ihres
Chefs hören: „Benutzt nicht den Fahrstuhl,
nehmt die Treppe.“
Hermann Bott
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A. HUB / LAIF
Hörgeräteakustiker Junke: „Das war ruinös“
A F FÄ R E N
Raffkes in Weiß
Gegen alle Standesregeln bessern
Ohrenärzte ihr Gehalt
auf. Sie kassieren Provisionen
für jedes Hörgerät –
bis zu 300 Mark pro Stück.
D
er Gelsenkirchener Paul-Gregor
Junke glaubte an „eine gesicherte
Existenz“, als er 1985 seinen Betrieb als Hörgeräteakustiker eröffnete.
Schließlich leiden immer mehr Menschen
an Schwerhörigkeit, und die Discos sorgen
dafür, dass nach einer Untersuchung der
Universität Gießen schon 60 Prozent der
20-Jährigen einen Hörschaden haben.
Wer Hörgeräte verkauft, so dachte Junke, hat einen krisenfesten Job, und anfangs
lief es auch recht gut. Bald schon beschäftigte der Akustikermeister vier Mitarbeiter.
Jetzt ist er pleite. Junke hatte nicht mit
der Geschäftstüchtigkeit der Ohrenärzte
gerechnet: Bis zu knapp 18 000 Mark Provisionen musste er ihnen monatlich zahlen.
Als er nicht mehr spurte, verschwanden
auf wundersame Weise auch die Kunden.
Der Unternehmer aus Gelsenkirchen ist
kein Einzelfall. Den meisten in der Branche
geht es schlecht.
Viele gaben auf. Im Sommer schloss Uwe
Fiebing seinen Betrieb in Petershagen, seine Münchner Kollegin Johanna Vogt machte ihre einst florierende Filiale in Rosenheim ebenfalls dicht. Bei dem Osnabrücker
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Hans Dieter Gerland „ist der Umsatz um
die Hälfte gesunken“.
Der Grund der Misere: Viele Ärzte besorgen sich Hörgeräte mittlerweile vom
Versandhandel, denn der lockt mit Provisionen. Im Widerspruch zu den Standesregeln kassieren die Ärzte ab.
Weil das Geschäft mit den VersandhausProvisionen so reibungslos läuft, verlangen immer mehr Ohrenärzte eine ähnliche
Gebühr auch von den örtlichen Akustikgeschäften. Patienten werden oft nur
noch zu solchen Akustikern geschickt, die
vorab ihr Einverständnis zur Provisionszahlung erklärt haben.
Notgedrungen lassen sich die meisten
auf die Zahlungen ein. 200 bis 250 Mark
nimmt der Doktor für das Kassenmodell,
300 Mark für das teure Hightech-Gerät.
„Eine Lizenz zum Gelddrucken“, beklagt
der Hildesheimer Sven Bielenberg die offenbar gängige Praxis.
Laut Muster-Berufsordnung ist es Ärzten
nicht gestattet, „vom Hersteller oder
Händler eine Vergütung oder sonstige wirtschaftliche Vergünstigung anzunehmen“.
Daran halten sich jedoch nicht alle, vielleicht sogar die wenigsten.
Um den Provisionszahlungen einen legalen Anstrich zu geben, schlossen im vergangenen Jahr Hamburger Akustiker ein
Abkommen mit den Ohrenärzten ihrer
Stadt: „HNO-Fachärztliche Qualitätssicherung“ nennt sich die Vereinbarung: Der
Akustiker schickt den Schwerhörigen zum
Arzt zurück, der dann laut Vereinbarung
„die Qualität der Anpassung und die Qualität des angepassten Hörgeräts“ überprüft
und 120 Mark pro Ohr kassiert.
Der Arzt musste auch schon früher das
vom Akustiker angepasste Gerät überprüfen – ohne Provision. Jetzt füllt er zusätzlich noch einen Fragebogen aus, schickt
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ihn an den Akustiker und kassiert für diese Maßnahme zur „Qualitätssicherung“
eine Gebühr.
Das so genannte Hamburger Modell hat
schnell Schule gemacht. So entwickelte
etwa die Firma Kind Hörgeräte, mit fast
190 Filialen Marktführer in Deutschland,
im vergangenen Herbst ein eigenes Modell
der „Qualitätssicherung“. Danach kassiert
der Onkel Doktor 100 Mark pro Ohr.
Geschäftstüchtige Ärzte holen weit mehr
heraus. Typisch, wenn auch besonders
krass, ist der Fall Junke. Um an Kunden zu
kommen, musste der kleine Mittelständler
seinen ganzen Gewinn abliefern.
Eine Gelsenkirchener HNO-Ärztin kassierte von Junke durchschnittlich 10 000
Mark Provisionen pro Monat, ein Kollege
von ihr rund 7500 Mark. Bei einem Monatsumsatz von gut 40 000 Mark konnte
Junke die Abgaben nicht lange verkraften.
„Das war ruinös“, merkte er bald. Die erhoffte Umsatzsteigerung war ausgeblieben.
„Das ist sittenwidrig und ein klarer Verstoß gegen die Berufsordnung“, sagt Junkes Anwalt Achim Herbertz. Rund 85 000
Mark Provisionen hat der Gelsenkirchener Akustiker an die beiden Ärzte gezahlt,
die noch weitere 80 000 Mark angemahnt
haben. Junke fordert seine bereits gezahlten Provisionen zurück.
Nahezu flächendeckend haben sich diese Praktiken ausgebreitet. Die beiden Versandhändler auric in Rheine und Sanomed
in Hamburg sind clever, ihre Provisionsmodelle haben die Begehrlichkeit der Mediziner stimuliert. So wandte sich auric per
Rundschreiben an Deutschlands Hals-Nasen-Ohrenärzte: Das Unternehmen versprach „ein interessantes angemessenes
Honorar außerhalb des gedeckelten Krankenversicherungs-Budgets“.
Das Oberlandesgericht Hamm befand,
dass auric „die Ärzte zu einem gegen berufsrechtliche Vorschriften verstoßenden
Verhalten auffordert“. Auric hat gegen das
Urteil Revision eingelegt.
Die Krankenkassen haben sich bislang
kaum um das Thema gekümmert. Ihnen
war es egal, wer mitkassierte. Inzwischen
dämmert ihnen, dass ihre Ausgaben steigen, wenn eine medizinische Verordnung
mit einem zusätzlichen „finanziellen Anreiz verbunden“ ist, so der Bundesverband
der Innungskrankenkassen (IKK).
„Eine Hörgeräteversorgung über den
Arzt“, schrieb der IKK-Vorstandsvorsitzende Rolf Stuppardt vergangenen Monat
dem Bundesgesundheitsministerium, könne „für die Gesetzliche Krankenversicherung teurer werden als bei dem herkömmlichen Versorgungsweg“. Ein Verbot der
Provisionspraxis wird nun diskutiert.
Denn auf die Einsicht der Ärzte darf niemand hoffen. Die betroffenen Akustiker
und ihre Anwälte haben da einschlägige
Erfahrungen gemacht. Anwalt Herbertz:
„Die Ärzte haben überhaupt kein Unrechtsbewusstsein.“
Hermann Bott
Werbeseite
Werbeseite
Wirtschaft
G E L DA N L AG E
„Nur Löcher gestopft“
Auf Betrug mit Bankgarantien fielen ein Bürgermeister, eine
Adlige und hunderte weiterer Anleger herein.
Millionen verschwanden, nun soll eine Bank Schadensersatz zahlen.
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M. WOLTMANN
BHF-Bankzentrale: Einzig solvente Adresse
Betrugsopfer Reda, Betrüger Gärtner
Plötzlich war das Geld weg
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H. MÜLLER
J. GÜNTHER
P
sychotherapeutin Gabriele Reda ist
von den Therapiesitzungen mit ihrer
Klientel gewohnt, dass die Wahrheit
oft verschlungene Wege geht. Ihr Beruf hat
sie auf die Abgründe der Seele vorbereitet.
Doch den Abgründen des Geschäftslebens
war sie hilflos ausgeliefert.
Auf einem Esoterikseminar lernte die
Therapeutin die gebürtige Österreicherin
Michele von Neszmely kennen. Die
Freundschaft zu der Düsseldorfer Geschäftsfrau blühte auf, als Reda eine Erbschaft über 1,3 Millionen Mark machte.
Neszmely schwärmte, so erinnert sich
Reda, von tollen Geldanlagen in Luxemburg, bei denen 80 Prozent Rendite pro
Monat möglich seien. Bankgarantien würden solche Anlagen zu einem sicheren
Geschäft machen. Nur leider hätten Großanleger diese lukrativen Deals für sich
selbst reserviert. Doch sie wusste Rat.
„Weil du meine Freundin bist“, durfte
Reda 1992 an dem Geschäft partizipieren
und 500 000 Mark nach Luxemburg überweisen.
Bei der Transaktion lernte Reda den
Düsseldorfer Anwalt Axel Gärtner kennen,
der als Vizepräsident von Fortuna Düsseldorf zu lokalem Ruhm gelangt war und, angeblich, „mit den besten Kreisen“ auf gutem Fuß stand. Auf dessen Konto bei der
Düsseldorfer Filiale der BHF-Bank überwies Reda schließlich rund 900 000 Mark,
nachdem tatsächlich 80 Prozent Gewinn
in Luxemburg ausgewiesen worden waren
und weitere Traumrenditen lockten.
Doch dann verließ die Psychotherapeutin das Glück. Das Geld verschwand vom
Konto des Anwalts. Mit Hilfe großzügiger
Renditeversprechen von vier Prozent pro
Woche hatte Gärtner ein groß angelegtes
Schneeballsystem aufgezogen, bei dem die
frischen Anlagegelder seiner renditehungrigen Klienten vor allem dazu dienten, die
Zinsen der Vorgänger zu zahlen und des
Anwalts aufwendigen Lebensstil zu finanzieren.
Nicht nur Reda, auch Mitglieder der
High Society bangten um ihr Geld. Eine
deutsche Adlige hinterlegte am 25. Juli 1994
bei der BHF-Bank fünf Überweisungen
von Gärtner. Die Zahlungen könnten „zur
Zeit mangels Deckung nicht ausgeführt
werden“, teilte ihr die Bank am Tag darauf
lakonisch mit.
Am 27. Januar 1995, dem Tag der Durchsuchung seiner Kanzlei, setzte sich Gärtner
nach Dänemark ab. Erst zweieinhalb Jahre später wurde er auf einem Flug von
Stuttgart nach Hamburg geschnappt, nachdem ihn eines seiner Opfer im Flugzeug erkannt hatte. Im Sommer vergangenen Jahres gab Gärtner eine tränenreiche Vorstellung vor dem Landgericht Düsseldorf. „Ich
war nervlich fertig durch die ständige Hetze, hab nur noch Löcher gestopft“, sagte er
reumütig. Das Gericht verurteilte den geständigen Anwalt wegen Betrugs in 129 Fällen und einer Schadenssumme
von 20 Millionen Mark zu einer
Freiheitsstrafe von vier Jahren
und sechs Monaten.
Strafmildernd wurde gewertet, dass „die Geschädigten es
dem Angeklagten leicht gemacht haben, seine betrügerischen Handlungen zu verwirklichen“. Das Geld der Anleger
ist großenteils verschwunden.
Neben Reda und der Adligen,
die laut Urteil 1,1 Millionen
Mark vermisst, zählt auch ein
prominenter Sportler zum
Kreis der Opfer, er ist mit
140 000 Mark dabei.
Neszmely wurde von den
Düsseldorfer Richtern zwar
als Vermittlerin von Kreditgeschäften für Gärtner bezeichnet. Doch die Dame
tauchte unter und verzichtete
auf ihre Zeugenaussage. Reda
ist sicher, dass ihre ehemalige
Freundin mit dem betrügerischen Anwalt gemeinsame Sache machte.
Inzwischen sitzt Neszmely,
wegen eines anderen Falls, in
Auslieferungshaft in Liechtenstein. Die Staatsanwaltschaft
Koblenz wirft ihr „Beihilfe zur
Untreue des Horst Armbrust“
vor. Der war Bürgermeister der
baden-württembergischen Gemeinde Neckarwestheim und
steckte Steuergelder in Höhe
von 40 Millionen Mark vor allem in Bankgarantiegeschäfte.
Der Dorfschultes hatte den
Einflüsterungen von Anlageberatern getraut, die von
„superreichen Grandmasters“
schwadronierten, die mit Milliardensummen ständig Riesengewinne machen sollen. Armbrust wurde zu achteinhalb
Jahren Gefängnis verurteilt
und hat mittlerweile schon wieder den Singener Seniorenknast verlassen.
Die Gemeinde Neckarwestheim, die durch ein Atomkraftwerk zu viel Geld gekommen
war, sucht immer noch vergebens nach ihren Steuergroschen. „Die Millionen flossen
vermutlich über die Schweiz und Liechtenstein und versiegten dann irgendwo unauffindbar in den USA“, mutmaßte ein ratloser Richter.
Möglicherweise kann Neszmely Genaueres erzählen, wenn Liechtenstein die
findige Untersuchungsgefangene endlich
ausliefert. Bisher hat sie sich auch gegenüber ihrem Koblenzer Pflichtverteidiger
Sven-Ingo Kölzsch nie zu den Vorwürfen
geäußert.
Jörg Mehler, der Anlageberater des Bürgermeisters, hat Neszmely während seiner
Vernehmungen als „treibende Kraft“ hinter den Betrügereien bezeichnet. Mehler
wurde vom Landgericht Koblenz für schuldig befunden, fast 600 Anleger um mehr als
60 Millionen Mark betrogen zu haben, und
sitzt seit mehreren Jahren ein.
Nur das Geld und die Frau im Hintergrund tauchten erneut nicht auf. Neszmely schickte Atteste von Krankenhäusern
in Sibirien, dass sie leider bettlägerig sei
und zu einer Vernehmung nicht anreisen
könne. Tatsächlich war die Dame kerngesund und zur selben Zeit in London unterwegs.
Nun drohen Neszmely in Koblenz mindestens vier Jahre Haft wegen Betrugs.
Doch es wäre ein Wunder, wenn die vielen
Millionen noch einmal auftauchen würden.
Gärtner, Mehler und die anderen bisher
gefassten Ganoven waren plötzlich arm
wie Kirchenmäuse.
Einzig die BHF-Bank gilt den Opfern als
solvente Adresse. Dort hatte Gärtner ein
Konto, und dort ging auch Redas Geld aus
Luxemburg ein. „Ohne deren Mithilfe hätte der Betrug nicht funktioniert“, sagt die
Psychotherapeutin – sie will die Bank deshalb haftbar machen. Einen ersten Teilerfolg hat sie bereits erzielt.
Die Frankfurter Bank hatte am 17. Mai
1994, gut zwei Wochen vor der Überweisung Redas aus Luxemburg, bei der Zentralstelle zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität eine Verdachtsanzeige wegen Geldwäsche erstattet. Das Konto ihres
Düsseldorfer Kunden Gärtner, so schrieb
die BHF-Bank, weise „zahlreiche Besonderheiten“ auf, „die aus unserer Sicht für
das Konto eines Anwalts mehr als untypisch sind“.
Trotzdem war die Bank froh, dass Reda
am 3. Juni ihr Geld auf Gärtners Konto
überwies, das damals deutlich im Minus
war. Dieses Geld stehe der Bank nicht zu,
urteilte im Sommer dieses Jahres das Landgericht Düsseldorf. Es sei davon auszugehen, dass die Bank „den Fremdgeldcharakter kannte oder zumindest kennen
konnte“, heißt es dort. Nach diesem Teilurteil wurden Reda 550 000 Mark plus Zinsen erstattet.
Die Bank will das Urteil anfechten.
Schließlich könnten auch andere Geschädigte auf die Idee kommen, sich bei dem
Kreditinstitut schadlos zu halten.
Christoph Pauly
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Wirtschaft
FOTOS: DANNENMANN
Yello-Zentrale in Köln, Jour fixe im Firmenflur: „Um
Yello-Chef Zerr: „A bissle Datensalat“
STROMKONZERNE
Angriff der Kampfbienen
Nach einer raffinierten Werbekampagne glaubt heute
fast jeder, dass Strom gelb ist. Der Erfolg des Strom-Neulings
Yello hat nicht nur eine Farbe, sondern auch ein
Gesicht: Michael Zerr, 37, der als Praktikant gestartet ist.
D
er Weg zu Yello ist ein Hindernislauf. Ein gigantischer Sandhaufen
versperrt den Weg zum gläsernen
Bürozylinder im Schatten des Kölner TÜVKlotzes. Zwar hängen keine Kabel mehr
aus den Bürodecken wie noch vor ein paar
Wochen. Dafür funktionieren die Aufzüge
wieder nicht.
Und wenn man endlich in der Baustelle
des dritten Stocks den Chef sucht, findet
man einen gemütlichen Schwaben, der sich
gerade mit einem Akku-Rasierer die Bartstoppeln stutzt. Auf den ersten Blick sieht
Michael Zerr, 37, wie der Organist eines gemischten Kirchenchors aus.
Auf den zweiten auch. Und für einen
dritten Blick ist selten Zeit, denn dann ist
der Geschäftsführer des neuen Strom-Vermarkters schon wieder ganz woanders:
auch gedanklich. Er liebt die klassische Antwort an den Taxifahrer: „Bringen Sie mich
irgendwo hin, ich werde überall gebraucht.“
In nur drei Monaten überzeugte Zerr
die Republik davon, dass Strom nicht nur
günstig oder umweltfreundlich, sondern
vor allem gelb ist. 100 000 Neukunden
ließen sich bei Yello bereits registrieren.
130
60 000 bekamen am vergangenen Montag
den ersten „gelben“ Strom. Auch wenn bis
zur letzten Sekunde mit störrischen Stadtwerken wie dem in Cottbus um die
„Durchleitung“ gefeilscht wurde: Der „DDay“ war ein Erfolg.
Nun ist Donnerstag, und beim schnell
anberaumten Jour fixe im Flur umschwäbelt der Chef erste Erfolgsmeldungen
seiner Truppe: „Hey, des isch ja beschtens.“ Wenn einer von „fehlerhafter Kartensortierung“ redet, übersetzt es Zerr mit
„a bissle Datensalat“.
Und wenn die Marketing-Frau Tülin
Yesilgonca von der bevorstehenden „Ethno-Kampagne“ für die 2,1 Millionen Türken in Deutschland berichtet, rutscht er
wie ein aufgeregtes Kind herum, das ein
neues Spielzeug hat. An Zerrs Stuhl zittert
noch das Etikett. Das Hemd quillt ihm da
längst wie eine Weißwurst unterm Westchen hervor. Der Mann steht unter Hochspannung. Ganz klar.
Es geht um Direktvertrieb, Durchleitungsvereinbarungen, Sponsoring und
„KBs“. KBs? Das sind jene Scharen von
schnell eingestellten Kundenbetreuern, die
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nun aus der Yello-Idee, aus diesem virtuellen Werbewitz, ein anfassbares ServiceUnternehmen zaubern sollen. Und weil
sie dafür eine ganze Armada von gelbschwarzen Dienst-Smarts samt Uniformen
bekommen, steht KB intern nur noch für
„Kampfbienen“.
Im Gegensatz zu den „Heuschrecken“,
kleine hungrige Yello-Teams, die von Ende
dieser Woche an ausschwärmen sollen, um
punktuell deutsche Großstädte „gezielt abzuvespern“: mit Werbung, Info-Ständen
und elektrisierenden Shows.
All das klingt nicht nur fröhlich, sondern auch kriegerisch. Der Wettbewerb der
Stromer wird aggressiv geführt: mit Psycho-Tricks und Kundeneinschüchterung,
mit Werbeschlachten, Unterlassungserklärungen und Minischarmützeln.
In der Nachbarschaft hatten die YelloLeute gerade einen Wegweiser an einen
Strommast gehängt. Prompt kam eine Aufforderung, das Schild wieder abzuhängen.
Der Mast gehört dem Kölner Energie-Multi GEW. Da ist das Gelächter groß beim
Jour fixe.
Die Cottbusser Yello-Repräsentantin rief
dagegen weinend in der Zentrale an, weil
die dortigen Stadtwerke ihre Privatnummer herausbekommen hatten und sie am
Telefon drangsalierten. Das ist freier
Markt. 48 Stunden später hatte sie sich wieder gefangen und winkte kampflustig mit
14 neuen Kundenverträgen. Das ist Yello.
Hier fragt keiner nach Arbeitszeiten
oder Mittagspausen. Und wenn es abends
wieder spät wird, lässt Zerr vom Pizzadienst 20 belegte Pappscheiben kommen.
Einmal quer durch die Speisekarte, nicht
nur mit gelber Ananas belegt.
Der Yello-Erfolg hat neben einer Farbe auch drei Väter: Der erste ist Gerhard
Goll, Chef des Karlsruher Strom-Giganten EnBW, dem früh schwante, was da an
freiem Wettbewerb auf ihn und die anderen knarzigen Altmonopolisten zukommen würde.
Das war 1995. Und Zerr kam ihm als
Sparringspartner gerade recht. Der gebürtige Heidelberger hatte Jura und Politik
studiert und ein langweiliges Referendariat absolviert. Früher gab er als Berufswunsch gern „Bürgermeister“ an. Plötz-
Strom zu verkaufen, braucht man keine Netz-Ingenieure“
lich saß er als angejahrter Praktikant in
Golls Vorzimmer. „Hänge Se mal Ihr Mäntele da auf und komme Se mit“, raunte
Goll. Der Praktikant gehorchte und horchte – selbst als Gast bei streng geheimen
Vorstandssitzungen.
Zerr lernte einen Mann kennen, der „so
schroff wie lausbubenhaft“ sein könne. Der
mitunter Freundschaftsbändchen am Handgelenk trägt und bei einem Betriebsfest
schon mal symbolisch eine Stechuhr zerschlägt. Man gefiel sich. Und so durfte der
Junge bald als Leiter der Unternehmensentwicklung versuchen, den Konzern umzukrempeln.
Der Ex-Praktikant war zunächst nicht
viel mehr als ein misstrauisch beäugter
Spinner und Außenseiter. Zerr kannte das
Gefühl aus seiner Schulzeit, als seine Mitschüler ihn wegen des Ruhrpott-Dialekts
ächteten, den er von seiner Essener Mutter
mitbekommen hatte. Damals übte er wochenlang vor dem Spiegel Schwäbisch.
Aber die Ära der Anpassung war vorbei.
Auch wenn ihm in Karlsruhe nicht viel
Das änderte sich erst, als der Düsseldorfer Werber Bernd Kreutz anfing, sich
Gedanken über den Auftritt einer quirligen Vertriebs-Tochter zu machen. Vom
Namen Yello war man noch Lichtjahre
entfernt. 21 Monate ist es her, als Kreutz
dem EnBW-Vorstand seine ersten Ideen
zeigte.
Wochenlang hatte er sich in den Karlsruher Katakomben umgesehen, und das
Schlimmste war, dass er den Geist des provinziell erstarrten Energieriesen haargenau widerspiegelte: in silbrigem Schwarzweiß und mit Sprüchen wie „Gut’s Nächtle, RWE“. Die Entwürfe schwitzten eine Mischung von Minderwertigkeitskomplexen, Blockwartcharme und Zukunftsangst aus. Irgendwann wurde es Zerr zu
dumm. Er sagte, dass er in so einem Unternehmen nicht arbeiten wolle, und fing
an, mit Kreutz und dem eigenen Vorstand
zu streiten.
Nach schier endlosen Grabenkriegen,
Machtkämpfen und Fast-Nervenzusammenbrüchen hatte das Trio Goll, Zerr &
Kreutz Strom nicht nur billig gemacht (19 Pfennig pro
Kilowattstunde bei einem
Grundpreis von 19 Mark pro
Monat). Vor allem war das
Unfassbare plötzlich strahlend gelb. Yello war geboren.
Ohne „w“, weil Kreutz Anglizismen nicht leiden kann.
Einen hohen zweistelligen Millionenbetrag soll das
mächtige Mutterhaus in den
Kreutz-Zug gepumpt haben.
Noch erfolgreicher als die
Werbung selbst war das Medienecho: In nur vier Wochen zählte die gerade erst
Yello-Werbung: Die Konkurrenz wurde rot vor Neid
eingestellte Pressestelle 5300
mehr blieb, als lustige Plastikenten in dem Zeitungs- und Zeitschriftenartikel und
Wassergraben auszusetzen, der den EnBW- 288 TV-Beiträge.
Die RWE waren zwar Anfang August
Sitz umspült.
Warfen die alten Elektro-Verwalter Zerr als erster Anbieter auf die mediale Bühne
vor, dass er „sich aus dem Unternehmen geprescht, jedoch völlig farb- und namenträumt“, schluckte er es. Einer raunte ihm los. Als der RWE-Spross Avanza dann konzu: „Wie gehen Sie damit um, dass 3000 terte, sein Strom sei blau, hatte Zerr die
Leute gegen Sie sind?“ So viele Mitarbei- erste Runde bereits gewonnen. Der Rest
ter hatte der Konzern damals. Zerr ant- der Konkurrenz färbte sich lediglich rot
vor Neid.
wortete: „Schlecht.“
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Die Lage wird langsam unübersichtlich,
denn neben gelbem und blauem Strom
geht es heute auch um grünen: Das ist der,
der nicht nur aus der Steckdose kommt,
sondern aus Sonnen-, Wind- und Wasserkraft.Wie viel davon künftig in Yello steckt,
ist noch fraglich.
Zerr weiß um die Pläne der Grünen, die
für Strom gern eine Kennzeichnungspflicht
durchsetzen würden. Er kennt den Ärger
mit Verbraucherschützern, die vor den einjährigen Yello-Laufzeiten warnen. Und er
hat akzeptiert, dass die Kundschaft trotz
aller Erfolge nicht so wechselwillig ist wie
von manchen erhofft.
Dennoch diskutiert er noch immer weit
leidenschaftlicher über Jean-Paul Sartre
und Gruppenprozesse, Team-Spirit und
Visionen als über die völlig ungeklärten
Regeln auf dem Strom-Markt. Zerrs Geschäftsführer-Kollege Marco Demuth, ein
gelernter Kaufmann und Schlosser, wollte
es irgendwann genau wissen. Also sperrten
sich die beiden einen ganzen Tag lang mit
Kaffeekanne und Flip-Chart ein und diskutierten über Chaostheorie, während
draußen die Praxis tobte.
Bei der Donnerstagskonferenz ist die
Controllerin denn auch die Einzige, die
sich nicht so recht mitzufreuen scheint.
Man ahnt schnell, dass sie in all dem kreativen Chaos noch nicht den Überblick hat,
was sich hier eigentlich controllen lässt,
zumal ihr Chef Führungskräfte eigentlich
nur als „Hüter des Chaos“ ernst zu nehmen scheint. Wie viele Mitarbeiter hat
Yello mittlerweile? 200? 250? Völlig Wurst,
es werden ohnehin jeden Tag mehr.
„Um Strom zu verkaufen, braucht man
keine Netz-Ingenieure“, sagt Zerr und kultiviert die eigene Ahnungslosigkeit. Von
der Materie seines Produkts versteht er bis
heute eher wenig. Über den Grundkurs bei
einer Kollegin kam er nie hinaus. In einer
Karlsruher Bahnhofskneipe kritzelte sie
ihm einst alle notwendigen Details auf eine
Papierserviette – von der deutschen Verbundwirtschaft bis zu Watt und Volt.
„Widerstand wird in Ohm gemessen“,
grinst sein Sprecher. „Ach ja, genau“,
lacht Zerr.
Für Leute wie diesen gutmütigen
Schlaks bleibt der Weg das Ziel. Und wenn
das Ziel – 1,3 Millionen Yello-Kunden in
den nächsten zwei, drei Jahren – tatsächlich erreicht werden sollte?
Er lächelt und fängt an, von seinem Bruder zu erzählen, der heute als Architekt in
Berlin lebe. Schon als Kind habe der sich
tagelang mit seinen Bauklötzen beschäftigt. Ihn selbst habe man dagegen immer
schnell „von einem Spielzeug zum nächsten“ locken können.
Am Donnerstagabend war die gewaltige
Sandkiste vorm Yello-Palast übrigens wieder verschwunden. Die Bagger hatten einen
ersten Schotterweg planiert, der den gläsernen Eingang endlich passierbar macht.
Zerr fand das fast schade.
Thomas Tuma
131
Werbeseite
Werbeseite
Medien
Trends
FERNSEHEN
„Big Brother“
auf RTL 2
N
FOTOS: C. B. v. FLYMEN / HOLLANDSE HOOGTE (gr.); B. FRIEDLANDER ( kl.)
achdem sich RTL 2 mit gepierctem
Gummi-Kanzler und bumsfidelen
Ballermann-Reportagen ein leidensfähiges Publikum heranerzogen hat, will der
Pfui-TV-Sender nun mit der deutschen
Version der holländischen Überwachungsshow „Big Brother“ für Quote sor- „Big Brother“-Produktion in Holland
gen. Die Luxemburger Bertelsmann-Tochter und RTL-2-Miteignerin CLT-Ufa fürchtet aber offenbar Turbulenzen: RTL2-Geschäftsführer Josef Andorfer soll nun dafür sorgen, dass die Würde der Kandidaten geachtet wird und gegebenenfalls Modifikationen erfolgen – so die Anweisung aus Luxemburg. Für die Sendung werden die Kandidaten drei Monate
lang in ein Camp gesperrt und rund um die Uhr von Kameras überwacht. Die
Show-Fabrik Endemol hat das Format bereits international vermarktet. Hier zu
Lande zeigten nicht allzu viele Sender Interesse. „Dieser pure Voyeurismus
passt nicht zu unserem Anspruch“, heißt es bei Pro Sieben in München. Auch
Sat 1 hält das Format für „wirtschaftlich unsinnig“, weil man über einen kurzen
Zeitraum nur eine sehr spezielle Zielgruppe erreiche. Die Kosten pro TV-Folge
sollen bei rund 180 000 Mark liegen.
SEXPRESSE
T V- A K T I E N
Steile Kurven
Stars im Börsenboom
ie Bauer-Illustrierte „Praline“ ist das erste Medium in Deutschland,
das sich selbst durch seinen Internet-Auftritt überflüssig machen
könnte. Während sich die Auflage der Sexpostille seit Jahren im Sinkflug
befindet und zuletzt auf ein historisches Tief von 243 386 verkauften Exemplaren fiel, erfreut sich die Internet-Seite des Sexblatts steigender Beliebtheit. Im September wurden über fünf Millionen BesuInternet-Nutzung und Heftverkauf
che von Nutzern gezählt, die
sich an kostenlosen Angeboten
Besuche bei „Praline
5
wie „Dessous Spezial“ oder
interaktiv“ in Millionen,
„Sexy Bundesliga“ delektiermonatlich
4
ten – im Vorjahresmonat waren es nicht mal eine Million.
Die Einnahmen für „Praline3
Interaktiv“ stammen aus Werbebannern und zusätzlichen,
2
kostenpflichtigen Diensten.
Das Angebot im Internet er1
stellen nur drei Redakteure;
für die darbende Printausgabe
0
380
arbeitet eine rund 20-köpfige
Redaktion. Der Bauer-Verlag
dementiert allerdings Absich340
ten, die Print-„Praline“ trotz
der Auflagenverluste einzustellen. „Das sind zwei völlig un300
terschiedliche Zielgruppen“,
Quelle: IVW
verkaufte „Praline“-Hefte
sagt eine Sprecherin – zudem
in Tausend
260
sei der Anzeigenumfang im
Vergleich zum Vorjahr um 21,5
1997
1998
1999
Prozent gestiegen.
d e r
s p i e g e l
C
omedy-Star Anke
Engelke („Wochenshow“) will wie
Stefan Raab und andere TV-Künstler von einem Börsenerfolg der
Brainpool TV profitieren. Die Riege teilt sich
ein Aktienpaket von
fünf Prozent der Kölner Produktionsfirma,
die am 22. November
an die Börse geht und
ihren Wert auf 200 Millionen Mark taxiert.
Über ein Family-andFriends-Programm sowie Mitarbeiteraktien
können sich die TVStars zusätzlich einEngelke
decken. Über den
Kurserfolg bestimmen sie selbst: So spielt Anke Engelke Mitte Januar die Hauptrolle in der neuen Sat1-Serie „Anke“, die dem US-Erfolg „Ally McBeal“
nachempfunden ist – eine Fortsetzungsgeschichte
mit Comedy-Elementen. Gemeinsam mit Brainpool
hat Engelke für solche Werke die Produktionsfirma
Ladykracher TV GmbH gegründet; auch Raab unterhält ein solches Joint Venture. Und demnächst
wollen die TV-Größen Bastian Pastewka und Ingo
Appelt dem Beispiel folgen.
4 5 / 1 9 9 9
ACTION PRESS
D
133
Medien
Die Welt ist gemein
36
7 Tage – 7 Köpfe
34,8
RTL, freitags 22.15 Uhr
34
32
30
28
31,9
Ritas Welt
RTL, freitags 21.45 Uhr
27,6
TV Total
D PA
26 Pro Sieben, montags 22.20 Uhr
24. Sept.
1. Okt
15. Okt
29. Okt
W
enn auf RTL Gaby Köster als Supermarktschlampe die männlichen Dumpfbacken niedermacht und
anschließend Jochen Busse und Rudi
Carrell in „7 Tage – 7 Köpfe“ blödeln,
hat es die Konkurrenz schwer: Freitag ist Jokustag, die Comedy hat an
diesem Tag die Macht übernommen und erzielt hohe Quoten
bei den jüngeren Zuschauern.
Stefan Raab („TV Total“) gelingt dies am Montag: Fast ein
Drittel der Jungen sehen ihn
auf Pro Sieben.
PROJEKTE
Geschichten aus der Geschichte
D
FOTOS: AKG (re. o.); FOTEX ( li. u. ); BPK (re. u.)
er deutsche Fernsehzuschauer
muss sich auf immer mehr Movies
mit historischen Stoffen einstellen.
Besonders solche Produzenten, die –
wie die mittelständische Kölner
Queen Victoria (um 1897)
Gulliver-Verfilmung (1995)
134
Blödeln ohne Ende
Angaben in Prozent; Zuschauer von 14 bis 49 Jahren
I
n unserer Welt der Werbung, PRund Marktkommunikation gibt es
immer wieder neue Ideen, zunächst
unwillige Kunden unter Druck zu
setzen. Von der einfachen Drückerkolonne bis zum Internet-Marketing
reicht das weite Feld der Überzeugungsarbeit. Die neueste – und zugleich älteste – Methode der Welt
praktiziert die linke „Tageszeitung“
(„taz“), die sich wieder einmal kurz
vor dem Untergang befindet. Woche
für Woche droht sie ihren treuesten
Lesern mit Selbstamputation, falls die
bundesweit verstreuten Alpha-Müslis nicht ganz, ganz
fix und in ausreichender Zahl
Abos ordern sollten: Mal gibt es
keine Überschriften – bäh! –, mal
soll ein Solardach,
das Allerheiligste der rotgrünen
Jungs & Mädels, mit dem bösen
Hämmerchen eines frustrierten Umwelt-Redakteurs zertrümmert werden – klirr! –, mal droht man an, die
beliebten Comics des hauseigenen
Zeichners Tom durch grafisch verunglückte Weltbilderrätsel von Günter
Grass zu ersetzen. UUrrgghh, ätsch,
die Welt ist so gemein!
Seit es Mamis gibt, die der Kleinen
nicht schon wieder ein Eis kaufen
wollen, wird geplärrt, aber auch gedroht: Gut, dann zerschneide ich
eben mein Konfirmationskleid und
bin nie wieder lieb. Nie wieder. Doch
während es bei der „taz“ vielleicht
schon helfen würde, ein bisschen
mehr Professionalität walten zu lassen, können andere Medien von dieser Aktion Marke „Wir sind auch nur
eine kleine irre Sekte“ durchaus etwas lernen. So könnten die Einschaltquoten von Sendungen wie „Peep!“
und „Strip!“ weiter nach oben getrieben werden, wenn die Protagonisten
der Enthüllung mit Rollkragenpullover und Cordhose drohten. Harald
Schmidt könnte ankündigen, dass seine Gags ab sofort von Rudolf Scharping geschrieben werden, und Klaus
Bednarz, der TV-Rächer von „Monitor“, zöge seine womöglich schärfste
Waffe: Entzug der Strickpullover.
Wenn nichts mehr hilft: schwarzer
Bildschirm. Das haben wir nun davon.
QUOTEN
Marktanteile von Comedy-Sendungen
d e r
s p i e g e l
FFP-Entertainment – die allzu große
Abhängigkeit von inländischer Auftragsproduktion überwinden wollen,
verlegen sich auf das internationale
Geschäft mit Geschichten aus der Geschichte. Den Grund für
die Beliebtheit des Blicks
zurück sieht FFP-Marketing-Mann Gerd Koechlin
vor allem in den USA. Dort
seien historische Miniserien
besonders gefragt, und
auch die Deutschen mögen
das Spiel mit dem Alten,
wie der Erfolg von „Arche
Noah“ auf RTL beweist.
FFP, im Inland als Lieferant
des ZDF mit RosamundePilcher-Filmen bekannt,
beteiligt sich gleich an
mehreren internationalen
Historien-Projekten: an einer neuen Verfilmung von
Napoleon (Gemälde, 1805)
Gullivers Reisen, an der
Lovestory zwischen Queen
Victoria und ihrem Mann
Albert und an einer weiteren Liebesgeschichte zwischen einer US-Journalistin
und einem verheirateten
Armee-Colonel aus der
Zeit der Berliner Blockade.
Auch Napoleon soll mit Beteiligung von FFP verwurstet werden: Es geht um die
Kontakte des verbannten
Empereurs mit der neugierigen Tochter des Gouverneurs von St. Helena. Alle
diese Werke sollen ins deutsche TV kommen.
„Rosinen-Bomber“ (1948)
4 5 / 1 9 9 9
Fernsehen
Vorschau
für Cobra 11“, „Der
Clown“) drehte einen
handfesten, vor allem halbwegs verständlichen Abenteuerfilm mit einem Bonnie-und-Clyde-Pärchen
(Yvonne de Bark, Sven
Martinek), feuerroten
Action-Szenen und sogar
einem Hauch von Witz:
Bevor ein Gangster einen
Kumpel liquidiert, entschuldigt er sich: „Das ist
nicht persönlich gemeint.“
Einschalten
Dinosaurier (1)
Donnerstag, 20.15 Uhr, Pro Sieben
Die Saurier werden immer traulicher:
Mussten sie bei Steven Spielberg
(„Jurassic Park“) noch
als Monster herhalten,
so stellt sie diese durch
und durch computeranimierte, 18 Millionen
Mark teure BBC-Serie
als Tiere vor, die jeder
Safaribesucher antreffen kann (SPIEGEL
43/1999). Das Filmteam
machte auf fünf Kontinenten Aufnahmen von
Dino
Landschaften, die denen der Dino-Zeit ähnlich sein könnten. Zeitlupenaufnahmen vom Gang
realer Nashörner und Elefanten wurden studiert, um die Computer-Urviecher möglichst echt schreiten zu
lassen. Ein bisschen pervers: Der moderne Mensch überschlägt sich nicht
gerade für die Erhaltung der lebenden Tiere. Nur am Computer herrscht
Ehrfurcht vor den Geschöpfen.
Bienzle und
die blinde Wut
Sonntag, 20.15 Uhr, ARD
De Bark, Martinek in „Der Träumer …“
Der Träumer und das wilde Mädchen
– Hetzjagd durch Deutschland
Sonntag, 20.15 Uhr, RTL
So hyperhysterisch, wie der Titel dieses
Films androht, ist das Movie zum Glück
nicht. Das Action-Concept-Team um
Stunt-Spezialist Hermann Joha („Alarm
Der Spätzle-SherlockHolmes (Dietz Werner
Steck) hat schon seit mehreren Folgen Kummer mit
seiner Freundin (Rita Russek). Bienzle, der sonst so
professionell die Mörder
jagt, vermag die Trennung nicht zu
überwinden. Auch diesmal steht die
unaufgeräumte Beziehungskiste inmitten der sehenswerten Ermittlungen
(Buch: Felix Huby, Regie: Hartmut
Griesmayr), die der Kommissar in der
schwäbischen Provinz führt.
Ausschalten
Frei wie die Vögel
Montag, 22.35 Uhr, West III
Sie rühren die Bongotrommeln und
lassen am Lagerfeuer den Joint kreisen. Wer den Film von Arnd Güttgemanns über junge Menschen sieht,
die in der Nähe von Darmstadt in
Wohnwagen auf städtischem Wald-
Darmstädter Wohnwagenbewohner
gelände hausen, der könnte meinen, die
Flower-Power-Schauerzeiten des Hippietums seien noch nicht gut abgehangene
Vergangenheit. Besonders der Psychosprech vom „Offenerwerden“, der den
Wohnwäglern über die Lippen geht, erinnert an die holde alte Lockenzeit.
Freilich gilt die im Titel dieser Doku beschworene Freiheit
nicht für den Autor,
der sich vor nostalgischer Verklärung hüten sollte. Er wäre
verpflichtet, über die
Schattenseiten des jugendlichen Zigeunerlebens zu berichten,
von denen es in den
Statements reichlich
Andeutungen gibt.
Stattdessen malt der
Film lieber im naiven
Schwarzweiß und bietet dickwanstige
Schrebergärtner auf,
die über die Zäune ihrer Parzellen gartenzwergige Verdammund e r
s p i e g e l
4 5 / 1 9 9 9
gen der Jungsiedler („Schmutzfinken“) zu Protokoll geben. Wie das
Wohnwagenleben im Winter vor sich
geht, wie interne Schwierigkeiten
aussehen und wie die sanitären Probleme (kein Wasseranschluss) bewältigt werden – darüber schweigt des
Autors Freundlichkeit.
Schrei – denn ich werde dich töten!
Mittwoch, 20.15 Uhr, RTL
Die Steigerung von Thriller heißt
nicht am Schrillsten. Genau das aber
betreibt dieser Gruselfilm (Buch: Kai
Meyer, Regie: Robert Sigl). Schüler
bereiten des Nachts in ihrer düsteren
Penne einen Abiturstreich vor. Da
wird im Kartenraum mächtig mit Taschenlampen herumgefunzelt. Zugleich meuchelt der große Unbekannte mit einer Schere Schüler nieder. Ist
der Mörder ein Irrer, ein Pauker oder
der Gärtner? Eigentlich egal: Denn
bei so übertriebenem Willen zum
Schrecken stirbt die Spannung. Selbst
eine so begabte Darstellerin wie Katharina Wackernagel („Tanja“) geht in
dem Blut- und Budenzauber unter.
135
Medien
B O U L E VA R D - P R E S S E
„Wir müssen den Zoo füllen“
E. HERBST
Eine neue Generation von Klatschreportern kämpft mit den Widrigkeiten des
Geschäfts: Was einst eine anspielungsreiche Lektüre war, ist unter dem Konkurrenzdruck
der Medien zur Massenware verkommen – Boulevard banal.
„Abendzeitung“-Reporter Hächler
Als Mann fürs Pikante annonciert
A
n diesem Abend lässt sich der Mann
aus den Bergen nicht aus der Fassung bringen. Nicht mal von der
„Bild“-Reporterin, die sich im Hinterzimmer einer Fernseh-Show redlich darum
bemüht.
Wann er das letzte mal beim Friseur gewesen sei, will sie von Reinhold Messner
wissen, welches Shampoo er in seine „Petrus-Mähne“ reibe und warum seine Hände so sauber sind. „Ich hätte gedacht, dass
Menschen, die Dinge tun wie Sie, schmutzigere Fingernägel haben“, sagt sie – aber
anstatt zu antworten, starrt ihr Messner
nur abwesend ins Dekolleté.
Viel dürfte der „Bild“-Leser also nicht
über den prominenten Bergsteiger erfahren – außer, dass ihm der Name seines
Haarwaschmittels entfallen ist, woraus sich
immerhin eine kleine Geschichte über die
Nebenwirkung dünner Luft stricken ließe.
Schließlich hofft man bei „Bild“, mit einem
gehörigen Schuss gaga die Klatschkolumne
auf der letzten Seite neu zu beleben. Dafür
hat man seit wenigen Wochen eine Frau
abgestellt, die sich in der Vergangenheit zu
hunderten von Titelseiten-Pin-ups zotige
Prosa ausdachte: „Bimmel bammel, jetzt
kann der Förster kommen.“
Semantisch nicht unähnlich füllt die
„Miezen-Dichterin“ („Zeit“) nun täglich
ihre Kolumne. Mal ortet sie in den Armen
eines Adligen „Frischfleisch“, dann wieder
* Mit Jenny Elvers (2. v. l.), Heiner Lauterbach, Helmut
Dietl, Birgit Stein beim Deutschen Filmball im Januar.
136
d e r
ruft sie einen „neuen Befruchtungstrend in
Deutschland“ aus. Auch die Freunde oraler Details kommen bei der ausgebildeten
Zahnärztin auf ihre Kosten: Im Falle des
TV-Komikers Hape Kerkeling diagnostizierte sie ein „riesiges Loch hinter dem
linken Eckzahn“, in Boris Beckers Mundhöhle sah sie gar „das Zäpfchen schwingen
– dingdong!“
Die Klatschkolumne als Comic-Ersatz
voll drollig-harmloser Episoden: „Ich will
die Leute anpieken, aber nicht so, dass sie
bluten“, sagt Katja Keßler. „Es bringt ja
nichts, wenn ich mir mit dem Flammenwerfer eine Bresche brenne.“
Auch bei der Münchner „Abendzeitung“ – für die einst der legendäre Klatschreporter Hannes Obermaier alias „Hunter“ die Schwabinger „Langusten-Liga“
observierte – operiert seit kurzem eine
neue Kraft. In Anzeigen wurde den Lesern
Boris Hächler als Mann fürs Pikante annonciert, der sich auf den Partys weniger
um das Auf- als das Unter-dem-Tisch kümmern soll.
Von derartiger Respektlosigkeit jedoch
ist bislang wenig zu spüren. Stattdessen
outete sich der ehemalige Sport-Reporter
als Frauenfreund, der sich auf der Wiesn an
den tief ausgeschnittenen Dirndln ergötzt
und die „unerreichbare Diva“ Sophia Loren im Exklusiv-Interview um „das Geheimnis ihrer Schönheit“ bittet. „Wenn
man frisch dabei ist, gibt man den Leuten
eben nicht gleich auf die Kappe“, sagt
Hächler.
Eine neue Generation von Pragmatikern
drängt in die Klatschspalten – und ihr Beruf hat mit dem Glamour-Job vergangener
Tage nur noch wenig zu tun.
„Aus Angst vor Sozialneid oder gar Entführungen wird heute lieber hinter verschlossenen Türen gefeiert – oder eben gar
nicht“, klagt Marie Waldburg, Gesellschaftskolumnistin der „Bunten“ und zuvor jahrelang für die „Abendzeitung“ an
der Feten-Front. „Viele Veranstaltungen
finden nur noch statt, weil die Leute für ihr
Produkt trommeln wollen.“
Tatsächlich besteht das Gros der Termine mittlerweile aus PR-Nummern wie
Filmpremieren oder der Einführung eines
„Bunte“-Kolumnistin Waldburg (r.), Partygäste*
Wenig Salz, viel Suppe
s p i e g e l
4 5 / 1 9 9 9
neuen Parfums. Selbst Börsenemissionen
oder der Geburtstag eines Privatsenders
werden als glamouröse Events vermarktet.
Die Zeit der wilden Partys ist vorbei –
bei denen irgendwann die Hälfte der Gästeschar im Pool landete und massenhaft
„Girls von der Sorte Super-Knacker“ als
„Spielknabenfutter mit der Concorde herbeigechartert“ wurden, wie einst Michael
Graeter notierte.
Graeter war einer der großen in der
Klatschreporter-Szene, der in seiner HochZeit vom bloßen Chronisten selbst zum
Star der Society wurde, in dessen gut besuchtem Café so mancher Promi um üble
„Bild“-Klatschreporterin Keßler
„Immer größere Mistkugeln“
leuten auf ihn, um die menschelnde Geste
in Ton und Bild festzuhalten.
„Der Bedarf an Prominenz ist enorm gestiegen“, sagt die Ex-„Bunte“-Chefin Beate Wedekind – um all die Seiten zu füllen,
werde jede Mini-Story zur Schlagzeile hochgejazzt. „Früher war der Klatsch das Salz in
der Suppe, heute ist es nur noch Suppe.“
Aus reinem Selbsterhaltungstrieb
schreibt die Branche öde PR-Veranstal-
tungen zur Super-Gaudi um, bei der die
Stimmung wieder mal „blendend“ war,
„der Wodka-Lemon gut gemixt“ („Gala“)
und die mitternächtliche „Gulaschsuppe
heiß begehrt“ („Bunte“). Dabei fällt die
Stimmung immer öfter auf den Nullpunkt,
weil sich auf mancher Party genauso viele
Journalisten wie Gäste einfinden und
stramm aneinander vorbeireden. „Was hat
sich bei dir optisch getan“, fragte neulich
eine Zeitungsreporterin die verdutzte
Schauspielerin Sonja Kirchberger. Antwort:
„Ich war beim Friseur.“ Soso.
Alles wird gebraucht, um die Spalten zu
füllen. So weiß „Bild“-Frau Keßler von düsteren Tagen zu berichten, an denen der
Schlagersänger Jürgen Drews am Telefon
schildert, wie sich seine Freundin im Sexshop die Brustwarzen versengt hat, oder
der Freund von Susan Stahnke berichtet,
dass es eigentlich nichts zu berichten gibt –
außer, dass man noch nicht wisse, wie man
Silvester verbringen werde. „Doch selbst
wenn man die Mistkugel immer größer
dreht, bleibt es Mist“, erkannte Keßler.
Da die wirklich Wichtigen hinten und
vorne nicht reichen, werden die Naddels
dieser Welt rückstandslos verwertet: Erst
tauchen sie in „Bild“, „Gala“ oder „Bun-
S. BRAUER
E. HERBST
Nachrede bat. Dem Regisseur Helmut Dietl
diente Graeter sogar als Vorbild für die
Fernsehserie „Kir Royal“ – was ihn aber
nicht davor bewahrte, vor zwei Jahren von
der „Bunten“ vor die Tür gesetzt zu werden, weil er seine Party-Dossiers nicht redigieren lassen wollte. Der eitle Graeter
witterte „Enteierung“ und klagte.
Es scheint, als habe er seine Funktion
überschätzt. Aus seinem immer mal wieder
angekündigten Comeback – ob nun im
Fernsehen oder im Internet – ist bislang
nichts geworden, und vielleicht hat das sogar sein Gutes. Schließlich schwant ihm,
dass der Berufsstand schon bessere Tage
sah: „Selbst die Windsors sind inzwischen
vertrocknet.“
Auch sonst haben sich die Arbeitsbedingungen für die Nachfolger von Baby Schimmerlos verschärft. Weil keine Zeitung auf
ihren Gesellschaftsteil verzichten will, kein
buntes Blatt ohne „Leute“-Rubrik erscheint
und im Fernsehen etliche Starmagazine um
Zuschauer buhlen, ist das Gerangel um jede
noch so kleine Sottise riesengroß. Als der
ehemalige Wimbledon-Gewinner Michael
Stich auf dem diesjährigen Sport-Presseball
eine Kerze entflammte, stürzte sich ein
ganzer Tross aus Fotografen und Kamera-
Medien
te“ auf, später landen sie nackt bei „Playboy“ oder „Max“, schlussendlich winkt
eine Karriere als Talkshow-Dauergast oder
Moderatorin bei RTL 2.
„Weil sich die Leute, die was zu sagen
haben, zurückziehen, sucht man sich halt
Unterhaltungschef Manfred Meier entscheidet, wer in der „Bild“die, die jeden Schmarrn mitmachen“, sagt
„Bunte“-Reporterin Waldburg. Den schrulZeitung gut wegkommt – und wer nicht.
ligen Schneider Rudolph Moshammer zum
Beispiel, der auf Geheiß der Fotografen
ngefangen hat alles beim Italie- kleiner Runde schon mal einräumt,
sein Schoßhündchen apportiert und abner. Manfred Meier saß gerade „dass Verona wie ein Picasso ist, Nadbusselt.
mit Mario Adorf beim Wein, als del dagegen wie ein selbstgemaltes
„Die Latte für das gesellschaftliche Enihn eine „Bild“-Reporterin anrief und Bild“.
Ein bisschen Dealen gehört zum Getree wird immer niedriger gehängt, aber
erzählte, dass der Schlagerproduzent
mit irgendwelchen Leuten müssen wir den
Dieter Bohlen seine Ehefrau verprü- schäft, weswegen es Meier auch fast
Zoo ja füllen“, klagt eine Reporterin des
gelt habe. Das sei, erinnert sich Meier, lächerlich findet, sich für seine guten
RTL-Magazins „Exklusiv“, dessen Front„eine Art Watergate“ gewesen – „da Beziehungen zu den Promis rechtfertifrau Frauke Ludowig längst selbst zum Medenkt man in Dimensionen von wo- gen zu müssen. Zum Schauspieler Heiner Lauterbach etwa, mit dem er schon
diendarling geworden ist.
chenlangen Schlagzeilen“.
Erschwert wird der Job auch durch die
Es wurden Jahre. Lückenlos doku- im Sandkasten spielte, später an den
Klagefreudigkeit der Promis, für die findimentiert der Unterhaltungschef von Frauen herumbaggerte und dem er vor
ge Anwälte jede Zeile auf juri„Bild“ seitdem Verona Feldbuschs Aufstische Relevanz abklopfen.
stieg von der geprügelten Ex-MissKein Wunder, dass die VerlagsGermany zur kultverdächtigen TV-Moherren verstärkt darauf achten,
deratorin – zuletzt mit dem erschöpdass ihre Angestellten nicht zu
fenden Abdruck eines „geheimen Taübermütig werden. „Wir haben
gebuchs“. „Ohne ,Bild‘ gäbe es Verona
die Möglichkeit, auf Partys in
schon gar nicht mehr“, staunt Dieter
der ganzen Welt zu gehen, da
Bohlen. Unterhaltungschef Meier
können wir es uns ruhig mit ein
räumt immerhin ein, dass sie ohne das
paar Leuten verscherzen“, hatBlatt „wohl kein so großer Star“ gete der „Gala“-Reporter Tom
worden wäre.
Junkersdorf bei seinem DienstDoch nun ist erst mal Schluss mit
antritt vor einem Jahr forsch
Verona, schließlich war die Tagebuchgetönt und zum Beweis gleich
Nummer nicht gerade ein durchschladie „Bambi“-Verleihung des
gender Erfolg, und außerdem nerven
Burda-Verlages als „ganz schön
Meier die Gerüchte. Obwohl: „Auch „Bild“-Stratege Meier: Watergate beim Wein
zähen Braten“ verrissen.
wenn es an den Haaren herbeigezogen
Nach Verstimmungen auf höchster Ebeist – es gibt schlimmeres, als dass einem vier Jahren – nachdem er bei „Bild“
ne gilt Junkersdorf inzwischen als domesein Verhältnis mit Verona Feldbusch Unterhaltungschef geworden war –
androhte: „Jetzt kommen die ganzen
tiziert. Nun lobt er nicht nur fremde Feste,
nachgesagt wird.“
sondern besonders schön die eigenen. So
Macht macht halt sexy, und mächtig Enthüllungen über dich.“ Was natürdurfte anlässlich eines Gesangswettbeist Meier: Jeden Tag entscheidet der lich nur ein Spaß war.
Weniger spaßig finden es allerdings
werbs im beschaulichen Gütersloh fast die
Promi-Macher der Nation, wer zwölf
komplette Bertelsmann-Führungsriege auf
Millionen „Bild“-Lesern als Star ver- manche, dass Meier zuweilen die Enteiner Doppelseite durchs konzerneigene
kauft wird und wer nicht. Auch den hüllungen anderer Kollegen aus dem
Blatt marschieren. Auch bei Burdas „BunSchlagersänger Guildo Horn brachte er Blatt wirft. So liegt in der Chefredakte“ wird ein schlichtes „Focus“-Fest gern
mit einer solchen Penetranz auf die Ti- tion seit zwei Jahren ein böser Brief
mal zum Top-Event hochgejauchzt.
telseite, dass es plötzlich wirklich wich- von Manuela Waalkes, der geschiedeImmerhin hält sich die „Bunte“ noch
tig war, ob „dieser Mann für Deutsch- nen Frau des Komikers Otto, in dem
sie sich darüber beklagt, dass ein Inden Klatsch-Dino Paul Sahner, der seine
land singen darf“ oder nicht.
Gesprächspartner stets mit einer RechtsMeier entscheidet auch, wer in die terview mit ihr nicht erschienen ist –
links-Kombination aus Kumpeltum und
Liste der „20 erotischsten Frauen der ein Interview, in dem der von „Bild“
Psychoanalyse überrumpelt. Zuletzt bohrWelt“ kommt, die „Bild“ neulich wie heiß geliebte „Ostfriesen-Blödel“ nicht
te er solange bei Steffi Grafs Exfreund, bis
einen Countdown herunterzählte und allzu gut wegkam und das dem damadie Illustriertenseite mit Tragisch-Komidie vor allem ein Kriterium kannte – ligen Chefredakteur Claus Larass vielleicht gerade deshalb gefiel. Stimmt,
schem gefüllt war. „Die meisten freuen sich
Meiers persönlichen Geschmack.
direkt, wenn sie mal jemand richtig ins GeMit einer Ausnahme: Ungefähr bei sagt Meier, das habe er aus dem Blatt
bet nimmt“, wundert sich Sahner über die
Nummer zwölf meldete sich Dieter geworfen – „weil es eine Ansammlung
lasche Konkurrenz.
Bohlen und fragte nach, ob denn seine von Un- und Halbwahrheiten war“.
Denn Otto kennt Meier mindestens
Die kümmert es zuweilen nicht mal, ob
Lebensgefährtin Naddel gar nicht mehr
jemand schon tot ist. So glaubte „Abendin der Liste auftauche. Das aber wäre so gut wie Lauterbach oder Verona –
zeitung“-Reporter Hächler bei der Verleischade, schließlich habe die gerade vom Florida-Urlaub oder von durchhung des bayerischen Fernsehpreises den
ein „Playboy“-Shooting absolviert, und zechten Nächten auf Sylt. Im nächsten
verstorbenen Schauspieler Siegfried Lodie Bilder könne „Bild“ gern vorab Otto-Film hat Meier gar eine Nebenrolwitz erkannt zu haben. Die nekrophilen
verbreiten. „Die Fotos waren wirklich le – „um mal zu sehen, wie das hinter
Zeilen erreichten allerdings nur wenige Leganz gut“, sagt Meier, obwohl er in den Kulissen ist“.
Oliver Gehrs
ser – in der Spätausgabe waren sie verschwunden.
Oliver Gehrs
Der Promi-Macher
R. FROMMANN / LAIF
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Werbeseite
Werbeseite
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Werbeseite
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Medien
JOURNALISTEN
„Die Streitkultur ist unterentwickelt“
ACTION PRESS
Das Moderatoren-Duo Bodo Hauser und Ulrich Kienzle (ZDF) über
politischen Journalismus, die Tricks der Parteien und das Ende von „Frontal“
TV-Jounalisten Kienzle, Hauser: „Wir erleben eine gewisse Plattierung“
SPIEGEL: Was gibt’s Neues, Hauser?
Hauser: Wir wundern uns, dass die Mel-
dung über das Ende unserer Sendung im
Dezember 2000 Wellen schlägt. Wir haben
immer gesagt, wenn Kienzle in Pension
geht, ist Schluss.
Kienzle: Das steht seit 64 Jahren fest. Man
soll aufhören, wenn es am Schönsten ist.
SPIEGEL: Dann hätten Sie das 1993 gestartete Magazin „Frontal“ vielleicht schon
längst aufgeben sollen – die Einschaltquoten sind seit einiger Zeit gesunken.
Kienzle: Früher hatten wir zwischen vier
und fünf Millionen Zuschauer, heute
zwischen drei und vier Millionen. Aber
das geht allen politischen TV-Magazinen
so, die Landschaft ist zersplittert geworden.
Hauser: Heute nennt sich jede Sendung mit
mehr als zwei Beiträgen Magazin. Wir erleben eine gewisse Plattierung.
SPIEGEL: Ist nicht auch das Links-RechtsSchema der Doppelmoderation antiquiert
– der rote Kienzle kritisiert die Schwarzen,
der schwarze Hauser immer die Roten?
Kienzle: Zu behaupten, es gäbe keinen Unterschied mehr zwischen links und rechts,
halte ich für Quatsch.
142
Hauser: Im Gegenteil – der Unterschied
kommt immer stärker heraus. Das Schlechteste, was uns beiden passieren kann, wäre
eine Große Koalition.
SPIEGEL: „Frontal“ etablierte eine neue
Fernsehform, den gesendeten Dauerkonflikt zweier Streithähne, die das letzte Wort
und den besten Gag für sich reklamieren.
Dabei sind alle Dialoge vorgeschrieben.
Hauser: Na und? Das geht aus fernsehtechnischen Gründen gar nicht anders. Die
n-tv-Moderatoren Erich Böhme und Heinz
Eggert wollen es live mit einem lustigen
Zwiegespräch besser machen – und verstören die Zuschauer damit jede Woche.
Kienzle: Die Geschichte lebt davon, dass
die Pointe sitzt und die Kamera es mitbekommt. Wir sitzen Stunden vor der Sendung mit dem Autor Stephan Reichenberger zusammen und schreiben die Texte.
Ohne ihn gebe es „Frontal“ nicht mehr, er
ist bei unseren Streitereien der Katalysator.
SPIEGEL: Politiker sind heute vor allem in
Talkshows präsent, etwa bei Sabine Christiansen in der ARD. Nehmen Ihnen die
Talkmaster die Arbeit ab?
Kienzle: Die Christianisierung des TV- Journalismus hat dazu geführt, dass sich die
d e r
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Politiker aussuchen, wo sie hingehen.
Sie wählen Sendungen, in denen sie es
leicht haben und nicht aggressiv gefragt
werden.
Hauser: Wir planen derzeit ein „Kreuzfeuer“-Interview, in dem wir beide gezielt
Politiker befragen. Schießen wir volles
Rohr, müssen wir diesen Teil eventuell wieder aufgeben, weil keine Gesprächspartner mehr kommen. Schon heute haben wir
öfter als früher Absagen von der Regierung, etwa von Scharping und Riester.
Kienzle: Zur bayerischen Bau- und Bankenaffäre haben wir auch nur den politischen Stuntman von Stoiber bekommen,
den Staatskanzleichef Huber.
SPIEGEL: Woher kommt der Wandel des
Politischen im deutschen Fernsehen?
Kienzle: Aus den USA. Präsident Clinton
war der erste, der Journalisten bewusst gemieden hat. Seinen ersten Wahlkampf
führte er fast ausschließlich über Talkshows. Das hat verblüffend gut funktioniert – die Fragen dort konnte er leicht parieren. In Deutschland hat Hans Meiser in
den Wahlkämpfen 1994 und 1998 solche
Talkshows auf RTL hoffähig gemacht.
