DER SPIEGEL Jahrgang 1999 Heft 43
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DER SPIEGEL Jahrgang 1999 Heft 43
Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN Hausmitteilung 25. Oktober 1999 Betr.: Bradley, Bierbichler, SPIEGELreporter I J. LEYNSE / SABA m Hauptquartier von US-Präsidentschaftsbewerber Bill Bradley melden sich derzeit ungewöhnlich viele deutsche Journalisten. „Wir haben schon über 50 auf der Warteliste“, sagt eine Sprecherin. Es irritiert sie allerdings, dass die Deutschen nicht über Bradley berichten wollen, der Bill Clintons Vize Al Gore die Kandidatur der Demokraten für die Wahl im Bradley, Widmann November 2000 streitig macht. Das Interesse der Besucher aus der Alten Welt gilt vielmehr Bradleys Frau Ernestine, geschiedene Schlant, geborene Misslbeck. Sollte ihr Mann den steilen Aufstieg ins Weiße Haus schaffen, hätten die Amerikaner eine Deutsche – und mit ihr zum ersten Mal eine Einwanderin – als First Lady. SPIEGEL-Reporter Carlos Widmann, 61, begleitete die aus Passau gebürtige Germanistin auf dem Werbefeldzug für ihren Mann. Bei Sonnenaufgang fuhr er durch die herbstliche Farbenpracht Neuenglands und machte Brotzeit mit der Frau aus Niederbayern – Weißwürste gab es allerdings nicht, sondern Hamburger (Seite 266). er Theaterschauspieler Josef Bierbichler, 51, gilt als Sturkopf: Seit Jahren weigert er sich, mit Journalisten zu sprechen. Immer wieder fragte SPIEGELRedakteur Wolfgang Höbel, 37, bei dem vielfach ausgezeichneten Darsteller an, ob er nicht Zeit für ein Interview hätte. Bierbichlers Antwort: „Wenn ich etwas zu sagen habe.“ SPIEGEL-Redakteurin Claudia Voigt, 33, versuchte in Polen mit Bierbichler zu sprechen, wo er kürzlich als Bertolt Bierbichler, Voigt Brecht vor der Kamera stand. „Nicht länger als zehn Minuten“ wollte sich der Schauspieler schließlich abringen. Eine Stunde saßen dann beide zusammen und verabredeten, das Gespräch in Hamburg fortzuführen. „Dann bringen Sie auch den Höbel mit“, sagte Bierbichler noch, „den habe ich lange genug hingehalten“ (Seite 320). V on Dienstag an ist ein neues Monatsmagazin aus dem SPIEGEL-Verlag im Handel – SPIEGELreporter (siehe auch Seite 159). Das Heft wendet sich mit üppig illustrierten Reportagen, Essays und Interviews an Leser, die gern lange recherchierte, gut geschriebene Storys lesen. In der ersten Nummer: Matthias Matussek über Bischof Dyba, „die Axt Gottes“, Cordt Schnibben über die „Süddeutsche Zeitung“ und Joschka Fischer im Zwiegespräch mit Harald Schmidt über die neue Republik: „Plötzlich sind wir ein Volk von Lockeren.“ Die nächste SPIEGEL-Ausgabe wird wegen Allerheiligen bereits am Samstag, dem 30. Oktober, verkauft und den Abonnenten zugestellt. Im Internet: www.spiegel.de d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 5 S. FALKE D Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite In diesem Heft Aufstand gegen die Frührente Kommentar Rudolf Augstein: Der Kohl-König ........................ 32 100 Tage im Herbst Wende und Ende des SED-Staates (5) „Krenz – kein Lenz“ – Die SED bangt um die Macht ...................... 81 Porträt: Rainer Eppelmann – Pendler zwischen den Welten .................... 100 Analyse: Im Schutzraum Kirche keimt die Wende........................................ 104 DPA Deutschland Panorama: Neue Belastung für Rot-Grün / Kriegstraining für Journalisten............................. 19 Rente: Wie Rot-Grün den Generationenkrieg anheizt ........................... 24 So reich sind die Alten......................................... 26 SPIEGEL-Gespräch mit Kurt Biedenkopf über die Vergreisung der Gesellschaft.................. 30 Regierung: Die Grünen und der Leo 2 ............... 36 Interview mit Umweltminister Jürgen Trittin....... 38 Professoren: Peter Glotz flieht aus Erfurt .......... 40 Atomkraft: Schwarzbau in Obrigheim?............... 