Hauser: Die Streitkultur ist hier zu Lande
unterentwickelt – wir haben nicht gelernt,
in der Sache hart zu diskutieren, ohne dass
wir verfeindet auseinander gehen.
Kienzle: Die Politiker haben früher auf böse
Fragen spontan wütend geantwortet, etwa
als der damalige CSU-Chef Franz Josef
Strauß 1972 die „Monitor“-Interviewer
Claus-Hinrich Casdorff und Rudolf Rohlinger minutenlang als „miese Verlierer“
von der SPD beschimpfte. Das hatte hohen
Unterhaltungswert. Inzwischen antworten
die Politiker kurz und nur, was sie wollen.
Hauser: Es gibt eine neue Politikergeneration, wie man an Kohl und Schröder sieht.
Wenn beim jetzigen Kanzler eine harte
Frage kommt, nimmt er die weich weg. Da
wäre Kohl hochgegangen und hätte den Interviewer beleidigt.
SPIEGEL: Bestimmen also PR-Profis im Hintergrund die politische Tagesordnung?
Hauser: Ja, und trotz der vielen Spin doctors können Fehler passieren, etwa als
Schröder nach der unappetitlichen Gummipuppensatire im RTL-2-Sexmagazin
„Peep“ persönlich protestierte. Mit solchen
Bockigkeiten verhindert er doch nichts.
Kienzle: Das ist symptomatisch – es werden
keine harten Fragen mehr gestellt, sondern
man trifft Politiker mit der Gummipuppe.
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Hauser: Du bist nur neidisch auf
Gerhard Konzelmann, weil er
mehr Bücher verkauft hat.
Kienzle: Quatsch. Aber wenn einer im Heizungskeller des Süddeutschen Rundfunks steht und
dabei angeblich von einem Öltanker mit den Worten „Unter
mir schwimmen 300 000 Liter
Öl“ berichtet, hat das mit Journalismus wenig zu tun.
SPIEGEL: Was halten Sie von der
Machart traditioneller Polit-Magazine? Immerhin wollten Sie
den „Sektenjournalismus“ aufbrechen.
Kienzle: Na ja, das bezog sich eher auf Gerhard Löwenthal, der mit seinem „ZDF-Magazin“ in den Siebzigern eine Zuschauerquote von fünf Prozent erreichte – das war
damals eine Kunst. Wir wollen sowohl Linke als auch Rechte ansprechen.
Hauser: Löwenthal hat auch Zeiten hoher
Quoten erlebt. Er war halt im ZDF das Gegenstück zu „Kennzeichen D“ mit Hanns
Werner Schwarze. Heute gilt, dass ein
Moderator nicht nur mit erhobenem Zeigefinger am Pult sitzen darf. Der Vorteil unserer Kombination ist, das wir Sachen sagen können, die jedem von uns als
Einzelmoderator nicht erlaubt würden.
Da stünde ich permanent vor dem Fernsehrat.
DPA
Die Standards sind durcheinander gekommen.
SPIEGEL: Gibt es eine Degeneration der politischen Kultur im
Fernsehen?
Hauser: Es gibt Mangelerscheinungen. Früher habe ich die Vorstellung gehabt, dass Politik von
erfahrenen Leuten bewertet
wird. In den USA ist daher im
Nachrichtengeschäft kaum jemand unter 50. In Deutschland
aber hat man den Eindruck, es
dürften Personen im Fernsehen
kommentieren, die gerade der Talk-Masterin Illner: „Am Anfang zu viel gefragt“
Volontärsschulung entsprungen
sind. Immer mehr Leuten auf dem Bild- SPIEGEL: Dafür hat diese Sendung einen
schirm fehlt die Glaubwürdigkeit – die Sen- Riesen-TV-Skandal hervorgebracht – etliderchefs meinen, 30-jährige TV-Journalisten che gefälschte Filme des Produzenten
würden 30-jährige Zuschauer anlocken.
Michael Born liefen dort.
SPIEGEL: Wie stark hat die Einführung des Hauser: Dieser Fall, den wir enttarnt
Privatfernsehens die Landschaft der poli- hatten, hat für eine Art hygienische
tischen Magazine verändert?
Säuberung gesorgt. Heute sind alle
Kienzle: Von den Privaten ist beschämend vorsichtiger: Die vielen freien Produktiwenig gekommen. Als der Springer-Verlag onsfirmen können mit harter, aufwendibei „Newsmaker“ auf Sat 1 Susan Stahnke ger Recherche nun mal kein Geld verzur Moderatorin machte, hat sich die Sen- dienen.
dung als politisches Magazin verabschie- Kienzle: Solche Affären gab es schon vor
det. Frau Stahnke ist ein Meinungsmanne- dem Privat-TV. Ich hatte als Nahost-Korquin und keine gestandene Journalistin.
respondent der ARD einen Vorgänger, der
Hauser: Oder nehmen Sie Jauch: Der hat sich in den siebziger Jahren ein Märchenaus „Stern-TV“ eine Talkshow gemacht, reich aufgebaut hatte. So etwas ging jahrelang in der ARD durch.
das ist doch kein Magazin mehr.
DPA
Kienzle: „Monitor“ mit Klaus
Kienzle: Es geht um politische
Bednarz halte ich beispielsweiAnalysen zu Persönlichkeiten,
se für sehr glaubwürdig. Die hadenen wir aus lauter Boshaftigben nicht viel geändert, machen
keit jeweils ein Rezept zuordgute Stücke und schlagen zu.
nen, etwa zu Lafontaine „SalVon „Report München“ dagetimbocca – Spring in den
gen wird man nie erleben, dass
Bund“. In dem Werk zeigen wir
sie kritisch mit der CSU umgedie Rehabilitation des Knobhen. Und „Panorama“ mit Palauchs, ein bei den Nazis vertricia Schlesinger beweist, dass
hasstes jüdisches Gewürz. Die
Frauen im politischen Journalis68er haben aus Protest das
mus etwas erreichen können.
Knoblauchbrot erfunden.
Hauser: Es spricht der Macho
Hauser: Ich habe geahnt, dass die
Kienzle.
68er etwas erreicht haben.
Kienzle: Der aufgeklärte Macho, Talk-Masterin Christiansen, Gast*: Wunschsendung von Politikern SPIEGEL: Herr Kienzle, Sie verHauser, das unterscheidet uns.
kündeten einst: „Ich habe den
SPIEGEL: Ist auch ZDF-Moderatorin May- chern. Worin besteht der Sinn, Fernseh- libanesischen Bürgerkrieg überlebt, ich
werde auch Hauser überleben.“ Haben Sie
brit Illner – sie hat wochenlang Kienzle Dialoge einfach abzudrucken?
bei „Frontal“ ersetzt – ein Erfolgsbei- Hauser: Wir haben uns dagegen ausge- Schäden erlitten?
spiel?
sprochen, aber der Verlag wollte es so. Ich Kienzle: Ganz ohne Schaden komme ich
Hauser: Sie ist eine nette Kollegin. Zu- frage mich auch, wer das kauft, es sind aber aus der Sache nicht raus.
nächst hat sie in ihrer neuen Talkshow dennoch viele.
Hauser: Es gab Verletzungen. Einmal ist
„Berlin Mitte“ zu viel gefragt – im Bestre- Kienzle: Solange die Leute das lieben, ist es Kienzle vor der Sendung mit dem Auto abben, besser als Christiansen zu sein. Ihr in Ordnung. Ich glaube, wir haben einen gehauen. Ich habe ihn mit dem alten Weh„Frontal“-Einsatz hat aber auch gezeigt, bestimmten Stil etabliert. Neulich begrüß- ner-Spruch zurückgelockt: „Wer rausgeht,
dass unser Modell mit Kienzles Pensionie- te mich jemand auf der Straße mit den muss auch wieder reinkommen.“
rung definitiv zu Ende ist. Ich musste mit Worten: „Mein Kollege und ich streiten Kienzle: „Frontal“ wird ein einmaliges Exihr ganz anders reden als mit Kienzle, aber uns wie Hauser und Kienzle.“
periment bleiben. Dauerhaft kann eine solsie hat es gut gemacht.
SPIEGEL: In Ihrem neuen Buch „Küchen- che Redaktion schwer funktionieren, weil
Kienzle: Die konntest du nicht so anranzen kabinett“ vermengen Sie sogar Kochen mit zu unterschiedliche Meinungen aufeinander prallen. Ehrlich gesagt: Wir sind erfolgPolitik.
wie mich.
reich gescheitert.
SPIEGEL: Parallel zur TV-Karriere haben
Sie Ihr Rezept vermarktet, etwa in Bü- * Mit Ex-SPD-Chef Oskar Lafontaine am 10. Oktober.
Interview: Oliver Gehrs, Hans-Jürgen Jakobs
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DALLAS MORNING NEWS
Medien
Schauspieler Habeeb, Anwalt Goldstein: „Wir erheben den Zuschauer zum Allwissenden“
R E A L I T Y- T V
Eifersucht als Entertainment
Neues TV-Spektakel aus Amerika: Ein Scheidungsanwalt jagt
Ehebrecher, mit Detektiven und versteckter Kamera.
Die turbulenten Turtelszenen sollen Millionen begeistern.
E
vor allem eines aufzeichnen wird: eine
mächtige Tirade von Schimpfworten.
Denn mittlerweile ist Marks Ehefrau
herangestürmt, Mutter von vier gemeinsamen Kindern. Sie reißt die Wagentür auf
und beginnt mit ihrer Abrechnung: „Sechs
Jahre lang habe ich dir Hurensohn meinen
Arsch hingehalten, jede Nacht“, brüllt sie
in das Wageninnere, „und nun treibst du es
mit dieser Schlampe.“
Solche Szenen sind eine „wunderbare
Erfahrung“, findet der texanische Anwalt
Bobby Goldstein, dessen Mannschaft die
nächtliche Begegnung aufgezeichnet hat:
FOTOS: B. GOLDSTEIN
s ist Nacht über dem einsamen Parkplatz am Rand der texanischen Großstadt Dallas. Mark und seine neue
Freundin haben es sich auf der Vorderbank
ihres Chrysler-Kombis gemütlich gemacht,
sie haben erkennbar Spaß. So viel, dass
der Wagen mächtig ins Schaukeln gerät.
Plötzlich ist es vorbei mit dem Vergnügen. Scheinwerfer leuchten auf, schwarz
gekleidete Männer springen heran. Auf den
Schultern tragen sie Kameras, mit ihren
Linsen zoomen sie durch die Scheiben. Einer stopft ein Mikrofon durchs halb geöffnete Fenster, das in den nächsten Minuten
„echtes menschliches Drama“
voller roher Gefühle. Wenn
alles planmäßig weitergeht,
will er das Stück von Mark
und seinen Frauen demnächst
auf die Bildschirme von ein
paar Millionen amerikanischen Haushalten abstrahlen.
Das nächtliche Techtelmechtel und ähnliche Darbietungen
sollen eine neue Fernsehserie
füllen: „Cheaters“, ein Detektiv-Magazin über Ehebruch,
heimliche Flirts und verbotenen Sex.
Die Sendung ist die neueste Kreation im Land des unbegrenzten Fernsehvoyeurismus, in dem es eigentlich alles
schon zu geben schien: kaum
ein Eheproblem, das nicht seine eigene Talkshow hatte,
kaum ein Schluchzer, der nicht
von einer Nachrichtenkamera
aufgezeichnet wurde. Nun
sollen auch noch die letzten
Grenzen des Privaten fallen:
Goldstein, 42 Jahre alt, will den Ehebruch
zum Entertainment machen.
Wie sehr solche Szenen die Zuschauer
zu fesseln vermögen, zeigt das Beispiel des
Schauspielers Hugh Grant, der weltweit für
Schlagzeiten sorgte, als er mit der Prostituierten Divine Brown in Los Angeles erwischt und verhaftet wurde. Dem Advokaten Goldstein dämmerte es vor einigen Jahren während eines Seitensprungs. Er habe
panische Angst bekommen, so erzählt er, dass
seine Frau plötzlich zur Tür hereinstürme.
Nun redet der bullige Texaner davon,
wie es ist, selbst ein Jäger zu sein, „wie ein
wildes Tier, das eine Herde Gazellen
treibt“. Dazu hat sich der Mann, der seine
Erfahrung in zwischenmenschlichen Beziehungen als Scheidungsanwalt sammelte,
eine schräge Mixtur aus Spielfilm und Realität erdacht. Die Requisiten dafür könnten
aus einem schlechten Krimi stammen.
Der Rächer der Gehörnten ist Detektiv
Tommy Gunn, gespielt von Goldsteins
Partner, dem Schauspieler Tommy Habeeb.
Gunn raucht Marlboro, trinkt Jack Daniels
und prescht mit einem schwarzen Ford
„Detektiv“ Gunn interviewt betrogene Ehefrau
Der Ehemann trifft sich mit seiner Geliebten
„Cheaters“-Demonstrationsband: „Wie ein wildes Tier, das eine Herde Gazellen treibt“
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Die betrogene Ehefrau konfrontiert ihren Mann
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Medien
REUTERS
Mustang unermüdlich durch das quadraSchon vor der ersten Ausstrahlung ist in
tische Straßengeflecht von Dallas. Sein Ar- US-Talkshows eine heftige Debatte um das
beitstag beginnt immer dann, wenn die neue Format entbrannt. Während Goldanderen ins Bett gehen: Dann jagt er die stein sich als Künstler versteht, ein Maler,
Herzensbrecher dieser Welt.
„der mit den Farben des Lebens malt“,
Gunn ist eine Fiktion, seine Aufträge halten ihn andere für einen Alptraum der
sind real. Jeder, der sich von einem Partner späten neunziger Jahre. „Dies ist die niedhintergangen fühlt, kann in der Cheaters- rigste Form von Fernsehen, die jemals in
Zentrale anrufen. Ein Team von richtigen diesem Land produziert wurde“, entrüstet
Detektiven übernimmt den Fall, oft sind es sich eine Briefschreiberin im Internet.
Ex-Polizisten. Sie spüren den Ehebrechern
Amerikanische TV-Manager zögern
nach und nutzen dafür, was der Markt an noch. Seit sie von empörten Eltern zu
Überwachungstechnik
Mitverantwortlichen für
zu bieten hat: getarnte
Schießereien an SchuKameras, Infrarotfilme,
len erklärt werden,
versteckte Mikrofone.
sind sie vorsichtiger geWenn alles aufgeworden.
zeichnet ist, kommt es
Erst im Frühjahr hatte
zum „Bust“, dem Höheein Gericht die Veranpunkt des Dramas: Der
stalter der „Jenny Jones
betrogene Partner stellt
Show“, berüchtigt für
den Sünder, in flagranti
unvorbereitete Begegund vor laufenden Kanungen vor laufender
meras. Den Rest erledigt
Kamera, zu 25 Millionen
Goldstein am SchneideDollar Schadensersatz
tisch: Szenen einer Affäverurteilt. Ein 26-jährire, aufbereitet wie ein
ger Talkgast hatte drei
Spielfilm, Pausen für die
Tage nach der Sendung
Werbung inklusive.
einen Schwulen er„Reality-TV wie nie
schossen, der ihm im
Studio seine Liebe gezuvor“ verspricht Goldstanden hatte. Der Prostein seinem zukünftigen
duzent hat gegen das
Publikum. Damit nie- Schauspieler Grant*
Urteil Berufung eingemand auf den Gedanken Weltweit für Schlagzeilen gesorgt
legt.
kommt, es ginge ihm
Unklar ist auch, wie die Gerichte einen
möglicherweise nur ums Geldverdienen,
hat er sich eine feine Philosophie zurecht- anderen Punkt behandeln würden: Goldgelegt: „Wir erheben den Zuschauer zum stein versucht von allen Beteiligten die GeAllwissenden“, sagt er: „Er schaut den nehmigung dafür zu bekommen, die AffäMenschen zu, wie es nur Gott sonst kann.“ re auszustrahlen. Wenn sie mit der UnterWas Gott sich auf dieser Welt so ansehen schrift zögern, muss Goldstein den Ehemuss, hat Goldstein schon im Archiv. Über brechern das Einverständnis schon mal ab20 turtelnden Paaren sind seine Leute kaufen – „je besser die Szene, je höher die
nachgestiegen, wo immer die sich unbeob- Summe“, sagt er.
Besonders hervorgetan haben sich die
achtet wähnten: in schummrigen Bars oder
am Flussufer, im Gebüsch oder auf der Pioniere des neuen Formats im Entertainment bisher noch nicht. Habeeb schlug sich
Rückbank eines Autos.
Sie filmten, wie die blonde Elaina ihren mit Nebenrollen in unbedeutenden FernFreund Hampton mit einem jungen sehserien durchs Leben, Goldstein als AdMädchen betrügt. Sie folgten dem ver- vokat, der gelegentlich Schlagzeilen in eizweifelten Dustin, der vor seiner Verlo- gener Sache produzierte: Im letzten Jahr
bung feststellen musste, dass sich seine verurteilte ihn ein Richter zu 100 Millionen
Freundin mit seinem Bruder vergnügte. Sie Dollar Schadensersatz, eine der höchsten
drehten, wie ein schwuler Partner seinen Summen, die jemals in einer unteren InFreund mit anderen Männern hinterging. stanz festgesetzt wurden. Der Anwalt soll
Sie filmten Tränen, Verwünschungen und laut Urteil seine Pflichten in einem Scheidungsverfahren vernachlässigt haben.
manchmal auch eine Prügelei.
Wann Goldstein mit seinen Szenen aus Goldstein hat sich anschließend mit der
dem Leben auf Sendung gehen kann, ist al- Gegenseite auf eine weitaus geringere
lerdings noch nicht ganz klar. Der Texaner Summe verglichen.
Doch Goldstein gehört zu jenen Menverspricht einen baldigen Start im amerikanischen TV, auch deutsche Fernsehma- schen, die mehr auf der Erde zurücklassen
nager seien interessiert. In seinem Studio, wollen als einen Stapel Akten. „Ich bin ein
einem abgeräumten Kino in einem herun- Höhlenmensch“, sagt der Affärenjäger, „ich
tergekommenen Industriegebiet von Dal- kritzle auf die Wände, was sich hier so ablas, sieht es allerdings noch aus wie in ei- spielt.Wenn sich Historiker in tausend Jahren unsere Bänder ansehen, werden sie sanem Möbellager.
gen: Seht, wie die damals miteinander umgingen.“ Mathias Müller von Blumencron
* Nach seiner Festnahme im Juni 1995.
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FOTOS: WDR
Medien
„Hin und weg“-Darsteller Schüttler, Brühl: Kinder haften für ihre Eltern
FERNSEHSPIEL
Pfeile ins
wilde Herz
„Hin und weg“ – ein präzise
inszenierter ARD-Fernsehfilm
beschreibt die Liebe zwischen
ausgestoßenen Jugendlichen.
S
üßer Vogel Jugend – wie schön das
klingt, wie unverdrossen er in der
Werbung aufflattert, wie gern ihn die
Alten durch die Erinnerung fliegen lassen.
Doch die holde Jugendzeit, wo Jünglinge errötend auf den Fluren den Spuren der
Mädchen hinterhersteigen, war wohl schon
immer kaum mehr als eine Projektion. Viele der süßen jungen Vögel von heute jedenfalls haben lädierte Flügel, sind früh
aus dem Nest gefallen, und das Verbotsschild vor Baustellen erleben sie umgekehrt: Kinder haften für ihre Eltern.
Natascha und David, die Helden des
WDR-Films „Hin und weg“ – an diesem
Mittwoch 20. 15 Uhr Höhepunkt der ARDReihe „Wilde Herzen“ – , sind solche gerupften Geschöpfe. Das Mädchen kommt
aus einer tristen Vorstadtgegend, der Junge wohnt immerhin in einer Villa, aber die
Eltern haben jedem der beiden jungen
Menschen schwere Lasten auf die Schultern gelegt: Nataschas Mutter und Davids
Vater sitzen im Knast.
Beim Besuch im Gefängnis lernen sich
das Mädchen und der Junge kennen, aber
nach Amour fou und rauschendem SichVerlieben sehen die Begegnungen nicht
aus. Beide müssen Hypotheken, die ihre El154
„Hin und weg“-Szene
Liebe gegen List
tern hinterlassen haben, bezahlen: Natascha versorgt, so gut es geht, den kleinen
Bruder und muss ihm vorspielen, die Mutter sei verreist.
Der Junge aus der Villengegend sieht
sich gezwungen, die krummen Geschäfte
seines Erzeugers fortzuführen: Eine kostbare Figur, den von Pfeilen durchbohrten
heiligen Sebastian, soll David in Amsterdam verkaufen, um mit dem Erlös einen
gefährlichen, vom Vater einst betrogenen
Gangster zufrieden zu stellen.
Mit Sinn für dramatische Verwicklungen schürzt das Drehbuch (Franz Liersch)
die Knoten zum Liebesabenteuer dieser
Habenichts-Königskinder. Die Chancen,
dass sich beide finden, sind gering. Das
Wasser erscheint viel zu tief, als sich Natascha und David zur Reise nach Amsterdam aufmachen, um den Heiligen zu Geld
zu machen.
Denn da sind nicht nur jede Menge Dunkelmänner, die den beiden den Weg zum
Geld versperren – ein Glück, dass Natad e r
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scha in japanischer Kampfsporttechnik
geübt ist. Belastender wirkt sich der innere Schweinehund aus. Das Mädchen will
falsch spielen. Es möchte mit Hilfe seines Freundes Body, einem vierschrötigen
Nichtsnutz aus dem Wohnsilo, das Geld an
sich bringen, um die ebenso durchgeknallte wie betrügerische Mutter aus dem Gefängnis auszulösen. Die betrogene Tochter,
eine Geisel des Generationsgefüges, fühlt
sich gezwungen, selbst zur Betrügerin zu
werden.
Was sich nun zwischen dem nichts ahnenden Romeo und seiner unoffenen Julia
entwickelt, hebt diesen Film über andere
hinaus. Mit psychologischer Genauigkeit
inszeniert Hanno Brühl die Brüche in den
Gefühlen des Mädchens, wenn die Liebe
die List überlistet, und umgekehrt, wenn
das Kalkül das Herz besiegt.
Mit Katharina Schüttler, 20, steht dem
Regisseur für diese Gratwanderung eine
Jungdarstellerin zur Verfügung. Sie versteht es, ohne die Panzerungen mimischer
Routine selbst aus den vertracktesten emotionalen Zwickmühlen herauszukommen.
Glaube, Hoffnung, Liebe haben es nicht
leicht auf ihren fast kahl wirkenden Gesichtszügen. Ihr minimalistisches Minenspiel spiegelt die Herbheit eines zu kurz gekommenen Kindes wieder, dessen Enttäuschung, aber auch dessen Stolz.
Das Drehbuch schafft auch Romeo,
der vom 21-jährigen Sohn des Regisseurs,
Daniel Brühl, gespielt wird, immer wieder gute Gelegenheiten, die Dialektik
von Selbstbewusstsein und Kindlichkeit,
Anhänglichkeit und Verletztheit vorzuführen.
Auch wenn am Ende die Liebe siegt:
Diese Kinder sind sehr einsam. Die Eltern
haben ihnen nicht geholfen, und den höheren Mächten traut das Liebespaar auch
nicht recht über den Weg. Zwar lässt sich
David am Ende für seine betrugsanfällige
Natascha, dem heiligen Sebastian gleich,
von Gangsterbuben quälen, aber das bei
RTL so beliebte und platt beschworene
Walten religiösen Bimbams im Hintergrund gibt es in diesem Film glücklicherweise nicht.
Angesichts der Heiligenfigur bekennt
Natascha, dass sie nur „an Kohle glaubt“.
Für die würde sie auch sterben, aber dann
fällt sie sich selbst ins Wort: „Scheiße, dann
hätt ich ja nichts davon.“ So nüchtern, so
treffend und nicht unkomisch kann es zugehen im deutschen TV-Movie, selbst im
Gespräch über die letzten Dinge.
„Hin und weg“ ist ein Beispiel, dass das
Gute oft so nah liegt. Brühl ist fest angestellter Regisseur beim WDR, der Sender
produzierte selbst. Die Sebastianspfeile
treffen mitten ins Wilde Herz. Die Zeiten
der künstlichen Schrittmacherei, mit der in
dieser ARD-Reihe möglichst alles im Rhythmus der neuen deutschen Komödie schlagen sollte, scheinen vorbei: Der Zuschauer
ist dankbar.
Nikolaus von Festenberg
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Gesellschaft
Szene
FOTOGRAFIE
Mit den Füßen träumen
er argentinische Tango vereint
selbst extreme Empfindungen
scheinbar mühelos: Er bietet den Tanzenden ein Spektrum von heiterster
Ausgelassenheit bis zur tiefsten Trauer,
von zur Schau gestellter Frivolität bis
zu erlittener Tragik, und der Zuschauer
versucht, in dieses Wechselbad intensiver Gefühle einzutauchen. Um seine
Entstehung im 19. Jahrhundert ranken
sich Mythen, und seine Lieder sind dem
Schriftsteller Jorge Luis Borges zufolge
eine „weit gespannte Comédie humaine
CORBIS SYGMA
D
Model Crawford
ÄSTHETIK
Die Schöne beschützen
Tangotänzer
des Lebens von Buenos Aires“. Die Fotografen Tina Deininger, 46, und Gerhard Jaugstetter, 43, zeigen in einem
Fotoband („Tango – Leidenschaft in
Buenos Aires“) eine Typologie der Tangotänzer, vom alten Profi, der die Kunst
beherrscht, „mit den Füßen zu träumen“, bis zum lernwilligen Teenager.
Die Bilder zeigen den Tango als eine
Ausdrucksform, in der sich Sex nicht allein mit Jugend verbindet, sondern mit
Lebenserfahrung, mit tanzend erzählten
Geschichten.
SPIEGEL: Frau Etcoff, Sie behaupten, unsere Kriterien für
Schönheit seien biologische. Weshalb
ist das so?
Etcoff: Es gibt eine weltweite Übereinstimmung: Schön ist, was auf Jugend,
Gesundheit und Fruchtbarkeit hinweist.
SPIEGEL: Zum Beispiel?
Etcoff: Bei Männern breite Schultern,
schmale Hüften. Bei Frauen eine Sanduhr-Figur und sehr feminine Gesichtszüge, also große Augen, eine kleine
Nase, ein zierliches Kinn, alles, was den
Unterschied zwischen den Geschlechtern betont. Dickes Haar und glatte
Haut gelten als schön, sind aber auch
Zeichen von Gesundheit.
SPIEGEL: Wählen denn Frauen ihre Männer nach Schönheitskriterien?
Etcoff: Nicht allein natürlich. Neuen Untersuchungen zufolge variiert das Schönheitsideal von Frauen je nach Zyklus-
DESIGN
Rostige Kannen
B
unt bemalte Emaillevasen aus Ostasien, türkisfarbene Plastikseifenhalter aus Osteuropa oder Klobürsten
aus Mexiko: Die Produktpalette, die der
Düsseldorfer Lukas Plum, 36, für seinen
O.K.-Versand aus aller Welt nach
Deutschland schafft, hat nichts gemein
mit dem, was Touristen üblicherweise
Artikel des O.K.-Versands
als Andenken aus der Ferne mitbringen.
Statt für landestypische Handarbeiten
interessiert sich der frühere Kunststud e r
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phase. In den fruchtbaren Tagen
bevorzugen Frauen männliche
Männer mit Muskeln und breiten Schultern, den Rest der Zeit
eher feminine Gesichtszüge.
SPIEGEL: Hat Schönheit auch
Schattenseiten?
Etcoff: Ein schöner Mensch
braucht die Bestätigung, dass
man ihn nicht allein deswegen liebt. Er
weckt Beschützerinstinkte, aber auch
Besitzgelüste. Es gibt eine US-Studie, in
der Männern Fotos von schönen Frauen
gezeigt wurden, mit der Bitte, Fragen,
was sie für diese Frau tun würden, spontan zu beantworten. Die Männer zeigten
sich sehr hilfsbereit. Die Frage, ob sie
der Schönen in einer Notlage Geld geben würden, verneinten sie aber oft.
SPIEGEL: Vielleicht einfach aus Geiz?
Etcoff: Nein, das beweist, dass die Männer die Unabhängigkeit der schönen
Frau nicht wollen. Denn hätte sie diese,
käme sie vielleicht nicht mehr zurück.
SPIEGEL: Wen finden Sie schön? Cindy
Crawford?
Etcoff: Ich favorisiere eher Menschen,
die ich kenne. Aber die Models sind
schon hübsch anzusehen.
J. BAUER
US-Psychologin Nancy Etcoff,
44, Autorin des Buches „Survival of the Prettiest“ (Das
Überleben der Schönsten) über
ihre Thesen zum Thema Evolution und gutes Aussehen
dent für industriell gefertigte Alltagsgegenstände, laut Plum „Design ohne Designer“. Nach dem Boom des qualitativ
Hochwertigen erwartet er jetzt eine
Konsumphase, in der sich die Leute an
skurriler bis abstruser Gestaltung erfreuen. So wird auch im Katalog des
Versands eingeräumt, dass die Blechkannen aus Südasien innen etwas angerostet sind und dass die Installation der
aus Osteuropa stammenden Elektroartikel auf eigenes Risiko erfolgt.
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Gesellschaft
DROGEN
„Uns hassen doch alle“
Sie wollen ihren Anteil am Kuchen der Wohlstandsgesellschaft: schwarze Jugendliche,
die nicht arbeiten dürfen und deren Abschiebung bevorsteht.
Mit Rauschgifthandel ziehen die Afrikaner Wut und Ablehnung auf sich. Von Bruno Schrep
E
FOTOS: R. JANKE / ARGUS
Mit den 400 Dollar finanziert er seine
s gibt Menschen, deren bloßer An- waffnete Männer packten ihn und seinen
Flucht. Wie er bis nach Deutschland geblick die Bewohner des Hamburger älteren Bruder, schleppten be ide mit.
Sammy stammt wie viele der schwarzen langt ist, verrät er nicht, denn das könnte im
Schanzenviertels in Raserei versetzt.
„Raus mit ihnen“, fordert der griechi- Drogenhändler aus Sierra Leone. Dort tob- Asylverfahren gegen ihn verwendet wersche Weinhändler. „In der Sahara ausset- te bis vor kurzem ein Bürgerkrieg zwi- den. Mit dem Flugzeug? Per Schiff? Über
zen“, ergänzt ein altehrwürdiger Hambur- schen Regierung und Rebellen, dessen die Grenze eines Nachbarstaats wie Polen?
ger Ladenbesitzer. „Mit der Kalaschnikow Fronten längst nicht mehr erkennbar wa- „Es war ein langer Weg“, sagt Sammy.
draufhalten“, phantasiert der
türkische Friseur. „Auschwitz
wieder eröffnen“, empfiehlt der
graubärtige Gast in der deutschen Eckkneipe.
Der Hass richtet sich gegen
junge Männer. Manche sind 17,
18 oder 19 Jahre alt, einige noch
keine 16, beinahe Kinder. Sie
kommen aus Afrika. Sie haben
Asyl beantragt. Sie verkaufen
Rauschgift.
Sie dealen in aller Öffentlichkeit mit Kokain, mit Haschisch
und Marihuana. Jeder kann zusehen – in Hamburg und in anderen deutschen Großstädten.
„Ameisen“ heißen sie in der
Drogenszene oder auch „Frontschweine“. Die Weißen im Viertel sagen: „Koks-Neger“. Sie
sind die Letzten beim Milliardengeschäft mit illegalen Drogen: Sie verteilen kleinste Mengen an die Süchtigen.
Sammy gehört zu den Älteren,
ist fast 20. Schon um zehn Uhr an Asylbewerber Tom: „Ich weiß, dass Drogenhandel Sünde ist“
diesem Montagmorgen geht er
Kurz nach elf Uhr kommt der erste
vor dem Eingang des S-Bahnhofs Stern- ren. Beim Kampf um die Macht in der
schanze auf und ab. Obwohl die Sonne Hauptstadt Freetown und um die Diaman- Süchtige: ein junger Mann auf Krücken,
scheint, friert er, hat den Kragen seiner grell- tenminen terrorisierte eine enthemmte Sol- das linke Bein wegen Spritzenabszessen
bunten Jacke hochgeschlagen. In seinem dateska die Bewohner mit Folter, Mord bandagiert. Sammy kennt ihn, gibt ihm ein
Mund verbirgt er vier in Stanniol ver- und Verstümmelung, über die Hälfte der Zeichen, winkt ihn zu einer unübersichtliBevölkerung wurde obdachlos.
chen Stelle, greift blitzschnell in den Mund.
schweißte Kügelchen Kokain.
Die Männer, die Sammys Eltern töteten Sekunden später humpelt der Süchtige daSammy schaut sich nach Kunden um.
Aus der Bahn, die gerade angekommen und ihn rekrutierten, sind Rebellen. Sie ge- von. Gesprochen wird kein Wort.
Wenig später stoppt ein großer Merceist, stürmen jedoch nur ein paar eilige ben ihm ein Sturmgewehr, eine AK-47,
Passanten. Dahinter schlurft ein Obdach- zwingen den damals 15-Jährigen, mit ihnen des, direkt an der Haltestelle der Buslinie
loser, in der einen Hand eine Plastiktüte, zu kämpfen. Bei Überfällen auf entlegene 181. Der Fahrer, das Gesicht hinter einer
in der anderen eine geöffnete Flasche Dörfer muss er schießen: auf unbewaffne- Sonnenbrille versteckt, kurbelt die Scheibe herunter, hebt drei Finger, streckt kurz
Bier. Als er an Sammy vorbeikommt, te Zivilisten, auf Frauen, auf Kinder.
Nach acht Monaten flieht er während die Hand aus dem Wagen. Wieder wird
spuckt er aus.
Der Afrikaner guckt weg. Hass ist er ge- eines Gefechts mit Regierungssoldaten. kein Wort gesprochen.
Gegen Mittag ist plötzlich John da, älter
wohnt, wenn seine Geschichte so stimmt – 400 Dollar, die er sich nach und nach zuwas er beteuert: Als er im April 1995 in sammengestohlen hat, versteckt er in ei- als Sammy, ebenfalls aus Sierra Leone. Sein
seinem Heimatort von der Schule kam, war nem Schuh. Zu Fuß und per Anhalter Gesicht verrät Nervosität und Misstrauen.
sein Elternhaus abgebrannt,Vater und Mut- schlägt er sich bis in den Nachbarstaat Er sieht aus, als hätte er seit Jahren nicht
mehr gelacht. In seinem Heimatort hackten
ter lagen erschossen in den Trümmern. Be- Guinea durch.
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Rauschgiftdeal vor dem Hamburger S-Bahnhof Sternschanze: „Clever wie Bergziegen“
die Rebellen Männern, die ihnen nicht folgen wollten, die Unterarme ab. John sah
die Verstümmelten, bei einigen hatten die
Rebellen die abgetrennten Gliedmaßen zusammengebunden und ihren Opfern um
den Hals gehängt. Seitdem macht sich John
keine Illusionen mehr.
Dass er in Deutschland gescheitert ist, hat
ihn noch mehr verbittert. Er wurde nicht als
politisch Verfolgter anerkannt, ebenso wenig
wie die meisten aus jenen westafrikanischen
Ländern, wo es nach den Standards der
deutschen Behörden keine Verfolgung gibt.
Der Traum, er könne sich hier zum Automechaniker ausbilden lassen, erwies sich als
völlig unrealistisch. Er wird noch geduldet
und bekam die befristete Erlaubnis, zwei
Stunden täglich für eine Zeitarbeitsfirma
Büros zu schrubben.
John hat über ein Dutzend schwarze
Männer mit zum S-Bahnhof gebracht, die
auf seine Anweisungen hören. Lärmende
junge Burschen mit bunten Baseballmützen und Turnschuhen, ausgelassen und angespannt zugleich.
Manche schwenken Bierdosen, trinken
sich Mut an. Andere rauchen Gras. Sie
schwärmen aus in den angrenzenden Park,
in die benachbarten Straßen, bilden kleine
Gruppen, zischeln Vorübergehenden zu:
„Want someting?“
Khaled ist dabei, ein schlaksiger Junge
mit giftgrüner Schildkappe, darunter ein
Kindergesicht. Er fährt ständig die Rolltreppe zur S-Bahn hoch und runter, führt
da ein Verkaufsgespräch, mischt sich dort
in Verhandlungen ein, wird geholt, wenn es
Verständigungsprobleme gibt.
Kokaindealer Sammy: „Es war ein langer Weg“
Khaled ist erst 15, lebt in einer Jugendwohnung. Bevor er mit Marihuana dealt,
geht er zur Schule. Heute hat er gerade
eine Deutscharbeit zurückbekommen,
Grammatik. Stolz zeigt er die Note, eine
Drei minus.
Als er von Guinea nach Hamburg kam,
war er gerade 13. Die Geschichte, die er auf
dem Ausländeramt erzählte, hat dort niemand geglaubt: Seine Eltern seien tot, sein
Onkel und einziger Verwandter, ein hoher
Militär, sei bei der Regierung in Ungnade
gefallen und sitze im Gefängnis. Er selbst
habe gerade noch fliehen können.
Die Beamten stufen Khaled als eines jener afrikanischen Kinder ein, die von ihren
Angehörigen auf gut Glück und ganz allein
nach Europa geschickt werden, um dem
Elend in der Heimat zu entkommen – Afrikas Misere führt direkt ins Hamburger
Schanzenviertel.
Die Auswirkungen im Stadtteil sind verheerend. Die Drogenszene ist allgegenwärtig: Treppenhäuser und Zufahrten
sind mit gebrauchten Spritzen übersät.
Ladenbesitzer finden morgens in ihren
Eingängen Junkies, meist in erbärmlichem
Zustand.
Das Quartier, in dem seit Jahrzehnten
Deutsche und Ausländer zusammenleben,
bislang geprägt vom Miteinander unterschiedlichster Kulturen, droht zu kippen.
Der Reiz, neben dem türkischen Gemüsehändler den asiatischen Imbiss und den
alternativen Bäcker zu finden, wiegt
Ängste und Empörung nicht mehr auf.
Familien mit Kindern ziehen weg. Geschäfte schließen. Für viele Bewohner, die
bislang als besonders tolerant gegenüber
169
Gesellschaft
Sekunden absoluten Wohlgefühls
Tom kann gerade noch weglaufen, sich
in einen Hauseingang flüchten. Er zittert,
ist außer Atem. Drei Kokainkugeln, die er
im Mund verborgen hielt, hat er vorsichtshalber verschluckt. Fünf Minuten später
steht er wieder auf der Straße.
Der 17-Jährige musste schon schlimmere Angst aushalten: damals, auf dem riesigen Containerschiff, das ihn von Liberia
nach Hamburg brachte. Tom fuhr als blinder Passagier. Alles, was er besaß, etwas
Schmuck und 120 Dollar, gab er einem spanischen Matrosen, der ihn bei Nacht an
Bord schmuggelte und in einem winzigen
Verschlag nahe dem Maschinenraum ver-
Drogenkiez Schanzenviertel: Familien mit Kindern ziehen weg
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steckte, ohne Strom, ohne Wasser,
ohne Bett.
Zwei Wochen lang weiß er da
nicht, ob draußen Tag oder Nacht
ist. Wenn er Schritte hört, beginnt
er zu beten. Der Spanier hat ihn
beschworen, nie das Versteck zu
verlassen, und ihm für den Fall seiner Entdeckung mit dramatischen
Gesten ein schnelles Ende prophezeit: Matrosen würden ihn packen
und über Bord werfen – ein Schicksal, das blinden Passagieren aus
Afrika schon oft widerfahren ist.
In seiner dunklen Kammer stellt
sich Tom sein schönes neues Leben
vor. In Deutschland, hatten ihm
Rückkehrer vorgeschwärmt, gebe
es großartige Chancen für gewiefte schwarze Jungs: jede Menge
Jobs, tolle Kleidung, sogar Autos.
Tom wollte auch zur Schule gehen,
denn er kann weder lesen noch
schreiben außer den paar Versen,
die er während sechs Monaten in
der Koranschule gelernt hatte.
Dann steht er an einem Aprilmorgen um vier Uhr am Hamburger Hauptbahnhof, ohne Geld, ohne
Ausweis, und fragt, wie ihm der
Spanier eingeschärft hat, andere
Schwarze nach dem Ausländeramt.
Toms Träume sind schnell ausgeträumt.
Sein Asylantrag wird abgelehnt. Sein befristetes Aufenthaltspapier – Fachjargon:
Duldung – läuft in ein paar Wochen ab.
Arbeiten darf er nicht, von Gesetzes wegen. Er wüsste auch nicht, was. Selbst Zeitungen auszutragen wird ihm untersagt.
Beim Deutschkurs, den er drei Monate besuchen darf, kommt er nicht richtig mit. Er
lernt nur ein paar Brocken: „Bleiberecht“,
„Platzverweis“, „Scheiße“. Gut verständigen kann er sich nur mit Schwarzen, die
wie er die afrikanische Sprache Fula sprechen. Buchstaben bleiben ihm ein Rätsel.
Im Asylbewerberheim, weit außerhalb
gelegen, hat Tom unendlich viel Zeit. Um
sie sinnvoll zu nutzen, fehlen ihm alle Voraussetzungen.
Anfangs bleibt er bis mittags wie betäubt
im Bett liegen, guckt dann im Fernsehraum stundenlang die Zappelbilder eines
Musiksenders. Doch schnell wird er von
der Umtriebigkeit der Mitbewohner angesteckt: Jugendliche wie er, die trotz Arbeitsverbots ständig beschäftigt sind, mehrmals täglich zwischen Heim und Innenstadt
hin- und herpendeln; die Markenjeans und
Goldketten tragen, von Erlebnissen bei
Discobesuchen schwärmen und von Treffen
mit Mädchen. Und das, obwohl sie wie Tom
nur 410 Mark monatlich für Kleidung und
Verpflegung bekommen. „Woher habt ihr
das Geld?“, will er von einem Zimmernachbarn wissen. „Frag John.“
Von Kokain hat Tom zuvor nie gehört. Er
weiß nicht, wie es riecht, er weiß nicht, wie
es wirkt, er weiß nicht, wie es hergestellt
R. JANKE / ARGUS
Junkie in Hamburg
C. AUGUSTIN
Minderheiten galten, ist schwarz inzwischen ein Synonym für schlecht.
„Hier gilt doch längst jeder Afrikaner als
Dealer“, glaubt Alhagi C. Der Mann aus
Gambia, seit acht Jahren in Deutschland, ist
auf die Drogenhändler so wütend, wie es
viele der rund 17 000 Afrikaner sind, die in
Hamburg leben. „Sie zerstören unseren Ruf
und unsere Existenz“, befürchtet Alhagi C.
Wenn der 41-Jährige die Jugendlichen
beim Tischtennisspielen im Schanzenpark
trifft, gibt es Streit. „Ihr kassiert Dreckgeld,
Blutgeld“, schimpft er, „stop it.“ Die Jungs
lächeln dann nett und spielen weiter.
Von Menschen, die sich beruflich mit ihnen befassen müssen, werden die jungen
Dealer sehr unterschiedlich beurteilt. „Clever wie Bergziegen“, sagt der Chef vom
Rauschgiftdezernat, dessen Beamte ihnen
ständig hinterherlaufen. „Arme Schweine“, sagt der Jugendrichter, bei dem die
Halbwüchsigen immer wieder als Angeklagte landen. „Opfer verfehlter Flüchtlingspolitik“, sagt die Sozialarbeiterin, deren Organisation seit Jahren ein Zentrum
für afrikanische Jugendliche und mehr
Geld für Ausbildungsmaßnahmen fordert.
„Wer arbeiten darf, hört sofort auf zu dealen“, berichtet ein Heimleiter. Doch sobald die Arbeitserlaubnis abgelaufen sei,
„sind die Jungs wieder auf der Szene“.
Mittwochnachmittag, 15.20 Uhr: Razzia.
Polizeisirenen. Geschrei. Quietschende
Reifen. Die schwarzen Männer sind schon
Sekunden zuvor in alle Richtungen auseinander gestoben, einer stolpert, schlägt
langweg aufs Pflaster. Späher, die an der
Hauptstraße standen, hatten über Handy
Alarm geschlagen – zu spät.
Die Uniformierten kommen diesmal aus
mehreren Richtungen zugleich. Zivilbeamte springen hinzu, eben noch getarnt als
Bauarbeiter und Handwerker. Zwei Dealer werden festgenommen, mit Handschellen gefesselt, in einen Streifenwagen verfrachtet. „Nazis“, ruft ein Schwarzer hinterher. „Bravo“, tönt es aus einem Fenster.
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Gesellschaft
wird. Doch er kapiert sofort, dass ihn dieses
Zeug seinen Wünschen näher bringen kann:
Er will auch in die Disco und ins Kino, er
will auch schicke Klamotten, und er will
auch eine goldene Kette um den Hals.
John weiß, wie das Geschäft funktioniert:
Einer der Ältesten im Asylbewerberheim,
der nicht mehr selbst auf der Straße steht,
sich hochgedient hat, kauft Kokain in
größeren Mengen ein; von Südamerikanern, von Kurden, auch von Deutschen, die
gegen Honorar als Drogenkuriere nach
Peru oder Kolumbien fliegen. Das Gift wird
dann gestreckt, in Kügelchen verpackt und
an Mittelsmänner wie John gegeben, der es
Das tägliche Versteckspiel
mit der Polizei entspricht ihrer
Sehnsucht nach Abenteuer
an die Jungs verteilt. Die werden bei ihrem
risikoreichen Einsatz nicht reich.
Beim ersten Mal bekommt Tom fünf Kugeln. John weist ihn ein: „Verkauf für 20
Mark pro Stück. 6 Mark sind für dich, den
Rest gibst du mir.“ Und: „Bleib nie stehen. Halt Blickkontakt zu den anderen.
Lauf bei Streit sofort weg.“
Schon am zweiten Tag wird Tom
erwischt. Ein Süchtiger, der dafür freikommt, verpfeift ihn. Auf dem Polizeirevier
muss sich Tom nackt ausziehen, bleibt fünf
Stunden in einer Zelle eingesperrt. Dann
lassen ihn die Beamten laufen – und kriegen ihn danach nie mehr.
Andere fallen ständig auf. Der ängstliche
Barry, der die Kokainkügelchen nicht runterschlucken mag, auch nicht schnell genug laufen kann und sich oft ungeschickt
anstellt, ist schon mehr als 20-mal geschnappt worden. Der Jugendrichter verdonnerte ihn zweimal zu gemeinnütziger
Arbeit und vor kurzem zu einem Jahr Haft
mit Bewährung – bewirkt hat es nichts.
Jungs wie Barry wissen, dass sie ohnehin
abgeschoben werden, in Deutschland keine Zukunft haben. Sie dürfen nur bleiben,
solange in den Heimatländern Bürgerkriege toben. Die Frist wollen viele nutzen.
Barry muss sie nutzen.
Er denkt ständig daran, dass seine Angehörigen in Afrika auf seine Hilfe hoffen,
auf Geld warten, und so dealt er trotz der
vielen Festnahmen immer weiter. Er fühlt
sich unter Druck, denn die Familie hatte
jahrelang gespart, um seine illegale Einreise zu bezahlen. Er bereut längst, dass er
den Trip gewagt hat.
Manche der Jüngsten können ihre Situation jedoch schlecht einschätzen: Die
Ängste und Risiken in der Szene, das tägliche Versteckspiel mit der Polizei entsprechen ihrer Sehnsucht nach Abenteuer und
Gefahr. Und das leicht verdiente Geld
nährt den gefährlichen Irrtum, künftig
mühelos mit Straftaten durchzukommen.
Natürlich ist allen klar, dass sie fortwährend Gesetze brechen. Aber nicht alle
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spüren, dass kaum etwas bei den Bürgern
als verwerflicher und moralisch minderwertiger gilt als das Geschäft mit der Sucht.
Dazu sind viele zu fremd, zu naiv, zu sehr
auf ihren kurzfristigen Vorteil fixiert.
John ist es egal. „Uns hassen doch sowieso alle“, glaubt er. „Es spielt keine Rolle, ob wir dealen oder nicht.“
Als er kürzlich ausnahmsweise allein
S-Bahn gefahren sei, hätten ihn sofort
mehrere Weiße angepöbelt: „Neger raus.“
Beim Besuch eines HSV-Spiels seien er und
seine Freunde von betrunkenen Fußballfans verfolgt worden: „Scheiß-Nigger.“
Und als er ein Konzert besuchen wollte,
habe ihn der Türsteher herrisch abgewiesen: „Du nicht, Bimbo.“
Johns Landsmann Tom gehört dagegen
zu denen, die sich wegen der Dealerei schämen. „Ich weiß, dass Drogenhandel Sünde
ist“, sagt der Muslim, der täglich betet,
manchmal auch in die Moschee geht. Er
hofft, dass Gott ihn nicht so streng bestraft:
„Er sieht doch, wie es mir hier geht.“
Wenn Tom das schlechte Gewissen zu
sehr plagt, ist er spendabel gegenüber
Süchtigen wie Micha. Der kommt am Freitagabend mit fahrigen Bewegungen zum
S-Bahnhof Sternschanze, in der Jackentasche eine CD, die er gerade geklaut hat,
und sonst gar nichts.
Micha hat sich selbst überlebt. Er ist 41,
uralt für einen Fixer. Seine Haut ist von
einer Hepatitis gelb verfärbt, in seinem
Oberkiefer sitzen noch zwei Zähne.
Er hat alles ausprobiert: geschluckt, gespritzt, gekifft. Und er hat alles versucht,
um von Drogen loszukommen, war oft
zum Entzug in der Psychiatrie, hat dutzende Therapien hinter sich. Jetzt bekommt er die Ersatzdroge Methadon gegen
die Heroinsucht. Den Kick, die Sekunden
absoluten Hochgefühls, sucht er beim Kokain. Tom ist sein Stammdealer.
An diesem Freitag hat Micha Glück. Tom
will seine CD nicht, weiß, dass er kein Geld
hat, schenkt ihm trotzdem eine Kugel – danach geht alles ganz schnell: Micha rennt
hinter eine Schallschutzmauer der Deutschen Bahn, mitten in eine Mülllandschaft
aus zerborstenen Möbeln, weggeworfenen
Autoreifen und leeren Bierdosen.
Mit seinem Feuerzeug brennt er die verschweißte Folie des Kügelchens weg, löst
das weiße Pulver mit Wasser auf, zieht die
Flüssigkeit auf eine Spritze. Während oben
ein Zug vorbeifährt, zieht er die Hosen
runter, spritzt sich in den linken Oberschenkel. In die total zerstochenen Arme
würde kein Schuss mehr passen.
Solche Szenen, im Schanzenviertel täglich zu beobachten, schüren den Hass.Auch
Junkies wie Micha suchen die Schuld für ihr
Elend gern bei den Dealern: „Manchmal
denke ich, ohne diese verdammten Nigger
wäre ich längst weg davon.“
Doch eigentlich sei das ja auch wieder
Quatsch: „Als ich vor 21 Jahren angefangen
habe, gab’s keine schwarzen Dealer.“ ™
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FOTOS: THOMAS & THOMAS
Gesellschaft
Schlagerstar Lindner, Adoptivsohn, Lebensgefährte Link: „Nie die Fahne geschwenkt“
S H OW BU S I N E S S
„An den Pranger gestellt“
Der Münchner Sänger Patrick Lindner über
seinen Kollegen Rex Gildo, sein Outing als Homosexueller
und sein Leben als Familienvater
SPIEGEL: Herr Lindner, Ihr Kollege Rex Gildo behauptete zeit seines Lebens, kein Toupet zu tragen und weder Alkoholiker noch
homosexuell zu sein. Muss man im Schlagergeschäft sein Publikum belügen, um
Erfolg zu haben?
Lindner: Das muss jeder für sich entscheiden. Viele haben vom Rex einiges gewusst, aber man hat halt – auch unter Kollegen – nie drüber gesprochen. Ich glaube,
es war bei ihm ein Generationenproblem.
Merkwürdig ist doch, dass jetzt nach seinem Tod diese Fragen gestellt werden, man
hätte ihn selber fragen sollen.
SPIEGEL: Haben Sie es denn getan?
Lindner: Nein. Der Rex war ein lieber, netter, unheimlich lustiger Kollege. Über sein
Privatleben hat er nie gesprochen. Es gab
Situationen, in denen man auf private Themen gekommen ist, aber wenn man merkte, dass der andere sich verschließt, lässt
man das Thema eben fallen.
SPIEGEL: Haben Sie Angst davor, so wie
der alternde Gildo in Baumärkten vor einem johlenden Publikum auftreten zu
müssen?
Lindner: In Märkten zu singen ist nicht verwerflich, das mache ich auch. Ich möchte
aber im Alter nicht noch auftreten müssen, um mein Brot zu verdienen. Ich hoffe
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nur, dass ich es selber merken werde, ob es
wirklich noch sein muss, mit alten Hits
rumzuziehen. Aber beim Rex waren es sicher nicht finanzielle Probleme. Vielleicht
konnte er nicht aufhören. Er hatte ja jahrelang einen Riesenerfolg.
SPIEGEL: Haben Sie denn hinter der Fassade von Fröhlichkeit das Unglück gespürt?
Schlagerstar Gildo (1984)
„Unheimlich lustiger Kollege“
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Lindner: Wir alle, die mit ihm gearbeitet haben, merkten manchmal, dass es ihm nicht
gut geht. Aber er hat niemanden an sich
herangelassen, auch wenn ihm andere helfen wollten.
SPIEGEL: Hat sich Ihr Verhältnis zu ihm
geändert, nachdem Sie den russischen Jungen Daniel adoptiert haben und es die Runde machte, dass Sie mit Ihrem Manager
zusammenleben?
Lindner: Rex fand die Adoption ganz phantastisch. Das hat aber an unserem distanzierten Verhältnis nichts geändert. Im Übrigen: Der Rex war ja verheiratet. Er hätte
sich in dieser Situation und in seinem Alter sicher schwerer getan als ich, mit seinem Leben an die Öffentlichkeit zu gehen.
SPIEGEL: Haben Sie jemals daran gedacht,
für die Fans zu heiraten?
Lindner: Nein, nie.
SPIEGEL: Aber früher haben Sie regelmäßig
behauptet, „die Richtige noch nicht gefunden“ zu haben. Ein Ablenkungsmanöver?
Lindner: Das sind so Geschichten der Yellow
Press. Wenn man sich als Star bei den Zeitungen beschwert, solche Sachen nicht gesagt zu haben, kommt von den Journalisten
immer der Satz: „Die Leute lesen’s halt
gerne.“ Man kann nichts dagegen machen.
SPIEGEL: Außer vielleicht, die Wahrheit zu
sagen. Fühlen Sie sich nach Ihrem nicht
ganz freiwilligen Selbst-Outing besser?
Lindner: Ich fühl mich nicht besser. Ich hab
mir auch schon vorher nichts vorgemacht.
Mein Freund Michael Link und ich haben
zwar nie die Fahne der Bewegung geschwenkt, das ist wahr. Allerdings hat das
Publikum viel selbstverständlicher reagiert, als ich es zu hoffen gewagt hätte.
SPIEGEL: Haben Sie Ihr Coming-out als
Zwei-Stufen-Strategie geplant? Erst die
Adoption öffentlich machen und dann die
Beziehung?
Lindner: Ich wollte mit dem Kind ganz frei
mein Haus in Grünwald verlassen können,
ohne dass Horden von Fotografen davor
lauern. Also habe ich damals mit der „Bunten“ eine Geschichte gemacht, in der schon
Andeutungen über mein Privatleben standen, die sich jeder selber auslegen konnte.
Das Outing fand dann sehr diskret in einem
langen schönen Interview in der „Amica“
statt. Und dann kam im April die „Bild“
mit einer riesigen Überschrift …
SPIEGEL: … „Patrick Lindner: Warum ich
mich jetzt zu meinem Schwulsein bekenne“.
Lindner: Genau. So etwas würde ich selber
nie sagen, weil es nicht meine Art ist.
SPIEGEL: Und wenn Rosa von Praunheim
damals nicht nur Alfred Biolek und Hape
Kerkeling, sondern auch Sie geoutet hätte?
Lindner: Es gab damals schon Andeutungen, aber niemand hat die Sache verfolgt.
Heute tue ich mich natürlich leichter. Aber
trotzdem fühlt man sich ausgezogen und an
den Pranger gestellt mit einem Schild um
den Hals.
SPIEGEL: Ist Ihnen das Bekenntnis deshalb
so schwer gefallen, weil Sie, erst in der
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ACTION PRESS
Gesellschaft
ZDF-Schlagerparade (1997)*: „Als volkstümlicher Sänger in der unteren Schublade“
* Vordere Reihe: Rex Gildo, Gaby
Baginsky, Jürgen Drews, Cindy &
Bert, Costa Cordalis.
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tung entwickelt. Die Grenzen sind ja auch
fließend. Es gibt doch Volksmusik, die
kommt ganz ohne Dialekt aus. Und man
muss sich fragen, was daran volkstümlich
sein soll. Vielleicht nur die Tatsache, dass
der Interpret einen Trachtenjanker anhat.
Als volkstümlicher Schlagersänger bist du
im Ansehen in einer unteren Schublade.
SPIEGEL: Haben Sie deshalb zum Entsetzen
Ihrer Fans bekannt, Sie wollten nicht mehr
mit klatschenden pfälzischen Hausfrauen
auf der Bühne stehen?
Lindner: Das war ein Missverständnis. Meine Fans dachten, ich wollte alle Hausfrauen dieser Welt beleidigen, ich meinte aber
tatsächlich eine Volksmusik-Gruppe mit
dem Namen „Pfälzer Hausfrauen“. Ich
stand an einem Punkt meiner Karriere, wo
ich nicht mehr unbedingt in eine Hitparade oder einen Wettbewerb gehen musste.
SPIEGEL: Was ist so schlimm daran?
Lindner: Schauen Sie: Ich hatte schon meine eigene Show, in der ich internationale
Stars wie die Milva präsentierte, da wollte
ich nicht mehr in der „Hitparade der Volksmusik“ auftreten. Das passte einfach
nicht mehr zusammen.
SPIEGEL: Und deshalb sind
Sie zur ARD gewechselt?
Lindner: Ich war sieben Jahre
lang exklusiv beim ZDF und
habe vier Unterhaltungschefs überlebt, da wird man
zum Pingpongball. Und bei
der ARD moderiere ich zuerst am Muttertag eine Gala
fürs Müttergenesungswerk.
Diese Aufgabe beweist mir,
dass ich mit meiner Ehrlichkeit letztlich sehr viel weiter
gekommen bin.
FOTEX
Volksmusik und dann im Schlager, dem
Publikum nicht nur Musik, sondern auch
ein ganzes Heile-Welt-Paket anbieten?
Lindner: Mag sein. Ich bin ein konservativer
Mensch, habe ein Haus gebaut, lebe in einer geregelten, harmonischen Beziehung,
und manchmal denke ich, dass es bei uns
geordneter zugeht als in manchen bürgerlichen Ehen. Ich bin stolz, wenn der Daniel durchs Haus läuft und „Papi“ schreit.
SPIEGEL: Wie geht denn die Gay Community mit einem solchen Musterpaar um?
Lindner: Jedenfalls bin ich nicht zu deren
Ikone geworden. Ich gelte ja als der Nette,
der Brave und der Korrekte, bei dem man
es nie vermutet hätte. Und offenbar habe
ich auch anderen Männern Mut gemacht,
sich zu ihrem wahren Leben zu bekennen.
SPIEGEL: Befürchten Sie, dass Daniel Ihnen
eines Tages vorwirft, zwei Väter und keine
Mutter gehabt zu haben?
Lindner: Kann sein, dass er sagt: Was hast du
mir angetan; aber es ist doch wichtiger, dass
er in einer Umgebung voller Liebe aufwächst. Seine Mutter hat ihn
in St. Petersburg gleich nach
der Geburt zur Adoption
freigegeben. Und was man
über diese Frau in den Akten lesen kann, ist ziemlich
schrecklich. Da herrschte materielles und menschliches
Elend.
SPIEGEL: Hängt Ihr Wechsel
von der Volksmusik zum
Schlager mit Ihrem Privatleben zusammen?
Lindner: Überhaupt nicht. Ich
habe mich halt in diese Rich-
Sänger Lindner (1997)
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Interview: Joachim Kronsbein
Werbeseite
Werbeseite
Gesellschaft
KREDITE
Piepen für
den Puff
Immer mehr klamme
Deutsche versetzen ihr Auto.
Spezialisierten Pfandleihern
bescheren vor allem Handwerker
zweistellige Zuwachsraten.
E
J.-P. BÖNING / ZENIT
s war eine typisch bürgerliche Klientel, die den Berliner Auto-Pfandleiher Achim Schadow aufsuchte: Nach
und nach erschienen vor seinem Schreibtisch ein gut gekleideter Rentner, eine redselige Senatsbeamtin, ein junger Hauptstadt-Polizist und ein stadtbekannter Tischlermeister.
Die drei Herren und die Dame kamen
mit ihren Autos und wollten schnell Geld.
Der Pfandleiher taxierte den Zeitwert der
Schadows Kunden hatten zwei Gemeinsamkeiten. Sie brauchten dringend Bargeld
– und sie steckten so tief in den Miesen,
dass sie ihrer Bank keinen Pfifferling mehr
wert waren. Der rüstige Rentner, mutmaßt
der Geldverleiher, „braucht die Piepen für
die Spielbank oder für den Puff“. Anders
als bei Banken und Sparkassen bleiben den
Kunden der Pfandleiher aber peinliche Fragen nach den persönlichen Lebensverhältnissen und dem Verwendungszweck des
Kredites erspart.
Jedes Jahr versetzen tausende klamme
Bundesbürger ihr Auto für ein bis drei Monate, und es werden immer mehr. Während
die knapp 300 deutschen Pfandhäuser
hauptsächlich Schmuck und Uhren beleihen und mit mageren Zuwachsraten um
drei Prozent leben müssen, verbuchen die
rund zwei Dutzend Auto-Pfandleihen Umsatzsteigerungen um zehn Prozent. „Die
Leute haben eben eher ein Auto als
wertvolle Uhren oder Schmuck“, erklärt
Schadow den Boom der Branche.
Wer so abgebrannt ist, dass er nur noch
beim Pfandleiher kreditwürdig ist, zahlt –
Auto-Pfandleiher Schadow: Peinliche Fragen bleiben den Kunden erspart
Gefährte und gewährte, branchenüblich,
die Hälfte als Kredit. Er stellte einen
Barscheck aus, und ein paar Minuten,
nachdem die Kunden vorstellig geworden
waren, lösten sie den Scheck in einer nahen
Bank ein und machten sich von dannen.
Schadow, der zu den Seriösen der Branche
zählt, behielt die Autos samt Fahrzeugbriefen als Pfand.
Der Rentner ließ seinen Ford Fiesta da
und nahm 4000 Mark mit, der Ford Sierra
der Senatsbeamtin brachte 1000 Mark. Der
Polizist bekam 10 000 Mark für seinen
BMW, der Handwerksmeister 20 000 Mark
für seinen Mercedes SL.
180
selbst im Vergleich zu den teuren Überziehungszinsen beim Dispositionskredit
der Banken – kräftig drauf. Üblich sind pro
Monat ein Prozent Zinsen auf die Leihsumme.
Richtig Geld verdienen die Auto-Pfandleiher allerdings mit satten Nebengebühren, die als „Kostenvergütung“ und als
„Standgeld“ auf den Zins geschlagen werden. So stellen manche Kreditgeber monatlich bis zu fünf Prozent in Rechnung; für
das Abstellen des Fahrzeuges kommen bei
den meisten rund 200 Mark hinzu.
Wer seinen VW Golf auch nur vier Wochen lang mit 10 000 Mark beleiht, muss
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bei einigen Kredithaien der Branche insgesamt bis zu 800 Mark zahlen – ein effektiver Jahreszins also von 96 Prozent.
Für Klaus Germann, Geschäftsführer des
Zentralverbandes des Deutschen Pfandkreditgewerbes, ist die Grenze des Zumutbaren klar.Wer fünf oder mehr Prozent
Kostenvergütung verlange, sei „unseriös
und schadet der ganzen Branche“.
Acht von zehn Kunden lösen nach der
Erfahrung von Thomas Stäbler vom Stuttgarter Kraftfahrzeug-Pfandhaus Haugstetter & Stäbler ihr Fahrzeug innerhalb von
drei Monaten aus; wenn nicht, darf das
Pfand versteigert werden. Zumeist aber
sind die Pfandleiher kulant, verlängern die
Frist um einen oder sogar mehrere Monate – und kassieren ordentlich weiter.
Das Gros der Kunden sind längst nicht
mehr verkrachte Existenzen, stattdessen
versetzen immer mehr Selbständige ihre
Fahrzeuge – oft weil sie wegen der Zahlungsmoral ihrer Kunden klamm sind und
kein Geld mehr für Materialeinkäufe oder
gar die Löhne ihrer Mitarbeiter haben. So
π belieh ein Berliner Maurermeister seinen Jeep und drei Wochen später einen
Mercedes der E-Klasse, um seine Handwerker bezahlen zu können;
π löste ein Dachdeckermeister bei der
Auto-Pfandleihe Arclas im rheinischen
Willich Anfang Juli seinen Mercedes SL
aus, den er wegen Liquiditätsschwierigkeiten mit 50 000 Mark belastet hatte;
π ließ sich der Inhaber eines Baugeschäftes beim Auto-Pfandhaus Hannover 3000
Mark auf einen Mini-Bagger auszahlen,
um über die Runden zu kommen;
π nahm ein Schreinermeister beim AutoPfandhaus Römer im rheinischen Frechen 20 000 Mark auf seinen Opel
Sintra auf. Ein Kunde hatte sich für
18 000 Mark einen Zaun bauen lassen
und die Rechnung nicht bezahlt.
Mitunter, glaubt Bernd Sakreida von der
Auto-Pfandleihe Doma im niederbayerischen Plattling, seien die Motive der Gewerbetreibenden jedoch auch nicht ganz
koscher. Manchmal werde der Pfandkredit
etwa „für Wareneinkäufe genutzt, die wegen Schwarzarbeit nicht über die Bücher
laufen sollen“.
Nicht selten versuchen Kunden, die
Pfandleiher zu leimen. Dem Berliner Schadow wollten Kunden etwa einen VWTransporter unterjubeln, der „einen Knick
im Dach und ein verzogenes Führerhaus“
hatte. Ganoven drehten dem Hamburger
Pfandleiher Joachim Ratajek ein VW Golf
Cabrio an, das samt Fahrzeugbrief gestohlen worden war. Er belieh das neuwertige
Auto mit 20 000 Mark und musste den
Schaden tragen.
Wie die meisten Kollegen versucht Klaus
Aringer von der Arclas Pfandkredit in Willich, solch Ungemach zu vermeiden. Bieten
ihm dubiose Gestalten ein teures Auto an,
„checke ich bei der Polizei, ob das Ding
womöglich geklaut ist“.
Carsten Holm
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Ausland
Panorama
VA T I K A N
Sichtung der
Kandidaten
rotz wütender Hindu-Proteste trat Papst
Johannes Paul II. am vergangenen Freitag
seine 89. Auslandsreise nach Indien und
Georgien an. Derweil wurde im Vatikan über
mögliche Nachfolger spekuliert. Zwar präsentierte sich der 79-jährige, gesundheitlich
angeschlagene Papst während der jüngsten
Synode der europäischen Bischöfe „ausgesprochen präsent“, so der Vorsitzende der
Deutschen Bischofskonferenz, Karl Lehmann.
Dennoch hat unter katholischen Amtsträgern
in Rom in aller Stille eine kritische Sichtung
papstfähiger Kandidaten begonnen, was im
Vatikan weit mehr Interesse weckt als die dem
italienischen Parlament vorliegenden Dokumente über die Rolle östlicher Geheimdienste
beim Papstattentat 1981. Zu den Favoriten für
die Nachfolge auf dem Stuhl Petri zählen der Johannes Paul II. mit Bischöfen im Vatikan
französische Kardinal Pierre Eyt, sein belgischer Amtsbruder Godfried Danneels, Christoph Schoenborn 1978 bei seinem Wechsel von Krakau nach Rom von der „New
aus Österreich und der Bosnier Vinko Puljiƒ. Die römische Ku- York Times“ charakterisiert wurde, solle nun ein Administrarie dränge allerdings darauf, berichteten Teilnehmer des Bi- tor folgen. Dem deutschen Papstvertrauten Joseph Ratzinger
schofstreffens, einen aus ihren Reihen in das Amt zu hieven. wird zwar eine mit entscheidende Rolle bei der Papstfindung,
Nach dem „geopolitischen“ Papst, wie der Pole Karol Wojtyla aber keine Chance auf das Amt eingeräumt.
„Vor Diktatur schützen“
Filip Vujanoviƒ, 45, Premier der jugoslawischen Teilrepublik Montenegro, über den Konflikt mit Serbien
AP
SPIEGEL: Montenegro
hat die D-Mark als paralleles Zahlungsmittel
eingeführt und damit
seine Finanzautonomie gegenüber Belgrad erklärt. Ist das der entscheidende
Schritt zur Unabhängigkeit?
Vujanoviƒ: Wir mussten unsere Wirtschaft vor der Diktatur der Jugoslawischen Nationalbank schützen. Serbien
hat in den vergangenen vier Monaten
die Geldmenge durch den illegalen
Druck neuer Dinare um rund 40 Prozent erhöht. Wir konnten dagegen nichts
tun. Und jetzt hat Belgrad als politische
Strafaktion sogar den Zahlungsverkehr
zwischen unseren beiden Republiken
unterbunden. Das ist lächerlich, denn
wir kontrollieren nur fünf Prozent der
Dinare innerhalb Jugoslawiens.
SPIEGEL: Welche Konsequenzen zie-
SPIEGEL: Sie führten soeben Gespräche
mit Generalstabschef Ojdaniƒ. Drohte
er mit Intervention?
Vujanoviƒ: Entsprechend dem Verhalten
Belgrads besteht die Option, eine eigeVujanoviƒ: Er versprach, sich nicht poline montenegrinische Währung einzutisch in die Angelegenheiten Monteneführen sowie der Liquidierung des Digros einzumischen und nur die territonars als Zahlungsmittel. Wir werden an
riale Integrität Jugoslawiens zu verteididen Grenzen künftig Finanzkontrollen
gen. Natürlich werden wir die Aktivitähaben, welche die unkontrollierte
ten der Armee weiterhin kontrollieren,
Ausfuhr von Dinaren verhindern. Eine
insbesondere der Militärpolizei. Im Falerneute Kontrolle unserer Wirtschaft
le einer bewaffneten Intervention rechdurch Belgrad werden wir nicht
nen wir, ähnlich wie in Slowenien, mit
dulden.
einer Spaltung der Armee. Aber wir
hoffen, dass sich dieser Konflikt vermeiden lässt.
SPIEGEL: Wächst nun der
Druck der Bevölkerung auf
Ihre Regierung, die Unabhängigkeit von Belgrad zu erklären?
Vujanoviƒ: Der Bundesstaat
funktioniert nicht mehr, wir
werden diese Situation nicht
mehr lange tolerieren können.
Die Gespräche über eine Neudefinition unserer Beziehungen sind im Gange. Allerdings
schließe ich nicht aus, dass
Belgrad dabei nur Zeit gewinnen will.
In Mark ausgezeichnete Waren in Montenegro
hen Sie?
DPA
MONTENEGRO
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183
AFP / DPA
T
Panorama
INDIEN
Tödlicher Leichtsinn
Ü
ber eine Woche nach dem verheerenden 17-stündigen Wüten eines tropischen Wirbelsturms an der Ostküste Indiens
werden die Rettungsarbeiten durch Unruhen und Plünderungen
bedroht. Hungrige Überlebende greifen Helfer an, rauben auf
den wenigen nicht zerstörten Küstenstraßen steckengebliebene
Lastwagen aus und stehlen Lebensmittel aus Lagerhäusern in
Bhubaneswar, der Hauptstadt des Bundesstaates Orissa. Narayan Mahapatra aus dem verwüsteten Dorf Hosnabad im Bezirk Jajpur kritisiert das langsame Vorgehen des Staates: „Kein
einziges Korn Reis hat uns bisher erreicht.“ Schuld ist vor allem die chaotische Organisation der Hilfslieferungen. Zwar hat
der indische Regierungschef Atal Behari Vajpayee umgerechnet
257 Millionen Mark Katastrophenhilfe angewiesen, doch nur
wenige auf dem Landweg unerreichbare Gebiete werden bisher
ausreichend aus der Luft mit Lebensmitteln versorgt.
5000 Soldaten mussten ins Unglücksgebiet geschickt werden –
auch um Retter und Ingenieure vor der aufgebrachten Menge zu
schützen. Wütende Überlebende griffen sogar einen Hubschrauber an, mit dem Politiker ins Katastrophengebiet geflogen
waren. Weder Bürokraten noch die Einwohner von Orissa hatten den Sturmwarnungen besondere Bedeutung geschenkt, obwohl Aufnahmen indischer Wettersatelliten rechtzeitig vorla-
Überflutete Straße unweit der indischen Stadt Baleshwar
gen. Offiziell wurde nur vor dem Baden an den Stränden gewarnt. „Hier herrscht ein Sicherheitsgefühl, das an Fahrlässigkeit
grenzt“, sagt Britta Girgensohn-Minker vom Deutschen Roten
Kreuz. Der Zyklon hatte mit einer Windgeschwindigkeit von
255 Stundenkilometern bis zu zehn Meter hohe Wellen vor
sich hergetrieben und weite Teile des Staates zerstört. Insgesamt sind 15 Millionen Menschen betroffen, 2 Millionen wurden
TERRORISMUS
Endstation Bagdad?
Amerikanisches Kampfflugzeug F-16
USA
Militärkaufhaus
im Internet
B
eim Vertrieb von ausrangiertem Militärmaterial setzt das
Pentagon auf das Internet: In einem „virtuellen Kaufhaus“ werden Ersatzteile für Waffen, gebrauchte US-Fahrzeuge oder
ausgemusterte Elektronik angeboten. Verantwortlich für den
Verkauf ist der „Verteidigungsdienst für Wiederverwertung
und Absatzförderung“ (DRMS).
Die Agentur, gegründet 1972,
rühmt sich, die „beste Verbin-
184
dung zwischen Regierung und
Geschäftswelt“ zu sein. Auf ihrer
Web-Seite (www.drms.dla.mil)
bietet sie hunderte von Artikeln
an: Werkzeuge, Flugzeugteile
und „vieles, vieles mehr“. Zwar
werden Waffen nach Darstellung
der DRMS nur als angeblich unbrauchbarer Schrott angeboten,
Kritiker der Online-Offerten
fürchten jedoch, dass die USA
planen, die neue Technologie
auch für den Verkauf von Handfeuerwaffen und Munition zu
nutzen. Mit Waffenverkäufen in
Höhe von rund 27 Milliarden
Dollar war Washington auch
1998 wieder der weltweit größte
Lieferant von Kriegsmaterial.
d e r
s p i e g e l
ach Informationen nahöstlicher Geheimdienste
sind die ultrareligiösen Taliban nicht länger bereit,
dem mutmaßlichen Terroristenführer Ussama Ibn Ladin, 43, in Afghanistan Schutz zu gewähren. Der Fanatiker aus einer reichen saudi-arabischen Familie gilt als
Drahtzieher der Sprengstoffattentate auf die US-Botschaften in Nairobi und Daressalam im August vergangenen Jahres. Die mögliche Abkehr der Taliban von
ihrem langjährigen Verbündeten Ibn Ladin, der angeblich von afghanischen Milizen bewacht unter Hausarrest steht, geht auf ein Geheimtreffen amerikanischer
Unterhändler mit Vertretern des religiösen Regimes in
Genf zurück. Für die Zusammenkunft hatten die USDiplomaten eigens einen einflussreichen Vertrauensmann des in Amerika inhaftierten ägyptischen
Terroristenscheichs Umar Abd al-Rahman mit in ihr
Verhandlungsteam aufgenommen, der die Taliban zum
Sinneswandel bewegen sollte. Zudem setzte Washington im Uno-Sicherheitsrat durch,
dass gegen Afghanistan ein Embargo verhängt wird, wenn Ibn
Ladin nicht bis zum nächsten
Sonntag ausgeliefert werden sollte. Um sein Gastland vor Sanktionen zu bewahren, will Ibn Ladin
das Land verlassen, angeblich in
Richtung Bagdad. Aber auch der
Jemen, aus dem Ibn Ladins Familie einst nach Saudi-Arabien auswanderte, gilt als mögliche
Fluchtburg.
Ussama Ibn Ladin
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AFP / DPA
REUTERS
N
Ausland
BÜCHER
Scholl-Latours Schatten
über der Türkei
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CHINA
INDIEN
AP
150 km
Baleshwar
ORISSA
Bhadrakh
Jajpur
Cuttack
Bhubaneswar
Puri
Golf
von
Bengalen
Paradip
stark verwüstetes Gebiet
weniger betroffen
AFRIKA
Trockenzeit
bringt Krieg
E
desopfern gefordert. Überdies beendete
der Krieg das zarte Wirtschaftswachstum, das die Staaten vorübergehend in
den Rang der wenigen afrikanischen
Musterländer erhoben hatte. Schon
massieren die Feinde ihre Armeen für
die Wiederaufnahme der Kämpfe. Ein
Vermittlungsvorschlag der Organisation
Afrikanischer Einheit (OAU), den die
Kriegsparteien bereits akzeptiert hatten, wurde gleichwohl nicht verwirklicht. Jetzt starteten US- und OAUDiplomaten einen letzten gemeinsamen
Versuch, den drohenden neuen Waffengang doch noch zu verhindern.
REUTERS
ine diplomatische Offensive soll in
allerletzter Minute verhindern, dass
mit dem Ende der Regenzeit am Horn
von Afrika der blutige Konflikt zwischen den beiden Ländern Äthiopien
und Eritrea wieder aufflammt. Der
Kampf um ein 415 Quadratkilometer
großes Stück Wüste hat in 18 Monaten
auf beiden Seiten zehntausende von To-
obdachlos. Ein Armee-Offizier schätzt die
Zahl der Toten schon auf über 10 000, weit
mehr als die vom Staat offiziell gemeldeten 1000 Opfer. „Wir haben die allmächtige Atombombe“, höhnte die Tageszeitung
„The Times of India“, „doch bei Überflutung, Dürre und Zyklonen sind wir
machtlos.“
Äthiopische Soldaten auf dem Weg zur Front (1998)
d e r
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ie Blicke der Dörfler erscheinen
dem Besucher „intensiv, durchdringend, fremd“. „In der verkapselten kurdischen Gebirgswelt“ trifft er mitunter
auf einen regelrechten „Wolfsblick“;
andernorts wirken „manche Gestalten
durch lange Inzucht gezeichnet“. Aber
auch die Islamisten in Istanbul sind dem
Reisenden wohl nicht ganz geheuer,
schauen „oft etwas finster wie Verschwörer“. Kein Zweifel: Peter SchollLatour, journalistischer Experte für Krisenregionen weltweit, bedient in seinem
jüngsten Werk manche Klischees. Diesmal hat der langjährige Fernsehkorrespondent, der jüngst von der nordrheinwestfälischen Landesregierung für sein
publizistisches Lebenswerk mit dem
Professorentitel geehrt wurde, die Türkei heimgesucht. Das islamische Land
steht für Scholl-Latour, wie schon der
Buchtitel dramatisch ankündigt, vor einer „Zerreißprobe“,
über der laizistischen
Republik Atatürks
sieht der Autor bereits
„Allahs Schatten“.
Obgleich es Scholl-Latours Opus nicht an
politischen Einschätzungen und historischen Verweisen mangelt – eine fundierte
Analyse bleibt der
Auflagenmillionär schuldig. Allzu offensichtlich beschränkt sich der Vielschreiber über weite Strecken darauf, lediglich seine Reiseeindrücke runterzudiktieren, Anmerkungen zu Hotels und seinen Trinkgewohnheiten („Habe mich
zum Sun-downer an der Brüstung des
Dachrestaurants installiert“) inklusive.
Die atmosphärische Dichte seines Indochina-Bestsellers „Der Tod im Reisfeld“ erreicht der publizistische Kriegsgewinnler damit nicht im entferntesten.
Doch bei aller Kritik an Scholl-Latour,
dem renommierte Islamwissenschaftler
vorgeworfen haben, er schüre die Angst
vor dem Islam und beute sie aus, geben
die gesammelten Notizen einen durchaus lesbaren Einblick in die Krisenregion zwischen Kurdistan und dem
Kosovo, dem Scholl-Latour „vor dem
Hintergrund der langen osmanischen
Geschichte“ gleich noch ein eigenes Kapitel gewidmet hat.
Peter Scholl-Latour: „Allahs Schatten über Atatürk.
Die Türkei in der Zerreißprobe“. Siedler Verlag, Berlin; 432 Seiten; 48 Mark.
185
Ausland
K AU K A S U S
Sehnsucht nach dem Imperium
Im Bergland zwischen Europa und Asien kämpfen die Völker um Souveränität –
und um den kostbaren Rohstoff Öl. Russland riskiert mit seinem Tschetschenien-Feldzug
den eigenen Zerfall, Georgien strebt derweil unter den Schutz der Nato.
L
ckungen an der Staatsspitze, er zwingt zum
Schulterschluss mit der Regierung und hilft
bei der Restauration der Gesellschaft.
Ist das Kaukasus-Abenteuer vielleicht
nur Wahlwerbung für den vor Wochen
noch unbekannten, nun höchst populären
Premier Wladimir Putin?
Alles trifft zu, doch es geht um mehr. Offen erklärt der russische Regierungschef,
sein Land könne die strategisch wichtige
Region „nicht entbehren“ – es geht um
den ganzen Kaukasus, Russlands Kolonialland seit dem vorigen Jahrhundert, als
es die Festung Wladikawkas ausbaute, die
heute Hauptstadt von Nord-Ossetien ist.
Auf Deutsch heißt der Name „Beherrsche
den Kaukasus“.
Es geht um Russlands Rolle als Großmacht. Wenn die tschetschenischen Aufständischen nicht völlig vernichtet würden,
das Land die Unabhängigkeit gewönne, „ist
das Schicksal Russlands vorausbestimmt“,
sorgt sich der Vizepräsident der Russischen
Akademie der Wissenschaften, Gennadij
Ossipow: „Danach folgt der Zerfall.“
Da klingt Sehnsucht durch nach den Zeiten, als Moskau die malerische Bergregion
mit hartem Griff im Sowjetimperium hielt.
Heute präsentiert sie sich als bedrohlicher
ange Panzerkolonnen wälzten sich
fort aus Grosny, eine Armee rollte
heimwärts, es war ein Sieg der Vernunft: 50 000 russische Soldaten zogen sich
vor drei Jahren aus Tschetschenien zurück.
Im Auftrag des Präsidenten Boris Jelzin
hatte General Alexander Lebed die „blutende Wunde“ am Kaukasus gestillt: Er
versprach dem Muslim-Volk Selbstbestimmung.
Nun ist die Wunde wieder aufgerissen,
abermals jagt eine 50 000 Mann starke
Streitmacht Grosnys Bewohner in die
Flucht und belagert die Hauptstadt.
Eine Revanche des geschlagenen Heeres? Der russische Verteidigungsminister
Marschall Igor Sergejew will „die Ordnung
wiederherstellen“. Er sagt: „Wir sind hierher gekommen, um nie wieder zu gehen.“
Generaloberst Nikolai Koschman, Jelzins
Statthalter in den „befreiten Gebieten“,
träumt von einem tschetschenenfreien
Land: Grosny werde nach Ende der Kämpfe nicht wieder aufgebaut – die Stadt habe
kein Recht mehr zu existieren.
Oder dient der Krieg als Heilmittel für
alle russischen Leiden? Zumindest lenkt
der Tschetschenien-Feldzug ab von Finanzskandalen und korrupten Verstri-
Tscherkessk
Suchumi
Schwarzes Meer
Adscharien
100 km
zu
Wladikawkas
Tschetschenien MachaNasran Grosny
Nord-
GEORGIEN
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Republik
Adygien
Inguschien
KaratschaiKabardinoTscherkessien Balkarien
Abchasien
Naltschik
Republiken am
Kaukasus
Bevölkerung
Anteil der Russen
vorherrschende Religion
Kaukasus-Republiken innerhalb Russlands
Maikop
Explosive
Mischung
bestehende
geplante Pipeline
Konfliktherd
RUSSLAND
Adygien
Tiegel von hundert Völkerschaften, als unzugängliches Versteck für lokale Fürsten,
die fast alle Transitstraßen blockiert haben. Beinahe täglich erschüttern Terroranschläge, Entführungen und Scharmützel
die Schluchten des Berglands zwischen
Europa und Asien, das etwas größer als
Deutschland, doch nur von 22 Millionen
Einwohnern besiedelt ist.
Jahrhundertelang weckte das Gebiet
zwischen dem ölreichen Kaspischen Meer
und den Sonnenstränden des Schwarzen
Meeres die Begierde übermächtiger Nachbarn. Osmanen, Araber und Perser versuchten das kaukasische Babylon in ihre
Gewalt zu bringen. Im russischen Bürgerkrieg besetzten Türken und Engländer das
Land. 1942 gelangten die Deutschen bis
kurz vor Grosny, Gebirgsjäger hissten die
Reichskriegsflagge auf dem höchsten Berg
des Kaukasus – viele Einheimische empfingen begeistert die Wehrmacht.
Denn Stalin hatte ganze Völker willkürlich aufgeteilt, den Islam unterdrückt und
gleich mehrmals das Schriftsystem geändert. Nach dem Abzug der Deutschen übte
der Diktator Vergeltung: Tschetschenen,
Inguschen, Karatschaier und Balkaren ließ
er als Kollaborateure nach Sibirien und
450000
68%
Christentum
tschkala
Dagestan
KaratschaiTscherkessische
Republik
Republik
NordOssetien
Kaspisches
Meer
663000
30%
Christentum
Republik
Tschetschenien
Tiflis
Eriwan
TÜRKEI
ASERBAIDSCHAN
Berg-Karabach
(z. Zt. armenisch
kontrolliert)
Baku
(zu Aserbaidschan)
IRAN
797000
6%
Islam
Selbständige
Kaukasus-Staaten
Armenien
Nachitschewan
KabardinoBalkarische
Republik
792000
32%
Islam
Republik
Inguschien
313000*
13%
Islam
*ohne Flüchtlinge
SüdOssetien
ARMENIEN
436000
42%
Islam
3,7 Mio.
68%
2
%
Christentum
2,1 Mio.
6%
Islam
Republik
Dagestan
Georgien
5,4 Mio.
68%
6%
Christentum
Aserbaidschan
7,7 Mio.
68%
2%
Islam
REUTERS
AP
Mittelasien deportieren, was hunderttausende das Leben kostete.
„Die Gegend war menschenleer“, erinnert sich Schriftsteller Anatolij Pristawkin,
der 1944 als obdachloser Junge in den fast
entvölkerten Kaukasus verschickt worden
war. „Wir hörten nachts Kanonen und
Bomben, aber wir wussten nicht, dass in
den Bergen ein Krieg tobte, über den
während der ganzen Sowjetherrschaft keine Zeile geschrieben wurde.“ Mit dem
Ende der UdSSR explodierte der angestaute Druck.
Selbst der russischen Intelligenzija, welche einst die lärmenden, geschäftstüchtigen
Kaukasier als exotische Paradiesvögel bewundert hatte, blieb der ungestüme Freiheitsdurst der von Moskau unterdrückten
Völker bis heute fremd. Namhafte Professoren erklärten die aufständischen Tschetschenen zu einer „schlechten Ethnie“;
Dichter-Patriarch Solschenizyn wollte das
Problem der Rebellenrepublik durch den
Bau einer Art Berliner Mauer lösen.
Auch Michail Gorbatschow billigt den
neuen Feldzug. Denn befreit von der Sowjetherrschaft gleicht der Kaukasus einem
Hexenkessel.
Lokale Konflikte schürt Moskau nach
Kräften, wenn sie der eigenen Herrschaft
dienen. Vor sieben Jahren brach zwischen
den muslimischen Inguschen, die nach Stalins Tod aus der Verbannung zurückkehren
durften, und den christlichen Osseten ein
Kampf um Wohnrechte in der einst gemeinsamen Hauptstadt Wladikawkas aus.
12 000 russische Soldaten marschierten
ein, stellten sich auf die Seite der Osseten
und trieben 70 000 Inguschen über die
Grenze nach Osten: Es war eine Militäroperation, „in Armeestäben professionell
geplant, mit bestialischen Strafaktionen
und grausamer Schändung der Bevölkerung“, wie die Soziologin Swetlana Tscherwonnaja sagte. Noch heute befinden sich Russische Rekruten in Tschetschenien: „Hergekommen, um nie wieder zu gehen“
beide Völker de facto im Kriegszustand.
Tscherkessen und Karatschaier, von Sta- Polizei sind von Awaren besetzt, die nur richtet worden, 3500 Religionslehrer unlin einst willkürlich zusammengespannt, ein Viertel der Bevölkerung stellen. Mos- terrichten den Koran. Russische Truppen
haben dieses Jahr den Hass aufeinander kau hat 22 000 Polizisten und 15 000 Solda- zerbombten im August mehrere Dörfer mit
gelernt, weil sie sich jeweils von den ande- ten stationiert – um „extremistische Got- gut funktionierender islamistischer Verwaltung. Nun drohen die Klans und Stämren dominiert fühlen. Vor sechs Monaten teskrieger“ zu bekämpfen.
5000 Moscheen sind seit dem Zusam- me, die moskauhörige örtliche Staatssiegte in Wahlen, die sein tscherkessischer
Gegenkandidat Derew für gefälscht hält, menbruch des Imperiums in Dagestan er- führung wegzusprengen.
In Abchasien, abgespalten von Georgien,
der in Moskau aufgewachsene Halbwurden im Oktober sieben Uno-BeobachKaratschaier Semjonow, früher Beter als Geiseln entführt – Präsident Eduard
fehlshaber des russischen Heeres.
Schewardnadse, der mehrere Attentate nur
Nach wochenlangen Demonstrationen
knapp überstand, möchte den Separader Tscherkessen gegen den vertisten-Sprengel rasch zurückerobern.
meintlichen Agenten Moskaus verGeorgien hatte wie Armenien und Asermittelte Putin jetzt einen faulen Kombaidschan immerhin den Sprung in die Unpromiss: Semjonow bleibt ein Jahr,
abhängigkeit geschafft, als das Moskauer
dann wird wieder abgestimmt.
Reich 1991 in Konkurs geriet. Nur mit
In Dagestan, wo über zwei Dutzend
Mühe bewältigten die Führer der drei ReNationalitäten leben, hatten die Bolpubliken die Wirren der Wendezeit, zwei
schewiki besonders brutal die Völkervon ihnen – der Georgier Schewardnadse,
schaften umgruppiert und Siedlungs71, und der Aseri Gejdar Alijew, 76, – diengebiete zerrissen – jetzt tobt der
ten einst in höchsten Rängen der KPdSU,
Kampf um das angestammte Acker- Särge der Attentatsopfer in Eriwan
sie saßen im Politbüro. Beide mussten sich
land. Schlüsselposten in Politik und „Elende, halb verhungerte Existenz“
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P. N. KASSIN
DPA
geopolitisches Loch“ gefallen. Alle Ansätze zu einer Vernunftpolitik habe Jelzin
in den Reißwolf gesteckt, klagt auch der
Dagestaner Abdulatipow, Minister im
Kreml-Kabinett: „das Konzept einer neuen Nationalitätenpolitik, den Plan zum
Wiederaufbau Tschetscheniens, ein Sozialprogramm für den Kaukasus“.
Auch der einstige Unterhändler Lebed
sieht das so: Seit dem Friedensschluss mit
Grosny habe Moskau nie wirklich Kontakt
zum tschetschenischen Präsidenten Aslan
Maschadow gesucht.
Vorigen Dienstag jedoch brach der
Oberkommandierende Jelzin überraschend
seinen Urlaub in Sotschi ab und kehrte
nach Moskau zurück. Beobachter sahen
erstmals Kriegspremier Putin unter Druck,
dem es nicht gelungen war, den Rest der
Ölfeld vor Baku: Pipeline durch Tschetschenien ans Schwarze Meer
Welt für die russische Sicht
im Tschetschenien-Konflikt
nach 1991 in mehreren Bürgerkriegen und
einzunehmen.
Revolten extremer Nationalisten, SeparaZeitgleich brachten rustisten und Putschisten erwehren.
sische Politiker wieder
Doch die jungen Staaten im SüdkaukaMaschadow, den der Kreml
sus gründen sich auf schwache Fundalängst zum Ober-Terrorismente. Armut, Korruption und Misswirtten abgestempelt hatte, als
schaften bremsen den Neuanfang. In ArVerhandlungspartner ins
menien herrscht seit dem blutigen Überfall
Spiel: Der wandlungsfäaufs Parlament ein gefährliches Machthige Jelzin muss seinen
vakuum: Vor laufenden Fernsehkameras
Kritikern im Westen pünkterschossen Ende Oktober Geiselnehmer
lich zum OSZE-Gipfel in
unter anderen den Premier und den ParIstanbul am 18. November
lamentschef.
entgegenkommen. Denn
„Heute führen wir in diesem Land eine
am Bosporus wird auch
elende und halb verhungerte Existenz“,
das Abrüstungsabkommen
durfte der Anführer der Terroristen im
über konventionelle WafFernsehen klagen, ehe er abgeführt wurde.
fen besprochen, das Mos„Tausende Kinder haben keine Schuhe Dorfposten in Dagestan: 5000 neue Moscheen
kau mit der Truppenkonoder Schulbücher. Unsere Wirtschaft ist
zusammengebrochen, wir stehen vor der
Solche Kurswechsel südlich des Kauka- zentration in Tschetschenien gebrochen
Gefahr, unsere Staatlichkeit zu verlieren.“ sus treiben die Russen in die Enge. Wird ih- hat. Schon warnen russische Generäle vor
Seit Jahren liegt Armenien im Konflikt nen jetzt sogar der Zugang zu den Ölquel- der „erneuten Ohrfeige“ eines Rückzugsmit Aserbaidschan um die Enklave Berg- len des Kaspischen Meeres und zu den befehls.
Ein russisches Geheimdienst-Dossier rät
Karabach. In der aserischen Hauptstadt kaukasischen Transportrouten versperrt,
Baku setzte Präsident Alijew soeben die wird Russland seine Großmachtstellung dem Kreml zum Umdenken. Ein Desaster
auch im zweiten Tschetschenien-Krieg, so
gesamte außenpolitische Führung ab: Sie schwerlich halten können.
hatte gegen einen Kompromiss im DauerUm Georgien und Aserbaidschan unter warnt der Befund, „wäre die völlige Disstreit mit Armenien opponiert.
Druck zu setzen, unterstützt Moskau die kreditierung der Staatsmacht und hätte die
Allen Staaten geht es jetzt auch ums Öl: Gegner von Schewardnadse und Alijew. Abtrennung des Nordkaukasus zur Folge“.
Jelzins Feldzug könnte aber auch die
Wird der Kaukasus nicht befriedet, ziehen Die Separatisten in Abchasien erhalten
sich die internationalen Konzerne zurück, ebenso Hilfe wie der adscharische Pro- Russische Föderation sprengen. Der Tschedie das Erdöl im Schelf des Kaspischen vinzfürst Abaschidse, der Schewardnadse tschene Ruslan Chasbulatow, ehemals
Meeres fördern möchten. Pipelines sollen stürzen will. Das abgelegene Armenien, Russlands Parlamentspräsident, sieht nur
das flüssige Gold von Aserbaidschan durch eingekeilt zwischen zwei feindlichen Mus- eine finstere Alternative: Führt Russland
Georgien oder durch Dagestan und Tsche- lim-Staaten sowie Georgien, ist Moskaus sich am Kaukasus weiterhin als Eroberer
tschenien ans Schwarze Meer pumpen. letzter Verbündeter im Kaukasus. Dort auf, dann zieht es sich damit von der ZiviWeitere Rohölleitungen sind geplant – an bauen die Russen ihre militärische Präsenz lisation zurück und verdorrt ohne Hilfe
Tschetschenien vorbei durch die Türkei aus – mit neuen MiG-Jägern und modernen aus dem Westen finanziell, technisch, kulturell. Oder es verliert den Nordkaukasus
zum Mittelmeer. Jetzt soll mit dem Bau Abwehrraketen.
begonnen werden.
Im Streit um Berg-Karabach hatten sich und lässt damit Unruhen in anderen ReDamit kommen wieder die Großmäch- Alijew und sein armenischer Amtskollege gionen entstehen: im Fernen Osten etwa
te ins Spiel. Die Amerikaner, die das Öl- Kotscharjan offenbar auf einen Gebiets- oder im Gebiet Kaliningrad (Königsberg).
Doch wenn Russland in seine Regionen
kartell im Nahen Osten ausmanövrieren austausch geeinigt. Dies war womöglich
möchten, haben den Kaukasus vor Jahren der Anlass für das Massaker im Parlament zerfällt, so warnt Tschetschenien-Komschon zur Zone „unseres nationalen Inter- von Eriwan. Es fiel zusammen mit einem mandeur General Wladimir Schamanow,
esses“ erklärt. Alijew bot der Nato bereits Besuch des stellvertretenden US-Außen- dann bedrohen „anderthalb Dutzend Kernwaffenstaaten in unkontrollierbarem Zueinen Luftwaffenstützpunkt an, Scheward- ministers Strobe Talbott.
nadse will „kräftig an die Tür der Allianz
Im Kaukasus, bilanziert Schriftsteller stand“ die Welt.
Fritjof Meyer,
Christian Neef
klopfen“ (siehe Interview Seite 190).
Pristawkin, sei der Kreml plötzlich „in ein
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Werbeseite
Werbeseite
Ausland
GEORGIEN
„Die Grenze ist offen“
Präsident Eduard Schewardnadse über den Konfliktherd
Kaukasus und seinen Wunsch, der Nato beizutreten
geschlossen. Aus Rücksicht gegenüber
Moskau?
Schewardnadse: Die Grenze ist offen. Frauen, Kinder, alte Menschen, die zu uns flüchten, nehmen wir auf. Nur Männer, die ein
Gewehr tragen können, lassen wir nicht
durch.
SPIEGEL: Die Russen trauen Ihnen nicht.
Sie möchten gern eigene Truppen an dieser Grenze postieren.
Schewardnadse: Diese Forderung gibt es.
Aber sie verträgt sich nicht mit unserer
Souveränität. Niemand kann unsere Grenzen besser schützen als unsere eigene
Armee.
SPIEGEL: Wenn den Russen eine Befriedung
nicht gelingt, droht dem Kaukasus dann
bald das gleiche Schicksal wie dem Balkan?
Schewardnadse: Die drei Staaten des Südkaukasus, außer Georgien noch Armenien
und Aserbaidschan, schließen eine solche Entwicklung aus. Jede Einmischung
von außen wäre ein unverantwortliches
Abenteuer.
SPIEGEL: Der Südkaukasus wird doch
zwangsläufig in Mitleidenschaft gezogen,
wenn der Nordkaukasus brennt.
Schewardnadse: Mit unseren eigenen Problemen werden wir selbst fertig. Doch wir
brauchen natürlich Stabilität für die gesamte Region.
SPIEGEL: Ist das der Grund dafür, dass Sie
Ihr Land so schnell wie möglich in der Nato
sehen möchten?
Schewardnadse: So schnell wie möglich –
das habe ich niemals gesagt.
SPIEGEL: Im Jahr 2005 wollen Sie beim westlichen Verteidigungsbündnis anklopfen.
Schewardnadse: So ist es. Aber: Wenn Sie
bei mir anklopfen, könnte ich Ihnen die
Tür öffnen – oder auch nicht.
SPIEGEL: Demnach liegt es an der Nato, ob
Georgien eintritt. In Moskau wird befürchtet, für Georgien würde die Nato ihre
Eingangstür sofort aufmachen. Eine russi-
und internationaler Beobachter gelöst
nichtkaukasische Macht, kämpft im Kau- werden.
kasus gegen angebliche Terroristen – wie SPIEGEL: Sind Sie da nicht zu optimistisch?
weit darf sie dabei gehen, um nicht in Schewardnadse: Es wird positive Ergebnisden Verdacht ethnischer Säuberung zu se geben. Das beweist schon das Beispiel
geraten?
Süd-Ossetien, wo der Versöhnungsprozess
Schewardnadse: Der Nordkaukasus ist für zwischen den Volksgruppen bereits weRussland kein fremdes Territorium. Dort sentlich weiter fortgeschritten ist. Georleben viele Russen, und dort sind sie zu gische wie ossetische Flüchtlinge kehren
Hause. Ich weiß nicht, für welche Zeit- wieder heim. In zwei, drei Jahren werden
spanne Moskaus gegenwärtige Operatio- die laufenden Verhandlungen alle Streitnen geplant sind. Aber wenn sie sehr lan- fragen geklärt haben.
ge anhalten, ist nicht auszuschließen, dass SPIEGEL: Taugt Ihr Konzept einer Internasie zu ethnischen Säuberungen ausarten.
tionalisierung wie im Fall Abchasien auch
dazu, den TschetscheSPIEGEL: Bitte konkreter:
nien-Konflikt zu bewälBilligt Georgien Moskaus
tigen?
zweiten TschetschenienKrieg in diesem JahrSchewardnadse: Das wird
zehnt? Ist er eine innerRussland nie zulassen.
russische Angelegenheit,
SPIEGEL: Obwohl es verwird dabei die Verhältnisnünftig wäre?
mäßigkeit der eingesetzSchewardnadse: Alle Welt
ten Mittel gewahrt?
könnte sich für eine Einstellung des Krieges ausSchewardnadse: Wir müssprechen – wenn Russland
sen die territoriale Intedas nicht will, gibt es dort
grität Russlands respektiekeinen Frieden. Russland
ren. Dies ist seine interne
ist schließlich ständiges
Angelegenheit. AndererMitglied des Uno-Sicherseits stellt sich die Frage
heitsrats und kann jedernach der Moral. Jeder
zeit von seinem Vetorecht
Staat ist verpflichtet, gegen
Gebrauch machen.
den Terrorismus zu kämpfen. Aber in TschetscheSPIEGEL: Sie haben Ihre
nien sind viele unschuldige Staatschef Schewardnadse
Grenze zu Tschetschenien
Opfer zu beklagen.
SPIEGEL: Sie kennen das Dilemma aus dem
eigenen Land. Zwei nationale Minderheiten
Georgiens fordern seit Jahren mehr Unabhängigkeit: Osseten und Abchasen haben
sich praktisch von Tiflis losgesagt, und die
Führer der Adscharen beschuldigen Sie,
das Land „in den Krieg zu führen“. Wie lösen Sie denn diese Konflikte?
Schewardnadse: Abchasien, Süd-Ossetien
und Adscharien sind alles Bestandteile
Georgiens. In Abchasien hat es ethnische
Säuberungen gegeben, das ist erwiesen: An
die 300 000 Georgier, aber auch Armenier
und Russen sind vertrieben worden, fast
die Hälfte der Bevölkerung Abchasiens.
Tausende wurden umgebracht, nur weil sie
Georgier waren.
SPIEGEL: Die Abchasen hatten in diesem
Konflikt andere Völker des Nordkaukasus
auf ihrer Seite.
Schewardnadse: Es gab Einmischung von
außen. Deshalb kann dieses Problem heute auch nur mit Hilfe der Weltgemeinschaft Lieferung eines US-Militärhubschraubers für Tiflis: „Jede Einmischung ein Abenteuer“
AP
AFP / DPA
SPIEGEL: Herr Präsident, Russland, eine
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sche Zeitung hat bereits die böse Botschaft
verbreitet: Schewardnadse tauscht Russland gegen die Nato.
Schewardnadse: Bislang befinden wir uns in
der Phase partnerschaftlicher Beziehungen zur Nato. Die nächste Etappe wird davon bestimmt, wie sich Russlands besondere Beziehungen zum Nordatlantikpakt
entwickeln. Erst wenn das klar ist, werde
ich anklopfen.
SPIEGEL: Gab es aus dem Brüsseler NatoHauptquartier schon Reaktionen auf Ihren
Vorstoß?
Schewardnadse: Ich habe noch nichts gehört. Aber wir wissen ohnehin, dass der
Beitritt zur Nato eine komplizierte Sache
ist.
SPIEGEL: Ihre Ankündigung und die ähnlichen Ersuchen der baltischen Staaten
müssen doch Russlands Ängste entfachen,
von der Nato militärisch eingekreist zu
werden.
Schewardnadse: Warum nimmt Moskau
den baltischen Republiken dann nicht übel,
in die Nato zu drängen? Nur wir werden
für den gleichen Wunsch sofort scharf angegriffen.
SPIEGEL: Wohl, weil Georgien bislang als
ein ausgesprochen russlandfreundliches
Land gilt.
Schewardnadse: Wir sind wirklich Russlands Freunde und an guten Beziehungen
interessiert. Eine antirussische Politik können wir uns gar nicht leisten. Sie wäre auch
unvernünftig. Aber Moskau muss sich daran gewöhnen, dass das russische Imperium
nicht mehr besteht. Und daran, dass wir ein
selbständiges, unabhängiges und freies
Land sind.
SPIEGEL: Ein kleines Land.
Schewardnadse: Es ist dennoch unsere innere Angelegenheit, ob und wo wir anklopfen. Schließlich hat uns Russland auch nicht
gefragt, als es seinen Sondervertrag mit
der Nato geschlossen hat.
SPIEGEL: Haben Sie bei der Nato vorgefühlt, weil Sie möglicherweise Schutz vor
dem russischen Imperialismus suchen?
Schewardnadse: Nein.
SPIEGEL: Die Nato ist eine Verteidigungsgemeinschaft. Gegen wen möchten Sie sich
besser verteidigen können?
Schewardnadse: Gerade weil wir ein kleines Land sind, wollen wir dasselbe Niveau
der Landesverteidigung wie die Mitgliedstaaten der Nato. Allerdings: Der Antagonismus von Russland einerseits und der
Nato andererseits ist unvernünftig. Er kann
und wird überwunden werden.
SPIEGEL: Verstehen wir das richtig: Sie wollen in die Nato und zugleich in der GUS
bleiben?
Schewardnadse: Warum soll das nicht möglich sein?
SPIEGEL: Sie wären die ersten.
Schewardnadse: Wer weiß.Vielleicht geht ja
Russland diesen Weg noch vor uns. Nur:
Was bliebe dann noch von der Nato?
Interview: Jörg R. Mettke
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Ausland
FRANKREICH
Ein Dessert
zu viel
Der Rücktritt des Finanzministers
schwächt den liberalen
Flügel der Regierung und belastet
das Verhältnis
zwischen Jospin und Chirac.
E
192
Zurückgetretener Minister Strauss-Kahn*: Falsch datierte Briefe eingereicht
finanzierte Imperium geriet rasch in Schieflage. Das Management, traditionell der
Sozialistischen Partei verbunden, suchte
verzweifelt nach frischem Kapital.
Da traf es sich gut, dass gerade ein Mann
mit bewährter Überredungskunst und exzellenten Beziehungen zur Verfügung
stand: DSK, der nach der verheerenden
Wahlniederlage der Sozialisten 1993 seinen Ministerposten verloren hatte und
auch nicht ins Parlament gewählt worden
Rechnung zu stellen, das er ordnungsgemäß versteuerte.
Nun wäre eine solche Anwaltstätigkeit,
auch wenn sie nicht ganz frei von Hautgout
ist, kaum zu verurteilen gewesen. Aber
Mitte 1998 beanstandete der Rechnungshof
die Verluste sowie die hemmungslose Diversifizierung der Studentenkasse, und
die Justiz begann, wegen Veruntreuung
öffentlicher Gelder zu ermitteln. Dabei
stießen die Untersuchungsrichter auch auf
die Honorarrechnung von StraussKahn, inzwischen der wichtigste
Minister in der Regierung Jospin.
Sie schöpften den Verdacht, DSK
könne für eine fiktive Arbeit entlohnt worden sein – eine in Frankreich bei linken wie bei rechten Politikern beliebte Methode, verdiente Parteifreunde zu begünstigen.
So bezahlte das gaullistisch beherrschte Pariser Rathaus jahrelang
ganze Heerscharen von Scheinangestellten, die für ihr Geld nichts
taten. Sogar die Frau des Bürgermeisters Jean Tiberi kassierte für
ein wertloses Gutachten, was ihr
jetzt ein peinliches Strafverfahren
eintrug.
Strauss-Kahn erkannte die Gefahr und
bat das Pariser Anwaltsgericht, die Rechtmäßigkeit seiner Bezüge von der Studentenkasse zu begutachten. Er bekam, was
er wollte – einen erstklassigen Persilschein.
„Die Arbeiten, die Sie erbracht haben,
sind bedeutsam gewesen“, bestätigten die
Kollegen.
Das Dumme daran: In den Unterlagen,
die Strauss-Kahn daraufhin triumphierend
der Justiz übergab, befinden sich offensichtlich mehrere falsch datierte, erst
nachträglich ausgestellte Briefe und BeFOTOS: AFP / DPA
r war der funkelnde Stern in der
grauen Regierung des Sozialisten
Lionel Jospin, und sein weiterer Aufstieg schien unaufhaltsam: Bürgermeister
von Paris hätte er werden können, später
dann Premierminister, falls sein Freund
Jospin in knapp drei Jahren die Präsidentschaftswahl gegen Jacques Chirac gewonnen hätte.
Doch nun erlebte Dominique StraussKahn, 50, das Drama des überbegabten
Kindes. Ein abrupter Abgang nach 881 Tagen im Amt war der letzte Dienst, den der
Superminister für Wirtschaft, Finanzen und
Industrie dem Regierungschef erweisen
konnte.
Starren Blicks, ohne mit einem Wort von
der vorbereiteten Erklärung abzuweichen,
gab der rhetorisch sonst so Gewitzte vorigen Dienstag seinen Rücktritt bekannt –
ein wegen mutmaßlicher Fälschungen und
krummer Geschäfte an den Pranger gestellter Politiker, der nunmehr als einfacher „Bürger“ um die Wiederherstellung
seiner Ehre kämpft.
Kurz zuvor hatte Strauss-Kahn, wohl der
kompetenteste und erfolgreichste Finanzminister Frankreichs seit 25 Jahren, der Nation, den Sozialisten und sich selbst noch
glänzende Zeiten in Aussicht gestellt: die
endgültige Überwindung der Wirtschaftskrise, eine lange Periode stabilen Wachstums, Vollbeschäftigung vor dem Ende des
nächsten Jahrzehnts.
Die Weissagung war allerdings mit einem Zusatz versehen, der im Nachhinein
ziemlich prophetisch klingt: „Wenn wir
keine Dummheiten machen.“
Die Wahrheit ist, dass „DSK“, wie er
halb kumpelhaft, halb ehrfürchtig genannt
wurde, über eine geradezu unglaubliche
Dummheit stolperte, die er allein sich
selbst zuzuschreiben hat. Eine alte Affäre
um das Geschäftsgebaren der nationalen
studentischen Krankenkasse Mnef („Mutuelle nationale des étudiants de France“)
holte ihn überraschend ein.
Mitte der achtziger Jahre hatte die Versicherung einen gewagten Expansionskurs
begonnen. Rund 50 Tochtergesellschaften
wurden gegründet, die Studentenwohnungen, Kantinen und Cafeterias, Buch- und
Computerläden verwalteten. Doch das verschachtelte, auch mit öffentlichen Geldern
Neuer Minister Sautter, Premier Jospin
Die Nerven liegen blank
war. Von 1994 bis 1997 beriet er die Kasse.
Es gelang ihm, einen potenten Geldgeber
zu überreden, mit 21 Millionen Francs
(über sechs Millionen Mark) bei einer Holding der Mnef einzusteigen.
Eine diskrete Arbeit, die so gut wie keine Spuren in den Akten hinterließ und deren Aufwand sich nachträglich schwer bemessen lässt. Strauss-Kahn erlaubte sich
jedenfalls, für seine Bemühungen ein Honorar von 603 000 Francs (180 000 Mark) in
* Mit seiner Ehefrau Anne Sinclair.
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scheinigungen. Das will jedenfalls das kriminaltechnische Labor der Pariser Polizei
herausgefunden haben.
Der Superminister als plumper Urkundenfälscher? DSK wusste, dass er „matt
gesetzt“ war, wie er Vertrauten gestand.
Zu Jospin, der „nicht die Richter über Bildung und Auflösung einer Regierung entscheiden lassen“ wollte, sagte er: „Lionel,
ich muss gehen.“
Sein Verlust ist für den Premier ein harter Schlag, denn ohne Strauss-Kahn, der
mit seiner pragmatischen Bonhomie die
Wirtschaftsbosse und die Wähler der Mitte zu beruhigen verstand, droht die Regierung nach links zu kippen. Fortan fehlt das
liberale Gegengewicht in einem Kabinett,
in dem Innenminister Jean-Pierre Chevènement, ein linksnationalistischer Querdenker, und Arbeitsministerin Martine
Aubry, eine streitbare Dogmatikerin, auf
ihre Chancen lauern.
Der sofort ernannte Nachfolger, der
Staatssekretär Christian Sautter, kann diese Aufgabe kaum wahrnehmen. Er machte
mit dem sozialistischen Parteibuch als
Funktionär Karriere, ohne jemals gewählt
worden zu sein. Seine Schweigsamkeit in
der Öffentlichkeit trug ihm den Spottnamen „der Karpfen“ ein – ein Statthalter,
kein ebenbürtiger Ersatz.
Wie sehr bei dem angeschlagenen Jospin
derzeit die Nerven blank liegen, zeigte sich
in einer Fragestunde des Parlaments. Als
ein gaullistischer Abgeordneter wissen
wollte, ob die studentische Krankenversicherung zur verdeckten Parteienfinanzierung der Sozialisten beigetragen habe, beschuldigte Jospin den Fragesteller implizit,
von Mitarbeitern des konservativen Präsidenten gespickt worden zu sein.
Das trug ihm sogleich eine schneidende
Rüge des Staatschefs ein. „Unterstellung
dient niemals der Wahrheit“, kanzelte
Jacques Chirac den Regierungschef ab und
erinnerte daran, dass „die Führung der
Staatsgeschäfte Selbstbeherrschung und
einen kühlen Kopf verlangt“.
So hat der Fall Strauss-Kahn auch noch
Züge einer Staatsaffäre bekommen und die
bislang erstaunlich harmonische Kohabitation zwischen dem gaullistischen Präsidenten und dem sozialistischen Premierminister gestört. Jospin, dem bisher fast
alles zu gelingen schien, muss aufpassen,
dass er die Kontrolle behält, sonst kann er
alle Hoffnungen, 2002 als Schlossherr in
den Elysée einzuziehen, fahren lassen.
Dominique Strauss-Kahn, der mit seiner
stämmigen Figur und dem Genießergesicht – im Gegensatz zum Asketen Jospin
– die ökonomisch erwünschte Konsumlust äußerst glaubwürdig verkörperte,
scherzte gelegentlich über sich, er sei
einer, der zum Nachtisch am liebsten Käse und etwas Süßes esse. Diesmal war es
ein Happen zu viel, und seine Genossen werden noch lange am Bauchgrimmen
leiden.
Romain Leick
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Kanzler Schröder in Peking: „Verschont mich mit Deutschland“
dass das Ansehen des deutschen Kanzlers
proportional zur Entfernung vom Kanzleramt wächst.
Der Zuspruch half dem angeschlagenen
Regierungschef sichtlich auf. „Er hat gelitten wie ein Hund“, berichtet ein Freund.
Sieben 16-Stunden-Tage pro Woche schufWeit weg von den deutschen Querelen, in
te der Kanzler, und dennoch beziehe er
Japan und China, schlug Bundeskanzler Gerhard Schröder
nur Prügel.
Im Land der aufgehenden Sonne löste
lang entbehrte Sympathie entgegen.
sich sogar eine Peinlichkeit vom Beginn
inks ein Auto, rechts VW-Chef Ferdi- Sympathie mitreißen. „Anerkennenswert“, der Reise wunderbar auf. Kurz vor dem
nand Piëch, vorn eine Wand von Ka- lobte Schickedanz-Vorstand Ingo Riedel Abflug hatte DGB-Chef Dieter Schulte die
meras und rundherum ein glückli- das Engagement des Regierungschefs. Teilnahme überraschend abgesagt – „aus
cher Ort, der vom Automobilwerk lebt. Bernd Gottschalk, Chef des Verbandes der persönlichen Gründen“. Wollte sich da
Dazu schrammelt eine Damenkapelle in Automobilindustrie, mochte sich „wirklich schon einer von dem Kanzler im Sinkflug
Stützstrümpfen Beethovens „Freude schö- nicht beklagen“, und der im Hoffnungs- absetzen?
markt der neuen Mitte aktive SteckdosenDer Grund für die plötzliche Absage
ner Götterfunken“.
Gerhard Schröder fühlt sich endlich mal Hersteller Walter Mennekes aus dem Sau- fand sich gleich am ersten Abend in Tokio
wieder so richtig wohl: In Anting vor den erland bekannte: „Ich find den Kanzler im Hotelzimmer des Industriellen Jürgen
Toren Schanghais ist alles wie in Wolfs- gut.“ Wann hatte der so viel geballte Net- Heraeus. Als der Mann aus der Wirtschaftsdelegation versuchte, das Zahlenburg. Alles wie früher in Niedersachsen, als tigkeit zum letzten Mal gehört?
Nun weiß Schröder endlich, warum Wil- schloss seines Koffers zu öffnen, wollte ihm
dem Ministerpräsidenten Schröder das Rely Brandt, Helmut Schmidt und Helmut das nur mit einiger Gewalt gelingen. Welgieren noch Spaß machte.
Auf Staatsbesuch in Japan und China ver- Kohl so gern auf Reisen gegangen waren. che Überraschung: Heraeus fand die Wägangene Woche erholte sich der Kanzler Es scheint eine Art Naturgesetz zu sein, sche des DGB-Chefs.
Nach dem Flug von Düsvon seiner Berliner Republik. „Verschont
seldorf zur Kanzlermaschimich mit Deutschland“, bat er mehrmals,
ne nach Berlin hatte der
„oder wollt ihr mir den Tag verderben?“
Unternehmer versehentlich
Einmal morgens, einmal abends studierden Koffer des Gewerkte Schröder rasch die Meldungen aus der
schafters vom Band geHeimat, ansonsten ersparte ihm die Delenommen, während Schulte
gation Reizwörter wie Rente, Riester und
annahm, seine Utensilien
Rot-Grün. Stattdessen riefen die Japaner
seien verschwunden – und
„Bravo, Gehado Schlöda“ und applaudem Kanzler nur wegen
dierten, wo immer er auftauchte.
fehlender Kleider absagte.
In China hieß ihn die Pekinger Zeitung
In diesem Klima der
„Chenbao“ liebevoll willkommen als eiHarmonie glätteten sich in
nen „gelernten Marxisten“, der in jungen
Schröders Gesicht zuseJahren geprahlt habe, er könne „alle Texthends die Knitterfalten, die
stellen auswendig zitieren“.
vom Chaos-Regiment in
Die mitreisenden Manager aus Deutschder deutschen Innenpolitik
land ließen sich von der gelben Welle der
übrig waren. Wie schon im
Mai, als sich Schröder stell* Am vergangenen Mittwoch im VW-Werk Anting bei
vertretend für die NatoSchanghai.
Staatsgäste Schröder, Piëch (r.)*: Diplomatische Eisbahn
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Im Reich der neuen Mitte
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Werbeseite
Werbeseite
Ausland
Staaten bei einem Kurzbesuch in Peking
für die Bombardierung der chinesischen
Botschaft in Belgrad entschuldigen musste,
machte er auch diesmal eine weit bessere
Figur, als sie der zweidimensionale Außenpolitiker Kohl („Ist ja hier wie bei uns“/„Ist
nicht wie bei uns“) je gemacht hatte.
Auf der diplomatischen Eisbahn China
hielt der Nachfolger geschickt die Balance
zwischen der Forderung nach mehr Rechtsstaat und der von den Chinesen nicht geduldeten Einmischung in innere Belange.
Endlich war auch der kleine Koalitionspartner in Gestalt der grünen Parlamentarierin Antje Vollmer zufrieden gestellt.
So besuchte der nicht übermäßig historisch denkende Schröder in Schanghai eine
Synagoge, nachdem er sich zuvor zum Gespräch mit Intellektuellen getroffen hatte.
Die verstanden auch seine Anmerkung,
dass die Deutschen angesichts ihrer jüngeren Vergangenheit „eine Missionarshaltung“ besser nicht einnähmen, keineswegs falsch.
Schröder präsentierte sich als verantwortungsvoller Erbe von Willy Brandt. Der
Leitspruch der Ostpolitik, Wandel durch
Das Ansehen des Kanzlers
wächst proportional zur
Entfernung vom Kanzleramt
Annäherung, drehte sich in Fernost zu einer Annäherung durch Wandel.
Maßgeblichen Anteil am behutsamen
Auftritt Gerhard Schröders hatte der
Schriftsteller Tilman Spengler. Der ChinaKenner las jede Rede des Regierungschefs und diente dem Kanzler als asiatischer Knigge.
Mit der ihm eigenen Freude für skurrile
Situationen plauderte der Dichter beim
Lunch im Tokioter Kaiserpalast mit einem
der beiden Prinzen, wie vom Protokoll
empfohlen, über Fische.
Nur interessierte sich der kaiserliche
Nachwuchs in Wirklichkeit für Hühner,
über die er eine Doktorarbeit geschrieben
hat. Wacker kämpfte Spengler mit der
Dolmetscherin, bis sie „den Unterschied
zwischen Eierleiter und Eileiter verstanden“ hatte.
Einen Feind fürs Leben machte sich der
Literat im CSU-Parlamentarier Carl-Dieter
Spranger. Als sich dem ehemaligen Entwicklungshilfeminister im Hotel die Tür
zum überfüllten Aufzug öffnete, krähte
Spengler von hinten: „Das Boot ist voll,
Herr Spranger.“ Die Liftbesatzung grölte
vor Freude, nur der Konservative mit
Deutschlands schärfstem Scheitel mochte
am Spaß nicht teilhaben.
Weil Gerhard Schröder so viele entspannte Tage in seiner Kanzlerschaft kaum
wieder erleben wird, schlug ein praktisch
denkender Diplomat vor: „Wir gehen jetzt
jede Woche auf Staatsbesuch.“
Andreas Lorenz, Hajo Schumacher
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KLIMA
Vergesst Amerika
Die USA bremsen in der Klimapolitik. Doch langsam bildet sich
eine Mehrheitsfront gegen die größte Abgas-Nation.
D
er ehemalige Umweltminister
Klaus Töpfer, nun Chef der UnoUmweltbehörde Unep, stellte den
Gästen eines intimen Mittagsmahls einen
Wahlverwandten vor: „Das ist sozusagen
mein Enkel.“ Jürgen Trittin widersprach
nicht.
Der grüne Minister und sein schwarzer
Vorfahr demonstrierten auf der Bonner
Weltklimakonferenz ein erstaunliches Maß
an Übereinstimmung. Mit bebender Stimme, in ganzen Passagen fast wortgleich, beschworen beide Ober-Ökos vergangene
Woche die Delegationen aus 173 Ländern,
die vor zwei Jahren in Kyoto beschlossenen
Richtlinien zur Reduzierung der klimagefährdenden Abgase in konkrete Beschlüsse umzusetzen. Spätestens 2002, zehn Jahre nach dem legendären Umweltgipfel von
Rio, müsse das Übereinkommen endlich in
Kraft treten.
Erster Adressat der flammenden Appelle sind die USA. Sie allein zeichnen für
mehr als ein Drittel des von den Industriestaaten in die Atmosphäre geblasenen
Klimaschädlings CO2 verantwortlich. Seit
Rio bremsen die Amerikaner eine aktive
Klimapolitik nach Kräften ab.
Sie streiten für die totale Freigabe der so
genannten Kyoto-Mechanismen. Die erlauben es den Industrieländern, sich von ihrer Verpflichtung zur Abgas-Reduktion zu
Hause freizukaufen, indem sie Umweltprojekte in Entwicklungsländern fördern
oder nicht genutzte Emissionsrechte etwa
in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion
erwerben.
In schönen Worten bekennt sich die USRegierung zwar zu den Klimazielen, doch
ihre Delegation bekämpft energisch alle
Pläne anderer Konferenzstaaten, für den
Emissionshandel eine Obergrenze festzulegen. Sonst, so der US-Delegationsleiter
Frank Loy, gebe es keine Chance für eine
Ratifizierung im von den Kyoto-feindlichen
Republikanern dominierten Senat. Loy, in
Bonn durchweg als ehrlicher Makler gelobt, soll schon vor dem Bonner Gipfel den
Kyoto-Prozess „auf dem Totenbett“ gesehen haben.
Die Dauerblockade der USA lockert ein
bisher unumstößliches Dogma der Klima* Oben: am 25. Oktober während der Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder; unten: am vergangenen
Dienstag vor dem Bonner Konferenzgebäude.
** Sebastian Oberthür, Hermann Ott: „The Kyoto Protocol – International Climate Policy for the 21st Century“. Springer-Verlag, Berlin; 359 Seiten; 98 Mark.
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politik: Ohne oder gar gegen die USA, den
größten Verschmutzer, gibt es keine Umsetzung des Vertrages. Nun formiert sich
eine neue Front unter Experten.