44 Rüstung: Scharpings neues Transportflugzeug ...... 52 Spionage: Computerklau bei Unternehmensberatern.................................. 56 Einheit: Frustrierte Westler verlassen den Osten .. 60 Bundeswehr: Frauen an die Waffen? .................. 68 Jugendliche: Neue Projekte für Straßenkinder .. 72 Hochschulen: Schmu an der Hamburger Uni ..... 76 Verbrechen: Rätselhafte Grabschändung im Mordfall Wachtel ........................................... 111 Zeitgeschichte: Hannes Heer über falsche Bilder in der Wehrmachtsausstellung ................. 112 Erbstreit um Schindlers Liste ............................. 116 Betrüger: Die Opfer der Schwarzen Witwe ....... 118 Schröder, Riester Finanzdesaster bei Kirch Seiten 24, 30 Die Jungen proben den Aufstand gegen die Rente mit 60. Selbst junge Gewerkschafter empören sich über die Idee von IG-Metall-Chef Zwickel, Älteren den Vorruhestand zu ermöglichen. Sie sollen zahlen, haben aber keine Chance, selbst von dem Plan zu profitieren. Sie erwarten vielmehr Minirenten, während die Senioren heute so wohlhabend sind wie noch nie. Kanzler Schröder und Arbeitsminister Riester unterstützen dennoch das Vorhaben. Ein Kampf der Generationen beginnt. Um ihn zu verhindern, fordert Sachsens Ministerpräsident Biedenkopf eine steuerfinanzierte Bürgerrente, an der sich alle beteiligen: Selbständige und Beamte, Angestellte und Arbeiter. Seite 134 Sein Traum vom Siegeszug des Abonnenten-Fernsehens hat den Münchner Medienunternehmer Leo Kirch in eine tiefe Finanzkrise gestürzt. Interne Unterlagen und Bilanzen, die eine US-Bank im Kirch-Auftrag für eine geplante Anleihe analysierte, belegen Milliarden-Schulden im Pay-TV. Die umworbenen Investoren scheuten das Risiko – nun braucht Kirch dringend Partner und vor allem frisches Geld für sein Programm Premiere World. PEOPLE PICTURE Titel Joachim Fest über Adolf Hitler........................... 181 SPIEGEL-Gespräch mit dem britischen Historiker Timothy Garton Ash über Europa am Jahrhundertende...................... 198 Kirch Wirtschaft Trends: Milliardenentlastung für Unternehmer / Baustopp bei der Bahn? / Telekom will US-Telefonfirma RSL übernehmen .................... 123 Geld: Online-Banking vor dem Durchbruch / Die Highflyer des Neuen Marktes ...................... 125 Europa: Wie DaimlerChrysler die Autopreise künstlich hoch hält............................................. 126 Telefon: Mannesmann auf Risikokurs................ 130 Fernsehen: Internes Finanzdossier enthüllt das Schuldendesaster des Leo Kirch .................. 134 Manager: Die seltsame Wandlung des Siemens-Chefs Heinrich von Pierer ................... 142 Banken: Bilanzbetrug bei der Hypobank?......... 144 Hightech: Amerikas Jugend im Gründerfieber.. 146 Unternehmer: Der Toilettenkönig von Berlin ..... 154 Flucht nach Westen Seite 60 Hoffnungsfroh waren sie einst in die neuen Bundesländer umgezogen, doch inzwischen fliehen viele Westler wieder nach Hause – Opfer eines Kulturkampfs, vertrieben von pöbelnden Glatzen, feindseligen Ostlern und dem Mief der alten DDR. Stalingrad in Babelsberg Seite 162 Medien Trends: Frank Otto über seinen „Morgenpost“Kauf / Bertelsmann-Beteiligung an n-tv? ............. 157 Fernsehen: Pro Sieben im Halloween-Fieber / Neuer ZDF-Krimiheld in „Der Solist“ .............. 158 Zeitschriften: SPIEGELreporter – das neue Monatsmagazin ................................... 159 Filmindustrie: Großes Kino aus Babelsberg ...... 162 Zeitungen: Der neue Berlin-Teil der „FAZ“ ..... 168 Internet-TV: Überraschungserfolg Giga-TV ....... 174 8 FOTEX Gesellschaft Szene: Neue Biografie der Mode-Königin Coco Chanel / Ethnologe erkundet Berlins Nachtleben 207 Fans: Mädchen-Horden nerven die Nachbarn der Kelly-Familie ............................... 208 Moral: SPIEGEL-Gespräch mit den Autoren Bret Easton Ellis und Michel Houellebecq über Gewalt und Sex .......................................... 