Schon kurz vor dem zweiwöchigen Gipfel kam Bewegung in die Strategiedebatte.
In einem Buch, das die Entwicklung seit
der Rio-Konferenz akribisch nachzeichnet,
wird die Europäische Union aufgefordert,
sich offensiv an die Spitze des Klimakampfs zu stellen – und die Amerikaner, jedenfalls vorerst, zu vergessen**.
Vertreter der Nicht-Regierungsorganisationen, die die Mammutkonferenzen seit
Rio mit ungezählten Diskussionen und
Protesten begleiten, finden Gefallen an
der politisch brisanten Idee. Die Klimadiplomaten registrieren die Entwicklung
aufmerksam und halten sich vorerst bedeckt.
Nur ohne die USA, argumentieren die
Autoren Herrmann Ott vom WuppertalInstitut für Klima, Umwelt, Energie und
Sebastian Oberthür vom Berliner Umweltforschungsinstitut „Ecologic“, ergebe
sich eine realistische Möglichkeit, das Kyo-
Umweltminister
Trittin,
Öko-Aktivisten*:
pan, Russland und die Wendestaaten Osteuropas.
Die neue Allianz, so die Autoren, könne
nur auf der Basis einer „hartnäckigen diplomatischen Anstrengung“ geschmiedet werden, „Kompromissbereitschaft aller Seiten“ vorausgesetzt. Japan, so die
Hoffnung, werde sich aus der US-amerikanischen Umklammerung lösen, schon
damit „Kyoto“ als Erfolg in die Geschichte der globalen Umweltdiplomatie
eingehe.
Die ostmitteleuropäischen Staaten, sämtlich Kandidaten für den
EU-Beitritt, könnten mit sanftem
Hinweis auf die westeuropäischen
Klima-Ideale zum Anschluss an das
neue Bündnis bewegt werden.
Russland schließlich habe zwar ein
vitales Interesse, möglichst viele
seiner wegen der Wirtschaftsmisere ungenutzten Emissionsrechte gegen Dollar zu verkaufen.
Doch sei bei dem bisherigen
Konfrontationskurs eben auch das
vollkommene Scheitern des Protokolls nicht auszuschließen – was die potenziellen Moskauer Kyoto-Profiteure
ohne jede Aussicht auf den Emissionshandel zurückließe.
Natürlich wünschen sich auch die Autoren der Studie ein Einschwenken der USA.
Das, so ihre Hoffnung, werde von selbst
kommen, sobald ein Inkrafttreten des Protokolls in Sichtweite sei und international
tätige US-Unternehmen nicht den Anschluss an die dann erwarteten höheren
Umweltstandards verlieren wollten. Erste
Anzeichen, dass die US-Multis, den republikanischen Hardlinern im Senat zum
Trotz, mit dem EU-Kurs sympathisieren,
seien schon heute erkennbar.
Noch hält es Bundesumweltminister
Trittin nicht für hilfreich, die Vereinigten
Staaten öffentlich als Bremser „vorzuführen“. Sein Bonner Delegationsleiter
Hendrik Vygen sagte vergangenen Mittwoch eine Diskussionsveranstaltung über
die Ohne-Amerika-Strategie kurzfristig
„aus Termingründen“ ab. Doch vertrauliche Gespräche über eine neue Strategie
ohne die USA sind mit russischen Experten schon vereinbart.
Der diplomatisch-moderate Kurs könnte sich ändern, wenn am 7. November 2000,
wenige Tage vor dem nächsten dann entscheidenden Klimagipfel in Den Haag, ein
Republikaner an die Spitze der Weltmacht
USA gewählt würde. Dann, so die Überzeugung vieler Delegationen, wäre Kyoto
tatsächlich tot – es sei denn, eine neue Allianz würde es allein versuchen.
„Wir wünschen uns eine Ratifizierung
gemeinsam mit den USA“, meinte die
schwedische EU-Umweltkommissarin Margot Wallström in Bonn und lächelte: „Aber
das ist keine Voraussetzung für die Ratifizierung und auch nicht dafür, das KyotoProtokoll umzusetzen.“ Gerd Rosenkranz
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to-Protokoll unverwässert und rasch im
Symboljahr 2002 (Konferenzjargon: „Rio
plus 10“) in Kraft zu setzen.
Die dafür erforderliche Zahl von 55
Staaten, die das Abkommen ratifizieren
müssen, sei das geringere Problem – schon
weil die zahlreichen kleinen Inselstaaten,
die sich wegen des steigenden Meeresspiegels im Treibhaus Erde in ihrer Existenz bedroht sehen, mitziehen würden.
US-Delegierte in Bonn*: Hardliner im Senat
AP
Viel schwieriger ist die zweite Ratifizierungshürde zu nehmen. Sie legt fest, dass
die Verpflichtungen erst greifen, wenn die
beteiligten Länder insgesamt 55 Prozent
der 1990 von allen Industriestaaten ausgestoßenen Klimagase repräsentieren.
Dazu bedürfte es einer Allianz, der sich
neben den EU-Ländern vor allem solche
Staaten anschließen müssten, die bisher in
der so genannten Umbrella Group an der
Seite der Vereinigten Staaten stritten: Ja-
Flammende Appelle an die USA
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Demonstration von Milo∆eviƒ-Anhängern*: Sanktionsmilderung gegen freie Wahlen?
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Slobos Revanche
Vergeblich hofft die Opposition in Belgrad bisher auf den Sturz
von Präsident Milo∆eviƒ. Dessen Regime wankt
nicht einmal und straft rigoros Abtrünnige und Feinde.
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* Oben: Ende Oktober bei Wiederaufnahme des Eisenbahnverkehrs nach
Bistrica; unten: mit Ehefrau Mirjana,
Sohn Marko, Tochter Marija.
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Präsidenten der Demokratischen Partei.
Selbst Zoran Djindjiƒ sieht Anzeichen für
ein geplantes Attentat auf ihn. Polizei habe
seine Leibwächter nach den bevorzugten
Fahrtrouten ausgefragt.
Schon nach dem von Belgrad inszenierten Bosnienkrieg sollen Insideraussagen zufolge hunderte von „Mitwissern“ durch
mysteriöse Autounfälle ums Leben gekommen sein.Aber auch zahlreiche enge Freunde der Milo∆eviƒ-Dynastie wurden in den
vergangenen Jahren unter nie aufgeklärten
Umständen ermordet aufgefunden. Sie hatten sich von ihren Gönnern distanziert.
SYGMA
ttentate, so eröffnete die Belgrader
Wochenzeitung „Nedeljni Telegraf“ ihren Lesern, seien eine „serbische Tradition“. Die erlebt im Schattenreich des Balkan-Despoten Slobodan Milo∆eviƒ derzeit eine blutige Renaissance.
Allein vier Attentate auf politische Opponenten gab es zuletzt in Serbien. Anfang Oktober sollte der Führer der Serbischen Erneuerungsbewegung (SPO) Vuk
Dra∆koviƒ durch einen arrangierten Autounfall liquidiert werden. Er überlebte als
Einziger – vier Personen starben. Weil das
Regime das Attentat nicht mehr leugnen
konnte, schob man die Verantwortung auf eine mysteriöse Serbische Befreiungsorganisation (OSA). Diese
habe in einem Bekennerbrief
den Anschlag gestanden.
Einen Tag vor dem Mordversuch gegen Dra∆koviƒ feuerten Unbekannte auf den
Präsidenten der SDA-Partei
in Priboj/Sand≈ak. In Valjevo
warfen Attentäter nachts eine
Bombe auf die Terrasse des
Milo∆eviƒ, Familienclan*: „So wunderschönes Land“
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Die Hoffnungen vieler auf einen baldigen Regimewechsel in Belgrad nach dem
Kosovo-Desaster haben sich nicht erfüllt.
Sonderpolizei und Armee sichern Jugoslawiens Präsidenten weiterhin die Basis der
Macht. Die Anläufe der zersplitterten
Opposition, mit Massendemos Milo∆eviƒ
zu kippen, schlugen bisher fehl. Entsprechende Ankündigungen des Führers der
Demokratischen Partei, Zoran Djindjiƒ, erwiesen sich als zu vollmundig.
Einzige Alternative scheinen nun baldige Wahlen zu sein. Dafür ist der Westen offenbar bereit, mit Sanktionsmilderungen
einzulenken – etwa humanitären Öllieferungen und einer Aufhebung des Flugembargos.
Wenn das man genügt. Denn so leicht
gibt Milo∆eviƒ, 58, nicht auf. Stattdessen
ließ er zur Jagd auf Fahnenflüchtige blasen.
So wurde bekannt, dass sein früherer Spezi, Serbiens Präsident Milutinoviƒ, unter
„Hausarrest“ steht. Er soll intern Zweifel
am Kurs der Partei geäußert haben.
Wo Warnungen und Verlockungen nicht
helfen, wird erbarmungslos eingeschüchtert. Eine Erfahrung, die der ehemalige
Sozialisten-Vize Milorad Vu‡eliƒ machte.
Der hatte sich während des Kosovokriegs
nach Griechenland abgesetzt. Sicher sein
kann er jetzt nicht mal mehr in Montenegro. Dort wurde sein Auto von Kugeln
durchsiebt. Er hatte es zufällig an Freunde
ausgeliehen.
Vergebens suchte der Westen seit dem
Kosovokrieg mit einer internationalen
Quarantäne das Milo∆eviƒ-Regime zu
schwächen – etwa mit einer Boykottliste
für Visa. Auf der stehen seit dem 5. Mai 305
Loyalisten des Serben-Regenten, denen die
EU sowie weitere 15 Staaten, einschließlich
der USA, die Einreise offiziell verbieten.
Ausnahmen, rechtfertigte sich die EU lakonisch, seien allerdings vorgesehen.
So wie für Ivica Da‡iƒ, Sprecher der Sozialistischen Partei Serbiens. Der tummelte sich jetzt unbehelligt bei der Tagung der
Interparlamentarischen Union in Berlin.
Per Handy scherzte er vom Kurfürstendamm mit den in Belgrad zurückgebliebenen Journalisten: „Nicht einmal die
Fingerabdrücke haben sie von unseren Gläsern genommen.“
Wenn der Westen Milo∆eviƒ entmachten
wolle, müsse er von seinen halbherzigen
Aktionen Abstand nehmen, warnt denn
auch der Belgrader Staranwalt Toma Fila:
„Die Liste ist reine Schlamperei. Personen
wurden verwechselt, andere haben seit
Jahren eine andere Position.“ Auf mindestens 3000 bis 4000 Personen – vom Gemeindebürgermeister bis zu den Direktoren von Staatsbetrieben – müsse das Reiseembargo laut Fila ausgeweitet werden.
Nur dann ließe sich der Machtapparat um
Milo∆eviƒ isolieren.
Auch die geheime Boykottliste für serbische Firmen, die von korrumpierten
Funktionären gemanagt werden, müsste
Werbeseite
Werbeseite
Ausland
oder China gebunkerten Notgroschen
spürbar. Die von der Landesmutter in den
Direktoren- oder Ministerstand erhobenen Freunde packten klammheimlich die
Koffer, schickten Söhne und Töchter als
Vorboten außer Landes. Zoran Mi∆koviƒ,
ehemaliger Minister und Direktor des Delta-Konsortiums, einer staatlichen Monopolzentrale für Import-/Exportgeschäfte,
verfügte flugs die Firmenverlegung ins
Ausland. Damit, triumphierte er gegenüber Freunden, sei er bereits von der EUListe gestrichen. Delta galt als lukrative
Einnahmequelle für JUL-Funktionäre und
deren dubiose Geschäfte. Die Firma befand sich auf einer Boykott-Geheimliste
der EU.
Zunehmende Zweifel an der Loyalität
seiner politischen Diener lassen Milo∆eviƒ
nun noch mehr Rückhalt im engeren Familienkreis suchen. Ehefrau Mirjana führte erstmals eine politische Delegation zu
Gesprächen mit den montenegrinischen
Abgeordneten, um die künftigen Beziehungen zwischen den beiden Republiken
zu erörtern. Die Montenegriner kamen dabei allerdings nicht zu Wort. Die vorgesehene Diskussionszeit von einer Stunde
Anschlag auf Auto von Dra∆koviƒ (r.): Serie mysteriöser Unfälle
konzernen rund um die Welt, verkündete
seinen Rücktritt als Minister ohne Ressort.
Niemand in der Regierung, klagte er, habe
dort seine demokratischen Reformvorschläge gewürdigt.
Das Milo∆eviƒ-Imperium schlug umgehend zurück. „Slobos“ Finanzpolizei prüft
jetzt die Geschäftspraktiken des Abtrünnigen. Kariƒ setzt derweil auf das Wohlwollen anderer: Die EU korrigiert im ZweiMonats-Rhythmus ihre Sanktionskartei.
Einsichtige dürfen mit einer Streichung aus
der Liste rechnen. Dann könnte Kariƒ den
Frust politischer Ungnade zumindest in seinem englischen Schloss verwinden.
Selbst im hartgesottenen Clan um
Milo∆eviƒ-Gattin Mirjana Markoviƒ und
ihre kommunistische Parteiorganisation
JUL war nach der EU-Entscheidung das
Zittern um den Verbleib der in Zypern,
Griechenland, der Schweiz, Luxemburg
200
d e r
füllte die Soziologieprofessorin allein mit
ihrer Anklage gegenüber den undankbaren
Brüdern aus.
Sohn Marko wurde vergangene Woche
in die Geschäftsführung der Po≈arevacBank aufgenommen – einer Zweigstelle
der Beobank, die internationale Transaktionen vornimmt. Tochter Marija ist als
Botschafterin für Kuba im Gespräch.
Die Welt, so verkündete der SerbenVormann während einer Brückeneinweihung optimistisch, werde sich „schon
bald ändern“. Es gelte nur, die Übergangsperiode auszusitzen. Und Ehefrau
Mirjana ließ wissen: Das eigene Land
sei „so wunderschön“. Da wolle sie gar
nicht ins Ausland – schon gar nicht in Staaten, in denen sie nicht willkommen
sei.
Renate Flottau
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FOTOS: AP ( li.); REUTERS ( re.)
drastisch aufgestockt werden. Hunderte
serbischer Unternehmen verlegten ihren
Sitz mittlerweile nach Montenegro, weil
die EU-freundliche Teilrepublik des Dissidenten-Präsidenten Milo Djukanoviƒ mit
rund 600 000 Einwohnern von den Sanktionen ausgenommen wurde.
Zunächst hatten die Reisebeschränkungen Panik unter der luxusverwöhnten Gefolgschaft der Präsidentenfamilie Milo∆eviƒ
ausgelöst. Immerhin umfasste die Büßerkartei nahezu die gesamte politische und
militärische Hierarchie sowie die persönlichen Freunde des Herrscherpaares. Die
Nomenklatura fürchtete um ihre Pfründen
und Alterswohnsitze im sonnigen Ausland.
Die Schweiz ließ bereits Konten der „unerwünschten Touristen“ einfrieren.
In London blockierte die Regierung die
Immobilien des Milo∆eviƒ-Geldkuriers Bogoljub Kariƒ, Listenplatz 75 der Embargoliste. Als der Multimillionär samt Gattin
Milenka sogar vom Flughafen in Nikosia/
Zypern nach Belgrad zurückverfrachtet
wurde, war dessen Loyalität zum Regime
schnell erschöpft. Serbiens Rockefeller, Besitzer von Banken, einem TV-Sender, eines
Kommunikationsnetzes und Wirtschafts-
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Ausland
LIECHTENSTEIN
Einladung zur Geldwäsche
Wer Kapital vor dem Zugriff des Fiskus verstecken will, findet im Fürstentum Liechtenstein
willige Helfer. Die Treuhänder versichern gern, nur legal zu arbeiten.
In einem Dossier des Bundesnachrichtendienstes steht eine andere Version: Mafia-Organisationen,
Drogenkartelle und russische Großkriminelle werden geradezu in den Zwergstaat eingeladen.
Geldfächer in Liechtensteiner Bank
Diskrete Fluchtburg für scheues Kapital
Fürstenschloss Liechtenstein: Ein ganzes Land als Handlanger von Kriminellen
D
ie Hilfe kam von ganz oben. Liechtensteins Regierungschef Mario
Frick nutzte eine InvestmentTagung im Fürstentum, um den Ruf des
Finanzplatzes aufzupolieren. „Sorgfalt“
sei bei der Entgegennahme von Geldern
oberstes Gebot. Mit der Revision des Bankgesetzes, dem neuen Sorgfaltspflicht-Gesetz und der Verabschiedung von Strafbestimmungen gegen Geldwäsche und Insiderhandel habe sein Land die notwendigen
Schritte zur Verhütung der Finanzkriminalität gemacht.
Auch Wirtschaftsminister Michael Ritter
widersprach den weltweiten Kritiken, die
in dem Zwergstaat nicht nur einen Zufluchtsort für das Kapital erfolgreicher Unternehmer sehen, sondern auch eine ideale Spielwiese für Geld- und Ganovenadel.
Liechtenstein verfüge über eine „griffige,
europäischen Standards entsprechende
Missbrauchsgesetzgebung“.
Über das angebliche Reinheitsgebot für
den Finanzverkehr und die vermeintlichen
Saubermänner in der Steueroase können
die Regierenden in Deutschland nur gequält lächeln – sie wissen es besser.
202
In den Giftschränken der entscheidenden Ressorts des Schröder-Kabinetts liegt
ein Dossier, das der Präsident des Bundesnachrichtendienstes (BND), August Hanning, Anfang April ablieferte. Das Kanzleramt, Joschka Fischers Diplomaten, Hans
Eichels Finanzexperten und Otto Schilys
Verbrechensbekämpfer werden darin auf
knapp 30 Seiten über krumme Geschäfte
von Staats wegen informiert. Das Geheimpapier liest sich, als sei die Schreckensvision aller seriösen Regierungen schon Realität: Ein ganzes Land, mitten in Europa,
soll sich den Kriminellen in aller Welt als
Handlanger andienen – eben das Fürstentum Liechtenstein.
Zu der hofierten Kundschaft, notierte
der BND penibel, gehörten „lateinamerikanische Drogenclans, italienische
Mafiagruppierungen und russische OKGruppen“. Sie alle würden nicht nur als
Anleger geduldet, sondern mit „maßgeschneiderten Finanzdienstleistungen“
zur Wäsche ihres schmutzigen Geldes angelockt. Und das alles gefahrlos: Denn solche Geschäfte in Liechtenstein, urteilt der
deutsche Auslandsgeheimdienst, würden
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geschützt durch „ein Geflecht aus Beziehungen von hohen Beamten, Richtern, Politikern, Bankdirektoren und Anlageberatern, die sich bei der Abwicklung illegaler
Geldgeschäfte im Auftrag internationaler
Krimineller gegenseitig unterstützen“.
Der amtliche Befund ruiniert die ohnehin schon ziemlich ramponierte Reputation des Zwergstaates endgültig. Versteckt
zwischen Österreich und der Schweiz, beherbergt das Fürstentum auf gerade mal
160 Quadratkilometern rund 32 000 Einwohner und mehr als doppelt so viele
Stiftungen, in denen mindestens 200 Milliarden Schweizer Franken fast spurlos verschwunden sind.
Das geschieht gewöhnlich innerhalb weniger Stunden. Der Anleger wählt unter
den 120 zur Verschwiegenheit verpflichte-
BND-Lauschstation im Schwarzwald: Nächtliche
ROPI
FOTOS: F. BIICKLE / BILDERBERG (li.); M. WIENHÖFER / PRINT ( re.)
ten Treuhändern des Landes einen aus, der
Namen und Adresse für eine Stiftung hergibt und die Briefkastenfirma verwaltet.
Nach Ausstellung der Stiftungsurkunde
eröffnet die Gesellschaft auf ihren Namen
ein Konto und legt das Geld an. Nach
außen gilt der Strohmann als Besitzer des
Vermögens, die wahren Eigentümer bleiben anonym und können sich in der Heimat folgenlos Steuerzahlungen sparen.
Das Versteckspiel nährt die Einwohner
glänzend. Jeder zweite Beschäftigte ist im
Geldgewerbe oder Treuhandwesen tätig.
Sie alle mühen sich von früh bis
spät, den Ruf zu festigen, eine
der diskretesten Fluchtburgen
für das scheue Kapital zu sein.
Das Bankgeheimnis ist Staatsdoktrin, zudem gibt es ein Anwalts-, ein Treuhänder- und ein
Steuergeheimnis.
Ein scheinbar perfekter
Schutz. Erst einmal wurde die
Schweigemauer durchbrochen,
als es dem SPIEGEL (51/1997)
gelang, mit Hilfe einer Diskette
etliche Namen der Stifter im
Dunkeln zu enttarnen. Das führte zu einer Flut von Steuerstrafverfahren.
Jetzt glückte dem BND ein
weiterer Coup. Nach dem Ende
des Kalten Krieges hat die Bundesregierung dem Geheimdienst in den vergangenen Jahren neue Prioritäten bei der
Informationsbeschaffung aufgegeben –
Geldwäsche und Drogenhandel, die Geschäfte internationaler Verbrechersyndikate sollen aufgeklärt werden.
Liechtensteins Diskretion ist die moderne Kommunikation und die Nähe zur deutschen Grenze zum Verhängnis geworden.
In den Ausläufern des Schwarzwaldes betreibt der Dienst seine leistungsfähigste
Lauschanlage. Die Station ist auf das Abhören des sogenannten Intelsat-Satellitensystems spezialisiert. Außer über Telefon
und Fax wickeln Banken weltweit ihren
Datenaustausch auch über den Satellitenweg ab.
Seit 1996 zapft der BND gezielt den
nächtlichen Datentransfer der Geldhäuser
an – solange keine deutschen Kunden und
Datentransfers angezapft
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Ausland
keine deutschen Institute betroffen sind,
gelten praktisch keinerlei Restriktionen.
Ein Treffer kam zum anderen, die krumme
Kundschaft des Fürstentums und ihre Helfer wurden aussortiert.
Im „Weltzentrum der Briefkastenfirmen“, so der BND, würden etliche Anwälte und Berater auf den ersten Blick völlig
legalen Geschäften nachgehen. Doch ein
erheblicher Teil der rund 120 Treuhänder
würde gleichzeitig „ein sehr ertragreiches
Standbein in der Illegalität“ unterhalten.
Ihren Einfluss und ihre Reputation würden
So ziemlich jeder
Wirtschaftskrimi von Format
endet im Fürstentum
die schwarzen Schafe „gegen entsprechendes Entgelt zum Vorteil organisierter krimineller Gruppen zur Verfügung stellen“.
So zählten der südamerikanische Drogenbaron Pablo Escobar vom Medellín-Kartell
und das Cali-Kartell zu ihren Kunden.
Nur selten wurde bisher ein Fall bekannt, der einen solchen Verdacht nährt:
Im August 1996 verhaftete die amerikanische Drogenpolizei DEA den Schweizer
Finanzier Karl G. Burkhardt in der Wandelhalle des Luxushotels Ritz-Carlton in
Alexandria bei Washington. Der „Geldwäscher der Weltklasse“ (DEA) war den USAgenten von Szenekennern als Spezialist
für die Legalisierung größerer Summen
Drogengelder genannt worden.
Ein V-Mann stellte ihm eine Falle. Er
übergab Burkhardt, nachdem der schon
drei kleinere Transaktionen abgewickelt
hatte, einen Koffer mit zwei Millionen USDollar. Der Schweizer schwärmte laut Anklageschrift von den Möglichkeiten, per
Offshore und Liechtensteiner Bankkonten
das Geld zu waschen. Liechtenstein habe
noch nie Auskünfte über Bankkonten an
fremde Staaten erteilt.
Wenn – ausnahmsweise – solche Fälle
aufflögen, so der BND in seinem Dossier,
würden manche Treuhänder „eine besondere Fähigkeit entwickeln, bei Nachforschungen zur rechten Zeit und an den richtigen Stellen Gedächtnislücken zu haben“.
War es auch so im Fall Burkhardt? Der
in den amerikanischen Gerichtsunterlagen
als Burkhardts liechtensteinischer Treuhänder genannte David Vogt erklärte, er sei
von dem Schweizer lediglich ersucht worden, für einen südamerikanischen Klienten
eine Anstalt zu gründen, in die der Kunde
ein Nummernkonto habe einbringen wollen. Von Drogengeldern habe er nichts gewusst. Demonstrativ trat Vogt als Verwaltungsrat der Gesellschaft zurück.
Die besondere Fähigkeit der Liechtensteiner, auch der bizarren Klientel Schutz
angedeihen zu lassen, ist bei deutschen
Fahndern legendär. So ziemlich jeder Wirtschaftskrimi von Format endet im Fürstentum. So war es schon im Fall des Exd e r
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ports der Giftgasfabrik in das libysche Rabita, so ist es heute bei der Suche nach den
Hintermännern des Schmiergeldkartells in
der deutschen Autoindustrie.
Selbst bei einem Hinweis auf die außerordentliche Bedeutung des Falles ist auf
Kooperation nicht zu hoffen. Als die Staatsanwaltschaft Stuttgart 1994 im Zusammenhang mit der Lieferung von Zubehör
für das pakistanische Atomwaffenprogramm um die Offenlegung der Konten eines verdächtigen schwäbischen Kaufmanns
ersuchte, blockte die Vaduzer Justiz ab. In
Wirtschaftsangelegenheiten werde keine
Rechtshilfe gewährt. Selbst die absurdesten
Begründungen werden vorgebracht, um
das System der Verschwiegenheit zu bewahren. Das hat die Bundesregierung gerade erst bei ihrer Suche nach verschobenen DDR-Vermögen erleben müssen.
In einer liechtensteinischen Anstalt orteten die bundesdeutschen Finanzfahnder
66 Millionen Mark. Zwei derjenigen, die
beim Beiseiteschaffen des Geldes geholfen
haben sollen, waren Schweizer, Treuhänder
mit Wohnsitz im Fürstentum. Der beantragten Auslieferung stand selbst nach sorgfältiger Prüfung nichts mehr im Wege.
Stuttgart
FRAN KREI CH
u
na
Do
Standort der
BND-Abhöranlage
Rhein
DEUTSCHLAND
Bodensee
Basel
Zürich
Vaduz
SCHWEIZ
ÖSTERREICH
LIECHTENSTEIN
I TA L I E N
100 km
Da blieb dem Fürstlich Liechtensteinischen Obersten Gerichtshof nur noch ein
ganz besonderer Salto. Vom „Standpunkt
der Menschenwürde“, urteilte das Gericht
im Juli des vergangenen Jahres, sei eine
Auslieferung „nicht zu verantworten“. Die
beiden Gesuchten würden „mit ihren Familien schon seit vielen Jahren in Liechtenstein wohnen, haben hier ihre berufliche Existenz, hier gehen ihre Kinder zur
Schule“. Eine Inhaftierung von Familienvätern aber wäre ein Verstoß gegen Artikel
8 der Europäischen Menschenrechtskonvention.
„Unerträglich“ nannte der Richter am
Bundesgerichtshof, Wolfgang Schomburg,
diese Entscheidung. Die Bundesregierung
protestierte, aber die Vaduzer Kollegen reagierten kühl. Da sei nichts zu machen,
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Schweizer Finanzier Burkhardt
„Geldwäscher der Weltklasse“
schließlich habe man Gewaltenteilung. Erwischt es dennoch jemanden aus der Geldfestung am Fuße der Alpen, ist es wohl
eher eine Panne. Als es einmal zu einer
Verhaftung kam, war das für den BND nur
ein „Betriebsunfall“. Nachrichtendienstliche Meldungen hätten ergeben, dass „ein
neueingestellter junger Richter, der nicht
auf der Gehaltsliste der Community stand
und vermutlich die einschlägigen Zusammenhänge nicht kannte, die Verhaftung der
beiden Verdächtigen veranlasst hatte“.
So sicher ist sich der Dienst seiner Sache,
dass er gleich seitenweise die Namen von
in illegale Geschäfte verwickelten Treuhändern, ihre Firmen und Stiftungen auflistet.
Klangvolle Namen sind darunter, die sich
ihrer Freundschaft zur Fürstenfamilie wie
auch zu deutschen Politikern rühmen. Aus
juristischen Gründen nennt der SPIEGEL
die auf geheimdienstlichem Wege ermittelten Namen nicht.
Wie sauber seine Zunft angeblich agiert,
erklärt einer der Größten der Liechtensteiner Szene, der Treuhänder Professor Dr. Dr. Herbert Batliner, gern am
eigenen Beispiel: „Wir nehmen keine
Kunden aus den GUS-Staaten, und wir
nehmen auch keine Laufkunden oder
Kunden, die mit einem Koffer voller Geld
kommen. Diese Leute schaffen es bei
mir nicht einmal vom Eingang bis zum
ersten Stock.“
Der BND hat Zweifel an solchen Ehrenerklärungen: Während ein Liechtensteiner
Treuhänder seit 15 Jahren vorzugsweise
„enge Kontakte“ zu dem Cosa-NostraGroßclan Cuntrera Caruana pflege, habe
sich ein anderer in den letzten drei Jahren
„auf russische Klientel spezialisiert“. Für
neue Kundschaft sei der Geldverwalter
„auch bereit, große Summen Bargeld ohne
Nachfrage nach der Herkunft anzuneh* In kolumbianischer Haft 1992.
206
men“, um sie dann persönlich bei der Bank nen von Polizei, Justiz und Banken. Da
einzuzahlen.
kann nichts schief gehen. Landet ein
Das ungenierte Spiel mit dem illegalen Rechtshilfeersuchen in den Amtsstuben,
Standbein funktioniert nur, weil die Herren werden erst einmal die Banken angehört –
des Geldes den Staat wohl nicht übermäßig so sieht es das liechtensteinische Recht vor.
fürchten müssen. Im Gegenteil: Nach Und auch sonst funktioniert das ZusamBND-Erkenntnissen sitzen Helfer in den menspiel der Trickser gut.
Behörden des Fürstentums.
Als unlängst Fahndern des BundeskriIn dem Dossier wird sogar ein ehemali- minalamtes die Teilnahme an einer von
ges Regierungsmitglied beschuldigt, „bei den deutschen Behörden beantragten Verder Abwicklung illegaler Geldgeschäfte nehmung zugestanden wurde, wurde dies
im Auftrag internationaler Krimineller“ schon vorab als Meilenstein der polizeilientscheidend geholfen zu haben. Seit meh- chen Zusammenarbeit gefeiert. Im Fürsreren Jahren habe er „Treffen mit den tentum angekommen, wurden die BKAFinanzmanagern südamerikanischer Dro- Männer erst einmal freundlichst zum Mitgenclans organisiert“.
tagessen in die Kantine
Schon in seiner Amtszeit
eingeladen. Kaum waren
habe der inzwischen
die Teller abgetragen,
pensionierte Politiker jeeröffneten die Gastgeber
nes „Geflecht aus Bezieden deutschen Beamten,
hungen von hohen Benun sei es zu spät, die
amten, Richtern, PoliVernehmung sei gerade
tikern, Bankdirektoren
abgeschlossen worden.
und Anlageberatern“ geGegen solche Praktischaffen, das so typisch
ken sind die EU-Staaten
für die Steueroase ist und
hilflos. Bis heute ist
das gegen alle Versuche
Liechtenstein nicht Mitder Aufweichung gefeit
glied der OECD-Sonderscheint.
kommission „Financial
Selbst die Schweiz,
Action Task Force“, die
die weltweiten Geldgelange mit Liechtenstein in
schäfte überwacht. So
einer symbiotischen Beentzieht sich das Fürstenziehung verbunden – ein
tum jeder internationalen
Großteil der in Liechten- SPIEGEL-Titel 51/1997
Kontrolle.
stein verwalteten Gelder
Auch die Erkenntnisse aus den BNDliegt auf den Konten Schweizer Banken –,
hat sich dem Drängen der Europäer und Lauschangriffen helfen der Schröder-Reder Amerikaner nach mehr Sorgfalt nicht gierung im Kampf gegen die Steueroase
mehr verschließen können. Schweizer Er- Liechtenstein kaum weiter. „Wir schaffen
mittlungsrichter kümmern sich um die Her- es ja nicht einmal innerhalb der EU, Engkunft dubioser Gelder. Das einstmals mil- land und Luxemburg auf Linie zu brinde Klima hat sich verändert. Da trifft es gen“, resigniert ein hoher Beamter im
sich, dass Schweizer Treuhänder jetzt auch Außenministerium, „wie soll es dann bei
in Liechtenstein ihre Geschäfte abwickeln einem Staat gelingen, der gar nicht der
Union angehört?“
dürfen.
Die Chancen sind gleich null, das wissen
Dass der ganze Staat nur so groß ist wie
eine deutsche Kleinstadt, sorgt für fami- offenbar auch die Geldhäuser, die es nach
liären Filz. Familienmitglieder der Treuhän- Liechtenstein drängt – in den letzten vier
dergeschlechter sitzen in Schlüsselpositio- Jahren hat sich die Zahl der Institute
verdreifacht. Bankier
Bruno Gehrig, Mitglied
des Direktoriums der
Schweizerischen Nationalbank, weiß, warum
im Fürstentum die verschwiegene Welt des
Kapitals immer noch in
Ordnung ist: „Der Erfolg des Finanzplatzes
Liechtenstein ist die
Frucht eines unbeirrt
von Modewellen nachhaltig
umgesetzten
Nischenkonzepts, das
den kleinräumigen und
kleinbetrieblichen Voraussetzungen des Landes optimal entspricht.“
GAMMA / STUDIO X
KEYSTONE PRESS ZÜRICH / DPA
Ausland
Drogenbaron Escobar*: Hilfe gegen Honorar
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Georg Mascolo
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FOTOS: SCANPIX / DANA PRESS
Aufmarsch schwedischer Neonazis (im Oktober): Wer im Weg steht, kommt auf die „Todesliste“
SCHWEDEN
„Revolution ohne Gnade“
Eine Terrorwelle von Rechtsradikalen und Neonazis erschüttert
das Land. Lange wurde der braune Untergrund
verharmlost, nun kämpft die Regierung um Schadensbegrenzung.
D
as Leben hätte so schön und beschaulich sein können für Kriminalinspektor Sten Axelsson. Im Angesicht des nahen Ruhestandes dürfte sich
der 60-jährige Polizist eigentlich mehr Zeit
gönnen für seine inzwischen neun Enkel
oder sein Liebhaber-Hobby, ein TriumphMotorrad, Baujahr 1955.
Stattdessen unterliegt der Kriminalist,
der eigentlich Menschen vor Bedrohung
und Verbrechen schützen soll, selbst
strengsten Sicherheitsvorkehrungen. Sein
Haus wird Tag und Nacht überwacht. Seit
drei Monaten wagt er nicht mehr, unbewaffnet die Wohnung zu verlassen.
Denn Axelsson hat sich den Ruf des
„Nazi-Jägers Nummer eins“ in Schweden
erworben. Seit fast fünf Jahren bekämpft
der Fahnder in Västerås und der Region
Västmanland jede Form von Rechtsradikalismus, vor allem die überall aus dem Boden schießenden Neonazi-Gruppen.
Deshalb zählt der Polizist in der braunen Szene seines Landes zu den meistgehassten Gegnern. Er steht auf einer Liste
von fünf „besonders interessanten Personen“, was so viel heißt wie: besonders gefährdet. Alle fünf, Polizisten und Journalisten, werden in Pamphleten gewaltbereiter Neonazis unverhohlen mit dem Tode
bedroht: „Es ist an der Zeit für sie, zu er208
fahren, dass sich Patrioten wehren können wie Männer.“
Die düstere Warnung ist durchaus ernst
gemeint. Ein unter dem Pseudonym „Peter Karlsson“ arbeitender Journalist, ebenfalls auf der Fünfer-Liste, wurde Ende
Juni vor seinem Wohnhaus Opfer einer
Autobombe. Karlsson, auf Enthüllungen
über die rechtsextreme Szene spezialisiert,
erlitt schwere Rückgratverletzungen, so
dass er mühsam wieder laufen lernen
musste. Sein achtjähriger Sohn, der mit
ihm Wagen saß, wurde ebenfalls schwer
verletzt.
Der Journalist ist nicht das einzige Opfer. Eine Welle bislang nicht bekannter Gewalt von Rechtsextremisten überzieht seit
Monaten das Land.
Ende Mai schossen sich drei Neonazis
nach einem Banküberfall in Kisa (Beute:
2,8 Millionen Kronen, rund 610 000 Mark)
brutal den Fluchtweg frei und töteten zwei
Polizisten. Seit Montag vergangener Woche
stehen Tony Olsson, Jackie Arklöv und
Andreas Axelsson, alle durch einschlägige
Aktivitäten ausgewiesen, unter strengsten
Sicherheitsvorkehrungen in Stockholm wegen Mordes vor Gericht.
Am 12. Oktober wurde der Stockholmer
Gewerkschafter Björn Söderberg, 41, an
seiner Wohnungstür mit sechs Schüssen in
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den Kopf hingerichtet. Der Funktionär hatte einen Kollegen als Neonazi geoutet und
wurde wochenlang bedroht. Die Polizei
verhaftete drei Rechtsextremisten.
Ende Oktober, Gewerkschaften und Parteien hatten bereits zu Demonstrationen
gegen die „rechte Gefahr“ aufgerufen, explodierte vor dem Gewerkschaftshaus in
Gävle an der Ostküste eine Bombe. Kurz
darauf ging ein Sprengsatz am Haus des
bekannten Musikers Mikael Wiehe in
Malmö hoch.
Und erst am vorigen Donnerstag durchschossen Unbekannte das Wohnungsfenster des prominenten Journalisten Kurdo
Baksi, der Chefredakteur des linken Magazins „Svartvitt“ ist und auf Grund seines
Einsatzes gegen den Rassismus als besonders gefährdet galt. „Wir haben den politischen Terrorismus im Land“, bekennt
Justizministerin Laila Freivalds.
Auf rund 200 bis 250 Mitglieder schätzt
die geheim operierende Sicherheitspolizei
(Säpo) den harten Kern der braunen Terroristen, dazu kommen bis zu 2000 Sympathisanten. Viele lernten sich nach Erkenntnissen der Ermittler im Gefängnis
kennen und verbrüderten sich dort mit Gewaltverbrechern. Sie organisieren sich in
Gruppen wie Nationalsozialistische Front,
Arische Bruderschaft oder Schwedische
Widerstandsbewegung. Ein Großteil der
Extremisten unter dem gelben Hakenkreuz
auf blauem Grund vagabundiert nach Erkenntnissen der Säpo allerdings nur in einem „lockeren Netzwerk“ durchs Land
und verbündet sich, je nach Gelegenheit,
mit Gleichgesinnten.
Die dramatische Zunahme der Gewalt
wird begleitet durch lautstarke Nazi-Propaganda. Das Angebot rechtsradikaler Magazine, die ebenso wie extremistische Par-
Ausland
Anschläge gegen Ausländer und Ho- sozialismus und Holocaust zu verbessern.
mosexuelle hat es auch in der Vergangen- Vor allem gelang es dem kämpferischen
heit bereits gegeben. Neu hingegen, sagt Ermittler mit seinen Kollegen, Auftritte
die für Demokratie- und Verfassungsfra- rechtsradikaler Rockgruppen zu verhingen zuständige Staatsministerin Britta Le- dern. Denn die Erfolge der Skinheadjon, sei „die Kombination von schwerer Bands und Nazi-Rocker helfen nach ErGewaltkriminalität, viel Geld und rechts- kenntnis der Behörden, die braune Beweradikalem Hintergrund“. Viele Schweden gung zu finanzieren und jugendliche Symwollten das zunächst nicht wahrhaben. All- pathisanten zu rekrutieren.
Untersuchungen von Wiszu lange wurden Rechtsradisenschaftlern ergaben 1997,
kale als pubertierende oder
dass 17 Prozent der männlibetrunkene Jugendliche verchen Schüler zwischen 12 und
harmlost und ihre Taten als
20 Jahren Fascho-Rock hörunpolitisch dargestellt. Der
ten. Neun Prozent aller
braune Terror stelle „keine
Schüler dieser Jahrgänge äureelle Bedrohung gegen den
ßerten offen Sympathie für
Staat“ dar, schrieb noch im
die rassistischen Texte, in deletzten Jahr die Säpo in ihren
nen „eine weiße Revolution
Jahresbericht.
ohne Gnade“ propagiert und
„Nach offizieller Sicht durfgegen Ausländer, Juden und
te es schwedischen TerrorisMinderheiten gehetzt wird.
mus gar nicht geben“, sagt Fil„Das Problem sind nicht die
memacher Rolf Wrangnert,
Nazi-Organisationen“, sagt
„so etwas kam höchstens von
der Szene-Kenner und Autor
außen ins Land.“ Auch SozioTobias Hübinette, „entscheilogin Lööw kritisiert, dass Ministerin Lejon
dend ist die Subkultur.“
Neo-Nazismus viele Jahre
Über 300 verschiedene CDs des dumpf„einfach kein Thema“ war. Und selbst
Staatsministerin Lejon räumt inzwischen nationalen „White Power“-Rocks sind derein, dass „niemand in der Gesellschaft die zeit über Internet erhältlich, stellte Lööw
Entwicklung ernst genug genommen“ fest. Die erfolgreichste Gruppe, Ultima
Thule, erspielte sich binnen kürzester Zeit
habe.
Für Kriminalfahnder Axelsson gab 1995 drei Goldene Schallplatten für hundertder Mord an einem homosexuellen Eis- tausendfach verkauften Rechts-Rock.
Aufgeschreckt durch die Ereignisse, verhockey-Star den letzten Anstoß, persönlich den Kampf gegen die rechten Gewalt- sucht die Regierung, den Neo-Faschismus
täter aufzunehmen. Der Polizist ent- zu bekämpfen. Weil rund zehn Prozent aller schwedischen Schüler in Umfragen den Holocaust schlicht
leugneten, startete Ministerpräsident Göran Persson persönlich
die Initiative „Lebendige Geschichte“. Ein eigens aufgelegtes
Buch über den Nationalsozialismus wurde über 300 000 Familien ins Haus geschickt. Im Januar will er mit prominenten
Staatsgästen wie dem Briten
Tony Blair und Israels Ehud Barak die öffentliche Kampagne
fortsetzen.
Um die Welle von Gewalt einzudämmen, müsse notfalls über
eine „Reform der Gesetze“
nachgedacht werden, fordert nun
Justiz-Staatssekretärin Kristina
Rennerstedt. Auch eine ZusamAnschläge auf Polizisten (im Mai), auf Gewerkschaftshaus (im Oktober): Ernst gemeinte Drohungen
menlegung von Sicherheits- und
für den Reichstag kandidierte und im wickelte im Alleingang ein „Handlungs- Kriminalpolizei, die von Kriminalisten wie
Wahlkampf gezielt um Stimmen von Ein- programm“ für seine Dienststelle und die Axelsson seit langem gefordert wird, ist
nicht mehr ausgeschlossen.
wanderern warb. „Seitdem lebe ich in Stationen der Region.
Nur ein Verbot der braunen OrganiEr suchte Kontakt zu den Führern der
ständiger Bedrohung“, sagt Harsan.
Fast täglich erhält sie anonyme Anrufe Nazi-Gruppen, aber auch zu deren Geg- sationen und Publikationen kommt für
oder Schmähbriefe, in denen sie als „Ein- nern. Er vermittelte und drohte – und half die Regierung nach wie vor nicht in Frage.
wandererhure“ beschimpft wird. Landes- so, rechte Anschläge in seiner Gegend zu „Wir müssen Neonazis effektiv bekämpweit bekannt wurde sie nach einem Über- unterbinden. Axelsson bedrängte Kneipen- fen und bestrafen“, sagt Rennerstedt, „und
fall auf einer Wahlveranstaltung. Ihr blut- wirte, Gäste mit Nazi-Sympathien vor die nicht durch ein Verbot in den Untergrund
verschmiertes Gesicht erschien auf vielen Tür zu setzen, und kooperierte mit Leh- drängen.“
Bernhard Albrecht,
Manfred Ertel
rern, um die Schulbildung über NationalTitelseiten.
B. UNGER / DANA PRESS
teien und Organisationen im liberalen
Schweden nicht verboten werden können,
stieg von 8 noch vor zehn Jahren auf heute wenigstens 26 an, zählte die Soziologin
und Kriminologin Helene Lööw. Sie sind
großenteils professionell gemacht und an
vielen Kiosken offen erhältlich. Die Zahl
einschlägiger Webseiten erhöhte sich von
einem halben Dutzend vor noch drei Jahren auf inzwischen knapp 40.
Vor allem auf den Internet-Seiten kursieren immer wieder „Todeslisten“ über
Gegner, die dem rechten „Kampf im Weg“
stehen. Mal umfassen sie 25, mal 700 Namen. „Es gibt so viele solcher Listen“,
räumt Säpo-Generaldirektor Anders Eriksson ein, dass er die Existenz jeder Einzelnen nicht bestätigen will. „Da schrillen
nicht immer gleich die Alarmglocken“,
heißt es in seinem Amt.
Angesichts solch verharmlosender Einschätzungen fühlen sich Opfer wie der Sänger Wiehe von der Polizei „im Stich gelassen“. Lange vor der Explosion schon war
der Liedermacher bedroht worden und
hatte dies vergebens der Polizei angezeigt.
Nach dem Anschlag erhielten die Ermittler
einen anonymen Anruf: „Das nächste Mal
töten wir ihn.“
Auch Novin Harsan traut sich nach Einbruch der Dunkelheit kaum noch vor die
Tür. Die aus Syrien gebürtige Kurdin steht
ebenfalls auf einer Todesliste. Ihr „Steckbrief“ mit Privatadresse, Telefonnummer
und Lebensgewohnheiten kursiert im Internet. Ins Blickfeld der Rechtsradikalen
geriet die Sozialdemokratin, als sie 1998
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Ausland
E U R O PA
„Kauft britisch, esst britisch!“
AP
Auf massiven Druck der EU bahnt sich
eine Lösung im Streit um Rindfleisch aus Großbritannien an.
Doch Forscher melden neue, alarmierende Befunde.
Werbeaktion für englisches Rindfleisch (in London): „Franzosen werden geröstet“
212
REUTERS
B
ritische Journalisten haben eine besondere Schwäche für starke Worte
und militärische Metaphern. Kein
Wunder, dass sie den neuen Streit um ihr
geliebtes heimisches Rindfleisch sofort zum
„Beef War“ hochschrieben.
Als wäre der Hundertjährige Krieg erneut ausgebrochen, wurden die Franzosen,
die „Frösche“, zum Staatsfeind Nummer
eins erklärt. Denn Frankreich, wichtigster
Auslandsmarkt für Britenfleisch, sperrt sich
stiernackig gegen jegliche Einfuhren – obwohl Brüssel den 1996 wegen der BSE-Seuche verhängten Boykott am 1. August teilweise wieder aufgehoben hat.
Das als Fleischimporteur für die Briten
unbedeutende Deutschland blieb ebenfalls
stur, auch nachdem vorvergangenen Freitag der Wissenschaftliche Lenkungsausschuss der EU die Kühe und Kälber auf
englischen Weiden für unbedenklich erklärte. Als einzige EU-Staaten lenkten
Deutschland und Frankreich nicht ein.
Also starteten Londoner Boulevardblätter, in Allianz mit Bauernfunktionären und
konservativen Anti-Europäern, unter dem
Slogan „Sag einfach Non“ eine krawallige
Kampagne gegen den Hauptfeind auf der
anderen Kanalseite. Supermarktketten unterstützten, wie Premierminister Tony Blair,
Kundgebung britischer EU-Abgeordneter*
„Sag einfach Non“
die Appelle zum „patriotischen Einkaufen“
und verbannten französische Waren aus
den Regalen.Vor einem Einkaufszentrum in
Nottingham präsentierte ein frustrierter
Viehzüchter ein Transparent: „Lasst euch
nicht mit einem Frosch im Mund erwischen.
Kauft britisch, esst britisch!“
Der Sieg schien sicher, zumal das EURecht eindeutig auf Seiten der Briten ist.
„Franzosen werden geröstet“, titelten die
Hurrapatrioten von der „Daily Mail“ –
vorschnell, wie sich zeigte.
Die deutsch-französische Entente mauerte weiter und äußerte gravierende Be* Am 20. Oktober in Paris.
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denken gegen britische Braten: Allein seit
Januar sind nach einer Statistik des Bundeslandwirtschaftsministeriums auf der Insel rund 2300 Rinder am tödlichen Hirnschwamm neu erkrankt. Die Seuche ist offenkundig noch immer nicht im Griff.
London machte einen Rückzieher, Blair
und sein Landwirtschaftsminister Nick
Brown suchten nach einer diplomatischen
Lösung. Sie wollen eine zeitaufwendige
Klage vermeiden, die sich bis zu drei Jahre hinziehen kann.
So verhandelte Brown am vorigen
Dienstag „in konstruktivem Geist“ mit
seinem französischen Amtskollegen Jean
Glavany sowie dem irischen EU-Kommissar für Verbraucherschutz und Gesundheit,
David Byrne. Der setzte ein Ultimatum,
bis zum 16. November muss die Kuh vom
Eis. Glavany wurde „dringend“ aufgefordert, das Importverbot aufzuheben. Sonst
drohen empfindliche Geldbußen.
Am Freitag beriet daraufhin in Brüssel
ein eilig einberufenes französisch-englisches Gremium gemeinsam mit EU-Kommissionsbeamten über die Bedenken der
Franzosen. Parallel tagten in Bonn Experten der für die Aufhebung des Boykotts in
Deutschland zuständigen Bundesländer.
Die Forderungen der Importgegner: lückenlose Erfassung von Rindern und Rindfleischprodukten, Kontrolle und Herkunftsbezeichnung der Ware, Entwicklung
und Einsatz stichhaltiger BSE-Tests.
Im letzten, den Kontinentaleuropäern
besonders wichtigen Punkt signalisierten
die Briten Ende voriger Woche Entgegenkommen. Aus der strikten Ablehnung jeglicher BSE-Tests wurde plötzlich ein „gemeinsamer internationaler Wunsch“, solche Verfahren „effektiv zu entwickeln“.
Es gehe nur noch um „technische und
praktische Fragen“, erklärte Brown – dabei
stehen britische Wirtschaftsinteressen gegen französischen Protektionismus und internationalen Verbraucherschutz.
Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer (Bündnis 90/Die Grünen) ist bislang,
anders als die Franzosen, einer Konfrontation geschickt ausgewichen. Sie wird zwar
von Brüssel als Verhandlungspartnerin in
die Pflicht genommen, die Entscheidung
über die Aufhebung des Importverbots
trifft aber der Bundesrat, und dort bröckelt
die Front der Gegner.
Beim Bonner Treffen wurde ihnen vorgerechnet, was die drohende Geldstrafe
von 1,6 Millionen Mark pro Tag für die einzelnen Länder bedeuten würde. Viele setzen nun auf eine strenge Kennzeichnungspflicht; nur Bayern, Rheinland-Pfalz und
Nordrhein-Westfalen stehen noch eisern
zum Importverbot.
Niedersachsens Landwirtschaftsminister
Uwe Bartels (SPD) setzt sich für eine umfassende Etikettierung ein. Ein sechseckiger Stempel soll garantieren, dass Steak
und Wurst bis zum Erzeuger zurückverfolgt werden können. Allerdings bietet das
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und provoziert damit sofort den Widerspruch anderer Politiker.
In der Debatte gehe es „zu viel nach
dem Bauch und zu wenig nach dem Kopf“,
kritisiert Dagmar Roth-Behrendt, EU-Abgeordnete der SPD und ehemalige Vorsitzende des BSE-Untersuchungsausschusses.
Die Befürworter des Importverbots brächten keine neuen Argumente, „außer dass es
BSE gibt“. Die Bedingungen für die Aufhebung seien von britischer Seite alle erfüllt worden: „Wovor müssen wir uns
eigentlich noch schützen?“
Eine Antwort wissen zwei Gruppen von
Wissenschaftlern. Sie haben neue, alarmierende Befunde vorgelegt.
Englische Veterinärmediziner in Bristol
fanden heraus, dass Hirnmasse in den
Blutkreislauf geraten kann, wenn dem
J. EIS
Verfahren keinen absoluten Schutz vor Fälschungen. Ein Test, bei dem infizierte Tiere aussortiert würden, wäre sicherer.
Die noch renitenten Länder berufen sich
auf Fachleute wie den Göttinger Neuropathologen Hans Kretzschmar, der die
Freigabe britischen Beefs voreilig nennt.
„Zu viele Dinge sind unbekannt“, warnt
Kretzschmar und empfiehlt, zwei weitere
Jahre abzuwarten.
Nordrhein-Westfalens Umweltministerin Bärbel Höhn (Die Grünen) verlangt als
Mindestvoraussetzung obligatorische BSETests und eine strenge Etikettierung. Sonst
will sie es auf eine Klage ankommen lassen. Unter anderem schreckt sie, dass möglicherweise nicht nur, wie bislang angenommen, verseuchtes Futter das Rindvieh
irre macht und Konsumenten gefährdet.
Denn nach dem Fütterungsverbot von Tiermehl 1988 dürfte es eigentlich gar keine
BSE-Neuerkrankungen mehr geben.
Bisher existieren drei Methoden, BSE
bei geschlachteten Tieren nachzuweisen.
Ein weiteres Verfahren zur Früherkennung wird derzeit an der Universität
Mainz entwickelt. Es soll in spätestens
sechs Monaten marktreif sein und anhand
von 20 Mikrolitern Hirnflüssigkeit, gewonnen durch Punktion, sicheren Aufschluss über eine Infektion lebender Tiere und Menschen geben können. In Göttingen wird sogar eine Substanz klinisch
erprobt, die Heilung verspricht; sie soll die
BSE-bedingte Zerstörung von Hirnzellen
unterbinden.
Höhn und die bayerische Gesundheitsministerin Barbara Stamm (CSU) verlangen, dass britische Tiere einer Prüfung unterzogen werden, die BSE-Erreger schon
sechs Monate vor Ausbruch der Krankheit
erkennt. Der Test, benannt nach der Zürcher Firma Prionics, wurde in NRWSchlachthöfen bei 5029 Rindern erfolgreich
angewandt. Nach acht Stunden stand jeweils fest, ob das Fleisch in Ordnung war.
Den Prionics-Test möchte Höhn am
liebsten europaweit einführen. In der
Schweiz habe sich mit seiner Hilfe die
Zahl der erkannten BSE-Fälle verdoppelt.
Übertragen auf Großbritannien würde
das bedeuten, dass dort allein 1999 rund
2300 kranke Tiere unentdeckt geblieben
sind und der Vorjahresstand von 3180 BSERindern noch übertroffen würde. „Also
ist das Eingrenzen der Seuche bisher
nicht erfolgreich gewesen“, folgert Höhn.
„Warum sollen wir unser Importverbot
aufheben?“
Aus Angst vor hohen Schadensersatzzahlungen und Geldstrafen möchte Ministerin Fischer als oberste Verbraucherschützerin aber nicht zum Rechtsbruch ermuntern und notfalls der EU-Linie folgen.
„Der Verbraucher- und Gesundheitsschutz darf nicht unter die Räder einer riesigen Fleischindustrie geraten“, beharrt
hingegen die rheinland-pfälzische Umweltministerin Klaudia Martini (SPD) –
Ministerin Höhn
„Warum unser Verbot aufheben?“
Schlachtvieh zur Betäubung ein Bolzen
durch die Stirn geschossen wird – ein gängiges Verfahren. Mithin sei fraglich, ob es
genüge, Hirn, andere Risikoorgane und
Rückenmark zu entfernen, um Menschen
vor der BSE-Gefahr zu schützen.
Das National Animal Disease Center
im US-Staat Iowa nährt diese Sorge mit
einem Test, der schon insgeheim an Menschen erprobt wurde: Er kann die durch
BSE hervorgerufene Variante der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit im Blut nachweisen,
lange bevor erste Symptome auftreten.
Nun wollen die Amerikaner in einem
Pilotprogramm menschliche und tierische
Blutbanken durchchecken. „Das könnte
Millionen Bürger erleichtern“, sagt die Biochemikerin Mary Jo Schmerr, „oder ihnen
verraten, dass sie an einer schrecklichen
Krankheit sterben werden.“
Für den Vorsitzenden des EU-Agrarausschusses, den Grünen-Politiker FriedrichWilhelm Baringdorf, ist dies ein Horrorszenario. Wenn die BSE-Erreger nicht nur
in Hirnflüssigkeit, sondern im Blut nachweisbar seien, bedeute dies, „dass möglicherweise auch das bisher als unbedenklich
geltende Muskelfleisch infektiös ist“.
Selbst das Steak scheint nicht mehr
sicher.
Rüdiger Falksohn,
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Alexander Neubacher, Barbara Schmid,
Michael Sontheimer
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S P I E G E L - G E S P R ÄC H
„Der Mechanismus der Rache“
Tschechiens Präsident Václav Havel über die Vision Europa und den EU-Erweiterungsprozess,
über Rückfälle in den Rassismus und das Verhältnis zu den Deutschen
Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck der Marktwirtschaft stand zu halten.
Havel: Dieser Bericht ist ein
dickes Buch mit abertausenden angesprochenen
Themen in vielen Lebensbereichen. Bei den einen
stehen wir besser da, bei
anderen schlechter. Aber
richtig ist: Wir brauchen
mehr Elan und Energie.
SPIEGEL: Gegenwärtig läuft
Tschechiens sozialdemokratische Minderheitsregierung Zeman Gefahr, durch
den
Bürgerpartei-Chef
Václav Klaus torpediert zu
werden. Muss politische Instabilität nicht Ihre Chancen noch mehr schmälern,
zu den ersten EU-Beitrittsländern zu gehören?
Havel: Nicht unbedingt. Als
Dramatiker weiß ich, dass
Krisen die Wirkung einer
Katharsis haben können.
Vielleicht kommt es danach
mit Bildung einer besseren
Präsident Havel*: „Wir brauchen mehr Elan“
Regierung zu einer stärkedieses Integrationsprozesses nicht er- ren Annäherung an die EU. Aber noch ist
es nicht so weit. Mich stört indes etwas ankennen.
SPIEGEL: Im jüngsten Brüsseler „Fort- deres: dass jemand aus partikularem Kalschrittsbericht“ bringt es der EU-Kandidat kül eine Krise bei uns entdeckt und das
Prag auf viele schlechte Noten. Gerügt Land schlecht regiert sieht, obwohl gerade
wird das langsame Tempo der Rechtsan- er selber vor Jahresfrist diese Mindergleichung, und bezweifelt wird Tschechiens heitsregierung unterstützt hat.
SPIEGEL: Immerhin sorgt Ihr alter Widerpart
Klaus, der eine „Superkoalition“ anstrebt,
Václav Havel
für beträchtliche Unruhe. Und die EU-Verhandler würde Klaus wohl am liebsten
wurde im November 1989, als Maseinem weiteren Prager Fenstersturz übersendemonstrationen in Prag zum
antworten.
Sturz des kommunistischen Systems führten, zur Symbolfigur der
Havel: Die Abneigung des Herrn Klaus geWende. Der Dramatiker, unter den
genüber der Brüsseler Bürokratie, seine
Kommunisten als Bürgerrechtler
Zurückhaltung gegenüber europäischer Infast fünf Jahre lang inhaftiert, amtegration sind allgemein bekannt. Das altierte als letztes Staatsoberhaupt
lein bedeutet jedoch nichts.
der Tschechoslowakei und ist seit
SPIEGEL: Im Dezember wird der EU-Gipfel
dem Auseinanderbrechen der Revon Helsinki mit einer Strategie der flepublik in zwei souveräne Staaten
xiblen Integration den Kreis der Beitrittserster Präsident Tschechiens. Hakandidaten von sechs auf zwölf Bewerber
vel, 63, wurde Anfang 1998 für weierweitern. Ist das für Prag ein ermunterntere fünf Jahre im Amt bestätigt
des oder alarmierendes Signal?
und überstand eine Reihe schwerer gesundheitlicher Krisen.
* Am 28. Oktober in Prag bei der Feier zum 81. JahresAFP / DPA
Vision von einem vereinten, liberalen
Europa im Gestrüpp realpolitischer Sachzwänge der Europäischen Union?
Havel: Meine Vision hatte schon noch ein
paar andere Adjektive als bloß liberal …
SPIEGEL: … gewiss, etwa die Idee von einer
demokratischen, offenen Bürgergesellschaft Europas …
Havel: … jedenfalls habe ich keinen Grund,
an meiner Vision von einer europäischen
Integration etwas zu ändern: Ich glaube,
dass dieses Europa die Gestalt der heutigen
gesamten Weltzivilisation vorbestimmt hat,
also verantwortlich ist sowohl für das Wunderbare wie für das Widersprüchliche. Jetzt
muss sich Europa den allgemeinen Zivilisationsproblemen in einer Weise stellen,
die anderen als Vorbild dienen könnte.
SPIEGEL: Doch erst einmal muss Europa
selbst politische Gestalt annehmen. Täuscht
der Eindruck, dass Ihr Land Tschechien,
einst Musterknabe als EU-Beitrittskandidat,
in seinen Anstrengungen zurückgefallen ist?
Havel: Leider hat sich in unseren politischen Eliten ein apathisches Verhaltensmodell durchgesetzt nach dem Motto: Wir
wollen alle in die EU, und irgendwann werden wir das auch schaffen, gleichsam im
historischen Selbstrutsch, schließlich liegen wir ja in der Mitte Europas. Da ist dann
auch die Wiederbelebung eines traditionell tschechischen Fatalismus mit im Spiel.
SPIEGEL: Aber wächst bei Ihnen nicht auch
die Zahl der EU-Skeptiker?
Havel: Eher wächst die Zahl der EUUnkundigen, die den historischen Sinn
AP
SPIEGEL: Herr Präsident, was wird aus Ihrer
KP-Reformer Dub‡ek, Havel (1989)
tag der Staatsgründung der Tschechoslowakei.
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zu beseitigen. Die Rassendimension kommt dann als
mich sprechen: Ich begrüße
Nebenprodukt dazu.
diesen Schritt sehr. Europa
ist ein untrennbarer politiSPIEGEL: Herr Präsident,
scher Körper, und die EU
am Ende dieses Jahrhunsollte allen interessierten
derts ist wie zu seinem BeLändern, die sich dafür
ginn der Balkan Europas
qualifizieren, offen stehen.
Krisenherd. Sie haben im
Auch Tschechien wird erst
Kosovo-Konflikt die Natoaufgenommen werden könLuftangriffe auf Jugoslanen, wenn es reif dafür ist
wien befürwortet. Die Pround nicht als Folge von erbleme dieser Region wurfolgreichem Lobbyismus.
den damit kaum gelöst.
SPIEGEL: Als Fürsprecher
Havel: Es wäre selbstverPrags gelten die Deutständlich durchaus naiv zu
schen. Gehen die neuen
denken, dass die NatoRegenten der Berliner ReLuftangriffe die Balkanpublik mit der gleichen
probleme lösen können.
Verve ans Werk wie einst
Doch der Nato-Eingriff
der überzeugte Europäer
war ein Schritt, durch den
Helmut Kohl?
die internationale Gemeinschaft gezeigt hat,
Havel: Ich möchte keinesdass es ihr nicht gleichgülfalls Noten über deutsche
tig ist, welche Bestialitäten
Kanzler verteilen. In der Serben-Flucht aus dem Kosovo (im Juni): „Meine Stimme war zu schwach“
dort geschehen. Dieser
Tat habe ich an Helmut
Kohl den großen Sinn für die historische ten diese Phase bereits im vorigen Jahr- Schritt hätte schon zehn Jahre vorher erund geistige Dimension der europäischen hundert durch, andere später. Doch ich folgen müssen, dann wäre das Leben hunIntegration sehr geschätzt. Und sein Nach- glaube, dass dies nur eine Durchgangsstu- derttausender verschont geblieben.
folger Gerhard Schröder hat übrigens kürz- fe ist und im Laufe der Zeit sich die Inte- SPIEGEL: Die Kosovo-Intervention hat das
lich in Prag einen bestimmten Termin grationsstrukturen durchsetzen werden. Konflikt-Potenzial auf dem Balkan verartikuliert …
Damit sich die unterschiedlichen Länder schärft.
SPIEGEL: … Schröder sagte, die Europäi- vereinen können, brauchen sie zuerst ein Havel: Es wird Jahrzehnte dauern, bis diesche Union müsse „im Jahr 2003 aufnah- Bewusstsein der eigenen Identität, das Wis- se Probleme gelöst sind. Ich gebe Ihnen
sen, wo ihr Anfang und Ende ist. Dies wird ein Beispiel, das Sie als Deutsche verstehen
mefähig sein“.
Havel: Ich halte es für sinnvoll, feste Ter- offenbar durch die Phase der Eigenstaat- werden: Wäre die internationale Staatenwelt einschließlich der demokratischen
mine im Visier zu haben. Das motiviert die lichkeit erreicht.
Beitrittskandidaten und verhindert, die un- SPIEGEL: Ein Symbol für ethnische Ab- Tschechoslowakischen Republik im Jahre
angenehmen Entscheidungen auf über- schottung gibt es nun auch in Tschechien: 1938 im Stande gewesen, sich mit Gewalt
morgen zu vertagen.
die Mauer gegen die Roma in Ústí nad La- gegen Adolf Hitler zu stellen, hätte es vielleicht keinen Zweiten Weltkrieg mit dutSPIEGEL: In dem Jahrzehnt seit dem Fall bem, dem nordböhmischen Aussig.
der Berliner Mauer und dem Zusammen- Havel: Solche fremdenfeindlichen Stim- zenden von Millionen Toten geben müssen.
bruch des Sowjetreichs entstanden in Eu- mungen gibt es überall in Europa, speziell Aber sicherlich hätte man uns damals dann
ropa 15 neue Staaten, meist mit ethnisch- in seinem postkommunistischen Teil. Die- auch wegen einer Attacke auf das souvenationaler Ausrichtung. Liegt hier nicht die se Mauer in der Mati‡ní-Straße von Ústí ist räne Deutschland gescholten.
eigentliche Gefahr für das Zusammen- eher ein Symbol von Stumpfheit und SPIEGEL: Jeder historische Vergleich hinkt,
wachsen Europas?
menschlicher Dummheit, nämlich des un- dieser auch. Die wirklichen Gräueltaten
Havel: Die Phase der Bildung von Natio- akzeptablen Versuchs der zuständigen im Kosovo erfolgten erst nach Beginn des
nalstaaten ist in Europa einfach nicht so Kommunalbehörden, die Folgen einer Nato-Bombardements …
leicht zu umgehen. Manche Staaten mach- schlechten Sozial- und Wohnungspolitik Havel: … Sie sind nicht genau informiert:
400 000 Albaner waren vor Beginn der Angriffe vertrieben worden. Dort geschah etwas, wofür es in der modernen Geschichte keine Analogie gibt: Innerhalb eines halben Jahres wurde eine Million Menschen
von zu Hause vertrieben und kehrte dann
wieder zurück. Ohne die Luftangriffe wäre
diese Rückkehr niemals möglich gewesen,
Milo∆eviƒ wollte Kosovo für immer von
Albanern säubern.
SPIEGEL: Jetzt haben wir ein großalbanisches Problem, zudem großserbische und
großkroatische Ambitionen mit der Gefahr einer Zerschlagung Bosniens und
einer möglichen Kettenreaktion neuer
Konflikte.
Havel: Es ist der Mechanismus der Rache,
den es zu bekämpfen gilt. Leider gibt es
dafür nicht genügend internationale KräfVertreibung von Sudetendeutschen (1946): „Unsere Völker haben viele Gräuel begangen“ te. Ich war selbst unmittelbar nach KriegsSÜDD. VERLAG
L. SENIGALLIESI / SINTESI
Havel: Ich kann da nur für
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ende im Kosovo und habe dort ganz laut wohl kaum untergraben wollen. Es sind
erklärt – und ich war nicht der Einzige –, einige andere, die dies tun.
man solle jetzt nicht zur Strafe die Serben SPIEGEL: Wie soll Europa zusammenfinden,
vertreiben. Aber meine Stimme war zu wenn 50 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg
schwach.
nicht einmal Tschechen und SudetendeutSPIEGEL: Worin unterscheiden sich die Men- sche zu einem Miteinander fähig sind?
schenrechte der Kosovo-Albaner von de- Havel: Sie sind es durchaus. Nur die politinen der Tschetschenen?
schen Anführer – die Kommunisten bei
Havel: Die Menschenrechte sind universell uns, die Landsmannschaftler bei Ihnen –
und sollten überall gelten. Mich beunruhigt sind der Meinung, ein Zusammenleben
sehr, was Russland in Tschetschenien tut, wäre nicht möglich. Aber das ist ein Irrtum,
und das nicht erst seit gestern. Ich glaube, auf der Bürgerebene gelingt es.
dass sich Russland traditionell bereits seit Ich besuche oft die ehemaligen Sudetenlangem gegenüber den kaukasischen Völ- gebiete, das Zusammenleben ist sehr fröhkern überheblich und anmaßend verhält lich. Sie sehen dort überall viele deutsche
und dass diese jahrelange russische Unter- Schilder. Die wurden von Tschechen angedrückung der Hauptverantwortliche für bracht, die mit den Deutschen Geschäfte
Fundamentalismus und Terrorismus im machen wollen.
Kaukasus ist.
SPIEGEL: Das sudetendeutsche Problem
SPIEGEL: Sie sprachen vom Mechanismus wäre demnach quasi ein virtueller Kampf
der Rache – die Serben im Kosovo zahlen der Geister von gestern.
für die Sünden von Milo∆eviƒ wie einst Havel: Vielleicht eine Spur zu pathetisch
die Sudetendeutschen für die Verbrechen ausgedrückt, aber im Grunde lässt sich dem
Hitlers?
zustimmen.
Havel: Jetzt gebrauchen Sie
einen historischen Vergleich, der hinkt. Gleichwohl kann man ihn ziehen.
SPIEGEL: Noch immer befürwortet fast die Hälfte
der Tschechen die Bene∆Dekrete, die nach dem
Krieg zur Enteignung und
Vertreibung von drei Millionen Sudetendeutschen
führten. Können diese Dekrete für Prag zum Stolperstein auf dem Weg in die
EU werden?
Havel: Dieser Komplex von
150 Dekreten – wobei 3 davon auch Bezug zu den Havel beim SPIEGEL-Gespräch*
Sudetendeutschen haben – „An Rücktritt denke ich jeden Tag“
gehört zur Geschichte unseres Rechtsstaates. Dies kann nicht so ein- SPIEGEL: Ihre Amtszeit reicht bis zum
fach aufgehoben werden. Man kann es je- Jahr 2003, aber Sozialdemokraten und
doch Vergangenheit nennen, die heute kei- Bürgerliche wollen mit einer Verfassungsne Bedeutung mehr hat. So ist einfach die reform Ihre Kompetenzen einschränGeschichte, sie lässt sich schwer korrigie- ken. Dachten Sie in letzter Zeit an Rückren. Unsere Völker haben viele Gräuel tritt?
begangen, wie ließe sich das alles wieder Havel: An Rücktritt denke ich seit zehn
gutmachen? Deswegen heißt es in der Jahren, solange ich Präsident bin, jeden
Deutsch-Tschechischen Erklärung, dass Tag. Ich wäre kein normaler Mensch, hätFragen der Vergangenheit den Aufbau einer te ich keine Zweifel am Sinn meiner Arbeit.
neuen und besseren Zukunft nicht kom- So arrogant bin ich nicht.
plizieren werden. Der Bundestag hat dem Die Verfassungsänderungen halte ich für
zugestimmt, das war sehr wichtig. Und ich sinnlos. Ich trete gegen sie an, nicht um
verstehe nicht, warum die gleiche Partei, meine Kompetenzen, sondern um die Lodie diese Initiative im Bundestag ergriff, gik des Verfassungssystems zu schützen.
nun auf einmal auf diese Bene∆-Dekrete SPIEGEL: Und auch die Gesundheit macht
zurückkommt und somit eigentlich die Ihnen nicht über Gebühr zu schaffen?
eigene Deklaration verhöhnt.
Havel: Bestimmte Komplikationen habe ich
SPIEGEL: Kritik an Ihrem Unions-Freund schon. Ich musste einige Operationen überstehen; manche Körperteile dienen mir
Helmut Kohl?
Havel: Der war Mitverfasser und Mitunter- nicht mehr so, wie sie sollten. Gott sei
zeichner dieser Erklärung. Er wird sie jetzt Dank ist es nicht so schlimm, dass ich zurücktreten müsste.
SPIEGEL: Herr Präsident, wir danken Ihnen
* Mit Redakteuren Walter Mayr und Olaf Ihlau in der
Masaryk-Bibliothek der Prager Burg.
für dieses Gespräch.
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S. GALLUP
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O. JANDKE / CARO
entschwundenen Gelder für 1998 auf einen
Betrag, der fast dreimal so hoch ist wie der
Jahresetat der russischen Regierung, zehnmal mehr als das inkriminierte Russlandgeschäft der Bank of New York: 70 Milliarden Dollar.
Dabei kommt kaum je ein Kunde nach
Nauru, das nur zweimal wöchentlich per
Flugzeug von Fidschi aus zu erreichen ist.
Auch das Geld gelangt gar nicht erst auf die
Insel, sondern wird elektronisch dort gutgeschrieben und, frisch gewaschen, gleich
wieder abgerufen auf Korrespondenzbanken weltweit.
Der auch für Nauru zuständige USBotschafter auf Fidschi, Osman Siddique,
erfuhr vor Ort nur, dass niemand unterRussische Zentralbank in Moskau: Wirksame Kontrolle nur an der Quelle
scheiden könne, ob es sich bei den Überweder illegal noch „unbedingt typisch für weisungen um „gute oder schlechte“
RUSSLAND
Gelder handelt. Insel-Beamte räumen ein,
ein unmoralisches Individuum“.
Inzwischen drängen sich auf 21 Qua- Nauru fehlten einfach die technischen
dratkilometern mit 10 900 Bewohnern die Möglichkeiten, die Fachleute und die ErFinanzinstitute. Sie haben alle dasselbe fahrung, um Buchungsvorgänge richtig und
Postfach, dafür aber unterschiedliche Plas- vollständig zu durchleuchten.
Dieses Unvermögen teilt Nauru mit antikschilder mit ihrem Firmennamen im Flur
der Nauru Agency Corporation. Diese Ge- deren meerumschlungenen Oasen des Pasellschaft registriert die Unternehmen, er- zifiks oder der Karibik. Dort fragt keine
Versteck in der Südsee: Der
teilt Banklizenzen und bringt der Insel die Steuerfahndung und – anders als in der
größte Teil des Moskauer Flucht- ersehnten neuen Einkünfte.
Schweiz und den USA, wo russische Geldgeldes fließt nicht nach
Eine Bank zu gründen kostet 5680 schiebereien die Justiz beschäftigen – auch
Dollar, die anschließende jährliche Gebühr kein Staatsanwalt nach dem Woher und
New York oder Zürich, sondern
auf eine winzige Insel im Pazifik. 4980 Dollar. „Das ist ein bedeutender Bei- Wohin strotzender Bankguthaben.
Der Trans-World-Konzern, der auch Getrag zum Volkseinkommen“, freut sich
iel einträglicher als Raub und Dieb- Mathew Batsiua, Regierungssekretär der winne des russischen Aluminiummarkts
stahl führt laut „Dreigroschenoper“ Nauru-Republik, die im September der abschöpft, unterhält unweit Nauru, auf
jener Weg zum Wohlstand, den der- Uno beitrat und 2001 die Weltmeisterschaft Westsamoa, ebenfalls eine Bank und auf
zeit eine Website weist: „Yes! Ich will mei- im Gewichtheben ausrichtet (an Stelle des den Jungferninseln 26 Firmen. Die Bank
of New York, bislang im Zentrum der Erne eigene Bank gründen!“
Mitbewerbers Riesa in Sachsen).
Das sei fast so, wie Geld selbst zu
„Sie verkaufen das Loch im Zuckerkrin- mittlungen über die Schleichwege russidrucken, wirbt im Internet ein OPC Inter- gel“, höhnte gegenüber der „Washington schen Schwarzgeldes, steht laut „Washingnational Trust, und zwar am besten mit ei- Post“ ein Angestellter der Baltic Banking ton Post“ unter Verdacht, mit der Sinexner „Off shore“-Bank, irgendwo auf einem Group, die – mit Sitz in Zürich, London Bank auf Nauru zusammengearbeitet
kleinen Atoll, möglichst weit weg. „Unser und Riga – ihren Klienten gern einen Fir- zu haben.
Wirksam lässt sich der
Favorit“, empfiehlt das UnGeldfluss nur an der Quelle
ternehmen, sei die winzige
kontrollieren, bei der ZenSüdseeinsel Nauru.
tralbank in Moskau, die alle
Das palmengesäumte Eigrenzüberschreitenden Konland liegt auf dem Weg von
tenbewegungen kennen sollAustralien nach Hawaii und
te. Bankvize Melnikow, der
bestand einmal hauptsächdie Mega-Schiebungen nach
lich aus getrocknetem VogelNauru enthüllt hat, zeigt sich
mist, dem begehrten Phosungerührt: Neue Regularien,
phat. Doch der Düngervorgar ein zartes Wirtschaftsrat, mit dessen Abbau die
wachstum in Russland hätdeutschen Kolonialherren
ten die Kapitalflucht jüngst
vor 90 Jahren begannen,
um ein Viertel gesenkt.
geht zu Ende. Auf der Suche Zentralbank-Vize Melnikow, Steueroase Nauru: Dollar statt Vogelmist
Sobald die Schieber durch
nach neuen Einnahmen wurde vorübergehend eine Basis für die mensitz im Pazifik vermittelt. Es handelt die Südsee-Transaktion die Steuer umganSowjetflotte erwogen – bis die neuen Rus- sich vor allem um russische Klienten. Zum gen hätten, brauchten sie das Geld wieder
sen beim Blick in den PC eine profitable- Verschieben der Gelder dient Nauru derzeit daheim, glaubt Melnikow. Sie orderten
re Nutzung entdeckten: als Versteck für als der „attraktivste“ Weg, befand Wiktor rund 90 Prozent des Fluchtkapitals zurück
ihr Fluchtgeld.
Melnikow, Vizechef der russischen Zen- – als Darlehen, die sie sich selbst gewähren.
Alles also halb so schlimm in der Sicht
Übliche Auflagen, den Transfer größe- tralbank. Dieses Schlupfloch sei „eine ofrer Summen beim Zoll oder einer Zentral- fene Einladung zu Finanzverbrechen und der Zentralbank (die selbst Staatsgelder
bank anzumelden, seien dort „nicht erfor- Geldwäsche“, hatte das US-Außenministe- auf der Kanalinsel Jersey parkte). Nur der
russische Staat kann mangels Steuereinderlich“, warb im Internet bis vor kurzem rium schon im Februar verkündet.
die Universal Baltic Bank Inc., Sitz Nauru.
Zentralbanker Melnikow lieferte nun nahmen keine Löhne und keine Renten
Dieser Überweisungsweg, so hieß es, sei eine Sensation: Er schätzt die über Nauru zahlen.
Fritjof Meyer
Loch im
Zuckerkringel
ITAR-TASS
AFP / DPA
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FOTOS: T. WAGNER / SABA
Zuschauer – überwiegend weibliche Fans – strömen pro Jahr
in die Shows.
Mit der professionell arrangierten Flucht aus der Männergesellschaft macht die Revue
ein glänzendes Geschäft. Zwar
herrscht in Japan ein reiches
Angebot an speziellen HostClubs, Strip-Shows und Massagesalons, in denen Japanerinnen sich in umgekehrter Rollenverteilung von Männern erfreuen lassen können. Doch anders als die Rotlicht-Etablissements gilt Takarazuka als
respektable Unterhaltung.
Im Theater sind die Frauen
fast ganz unter sich. Umhüllt
von Rosenduft und anderen Essenzen, die je nach MusicalThema aus der Klimaanlage wabern, bewundern sie ihre
„Traummänner“: In rollentypischen Macho-Gesten stapfen
Präsidenten, Playboys und Prinzen über die Bühne. Die Augen
rund geschminkt, verwandeln
sich die Schauspielerinnen
gleich zweifach – in Männer
und in Westler.
Viele Japanerinnen heiraten
nach wie vor weniger aus Zuneigung als um der materiellen
Absicherung willen. Und damit
erklärt die US-Anthropologin
Jennifer Robertson, die Takarazuka über ein Jahrzehnt erforscht hat, auch die Popularität
der Bühnen-Zwitter. Die Stars
geben sich so galant, wie Japanerinnen es
zu Hause oft vermissen: „Solche Liebhaber
sucht man vergebens“, sagt TakarazukaVerehrerin Kumiko Ito, 50 und verheiratet.
Vor allem mit japanischen Versionen der
„West Side Story“ oder dem Sisi-Drama
„Elisabeth“ feiert Takarazuka rauschende
Erfolge. Doch die Tokioter Ginza ist nicht
der New Yorker Broadway, und statt beschwingter Heiterkeit ergreift feierlicher
Ernst das Publikum.
Die Verkäuferin Maromi Onuma, 24, pilgert mit ihrem Fanclub mehrmals im Jahr
ins Theater. Nach den Shows beziehen
Aufführung des Musicals „Elisabeth“ im Takarazuka-Theater: Jungfräuliche Illusion
J A PA N
„Bildhübsche, sanfte
Liebhaber“
Ein Theater nur mit weiblichen Darstellern bietet
Japanerinnen eine gefühlvolle
Gegenwelt zur alltäglichen Macho-Gesellschaft.
I
n ihrem Apartment hat Chikako Sakamoto, 29, nur Platz für Bett, Kühlschrank und Fernseher. Ihre Kleider
muss sie an Wandhaken aufhängen. In ihrer Phantasie aber verkehrt die Bürogehilfin in weitläufigen, glitzernden Palästen,
schwärmt von großen Gestalten der Vergangenheit wie John F. Kennedy oder dem
österreichischen Kaiser Franz Joseph I.
Diese Traumwelt sucht Sakamoto in der
Musical-Revue Takarazuka, die gern westliche Exotik, romantisch verkitscht, auf die
Bühne bringt. Die berühmten „Männer“,
die Sakamoto auf Fotos und Videos wie
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Geliebte anhimmelt, sind freilich allesamt
junge Schauspielerinnen, denn im Takarazuka-Theater dürfen nur Frauen auftreten
– auch in männlichen Rollen.
Die hoch gewachsenen Aktricen mit
ihren kurzen, bräunlich oder blond gefärbten Haaren faszinieren Sakamoto:
„Solche bildhübschen, sanften Liebhaber
lassen sich nur von Frauen verkörpern.“
Schon ab sieben Uhr morgens stehen
hunderte Japanerinnen Schlange, um Eintrittskarten zu ergattern. Das Theater in
Tokio, das 2300 Besucher fasst, ist meist
ausverkauft. Etwa zweieinhalb Millionen
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Takarazuka-Schülerinnen beim Training
Heirat verboten
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* Darstellerinnen des Todes und der Kaiserin im Musical
„Elisabeth“.
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somit hinter den Kulissen jene Rollenverteilung weiter, die auch sonst den japanischen Alltag prägt: „Frauen brauchen
einen harten Willen, aber Männer dürfen
ruhig etwas verwöhnt und launisch sein“,
sagt Juri und lacht dabei fast so chauvinistisch wie ein Ehemann.
Kobayashis altväterlicher Geist ist noch
überall spürbar. Doch konnte schon der
Gründer nicht verhindern, dass seine Schülerinnen oft zum Liebesobjekt latenter lesbischer Neigungen wurden.
Für das (überwiegend männliche) Takarazuka-Management ist das Thema zwar
tabu. Tatsächlich aber beutet die Revue
ähnliche Sehnsüchte aus wie die zahllosen japanischen Frauen-Comics, die den
idealen Liebhaber als mädchenhaften
Jüngling oder ältere Schwester darstellen.
T. WAGNER / SABA
die Frauen nahe dem Bühnenausgang Posten, um in stiller Andacht die Schauspielerinnen, die mit großen dunklen Sonnenbrillen aus der geheimnisvollen Welt hinter
den Kulissen auftauchen, aus der Nähe zu
bewundern.
Die Stars – offiziell „Schülerinnen“ genannt – müssen sich einer strengen
Hierarchie unterordnen, wie sie sonst nur
noch im traditionellen Kabuki-Theater
oder beim Sumo-Ringen fortlebt. Auch
deshalb zieht Takarazuka die Fans an: weil
die Revue zwar die westliche MusicalFassade vorführt, aber dahinter alles japanisch belässt.
Wenn Takarazuka-Star Sakiho Juri den
Bühneneingang betritt, verneigt sie sich
ehrfürchtig vor einem Shinto-Altar mit
einem Foto von Ichizo Kobayashi, der die
Revue 1914 gründete. Die Idee mit der
Mädchenbühne kam dem geschäftstüchtigen Unternehmer und späteren Handelsminister, weil er Reklame für seine
Hankyu-Eisenbahn zwischen Osaka und
Takarazuka machen wollte. Heute noch
gehört die Musical-Truppe zum HankyuImperium.
Aber Kobayashi ging es nicht nur ums
Geschäft, er wollte junge Schauspielerinnen und Zuschauerinnen zu züchtigen Ehefrauen, Töchtern und Müttern erziehen.
Männer schloss er aus, um Liebesaffären in
der Truppe zu verhindern.
Bevor die Schülerinnen auf die Bühne
dürfen, trainieren sie zwei Jahre Schauspielerei, Ballett und Gesang. Es herrscht
ein Drill wie beim Militär: Morgens um
7.20 Uhr schrubben die Mädchen – alle in
blauen Uniformen – die Klassenzimmer,
moderne Geräte wie Staubsauger dürfen
sie nicht benutzen. Berufsoffiziere der Armee bringen ihnen das Marschieren bei.
Solange die Schülerinnen zur TakarazukaTruppe gehören, dürfen sie nicht heiraten.
Trotz des altertümlichen Regiments bewerben sich jährlich über tausend Japanerinnen um die 40 Plätze. Auf die schwere
Aufnahmeprüfung bereiten sie sich mit teuren Kursen an privaten Ballettschulen vor.
Das Jahr ihres Eintritts bei Takarazuka
bestimmt die Rangordnung unter den
Mädchen. Selbst wenn eine Schülerin auf
der Bühne als Superstar gefeiert wird, muss
sie sich hinter den Kulissen vor Älteren
demütig verbeugen oder ihnen grünen Tee
einschenken.
Dabei gehört Sakiho Juri, die im Musical „Elisabeth“ den Kronprinzen Rudolf
mimte, zu den Privilegierten: Da sie groß
und schlank ist, erfüllte sie die wichtigste
Bedingung eines Bühnen-Manns. „Die
Mädchen-Rollen haben es schwerer“, sagt
sie, „denn Männer-Rollen begeistern die
Fans mehr. Dagegen müssen Mädchen darum kämpfen, beachtet zu werden.“ Auf
bizarre Weise spielt die weibliche Truppe
Takarazuka-Schauspielerinnen*
Doppelte Verwandlung
Wenn die Fans von Sakiho Juri – alle
tragen braune Uniformen mit der goldenen
Aufschrift „Juri!“ – ihrer Angebeteten vor
dem Theater in Tokio auflauern, achten
wachsame Ordner streng auf Abstand. Aus
der Nähe dürfen die Zuschauerinnen Juri
höchstens bei Teepartys in einem Hotel
bewundern: Die organisiert der Fanclub
für rund hundert Mark pro Teilnehmer,
Gruppenfoto inklusive.
Viele Verehrerinnen bedrängen ihren
weiblichen Traummann mit erotischer Post.
„Um die Illusion nicht zu zerstören“, erzählt Juri, müsse sie auch außerhalb der
Bühne die Rolle des Mannes spielen. Nie
würde sie sich im Rock oder gar mit einem
Freund sehen lassen.
Als der Bühnen-Mann Saki Asaji jüngst
heiratete und die Truppe verlassen musste, brach für die Verehrerin Sakamoto eine Welt zusammen: „Plötzlich entpuppte
sich Saki als normale Frau.“
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Wieland Wagner
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Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Kultur
Szene
KALENDER
Erotische Verbrecher
ie offenbar unwiderstehliche Wirkung von Gefangenen auf manche
Frauen ist nicht erst seit der Liebesbeziehung zwischen dem „Heidemörder“
und seiner Psychologin und Fluchthelferin bekannt. Der Kopenhagener Verlag
„August Film“ hat jetzt einen Monatskalender für das Jahr 2000 mit zwölf
erotischen Fotos dänischer Verbrecher –
im Hafturlaub oder hinter Gittern – herausgebracht. Für den Januar 2000 etwa
hat sich Drogendealer Søren Bjergstad
Jørgensen, 34, stilvoll mit Weinglas und
feinem Morgenmantel auf dem Ledersofa drapiert. „Hells Angels“-Rocker Nick
Jacobsen, 36 – er sitzt wegen Mordes lebenslang –, posiert für den November
2000 melancholisch sinnend, bedeckt
DB STATION & SERVICE
D
Modell des Hundertwasser-Bahnhofs in Uelzen
ARCHITEKTUR
Bahnsteig in Pink
OUTLINE / INTER-TOPICS
A
Jørgensen
nur durch Tätowierungen. Eine Frauenjury wählte die Schwarzweißfotos für
den Kalender „Forbudte Maend“ („Verbotene Männer“) aus. Doch dann protestierten dänische Abgeordnete, der
Buchhandel boykottierte das anstößige
Werk. Nun bietet Verleger Johan HyeKnudsen die Knast-Erotik (Druckauflage: 10 000) im Internet feil.
uch gute Vorsätze sind manchmal nur Schall und Rauch. Erst im vergangenen
Jahr ließ der Wiener Kunterbunt-Architekt Friedensreich Hundertwasser, 70,
ankündigen, er verabschiede sich vom Bauen.Vorbei die Zeit der buntsanierten Plattenbauten mit Zwiebeltürmen? Nein. Noch immer lässt der Kämpfer wider den rechten Winkel von sich hören. Und noch immer stößt sein gebauter Frohsinn nicht nur
auf Gegenliebe: Im Sommer sammelten über 10 000 Magdeburger Unterschriften
gegen ein geplantes Hundertwasser-Haus, von ihnen als „Märchenburg“ beschimpft.
Jetzt beglückt der Österreicher die niedersächsische Stadt Uelzen und modelliert
ihren etwas heruntergekommenen Bahnhof zum lustigen „Kulturbahnhof“ um. Hier
aber ohne Proteste. Immerhin hatte eine Privatinitiative das Vorhaben angeschoben. Außerdem ist der 1888 entstandene Bau denkmalgeschützt. An die wilhelminische Fassade, so beruhigte die Projektgruppe skeptischere Bürger, „lassen wir den
Meister nicht ran“. Offenbar doch: Das Modell, das in dieser Woche präsentiert wird,
zeigt Ringel-Säulen rund ums Gebäude, rosafarbene Wartehäuschen, Grasdächer,
dort eine Glashaube, hier ein Türmchen – die gewohnte Palette eben, insgesamt aber
eine eher harmlose Hundertwasser-Variante. Dass der 16 Millionen Mark teure Umbau, der als Expo-Projekt ausgewiesen wurde, als zukunftsträchtig gilt, hat er weniger dem Pippi-Langstrumpf-Design zu verdanken als einer riesigen FotovoltaikAnlage und dem Ansinnen, stillgelegte Gleisflächen für Wohn- und Geschäftshäuser freizugeben: Das Viertel soll – vielleicht als Hommage an Hundertwassers Kurvenfreude – „Achter-Bahn“ genannt, aber nicht von ihm gebaut werden.
POP
Ins Zeug gelegt
eit Janis Joplin hat keine Rock’n’Roll-Frau so
herzzerreißend und hemmungslos hinter dem
Mikro gelitten wie Melissa Etheridge. Wie es sich
anfühlt, von seiner großen Liebe verschmäht zu
werden; wie man sich verzehren kann vor Sehnsucht und Eifersucht, während man nachts ums
Haus der Angebeteten schleicht – das alles
schrie sie in selbstverfassten Hits wie „Bring Me
Some Water“ mit kratzig-wilder Stimme heraus.
Vier Jahre lang machte Etheridge, 38, nach 25
Millionen verkauften Alben und zwei GramEtheridge
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L. WITTROCK
S
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mies Pause, weil ihr nach eigener Auskunft „die
Puste ausgegangen“ war. Nun macht ihr Album
„Breakdown“ (Mercury) Furore. Etheridge, die
inzwischen als glückliche lesbische Mutter mit
ihrer Lebensgefährtin zwei Kinder großzieht,
schmachtet und rockt auf dem Album wie eh
und je: Songs, in denen sich die Sängerin mit
Haut und Haaren ins Zeug legt. Zum ersten
Mal aber wagt sich Etheridge an ein politisches
Thema: Ihre Ballade „Scarecrow“ ist ein Requiem auf einen homosexuellen Studenten, der
vorigen Herbst von Schwulenhassern ermordet
wurde. Sie wolle „nicht predigen“, sagt Etheridge, aber „dieser Mord hat mich total geschockt“.
233
Szene
FILM
„Eichmann war von
fürchterlicher Komik“
AFP / DPA
SPIEGEL: Herr Sivan, wie hat Israel auf
das Wiedersehen mit dem vor 38 Jahren hingerichteten Adolf Eichmann
reagiert?
Sivan: Mit Verblüffung. Man
hatte ein Monster
erwartet und bekam im Film nur
einen Bürokraten
zu sehen. „Haben
wir denn 1961 den
ganzen Prozess
verpasst?“, wurde
hinterher gefragt.
SPIEGEL: Aber er
Sivan
stand doch mit
seiner „Banalität
des Bösen“, so die Philosophin Hannah
Arendt, im Mittelpunkt des Prozesses?
Sivan: Für Israel nicht. Alle blickten erschüttert auf die Zeugen des Holocaust,
von denen fast keiner je Eichmann begegnet war. Im Prozess ging es nicht um
den Angeklagten, sondern um das Erinnern. Damals wurde Israel ein zweites
Mal geschaffen – als Opfer-Staat.
SPIEGEL: Eichmann wirkt in Ihrem Film oft
kauzig. War er ein schräger Vogel?
Sivan: Wir mussten am Schneidetisch oft
lachen, denn er war die Karikatur des Befehlsempfängers – von fürchterlicher Komik. Befreit lachten wir nicht.
COURTESY ZHANG HUAN UND MAX PROTETCH GALLERY
Eyal Sivan, 35, Filmemacher aus Israel
mit Wohnsitz in Paris, über seinen Film
„Ein Spezialist“, eine Dokumentation
des Jerusalemer Eichmann-Prozesses,
die jetzt in deutschen Kinos anläuft
siert als Greta Garbo oder
Liza Minnelli und propagiert so einen lässigen Mix
der Kulturen. Auch der chinesische Künstler Zhang
Huan setzt seinen Körper
ein, hängt sich Tierskelette
um oder bemalt sich mit
Schriftzeichen. Nur geht es
ihm um die Frage nach
Herkunft und Identität in
einer Zeit, in der sich sein
Land mit der, wenn auch
zögerlichen, Öffnung zum
Westen rasant verändert.
Sein Selbstporträt „1/2(#2)“
ist Teil der Ausstellung
„Kunstwelten im Dialog“
im Kölner Museum Ludwig
(bis 19. März). Die Schau,
die mit Namen wie Picasso
oder Matisse auftrumpft,
beschränkt sich im Wettbewerb der JahrhundertRückblicke auf ein Thema
– die Globalisierung in der
Kunst. Aller Anfang war
danach der Langzeit-Trip
Paul Gauguins 1891 nach
Tahiti, wo er im naiven Stil SüdseeSchönheiten malte. Bald setzte in Europa ein Run auf die Kunst der so genannten Primitiven ein, vor allem auf afrikanische Plastiken. Das neueste Stück der
Schau ironisiert, wie sehr sich die Kulturen längst gleichen – wenn es um das
Verschwinden ihrer Kulte geht: Der
Chinese Cai Guo-Qiang lässt für seine
Arbeit „The Age of Not Believing in
God“ Götterfiguren verschiedener Religionen schweben und durchbohrt sie
mit Pfeilen. Gern hätte er das Objekt
im Kölner Dom aufgehängt. Die kosmopolitische Bestandsaufnahme scheiterte:
Der Dompropst lehnte ab.
Zhang-Werk „1/2(#2)“ (1998)
AU S S T E L L U N G
Hautnahe
Heimatbilder
D
er japanische Künstler Yasumasa
Morimura hat ein Faible für glamouröse Frauenkleider und schlüpft
auch selbst hinein. Womit er die Tradition wahrt: Im japanischen Kabuki-Theater übernehmen grundsätzlich Männer
die Frauenrollen. Doch Morimura bevorzugt das Outfit westlicher Diven, po-
„Schlaraffenland“ liegt für einige Milchgesichter der Viva-Ge-
neration in einem Einkaufszentrum: Sieben Jugendliche lassen
sich über Nacht einschließen für eine wilde Party zwischen
Turnschuhregalen und Fleischtheken. Dumm nur, dass dort
gleichzeitig ein paar Leute vom Sicherheitsdienst dabei sind,
den ihnen anvertrauten Tresor zu knacken. Es kommt zum
blutigen Kampf – doch spätestens mit der ersten Leiche gibt
auch der Plot unter großem Getöse den Geist auf (Regie: Friedemann Fromm). Was anfangs gerade noch als grelles Generationenporträt durchgehen mag, verflacht zu einem so konfusen
wie langatmigen Baller-Krimi, den auch prominente Darsteller
nicht mehr retten können: Franka Potente als Wachfrau wirkt
so passend wie ein Weihnachtsmann im August.
„Lovers“ ist der fünfte Kinofilm, der sich zum Minimalismus der
dänischen „Dogma“-Brüderschaft bekennt, und leider erweist
sich dabei, dass man mit diesem Prinzip nicht zwangsläufig
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mehr als ein ambitioniertes Amateur-Video zu Stande bringt.
Jean-Marc Barr als
Autor, Regisseur und
Kameramann erzählt
im winterkalten Paris
von einer französischen Buchhändlerin
und einem Bohemien
aus Belgrad (Élodie
Bouchez und Sergej
Trifunoviƒ), die sich „Lovers“-Darsteller Bouchez, Trifunoviƒ
ihre Liebe nur in
holprigem Englisch gestehen können. Der hübsche Bursche ist,
wie sich zeigt, illegal im Land, doch der Harmlosigkeit des
Ganzen hilft diese drohende Schwierigkeit nicht auf.
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PROKINO
Kino in Kürze
Kultur
K U LT U R G E S C H I C H T E
Am Rande
Zum Kaffee Sex
Spätwendehälse
F
L I T E R AT U R
Zähne zeigen
A
ls Schülerin schrieb Annegret Held
ihren ersten Roman: in 19 Schulhefte, 550 eng beschriftete Seiten – als
Schriftstellerin fühlte sie sich deswegen
noch lange nicht. Wo lernt man das Leben kennen? Bei der Polizei, dachte sie
– und fand sich unversehens als
Hüterin der Startbahn West am
Frankfurter Flughafen wieder.
Immerhin durfte sie doch auch
auf Streifenfahrt, die dreijährige
Erfahrung schlug sich 1988 in
ihrem Reportagebuch „Meine
Nachtgestalten“ nieder. Nach
dem Studium – Ethnologie und
Kunstgeschichte – wandte sich
Held, 1962 im Westerwald geboren, in ihrem Roman „Am
Aschermittwoch ist alles vorbei“ wieder der Provinz zu. Auch ihr
neues Buch „Die Baumfresserin“ führt
vor, wie ergiebig Leben auf dem Land
ist, wenn eine Autorin zwischen Lokalkolorit und Distanz klug die Waage halten kann. Dass Dornweiler „nicht die
Welt“ ist, sondern „ein kleines Dorf
mitten in Deutschland, so alt wie der
Wald ringsumher“, wird gleich im ersten Absatz klargestellt. Doch Hinterwäldler sind die Bewohner, nahezu alle
in der Kistenfabrik tätig, deswegen noch
lange nicht: Wenn etwa Alex seine Paula verführt, legt er dazu als Musik „Kuschelrock, die zweite“ auf – freilich hat
die Romantik in diesem Roman kaum
eine Chance: „Paula hatte Mühe, Alex
zu lieben, weil er beim Geschlechtsverkehr so blöd aussah.“ Dann aber ist es
Alex, der sich, wenn auch schluchzend
(„Es tut so weh“), von der verblüfften
Paula trennt: Er sei nicht blöd
und habe erkannt, dass sie ihn
eigentlich nicht wolle. Und so
geht es mit den „Weibern“ und
den „Kerlen“ hin und her: bunt
gemischt in sich überlappenden
Episoden, wie sie besser in den
gelungensten Vorabendserien
nicht zu finden sind – und zwischendrin kreischen die Sägen
und krachen die Baumstämme:
Die Kistenfabrik bietet unaufdringlich den Schauplatz für
viele Dramen und den Zusammenhalt
dieses hinreißend erzählten dörflichen
Kosmos. Die titelgebende „Baumfresserin“ ist denn auch kein wild gewordenes Weib, sondern die größte der Maschinen: die „dröhnende, olle Senkrechtsäge“ – aber selbst die kommt dem
Leser fast menschlich nah.
Annegret Held: „Die Baumfresserin“. Rowohlt Verlag,
Reinbek; 320 Seiten; 39,80 Mark.
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V
MUSEUM OF LONDON
ür eine Ausstellung über britische Esskultur braucht man zweierlei: Selbstbewusstsein und einen Hang zum Skurrilen. Weil die Briten beides besitzen, vergnügt und belehrt die Ausstellung „London Eats Out“ im Museum of London
(bis 27. Februar) ihre Besucher. Wirkungsvoll zerstört sie die Klischeevorstellung, von jeher sei Tee das britische
Nationalgetränk gewesen: Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts trank ein
Großteil der Bevölkerung den längst erschwinglich gewordenen Kaffee. Die
Kunstdruck „The Pretty Barmaid“ (1770)
zahlreichen Coffee Houses waren Männern vorbehalten, weil sie neben günstigem Kaffee oft auch Prostituierte feilboten.
Kochen konnten die wenigsten Londoner, da viele Häuser aus Platzmangel keine
Küche hatten. Schon seit Jahrhunderten kauften sie sich deshalb frittierten Fisch.
Eine Fish-and-Chips-Tüte von 1840 illustriert diese britische Fast-Food-Tradition, die
von der Regierung gefördert wurde: Um den Absatz zu garantieren, durften Schnellrestaurants an manchen Tagen nichts anderes als Fisch verkaufen.
Auch das Rätsel, warum die Briten trotz des Rinderwahns so heftig ihr Beef verteidigen, löst die Ausstellung: Rinderbraten galt besonders in Kriegszeiten als Symbol nationaler Stärke und Unabhängigkeit – im Gegensatz zur leichten, raffinierten französischen Küche. Karikaturen zeigen neben unterernährten Franzosen kraftstrotzende
Engländer. 1735 gründete sich sogar eine „Sublime Society of Beefsteaks“, die sich
unter dem Motto „Beef and Liberty“ bis heute allwöchentlich zum Schmaus trifft.
or zehn Jahren rief Christa Wolf
auf dem Berliner Alexanderplatz
ins Volk: „Verblüfft beobachten wir
die Wendigen, im Volksmund Wendehälse genannt.“ Die aufrechte
DDR-Schriftstellerin mokierte sich
über jene Kreaturen, „die laut Lexikon sich rasch und leicht einer gegebenen neuen Situation anpassen“.
Teufel, Teufel. Frau Wolf brauchte für
die Neujustierung von Ich und Lebenswelt unter historisch verschärften Bedingungen,
genannt „Wende“,
tatsächlich ein wenig
länger als andere:
Erst 1993 wechselte
sie vom traditionsreichen Ost-Berliner
Aufbau-Verlag ganz
zum westdeutschen
Luchterhand-Verlag.
Nun, pünktlich zum
Mauerfall-Jubiläum, kommt auch
Christoph Hein, nach 20-jähriger
Treue zu „Aufbau“, im Westen an: in
Siegfried Unselds großem SuhrkampNest – ein „Ausdruck kapitalistischer
Normalisierung“, wie Aufbau-Verleger Bernd Lunkewitz freihändig formuliert, der als Millionär mit einer
Schwäche für Marxismus und Immobilien weiß, wovon er spricht. Auch
Oskar Lafontaine, als Finanzminister
gescheitert, im privaten Cash-Handling jedoch überzeugend, hat jüngst
bewiesen, dass selbst bei ihm das
Herz dort einschlägt, wo normalerweise die Brieftasche sitzt. Aber, Genossinnen und Genossen, Citoyennes
et Citoyens – wollen wir solche Banalitäten wirklich hören? Wollen
wir, die Kinder von Nutella, MüllerMilchreis und 5-Minuten-Terrine, das
echt wissen? Muss man uns, den superfixen hochflexiblen Medienjunkies und ironiegepanzerten Simulationsexperten tatsächlich noch einmal vorführen, wie die Chose läuft?
Nein, aber wir hoffen auf den nächsten Übertritt ins richtig falsche Leben: Frank Castorf macht Ikea-Werbung – zuerst für den Küchentisch
„Dostojewski Smörebröd, dämonisch
gut und bombensicher“. Es gibt viel
zu wenig Menschen, die „sich rasch
und leicht einer gegebenen Situation
anpassen“ können. Vorwärts, Genossen, das neue Deutschland zählt
auf euch!
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Kultur
KINO
Aufschrei der Entrechteten
In Amerika wird er für seinen Zynismus scharf kritisiert. Doch US-Regisseur
David Fincher etabliert sich mit seiner jüngsten Gewaltsatire „Fight Club“ als wichtigster
Erneuerer der Hollywood-Ästhetik. Von Susanne Weingarten
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SIPA PRESS
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Regisseur Fincher
Regressiv und reaktionär?
Tyler ihnen einredet, „Männer ohne
Zweck, ohne Ziel“. Im Fight Club entdecken sie ihren inneren Hooligan und
fühlen sich hinterher errettet.
Bald begegnen sich überall Mitglieder
mit schillernden Veilchen und zugepflasterten Nasen, die einander verschwörerisch-wissend zunicken. Von diesem Geheimbund ist es, so will es das vor dem
Hanebüchenen nicht gefeite Drehbuch
(nach dem gleichnamigen Roman von
Chuck Palahniuk), nur noch ein kleiner
Schritt zu einer gut gedrillten Untergrundarmee, die ihren Frust nicht mehr gegen sich selbst richtet, sondern am Ende gegen das System, das sie hervorgebracht hat.
„Fight Club“, gedreht von David Fincher, 36, ist als Provokation angelegt und
als solche in Amerika auch aufgenommen
worden. In aufgebrachten Verrissen haben
Kritiker ihn der Gewaltverherrlichung und
des Nihilismus bezichtigt und ihm vorgehalten, seine Gesellschaftskritik sei albern,
sein Männerbild regressiv und seine politische Haltung reaktionär. Dass Fincher der
Hautgout des Werbe- und VideoclipFilmers anhängt, als der er sich in den
achtziger Jahren einen Namen gemacht
hat, gibt den Rezensenten nun ein wohlfeiles Argument an die Hand: Ausgerechnet einer mit einer solchen Vergangenheit
maßt sich jetzt an, den Konsumwahn zu
geißeln.
Das lässt sich in der Tat alles anklagen.
Der Film fordert es geradezu heraus. Er ist
wird, was seinem Appeal nicht schadet,
von Brad Pitt dargestellt.
Zusammen unternehmen der zivilisationskranke Jammerlappen (Edward Norton), dessen wahren Namen wir nie erfahren, und der anarchische Zivilisationsverweigerer Tyler Durden in „Fight Club“
eine Geisterbahnfahrt durch Nietzsches
finsterste Träume. Als Dritte im Bunde
schließt sich ihnen die Punk-Schlampe
Marla (Helena Bonham-Carter) an.
In einer Gesellschaft, in der alle betäubt,
zugerieselt und verweichlicht werden, so
behauptet Tyler, kann sich der Einzelne
nur noch im Schmerz seiner selbst vergewissern. Wenn der Geist eingeschläfert ist,
muss der Körper für ein Gefühl der Lebendigkeit sorgen: Eine Schlägerei kommt
da gerade recht als atavistisches Ritual, um
die Zivilisationsschäden
der Postmoderne zu beheben. Jeder rechte Haken wird zum Befreiungsschlag gegen die drohende
Entmannung und Entfremdung.
Darum gründen die
beiden ungleichen Helden
einen geheimen Untergrundclub, dessen Mitglieder sich in einem finsteren Keller nach Herzenslust (und nach strengen Regeln) prügeln dürfen. Dieser „Fight Club“
wird zum Kult der Entrechteten, jener „Zweitgeborenen der Geschichte“, wie der Macho-Guru „Fight Club“-Star Pitt: Finstere Geisterbahnfahrt
PHOTO SELECTION
ie Selbsthilfegruppe trifft sich in der
schäbigen Turnhalle eines Gemeindezentrums, der man ansieht, dass
sie nach altem Schweiß und Gummimatten
mufft. Auf Klappstühlen hocken die allesamt an Hodenkrebs Erkrankten, erzählen
einander ihre Geschichten und verstecken
ihr Leid hinter Therapiejargon: „Bedanken wir uns alle bei Thomas, dass er sich
eingebracht hat.“ Am Ende finden die
Elendsgestalten auf Kommando zu Paaren
zusammen: um einander zu umarmen,
zu schluchzen und sich gegenseitig zu versichern: „Ja, wir sind immer noch Männer.“ Aber wenn sie sich dessen so sicher
wären, würden sie nicht jede Woche wiederkommen.
Einer gehört eigentlich nicht hierher.
Laut dem Namensschild, das er sich an die
Brust gepappt hat, heißt er Cornelius, ein
blasser, verklemmter Endzwanziger mit
tiefen Ringen unter den Augen. Er hat keinen Hodenkrebs und auch sonst keine
Krankheit; er ist ein vampirischer Elendsjunkie, der allabendlich unter falschem Namen Therapiegruppen besucht und sich das
Leid der anderen reinzieht, um seine eigene Depression besser zu ertragen.
Denn auch er leidet, wie er den Zuschauern nicht ohne Sarkasmus aus dem
Off mitteilt: an seinem Job als Schadensgutachter eines Automobilkonzerns – er
muss ausrechnen, ob seiner Firma die
Klagen der Unfallopfer oder der Rückruf der defekten Fahrzeuge billiger kommen; außerdem leidet er an Schlaflosigkeit und daran, dass er zum „Sklaven des
Ikea-Nestbau-Triebs“ herabgesunken ist.
Den Ärmsten quält eine Zivilisation, die
ihn zu Langeweile und Entfremdung verdammt, und er weiß zugleich, wie lächerlich im Grunde all diese Wehwehchen
wirken.
Dann trifft unser Erzähler Tyler Durden.
Der ist ein ganzer Kerl. Er trinkt Bier in
schmuddeligen Oben-ohne-Bars, schleudert seine halbgerauchten Zigaretten mit
Karacho auf die Straße, trägt das Haar verstrubbelt und lebt in einem Abrisshaus, in
dem er bald auch dem Erzähler Quartier
gewährt. Tyler ist selbst dann sexy, wenn er
halbgare Erweckungsaufrufe gegen die
Konsumkultur von sich gibt („alles, was du
hast, hat irgendwann dich“) und apokalyptische Warnungen ausstößt. Und er
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CORBIS SYGMA
zynisch und brutal, er macht Witze auf
Kosten von Leuten, die sich nicht wehren
können, er ist hyperreflektiert und unglaublich infantil zugleich, und er schwelgt
in seiner eigenen Cleverness. „Fight Club“
ist durchaus hassenswert.
Aber diese Reaktion verkennt das Wesentliche: „Fight Club“ ist auch der wichtigste Film, den Hollywood in diesem Jahr
hervorgebracht hat. Zusammen mit „Matrix“ von den Brüdern Wachowski zeigt er
die Richtung an, in die sich der amerikanische Film künftig bewegen wird. „Fight
Club“ ist visuelle Avantgarde, die sich in
den Mainstream eingeschmuggelt hat und
ihn fortan radikal aufmischen wird.
Wie kaum ein Zweiter hat Fincher ausgerechnet die Videoästhetik für diese Renaissance der Filmsprache genutzt.
Während andere Videoclip- und Werbe-Veteranen – etwa Michael Bay („Armageddon“) und Simon West („Con Air“) – sich
darauf beschränken, ihre technischen
Fähigkeiten in immer gewagteren ActionSchnittfolgen zu beweisen, greift Fincher in
„Fight Club“ das unausgesprochene Erzähldogma Hollywoods selbst an.
Das lautet: Die Bilder sagen die Wahrheit. Wir können darauf vertrauen, dass sie
die Geschichte so realistisch erzählen, wie
sie sich zuträgt, egal ob sie mit der Kamera oder mit dem Computer hergestellt sind.
Diesen Wahrheitsanspruch stellt jeder Zuschauer an einen Hollywood-Film. Das ist
schließlich der Grundlagenvertrag zwischen Zuschauer und Filmemacher, den
wir eingehen, wenn wir auf die Leinwand
schauen. Im Gegenzug erklären wir uns
bereit, für die Dauer des Films zu vergessen, dass er nur aus Licht und Schatten besteht. Wir erklären uns bereit zu glauben.
Dieser Vertrag wird in „Fight Club“ gebrochen. Der Zuschauer erfährt am Ende,
dass er systematisch getäuscht worden ist.
Die Bilder verweisen auf nichts als auf ihre
eigene, autonome Logik. Was wir gesehen
haben, war vielleicht nur ein Wachtraum,
ein schlingernder Trip durch ein fremdes
Bewusstsein, in dessen Verlauf Raum, Zeit
und Kausalität aufgehoben waren. Einige
Szenen werden so wiederholt, dass die
zweite Version die erste dementiert. Es
wird sogar eine komplette Figur, nachdem
der Betrachter sich mit ihr vertraut gemacht hat, als pure Einbildung entlarvt.
Dafür, dass er uns um unseren Glauben
betrogen hat, muss uns der Film entschädigen – mit spektakulären Bildern oder einer Erzählung, die die Täuschung plausibel
macht. Aber selbst wenn er das schafft, so
wie „Fight Club“, ändert das nichts an der
Tatsache, dass wir lernen müssen, anders
auf die Leinwand zu schauen, weil wir unseren Augen nicht mehr trauen dürfen.
Das Spiel, das sich Kino nennt, hat neue
Regeln.
Dieser radikale Bruch aber, den Finchers
Film wagt, wäre wohl ausschließlich für Cineasten wichtig, wenn „Fight Club“ nicht
gleichzeitig etwas zu erzählen hätte. In seinem ganzen Leinwandspuk verbirgt sich
ein Kern echter Verzweiflung. Fincher
meint es ernst, wenn er vor der gefährlichen Lebenskrise junger Männer warnt
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CONSTANTIN
„Fight Club“-Darstellerin Bonham-Carter: Ein Gefühl der Lebendigkeit
Fincher-Film „Sieben“ mit Brad Pitt (1995)
Lichtlose, kaputte Welten
und die dumpfe Leere der Markennamenkultur anprangert, und diesen unpopulären
Ernst kann all sein Sarkasmus nicht verkleistern und auch nicht sein Wissen, dass
er sich mit dieser Attacke bestenfalls
lächerlich macht – wie ein idealistischer
Späthippie, der die Zeichen der Zeit nicht
begreifen mag.
Das Lächerlichmachen besorgt Fincher
vorsichtshalber gleich selber, indem er seine Betroffenheit satirisch verpackt. „Fight
Club“ ist eine Farce, mit der ganzen Wucht
der Verzweiflung erzählt. In einer großartigen Slapstickszene prügelt sich der Erzähler selbst quer durch eine Büroeinrichtung, die Faust ins eigene Gesicht hämmernd, bis er blutig und atemlos in ein
Glasregal kracht. Mit der gleichen masochistischen Kraft reibt sich auch der Film
ununterbrochen an sich selber auf. Er gibt
sich zu abgebrüht, um seine eigene Erregung einzugestehen, und zu betroffen, um
einfach jeden Gedanken platt zu walzen –
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und genau diese Unentschiedenheit hält
ihn davon ab, das bedrohliche Meisterwerk
zu werden, das durchaus in ihm steckt.
Stattdessen ist „Fight Club“ inhaltlich
ein Monument der Ratlosigkeit, ein Film
voller Fragen und angerissener Motive, in
einer heiklen Balance zwischen Zynismus
und Empathie. David Fincher selbst nennt
„Fight Club“ einen Initiationsfilm und vergleicht ihn mit der „Reifeprüfung“ (1967),
in der einst Dustin Hoffman apathisch vor
dem Erwachsenwerden stand. Edward
Norton, der „Fight Club“-Erzähler, ist rund
zehn Jahre älter, aber sein Leben hat er genauso wenig im Griff. Er hat alles getan,
was ihm seine Eltern gesagt haben, er hat
sich den richtigen Job besorgt, die richtige
Wohnung und die perfekte Garderobe angeschafft, aber jetzt weiß er nicht weiter:
ein passiver Jedermann an einer Schwelle,
die er allein nicht zu überschreiten wagt.
Das macht ihn verführbar für Tyler Durden
und dessen destruktive Sprüche.
Den Reiz der Gewalt hat auch Regisseur
Fincher bisher immer lustvoll ausgekostet.
Sein von alttestamentarischer Wut beseelter Serienkiller zog in „Sieben“ (1995)
mordend und verstümmelnd gegen die moderne Gesellschaft zu Felde, und der Thriller hielt dem Entsetzen, das er auslöste,
keine Aussicht auf Erlösung entgegen. Die
Gewalt siegte, weil die Welt nichts Besseres verdient hatte.
Auch in seinem Science-Fiction-Film
„Alien 3“ (1992) und dem Psychothriller
„The Game“ (1997) schuf Fincher lichtlose, kaputte Welten, aus denen dem Zuschauer nichts als Trostlosigkeit, Melancholie und Morbidität entgegenwaberten.
Wie ein apokalyptischer Reiter strafte der
Regisseur seine Figuren dafür ab, dass sie
schwach, selbstgefällig oder fehlerhaft waren. Man hatte nie das Gefühl, dass Fincher
die Welt sonderlich mochte. Da war ihm
das Böse in seiner Eindeutigkeit schon lieber. Das gab seinen Filmen einen elementaren, hassgetriebenen Drive, aber auch
eine unverkennbare Selbstherrlichkeit.
Während andere Regisseure gern behaupten, sie wären kriminell geworden,
hätten sie nicht das Filmen entdeckt, so erweckte Fincher eher den Eindruck, er hätte sich irgendwann erbittert und enttäuscht
an einem Fensterkreuz erhängt, weil die
Welt seinen Ansprüchen nicht genügte.
Doch in „Fight Club“ ist ein Erwachsenwerden zu spüren, eine Ablösung von
dieser spätpubertären Rigidität und Kälte.
Zum ersten Mal sympathisiert Fincher verstohlen mit seinem verunsicherten, lächerlichen Helden, zum ersten Mal ist auch bei
Nebenfiguren zu spüren, dass er sie betrachtet, ohne sie gleich zu verdammen.
Und zum ersten Mal steht am Ende ein
Liebespaar Hand in Hand vor der Apokalypse, zwei Menschen, die lieber leben als
sterben wollen. An Ideen und Bildern waren Finchers Filme immer reich – vielleicht
wächst ihnen jetzt auch eine Seele.
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Kultur
S TÄ D T E B AU
„Der Schatten meines Vaters“
Der Stadtplaner und Hochschullehrer Albert Speer, 65, über die
Verschönerung der Innenstädte, das teure Projekt Expo 2000 und sein Schicksal
als Sohn von Hitlers Lieblingsarchitekt und Rüstungsminister
Speer: Ja, große Firmen ziehen
sich in letzter Zeit aus riesigen Gebieten zurück, wie zum Beispiel
Opel aus Rüsselsheim. Auch viele andere Firmen haben früher
Flächen gehortet, weil sie an Expansionen dachten, nun geben sie
sie frei. Deswegen können wir
plötzlich wieder Boulevards und
attraktive Plätze bauen. Investoren
haben die Auswahl, ob sie sich in
München ansiedeln oder in Paris
oder eben in Frankfurt. Da müssen
sich Städteplaner anstrengen, um
sie dahin zu lotsen, wo sie sie Diktator Hitler, Architekt Speer senior (1937)*
haben wollen.
„Ihr seid ja alle verrückt geworden“
SÜDD. VERLAG
SPIEGEL: Herr Professor Speer, mit Ihrem
Konzept für das Frankfurter Europaviertel,
das Sie zwischen Hauptbahnhof und Messegelände bauen wollen, lassen Sie Moden
der Jahrhundertwende wieder aufleben.
So soll die Innenstadt einen großen PrachtBoulevard bekommen. Ist das ein Akt der
Wiedergutmachung nach Jahrzehnten städtebaulicher Sünden?
Speer: Vielleicht. In der Stadtplanung sind
tatsächlich viele Fehler gemacht worden.
Aber Sie müssen auch bedenken: Man hat
den Ausbau der Innenstädte lange nicht
vorantreiben können, weil es einfach keinen Platz gab.
SPIEGEL: Und das hat sich jetzt geändert?
G. GERSTER
SPIEGEL: Dennoch werden die In-
Stadtplaner Speer, Speer-Modell für Frankfurt: „Meine Familie ist ein Sonderfall“
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nenstädte meist halbherzig verschönert. Auch bei Ihrem Boulevard gibt es berechtigte Sorgen,
dass daraus wieder nur eine
Stadtautobahn wird.
Speer: Das wollen wir verhindern. Man muss unseren Boulevard an vielen Stellen überqueren können. Wir brauchen mehr
Zebrastreifen als üblich und für
die Straßenbahn ein begrüntes
Gleisbett, über das Fußgänger
laufen dürfen.
SPIEGEL: Die Straßenbahn ist ein
Verkehrsmittel aus alten Zeiten.
Warum gibt es sie auf einmal
überall wieder?
Speer: Der Bau einer Straßenbahn ist nur ein Zehntel so teuer
wie der Bau einer U-Bahn.
Außerdem mögen die Leute lieber überirdisch fahren, weil sie
da etwas zu sehen haben.
SPIEGEL: Trotz Investitionen in
den öffentlichen Nahverkehr –
die Autos bleiben das größte Problem der Städte. Über Ihren Boulevard, das haben Verkehrsplaner
schon ausgerechnet, werden voraussichtlich 40 000 Autos täglich
donnern. Ist das für eine Flaniermeile nicht viel zu viel?
Speer: Ich gebe zu, das ist eine Horrorzahl. Die muss man allerdings differenziert betrach* Vor dem Modell für das Deutsche Haus
der Pariser Weltausstellung.
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L.S. + P.
U. DETTMAR
Londoner. Das Gelände besteht aus Straßen, Parks und
ist so groß, dass es später ein
Stück Stadt wird. 800 Millionen sind für längerfristige
Investitionen ausgegeben worden, auch für S-Bahn-Stationen und einen neuen Bahnhof. Dies alles amortisiert sich
nicht in fünf Monaten, aber im
Lauf der Jahre auf jeden Fall.
SPIEGEL: Bei der Expo sind Sie,
wie bei den meisten Projekten, vor allem Moderator, Vermittler zwischen den Interessen von Bauherren, Stadt und
Land. Sie propagieren überdies den Abschied vom Architekturbüro alter Schule. Was
haben Sie gegen aufrechte
Entwerfer?
Speer: Nichts. Aber die Zeiten
haben sich geändert. Es geht
nicht mehr vor allem darum,
schöne Häuser zu bauen, sonSpeer-Modell für das Frankfurter Europaviertel: „Investoren lieben Spaßmeilen“
dern darum, wuchernde Städten. Unter den Linden in Berlin fahren Menschen wollen nun mal alles auf einmal te zu organisieren. Was ich hier mit einem
auch 40 000 Autos in 24 Stunden, und dort bekommen, ohne sich anzustrengen. Stadt- sehr schlagkräftigen und sich stetig verjünkönnen Sie ohne weiteres über die Straße planung muss mit solchen Entwicklungen genden Team zu schaffen versuche, ist ein
verantwortungsvoll umgehen.
Dienstleistungsbüro im allerweitesten Singehen.
SPIEGEL: Die Leute ziehen, auch wegen der SPIEGEL: Während Ihr Europaviertel bis- ne. Wir sind ein Architekturbüro mit Spevielen Autos, aus der Stadt aufs Land. Das lang weitgehend gute Kritiken bekommt, zialisten – zu denen ich mich selbst nicht
Einfamilienhaus gilt als beliebteste Wohn- beziehen Sie als einer der wichtigsten Ge- zähle –, dazu gehören auch Verkehrs- und
form. Sie sehen aber für Ihr Europaviertel stalter der Expo 2000 laufend Prügel. Was konventionelle Stadtplaner. Und dann gibt
es einen Bereich, der alle diese Dinge zuWohnblöcke mit insgesamt 4100 Wohnun- läuft schief?
gen vor. Wie wollen Sie gerade die Besser- Speer: Sie müssen beachten: Deutschland sammendenkt. Der wird immer wichtiger,
verdienenden in die Innenstadt locken?
hat sich für die Expo entschieden, als die und dort liegen vor allem meine Stärken.
Speer: Einfamilienhäuser sind beliebt, weil Mauer noch stand. Hannover sollte Schau- SPIEGEL: Sie übernehmen Aufgaben von
es keine echte Alternative gibt. Unser fenster zum Osten sein, sonst hätte man Regional- und Kommunalpolitikern. ÜberWohnviertel soll aber eine Alternative sein. wohl einen anderen Standort gewählt. Zu- schreiten Sie damit nicht Ihre KompeEs kommt in einen Park, ausgewiesene dem: Wenn man gewusst hätte, wie teuer tenzen?