211 Annaud (r.) d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Der französische Star-Regisseur Jean-Jacques Annaud war begeistert von den „alten russischen Kasernen“ bei Berlin und der „modernen Infrastruktur“: Im Studio Babelsberg will er die Schlacht von Stalingrad verfilmen, mit 90 Millionen Dollar wohl Europas teuerste Filmproduktion. Der Großauftrag sichert für die nächsten Jahre die Zukunft des einst legendären Ufa-Studios, das nach der Wende ums Überleben kämpft. LES STONE / CORBIS SYGMA Ausland Jugendliche Strafgefangene in Amerika, Raoul Wüthrich Panorama: Wirbel um Baustopp auf Mallorca / Angst vor Hitlers Teufelsdroge ........................... 221 Justiz: Kinder im US-Strafvollzug....................... 224 Pakistan: Der Putschgeneral findet Geschmack an der Macht................................... 230 Ex-Regierungschefin Benazir Bhutto über eine Rückkehr zur Demokratie .......................... 232 Großbritannien: Blairs halbherzige Euro-Kampagne ................................................. 238 Tschetschenien: Das Blutbad von Grosny ....... 240 Indonesien: Kurswechsel im Inselreich ............. 242 Frankreich: Vergebliche Flucht des Nazi-Helfers Papon ..................................... 246 Reparationen: Sühne für „schwarzen Holocaust“ 250 China: Selbstmordwelle unter Bäuerinnen ........ 256 Russland: Aufschwung mit Geldschiebereien...... 260 USA: Eine Deutsche als First Lady? ................... 266 Spanien: Abschied der Macho-Matadorin ......... 276 Wissenschaft • Technik Strafsüchtige Prüderie Prisma: Infektionsgefahr durch Inhalator / Lesbische Rüsselkäfer ........................................ 283 Paläontologie: TV-Expedition ins Dino-Reich .. 286 Rauchen: Der Tabak ohne Krebsgift ................ 289 Computer: SPIEGEL-Gespräch mit Sun-Chef Scott McNealy über das Ende des PC und die europäische Datenschutz-Hysterie........ 292 Medizin: Das schreckliche Erwachen während der Operation...................................... 298 Automobile: Dominanz der Deutschen auf der Motorshow in Tokio..................................... 305 Nissan-Sanierung schockiert Japaner................. 306 Seite 224 Der elfjährige Schweizer Raoul Wüthrich muss sich wegen „schweren Inzests“ vor einem US-Gericht verantworten. Bis dahin wird er in einer Pflegefamilie und einem Erziehungsheim verwahrt. Die überaus harte Behandlung junger Delinquenten in den USA schlägt in der Alpenrepublik hohe Wellen. Dass die Eltern mit Pornografie Geschäfte machten, kann die Kritik an Amerikas gnadenloser Justiz nicht entkräften. Kultur Eine neue BBC-Dokumentation über das Leben der Dinosaurier gilt als die aufwendigste Wissenschaftssendung aller Zeiten. Nie zuvor stapften derart perfekt computeranimierte Riesenechsen über den Bildschirm. Manche Forscher halten die Urzeit-Tierfilme für unseriös. Nächsten Monat wird die Dino-Serie auch in Deutschland ausgestrahlt. BBC WORLDWIDE Dino-Hit im TV Seite 286 Dinosaurier im neuen BBC-Film Hellwach auf dem OP-Tisch Seite 298 Bis zu 6000 Deutsche pro Jahr erwachen während Operationen aus der Vollnarkose. Nach dem Schockerlebnis leiden viele Betroffene unter psychischen Störungen. An den Kliniken sollen jetzt Beratungsstellen für die Narkoseopfer eröffnet werden. v. FORSTER / BILDERBERG Der Terror von Sex und Schönheit Seite 211 Zwei Skandalautoren, die sich als „Moralisten“ sehen, beklagen im SPIEGEL-Gespräch den Verfall gesellschaftlicher Werte: Der Amerikaner Bret Easton Ellis („Glamorama“) und der Franzose Michel Houellebecq („Elementarteilchen“) diskutieren darüber, ob Sex in Amerika oder Europa mehr Spaß macht – und sind sich darin einig, dass nur der etwas gilt, der „reich, jung und schön“ ist. Fitnessstudio in München d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Szene: Volk & Welt von Berlin nach München / Fotograf Richard Avedon feiert die Sechziger.... 