Wohnungsbauarchitekten aus europäi- der Aufbau der neuen Bundesländer wird, Speer: Die Komplexität der Aufgaben ist
schen Ländern sollen dort etwas Besonde- hätten wir die Expo wahrscheinlich gar heutzutage so groß, dass die Kommunen,
nicht gemacht. Nun hat man sich aber ent- Firmen wie BASF oder Preussag jemanres zaubern.
SPIEGEL: Zum Europaviertel gehört auch schlossen, eine zu machen, und eine halbe den brauchen, der Moderationen überdas so genannte Urban Entertainment Cen- wäre peinlich, also wird es teuer.Völlig klar. nimmt. Überlegen Sie mal: In München lieter – eine Ansammlung von Hochhäusern, SPIEGEL: Immens teuer. Eine Milliarde gen zwischen Hauptbahnhof und Pasing
in denen auf geballtem Raum lauter Ver- Mark fließen allein in die Baumaßnahmen. 160 Hektar Bahnfläche brach. Die Stadt
gnügungsstätten entstehen, Theater, Kinos, Wie konnte es zu diesen horrenden Kosten und die Bahn konnten sich zehn Jahre lang
nicht einigen, was hier geschehen soll. Uns
Cafés. Warum werden überall in Deutsch- kommen?
land monströse Spaßviertel errichtet?
Speer: Wir bauen ganz bewusst eine Expo- ist es in einem strikt organisierten DiskusSpeer: Die Investoren lieben diese Viertel, Stadt und keinen Millenniumsdom wie die sionsprozess gelungen, in einem Jahr einen Rahmenplan zu erstellen,
sie stürzen sich geradezu darauf. Und das
der zu einem Vertrag zwinicht ganz zu Unrecht. Innenstädte haben
schen Bahn und Stadt geführt
an Attraktion verloren, weil die Shoppinghat, der überdies einstimmig
und Kino-Center sich oft draußen auf der
durch den Münchner Stadtrat
grünen Wiese befinden. Gleichzeitig entgegangen ist.
wickeln wir uns hin zu einer Erlebnisgesellschaft. Durch immer mehr Heimarbeit
SPIEGEL: Der Architekt, der
wird die Routine nach Hause geholt, und
Stadtplaner soll also in Zudann entsteht der Wunsch, draußen etwas
kunft Berater der Mächtigen
erleben zu wollen.
sein, nicht mehr eigenständiger Künstler?
SPIEGEL: Um die Innenstadt insgesamt wieder attraktiver zu machen, wäre es doch
Speer: Nicht ganz. Das eigensinnvoller, die Vergnügungsstätten zu verständige Kunstwerk kann
teilen, nicht zusammenzuballen.
heutzutage erst nach einer
langwierigen Beratungsphase
Speer: Ich schätze diesen Trend auch nicht
entstehen, das übersehen viesehr, und er entspricht zudem nicht der Speer-Häuser für saudische Beamte in Riad (1984)
le Architekten häufig. Die
Tradition der europäischen Stadt. Doch die „Geradezu versessen aufs Ausland“
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Werbeseite
Werbeseite
verteidigen immer noch das, was nicht
funktioniert, reden nicht mit den Investoren, weil das angeblich böse Menschen
sind, die die Stadt kaputtmachen wollen.
Das Gegenteil ist der Fall. Nur mit den
wirtschaftlichen und gesellschaftlichen
Gruppen gemeinsam ist überhaupt noch
etwas zu bewegen.
SPIEGEL: Drei Generationen Speer waren in
diesem Jahrhundert als Architekten tätig,
alle drei auf völlig unterschiedliche, kaum
zu vergleichende Art und Weise. Neigt Ihre
Berufsgruppe mehr als andere dazu, sich
gesellschaftlichem Wandel total zu unterwerfen?
Speer: Die Familie Speer ist sicherlich – bedauerlicherweise – ein Sonderfall. Dennoch
ist die Architektur immer in hohem Maße
Ausdruck der Gesellschaft. Mein Großvater
war ein typischer Architekt der Jahrhundertwende. Er hat im Südwesten Deutschlands prächtige Bürgerhäuser, aber auch
viele erste Industriebauten entworfen, das
Benzwerk in Mannheim etwa. Die denkmalgeschützten Hallen stehen noch – mit
der fünften Generation Maschinen drin.
SPIEGEL: Ihr Großvater, heißt es, war von
den elefantösen Entwürfen, die sein Sohn,
Hitlers Lieblingsarchitekt, zeichnete, nicht
besonders angetan.
Speer: Mein Vater hat meinem Großvater
einmal seine Pläne für Berlin gezeigt. Mein
Großvater hat nur mit dem Kopf geschüt-
BPK
Kultur
Familienvater Speer senior, Ehepaar Speer*: „Selbstverständlich zusammen und doch
telt und gesagt: „Ihr seid ja alle verrückt
geworden.“
SPIEGEL: Ihr Vater ist der Dämon Ihres Berufsstandes. Hatten Sie gar keine Scheu, im
gleichen Bereich tätig zu werden?
Speer: Schwierig zu sagen. Ich hatte einen
relativ schweren Start in das Leben. Ich
habe nämlich mit fünf oder sechs Jahren
das Stottern begonnen, und zwar so heftig,
dass ich in der Schule nicht mehr drangenommen wurde. Das hat dazu geführt,
dass ich die Schule gerade noch so geschafft
habe, wenn auch ziemlich schlecht, bis zur
mittleren Reife. Dann wusste ich nicht, was
tun. Durch die Vermittlung meines Großvaters, der bis in die dreißiger Jahre eine
BPK
irgendwie fremd“
Schreinerei hatte, bekam ich eine Lehrstelle in Heidelberg. Die Ausbildung kam mir
sehr entgegen, denn handwerklich war ich
begabt, und ich musste nicht viel reden.
SPIEGEL: Dabei ist es aber offensichtlich
nicht geblieben. Hat Sie doch noch der Ehrgeiz gepackt?
Speer: Glauben Sie mir, so eine Schreinerlehre war damals sehr hart. Natürlich wollte ich aus meinem Leben mehr machen. Ich
bin in die Abendschule gegangen, habe fürs
Abitur gelernt und habe es beim zweiten
Anlauf gerade so geschafft. Das war 1955.
Danach habe ich mich für ein Architekturstudium in München entschieden.
SPIEGEL: Sie bekamen als junger Architekt
schnell Preise. Hat sich das Stottern durch
die Erfolgserlebnisse gebessert?
Speer: Wenn ich aufgeregt bin, taucht es
wieder auf. Das ist ein Handicap, das sich
derjenige, der es nicht kennt, nicht vorstellen kann. Man ist sich seiner Sprache
nie sicher. Ich habe mit großer Energie versucht, es zu beherrschen.
SPIEGEL: Wie?
Speer: Sehr geholfen hat mir ein Aufenthalt
in Amerika. Da gehen die Leute freier mit
einem um, also habe ich erste Hemmungen
abbauen können. Ich lernte zum Beispiel
den Stadtplaner Edmund Bacon kennen,
der hatte gerade einen Film gemacht über
neueste Stadtsanierungen. Damit bin ich in
Frankfurt ins Amerikahaus gegangen und
habe gesagt, sie sollten sich doch mal den
Film bestellen. Da haben die gesagt, ja, machen sie, aber nur, wenn ich dazu einen
Vortrag halte. Ich habe zugestimmt, aber
die ganzen Wochen vorher Angst vorm
Versagen gehabt. Aber es ging ganz gut.
Anschließend tourte ich durch sämtliche
* Links: mit den Kindern Margret, Fritz, Hilde, Arnold
und Albert am Haus auf dem Obersalzberg (1943);
rechts: am Tag ihrer Hochzeit in Berlin am 28. August
1928.
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Amerikahäuser Deutschlands, jedes Mal
wurde ich freier und besser.
SPIEGEL: Wissen Sie denn, warum Sie plötzlich begonnen haben zu stottern?
Speer: Ein Freund sagte einmal: „Dir haben
die letzten Kriegsjahre die Sprache verschlagen.“ Ich weiß nicht genau, wo der
Bruch liegt.
SPIEGEL: Welche Erinnerungen haben Sie
an das Kriegsende?
Speer: Wir lebten in ziemlich ärmlichen
Verhältnissen. Sehr beengt, in einer kleinen
Wohnung, die uns die Stadt Heidelberg zugewiesen hatte.
SPIEGEL: Das Leben nach dem Krieg stand
wahrscheinlich in krassem Gegensatz zu
jenem im Dritten Reich, als es für Sie doch
sicher sehr komfortabel zuging?
Speer: Das stimmt nicht. Mein Vater hat
die Familie völlig rausgehalten. Wir lebten
auf dem Obersalzberg zwar in einem
großen Haus, aber ich musste jeden Tag zu
Fuß in die Volksschule nach Berchtesgaden
gehen. Eine Stunde den Berg hinab, eineinhalb Stunden hinauf, im Winter noch
länger. Nein, wir lebten nicht herausgehoben. Wir sind streng erzogen worden.
SPIEGEL: Aber am Obersalzberg waren Sie
und Ihre Familie in unmittelbarer Nähe
Hitlers. Das muss doch Ihr Leben geprägt
haben.
Speer: Hat es auch, aber ich weiß nie, was
Erinnerung ist oder Erzählung. Dass wir
zu Hitlers Geburtstag eingeladen waren,
das weiß ich schon, und dass wir auf seinem Berghof freier herumlaufen durften
als zu Hause, weiß ich auch noch.
SPIEGEL: Da gab es also eine Diskrepanz
zwischen strenger Erziehung einerseits und
andererseits der Nähe zum mächtigsten
Mann Europas?
Speer: Ach, das wusste ich ja nicht, dass der
so mächtig ist. Aus meiner Perspektive war
er ein Onkel wie jeder andere auch.
SPIEGEL: Der Publizist Joachim Fest vertritt in seiner neuen Biografie über Ihren
Vater die These, Hitler habe die einzig
wirklich intensive emotionale Beziehung
seines Lebens ausgerechnet zu Ihrem Vater
gehabt. Was empfinden Sie bei dem Gedanken, dass das größte Monstrum dieses
Jahrhunderts ausgerechnet Ihren Vater
verehrte?
Speer: Das kann ich nicht wirklich beurteilen. Ich glaube aber, dass da was dran ist.
Für Hitler war mein Vater der hoch begabte junge Mann, der er selbst hätte sein
wollen. Das ist bestimmt ein wesentliches
Motiv, das die gegenseitige Abhängigkeit
erklärt. Ich kann aber nur sagen, dass ich
meinen Vater nicht als emotionalen Menschen erlebt habe – ich habe ihn überhaupt
kaum erlebt. Der war ständig weg, und
wenn er zu Hause war, hieß es immer, wir
sollten alle still sein, um ihn nicht zu stören.
Und dann kam die Zeit, in der er im Spandauer Gefängnis saß, 20 Jahre.
SPIEGEL: Wie oft haben Sie da Ihren Vater
gesehen?
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Kultur
SPIEGEL: Was halten Sie denn vom neuen
Bundeskanzleramt?
Speer-Erweiterungsplan für Chongqing (China): Wuchernde Städte organisieren
Speer: Es gab jährlich einen Besuch von
zweimal einer halben Stunde. Es war jedes
Mal eine Anstrengung, ihn zu unterhalten.
Sie können sich nicht vorstellen, wie lang
eine halbe Stunde sein kann.
SPIEGEL: 1966 wurde Ihr Vater aus dem Gefängnis entlassen. Er starb 15 Jahre später.
Zeit, sich mit ihm auseinander zu setzen?
Speer: Eigentlich nicht. Ich war mit dem Aufbau meines Büros beschäftigt, habe ihn zwar
ab und zu gesehen, habe aber nicht die Diskussion gesucht. Er wurde ja von allen Seiten beansprucht. Ich bin auf Distanz geblieben, so wie das vorher auch der Fall war.
SPIEGEL: Sie haben sich also ein Leben lang
zum Kontakt zu Ihrem Vater gezwungen?
Speer: Nein, wir haben schon zu ihm gestanden, das war selbstverständlich, aber
nicht ganz leicht. In der Spandauer Zeit
durften wir jede Woche einen Brief schreiben, und unsere Mutter hat peinlich darauf
geachtet, dass wir das auch taten. Jeder von
uns hatte eine Anzahl von Worten, die er erfüllen musste. Wir durften insgesamt 1500
Worte schreiben. Meine Mutter sagte dann
immer: „Albert, du bist dran, du machst 500
Worte und Fritz 300“, und so weiter.
SPIEGEL: In der Fest-Biografie bleibt eines
rätselhaft: Es wird nicht klar, was für ein
Verhältnis Ihr Vater und Ihre Mutter zueinander hatten. War es eine Ehe ohne Liebe?
Speer: In meiner Familie sind Emotionen
vielleicht ein bisschen zu kurz gekommen.
Die drückte man nicht aus. Meine Mutter
war eine ungeheuer tapfere Frau, die aus
sechs Kindern etwas gemacht hat. Aber sie
war auch herb. Das einzige Mal, dass ich
Tränen in ihren Augen gesehen habe, das
war, als ich das erste Mal durchs Abitur
gefallen bin. Was meine Eltern betrifft: Es
gibt ein Foto nach ihrer Hochzeit, das alles
sagt. Da laufen beide über den Ku’damm,
* Mit den Redakteuren Susanne Beyer und Dietmar
Pieper in seinem Frankfurter Büro.
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nicht Arm in Arm, sondern richtig schön
auf Distanz. Genauso war es zwischen den
beiden. Selbstverständlich zusammen und
doch irgendwie fremd.
SPIEGEL: Haben Sie sich mit der Architektur Ihres Vaters befasst?
Speer: Ein bisschen, nicht intensiv. Wenn
Sie die Gesamtplanung von Berlin – ich
meine nicht die große Achse und nicht den
abstrusen Germania-Dom – mal vergleichen mit dem, was Le Corbusier zur gleichen Zeit für Paris geplant hat, Infrastrukturen mit Ober- und Unterführungen und
so, dann ist das sehr ähnlich. Die Arbeit
meines Vaters war also in dieser Hinsicht
offenbar zeitgemäß. Auch seine Idee, die
Bahnhöfe herauszulegen, die Bahn in Berlin nur noch auf dem S-Bahn-Ring verlaufen zu lassen und die Innenstadt frei von
Schienen zu halten, finde ich sinnvoll. Nach
der Wende 1989 hat man die Schienen über
den Lehrter Bahnhof wieder in die Stadt
hineingezogen – ob das gut war oder nicht,
dazu möchte ich nichts sagen.
SPIEGEL: Sie schätzen also die Pläne Ihres
Vaters?
Speer: Nein, die Riesen-Achse war verrückt. Aber als Architekt hat er teilweise
schöne Sachen gemacht. Wenn Sie die
Rückseite der Neuen Reichskanzlei nehmen: ein gelungener klassizistischer Bau.
Speer (M.) beim SPIEGEL-Gespräch*
Dienstleistung im allerweitesten Sinne
mensionen. Das ist ja riesig. Man muss aber
seine Fertigstellung abwarten, um es beurteilen zu können.
SPIEGEL: Hatten Sie eigentlich jemals in
Ihrem Leben die Möglichkeit, ganz aus
dem Schatten Ihres Vaters herauszutreten?
Speer: Den Schatten gibt es leider bis heute. Mit dem Phantom meines Vaters muss
ich leben. Die letzte Geschichte ist keine 14
Tage her. Ich war im Frankfurter Presseclub
eingeladen, um das Europaviertel vorzustellen. Der Präsident des Clubs hatte ein
Fax bekommen, das er erst nach der Veranstaltung gelesen hat. Da forderte ein Mitglied, man solle den Speer entweder ausladen oder zur Zwangsarbeiterfrage während
der Nazi-Zeit befragen. Absurd.
SPIEGEL: Hatten Sie berufliche Nachteile
durch Ihren belasteten Namen?
Speer: Ja sicher. In Berlin habe ich Projekte nicht durchgekriegt – dafür gibt es eindeutige Hinweise – wegen meines Namens.
Ich verstehe auch, dass es nicht in aller
Welt heißen soll, Albert Speer baut in Berlin. Insgesamt muss ich jedoch sagen: Es
grenzt oft an Sippenhaft, was mir passiert.
Vieles läuft zwar hinter meinem Rücken,
aber mir hat auch schon jemand in einer
fachlichen Diskussion vorgeworfen: „Ich
verzeihe Ihnen Ihren Vater nicht.“
SPIEGEL: Es klingt zynisch, aber hat Ihnen
Ihr bekannter Name nicht auch Vorteile gebracht? Größere Neugierde auf Ihre
Projekte?
Speer: Ich bilde mir ein, ich habe mir meinen Namen aus eigener Kraft gemacht. Der
ganze Start in meine Selbständigkeit lief
ausschließlich über anonyme Wettbewerbe.
SPIEGEL: Wie haben Sie versucht, sich beruflich von Ihrem Vater abzugrenzen?
Speer: Mein Büro hat sich immer bemüht,
international tätig zu sein, wir sind geradezu versessen aufs Ausland, planten und
planen für Saudi-Arabien, Afrika, Nepal,
China. Das ist mir sehr wichtig.
SPIEGEL: Sie haben sich für die Stadtplanung entschieden, Ihre Arbeit ist unsichtbarer als die des Architekten, der Häuser
entwirft. Hängt der Wunsch nach Unsichtbarkeit auch mit Ihrem Vater zusammen?
Speer: Das glaube ich nicht. Ich wäre
nie ein hervorragender Architekt geworden. Dafür habe ich exzellente Leute. Wie gesagt, meine
Fähigkeiten liegen in der Moderation, in der Planung, und ich
glaube, wenn Sie sich umhören,
welches das wichtigste Planungsbüro in Deutschland ist, dann ist
das wahrscheinlich ASP, also Albert Speer und Partner. Darauf
darf ich, glaube ich, schon stolz
sein.
SPIEGEL: Herr Professor Speer,
wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
G. GERSTER
U. DETTMAR
Speer: Das überrascht mich in seinen Di-
Werbeseite
Werbeseite
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Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Kultur
S TA R S
Das Märchen
vom Pop-Aschenputtel
Mariah Carey, die Königin des Süßstoff-Souls,
legt ein neues Album vor. Nach überstandener Scheidung
will sie sich nun auch musikalisch emanzipieren.
248
CORBIS OUTLINE
USA verkauft – mehr als von den 13 Vorgängern. Das dazugehörige Album „Rainbow“ ist in der vergangenen Woche weltweit auf den Markt gekommen. In Deutschland wurden in den ersten vier Tagen
185 000 Stück verkauft.
Pop, Rhythm & Blues, HipHop und
Schmalz, dazu die mit artistischer Brillanz
vorgetragenen Melodien – das ist die gefällige Erfolgsmischung der Carey-Platten.
Die Zutaten sind über Jahre dieselben geblieben, das Mischungsverhältnis allerdings
hat sich mit „Rainbow“ deutlich verändert: weniger Schmalz, mehr HipHop.
„Heute kann ich tun, was ich will“, sagt
Carey, „ich liefere bei der Plattenfirma nur
das fertige Album ab.“ Deshalb sind auf
„Rainbow“ auch harte Rapper wie Jay-Z,
Snoop Doggy Dog und Missy Elliott zu
hören. Das Duett mit dem wild-verrückten
Ehepaar Carey, Mottola (1994)
Trauriger Kanarienvogel im Platinkäfig
RETNA / INTER-TOPICS
I
st das eine menschliche Stimme? Oder
doch ein alter jammernder Synthesizer? „Aahahaahahaahahaa“, quiekt es
aus dem Lautsprecher, in Quarten auf- und
abschwingend, und zwar so hoch, dass Fledermäuse den Ton mit dem Leidensschrei
eines verzweifelten Artgenossen verwechseln könnten.
Aber es ist eine Frauenstimme – dieselbe, die im Chor mit sich selbst einige Oktaven tiefer im Vordergrund „My love goes
on and on and on“ säuselt, dann an Volumen gewinnt, sich im kontrollierten Salto
in die Höhe wirbelt, sanft in die Tiefe gleitet und samtig-rauh verklingt.
Eindrucksvoll ist dieser Stimmumfang,
fünf Oktaven oder vielleicht sogar sieben,
auch wenn die Hochtöne sich schmerzvoll
durchs Trommelfell bohren. „Du machst
dich lächerlich, und du wirst deine Stimme
ruinieren“, hat Patricia Carey
vor vielen Jahren zu ihrer
Tochter gesagt, als diese übte,
immer höher und höher zu
fiepsen. Aber Mariah Carey,
29, hat die Stimmbänder nicht
ruiniert, sondern trainiert und
ihrer totalen Kontrolle unterworfen – und ist die erfolgreichste Popsängerin der
neunziger Jahre geworden.
Carey hat in den vergangenen Jahren mehr Platten
verkauft als Whitney Houston oder Celine Dion, die
beiden anderen amerikanischen Diven: 115 Millionen
Stück weltweit, 7,5 Millionen
davon in Deutschland. Sie
platzierte 14 Singles auf Platz
eins der amerikanischen
Hitparade – nur die Beatles
und Elvis hatten mehr Hits.
Aber Careys Titel standen
insgesamt länger an der Spitze der Charts als die BeatlesSongs.
Und noch ein Rekord,
wenn auch nur ein persönlicher: 271 000 Stück wurden in
der Startwoche Anfang September von Careys neuer
Single „Heartbreaker“ in den
Rapper Ol’ Dirty Bastard dagegen war 1995
auf eine Remix-Platte verbannt.
Doch das war früher, vor 1997 und damit
vor Careys Scheidung vom Sony-MusicChef Tommy Mottola, 49. Er hatte sie 1988
auf einer Party entdeckt und unter Vertrag
genommen, und seitdem galt Carey als sein
Produkt: ein romantisch-lieblicher PopEngel mit langen blonden Locken, elegant
daherschwebend in Gucci und Armani, mit
überirdischer Stimme gesegnet.
Das Märchen dieser Begegnung lautet:
Carey war 18 Jahre alt, hatte gerade in
Long Island die High School und 500 Stunden Kosmetikschule hinter sich und war
nach New York umgezogen. Sie schlug sich
als miserable Kellnerin, Garderobenfrau
und geniale Background-Sängerin durch –
unter anderem für die Soul-Künstlerin
Brenda Starr.
Diese wollte sie eines Abends auf eine
Party der Plattenindustrie schleppen. Doch
Carey fand zunächst nichts Passendes im
Kleiderschrank. Starr gab ihr einen Minirock, eine Cheerleader-Jacke, dazu trug
Carey Turnschuhe. Kein Wunder, dass sie
bei der Party auffiel und Mottola, der mit
zwei anderen Plattenbossen zusammenstand, sie herbeiwinkte. Carey zog ihr unbeschriftetes Demo-Band aus der Tasche,
und Mottola griff es, bevor einer der beiden
Konkurrenten die Hand danach ausstrecken
konnte. Er hörte die Kassette später im
Auto, fuhr sofort zur Party zurück und suchte das unbekannte Jungtalent, vergeblich.
Erst eine Woche später trieb er sie auf.
Die Wahrheit klingt etwas anders als die
Aschenputtel-Geschichte vom Traumprinzen, der New York nach seiner Prinzessin
absuchte: Carey hatte 1988 schon einen
Manager und Co-Songwriter. Ben Margulies, ein Freund ihres älteren Bruders,
Sängerin Carey
Pop-Engel mit überirdischer Stimme
Werbeseite
Werbeseite
Kultur
N. PRESTON / DREAMWORKS
schickte Mariahs Demo-Tape herum. deten auf Platz eins der US-Hitparade, Ca- Außen- und einen Innenpool, einen SchießZunächst erfolglos, aber schließlich wollte rey bekam zwei Grammys. Sony zahlte an Übungsraum, ein Tonstudio, zwei PizzaWarner einen der Songs als Filmmusik kau- Mottola einen Bonus von drei Millionen Öfen, 14 Bäder und so viele Zimmer, dass
fen und bot Carey außerdem ein Solo- Dollar. Und Carey brachte von da an jedes Carey ihre genaue Zahl nie kannte. Ihre
Album an – und einen Vertrag über 300 000 Jahr eine neue, sensationell erfolgreiche Kleider nummerierte sie, um den Überblick zu behalten.
Dollar. Deshalb musste Brenda Starr sie Platte heraus.
In schummrigen Ecken New Yorker LoZu Careys Aschenputtel-Geschichte passerst überreden, auf die Party der Musikkale wurden Mottola und Carey ein paar te, dass sie das dritte Kind einer Opernchefs zu gehen.
Mottola war zu dieser Zeit dringend auf Mal knutschend erwischt. Für eine Abfin- sängerin aus Illinois war – die in New York
der Suche nach der neuen Whitney Hou- dung in Millionenhöhe akzeptierte Lisa auf der Bühne nie den Durchbruch geston, sah und hörte sie in Carey und bot Mottola die Scheidung. 1993 richtete der schafft hatte und sich auf Long Island
mit wechselnden Jobs durcheinfach 50 000 Dollar mehr
schlug. Der Vater war Flugals Warner. Carey unterzeug-Ingenieur. Er fuhr, was
schrieb bei Sony – und bei
bei der Legendenbildung unMottolas eigener Manageterschlagen wurde, einen
ment-Firma. Careys alter
Porsche und verdiente als
Manager Margulies war zehn
Staatsangestellter sehr gut.
Jahre lang an ihren EinnahAls Mariah drei Jahre alt
men prozentual beteiligt.
war, verließ er die Familie.
„Ich hätte da leicht rausCareys Vater war der
kommen können“, sagt CaSohn einer Schwarzen und
rey, „aber ich wollte nicht.
eines Venezolaners, ihre
Ich hoffe, er hat ein schönes
Mutter war irisch-ameriLeben.“ Auch das hört sich
kanischer Herkunft. Wean wie ein Märchen.
gen dieses Ahnen-Wirrwarrs
Careys neuer Chef und
fühlte sich Carey, wie sie
Manager Mottola hatte einisagt, nie irgendwo zugehörig:
ge Jahre zuvor selbst vernicht zu den Weißen, nicht
sucht, Popstar zu werden,
zu den Schwarzen, nicht
war aber an mangelnder
zu den Hispanics. „Ich hatStimme und mangelndem
te kein Vorbild“, erzählt
Talent gescheitert. Umso taCarey, „niemand sah so
lentierter war er bei der Pla- Konkurrentinnen Carey, Houston (1998): Strahlende Diven im Duett
aus wie ich.“
nung seines Aufstiegs in der
Sie habe eine „beschädigte Kindheit“
Plattenindustrie – auch wenn über Verbin- Traumprinz für seine 20 Jahre jüngere Prindungen zur Mafia spekuliert wurde, die zessin eine Traumhochzeit aus – Carey hat- gehabt, sagt Carey und deutet an, dass sie
te sich bei der Anmeldung ihrer Wünsche Gewalttätigkeit erlebt habe. Genauer will
der Italo-Amerikaner jedes Mal bestritt.
Umsichtig entwarf er Careys Karriere: von einer Videoaufzeichnung der Hoch- sie nicht werden, „aus rechtlichen GrünDen ersten großen öffentlichen Auftritt zeit von Prinz Charles und Diana inspirie- den“, wie sie erklärt. Nur dass Rassisten
hatte sie, als sie 1990 bei der Eröffnung des ren lassen. Acht Meter lang war Careys die Hunde ihrer älteren Geschwister vergifteten, erzählt sie. So ein finsterer HinBasketball-Endspiels die heimliche Natio- Schleppe.
Eine halbe Million Dollar ließen die bei- tergrund lässt die Aschenputtel-Geschichnalhymne „America the Beautiful“ sang.
800 000 Dollar investierte Sony Music in den sich das Spektakel kosten, das mehr ei- te noch schöner strahlen.
Ganz so schlecht kann die Kindheit
das Debütalbum, für das Mottola profi- ner Krönung als einer Hochzeit glich und
lierte Soul-Produzenten engagierte. 500000 zu dem auch Robert De Niro und Barbra nicht gewesen sein, denn Mutter Patricia
Dollar kostete das Video, und eine Million Streisand erschienen. Heute sagt Carey: förderte Mariahs Gesangstalent, seit die
Dollar gab Sony für Promotion aus. Mehr „Es waren fast nur Leute da, die er kann- damals Dreijährige bei Opernproben eials elf Millionen Stück wurden bis heute te.“ Das Paar zog nach Bedford Corners ne Melodie besser nachsingen konnte
von „Mariah Carey“, wie die Platte hieß, nördlich von New York in eine 6000 Qua- als sie selbst. „Meine Mutter war ein Boverkauft, vier Single-Auskopplungen lan- dratmeter große Villa: Sie hatte einen hemien-Typ“, sagt Carey. Patricia Carey
SIPA PRESS
gründete ein multikulturelles „Freedom Boss-Vater-Ehemann verlangte. Angeblich einem Interview über die Popdiva hergeCenter“, ihre Freunde waren Jazz-Sänger, hatte Carey vor der Trennung schon eine zogen hatte.
Carey wollte und will unbedingt ein
schwule Paare, Menschenrechtsaktivisten, Affäre mit Derek Jeter begonnen, einem
und Mariah war oft der Star des Abends, Star des Baseballteams New York Yankees. Hollywood-Star werden, und spätestens
der auf dem Küchentisch Lieder vor- Carey hat die meisten ihrer Stücke selbst diese Ambitionen ruinierten die Ehe. Motträllerte. „Ich bin sehr frei aufgewachsen geschrieben und mitproduziert – im Ge- tola war gegen die Pläne, nicht ohne guund konnte meine Persönlichkeit ent- gensatz zu ihrer Konkurrentin Whitney ten Grund: Kaum einem Popstar ist der
wickeln.“
Houston (mit der sie 1998 ein Duett auf- Wechsel in die Schauspielerei geglückt;
Mit 13 Jahren verdiente Carey schon nahm). Sie ist berüchtigt dafür, mit un- Madonnas Scheitern ist beispielhaft. CaGeld als Studio-Sängerin. Mit 16 kompo- berechenbaren Verschiebungen des Tag- rey beharrte aber auf ihren Plänen, nahm
nierte sie gemeinsam mit Ben Margulies Nacht-Rhythmus ihre Umgebung zu ter- Schauspielunterricht und ist in den USA
derzeit in „The Bachelor“ zu
Songs. Einer davon, „Vision
sehen – wenn auch nur in
of Love“, wurde 1990 ihre
einer winzigen Nebenrolle.
erste Hitsingle, und sie geIm nächsten Jahr allerdings
wann damit einen Grammy.
wird sie im Achtziger-JahreEin trauriger KanarienvoMusikfilm „All that Glitters“
gel im Platinkäfig – so wurde
die Hauptrolle spielen und
die Geschichte ihrer Ehe mit
singen.
Mottola kolportiert. Er habe
Der Schauspielunterricht,
ihr Bodyguards hinterhergesagt Carey, sei für sie wie
schickt, Miniröcke verboten
Psychotherapie gewesen:
und verhindert, dass sie nach
„Ich habe meine blockierten
den Aufnahmen im Studio
Gefühle kennen gelernt.“
noch mit den anderen MusiDas hört sich an wie ein umkern zu Partys ging. Als „Leformulierter Werbeprospekt
ben in einer Muschel“ beeiner Schauspielschule: Entzeichnet Carey die Zeit ihdecken Sie Ihr wahres Ich!
rer Ehe: „Ich durfte nicht ich
Finden Sie den Weg zu Ihren
selbst sein.“
Gefühlen! Welche auch imAnfang 1997 trennte sich
mer das sein mögen.
das Paar. Kurz zuvor hatte
Jedenfalls zieht Carey sich
die Zeitschrift „Vanity Fair“
heute so provokativ an, wie
über Mottolas mögliche Carey-Villa bei New York: Zwei Pizza-Öfen und vierzehn Bäder
Mottola es offenbar nie erNähe zur Mafia berichtet.
„Nun wusste die ganze Welt, wie unglück- rorisieren. Sie kommt gern zu spät und ließ tragen konnte: poknappe Miniröcke,
lich ich war“, sagt Carey. Sie habe in der auch Prinz Albert von Monaco bei einem Metallic-Kleidchen, wurstpellenartige Capri-Hosen. Das Magazin „People“ nahm
Ehe nur so lange ausgeharrt, weil sie ers- Gala-Dinner warten.
tens einen autoritären Wochenend-Vater
Und dann gibt es noch die Kleinskan- sie vor kurzem in die Liste der am schlechgehabt habe und sich dieses Muster wie- dale, die das Bild von der schüchternen testen angezogenen Frauen auf, aber
derholt habe. Weil sie zweitens auf Grund Prinzessin zurechtrücken: Sie soll in ei- Carey besteht darauf, dass es Popstars
ihrer chaotischen Kindheit „eine riesige nem Eifersuchtsanfall ihren Produzenten ihrem Publikum schuldig seien, sexy ausToleranz für Dysfunktionales“ entwickelt Walter Afanasieff vor einem Nachtclub zusehen.
In ihrem Video zu „Heartbreaker“ trägt
habe. Und drittens habe sie geglaubt, bei so lautstark beschimpft haben, weil der an
viel beruflichem Glück habe sie kein Recht, der Gesangskarriere seiner schönen neu- Carey Jeans und einen riesigen Busen im
auch noch privates Glück zu verlangen. en Freundin Samantha Cole bastelte. Bei winzigen Trägertop. Sie hat glatt geföhnte,
Schluchz.
einer anderen Gelegenheit soll sie Cole lange Haare und tritt eine Konkurrentin
Das ist zu schön-traurig, um wahr zu mit Eiswürfeln beworfen haben. Tief in mit Karate-Kicks zusammen.
Carey will nicht mehr Aschenputtel sein,
sein. Und tatsächlich gibt es Widersprüche der Nacht im New Yorker Restaurant Blue
zu dieser Darstellung vom armen, unter- Ribbon stellte Carey die Schauspiele- sondern die Heldin eines modernen Märdrückten Star, der tun musste, was der rin Cameron Diaz zur Rede, weil diese in chens: Lara Croft. Marianne Wellershoff
Kultur
D. OBERTREIS / BILDERBERG
Erstaunlicherweise gibt es
selbst in diesen Zeiten doch
noch Rühmenswertes aus
der einst hehren Schweiz zu
berichten.
Ich bin soeben aus Peter
Webers Roman „Silber und
Salbader“ heraus, kann
drum melden: Tauchgang
überstanden, schwindelnd,
atemlos. Schauplatz der Weberschen Hatz ist nebst dem
heimatlichen Tal samt freihändig eingezogenen Nebentälern die, weitläufig definierte, Umgebung von
Zürich – seit fast 500 Jahren
offenbar heimliches Ziel der
Toggenburger, ihr magischer
Ort, seit es den Talgenossen Huldrych Zwingli, angeblich nach verunglückter
Probepredigt in Rapperswil,
seeabwärts dorthin verschlagen hat.
Ich kenne die Zürichseegegend in- und auswendig,
bin mittendrin aufgewachsen und noch lange nicht
fertig mit ihr. Noch weiß
man den See nicht recht zu
Weber-Thema Schweiz: „Aus Alphörnern dünstet in Schwaden schwerer Alpenweihrauch“
überbauen, sonst aber ist da,
so weit das Auge reicht, helvetische GeldAU T O R E N
geschäftigkeit so flächendeckend mit neueidgenössischem Heimatstil intim geworden wie kaum anderswo in der Schweiz.
Darüber weiß natürlich auch der Baumeisterssohn Peter Weber locker Bescheid.
Der Schweizer Nachwuchsautor Peter Weber lässt in seinem zweiten
Im Toggenburg kennt er ohnehin Stein und
Roman die helvetischen Puppen tanzen und erzählt eine
Bein und dreht erst noch jeden Brocken
mit allen Wassern gewaschene Generationensaga. Von Gerold Späth
um; findet er selbst da nicht, was er sucht,
erfindet er’s im Handumdrehen selber.
Drauf schüttet er Ozeane aus. Lässt FlüsSpäth, 60, lebt als Schriftsteller („Commeer Lack ist gründlich ab. Die so genannte Eidgenossenschaft ein ob- se tosen und versickern und hinter sieben
dia“) in der Toskana und im irischen Rinskurer Winkel voll tumber Politiker, Bergen wieder hervorsprudeln. Aus Sagen
naknock; soeben erschien von ihm in der
Pfaffenweiler Presse die Prosasammlung gegängelt von polternden Populisten, ge- büschelt er uns leichthändig seine Grün„Ein Nobelpreis wird angekündigt“. Mit linkt von feist gemästeten Beamten. Eine dungssaga. Er lässt Badehöhlen dumpfen
Weber, 31, der in Zürich lebt und 1993 verfolgungswahnsinnige Armee macht als und dampfen. Bäderhotels werden hochmit seinem Roman „Der Wettermacher“ Staat im Schnüffelstaat unentwegt auf geflaggt, gehen irgendwann verschütt. Texerfolgreich debütierte, verbindet Späth Ernstfall und Armageddon. Dummdreiste tilbuden schießen aus dem Boden, Baumnicht nur die Hassliebe zur Heimat Großbanken können es nicht lassen, im- wollbarone krachen pompös zusammen.
Wer sich auf „Silber und Salbader“ einSchweiz, sondern auch die Lust an fun- mer mal wieder neue Unsäglichkeiten
durchzuziehen. Man reibt sich die Augen … lässt, muss auf Ver-Rücktes gefasst sein:
kelnden Formulierungen.
Hinter den sieben Bergen
D
I. OHLBAUM
C. RUCKSTUHL / KEYSTONE PRESS ZÜRICH
Peter Weber:
„Silber und
Salbader“.
Suhrkamp Verlag,
Frankfurt am Main;
296 Seiten;
39,80 Mark.
Späth
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Weber
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Kultur
Der Roman beginnt hinterhältig still, hebt
unverfänglich sanft ab. Leise rieselt der
Schnee, allerdings schwerindustriell stark
angereichert.
Dann kommt nach und nach zunehmend
Merkwürdigeres vor. Warmwasserheilige.
Bassfallen. Quellenindianer. Maultrommelbäume. Kaisereicheln. Molasseböcke.
Felsäpfel und die Vögel Mergelhopf und
Gaster. Verenen und Nymphen tauchen
auf. Man geht lärm- und lachbaden, tanzt
scharfe Salpetertänze, kaut Lichtkiesel
oder die andere Toggenburger Spezialität:
Bloderkäse, von Weber als Plauderkäse gepriesen.
Im bisher unbekannten Tal der Rasch
wird der nicht weniger unbekannte Singdialekt Räss gesprochen. In verstecktem
Abseits das noch einheimischere, sehr geheimnisträchtige Quelsch.
Dem jungen Mann im Toggenburg gelingt es spielend, mit dem Schwung seines
ersten Romans „Der Wettermacher“ (1993)
durch die Landschaften seines zweiten zu
jagen. Überall klopft seine flinke Phanta-
handle es sich um die geläufigsten Selbstverständlichkeiten der Welt. Es biegen sich
die Schwarten, und es krachen die Balken.
Oder umgekehrt: Aus Landes- und erst
recht aus Lokalgeschichte, kaum dass Weber sie anritzt, schießen ihm die Einfälle
schockweise hervor; „Silber und Salbader“
Die Tracht und
das Verdauungsgejodel
sind Pflicht
sie Figuren aus dem Busch und scheucht
scharenweise Geschichten auf.
Peter Weber ist ein mit allen Wassern
gewaschener Erzähler, ein in der Wolle gefärbter Storyteller. Was Wunder, dass in
seinem Roman allenthalben Wasser durchdrückt. Es trieft in Kordeln, es orgelt in
Schluchten, es schliert als Nebel, es baut
Druck auf in finsterem Untergrund, es
strömt davon, taut herab.
Zum andern ist ausgiebig von Spinnern
die Rede; sie weben und sticken und
stricken ihre Macken und Maschen, sie raffen dank Falschzwirn und Kunstgeld dicke
Vermögen. Sollte die schnelle Chose, was
vorkommt, schief oder gar verschütt gehen, macht’s weiter nix; denn da sind die
Frauen, die reißen ihre Männchen immer
wieder so selbstlos wie bravourös aus allen
Strudeln.
In seinem Phantasiezirkus schwingt Weber sich als flickflackender Wortakrobat
zügig auf und ab durch Zeiten, Geschichte und Geschichten. Eine Nummer jagt die
andere. Lauter schillernde Kunststücke.
Und wirklich alles, was er in entfesselter
Sprache herbeizaubert, ist auch wirklich
wahr, man kommt gleich dahinter. Und
schon hat es einen beim Ärmel, schon wird
man hineingewirbelt in Webers irrwitzig
rotierende Show.
Die Salbadergeschichten schwirren und
flirren. Webers Figuren, eine wahre Streetparade, erleben Unerhörtes, palavern
Phantastisches. In Zürich ist Hanfdampf in
allen Gassen, da verwandeln sich simple
Dinge in nie zuvor gesehene; die werden
opulent und so unverfroren aufgetischt, als
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Bestseller
Belletristik
1 (1) Isabel Allende Fortunas Tochter
Suhrkamp; 49,80 Mark
2 (2) Günter Grass Mein Jahrhundert
Steidl; 48 Mark
3 (4) Noah Gordon Der Medicus
von Saragossa Blessing; 48 Mark
4 (3) Elizabeth George Undank ist der
Väter Lohn Blanvalet; 49,90 Mark
5 (5) Donna Leon Nobiltà
Diogenes; 39,90 Mark
6 (7) Henning Mankell Die falsche
Fährte Zsolnay; 45 Mark
7 (6) John Irving Witwe für ein Jahr
Diogenes; 49,90 Mark
8 (8) Marianne Fredriksson
Maria Magdalena W. Krüger; 39,80 Mark
9 (10) Ken Follett Die Kinder von Eden
Lübbe; 46 Mark
10 (9) Henning Mankell Die fünfte Frau
Zsolnay; 39,80 Mark
11 (–) Frank McCourt Ein rundherum
tolles Land Luchterhand; 48 Mark
12 (11) Nicholas Sparks Zeit im Wind
Heyne; 32 Mark
13 (13) Siegfried Lenz Arnes Nachlass
Hoffmann und Campe; 29,90 Mark
14 (12) Johannes Mario Simmel Liebe
ist die letzte Brücke Droemer; 44,90 Mark
15 (–) Thomas Brussig
Am kürzeren Ende
der Sonnenallee
Volk und Welt; 28 Mark
Der Roman zum
Film: eine Jugend
im Schatten
der Berliner Mauer
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wird zum barocken Narrenspiegel. Und
weil der Wundererzähler die scheinbar stabil geschichtete voralpine Welt als stark
schwankendes Tollhaus begreift, mischt er
sich demiurgisch ein. Versetzt Berge, baggert Täler, türmt neue Gebirge, reißt
Höhlen auf und lässt alle Winde los – die
Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich
ermittelt vom Fachmagazin „Buchreport“
Sachbücher
1 (1) Marcel Reich-Ranicki Mein Leben
DVA; 49,80 Mark
2 (2) Sigrid Damm Christiane
und Goethe Insel; 49,80 Mark
3 (3) Waris Dirie Wüstenblume
Schneekluth; 39,80 Mark
4 (4) Corinne Hofmann
Die weiße Massai A1; 39,80 Mark
fegen als Fortschritt daher. Allenthalben
wird geklotzt und geboomst.
Die bislang nur hoch subventionierten
Herren Geißenbauern haben ihre Chance
genutzt und sich flugs zu dicken Profitbrüdern gemausert. Man sömmert Touristenherden, winters werden sie per Skilift zur goldscheißenden Sonne emporgebunkert.
Sentimentale Hauptsache ist die Festerei. Aus Alphörnern dünstet in Schwaden
schwerer Alpenweihrauch. Man jauchzt,
frisst, schwitzt, steckt sich den patriotischen Stumpen an. Tracht und Verdauungsgejodel sind Pflicht.
Drauf im schweren Schlitten auf zur
nächsten Hundsverlocherei. Es ist trompetengoldige Zeit, breitspurig durchdröhnt
sie das Land.
Weber kann ein Lied davon singen,
rauschhaft überschäumend, doch Ton um
Ton und Satz um Satz exakt gesetzt. Dass
so was nicht vom Himmel fällt, weiß ich gut
genug. Solch erzählerische Lust erwächst
aus tief gedüngtem Boden.
5 (5) Dale Carnegie Sorge dich nicht,
lebe! Scherz; 46 Mark
Da sprudeln die
Quellen, da kommt unglaublich
viel in Fluss
6 (6) Tahar Ben Jelloun Papa, was ist
ein Fremder? Rowohlt Berlin; 29,80 Mark
7 (7) Bodo Schäfer Der Weg zur
finanziellen Freiheit Campus; 39,80 Mark
8 (9) Ruth Picardie Es wird mir fehlen,
das Leben Wunderlich; 29,80 Mark
9 (8) Ulrich Wickert
Vom Glück, Franzose zu sein
Hoffmann und Campe; 36 Mark
10 (10) Daniel Goeudevert
Mit Träumen beginnt die Realität
Rowohlt Berlin; 39,80 Mark
11 (11) Klaus Bednarz
Ballade vom Baikalsee
Europa; 39,80 Mark
12 (–) Dietrich
Schwanitz Bildung
Eichborn; 49,80 Mark
Der akademische
Entertainer verrät im
flapsigen Plauderton,was man alles
wissen muss
13 (13) Peter Kelder Die Fünf „Tibeter“
Integral; 22 Mark
14 (12) Günter Ogger Macher im
Machtrausch Droemer; 39,90 Mark
15 (14) Jon Krakauer In eisige Höhen
Malik; 39,80 Mark
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Der Roman „Silber und Salbader“ führt
glanzvoll vor, was in frühen Jahren Erlebtes, Gehörtes, Aufgelesenes, Erahntes,
kurz: was nächste Umgebung, scharf besehen und immer deutlicher durchschaut,
hergeben kann, wenn sie dem sprachmächtigen Erzähler, Spieler, Erfinder in die
Tastatur gerät. Da sprudeln die Quellen,
da kommt unglaublich viel in Fluss, es
springt eins aus dem andern.
Mehr oder weniger fern von heimischen
Fließwässern hingegen kann sich leicht etwas verwischen. Drum ist dann auch leicht
beckmessern: Der getigerte Nachtfisch
Lota lota schwimmt im Zürichsee als Trüsche und heißt wohl lieber nicht Treusche,
zumal er, je nach Gegend, eh schon genug
Namen hat: Aalraupe, Quappe oder Rutte.
Und der große Platz zu Siena ist nun
mal seit je sienesischer Campo, drum halt
etwas anderes als eine Piazza.
Item: Nach nur knapp 300 Seiten ist der
schwirr kreiselnde Tanz aus; wir finden uns
wieder dort, wo der Roman ganz unverfänglich sanft begonnen hat. (Könnte alles
ein heftiger Traum gewesen sein? Fängt
der eigentliche Roman am Ende erst wirklich an?)
Vom Großvater des Erzählers wird im
Buch behauptet, er sei der großartigste
Schwindler gewesen, den man im Tal je gesehen habe. Ich kenne Peter Weber seit
Jahren, weiß drum schon lange, was man
jetzt wieder aus jeder Seite seines fulminanten neuen Romans lesen kann: dass
noch einer im Tal ist, der in bisher nie
gehörten Tönen ebenso großartig salbadert.
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Kultur
FOTOS: SENATOR
Klaus ist ein Träumer. Vorm
Einschlafen beobachtet er einen Mann im Stasi-Gebäude
und führt über dessen Schritte von einem Zimmer ins andere Buch. Im Geografieunterricht lernt er die politischen
Farben der Erde kennen. Die
kapitalistischen Länder sind
blau, die sozialistischen rot,
die Entwicklungsländer wie
die Tomaten: „Erst sind sie
grün, dann werden sie rot.“
Klaus’ Banknachbarin, die
schöne Yvonne, möchte später nach Holland, ihr Hund
heißt bereits „van Gogh“.
Aber Holland ist blau. Klaus
plant, es rot zu machen, das
wäre eine Möglichkeit. Die
einzige, die er sieht. Er ist nur
Flachschwimmer, beim Weitpinkeln im Ferienlager hat er
keine Chance, und es ist mehr
als überraschend, dass sich
Yvonne für ihn interessiert.
Die Kamera fährt die Schulflure mit den
Augen eines unsicheren Kindes ab, sie zeigt
die Schwimmhalle als Ort der Folter und
Pein. Ekliges, chloriges Wasser, hallende
Kinderschreie und die Kommandos von
fleischig-behaarten Schwimmlehrern.
Klaus träumt von seinen sozialistischen
Helden in Schwarzweiß. Teddy Thälmann ist
ein dicker Bär, der durch den Hamburger
Hafen marschiert, die Arbeiter mögen ihn,
sein bester Freund ist der kleine Trompeter,
später muss er gestreifte Häftlingskleidung
tragen, aber der Aktivist Adolf Hennecke
befreit ihn mit seinem Presslufthammer.
Klaus findet die Schlagersängerin Dagmar
Frederic erotisch und lacht mit, wenn sein
Geschichtslehrer den Film von der Befreiung Berlins rückwärts laufen lässt. Das ist
oft komisch, aber selbst dann beklemmend.
Die orangefarbene Klatschkragenbluse
von Yvonne, die braune Silastikhose der
„Helden wie wir“-Darsteller Borgwardt, Xenia Snagowski: Kein Glück bei den Frauen
FILM
Eine Packung Ostpralinen
Die Verfilmung des Thomas-Brussig-Romans „Helden wie wir“
erinnert an „Forrest Gump“ – nur in den Farben der DDR.
E
inige Menschen im Osten der Republik glauben, dass am 9. November
der zweite Teil von „Sonnenallee“
ins Kino kommt. Sie haben den „Helden
wie wir“-Trailer gesehen und denken:
Noch so was. Noch ein Genauso-wars-Film.
Was mit „Cabinet“-Rauchern, alten Häusern, Wartburgs, Schrankwänden und
braungelb gestreiften Ostsofas. Sie hoffen,
dass dieser komische Wohnzimmertisch
mit der Kurbel wieder mitspielt. Das wäre
schau, wenn der Tisch wieder mitmachte.
Der Tisch und auch Volkspolizist Buck.
Die aufgeschlossenen Westler aber fragen interessiert: Welchen von beiden müssen wir uns denn nun ansehen? Beide Geschichten hat sich der Schriftsteller Thomas
Brussig ausgedacht. Die Westler denken an
„Manta – Der Film“ und „Manta, Manta“,
und natürlich liegt der Gedanke nah.
Wer sich „Helden wie wir“ ansieht,
merkt, dass er mehr sein will als „Sonnenallee II“ und „Manta, Manta“. Er will
„Forrest Gump“ sein. Ein Forrest Gump in
den Farben der DDR. Forrest heißt diesmal
Klaus Uhltzscht (Daniel Borgwardt).
Er wird geboren, als ein Panzer der
Sowjetarmee am Urlaubsquartier seiner
Eltern vorbeirollt. „Kuda w Pragu?“, fragt
der Panzerfahrer, und man weiß, dass der
Atem der Geschichte unseren Helden vor
sich her bläst. Wie Forrest wird auch Klaus
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in große geschichtliche Szenen montiert.
Allerdings ist es nicht Kennedy, dem er die
Hand schütteln darf, sondern nur Egon
Krenz, wenn auch ein Egon Krenz mit beachtlichen Koteletten.
Doch erst mal zieht Klaus Uhltzscht
mit seinen Eltern in eine Neubauwohnung,
die an ein Gebäude der Staatssicherheit grenzt. Dort ist auch Klaus’ Vater beschäftigt.
Schauspieler Borgwardt: Blutspenden für Erich Honecker
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Kultur
wird er plötzlich zum Regimegegner,
schlägt seinen Vorgesetzten, rennt in einen U-Bahn-Schacht, klettert aus einem
Gulli, läuft zur Mauer und lässt seine Hosen herunter, worauf die Grenzoffiziere
die Tore öffnen.
Zwischendurch werden Dokumentarfilmschnipsel gezeigt, die man kennt,
außerdem taucht kurz der volkstümliche
Musikant Achim Mentzel auf, weil Achim
Mentzel Kult ist, und es gibt das komplette Ostkultmusikprogramm. Gitarrentwist,
Schwanenkönig, Gänselieschen und das
Lied vom kleinen Trompeter.
Das ist sehr fleißig, und man merkt auch,
wohin die Reise gehen sollte. Aber der Film
wirkt, als musste er zur Feierstunde noch schnell fertig
werden. Es gibt keine Handlung, auch „Sonnenallee“ hat
ja keine erwähnenswerte
Handlung. Aber „Sonnenallee“ ist wenigstens Kino.
Ein Popcorn-Film mit coolen
Tanzszenen, den man sich
auch drei-, viermal ansehen
kann. Man bekommt gute
Laune bei „Sonnenallee“;
„Helden wie wir“ aber
swingt nicht, der Film steht
irgendwann auf der Stelle
„Helden wie wir“-Darsteller Kirsten Block, Udo Kroschwald und langweilt.
Uhltzscht marschiert durch
Pendeln zwischen Sentimentalität und Grauen
sein Leben wie eine HolzDie Kinder werfen sehnsuchtsvolle Blicke puppe. Er kann nicht weinen, er kann nicht
auf Landkarten und verfolgen ungerührt lieben, er lebt nicht.
In der zweiten Hälfte möchte man nur
das Politikersterben in der UdSSR. Vor
dem Fenster hängt ein hellblauer, sozialis- noch, dass endlich Schluss ist. Die Bilder
tischer Papphimmel mit Wolken und Krä- zerren an den Nerven. Insofern ist der
nen, der aus einem DDR-Lesebuch ge- Film wie die DDR in ihren letzten Tagen.
Endlos, langsam, nervend, schmuddelig
schnitten worden sein könnte.
Der Zuschauer pendelt zwischen Senti- und eng. Die Frage ist, ob er das gewollt
hat. Der Regisseur schleppt sich bis zum
mentalität und Grauen.
Als Klaus diese Kulisse verlässt, bleibt Ende durch, das ja schon in Brussigs Buch
das Grauen übrig. Der kleine Klaus wird wie der Witz eines Kindes wirkt, das die
zum großen Klaus und springt von nun an Pointe vergessen hat. Ein Mann öffnet
wie ein Gummiball von einer Szene zur seine Hose, worauf die Berliner Mauer
nächsten. Er geht zur Stasi und muss für umfällt.
Und? Dazu läuft jetzt „What a Wonderden Rest des Films mit einer bescheuerten
Windjacke und einem immer gleichen Ge- ful World“ von Louis Armstrong.
Und?
sichtsausdruck rumlaufen.
Die Ostler sind in Amüsierlaune, sie
Auch die anderen Darsteller dürfen
nicht viel machen. Klaus fängt in einem wählen, was sie wollen, lassen die FDP
Hinterhofbüro an, hat kein Glück bei den sterben, trinken süßen Sekt und denken
Frauen, weil sein Schwanz zu kurz ist, an früher. Im Augenblick würde sogar ein
rutscht auf seinem Samen aus, fällt eine Mix aus „Nicht schummeln, Liebling“,
Treppe runter, bricht sich beide Arme und „Ernst Thälmann – Sohn seiner Klasse“,
trifft zufällig Yvonne wieder, die jetzt im „Spuk unterm Riesenrad“ und den besten
Widerstand arbeitet. Sie verliebt sich in Sportreportagen von Heinz Florian Oertel
eine Million Zuschauer bekommen. Viel
ihn, warum, ist schleierhaft.
Er trägt die bescheuerte Jacke, und sein mehr ist „Helden wie wir“ auch nicht geHaar ist dünn. Allerdings fällt ihm der Satz worden.
„Das Leben ist wie eine Pralinen„Jedes Blatt Papier ist ein potenzielles
Flugblatt“ ein, der sowohl bei der Stasi als schachtel, man weiß nie, was drin ist“, sagt
auch bei den Revolutionären gut an- Forrest Gumps Mutter.
„Helden wie wir“ ist wie eine Packung
kommt. Mit Yvonne ist erst mal Schluss, als
Klaus gesteht, dass er bei der Stasi ist. Er mit Ostpralinen. Da wusste man immer,
muss Blut für Erich Honecker spenden, was drin ist. Es war selten gut.
woraufhin sein Gemächt schwillt. Dann
Alexander Osang
SENATOR
NVA mit den gelb-roten Offiziersstreifen
am Bein von Klaus’ Vater, die Koteletten
von Egon Krenz und die guten alten DDRHeftumschläge sorgen für den nötigen
Wiedererkennungseffekt. Wie die VitaCola-Flasche und der Hosenkamm in
„Sonnenallee“. Auch das Wohnzimmer
sieht aus wie das Wohnzimmer in „Sonnenallee“.
Aber es ist lange nicht so gemütlich.
Es gibt keinen lustigen Kurbeltisch, und
Klaus’ Vater, den Udo Kroschwald spielt,
raucht und schwitzt und ist kein bisschen
komisch. Er ist ein brutaler Spießer. Die
Bockwürste glänzen kalt auf dem Abendbrottisch, die Mutter sorgt für Sauberkeit.
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M. SCHWARZ / ABS
Beschmierter, gereinigter Findling in Hamburg: „Auch die Existenz des Reichstags hat man
SCHÖNHEIT
„Graffiti sind Menetekel“
Der Wuppertaler Ästhetik-Professor Bazon Brock, 63, über Sinn
und Unsinn der Schmierereien im öffentlichen Raum
R. OBERHÄUSER / DAS FOTOARCHIV
SPIEGEL : Herr Professor
Brock: Ja, und es ist viel
Brock, 400 000 Jahre lag ein
leichter, seine Wut bei den
großer Findling auf dem
Sprayern abzuladen, die am
Grund der Elbe. Wenige TaRande der Gesellschaft stege nachdem er geborgen
hen, als bei den Gruppen,
und als Naturdenkmal ans
die die Welt mit ihren offiFlussufer gehoben worden
ziellen Logos hässlich mawar, sprühten Sprayer ihre
chen.
SPIEGEL: Die angeblich weit
Logos auf den Granit. Nicht
verbreitete Wut über Wernur die Hamburger sind
belogos existiert womögempört über solche Barlich nur in Ihrem Kopf und
barei. Können Sie die Wut
nicht bei der Bevölkerung.
teilen?
Die ist empört, dass nicht
Brock : Ich akzeptiere soleinmal ein Kulturdenkmal
che Schmierereien nicht.
wie ein Granitblock aus der
Sie kotzen mich an. Kunsttheoretiker Brock
Eiszeit geachtet wird.
Aber …
SPIEGEL: … aber jetzt kommt das berühm- Brock: Wir verstehen die Sprayer nicht. So
te Verständnis für die verstörten Subkul- wie wir auch die Werbeleute nicht verstetur-Jugendlichen in der kalten, verwalte- hen. Auch Touristen treten als Schmierer
ten Welt.
auf. Schon in der Antike wurden MarBrock: Sie unterschätzen mich. Meine und morsäulen beschmiert, oder es wurde in
auch die Wut der Bevölkerung resultieren sie mit scharfkantigen Metallen hineingeaus dem, was uns normalerweise nicht auf- ritzt. „Kilroy was here“ schmierten USSoldaten als Zeichen der Eroberung auf
regt.
europäische Kulturdenkmäler. Jeder, der
SPIEGEL: Was wäre das?
Brock: Die Verschandelung der Welt mit of- ein Kunstwerk verwurstet und durch
fiziell genehmigten Werbelogos. Sie befin- Kitschpostkarten ästhetisch überformt, der
den sich inzwischen überall, auf jeder Pla- tut letztlich genau das Gleiche, was die
ne, auf jedem Brückenpfeiler, auf freiem Sprayer tun.
Feld. Die Konsum- und Warenpropaganda SPIEGEL: Wieso? Das Kunstwerk wird doch
macht doch die Welt unsichtbar. Jeder klei- durch Postkarten nicht überkritzelt. Jene Ladeninhaber beeinträchtigt mit seinen der weiß: Das Original hängt unversehrt
Graffiti das Bild historischer Stadtensem- im Louvre.
bles. Eigentlich müssten sich die Leute über Brock: Das wissen die Sprayer auch.
so etwas aufregen beziehungsweise sich SPIEGEL: Wie bitte?
aufregen, dass sie sich nicht aufregen.
Brock: Erst durch das Verdecken enthüllt
SPIEGEL: Sie meinen allen Ernstes, dass die man das Kunstwerk. Auch Beschmieren
Gesellschaft das Gleiche betreibt wie die verhindert das Unsichtbarwerden. Das
Sprayer?
funktioniert nach ähnlichem Prinzip wie
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C. BRINKMANN
den mit Hotels zuzuknallen. Er
stellt Lautsprecher auf, die lauthals
die Stille verkünden. Er lockt die
Massen mit den Verheißungen des
Einsamkeitstourismus. Sprayer machen auf solche Widersprüche
aufmerksam.
SPIEGEL: Kann es sein, dass Sie die
Graffiti-Sprayer insgeheim bewundern? Was sagen Ihnen ihre Zeichen?
Brock: Hinter der Aggressivität
gibt es das Gefühl der Schwäche.
Die Subkulturler benutzen ihre
Zeichen wie einen Abwehrzauber
gegen das, was ihnen blüht, wenn
sie erwischt werden. Sie wehren
ihre eigene Unterwerfung ab. Sie
zaubern weg, was sie alle erwarten: Wir sind eigentlich doch die Unterlegenen.
SPIEGEL: In den Graffiti drückt sich Ohnmachtserfahrung aus?
Brock: Ja. Ohnmacht ist die Erfahrung
eigener Beschränktheit und damit Antrieb für Selbstzerstörung. Und diese
Selbstzerstörung muss camoufliert werden. Die Sprayerlogos sind ein Tarnnetz
für die latente Selbstzerstörung, die sich
so als Schmuck ausgibt. Mit Piercing
und Tattoos verhält es sich nicht anders.
SPIEGEL: Das klingt ergreifend. Aber warum
wirkt die von Ihnen beschriebene Sprache
der Selbstzerstörung so uniform, steril und
humorlos?
Brock: Die Graffiti zeugen von einer urheberlosen Gesellschaft. Die Kollektivität
wird zum Autor.
SPIEGEL: Die Sprayer entziehen sich vor
allem der rechtlichen Verantwortung.
Brock: Wenn Verursacher von schädlichen
Emissionen nicht zur Verantwortung gezogen werden, warum sollen Sprayer sich
zur Verantwortung ziehen lassen?
SPIEGEL: Warum werben die Subkulturler
nicht für ihre Positionen, bevor sie zur
Farbdose greifen?
Brock: Wenn Künstler solche Wege anbieten, ist das Interesse bekanntlich nicht
sehr groß. Die Akzeptanz für das Zustandekommen von Normen wird als Zustimmung interpretiert, obwohl kein Mensch
weiß, wie diese Zustimmung zu Stande
gekommen ist. Ich habe noch keinen
Bauherrn erlebt, der den Ordnungsvorstellungen der Ämter völliges Verständnis entgegenbrachte. Man spricht von
kleinbürgerlichen Funktionärsdiktaturen,
die ihren Geschmack der Mehrheit aufdrücken.
SPIEGEL: Die Sprayer sollen die ästhetischen
Erzieher der Gesellschaft sein?
Brock: Ihre Zeichen halten das Erschrecken
vor dem Nichtverstehen der normativen
Ordnung fest. Sie sind Menetekel. Da sehen die Menschen wenigstens noch die
Schrift an der Wand.
erst durch Christo bemerkt“
bei Christo. Im Verhüllen wird erst die Vorstellung von der wahren Ansichtigkeit hervorgelockt. Die Existenz dieses ekelhaften
eklektizistischen Spielkastenbaus namens
Reichstag hat man erst durch Christo bemerkt.
SPIEGEL: Aber der arme Findling, warum
darf er nicht unbearbeitet zu uns sprechen? Was kann er für verkorkste Stadtplanung?
Brock: Der beschmierte Findling spricht zu
uns, dass wir alle in der Gesellschaft keinerlei Respekt vor dem haben, was sich
uns entgegensetzt, weder vor der Evolution noch vor der Natur. Das zeigen wir in
der Genetik, das zeigen wir, wenn Autobahnen gewachsene Landschaften zerstören.
SPIEGEL: Solche Botschaft könnte auch ein
unversehrter Findling mitteilen.
Brock: Da wäre er gar nicht bemerkbar.
Die ganze Norddeutsche Tiefebene ist voller Findlinge. Heimatforscher haben ganze
Bücher über solche Steine geschrieben,
aber die Ehrfurcht vor der Natur hat sich
dadurch kaum verbessert.
SPIEGEL: Das hieße, die Behörden hätten
den Stein ruhig so beschmiert belassen und
nicht, wie sie es jetzt getan haben, seine
Säuberung und dann eine Beschichtung
anordnen sollen, von der man Graffiti
leicht abwaschen kann?
Brock: Bevor die allgemeine Zerstörung
der Natur begann, hat kein Mensch über
die Natur gesprochen. Erst durch den
Verlust wird ihr Wert erkennbar. Die
Überwältigung durch die Erhabenheit
der Natur – das war ein philosophischer
Anschauungsbegriff. Die Natur kennt
keine Erhabenheit oder Ehrfurcht. Die
von der Natur entlastete Leisure-Class
kann sich erst solch ein ästhetisches Erleben leisten.
SPIEGEL: Stimmt nicht. Menschen aller
Schichten suchen die unverstellte Begegnung mit der Natur.
Brock: Und begeben sich in die Paradoxien des Tourismus. Der wirbt mit dem Betreten noch nicht erschlossener Räume
und tut nichts anderes, als solche Gegend e r
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Interview: Nikolaus von Festenberg
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Wissenschaft•Technik
Prisma
TIERSCHUTZ
Neue Hoffnung
für den Tiger
ie Zahl der Tiger nimmt weltweit zu. Während
Experten Anfang der neunziger Jahre noch das
Aussterben des gestreiften Raubtieres bis zum Jahre 2000 voraussagten, äußern sie sich nun erstmals
hoffnungsvoll zur Bestandsentwicklung des Tieres.
„Wir schaffen es, den Tiger zu retten“, sagt Joshua
Ginsberg, Direktor des asiatischen Programms der
Wildlife Conservation Society. Sowohl in Ost-Sibirien als auch in Nepal sowie in einigen Gebieten
Bhutans und Indiens hat sich die Situation des bis
zu 300 Kilogramm schweren Raubtiers offenbar
deutlich verbessert. Im Ranthambhore-Wald südlich
von Delhi etwa waren 1993 höchstens noch 20 Tiger Tigerpaar in Indien
übrig. Jetzt sollen es doppelt so viele sein. Selbst in
Ländern wie Sumatra, Burma, Thailand und Kambodscha, wo Tigern oder Tigerprodukten etwa für die traditionelle chinesidas Tier bereits als ausgestorben galt, siedelt sich der Tiger of- sche Medizin dem Tier schwer zu schaffen. Problem Nummer
fenbar wieder an. Inzwischen ist die Jagd auf die Raubkatze eins jedoch ist die sinkende Zahl möglicher Beutetiere. Wilde
überall illegal. Viele asiatische Länder gehen entschiedener ge- Rinder, Hirsche und Wildschweine fresse das Tier „wie Hamgen Wilderer vor. Vollständige Entwarnung wollen die Exper- burger“, sagt der indische Zoologe Ullas Karanth. „Wenn wir
ten trotzdem nicht geben. Auch heute noch macht die Zer- uns intensiv um den Erhalt der Beutetiere kümmern, werden
störung geeigneten Lebensraumes und der illegale Handel mit die Tiger auf sich selbst aufpassen.“
Eierstöcke im Arm
A
COMPUTER
Hellhöriger Rechner
E
A. MOHIN / NYT
merikanische Chirurgen haben erstmals einer Frau die
Eierstöcke vom Unterleib in den
Arm verpflanzt. Die Mediziner
um den New Yorker Chirurgen
Kutluk Oktay entnahmen der
krebskranken Patientin, deren
Unterleib bestrahlt werden sollte,
die Eierstöcke, schnitten diese in
schmale Streifen und implantierten sie in ihren Arm. Dort soll
das Eierstockgewebe nicht nur
den Strahlenschäden entgehen,
sondern auch weiterhin Östrogen
produzieren, um der Patientin ein
vorzeitiges Einsetzen der Menopause zu ersparen. Unter Experten ist das Experiment umstritten. Die Reaktionen reichten von
„großartig“ bis „grotesk“. Sollte
die Transplantation erfolgreich
sein, will Oktay sie bei krebskranken Frauen anwenden, die
nach der Bestrahlung noch Kinder haben wollen. Aus dem Arm,
so Oktay, könnten Eier „geerntet“ und anschließend im Labor
befruchtet werden.
Operationsteam bei der Verpflanzung der Eierstöcke
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in elektronisches Spracherkennungssystem, das
gesprochene Worte besser versteht als menschliche Ohren, haben Forscher der University of Southern California, Los
Angeles, entwickelt.
Das neue Computersystem erkennt Kommandowörter wie
„ja“, „nein“ oder
„stopp“ selbst dann
noch mit hoher Sicherheit, wenn das
Tonsignal von bis zu
tausendfach stärkeLiaw, Berger
rem Rauschen überlagert ist. Menschliche Hörer können solche Sprachfetzen, die zum Beispiel von lauten Hintergrundgesprächen übertönt werden, bestenfalls erraten. Die
Forscher Theodore Berger und Jim-Shih Liaw benutzen ein computersimuliertes „neuronales Netz“, das
die Fähigkeit von menschlichen Nervenzellen nachahmt. Dieser Ansatz wird zur Sprach- und Bildverarbeitung schon lange genutzt. Erstmals programmierten Liaw und Berger ihr „neuronales Netz“ jetzt
jedoch so, dass, ähnlich wie im Gehirn, auch der
zeitliche Ablauf der Impulsfolgen an den Netzknoten berücksichtigt wird. Offenbar steckt darin das
Geheimnis des Erfolgs: Den Sprachtest bestand das
Berger-Liaw-Netz mit nur elf simulierten Neuronen.
E. MANKIN
CHIRURGIE
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P. ARNOLD / SAVE BILD
D
Prisma
Wissenschaft•Technik
P S E U D OW I S S E N S C H A F T
Grönländisches Inlandeis
AU T O I N D U S T R I E
Härtetest auf dem Eis
S
tatt des Elchtests plant VW für seine neuen Fahrzeuge eine Art Eisbärenprobe.
Der Wolfsburger Konzern hat mit der grönländischen Regierung einen Vertrag
über den Bau einer Teststrecke im ewigen Eis abgeschlossen. Wie die Kopenhagener
Zeitung „Berlingske Tidende“ berichtet, soll die rund 50 Kilometer große Anlage
auf dem Inlandeis Grönlands in der Nähe des 600-Seelen-Ortes Kangerlussuaq
entstehen. Ab Sommer 2000 will VW neben den eigenen Fahrzeugen offenbar auch
Autos der Marken Audi, Seat, Skoda, Rolls-Royce und Lamborghini zum klimatischen Härtetest in das polare Gebiet verfrachten. Ein eigenes Hüttendorf für die
VW-Mitarbeiter ist bereits geplant. Selbst zwei Köche sollen die VW-Leute schon
angeheuert haben.
MEDIZINTECHNIK
Röntgenblick
für Orthopäden
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etaillierten Durchblick bei schwierigen orthopädischen Operationen
wie etwa Beckenbrüchen erlaubt ein
neues Verfahren, das von dem US-Mediziner Anthony DiGioia entwickelt
wurde. Mit Hilfe des Systems kann der
Arzt während der
Operation gleichsam
per Röntgenblick in
den Patienten hineinsehen. Ein Computer
erzeugt aus vorher
angefertigten Röntgenbildern ein dreidimensionales Bild des
Infrarot-Kameras
Patientenskeletts. Bei
der Operation wird
dieses virtuelle Skelett auf einen halb
durchsichtigen Spiegel projiziert, durch
den der Arzt auf den
Patienten blickt. Infrarotkameras bestimmen millimetergenau
die Positionen von
268
Patient, Operateur und Operationswerkzeugen. Anhand dieser Daten wird
das Computerbild ständig mit der Wirklichkeit abgeglichen. Auch die Werkzeuge des Arztes werden in das Bild projiziert, so dass er gleichsam am offen liegenden Knochen operieren kann, ohne
diesen wirklich zu sehen. „Bislang
mussten wir oft viel Gewebe wegschneiden“, sagte DiGioia. „Mit der
neuen Methode können wir viel schonender operieren.“
LCD-Monitor
Referenzpunkt
zur Positionsbestimmung
Halb durchlässiger
Spiegel zur Bildprojektion
Operationswerkzeug
Der britische Esoterik-Star Rupert
Sheldrake, 57, über sein neues Buch,
in dem er Hunden und Katzen
übernatürliche Fähigkeiten zuspricht*
SPIEGEL: Herr Sheldrake, haben Sie ein
Haustier?
Sheldrake: Ja, eine Katze. Auf mich rea-
giert sie kaum. Aber sie scheint vorauszuahnen, wann meine Kinder nach
Hause kommen.
SPIEGEL: Sie behaupten im Ernst, Tiere
könnten hellsehen?
Sheldrake: Ja. Wir haben 2200 Hundehalter befragt. Jeder zweite gab an, sein
Hund spüre die Rückkehr von Familienmitgliedern lange im Voraus. Die Tiere
sitzen erwartungsvoll am Fenster.
SPIEGEL: Die Hunde könnten auch auf
Bekanntes oder aus Routine reagieren.
J. GASTON / FSP
B. OERSTED / NORDFOTO / DANA PRESS
„Warten am Fenster“
Sheldrake mit Testhund
Sheldrake: Das versuchen wir auszu-
schließen. In unseren Tests kommen die
Besitzer im Taxi und zu einem zufälligen Zeitpunkt nach Hause. Trotzdem
reagieren viele Hunde. Auch bei einem
Unfall wissen sie gleich Bescheid.
SPIEGEL: Ein unsichtbares Band der
Sympathie zwischen Seelenverwandten?
Sheldrake: Ich glaube tatsächlich, dass
eine Verbindung zwischen Lebewesen
besteht, die nicht an den Ort gebunden
ist. Das ist wie in der Quantenmechanik. Dinge, die zum selben System
gehören, bleiben in Kontakt.
SPIEGEL: Eine sehr eigenwillige Interpretation der Quantentheorie.
Sheldrake: Ich war auch erst skeptisch.
Trotzdem: In China werden Tiere zur
Erdbebenvorhersage genutzt. Viele Hunde finden von Orten, an denen sie nie
zuvor waren, wieder nach Hause. Keine
gängige Theorie kann dies erklären.
SPIEGEL: Wie steht’s denn bei Ihnen mit
dem Hellsehen?
Sheldrake: Noch nicht sehr gut. Aber ich
habe angefangen zu üben.
* Rupert Sheldrake: „Der siebte Sinn der Tiere“.
Scherz Verlag, Bern; 416 Seiten; 39,90 Mark.
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Wissenschaft
MEDIZIN
Das kalte Herz
Unbegrenzt verfügbar, billig und frei von Komplikationen: Dämmert eine Ära
neuer Ersatzorgane? Eine amerikanische Firma will im
nächsten Frühjahr einem Patienten ein komplettes Herz aus Kunststoff und Titan einbauen.
D
270
Wenn dieser Hohlmuskel aufhört zu pulsen, erlischt unabwendbar das Leben. Als
einzig vollwertiger Ersatz für das Herz gilt
bisher ein anderes.
An Spenderherzen besteht deshalb
weltweit ein enormer Bedarf. Allein in
Deutschland werden derzeit pro Jahr rund
1000 Menschen für eine Transplantation
angemeldet. Etwa jeder Dritte stirbt, bevor
ein geeignetes Organ über die Transplantationszentren angeboten wird.
Um dem Mangel abzuhelfen, investierten Industrie und Forschung Milliarden in
den Versuch, neue Organe verfügbar zu
machen: Sie manipulieren das Erbgut von
Schweinen, damit ihr Gewebe für Menschen verträglich wird. Oder sie mühen
sich ab, menschliche Herzmuskelzellen im
Labor zu züchten in der vagen Hoffnung,
dereinst einmal vollständige Pumpmuskel
heranreifen zu lassen.
Nun scheint es, als laufe herkömmliche
Ingenieurskunst den Biotechniken den
Rang ab. Abiocor kommt seinem organischen Vorbild verblüffend nahe, dessen erstaunliche mechanische Leistung bisher unerreicht ist.
Ein echtes Herz, bei einem Gesunden
rund 300 Gramm schwer und etwas größer
als eine geschlossene Faust, kontrahiert in
24 Stunden rund 100 000-mal, in einem
70-jährigen Leben drei Milliarden Mal.
Über eine Reizleitung vom Gehirn
überwacht, pulsiert der Herzmuskel. Die
Antriebsenergie wird durch das Blut geliefert, welches das feine Geäst der Herzkranzgefäße durchströmt. Bei jedem Herzschlag stößt der Pumpmuskel nur 70 Milliliter Blut aus. Doch mit der Zeit summiert sich das: Jeden Tag vollbringt der
kleine Muskel ein Arbeitspensum, das ausreichen würde, um ein Mittelklasseauto
aufs Dach eines dreistöckigen Hauses zu
hieven.
Bisher war selbst raffinierteste Technik
diesem natürlichen Wunderwerk unterlegen. Allenfalls konnten die Ärzte dem
Zentralorgan mit Schrittmachern, künstlichen Klappen oder Unterstützungspumpen bei seiner unermüdlichen Schwerarbeit helfen.
Das modernste Gerät aus dem Arsenal
der Medizintechnik wurde vorletzte Woche
in Bad Oeynhausen verpflanzt. Zwei Herzen, so war es den überschwänglich formulierten Meldungen der Nachrichtenagenturen zu entnehmen, schlagen nun im
Körper eines 67-jährigen Patienten – sein
T. EVERKE
as Gerät ist so groß wie eine Pampelmuse, es wiegt 900 Gramm. In
seinem Innern surrt leise ein Elektromotor aus Titan. An den Außenseiten
kleben zwei mit glasigem Gel gefüllte
Kunststoffkammern, die an die Brötchenhälften eines Hamburgers erinnern. Vier
daumendicke Schlauchenden ragen aus
dem Gebilde – Anschluss-Stutzen für jene
Gefäße, die den Lebenssaft durch den Organismus transportieren: Blut.
Entwickelt wurde die Titanmaschine von
Ingenieuren der Medizintechnikfirma Abiomed in Danvers bei Boston (US-Staat Massachusetts). Im Frühjahr nächsten Jahres
soll das Gerät, wenn alles nach Plan läuft,
erstmals in der Brust eines zum Tod verdammten Kranken den wichtigsten Muskel eines Menschen ersetzen – ein künstliches Herz, gesteuert und sekundengenau
überwacht von ausgetüftelter Elektronik,
betrieben von einer Batterie im Bauch.
Schon üben Chirurgen an vier amerikanischen Herzzentren, Kälbern das Kunstherz einzupflanzen. In rund 100 Tieren hat
das Ersatzteil bereits gepocht. Die jeweils
20-köpfigen OP-Teams arbeiten inzwischen
so routiniert zusammen, dass „spätestens
sechs Stunden nach Einleitung der Narkose das Kalb wieder auf den eigenen Beinen
stakst“, berichtet David Lederman, Gründer und Präsident von Abiomed.
Vier Wochen lang lassen die Mediziner
die Maschine (Markenname: Abiocor) in
den Rindviechern schlagen. Dann werden
die Tiere eingeschläfert und die Herzen
zur Prüfung wieder entnommen. Grund
der laut Lederman „humanen Tötung“:
„Die Kälber wachsen zu schnell, das künstliche Herz aber nicht, seine Pumpleistung
ist auf rund zehn Liter pro Minute begrenzt.“ Für ein ausgewachsenes Rind ist
das viel zu wenig, für einen Menschen allerdings reicht es allemal.
Das kalte Herz aus Massachusetts könnte eine medizintechnische Revolution einläuten. Für Gelenke und Gefäße, sogar für
ganze Gliedmaßen können Ingenieure inzwischen Ersatz aus Kunststoff und Metall
schaffen. Ein ganzes inneres Organ gegen
eine Maschine im Körper auszutauschen,
gelang ihnen bisher jedoch nicht.
Nun wagen sie sich ausgerechnet an das
Herz heran, jenes Organ, das den Menschen wie wohl kein anderes fasziniert.
Abiomed-Chef Lederman (mit Kunstherz Abiocor): Ersatzorgan zum Schnäppchenpreis
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Neuer Rhythmus
Wie das künstliche Herz „Abiocor“ arbeitet
Das Kunstherz arbeitet in zwei Zyklen.
Im ersten wird sauerstoffreiches Blut
aus den Lungen angesaugt und
zugleich verbrauchtes Blut in die
Lungen gepresst. Im zweiten
LungenArbeitsgang drückt die Pumpe
Kreislauf
sauerstoffreiches Blut in den
Körper und saugt sauerstoffarmes an.
sauerstoffreiches Blut
Sensoren
zum Beispiel
zur Messung
von Druck,
Temperatur
und Blutfluss
Kunstherz
Klappen steuern den Wechsel von Lungen- zu
Körper-Kreislauf. Die eigentliche Arbeit leistet
ein Motor aus Titan. Er pumpt ein hydraulisches
Gel hin und her, das von einer elastischen
Membran umschlossen ist.
sauerstoffarmes
Blut
Antenne
sendet
Betriebsdaten
in die Klinik
sauerstoffarmes
Blut
Titan-Motor
hydraulisches
Gel
Induktionsspule im
Bauchraum
Körper-Kreislauf
flexible Membran
Batterie Kontrolleinheit
Ladegerät für die
implantierte Batterie
natürliches und ein künstliches mit dem
schlagzeilenträchtigen Namen „Lion
Heart“: Löwenherz.
Doch von einer „Weltpremiere für ein
neuartiges Kunstherz“, die am Herz- und
Diabeteszentrum in dem nordrhein-westfälischen Kurbad gelungen sei, konnte in
Wahrheit keine Rede sein. Der Patient hatte lediglich ein mechanisches Kreislaufunterstützungssystem erhalten, das inzwischen zum Standardrepertoire der Herzchirurgie zählt.
Neu an dem implantierten „Left Ventricular Assist System“ – so genannt, weil es
die Schwerstarbeit verrichtende linke
Herzkammer unterstützt – war nur eines:
„Patient Löwenherz“ spazierte Mitte letzter Woche schon über den Klinikflur, wobei er sich mit der Batterie, die die 1,6 Kilogramm schwere Minipumpe antreibt,
nicht herumplagen musste. Denn die Chirurgen hatten sie im Bauchraum platziert.
Der Akku lässt sich mit Hilfe von Induktionsspulen von außen aufladen.
Hauptvorteil dieser Methode ist die verringerte Infektionsgefahr. Denn bisher
führten Kabel durch die Haut. Außerhalb
des Körpers wurden diese an einen tragbaren Batteriepack gestöpselt. Für Bakterien waren die Öffnungen Portale, durch
die sie in den Körper des Patienten gelangen konnten.
Die nun in Bad Oeynhausen angewandte Induktionstechnik soll bald auch das
Abiomed-Kunstherz mit Strom versorgen.
Damit ist freilich jede Parallele erschöpft.
Klappen
Denn mit dem Abiocor-System wird eine
Radikalkur angestrebt. Acht Stunden soll
die Operation dauern: Die Chirurgen öffnen den Brustkorb des Patienten, zerren
seinen Rippenkäfig mit schwerem Spreizgerät auseinander. Dann durchtrennen sie
Arterien und Venen am natürlichen Herzen
und verbinden sie mit der Herz-Lungenmaschine – das Herz liegt frei und wird
herausgehoben.
In die zwölf Zentimeter tiefe Leere zwischen Rückgrat und Vorderrippe wird dann
die elektromechanische Pumpe platziert
und die daumendicken Blutgefäße mit den
Ein- und Austrittsstulpen des Kunstherzens
verbunden. Auf der kunststoffumhüllten
Antriebseinheit befinden sich ringförmig
angeordnete Sensoren. Sie erfühlen die
wichtigsten Daten, die für den sicheren Betrieb des Kunstherzens ausschlaggebend
sind: Fließgeschwindigkeit, Druckverhältnisse, Temperatur.
Ihre Daten geben die Sensoren über
ein Kabel an ein knapp handtellergroßes
Kontroll- und Steuergerät weiter. Es sorgt
unter anderem dafür, die Pumpleistung
zu erhöhen, wenn der Abiocor-Patient
Treppen steigt, Fahrrad fährt oder auch
wenn er erschrickt. „Das kann zum Beispiel passieren, wenn plötzlich ein Hund
vors Auto läuft“, erklärt Lederman. Ist
die Stress-Situation bewältigt oder die
physische Belastung verringert, so lässt
die elektronische Automatik die Titan-
R. MEIER / BILD ZEITUNG
Induktionsspule auf
der Haut
sauerstoffreiches
Blut
„Patient Löwenherz“ in Bad Oeynhausen: Hilfe bei der Schwerarbeit
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Wissenschaft
AP
pumpe wieder auf Normalbetrieb runtersurren.
Anders als sein biologisches Vorbild hat das
Titanherz nicht vier, sondern nur zwei Hohlräume. „Wir glauben, auf die
zwar arbeitsintensiven,
aber nicht übermäßig intelligenten Herzventrikel
verzichten zu können, und
haben nur die Funktion
der so genannten Vorhöfe nachgebildet“, erläutert
Lederman.
Der natürliche Herzmuskel dreht sich in einer
Schraubenbewegung zu- Kunstherzpatient Schroeder (1984): Schlimmer als der Tod
sammen: Indem es sich
gleichsam selbst auswringt, drückt das
Was lag näher, als dass sich die Physiker
Herz Blut durch die Klappen in die Lunge und Ingenieure herausgefordert fühlten?
und den Körperkreislauf. Die äußere Ge- Schließlich hatten sie die größten Erfahstalt des nun entwickelten Kunstherzens rungen über das physikalische Verhalten
hingegen ist starr. Stattdessen wölben sich von Körpern in flüssiger und gasförmiger
in seinem Innern Gel-Kissen, die das Blut Umgebung gesammelt. 22 Firmen aus der
aus der einen Kammer herauspressen und Luft-, Raumfahrt- und Rüstungsbranche
gleichzeitig in die andere hineinsaugen witterten lukrative Geschäfte. Doch die an(siehe Grafik Seite 271).
visierte zehnjährige Entwicklungsphase für
Durch diese Anordnung erreichen die ein Kunstherz erwies sich als zu optimisAbiomed-Techniker, dass in ihrem Kunst- tisch. Ein Team nach dem anderen gab auf,
herzen das Blut pulsiert wie im natür- darunter auch Ledermans damaliger Arlichen Zentralmuskel; das Kardiogramm beitgeber, die Firma Avco. Dort war die
zeigt die gewohnten regelmäßigen Zacken. Ummantelung von Atomsprengköpfen für
Auf diese Weise bleiben die Arterien elas- den Wiedereintritt in die Atmosphäre enttisch. Flösse das Blut hingegen ruhig wickelt worden.
und stetig, so würden sie verhärten.
Als Avco seine medizintechnische AbGünstig wirkt sich der kontinuierliche teilung auflöste, wurde auch der gelernte
Druckwechsel auch auf die biochemischen Luftfahrtingenieur Lederman arbeitslos. Er
Abläufe in den Endothelzellen aus, mit gründete 1982 Abiomed, nach eigenen Andenen Venen und Arterien ausgekleidet gaben „mit dem einzigen Ziel, alles zu ersind.
forschen und zu bauen, was kranken HerBesonders wichtig aber ist das An- und zen helfen kann“.
Abschwellen des Blutflusses, weil sich daAbiomeds bislang erfolgreichstes Produrch die Gefahr verringert, dass bereits dukt ist das Kreislaufunterstützungssystem
bestehende Ablagerungen in den Blutbah- BVS-5000. Die mit Luftdruck betriebene
nen weiter aufgebaut werden. „Derartige Glaskolbenapparatur wird parallel zum
Vorschäden dürften beim typischen Abio- menschlichen Herzen angeschlossen. Sie
cor-Patienten mit Sicherheit vorhanden soll leicht geschädigten Herzen Zeit für die
sein“, sagt Lederman.
Selbstheilung verschaffen. In nahezu jeDer Medizin-Pionier will die künstlichen dem großen US-Herz- und TransplantaBlutpumpen rund um die Uhr überwachen. tionszentrum steht mittlerweile mindestens
Dies soll eine Sendeantenne ermöglichen, eines dieser Geräte, an über 3000 Patienten
die im Bauchraum des Patienten ausgelegt wurden sie bisher weltweit eingesetzt.
ist. Sie übermittelt sämtliche Herzdaten an
Sein „Traumziel eines kompletten Erdas OP-Team sowie in die Abiomed-Zen- satzherzens“ verlor Lederman unterdes
trale. Lederman: „Wir werden für die Pati- nie aus den Augen. Doch Vorsicht war geenten die Rolle von Houston in der Zeit boten. Denn das Thema war just im Jahr
des Apollo-Programms übernehmen: die der Abiomed-Gründung ungemein heikel
einer Mission Control.“
geworden. Im Dezember 1982 hatte USLedermans ehrgeiziger Vergleich weist Herzchirurg William DeVries an der Uniauf den Ursprung der amerikanischen versity of Utah das erste von fünf KunstKunstherzentwicklung hin. 1964, drei Jah- herzen vom Typ Jarvik-7 dem Zahnarzt
re vor der ersten Transplantation eines Barney Clark eingepflanzt.
menschlichen Herzens durch den südafriClark lebte 112 Tage mit der Kunstpumkanischen Chirurgen Christiaan Barnard pe, zu deren Betrieb ein kühlschrankgroßes
und inmitten der optimistischen Auf- Aggregat nötig war. Der zweite Jarvik-7bruchstimmung zum Mond, hatten die Na- Empfänger, William Schroeder, hielt imtional Institutes of Health das Kunstherz- merhin 620 Tage durch. Doch für beide war
programm angeschoben.
es ein Horrortrip: Nahtstellen platzten auf,
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T. EVERKE
Abiomed-Testlabor: Dutzende von Kunstherzen tuckern in ätzenden Lösungen
Blutgerinnsel bildeten sich und wanderten
durchs Gefäßsystem. Die Nieren siechten
dahin, die Immunabwehr brach zusammen,
innere Blutungen mussten operativ gestoppt werden. Die Patienten litten unter
Krämpfen, Bewusstseinsstörungen und
Schlaganfällen.
Von Schroeder ist die Aussage überliefert, es gebe Schlimmeres als den Tod –
und das Kunstherz gehöre dazu. Zwar feierten die Medien DeVries anfangs als Skalpell-Virtuosen. Das Kunstherz wurde dennoch zum Inbegriff einer neuen, menschenverachtenden Gerätemedizin.
1990 stoppte die US-Aufsichtsbehörde
FDA alle weiteren Menschenversuche mit
dem Jarvik-7-Herz. Die Entwicklung alternativer Kunstherzprojekte wurde jedoch
weiter finanziert. Von den ehemals 22 Firmen sind nur zwei Entwicklungsteams
übrig geblieben: Forscher an der Penn State University in Philadelphia und die Abiomed-Techniker in Danvers.
Jeweils insgesamt 13 Millionen Dollar
hatten die beiden Gruppen bis dahin erhalten. Letztes Jahr glaubte Lederman
dann, dass die Entwicklung reif sei für die
Kommerzialisierung, und investierte zehn
Millionen Dollar Firmenkapital. Eine 9000
Quadratmeter große Fabrikhalle wurde
vorletzten Monat fertig gestellt. In den
Abiomed-Labors tuckern dutzende von
Kunstherzen in Lösungen, die den zersetzenden Einfluss menschlicher Körperflüssigkeiten auf Metall und Plastik nachahmen.
Knapp zwei Dutzend Exemplare müssen
nach Vorgaben der FDA ein Jahr lang nahezu fehlerlos funktionieren, ehe die Implantation eines Abiocor in einen menschlichen Brustkorb versucht werden darf.
„Unser Ziel ist es, dass die Membranen
unseres Gerätes sich kontinuierlich 160 Millionen Mal bewegen, genug um in fünf Jahren ein Transportvolumen von elf Millionen Litern Blut durch die Adern eines
Menschen zu pumpen“, sagt Lederman.
Ein Fernziel, das beim ersten Empfänger
wohl ebenso wenig erreicht werden könne
wie die anvisierten Implantationskosten.
Lederman: „Wenn wir 1000 Stück pro Jahr
absetzen können, wird jede Operation
etwa so teuer werden wie der Kauf eines
Mittelklassewagens – 25 000 Dollar einschließlich der Batteriekosten von 5000
Dollar für fünf Jahre.“
Im Vergleich zu einer Herztransplantation nachgerade ein Schnäppchenpreis. Die
nämlich kostet, je nach Verlauf und Aufwand für Medikamente, 10- bis 20-mal so
viel.
Rainer Paul
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Wissenschaft
HOCHSCHULEN
Professor Coca-Cola
R. SCHULTZ / MATRIX / AGENTUR FOCUS
In den USA gewinnen Firmen als Sponsoren von Universitäten
immer mehr Einfluss auf die Forschung.
Legoforscher Resnick: Die Abhängigkeit beginnt mit subtiler Bestechung
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P. EFLAND / UNIVERSITIY OF GEORGIA
P
lastiknoppen, so weit das Auge reicht:
In der Halle türmen sich transparente Eimer mit Legosteinen in meterhohen Regalen, nach Farben sortiert, auf jeder Brettreihe eine: Gelb, Rot, Blau und
Grün. In einer Ecke inszenieren ein Junge
und ein Mädchen das Duell zwischen Darth
Vader und Luke Skywalker inmitten eines
Raumschiffhafens im Rohbau.
Das Kinderparadies ist die Wirkungsstätte eines veritablen Professors. Der
Computerwissenschaftler Mitchel Resnick
führt stolz seine Erfindung vor: Mindstorms, einen Legoziegel mit integriertem
Computer, den Lego letztes Jahr auf den
Markt brachte. Zwei Rechner hat der vollbärtige Ingenieur in bunte Dinosaurier eingebaut, die, von Infrarotsensoren aktiviert,
Purzelbaumtänze aufführen.
Das Legolabor gehört zum Media Lab
des Massachusetts Institute of Technology
(MIT), der besten Technischen Hochschule Amerikas. Resnicks Arbeitsgruppe befasst sich mit dem „Spielzeug von morgen“. Spielwarenfabrikanten wie Hasbro,
Mattel, Walt-Disney und Lego finanzieren
die Forschungen mit je mehreren hunderttausend Dollar jährlich.
Allianzen wie diese schließen Industrie
und Hochschulen in den USA immer häufiger ab. Die einen kaufen so vergleichsweise günstig hochkarätiges Know-how, die
anderen gewinnen finanziellen Freiraum.
Doch welche Verpflichtungen die Akademiker damit eingehen, wird selten offen
Cola-Wappen an der University of Georgia
„Das ist eine Frage des Taktgefühls“
diskutiert. Die Bandbreite reicht von unauffälliger Selbstzensur bis zu massivem
Druck auf die Forscher.
„Seit den achtziger Jahren üben Unternehmen denselben Einfluss auf Universitäten aus wie einst die Regierung in
den fünfziger und sechziger Jahren“, klagt
Lawrence Soley, Professor für Kommunikationswissenschaften an der Marquette
Universität in Milwaukee. „Hochschulen
dienen inzwischen den Konzerninteressen,
nicht mehr der Öffentlichkeit – es ist der
Ausverkauf akademischer Freiheit.“
Spielzeug-Professor Resnick wischt solche Vorbehalte vom Tisch: „Unser Projekt
d e r
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ist zu erkunden, wie Kinder und Erwachsene mehr über die Welt lernen. Aber Lego
bestimmt nicht, was wir erforschen.“ Resnick schweigt einen Augenblick, während
der Junge einen X-Wing-Fighter in die Luft
steigen lässt, und fügt hinzu: „Natürlich
hören wir uns Legos Vorschläge genau an.“
Während der letzten zwei Jahrzehnte
haben Unternehmen die US-Hochschulforschung als wichtigen Hebel im Räderwerk der Wirtschaft entdeckt – es locken
Prestigegewinn, Patente und billige Laborarbeit. Unter dem Druck steigender Kosten
und des Wettbewerbs der Unis untereinander lassen sich Forscher nur allzu gern
vom Unternehmergeist anstecken.
Die Abhängigkeit beginnt mit subtiler
Bestechung. Bisweilen lassen Unternehmen für ein paar hunderttausend Dollar
Lehrstühle auf ihren Namen taufen – so
gibt es etwa einen IBM-Professor für Internationale Beziehungen in Princeton
oder einen Taco-Bell-Lehrstuhl für Informationstechnik an der University of California, Irvine. Die Gelder stiften Firmen
zur Förderung bestimmter Forschungsthemen, inhaltlicher Einfluss auf die Arbeit
steht ihnen offiziell nicht zu.
Doch der Coca-Cola-Professor Ellis
Johnson für Industrie- und Systemtechnik
an der Uni Georgia gibt durchaus zu, dass
es ihm unangenehm wäre, eine Studie für
den Erzrivalen Pepsi zu erstellen: „Das ist
eine Frage des Taktgefühls.“
Sheldon Krimsky, Professor an der TuftsUniversity in Boston, der seit Jahren Interessenkonflikte in der Wissenschaft analysiert, versteht solche Zaghaftigkeit nicht
als bloßen Ausdruck sittlicher Empfindsamkeit: „Professoren wollen Sponsoren
nicht in die Quere kommen, da sie sonst
ihre finanzielle Unterstützung verlieren
könnten.“
Viele Fragen, die ihren Gönnern unangenehm sein könnten, meint Krimsky,
würden gar nicht erst gestellt. Forschungsdaten, die mit Interessen der Sponsoren
kollidieren, gelangten nie ans Licht der Öffentlichkeit.
US-Firmen gaben 1997 rund 1,7 Milliarden Dollar für Forschung an höheren Lehranstalten aus, siebenmal so viel wie 20 Jahre zuvor. Über 90 Prozent aller US-Firmen, die in Biotechnik und Medizin tätig
sind, pflegten 1996 den Kontakt mit Hochschulforschern. 60 Prozent wurden dafür
mit Patenten oder neuen Produkten belohnt. Uni-Patente bescherten den Unternehmen 1997 einen geschätzten Umsatz
von 30 Milliarden Dollar. Im Gegenzug
nahmen die Universitäten über 600 Millionen Dollar an Gebühren ein.
Daran sei nichts Schlechtes, rechtfertigt
sich Gregory Gardiner, Direktor des Büros
für Kooperative Forschung an der Universität Yale: „Die Zusammenarbeit mit der
Industrie hat unter anderem zur Entwicklung des HIV-Medikaments Zerit geführt
oder zu einer synthetischen Version des
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Wissenschaft
Krebsmittels Taxol. Diese Mittel retten
heute Leben.“
Doch ganz so makellos ist der Pakt nicht.
David Blumenthal, Professor für Gesundheitswesen an der Universität Harvard, hat
ermittelt, dass Forscher, die mit der Industrie kooperieren, die Veröffentlichung ihrer Ergebnisse nicht selten im Interesse ihrer Geldgeber verschleppen. Außerdem
zeigen sich Wissenschaftler vermehrt unwillig, Informationen mit ihren Kollegen
zu teilen – umso stärker, je mehr sie für die
Industrie tätig sind.
„Das widerspricht der Vorstellung der
Universität als einem Ort, an dem kreativ
und kooperativ gearbeitet wird“, klagt
Blumenthal. Mildred Cho und Lisa Bero,
zwei Experten für biomedizinische Ethik,
warnten in einer Analyse von universitären
Forschungsberichten, dass 98 Prozent aller
US-Wissenschaftler, die für Pharmafirmen
Medikamente testen, ein positives Urteil
über die Wirksamkeit der Mittel fällen.
Fehlt die industrielle Unterstützung,
äußern sich nur 79 Prozent vorteilhaft.
Krimsky folgert daraus: „Forscher haben
heute zwei Seelen in ihrer Brust: die des
Wissenschaftlers und die des Produktentwicklers.“
Nur selten werden Konflikte zwischen
Forschern und Geldgebern öffentlich. Einigen Wirbel verursachte eine Studie
über die Wirksamkeit von Synthroid, ein
Medikament gegen Unterfunktionen der
Schilddrüse, das acht Millionen Amerikaner Tag für Tag schlucken. Als der Hersteller Knoll Wind davon bekam, dass eine mit
250 000 Dollar geförderte Untersuchung an
der University of California in San Francisco zu dem Ergebnis gelangt war, Synthroid sei billigeren Alternativen nicht
überlegen, griff das Unternehmen ein. Es
machte von seinem Vetorecht Gebrauch,
98 Prozent der Forscher, die
für Pharmafirmen Medikamente
testen, urteilen positiv
das ihm der Vertrag mit der Uni einräumte: Die Studie blieb einige Jahr lang unter
Verschluss.
Gleichzeitig ließ Knoll eine der Firma
wesentlich angenehmere Analyse veröffentlichen. Als dann die kritische Untersuchung doch noch aus der Versenkung
auftauchte, strengten betroffene Patienten
einen Prozess gegen den Synthroid-Hersteller an, weil sie sich wegen der überhöhten Preise des Medikaments geprellt
fühlten. Der Konzern musste 69 Millionen
Dollar Schadensersatz zahlen, auf 170 Millionen könnte die Summe in laufenden Verfahren noch anwachsen – ein Bruchteil des
Gewinns, den die Firma durch Synthroid
erwirtschaftet hatte.
Die Eingriffe in die akademische Freiheit
sind nicht immer so augenfällig wie in diesem Fall – auch kleine Gefälligkeiten erhalten die Freundschaft. So erschien kürzlich im renommierten „Journal of the American Medical Association“ eine Studie, in
der behauptet wurde, dass 43 Prozent aller Frauen und 31 Prozent aller Männer an
„sexuellen Funktionsstörungen“ leiden. In
dem Artikel blieb allerdings unerwähnt,
dass zwei der Autoren dem Pfizer-Konzern
als Berater zur Seite stehen, der mit der
Wunderpille Viagra just solche Leiden auszurotten verspricht.
Solche unschönen Details bremsen den
Enthusiasmus der Universitäten nicht
merklich. Im letzten Herbst verkündete
der Chemiekonzern Novartis, er werde innerhalb der nächsten fünf Jahre den Fachbereich für Pflanzen- und Mikrobiologie
der Eliteuniversität Berkeley mit 25 Millionen Dollar unterstützen. Das Unternehmen erhält dafür die Vorrechte an einem Drittel der Entdeckungen, die in den
Labors gemacht werden.
In der Kommission, die über Forschungsprojekte des Fachbereichs entscheidet, sitzen drei Mitarbeiter von Novartis drei Fakultätsmitgliedern aus Berkeley gegenüber; nur in dem Ausschuss,
der das Geld verteilt, hat die Universität
eine Stimme Mehrheit. Steven Briggs, der
den Vertrag mit Berkeley für Novartis un-
Geplantes FedEx-Forschungszentrum in Memphis: „Ausverkauf der Freiheit“
terzeichnete, gab bei dem Abschluss freudig bekannt, für ihn sei das Abkommen
der „wahre Ausdruck akademischer Freiheit“: Es eröffne nicht nur die Möglichkeit, sich zu wünschen, etwas zu tun; sondern auch die Ressourcen, diese Wünsche
zu verwirklichen.
Auch das lange Zeit einmalige Fördermodell des Media Lab am MIT, das sein ge-
samtes Budget aus Industrietöpfen finanziert, ist keine Ausnahme mehr. Seit 1993
gibt es an der Universität Memphis in
Tennessee ein „FedEx-Institut für Zykluszeitforschung“, das sich mit der Beschleunigung von Arbeitsprozessen beschäftigt.
Der Paketdienst entsandte zugleich Vertreter in die Universitätskommission, die
über die Forschungsprojekte entscheidet.
Üblicherweise beschäftigt sich ein Drittel der Forschung mit dem Unternehmen
FedEx, unter den übrigen untersuchten Firmen sind nicht selten FedEx-Kunden. Mit
anderen Transportfirmen befasst sich das
Institut nicht. „Das wäre ein klarer Interessenkonflikt“, erklärt Zeitzyklus-Professor Mark Frolick ganz offen.
„Viele Wissenschaftler sind völlig auf
die Unterstützung der Industrie angewiesen“, kritisiert Blumenthal. Der Mediziner fordert, der Staat müsse künftig genügend Geld für qualifizierte Wissenschaftler
bereitstellen, die sich auch Fragen von weniger kommerziellem Interesse widmen
können.
Es geht aber auch umgekehrt: Frederick Winter, Direktor der Pittsburgher
Katz School of Business, verfiel jüngst
auf die Idee, das Prestige seiner Hochschule mit den Mechanismen des Börsenhandels zu messen. Er gab an seine Angestellten symbolische Aktien aus – pro Kopf
80 Stück zu einem Nennwert von je 20
Dollar.
„So etwas motiviert die Leute“, meint
Winter. Der Lehrkörper könne nun seinen
Wert in Dollar und Cent ermessen. Weil
die Kaderschmiede auf der Frühjahrshitliste der 50 besten Managementschulen ein
paar Plätze nach oben kletterte, stieg der
virtuelle Anteilschein um einen halben
Dollar.
Hubertus Breuer
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Wissenschaft
TIERE
Kinderstube der
Medusen
Das Halten von Quallen gehört
zu den großen Herausforderungen
in der Aquaristik. Dem
Berliner Zoo gelingt es sogar, die
empfindlichen Tiere zu züchten.
N. WU / WILDLIFE
Q
Kompassqualle, Wurzelmundqualle: In Japan als
stellung stehen bleibt, ahnt kaum den Aufwand, der hinter Haltung und Aufzucht
der fremdartigen Wesen steckt.
Die transparenten Körper, höchst elegant im Wasser schwebend, üben eine
seltsame Faszination auf den Betrachter
aus. Vor knallblauem Hintergrund blähen
tropische Wurzelmundquallen ihre gepunkteten Schirme, die an Fliegenpilze
erinnern. Von handtellergroßen Exemplaren, die mit gleichmäßig pulsierendem
Schirm durch das künstliche Meerwasser
gleiten, bis hinunter zu aufgeregt pumpenden Winzlingen sind alle Größen vertreten.
Aurelia aurita, die Ohrenqualle im Nachbarbecken, strahlt dagegen eine majestätische Ruhe aus. Minutenlang schwebt sie
regungslos im Wasser, nur ab und zu zieht
sich, unendlich langsam, ihr durchsichtiger
Schirm zusammen.
Aurelias Kinderstube liegt fernab des
täglichen Besucherstroms in einem Keller-
N. MICHALKE
uallenversand im Berliner Zoo: Per
Lufthansa-Cargo werden Jungtiere
der Gattungen Aurelia und Phyllorhiza auf den Weg nach Italien geschickt.
Empfängerin ist Isabella d’Ambra an der
Stazione Zoologica Anton Dohrn in Neapel. Die Wissenschaftlerin will die Eigenschaften der beiden Gruppen vergleichen.
Regelmäßig verlassen Pakete mit glibberigem Getier das Berliner Aquarium.
Denn hier beherrschen Biologen und Tierpfleger eine Kunst, die weltweit nur wenige Zoos praktizieren: das Züchten von
Quallen. Für Jürgen Lange, den Leiter der
Berliner Unterwasser-Ausstellung, ist es die
Aufgabe eines Großaquariums, „Rezepte
zu entwickeln, nach denen man die Tiere,
die man hält, auch selbst nachzüchten
kann“. Bei verschiedenen Quallenarten ist
das gelungen.
Viele Aquarien mit Quallenschau beschränken sich darauf, ihren Nachschub
aus dem Meer zu fischen. Eine etablierte
Zuchtstation für mehrere Arten haben
außer den Berlinern nur das Monterey Bay
Aquarium in Kalifornien sowie die Aquarienhäuser von Toba und Enoschima in Japan. Dort widmen sich die Biologen mit
besonderer Hingabe der Aufzucht von
Kompassquallen – sie gelten in der japanischen Küche als schmackhaftes Gemüse.
Wer als Besucher vor den bläulich beleuchteten Glaskästen am Beginn der Aus-
Quallenzüchter Lange: Licht und richtige Strömung wecken Frühlingsgefühle
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N. WU / WILDLIFE
„Normalerweise tut sich dann
innerhalb von zwei Wochen
etwas.“
Nicht immer allerdings ist
die Strobilation bereits Anlass
zum Jubel. Ein Zuchtversuch
mit Lungenquallen zum Beispiel scheiterte an der übermäßigen Teilungsfreudigkeit
der Polypen – die Tiere strobilierten sich regelrecht zu
Tode. „Irgendwann“, erinnert
sich Lange, „wurden sie einfach zu winzig.“
Ist die Vermehrung ohne
Pannen abgelaufen, übersiedeln die Zoologen die
entstandenen Mini-Quallen
in ein anderes Becken. Jetzt
kommt es vor allem auf die
richtige Wasserbewegung an:
Allzu große Turbulenzen
können die fragilen Tiere
zerstören; ist keine ausreichende Strömung vorhanden, sinken die Quallen zu Boden und
sterben.
Bei den Larven genügen aufsteigende
Luftblasen zur Strömungserzeugung.Wenn
sie größer werden, brauchen sie eine ausgeklügeltere Strömungsanlage. Denn Blasen könnten sich unter dem Schirm größerer Tiere verfangen. „Der klappt dann um
wie ein Regenschirm im Wind“, erzählt
Lange. Deshalb werden die heranwachsenden Medusen in einem Becken mit Vförmigem Boden gehalten. An dessen tiefstem Punkt sitzt das Zuflussrohr und sorgt
für gleichmäßige Zirkulation.
Ausgewachsene Medusen haben wiederum sehr unterschiedliche Ansprüche an
die Strömung. Die Ohrenqualle mit ihrem
großen Schirm und dem relativ leichten
Körper fühlt sich in einer horizontalen Zirkulation am wohlsten. Die Wurzelmundquallen hingegen, mit ihren Fliegenpilzschirmen eher Schwergewichte, benötigen
eine vertikale Strömung.
Einige Quallenarten sind zudem auf intensives Licht angewiesen. Sie leben in
Symbiose mit bestimmten Algen, den Zooxanthellen, für die das Licht überlebenswichtig ist. Um ihre Symbionten mit Licht
zu mästen, recken die Medusen ihre Schirme in Richtung der Lampe. Deswegen werden die Becken von oben beleuchtet. Fiele Licht von vorn hinein, würden die Quallen die Glasscheibe rammen.
Quallen zu züchten, gehört im Berliner
Aquarium inzwischen zum Standardprogramm. So routiniert sind Lange und seine
Kollegen, dass sie regelmäßig Gastforscher
aus aller Welt empfangen, um sie in die
Methoden einzuweisen.
Die Kandidaten für das nächste Projekt
sind gleichwohl etwas handfester: In einer
Kooperation mit israelischen Meeresforschern sollen Korallenfische gezüchtet
werden.
Julia Koch
schmackhaftes Gemüse begehrt
raum. An den Wänden sind kleine Becken
bis auf Augenhöhe übereinander angebracht. Jedes von ihnen beherbergt eine
Stufe im heiklen Prozess der Quallenvermehrung.
So einfach der Bauplan der gallertigen
Wesen ist – zwei Zellschichten, ein simpler
Verdauungstrakt und eine schwabbelnde
Füllmasse, die in erster Linie aus Wasser
besteht –, so komplex ist ihre Fortpflanzung.
Die meisten Quallenarten kennen zwei
Formen der Vermehrung: Aus befruchteten Eiern schlüpfen winzige Larven, die
sich am Meeresgrund festsetzen und zu Polypen werden. Diese bringen durch ungeschlechtliche Fortpflanzung die nächste
Quallengeneration hervor. Dabei schnüren
sie vom eigenen Körper kleine Scheibchen
ab, die davonschwimmen und sich später
zur ausgewachsenen Qualle, der Meduse,
entwickeln.
„In der Natur kann man das kaum beobachten“, erklärt Lange.Viel zu klein sind
die Quallenlarven, um sie im offenen Meer
überhaupt zu finden. Die Polypen im
Aquarium dazu zu bringen, durch den als
Strobilation bezeichneten Abschnürungsprozess Mini-Quallen zu produzieren, ist
indes nicht weniger knifflig.
Nur ganz bestimmte Bedingungen suggerieren den Polypen, der Frühling sei gekommen und mit ihm die Zeit der Strobilation. Eine Veränderung von Wassertemperatur und Lichtintensität, streng definierte Strömungsverhältnisse und ein erhöhter Jodgehalt im Wasser, so die Erkenntnisse der Berliner Quallenzüchter,
wecken die Lust zur Knospung.
„Dazu setzen wir ein paar Polypen, die
besonders gut in Form sind, in ein anderes
Becken um“, erklärt Lange. So wird vermieden, dass die ganze Polypenkultur
stirbt, sollte das Experiment fehlschlagen.
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GAMMA / STUDIO X
Wissenschaft
Felsmalereien in der Chauvet-Höhle: Selbst die anspruchsvollsten Gemälde gingen den Künstlern binnen Minuten von der Hand
ARCHÄOLOGIE
Das Genie der Schamanen
Wozu bemalten Menschen Felswände mit Nashörnern und Löwen? Eine neue Expedition
in die Chauvet-Höhle erlaubte weitere Einblicke in das Leben während der Eiszeit.
Aufschlussreich ist nicht nur die prächtige Bildergalerie. Auch der Höhlenboden gibt Geheimnisse preis.
M
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überwiegend rote Wandmalereien
überwiegend
schwarze Wandmalereien
anche Rätsel sind unlösbar, soFußspuren
bald ihre Schöpfer tot und vergessen sind. Jean Clottes weiß das
Steinblock
nur zu gut, aber es verdrießt ihn nicht:
mit aufgelegSeit sieben Jahren ist Clottes, 66, der rangtem Bärenschädel
höchste Prähistoriker Frankreichs und
Feuerfischt dabei zwangsläufig meist im Trüben.
stellen
Nun aber hat er die Chance, heller zu sehen. Unter allen Prähistorikern der Welt
ist Clottes der wohl meist beneidete Mann,
Gravierter
denn ihm ist etwas Einzigartiges anverUhu
20 Meter
traut – ein Schatz, der vielleicht den
Schlüssel zu bisher unlösbaren Rätseln
birgt: la Grotte Chauvet, die sagenhafte
von Menschen
arrangierte
Chauvet-Höhle.
Steinformationen
Gerade ging die letzte von bisher nur
vier Grotten-Expeditionen zu Ende – seit
Entdeckung der Höhle vor fünf JahGrundriss
ren wurde die wissenschaftliche Unterder
suchung immer wieder verschoben, weil
Chauvetvor den Gerichten noch darüber gestritHöhle
ten wird, wem die Höhle gehört.
Über ein Dutzend For100 km
scher durchforstete diesmal
Lyon
14 Tage lang das SchaufensGrenoble
ter in die Vorzeit. In Drilliche vermummt und mit
Chauvet-Höhle
Bergmannslampen auf dem
èc
Kopf krochen Archäolohe
Einstieg
gen, Geologen und Höhlenkunst-Experten durch die Toulouse
Marseille
Gesamtlänge:
labyrinthischen Tropfstein490 Meter
Mittelmeer
räume. „Hier fasst niemand
etwas an“, hatte Clottes ihnen zuvor eingeschärft. Deshalb nähern sich die Wissenschaftler ihrem Forschungsgegenstand
mit nichts als Fotoapparaten, Vermessungsgerät, Zeichenblöcken und scharfem
Blick. Nicht einmal frei bewegen dürfen
sie sich; sie tippeln auf schmalen Plastikbahnen herum, die zum Schutz des Bodens ausgelegt sind.
Hier, tief im Fels an der Ardèche haben Menschen mit Kohle und rotem Ocker
vor über 30 000 Jahren Wollnashörner
gemalt. Und Mammuts, Bären, Löwen,
Auerochsen, Pferde, Bisons, Hyänen, einen Panter, einen Moschus-Ochsen und
eine Eule.
Manche der mehr als 460 Zeichnungen sind simpel und kaum mehr als Kritzeleien. Andere sind wahre Meisterwerke: ineinander krachende Rhinozerosse,
schnaubende Rösser, hungrige Wildkatzen,
Bildnisse von unbändiger Kraft und technischer Brillanz. Es sind die ältesten bekannten Malereien der Welt, gefertigt von
Menschen, die, in Anzug und Krawatte gesteckt, heute in keiner Werbeagentur auffallen würden.
Clottes und seiner Forschertruppe sind
die Schöpfer der Bildnisse von Chauvet
nahe und unsagbar fern zugleich. Warum
drangen die in Felle gepackten Vorväter
tief in das dunkle Innere der Berge vor,
um dort wilde Tiere an die Wände zu pin-
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Wissenschaft
Die Spur des Gefährten
Ein seltsamer Pfotenabdruck in der Chauvet-Höhle gibt Rätsel auf.
Muss die Geschichte des Hundes neu geschrieben werden?
T
ief in der Höhle von Chauvet studierte Michel-Alain Garcia, Prähistoriker aus Paris, vorletzte Woche
Tierfährten, über die sich der Calcitpanzer
der Jahrtausende gelegt hatte. Er fand vor
allem die Abdrücke vom Bären, aber auch
die vom Löwen, vom Wolf und vom Hund.
Vom Hund? Garcia konnte es kaum
fassen. Doch die Konturen im Höhlenboden sind eindeutig: Die Hundepfote unterscheidet sich von der des Wolfs vor allem in der Position der Zehen. Der Abdruck, vermutlich rund 25 000 Jahre alt,
ist hervorragend erhalten, sogar die Krallen des Tieres haben Spuren hinterlassen.
Zweifel an der Identität des prähistorischen Tiers beseitigte Garcia in der
Jugendherberge, die
den Erforschern der
Chauvet-Höhle als
Stützpunkt dient. Er
fotografierte die Fährte eines zufällig vorüberlaufenden Schäferhundes
Ältester Freund
vor 135 000 Jahren
Umstrittenen genetischen
Studien zufolge wird der
Wolf erstmalig domestiziert
– sie war fast identisch mit derjenigen aus
der Höhle.
„Ich habe hier einen Wolf aus der Vorzeit“, sagt Garcia so vorsichtig wie ratlos,
„der aussieht wie ein Hund.“
Die Vorsicht des Forschers ist verständlich. Denn er weiß: Falls er Recht behalten sollte, müsste die Geschichte des
Hundes umgeschrieben werden. Der
Hund gilt zwar als ältester Freund des
Menschen, doch bislang nehmen die
Forscher an, dass die Wurzeln dieser
Freundschaft nur 10 000 bis 14 000 Jahre
zurückreichen. Erst als Menschen sesshaft
wurden, so die Theorie, fingen sie an,
Wölfe zu zähmen und später immer neue
Varianten zu züchten – ob als Gefährte,
Schoßtier, Jagdhelfer, Hüter von Vieh
oder als wandelnde Fleischreserve.
Archäologische Funde bestätigten bisher die Theorie der späten Domestikation. Die Höhlenmaler von Chauvet
zeichneten zwar Hyänen und Raubkatzen, ein Hund jedoch findet sich nicht in
ihrer Galerie. Erst aus den vergangenen
14 000 Jahren finden sich eindeutig identifizierbare Hundeknochen in der Nähe
menschlicher Siedlungen. Wölfe hingegen sind den Urmenschen seit 400 000
Jahren nah.
In dieses Bild passt Garcias VorzeitPfote überhaupt nicht – in das der Genetiker aber schon. Vor zwei Jahren haben
US-Forscher die Geburtsstunde des Hundes weit vordatiert: Schon vor 135 000
Jahren hätten Menschen angefangen,
Wölfe zu domestizieren. Diesen Schluss
jedenfalls ziehen Carles Vilà und Robert
Wayne aus einem Erbgutvergleich an 162
Wölfen und 140 Hunden.
Der Mensch hätte nach diesem Szenario Wölfe aufgegabelt, kaum dass er aus
Afrika in den Nahen Osten kam. Mensch
und Hund eroberten dann gemeinsam die
Welt, gleichsam beim Gassigehen.
Keinen Zweifel lassen die Genstudien
im Übrigen daran, dass alle Hunderassen, ob handtaschengroßer Chihuahua oder bulimischer Windhund, vom
Wolf abstammen. Kojoten
und Schakale
haben sich entgegen anderen Vermutungen genetisch nicht
eingebracht.
Wie der Wolf zum Hund wurde
vor ca. 25 000 Jahren
Fährten aus der ChauvetHöhle zeigen eindeutig den
Abdruck einer Hundepfote
vor 14 000 Jahren
Älteste Knochenfunde von Hunden
von 500 v. Chr. bis 500 n. Chr.
vom 13. bis 15. Jahrhundert
Entwicklung der wichtigsten Zucht- Die modernen Hunderassen
linien: Jagd-, Wach-, Hütehund
entstehen
GAMMA / STUDIO X
seln? Falsch ist offenbar die Schulbuchlehre, wonach die Frühmenschen ihr Jagdglück steigern wollten, denn die meisten
der dargestellten Tiere gehörten keineswegs auf den Speiseplan. Falsch ist auch die
Idee, Menschen hätten in den Höhlen gelebt. Es finden sich keine verbrannten Knochen von Jagdtieren wie Wisent, Steinbock
oder Pferd. Es gibt keine Hinweise auf
Schlafstellen, keine Gräber.
Wozu diente die Höhle dann? Warum
malten die Höhlenkünstler nur Tiere und
keine Bäume oder Landschaften? War
hier nur ein Künstler tätig, oder waren
es viele? Weshalb sind manche Bisons,
Löwen und Pferde mit roten Nasen dargestellt? Das sind Fragen, die Clottes klären will.
Erste Ergebnisse zeigen, dass die Grotte mindestens zweimal von Menschen
der Vorzeit entdeckt wurde. Clottes hat
mit dem Skalpell aus den Gemälden ein
paar Kohleproben entnommen und sie
datieren lassen. Das Resultat: Die ersten
Malereien sind etwa 32 000 Jahre alt. Danach wurde die Höhle über Jahrtausende nur von Bären bevölkert – bis rund
5000 Jahre später wieder Menschen vorbeikamen und die Tiergalerie ergänzten.
Wahrscheinlich standen sie, wie Clottes
heute, staunend vor den Bildern der alten
Meister.
Die Forscher aber sind nicht nur von den
phantastischen Malereien in den Bann gezogen. Für sie ist die eigentliche Sensation
der Höhlenboden: ein unversehrtes Vorzeitrelikt. Auf ihm liegen bis heute die Hinterlassenschaften der Höhlenkünstler, so
deutlich, als hätten sie den Ort erst gestern
verlassen. Dazwischen: Skelette von Höhlenbären und anderen Tieren, Fährten von
Löwen und Wölfen.
„Die Höhlenkünstler waren auf keinen Fall allein“, stellt der Prähistoriker
Hyänen-, Panter-Darstellung in der Chauvet-Höhle: Standen die Maler unter Drogen?
Jean Michel Geneste, 50, fest. Er entdeckte, dass die Maler Helfer und Begleiter
gehabt haben müssen. Mindestens an
drei Stellen hat Geneste große Steinformationen gefunden, die nicht auf natürliche Weise entstanden sein können. Es
sind riesige Platten und mächtige Brocken,
über 150 Kilogramm schwer. Mit enormem
Kraftaufwand müssen die Menschen sie
quer durch die Höhle geschleift haben; aus welchem Grund, das weiß niemand mehr.
Geneste hat außerdem vier riesige Feuerstellen gefunden. Jede war so groß, dass
leicht 25 Kilogramm Holz auf ihr brennen
konnten. Auch das Brennmaterial, glaubt
Geneste, musste von einer ganzen Gruppe
in die Höhle transportiert werden. Um die
Feuerstellen herum sind kleine weiße
Steinchen ausgelegt – „Reflektoren“, sagt
Geneste, die Steinchen sollten das Licht in
der Höhle verteilen.
Doch Licht zu geben war vielleicht nicht
einmal der wichtigste Zweck dieser Feuer.
Geneste meint, dass die Feuerstellen als
Produktionsstätten für die Holzkohle der
Maler dienten. Für ihre Bilder brauchten
sie davon offenbar große Mengen. Ganz
leicht brachen die armdicken Holzkohle-
Scheite ab. Am Fuß der Malereien liegen
Halden von Holzkohle, manche sind, das
zeigen Bruchstellen im Boden, bis zu 30
Zentimeter tief.
Höhlen zu bemalen war wohl kein Spaß.
„Es muss fürchterlich gewesen sein, diese
Höhle zu betreten“, glaubt Geneste. Die
Menschen mussten die Grotte mit Höhlenbären teilen – Monster mit Tatzen so groß
wie zwei Hände, sie wogen 900 Kilogramm
und überragten selbst Grizzlys. Die Tiere
lebten, starben und verrotteten in der Höhle; der Boden ist über und über mit ihren
Knochen übersät. Neben dem Gestank der
lebenden und toten Tiere mussten die
Höhlenmaler den Qualm ihrer eigenen
Fackeln und Feuer ertragen – „nein, diese
Höhle war ganz sicher kein schöner Ort“,
meint Geneste.
Das erklärt vielleicht auch, weshalb
selbst die prächtigsten Höhlenmalereien in kürzester Zeit angebracht wurden.
Für keines der Bilder, so glaubt Clottes,
brauchten die Maler länger als wenige
Minuten. Die Künstler waren schnell wie
Graffiti-Sprayer, selbst die anspruchsvollsten Bildnisse, bei denen die Maler mit verwischter Kohle arbeiteten, den Untergrund vorbehandelten und die Umrisse
teilweise noch mit Gravuren herausarbei- lichtfressenden Ruß zu befreien. Einmal
teten, gingen ihnen ruck, zuck von der stolperte er: Er rutschte mit dem linken
Hand.
Fuß auf dem glatten Lehmboden, aber er
Womöglich nahmen die Menschen aus stürzte nicht. Erst nach etwa 70 Metern
Furcht vor den Bären auch Waffen mit verliert sich die Spur.
in die Höhle. Geneste hat eine SpeerspitKinder, das wissen die Forscher auch
ze aus Mammut-Elfenbein gefunden. Der aus anderen Höhlen, liefen häufig in Höhdazugehörige Speer ist restlos verrottet. len herum. Spielten sie hier? Besuchten
Die Speerspitze „sieht aus wie neu“ und sie die Höhle an der Hand von Erwachsesei vielleicht niemals benutzt worden. nen als Teil eines Initiationsritus? Wurden
„Solche Speere“, so Geneste, „waren vor Ausgewählte hier unterrichtet in Spirituaallem in Osteuropa und Sibirien verbrei- lität und Höhlenmalerei? All dies sind Fratet.“ Ein derartiger Fund in Frankreich sei gen, die ungeklärt bleiben.
ungewöhnlich und deute hin auf weitläufiNur in einem ist sich Clottes sicher: Die
ge Handelsbeziehungen der damaligen Höhlen stellten für die Menschen damals
Menschen.
ein Heiligtum dar. Ziemlich selten kamen
Beim sorgfältigen Absuchen des Bo- die Menschen in den Berg, vielleicht wadens hat Geneste vor zwei Wochen eine ren alle Besucher Auserwählte. Wären sie
weitere Entdeckung gemacht. Er fand wie in Gips
gegossen die perfekten Abdrücke von Hölzern, Stöcken und Samen aus der
Vorzeit. Sehr rasch nach
den menschlichen Besuchen
in der Höhle ist kalkhaltiges Wasser eingeströmt. Eine Schicht aus Calcit, dem
Baumaterial der Stalaktiten und Stalagmiten, hat
den Boden überzogen. Organisches Material darin hat
sich aufgelöst, aber der Abdruck vom Anmachholz der
Frühmenschen zum Beispiel
blieb erhalten.
„Das ist absolut einzigartig“, findet Geneste; anhand
dieser Abdrücke werde sich Höhlenforscher Clottes: „Hier fasst niemand etwas an“
womöglich die damalige Vegetation klären lassen. Bisher glauben die häufiger gekommen, hätten sie ihre SpuForscher, das Klima im Ardèche-Tal un- ren selbst zerstört. Im Berg wollten sie
weit der großen europäischen Gletscher der Erde nahe sein, der nach ihrer Vorhabe dem im heutigen Südschweden stellung alles Leben entsprang. Auf einen
geähnelt.
solchen Glauben, so Clottes, weisen die
Den spektakulärsten Fund aber hat wie- Bilder hin: Manche Mammuts, Löwen oder
der Michel-Alain Garcia, 57, gemacht. Der Bisons sind in ihren Umrissen nicht vollHöhlen-Ichnologe, spezialisiert auf Fuß- endet. Ihre Form wird nicht vom Kohlespuren und Fährten, stieß auf die Pfoten- strich angedeutet, sondern vom natürliabdrücke von Hunden. Die Geschichte die- chen Relief des Felsens. „Es soll so ausseser Menschengefährten muss nach diesem hen, als käme das Tier aus dem Boden“,
Fund womöglich neu geschrieben werden sagt Clottes.
(siehe Kasten Seite 288).
Die Höhlenmaler waren nach Clottes
Bereits bei der letzten Höhlen-Kampa- Überzeugung Schamanen, eine Art von
gne im Mai hatte Garcia ganz hinten in Priestern, die besonders ausgebildet wader Höhle eine Aufsehen erregende Ent- ren für den Kontakt mit Geistern und
deckung gemacht: die ältesten je gefunde- Göttern. Tief im Berg malten sie „nicht
nen Fußabdrücke des modernen Homo die natürliche, sondern die übernatürlisapiens.
che Welt“. Deswegen verzichteten sie
Einen winzigen Moment aus der Vor- auf die Darstellung von Landschaft oder
zeit kann der Forscher jetzt im Detail re- Menschen, und womöglich, so Clottes,
konstruieren. Vor etwa 26 000 Jahren lief haben sie unter Einfluss von Drogen gedemnach ein acht- bis zehnjähriger Junge malt.
mit einer Fackel in der Hand durch den
Das könne die Unförmigkeit eines der
hinteren Höhlenbereich, der kaum einen seltsamsten Tiere von Chauvet erklären:
Meter hoch und daher nur für Kinder zu- Es sieht aus wie ein indischer Tempelaffe
gänglich war. Der Junge ging langsam. Im- mit dem Kopf eines Mammutbabys auf
mer wieder streifte er seine Fackel wie überdimensionalen Rollschuhen.
eine Zigarre an der Wand ab, um sie vom
Marco Evers
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J.-P. BAJARD / EDITING
Wissenschaft
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Technik
F L U G Z E U G K ATA S T R O P H E
Trauer im Heartbreak Hotel
AP
Mit dem Absturz der ägyptischen B 767 nahe New York setzt sich
eine Unglücksserie mit Boeing-Maschinen fort. Wie sicher
sind die Langstrecken-Jets des weltgrößten Flugzeugherstellers?
Trümmer der abgestürzten Maschine entdeckten, orteten Sonare das charakteristische „Ping, Ping“, mit dem Flugdatenschreiber und Cockpit-Voicerecorder ihre
Position im Wasser verraten. Schweres Wetter verhinderte bis Ende vergangener Woche die Bergung.
Die hell orangefarbenen Boxen könnten
die entscheidenden Hinweise liefern, ob
bestimmte Flugzeugtypen des US-Herstellers Boeing besonders fehleranfällig sind.
Mehrfach hatte die amerikanische Luftaufsichtsbehörde Federal Aviation Administration (FAA) Nachbesserungen und Inspektionen von Maschinen des Typs B 767
gefordert, die mit Pratt-&-Whitney-Turbinen der PW4000-Serie ausgerüstet sind.
Schon die spärlichen Fakten, die über
den Unglücksflug bislang bekannt wurden,
liefern erste Hinweise, wie es zu dem Desaster gekommen sein könnte.
Mit über zwei Stunden Verspätung war
Flug 990 am Sonnabendabend in Los
Angeles gestartet, weil zwei Reifen des
Fahrwerks ausgewechselt werden mussten. Nach dem Flug quer über den Kontinent landete die Maschine in New York,
nahm weitere Fluggäste für den Elf-Stunden-Flug nach Kairo auf – und raste ins
Verderben.
So rätselhaft der jähe Sturzflug von
EgyptAir 990 zunächst erschien – er weist
deutliche Parallelen zum Absturz einer
Lauda-Air-Maschine im Mai 1991 in Thailand auf. Auch damals war die Unglücksmaschine ein Langstrecken-Jet vom Typ
Absturz der Boeing 767
Bergung von Wrackteilen der EgyptAir-Boeing: „Wir wollen wissen, warum!“
U
m 1.49 Uhr und 52 Sekunden, 30
Minuten nach dem Start vom New
Yorker John-F.-Kennedy-Flughafen,
bahnte sich das Desaster an. EgyptAir-Flug
990 hatte gerade seine Reiseflughöhe von
10 000 Metern erreicht, Flugbegleiter servierten Drinks in der ersten und in der
Business-Klasse, als der Jet abrupt in den
Sturzflug ging.
Innerhalb von 40 Sekunden, so ergab
die Auswertung von Radardaten, sackte die
Maschine um 5000 Meter ab. Gut 100-mal
schneller, als gewöhnliche Aufzüge von
höheren Stockwerken zur Lobby sinken,
raste die Boeing 767-300ER („Extended
Range“) der Meeresoberfläche entgegen.
In etwa 5000 Meter Höhe zog der Jet wie
auf einem Achterbahnkurs noch einmal bis
auf 7300 Meter hoch, um dann endgültig
atlantikwärts zu stürzen. Etwa 3000 Meter
über dem Meer brachen Teile vom Aluminiumleib. Das Wrack riss 217 Menschen in
den Tod.
Mit dem Absturz der EgyptAir-Maschine am vorletzten Sonntag setzte sich eine
unheimliche Unglücksserie fort. Zum dritten Mal innerhalb von nur drei Jahren war
294
1:49:52 Uhr
Flughöhe 10 000 m
9000
ein Großraumflugzeug aus dem 8000
Boeing-Konzern kurz nach dem 7000
Start von New York abgestürzt: Im 6000
Juli 1996 hatte eine Explosion im 5000
fast leeren Rumpftank eines TWA- 4000
Jumbos zur Katastrophe geführt 3000
(230 Tote); im September letzten 2000
Jahres fiel die Swissair-Maschine SR 1000
0
111 nach einem Kabelbrand vor der
Küste Neuschottlands mit 229 Menschen an Bord in die Fluten.
Wie bei den vorangegangenen FlugzeugAbstürzen versammelten sich auch vergangene Woche verzweifelte Hinterbliebene
im Ramada Plaza Hotel nahe dem Flughafen. Geistliche und Psychologen kümmerten sich um die Trauernden im „Heartbreak Hotel“, wie das Ramada inzwischen
genannt wird. Was viele der Betroffenen
neben dem Verlust ihrer Nächsten bewegt,
umschrieb ein Mann aus Seattle, dessen
Frau vier Angehörige verlor: „Wir wollen
wissen, warum der Jet abstürzte!“
Die Antwort liegt etwa 100 Kilometer
südlich der Insel Nantucket in 80 Meter
Tiefe auf dem Meeresgrund. In einem Gebiet, in dem Schiffe der U. S. Coast Guard
d e r
s p i e g e l
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nach Auswertung von Radardaten
kurzer Steigflug
auf 7300m
1:50:32 Uhr
Sturz auf 5000 m
1:51:17 Uhr
letztes Radarecho
bei 3000 m, Teile
lösen sich vom Jet
Boeing 767-300ER. Wie EgyptAir 990 war
auch Lauda Air mit PW4000-Turbinen ausgerüstet. Die Todesjets waren sogar als
Zwillinge mit den Produktionsnummern
282 (EgyptAir) und 283 (Lauda Air) aus
dem Boeing-Werk in Everett gerollt.
Was bisher über den EgyptAir-Absturz
bekannt wurde, ähnelt in der Tat auf fatale Weise der Lauda-Air-Katastrophe vor
acht Jahren. 15 Minuten nach dem Start in
Bangkok – Lauda-Flug NG 004 war gerade auf 7500 Meter Höhe gestiegen – hatte
sich die Schubumkehr (Thrust Reverser)
des linken Triebwerks ruckartig geöffnet.
Diese Bremshilfe darf eigentlich nur bei
der Landung ausfahren und dient dann
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Technik
REUTERS
dazu, einen Teil der Schubleistung der
Fahrtrichtung entgegenzulenken.
Der jähe Bremsruck an der linken Fläche
drehte den Lauda-Jet in Rückenlage. 29 Sekunden nach dem Reverser-Ruck, so ergaben später Auswertungen des Voicerecorders, zerbarst der Jet in der Luft.
Nach dem Lauda-Absturz hatte die FAA
mehrere Sicherheitsauflagen erlassen, um
ein neuerliches Schubumkehr-Desaster
auszuschließen. Alle mit PW4000-Trieb-
Trümmer der Lauda-Air-Boeing (1991)
Jäher Ruck beim Steigflug
werken bestückten Boeing-Muster, darunter auch 747-Jumbos, mussten mit einer
zusätzlichen Schubumkehr-Sicherung versehen werden.
Die EgyptAir-Maschine wurde 1993 mit
einer solchen Reverser-Sicherung ausgestattet. Beim Abflug in Los Angeles hatte
die Crew den Reverser des linken Triebwerks sogar deaktiviert, da er defekt war.
Die Piloten durften nach internationalen
Regularien dennoch starten, weil Landungen auf hinreichend langen Bahnen auch
ohne Schubumkehr als sicher gelten.
Trotz der von der FAA in den letzten
Jahren erzwungenen Reverser-Modifikationen halten Experten es für plausibel,
dass B-767-Jet Nummer 282 das Schicksal
seines in Thailand zerborstenen Zwillings
283 teilte. Der jähe Sturzflug der EgyptAir-Maschine deutet auf eine abrupt aufgetretene, dramatische Lageveränderung
des Jets.
Beim Lauda-Air-Unglück war es besonders fatal, dass der Reverser-Ruck im Steigflug, also bei hoher Triebwerksleistung passierte. Diese sorgte für einen entsprechend
starken Bremsstrom aus der Schubumkehr.
Obwohl die Piloten durch ein Warnlicht
minutenlang auf ein mögliches Schubumkehr-Problem vorbereitet waren, hatten sie,
wie später Simulationen des Unglücks im
Windkanal zeigten, keine Chance, die
Maschine in der Luft zu halten.
Die EgyptAir-Maschine hingegen hatte
am vorletzten Sonntag bereits ihre Reiseflughöhe erreicht und flog ihren Ostkurs
mit etwa 900 Kilometern pro Stunde – was
die Absturzgefahr an sich verringerte: Die
Ruder sprechen während des Reiseflugs
296
besonders gut an, und der reduzierte
Schub müsste auch dem Reverser einen
Teil seiner Wirkung genommen haben.
Sollte sich aber etwa der intakte Reverser des rechten Triebwerks ohne jede Vorwarnung geöffnet haben, so könnte das die
Crew gleichwohl so überrascht haben, dass
mögliche Ruderkorrekturen zu spät kamen
– und die Maschine über eine Tragfläche
abkippte.
Der eigenartige Berg-und-Tal-Kurs, den
das Flugzeug laut Radardaten dann vollführte, wäre vermutlich dem verzweifelten Bemühen der Piloten zuzuschreiben,
die Maschine abzufangen. Wie bei einer
Achterbahn, wo die stärksten Kräfte beim
Übergang aus der Tal- in die Bergauf-Fahrt
wirken, hatte das Abfangmanöver ernorme
Belastungen zur Folge, die womöglich zu
dem Bruch von Teilen der Flugzeugstruktur geführt haben.
Dass es auch nach der zusätzlichen Sicherung der Reverser als Konsequenz aus
dem Lauda-Air-Unglück noch Probleme
mit der Schubumkehr von PW4000-Turbinen gab, belegt eine im September erlassene FAA-Erklärung. Darin warnt die Luftfahrtbehörde vor einem möglichen Öffnen
der Reverser im Flug, ausgelöst durch
defekte Sicherungsstifte.
In einem weiteren Schreiben zur Schubumkehr vom 19. Oktober weist die FAA
auf Probleme mit Reverser-Führungsschienen an PW4000-Turbinen der Boeing-Modelle 747-400, 767-300 und 767-200 hin.
Laut FAA können die Schienen, in denen
die beweglichen Teile der Schubumkehr
laufen, ausschlagen, was unter Umständen
zur Folge hat, dass zwei metallene Halbschalen von etwa zwei Quadratmeter Größe aus dem Triebwerk herausbrechen. Das
wiederum könne zu „Schäden an der Flugzeugstruktur und möglicherweise raschem
Druckverlust“ im Flugzeug führen. Auch
sei „eingeschränkte Lenkfähigkeit“ zu befürchten, wenn das Leitwerk beschädigt
wird.
Ob das Desaster vor der US-Küste
tatsächlich durch Kalamitäten mit der
Schubumkehr verursacht wurde, werden
die Ermittlungen der NTSB-Fahnder zeigen. Für Boeing, den größten Flugzeugbauer der Welt, bedeutet das Unglück in
jedem Fall einen weiteren Imageverlust.
Einen Tag bevor die EgyptAir-Maschine
abstürzte, erregte die amerikanische Öffentlichkeit die Nachricht, dass Boeing 19
Jahre lang eine Studie unter Verschluss gehalten hatte, die vor Überhitzungsproblemen im Rumpftank von Jumbos warnte.
Genau diese Schwäche wurde der TWA
800 zum Verhängnis, als sich Resttreibstoff
im Rumpftank erhitzte und vermutlich
durch Funkenschlag entzündete. Hätte
Boeing die Tank-Studie nicht zurückgehalten, warfen Politiker dem Konzern daraufhin vor, könnten die Passagiere von
TWA 800 noch leben.
Einen Tag nach dem EgyptAir-Unglück
musste Boeing zudem einräumen, dass
Feuchtigkeitsabweiser im Cockpit von
747-, 757-, 767- und 777-Jets nicht den Feuerschutznormen entsprechen. Die Auslieferung von 34 Jets wurde sofort gestoppt,
die Umrüstung hunderter bereits ausgelieferter Flugzeuge dürfte folgen.
Boeing, so fasste der Herausgeber des
US-Fachblatts „Commercial Aviation Report“ die jüngste Pannenserie zusammen,
entpuppe sich als ein Unternehmen, „das
nichts mehr auf die Reihe kriegt“.
Ulrich Jaeger
Luftströmung an der Flugzeugtragfläche (Auftrieb)
Mantelstromtriebwerk
bei normalem Schub...
Mantelstrom
Hauptluftstrom
Reverser geschlossen
Reverser geöffnet
s p i e g e l
Mantelstromtriebwerke erzeugen einen Teil
ihres Schubs, indem einströmende Luft um
die heiße Brennkammer gelenkt und nach
hinten gepresst wird.
Auftriebsverlust
durch Schubumkehr
...und mit
aktivierter
Schubumkehr
d e r
Fatale Bremskräfte
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Öffnet der Pilot nach der Landung die Schubumkehr, so wird der
Mantelstrom gegen die Fahrtrichtung
gelenkt und bremst den Jet ab. Im Flug
führt die Öffnung der so genannten Reverser zu einer Drehung des Jets um seine
Hochachse und einem schlagartigen Auftriebsverlust an der Tragfläche. Beide Momente zusammen drehen eine Maschine
binnen Sekunden in Rückenlage.
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Sport
FUSSBALL
Häppchen in der
Baracke
Rosenborg Trondheim, Geheimfavorit in der Champions League
und Bayern Münchens nächster Gegner,
steht für den Aufschwung des norwegischen Fußballs. Am
Sonntag spielt die deutsche Nationalelf in Oslo.
D
er Tag, an dem für Nils Arne Eggen
„das Unmögliche möglich“ wurde,
war der 4. Dezember 1996.
An diesem lausig kalten Mittwochabend
gastiert der Trainer des norwegischen Fußballclubs Rosenborg Trondheim mit seinem Team im San Siro Stadion. Trondheim
verdreher klang so abschätzig, als wollte er
ein für alle Mal klarstellen: Zwerge wie
die von der Packeisgrenze haben im exklusiven Champions-League-Zirkel nichts
verloren.
Inzwischen hat der wendige FußballKaiser seine Meinung korrigiert. Rosen-
M. KIENZLER / BONGARTS
Norwegische Nationalspieler (nach dem 2:1 gegen
Rosenborg-Stürmer Carew (r.)*: „90 Minuten Vollgas und Spaß dabei“
muss beim AC Mailand gewinnen, um die
nächste Runde der Champions League zu
erreichen – die Buchmacher grinsen mitleidig jeden Wettnarren an, der sein Geld
auf die Skandinavier setzt. Doch was passiert? Rosenborg siegt 2:1.
„Rosenheim Trondborg“, höhnte der
RTL-Sachverständige Franz Beckenbauer
damals im Fernsehstudio, und sein Wort* Im Zweikampf mit dem Dortmunder Jürgen Kohler
beim 3:0-Sieg am 19. Oktober im Westfalenstadion.
300
borg, in der europäischen Edelliga Ende
des Monats Gruppengegner des FC Bayern, wird von Beckenbauer längst als „Geheimfavorit“ geachtet.
Schließlich haben nur wenige Mannschaften die zweite Runde der Champions
League so souverän erreicht wie die Norweger. Prominentestes Opfer ihrer offensiven Spielkultur: der Titelträger von 1997,
Borussia Dortmund. „Die ziehen das Visier
runter, geben 90 Minuten Vollgas und haben auch noch Spaß dabei“, schwärmt
d e r
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Michael Meier, Manager der Westfalen,
über die Lehrstunde.
Inmitten einer Gesellschaft, in der sich
die reichen Clubs jedes Jahr eine neue Weltauswahl zusammenkaufen, wirkt Rosenborg Trondheim wie ein Relikt aus der
Gründerzeit des Europapokals. Geradezu
paradox mutet an, dass der norwegische
Fußball ausgerechnet in jenem Jahrzehnt
erstrahlt, in dem viele Experten weismachen wollen, dass internationale Konkurrenzfähigkeit den Erwerb millionenteurer
Stars voraussetzt.
In einer Zeit, in der Bayern Münchens
Vizepräsident Karl-Heinz Rummenigge
eine Verdopplung der TV-Gelder fordert, „um uns in den Top Five in Europa halten zu können“, lehrt Trondheim,
dass ein Jahresbudget von rund 25 Millionen Mark (FC Bayern: rund 210 Millionen Mark) für Spitzenfußball ausreichen kann.
Und das scheint andere Vereine zu beflügeln: Vizemeister Molde FK schaltete in der
Qualifikation zur Champions League den
spanischen Spitzenclub Real Mallorca aus.
Auch die Nationalmannschaft hat sich
Respekt verschafft: Zweimal haben die
Norweger in den beiden vergangenen Jah-
WEREK
Brasilien bei der WM 1998): Überwintern auf dem mediterranen Stützpunkt
A. HASSENSTEIN / BONGARTS
ren Brasilien bezwungen. Und vor wenigen
Wochen qualifizierte sich das Team ohne
erkennbare Mühe zum ersten Mal für eine
Europameisterschaft.
Da kommt das Freundschaftsspiel am
Sonntag gegen Titelverteidiger Deutschland gerade recht. Rune Bratseth, jahrelang Abwehrchef bei Werder Bremen und
seit 1994 Manager von Rosenborg Trondheim, orakelt: „Ich wäre überrascht, wenn
die Deutschen in Oslo gewinnen.“
Zwar leben in Norwegen deutlich weniger Menschen (4,4 Millionen), als der Deut-
Rosenborg-Manager Bratseth, Trainer Eggen
Ministeramt abgelehnt
sche Fußball-Bund Mitglieder zählt (6,2
Millionen), doch die Ressourcen werden
optimal genutzt. Wie wohl in keinem anderen Land wurde die Ausbildung für Fußballer in den letzten zehn Jahren verbessert. Der Verband engagierte mehr als
ein Dutzend hauptberuflicher Trainer, die
sich zwischen Oslo und Hammerfest ausschließlich um die Förderung von Talenten kümmern.
Der Plan geht auf. Von landesweit
300 000 Spielern sind mehr als zwei Drittel
unter 15 Jahre alt. Selbst nördlich des
Polarkreises können die Kicker das ganze
Jahr trainieren – Norwegen leistet sich
mittlerweile mehr als 60 Großfeldhallen
mit Kunstrasen.
Um den langen Wintern zu entfliehen,
hat sich der Fußballverband gar einen mediterranen Stützpunkt errichtet. In La
Manga bei Alicante entstand eines der
größten und modernsten Trainingszentren
Europas. Alle norwegischen Erstligisten
können die Anlage nutzen. Auch ausländische Gäste sind gern gesehen. Alex Ferguson, der Coach von Champions-LeagueGewinner Manchester United, zeigte sich
nach einem Trainingslager beeindruckt:
„Wir kommen wieder.“
d e r
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Rosenborg Trondheim hat sich trotz aller Zugeständnisse an den Zeitgeist – im
nächsten Jahr wird das Lerkendal-Stadion
für 100 Millionen Mark in eine reine Fußballarena umgebaut – Erdnähe bewahrt.
Die Geschäftsstelle ist in einer einstöckigen
Baracke untergebracht, die von den deutschen Besatzern im Zweiten Weltkrieg als
Proviantlager errichtet worden war.
Rune Bratseth schenkt Kaffee aus einer
Thermoskanne nach und bedient sich am
Büfett. Gereicht werden Roastbeefhäppchen und Obstsalat, übrig geblieben vom
Vorabend beim Champions-League-Spiel
gegen Boavista Porto. Der Manager hat
sich an einem großen Tisch im Gemeinschaftsraum niedergelassen, dem Wohnzimmer des Vereins. Morgens um halb sieben wird der „husrom“ aufgeschlossen, gegen Mitternacht sperrt ihn der Hausmeister
wieder zu.
Hier hocken sie und reden über Fußball:
Spieler, Vereinsbosse, Autogrammjäger,
Schulkinder, Rentner und Journalisten.
Bratseth deutet auf die Grüppchen. „Rosenborg-Denken“, sagt er knapp. Was er
damit meint: sieben Tage in der Woche ein
offenes Haus zu haben. Und sieben Tage
in der Woche auf dem Boden zu blei301
Sport
FOTOS: A. HASSENSTEIN / BONGARTS
Eggen gilt als Sturkopf. Manager Bratseth
flachst, der Trainer diskutiere nicht, sondern er beiße, was ihn auf den Beinamen „Pit Bull“ brachte. Doch Bratseths
Sarkasmus wirkt leicht gekünstelt. Denn
die wichtigsten Prinzipien Eggens vertritt
der Manager wie seine eigenen.
So wird das Vollprofitum in Trondheim
als Irrweg der Evolution betrachtet. Ein
Drittel ihrer freien Zeit sollen die Spieler
ihren Studien oder erlernten Berufen nachgehen. „Fußballer“, nölt Eggen, „werfen
sich doch sonst nach dem Training nur aufs
Sofa und schauen schlechte Filme.“
Die Mehrheit der Mannschaft hält sich
an den Ukas. Kapitän Erik Hoftun betätigt
sich nebenher als Sozialarbeiter, Mittelfeldspieler Fredrik Winsnes studiert Medizin, und Stürmer Mini Jakobsen schafft bei
einer TV-Produktionsgesellschaft.
Noch auffälliger als die Teilzeitarbeit
markiert den Trondheimer Sonderweg allerdings der weitgehende Verzicht auf Ausländer. 22 Spieler stehen momentan im Rosenborg-Kader – bis auf den isländischen
Ersatztorhüter stammen alle aus Norwegen. Zum Vergleich: Glasgow Rangers lief
Trondheimer Profis: Schuhe putzen und sich dazu bekennen
vorige Woche in München mit nur einem
ben. Wer für Rosenborg stürmt, putzt seischottischen Profi auf,
ne Fußballschuhe selber und bekennt sich
Chelsea London trat gedazu wie Torjäger John Carew: „Sonst
gen Hertha BSC mit
würde ich sie nicht tragen.“
zwei Engländern an.
Die Autos, die die Spieler vor der BaEggen hebt seine
racke abgestellt haben, könnten auch auf
Schultern, als bitte er
dem Personalparkplatz der Hafenpolizei
um Verständnis: keine
von Trondheim stehen: Golf, Passat,Vectra.
andere Wahl. „AuslänZwar zahlt kein Fußballverein in Norder, die uns voranbrinwegen so gut wie Rosenborg, die Spiegen“, sagt er, „kommen
ler kassieren im Schnitt ein Grundgehalt
nicht nach Norwegen.“
von 200 000 Mark. Aber das entspricht in
Sein bedachter Blick auf
Deutschland der Gage von manchem Drittden Nachwuchs im eigeligakicker. „Gibt es einen vernünftigen
nen Land ist deshalb so
Grund“, fragt Nils Arne Eggen spitz, „waretwas wie der Sieg der
um ein Fußballer doppelt so viel erhält wie Rosenborg-Clubheim: Sieben Tage ein offenes Haus
Vernunft in einem Geder Ministerpräsident?“
Da kommt der Trainer in seinem kaum des früheren Premiers Thorbjörn Jagland, werbe, in dem sich Manager vermehrt über
zehn Quadratmeter großen Büro so richtig ein Ministeramt zu übernehmen, hat ihn die „Söldnermentalität“ ihrer Profis beklagen.
in Rage. Er senkt seinen Kopf, so dass sein fortlocken können.
So lamentiert der Dortmunder Michael
Kinn eine dicke Falte wirft, und schaut herEs ist diese Kontinuität, die den Stil und
ausfordernd über den Rand seiner Lese- die Spielweise des Vereins geprägt haben. Meier: „Die Identifikation mit dem Verein
brille. Ein „sozialer Demokrat“ sei er, Eggen ist ein Pedant. Beim täglichen Trai- hat gelitten.“ Und das habe Folgen: Die
bekräftigt Eggen, und so ist es ihm ein ning triezt er seine Kicker mit einstudier- Mentalität sei entscheidend dafür, „ob
Gräuel, wenn Vereine die Spieler mit Geld ten Angriffsvarianten wie ein Lateinlehrer man ganz großen Erfolg hat oder mittelzuschmeißen.
seine Klasse mit dem Konjugieren unre- mäßigen“.
Rosenborg hat ein anderes Problem.
Ronaldo in Mailand? David Beckham in gelmäßiger Verben.
Manchester? Nicolas Anelka in Madrid?
„Schattentraining“ nennt er das. Auf die Denn immer wieder werden die Leis„Nein danke“, brummelt Eggen, „die ha- Idee hat ihn einst Hennes Weisweiler ge- tungsträger von ausländischen Vereinen abben doch die Motivation verloren, sich zu bracht. In den siebziger Jahren reiste Eggen geworben. Seit Anfang 1997 verließen siebewegen.“
zu Bildungszwecken nach Deutschland, um ben der wichtigsten Spieler den Club.
Einer verabschiedete sich, typisch für
Kürzlich klingelte bei ihm das Telefon. an Vorlesungen des Trainergurus teilzuDer FC Liverpool war dran. Eggen hörte nehmen. Und weil er von dessen Traktat Trondheimer Umgangsformen, mit eisich die Offerte an und lehnte dankend ab „Der Fußball“ so angetan war, übersetzte ner noblen Geste. Obwohl sein Wechsel
– er ist nicht kompatibel. Denn er verach- er es ins Norwegische, genauso wie die zu Celtic Glasgow beschlossene Satet Clubs, die eine Mannschaft zusam- Schrift „Neue Fußball-Lehre“. Im Okto- che war, verlängerte Harald Brattbakk seimenkaufen. Er will eine Mannschaft zu- ber hat Eggen ein eigenes Buch herausge- nen Vertrag bei Rosenborg noch einmal
sammenbauen.
bracht: „Auf gutem Fuß“ erzählt die Er- um fünf Jahre. Der Stürmer verzichtete
Mit zwei kurzen Unterbrechungen ar- folgsstory von Rosenborg. 25 000 Exem- auf ein Handgeld der Schotten – dafür erbeitet Eggen deshalb seit 1978 bei Rosen- plare seien schon verkauft, erwähnt er hielt Trondheim sechs Millionen Mark
Ablöse.
borg Trondheim – nicht mal das Angebot beiläufig, mithin ein Bestseller.
Michael Wulzinger
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Sport
C. AUGUSTIN
die Nummer 45 der Weltrangliste, ein Weltmeister zweiter
Klasse?
Khalifman: Nein! Wieso auch?
Das ist im Schach wie im Fußball: Vor, während und nach
der letzten Weltmeisterschaft
waren sich alle einig, dass Brasilien die stärkste Elf hat – aber
Frankreich ist Weltmeister
geworden. Zweifelt jemand
daran?
SPIEGEL: Frankreich und Brasilien haben aber gegeneinander
gespielt. Sie mussten weder gegen Kasparow noch gegen Titelverteidiger Anatolij Karpow
antreten.
Khalifman: Ich kann doch niemanden zwingen, an der WM
teilzunehmen. Es ist schade,
dass sie nicht am Start waren,
aber viele Spitzenspieler waren in Las Vegas dabei – und
ich habe gewonnen.
SPIEGEL: Trotzdem behaupten
sowohl Kasparow als auch Karpow, der wahre Weltmeister
zu sein. Sogar das amerikanische Schach-Phantom Bobby
Fischer, dem 1975 der Titel abSchachspieler Khalifman: „Brasilien hat die stärkste Fußballelf, aber Weltmeister ist Frankreich“
erkannt wurde, weil er nicht
zum Finale erschien, erhebt Anspruch auf
die WM-Krone.
S C H AC H
Khalifman: Bobby Fischer ist ein Fall für
die Ärzte – so leid es mir tut. Kasparow hat
nie ein WM-Match verloren, das stimmt.
Aber er hatte ja auch seit 1995 nie eine
Chance dazu. Er hat seitdem an keiner
offiziellen WM teilgenommen. Wenn er
Der russische Weltmeister Alexander Khalifman über den
meint, der Veranstalter sei nicht versportlichen Wert seines Titels, die schwache
trauensvoll, dann ist das sein Problem. Kasparow …
Zahlungsmoral des Verbands und die Bedeutung des Internets
SPIEGEL: … der 1993 aus der Fide ausgeAlexander Khalifman, 33, gewann Ende die Weltmeisterschaften gewinnt. Und ich treten ist …
August in Abwesenheit der beiden besten habe Ende August die Weltmeisterschaft Khalifman: … will seine eigene WeltmeisSchachprofis die Weltmeisterschaft in Las des Weltschachverbands Fide in Las Vegas terschaft organisieren und schafft es nicht.
Vegas. Obwohl in der internationalen gewonnen.
Und Karpow ist schon lange nicht mehr so
Rangliste nur an Position 45 geführt, be- SPIEGEL: Bei der die zwei besten Profis der gut wie früher. Sein letztes Top-Ergebnis,
siegte er bei dem vierwöchigen Turnier- Welt, Kasparow und der Inder Viswanathan der WM-Sieg über Gata Kamsky, ist bemarathon nacheinander sieben Spieler. In Anand, nicht mitgespielt haben. Sind Sie, reits über drei Jahre her. Danach hatte er
seiner Heimat St. Petersburg
keinen großen Erfolg mehr. Er
unterhält Khalifman eine
spielt nur noch auf einem sehr
Schachschule, die vor allem
moderaten Level.
begabte Kinder fördern will.
SPIEGEL: Karpow hat beim Internationalen Sportgericht in
Lausanne Klage eingelegt geSPIEGEL: Herr Khalifman, wer
gen die Wertung der Weltmeisist der beste Schachspieler?
terschaft. Fürchten Sie, dass
Khalifman: Garri Kasparow. Er
Ihnen der Titel wieder abist ein Genie, der beste aller
erkannt wird?
Zeiten.
SPIEGEL: Aber Sie sind WeltKhalifman: Karpows Gründe
meister.
sind lächerlich. Mehr will ich
dazu nicht sagen, schließlich
Khalifman: Natürlich. Im Lexiverfügt er über große juristikon steht: Weltmeister ist, wer
sche Erfahrung.
SPIEGEL: Sie könnten alle Kriti* Am 3. Mai 1997 im Spiel gegen den
ker zum Schweigen bringen,
IBM-Schachcomputer Deep Blue in New
wenn Sie in den nächsten MoKonkurrent Kasparow*: „Hilfe von Mega-Pentium-Monstern“
York.
AP
„Meine Chance genutzt“
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naten gegen Kasparow oder Karpow spie- ist arm. Niemand weiß so recht, woher das
len. Werden Sie das tun?
viele Geld stammt, das er in die Fide steckt.
Khalifman: Das Problem im internationalen Stört Sie das?
Schachsport ist derzeit, dass man nie si- Khalifman: Wenn es um viel Geld geht,
cher sein kann, ob ein angekündigtes Tur- kann man doch nie richtig nachvollziehen,
nier auch tatsächlich stattfindet. Oft fin- aus welchen Quellen es kommt. Und es ist
den sich keine Sponsoren – und schon wird völlig kindisch von Kasparow, wenn er sagt,
der Wettbewerb kurzfristig abgesagt. Mein er spiele nur für Geld, dessen Herkunft geTurnierplan fürs nächste Jahr ist deshalb klärt ist. Es ist Aufgabe des Staates hernoch nicht ganz fertig. Ich würde natür- auszufinden, ob da jemand das Gesetz
lich gern gegen diese
beiden Großen spielen,
es wäre bestimmt interessant.
SPIEGEL: In Las Vegas
wurde nach einem
Knock-out-System gespielt. Wo liegen die
Unterschiede
zum
klassischen System,
bei dem Titelverteidiger und Herausforderer 24 Partien spielen
müssen?
Khalifman: Es kommt
auf Kondition an, Konzentration und Tempo. Khalifman in Las Vegas*: Kondition, Konzentration, Tempo
Früher hatte es Kasparow leichter. Gemeinsam mit einem Bera- bricht. Für uns Schachspieler ist es nur gut,
terteam nahm er sich ein halbes Jahr Zeit, dass nun Turniere gesponsert werden.
um sich mit Hilfe von Mega-Pentium- SPIEGEL: Vielleicht bekommen Sie das restMonstern auf alle möglichen Eröffnungen liche Preisgeld in kalmückischem Öl oder
des Gegners vorzubereiten. Da spielte in Kaviar ausgezahlt?
nicht Mann gegen Mann. In Las Vegas war Khalifman: Das glaube ich kaum. Die Fide
das anders. Man konnte anhand des Tur- ist eine internationale Organisation, die in
nier-Tableaus nur vermuten, gegen wen Lausanne registriert und vom Internatioman in der dritten oder vierten Runde spie- nalen Olympischen Komitee anerkannt ist.
len muss, man wusste es nicht. Das ist viel Ich bin optimistisch, dass ich zu meinem
objektiver. Ich habe meine Chance genutzt. Preisgeld komme.
SPIEGEL: Als WM-Sieger stehen Ihnen SPIEGEL: Im Veranstaltungssaal der WM in
482 705 Dollar an Preisgeld zu. Hat Fide- Las Vegas verloren sich selten mehr als
Präsident und Multimillionär Kirsan 20 Zuschauer. Dagegen wurde auf die
Iljumschinow Ihnen das Geld schon über- Homepage täglich fast zwei Millionen Mal
wiesen?
zugegriffen. Ist das die Zukunft des
Khalifman: Bisher erst ungefähr zehn Pro- Schach?
zent. Spieler wie Wladimir Kramnik oder Khalifman: Schach ist die Internet-Sportart
Wladimir Akopian haben noch gar nichts schlechthin: Zwei Akteure, der eine, sagen
gekriegt. Es heißt, Fide habe zurzeit tech- wir, in Hamburg und der andere in Sydney,
können im Internet eine Schachpartie
„In fünf Jahren wird nur noch ein gegeneinander austragen. Und auf der
ganzen Welt können Leute das Spiel live
Turnier gespielt wie bisher –
verfolgen, sich in Chat-rooms darüber under Rest findet im Internet statt“ terhalten. So etwas ist im Tennis oder Fußball unmöglich.
nische Probleme, aber wir bekämen das SPIEGEL: Was kann das für die internatioGeld so schnell wie möglich. Was immer nale Turnierszene bedeuten?
das auch bedeutet.
Khalifman: In fünf Jahren wird vielleicht
SPIEGEL: Und nun?
noch ein Turnier gespielt wie bisher, höchsKhalifman: Meine Kollegen und ich haben tens zwei – der Rest findet im Internet
der Fide einen Brief geschrieben. Darin statt.
steht: Wir haben alle Vertragspunkte er- SPIEGEL: Büßt das Schachspiel nicht dann
füllt, jetzt seid ihr am Zug. Kriegen wir in eine Dimension ein: jene Spannung, die
Kürze nicht unser Preisgeld, gehen wir vor entsteht, wenn sich die beiden KontrahenGericht.
ten in die Augen blicken?
SPIEGEL: Iljumschinow ist Staatschef der Khalifman: Ein Schachspieler sollte sich sorussischen Republik Kalmückien. Das Volk wieso auf das Brett konzentrieren und
nicht auf sein Gegenüber. Schach ist ein
Kampf der Gehirne. Nur darauf kommt
* Bei seinem WM-Finalsieg gegen den Armenier Wladimir Akopian am 28. August.
es an.
Interview: Maik Großekathöfer
308
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AFP / DPA
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d e r
s p i e g e l
4 5 / 1 9 9 9
SAMSTAG, 30. 10.
AUFRUHR In der Berliner Vollzugsanstalt
Tegel kommt es zu einer Messerstecherei, bei der fünf Insassen verletzt werden.
SONNTAG, 31. 10.
UNGLÜCK Ein Passagierflugzeug vom Typ
Boeing 767 der EgyptAir stürzt nach dem
Start vom New Yorker John-F.-KennedyFlughafen ab – keiner der 217 Insassen
überlebt.
FORMEL 1 Das letzte Rennen der Saison
und damit den Weltmeistertitel gewinnt
der Finne Mika Häkkinen mit einem
McLaren-Mercedes.
KIRCHE Katholiken und Lutheraner unter-
zeichnen am Reformationstag eine gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre, die den alten Theologenstreit um
die Vergebung der Sünden beenden soll.
MONTAG, 1. 11.
AMOKLAUF 1 Der 16 Jahre alte Martin
Peyerl erschießt im oberbayerischen Bad
Reichenhall vier Menschen und verletzt
fünf weitere zum Teil schwer, bevor er
Selbstmord begeht.
ATOMWAFFEN Russland und die USA
eröffnen in der Nähe von Moskau ein
von den Amerikanern finanziertes Sicherheitszentrum, um russische Offiziere
für eine wirksame Bewachung von Atomwaffenlagern auszubilden.
DIENSTAG, 2. 11.
URTEIL In einem Revisionsverfahren
spricht das Kieler Landgericht den libanesischen Angeklagten Safwan Eid vom
Vorwurf der schweren Brandstiftung frei
– bei dem Feuer in einem Lübecker Asylbewerberheim waren 1996 zehn Menschen umgekommen.
20 Jahre nach Besetzung der USBotschaft in der iranischen Hauptstadt Teheran zerreißt ein islamischer Fanatiker die amerikanische Flagge mit seinen Zähnen.
30. Oktober bis 5. November
AFFÄRE Der französische Wirtschafts- und
Finanzminister Dominique Strauss-Kahn
tritt wegen Korruptionsverdachts zurück.
AMOKLAUF 2 Im amerikanischen Honolulu
erschießt ein Mann aus Verärgerung
über seine Kündigung sieben Arbeitskollegen.
SPIEGEL TV
MONTAG
23.00 – 23.30 UHR SAT 1
SPIEGEL TV
REPORTAGE
Die Grenzer, die die Mauer öffneten
Bornholmer Straße, 9. November 1989
MITTWOCH, 3. 11.
WISSENSCHAFT Mainzer Forschern gelingt
es, den Nachweis der Rinderseuche BSE
an einem lebenden Tier zu erbringen.
VERBRECHEN Der designierte argentinische Präsident de la Rúa weigert sich, die
internationalen Haftbefehle gegen 98
Mitglieder der ehemaligen Militärjunta
vollstrecken zu lassen.
SPIEGEL TV
Chronik
Maueröffnung in Berlin
DONNERSTAG, 4. 11.
GESCHÄFT Vertreter der deutschen Wirt-
schaft unterzeichnen während des ChinaBesuchs von Bundeskanzler Schröder in
Peking mit chinesischen Unternehmen
Abkommen im Gesamtwert von 5,9 Milliarden Mark.
GESUNDHEIT Der Bundestag verabschiedet
die Gesundheitsreform.
FINANZEN Die Europäische Zentralbank in
Frankfurt erhöht den Leitzins von 2,5 auf
3 Prozent, um einer möglichen Inflation
vorzubeugen.
GESCHICHTE Die umstrittene Wehrmachts-
ausstellung des Hamburger Instituts für
Sozialforschung wird wegen diverser
Fehler bei der Zuschreibung von Bildern
vorerst nicht mehr gezeigt.
FREITAG, 5. 11.
INDIEN Papst Johannes Paul II. beginnt
trotz schwerer Hindu-Proteste einen
viertägigen Besuch in Indien.
Als am Abend des 9. November 1989 ein
eher untergeordneter Stasi-Offizier auf
eigene Faust den Befehl zur Öffnung des
Schlagbaums gab, konnte ein SPIEGELTV-Kamerateam die Vorgänge exklusiv
dokumentieren. Was ist aus den Grenzern von damals geworden, wie leben sie
heute, zehn Jahre danach? Wie haben sie
jene Nacht in Erinnerung? Und: Was geschah damals wirklich?
DONNERSTAG
22.05 – 23.00 UHR VOX
SPIEGEL TV
EXTRA
Traumschiff mit kleinen Fehlern
Vor kurzem startete das neue Flaggschiff
der Reederei Hapag-Lloyd, die MS „Europa“, zu seiner ersten Kreuzfahrt. Ein
schwimmendes Luxushotel für mehr als
400 Gäste. Doch die Werft in Helsinki
hatte den Fünf-Sterne-Dampfer zu spät
abgeliefert. Als die ersten Passagiere an
Bord gingen, wurde noch gehämmert.
SAMSTAG
22.15 – 0.20 UHR VOX
SPIEGEL TV
SPECIAL
People's Century – Das Jahrhundert
Der totale Krieg und die Folgen
Der Zweite Weltkrieg verwischt den
Unterschied zwischen Zivilisten und Soldaten.
SONNTAG
22.45 – 23.30 UHR RTL
SPIEGEL TV
MAGAZIN
DPA
„Wie war ich, Deutschland?“ – eine Woche aus dem wahren Leben des Bundeskanzlers; Warum Kinder zu Killern werden – ein Psychogramm des Amokschützen aus Bad Reichenhall; Führerschein
für Bakschisch – der florierende Fahrschulmarkt in Berlin.
313
Register
Heinrich Seewald, 81. Der promovierte
Gestorben
Historiker brachte als einer der ersten Verleger zeitgeschichtliche Bücher in der Bundesrepublik heraus. Sein 1956 in Stuttgart
gegründeter Verlag spezialisierte sich
zunächst darauf, Erinnerungen und Visionen
von Politikern wie
Franz Josef Strauß, Erhard Eppler oder Helmut Schmidt zu veröffentlichen. Seewald
wollte „das offizielle
politische Leben um
oppositionelle Denkanstöße bereichern“,
stand aber bald auch
für konservative bis reaktionäre Editionen
deutschnationalen Schrifttums. Er gründete den rechten Verein „Konzentration Demokratischer Kräfte“. Heinrich Seewald
starb am 28. Oktober in Stuttgart.
Martin Hellberg, 94. Der Schauspieler,
HIPP-FOTO
WESTFALEN BLATT
Filmregisseur, Theaterintendant und Schriftsteller konnte mehrere Klaviaturen bedienen. Der umtriebige Pastorensohn, der 1942
von den Nazis aus dem Dresdner Theater
verjagt wurde, in den fünfziger Jahren in der
DDR als einer der mächtigen Männer in Babelsberg galt, baute seine Karriere auf vielerlei Talente auf: So glänzte er in der Rolle des Goethe im Film
„Lotte in Weimar“,
schuf als Regisseur bei
der Defa 15 Filme, vor
allem Klassikeradaptionen („Emilia Galotti“, „Kabale und Liebe“), war Generalintendant der Dresdner
Staatstheater und hinterließ der Nachwelt
drei pathetische Memoirenbände. Martin Hellberg starb am
31. Oktober in Bad Berka bei Weimar.
großen Dichter, die das „Goldene Zeitalter“ der spanischen Lyrik prägten und Träume wie Tragödien ihrer Heimat in Poesie
verwandelten. Der Sohn einer verarmten
Weinbauernfamilie gewann seinen ersten Literaturpreis 1925, den
letzten 1996. Wie sein
Jugendfreund Federico
García Lorca brachte
Alberti eine neue Musikalität und Leichtigkeit in die spanische
Dichtung. Als überzeugter Antifaschist
trat er in jungen Jahren
der Kommunistischen Partei bei und galt
lange sogar als deren offizieller Dichter. Die
Franco-Diktatur überlebte Alberti in Italien
und Argentinien. Sein Rang unter den Lyrikern des Jahrhunderts erklärt sich ebenso
wie die enorme Popularität, deren er sich
nach der späten Heimkehr von 1977 in Spanien erfreute, aus der sprachlichen Erneuerungskraft und der emotionalen Intensität
vor allem der frühen Lyrik. In seinem spanischen Geburtsort Puerto de Santa María
starb Rafael Alberti am 29. Oktober.
Marianne Rosenbaum, 58. Umgeben von
„blutenden und gequälten barocken Heiligenfiguren“ verbrachte Marianne Rosenbaum ihre Kindheit im Nachkriegsbayern.
Aus diesen Erinnerungen heraus hat die
Filmemacherin, die zunächst als Malerin
begann und nach einem Filmstudium in
Prag umsattelte, 1983 ihren ersten Kinofilm gemacht: „Peppermint Frieden“ mit
Peter Fonda in der Hauptrolle, der in
Schwarzweiß die Jahre bis 1950 nachzeichnet und mit dem Max-Ophüls-Preis
ausgezeichnet wurde. Autobiografisch, von
„Wende“-Erlebnissen inspiriert, war auch
„Lilien auf der Bank“, den Rosenbaum
1996 mit ihrem Ehemann Gerard Samaan
drehte. Marianne Rosenbaum, die an der
Potsdamer Filmhochschule unterrichtete,
starb am 29. Oktober in München.
Hans-Joachim Preil, 76. Als Komikerduo
314
d e r
Daisy Bates, 84. Sie gehörte 1957 zu den
DPA
waren Preil & Herricht in der DDR unschlagbar. Rolf Herricht gab den Liebenswürdig-Naiven, Preil
dagegen durfte der
ewig meckernde, besserwisserische Oberlehrer sein. Der Tod seines Partners vor 18 Jahren nahm Preil so mit,
dass er nicht mehr als
Komiker auftrat. Doch
die auf CD gepressten
Wortduelle (alle stammen aus Preils Feder)
finden noch heute ihr dankbares Publikum.
Preil schrieb Bühnenstücke, inszenierte
Shows für den Friedrichstadtpalast und
gehörte 30 Jahre lang dem Ensemble des
DDR-Fernsehens an. Hans-Joachim Preil
starb vergangenen Dienstag in Berlin.
ersten schwarzen Bürgerrechtlern, die versuchten, für Schwarze das Recht einzuklagen, eine bis dahin nur Weißen vorbehaltene Schule in Little Rock (Arkansas) zu
besuchen. Um sie vor dem Hass der aufgebrachten Weißen zu schützen, schickte
Präsident Eisenhower sogar Armeetruppen
nach Little Rock. Die spätere Journalistin
Bates wurde zum Symbol für schwarzen
Widerstand und als Menschenrechtsaktivistin mehrfach ausgezeichnet (Präsident
Clinton: „Eine Heldin“). Daisy Bates starb
vergangenen Donnerstag in Little Rock.
s p i e g e l
4 5 / 1 9 9 9
AP
Rafael Alberti, 96. Er war der Letzte der
Werbeseite
Werbeseite
Personalien
FOTOS: AP ( li.); REUTERS ( re.)
Al Gore, 51, US-Vizepräsident
und einer der beiden demokratischen Präsidentschaftsbewerber, musste vergangene Woche
viel Spott einstecken. Durch
einen Artikel des Magazins
„Time“ war ruchbar geworden,
dass der immer irgendwie steifleinern wirkende Vize sich von
der sattsam bekannten Feministin und Bestsellerautorin Naomi
Wolf („Promiscuities“) für ein
saftiges Monatssalär von 15 000
Dollar in Image-Fragen beraten
ließ. Die Dame diagnostizierte,
der gehemmte Gore sei, in der
Sprache der Verhaltensforschung
gesagt, ein Beta-Männchen, also allenfalls ein Helfertyp. Um
das Oval Office zu erobern, müsse er sich aggressiv wie ein „Alpha-Mann“ aufführen. So trat er denn auch zur Fernsehdiskussion mit seinem demokratischen Mitbewerber Bill Bradley
am 27. Oktober in Cowboy-Stiefeln (Lieblingsschuhwerk des
Alpha-Manns Bill Clinton) und olivgrünem Anzug an und blieb,
als Bradley nach Ende der Debatte bereits nach Hause gegangen war. „Ich bleibe, solange es noch Fragen gibt“, versprach
er dem Publikum, „auch wenn die Kameras abgeschaltet sind.“
Gores Verwandlung zum Leitwolf setzte sich fort zu Halloween
am 31. Oktober: grotesk und sanft. Da empfing er die Gäste seiner Halloween-Party im Kostüm der Cartoon-Figur „Underdog“ und ließ die Muskeln spielen. Die Frau an seiner Seite,
Tipper, 51, gab bescheiden die Comic-Partnerin „Polly Purebred“. Im vergangenen Jahr zu Halloween waren die Eheleute Gore noch wie Schwerstversehrte aufgetreten, Körper und
Extremitäten vollständig mit Mullbinden bandagiert.
Ehepaar Gore in Halloween-Kostümen
Henning Scherf, 61, Bür-
beiter tätig und neuerdings als Kolumnist
des Kölner Boulevardblatts „Express“. Dort
nimmt er unter der Überschrift „So sehe
ich es“ Stellung zu aktuellen Themen wie
630-Mark-Jobs, Arbeitslosigkeit oder auch
zu Schröders Position in der Partei. Jetzt
komme es darauf an, so Lothar Vosseler in
seiner ersten Kolumne am 29. Oktober,
„dass die Partei hinter ihm steht“. Dazu
drücke er seinem Bruder ganz fest die Daumen: „Zwischen den Gerd und mich passt
nämlich wirklich kein Blatt Papier.“
J. SARBACH
germeister und Regierungschef des Stadtstaates Bremen, machte sich um das
Gemeinwohl verdient. Zwei
Stunden radelte der passionierte Pedalist für die TVVorabendserie „Aus gutem
Hause“ durch die bremische Innenstadt, die Kameras stets dabei. Jetzt wurde
der Laiendarsteller für seine Mühen belohnt. Mit 1500
Mark Gage zeigte sich das
Produktionsteam erkenntlich. Den Zaster ließ der unScherf
bestechliche Hanseat an die
bremische Initiative „Zivilcourage“ überweisen – die will mit ihren Aktionen die
Bremer ermutigen, in schwierigen, für andere bedrohlichen Situationen nicht einfach wegzusehen.
Lothar Vosseler, 52, Halbbruder des Bundeskanzlers, bemüht einen zweifelhaften
Vergleich, um Nähe und Harmonie unter
Brüdern zu betonen. Vosseler ist nach Jahren der Arbeitslosigkeit jetzt als Kanalar316
Vosseler im Kölner „Express“ (Ausriss)
d e r
s p i e g e l
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Christian Ströbele, 60, Bundestagsabgeordneter der Bündnisgrünen, staunte nicht
schlecht: Als er unlängst beim Wiesbadener
Bundeskriminalamt (BKA) um Prüfung
bat, ob in den Speichern auch sein Name
zu finden sei, erhielt er Post vom Datenschutzbeauftragten des Amtes. Gleich in
vier Dateien erfuhr Ströbele, liege er ein,
darunter im Programm für Häftlingsüberwachung. Selbst Ströbeles Fingerabdrücke,
die 1976 einmal genommen worden waren,
weil damals gegen den Anwalt „wegen Verdachts der Unterstützung einer kriminellen Vereinigung“ ermittelt wurde, waren noch vorhanden. Das
Amt aber vergaß, die Daten
nach Ablauf der dafür vorgesehenen Zeit zu löschen.
„Ich bedaure dieses Versäumnis sehr“, ließ der
BKA-Datenschützer Ströbele wissen. Mittlerweile hat
sich auch die Berliner Senatsverwaltung für Inneres
bei dem Anwalt, der früher
RAF-Terroristen verteidigte, entschuldigt.
Gerhard Schröder, 55, Bundeskanzler,
White Rabbit. Britney-Alice wird zu Beginn der Filmhandlung von einem VW Rabbit überfahren. MTV nennt die Produktion
ein „zeitgemäßes Musical“, das sogar den
Segen des Gründers und Vorsitzenden der
Lewis Carroll Society hat. Kenn Oultram
freut sich: „I’m amused.“ Er findet dieses
Filmvorhaben gerade wegen seiner Distanz
zum Original besonders gut: Frühere Filmversionen „floppten, weil sie sich ganz eng
an den Text von Lewis hielten“.
wurde beim Staatsbesuch in Japan vergangene Woche mit Raritäten überhäuft.
Gleich am ersten Tag brachte der Chef des
Verbandes der Automobilindustrie, Bernd
Gottschalk, dem Kanzler eine Autogrammkarte des Finnen Mika Häkkinen
mit, der im Motodrom von Suzuka jetzt
Weltmeister geworden war. Text: „All the
best to Gerhard.“ Die Gastgeber landeten
mit einem weiteren Unikat, einem Druck
des Malers Hokusai, einen Volltreffer.
Schöngeist Schröder hatte den Maler und
Meister des Farbholzschnitts durch den
Hamburger Maler Horst Janssen schätzen
gelernt. Ohnehin präsentierte sich der
Kanzler als Asien-Fan: „Konfuzius“, bekannte Schröder, „habe ich schon immer
sehr geschätzt.“
Britney Spears, 17, amerikanischer TeePA / DPA
nie-Star, spielt demnächst die Hauptrolle in
der Wiederverfilmung von „Alice in Wonderland“. Und wie es sich für eine Verfilmung durch einen Musikkanal wie MTV
gehört, geht es schrill und kreischend zu.
Da ist die Raupe ein haschrauchender
Rastafari und die Teegesellschaft beim verrückten Hutmacher, den der Latino-Sänger
Ricky Martin spielt, eine wilde Mixtur aus
Rock’n’Roll-, HipHop- und Rapkonzert.
Nach dem noch unvollständigen Drehbuch
trifft sich Alice zu Beginn ihres Traumabenteuers nicht wie in Lewis Carrolls
Werk mit dem Weißen Kaninchen, dem
MTV ( li.); MARY EVANS PICTURE LIBRARY ( re.)
Gormley mit „Quantum Cloud“-Modell
Antony Gormley, 49, britischer Bildhauer,
fürchtet, er könnte mit einem Kunstwerk
an der berühmten Unschärferelation des
deutsche Physikers Werner Heisenberg
scheitern. Der Brite arbeitet zur Zeit an einer 20 Meter hohen Skulptur für den so genannten Millennium Dome in London, eine
gigantische Veranstaltungsarena, in der der
Beginn des Jahres 2000 mit
rekordverdächtigen Unternehmungen gefeiert werden soll. Gormleys Werk,
die „Quantum Cloud“, soll
einen Mann inmitten einer Wolke darstellen, fünf
Stockwerke hoch, und aus
3500 Nadeln zusammengesetzt sein. „Wir könnten
den Körper darin sichtbar
machen, wenn es funktioniert“, gestand der Künstler
jetzt der „Times“. Doch
die Quantum Cloud sei
nach „dem Heisenbergschen Prinzip der Unschärfe gebaut, so dass wir nicht
wissen, ob wir den Körper in der Wolke
tatsächlich zu Gesicht bekommen werden“. Den Bürgern von London, die mit
Sponsorengeldern für das geplante Spektakel aufkommen, sei also vorsichtshalber
gesagt: „Man kann nicht den Kuchen haben und ihn gleichzeitig essen; man kann
nicht die Quantenrealität haben und noch
einen Körper erkennen wollen.“ Gormley
vertraut jetzt darauf, „dass der Glaube obsiegt“ – die Quantum Cloud existiert bislang nur als Modell.
Spears, zeitgenössische Alice-Darstellung
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Hohlspiegel
Rückspiegel
Aus dem „Schwäbischen Tagblatt“: „Durch
die Umstellung bleibt es morgens länger
hell, abends wird es hingegen früher
dunkel.“
Zitat
Aus den „Ruhr-Nachrichten“
Aus der „Bild“-Zeitung
Aus der „Frankfurter Rundschau“
Aus der „Berliner Morgenpost“: „Besonders betroffen sind Untersuchungen zufolge Frauen und Menschen in nördlichen
Ländern mit wenig Sonnenschein.“
Aus der „Rendsburger Tagespost“
Die „Zeit“ zum Kommentar von
SPIEGEL-Herausgeber Rudolf Augstein
zur Außenpolitik Joschka Fischers
„Der Nationalstaat wird verabschiedet“
(Nr. 42/1999):
Rudolf Augstein wirft Fischer – mit exorbitanter Heftigkeit – vor, er opfere die
deutschen Interessen dem amerikanischen
Vormachtstreben, und unterstellt ihm einen von menschenrechtlichem Missionarismus getriebenen deutschen Größenwahn. Er nennt ihn einen „Hasardeur“, der den „Nationalstaat abschaffen“
und an seine Stelle „die grenzübergreifende Polizeitruppe unter Führung
der USA“ setzen wolle. Das ehemalige
„größte Schimpfmaul gegen den verbrecherischen Krieg der USA in Vietnam“
werfe jetzt „seine Vergangenheit hinter
sich wie der Apostel Paulus. Er betet nun
an, was er immer bekämpft hat, den
Kriegskapitalismus“. In der publizistischen
Kampagne gegen Fischer überlagern sich
die ideologischen Fronten auf höchst
verwirrende Weise. Der Generalverdacht
gegen die USA, sie benutzten Menschenrechte nur als moralischen Vorwand
für die Durchsetzung imperialistischer Ziele, und die Warnung vor einem neuen
deutschen Militarismus im Windschatten der amerikanischen Führungsmacht
sind traditionell Teil „linker“ politischer Deutungsmuster. Von Augstein und
von konservativen Kommentatoren wie
dem „FAZ“-Redakteur Konrad Adam
werden diese Vorwürfe jetzt in einem anderen Begründungszusammenhang aufgegriffen.
Der SPIEGEL berichtete …
Aus der „Bild“-Zeitung
Aus dem Bad Kreuznacher „Öffentlichen
Anzeiger“
Aus der „Süddeutschen Zeitung“: „Die gegerbte und gefärbte Lederhaut, naturgemäß selten makellos und besonders bei
südamerikanischen Peccori-Fellen für die
begehrten und unverwüstlichen Schweinsledernen von Schrotkugeln durchsiebt –
sie sind gleichzeitig das Hauptnahrungsmittel der Indios –, wird zunächst in alle
Richtungen gezogen und gedehnt, bis das
Leder nicht mehr nachgibt.“
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… in Nr. 21/1999 Titelgeschichte von
SPIEGEL-Herausgeber Rudolf Augstein
„Was bleibt von Jesus Christus?“
über den Mythos, der die Welt prägte.
In dieser Woche beginnt an der Universität Kassel eine Ringvorlesung mit dem
Titel „Was bleibt von Jesus Christus?“. Bis
Ende Januar berichten sieben Hochschullehrer aus Göttingen, Kassel und Marburg
über ihre Arbeitsgebiete. „Anstoß gab“, so
die Einladung der Fachgruppe Theologie/Religionspädagogik, „die gleichnamige Titelstory des SPIEGEL“ vom 24. Mai
dieses Jahres, in der Rudolf Augstein „Forschungsergebnisse, Vermutungen, Meinungen und eigene Wertungen zusammengemischt“ habe. Die Titelgeschichte Rudolf
Augsteins beruht auf der erweiterten und
überarbeiteten Neuausgabe seines Buches
„Jesus Menschensohn“, die jetzt bei Hoffmann und Campe erschienen ist (574 Seiten, 54 Mark).
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