309 Musik: Der wilde Geiger Nigel Kennedy kehrt zurück zur Klassik .................................... 312 Pop: Das Geschäft mit Filmmusik-CDs .............. 317 Die Legende Ennio Morricone ........................... 318 Schauspieler: SPIEGEL-Gespräch mit Josef Bierbichler über seinen Zorn aufs TV ....... 320 Bierbichler mimt Bertolt Brecht ........................ 324 Literatur: „Land der Feuer“, ein Abenteuerroman aus Argentinien ................ 328 Bestseller ........................................................ 330 Kino: Interview mit US-Komiker Steve Martin über seinen neuen Film ................ 332 Filmgeschichte: Wie Kaiser Wilhelm II. vor der Kamera posierte .......................................... 334 Stars: Die schöne Britin Liz Hurley sucht Anerkennung als Kino-Produzentin .................. 336 Sport Unterhaltung: Mario Baslers Verbannung .......... 338 Fußball: Berlins Türken fiebern dem Auftritt von Galatasaray bei Hertha BSC entgegen ........ 342 Briefe .................................................................. 10 Impressum .................................................. 16, 346 Leserservice ..................................................... 346 Chronik ............................................................. 347 Register ............................................................ 348 Personalien ...................................................... 350 Hohlspiegel/Rückspiegel ................................ 352 Hollywoods Schönster Die Karriere des US-Schauspielers Brad Pitt. Außerdem in kulturSPIEGEL, dem Magazin für Abonnenten: der amerikanische Videokünstler Nam June Paik und der britische Pop-Dandy Bryan Ferry. 9 Briefe kleinen Verlag im Schwäbischen zusammengetan und immerhin mit „Tiefenrausch“ und „Riffhaie“ bundesweit aus dem Nichts zwei Bücher mit 5000 beziehungsweise 8000 Exemplaren Startauflage herausgebracht. Das sollen uns die elitären Besserwisser in den Lektoraten der Bertelsmann-bestimmten Großverlage erst mal nachmachen! „Weder das Heranwachsen der Enkel noch die Emanzipation von der Schwere der hohen deutschen Dichterskunst sind der Grund für diesen dichterlichen Aufschwung, sondern es sind vor allem wirtschaftliche Gründe: Der Trend der Verlage, ausländische Autoren zu verlegen, ist zu teuer geworden.“ SPIEGEL-Titel 41/1999 Schwaigern (Bad.-Württ.) Wer schreibt, muss was erlebt haben. Ein Buch muss lebendig sein, das vermisst man heutzutage oft. Manche Bücher sind zum Einschlafen. Ich hoffe, dass die junge Generation besser wird. Svea Reiners aus Potsdam zum Titel „Die neuen deutschen Dichter“ Hamburg Mit etwas gesundem Menschenverstand lässt sich schon leicht vorhersagen, dass von diesen talentierten jungen Leuten leider kein Einziger, wenn auch mit dicksten Wintersocken, in die Schuhe eines Günter Grass oder Co. passen wird, um diesen nachzufolgen. Bei Benjamin Lebert soll die Gnade der späten Geburt beim Urteilen berücksichtigt werden. Ansonsten gilt: Ein SPIEGEL-Titelbild macht nun mal noch keinen Dichter, noch nicht einmal einen Schriftsteller. Dazu erforderliches Potenzial haben meist nur Persönlichkeiten, die weder nach einer Pfeife des Erfolgs tanzen noch mit einer Blechtrommel als Hofnarren eines ernannten Nobelpreisträgers Aufmerksamkeit erregen wollen. Mainz Mal die „neuen deutschen Dichter“. Und dann die ultimativen SPIEGEL-KrimiTipps: eine norwegische Autorin, drei USAmerikaner, ein Italiener! Bravo! Genau damit segeln die literaturbeflissenen Kulturredakteure exakt hart am ZeitgeistTrend: wie die Verlage. Die nämlich verlegen praktisch blind und völlig kritiklos fast nur noch irgendwelches amerikanisches Geschwafel, Hauptsache Amerika und angeblich dort grundsätzlich ein Bestseller M. JEHNICHEN / TRANSIT Eine saftige Herabwürdigung? Nr. 41/1999, Titel: Die neuen deutschen Dichter Joachim Becker Gunter Haug Gerda Steibel Hinzufügen muss man, dass für uns moderne Autoren zudem die neue Möglichkeit besteht, via „Books on Demand“ (www.bod.de) seine Stücke erst einmal elektronisch zu veröffentlichen. Und nur bei Anforderung wird das Buch dann auch tatsächlich gedruckt. Für mich als Lyriker, der sich eher in der Tradition von Bukowski, Benn, Bachmann, Bargeld sieht, ist dies die neue Möglichkeit, das Internet, abseits von Verlagsgesuchen, kreativ zu nutzen. Mein zweiteiliger Gedichtband erscheint nächstes Frühjahr – ohne Kürzungen, wie sie Frau Duve leider hinnehmen musste. Dann kann man das Schreiben auch gleich an den Nagel hängen. Zudem sind wir neuen Autoren keine „Enkel“ von schlecht gelaunten, untalentierten, rückwärts gewandten Preisträgern, sondern selbstbewusst genug, eigene Standards zu entwickeln. Der neue Schub kommt also nicht vom Nobelpreis, sondern ist „hausgemacht“. Das schaffen wir schon allein, wie man sieht und liest. Bremen Christian R. Noffke Wenn Sie die „saftige“ Schreibweise junger, deutscher Autoren mit dem jungen Grass gleichset- Jungautor Thomas Brussig Langer Weg zur Glaubwürdigkeit zen, so ist dies eine nicht minder Selbstbewusst genug, eigene Standards zu entwickeln Nr. 41/1999, Regierung: saftige Herabwürdigung eines noGerhard Schröder geht auf seine Partei zu belpreisfähigen Jahrhundertwerks. Im Ge- oder ein Preisgewinner! Amerika ist gensatz zu Herrn Bohrers Optimismus ist schließlich immer gut, und wenn schon Wo leben wir denn? Etwa im Sozialismus, jedoch zu befürchten, dass der Tiefststand nicht Amerika, dann muss man zumindest wo jeder das Gleiche haben darf und nichts des literarischen Niveaus noch nicht er- in Deutschland als Totengräber oder Taxi- mehr? Der Kanzler und mit ihm jede anreicht ist. Das literarische Fräuleinwunder fahrer sein Dasein fristen, um als Autor für dere Person, die im Interesse der Öffentist nichts anderes als das Ergebnis einer Buchverlage interessant zu sein. Nach gut lichkeit steht, hat nicht die Möglichkeit, Strategie der Verlage, Manuskripte von jun- und gern 15 Absagen aus der deutschen nach getaner Arbeit zu Hause abzuschalten gen, attraktiven Autorinnen vorrangig zu Großverlagsszene habe ich mich mit einem und Privatmann zu sein. Den einzigen Luprüfen und so gründlich zu lektorieren, dass sie publikationsfähig werden (siehe Interview: Karen Duve), und wahrscheinder spiegel vom 27. Oktober 1949 lich wird es nicht mehr lange dauern, bis In der DDR löst Volkspolizei sowjetische Wachtposten ab Sie soll auf sich die erste Schriftstellerin für den „Playmilitärischen Stand gebracht werden. Streit um die sterblichen Überresboy“ auszieht. Gott sei Dank gibt es noch te von Kolumbus Akzeptiert Spanien das Grab in Santo Domingo? Der Sohn des Dichters Gerhart Hauptmann, Benvenuto, entscheidet Nachdie anspruchsvolle Literatur der Kinder lass-Streit für sich Hat Deutschland keinen Anspruch darauf? Der deutvon Grass & Co., also die der Eltern, ohne sche Skispringer Sepp Weiler baut sich seine eigene Schanze Er favodie es keine Enkel gäbe. risiert Oberstdorf. Deutsche Erstaufführung von Arthur Millers „Tod ei- Vor 50 Jahren Berlin Na wunderbar: Der SPIEGEL feiert aus Grassschen Nobelpreisgründen mit einem 10 nes Handlungsreisenden“ geplant Mit Fritz Kortner in der Hauptrolle. Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter http://www.spiegel.de Clemens Füsers Titel: Marienerscheinung in Heroldsbach-Thurn d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Briefe xus, den Herr Schröder sich im Moment leisten kann, ist der, seine Zigarre zu rauchen und sich in wohl fühlende Schale zu werfen. Gönnen sollten es ihm die Genossen und ihn dafür nicht anklagen. Anstatt ihm an der Basis den Rücken freizuhalten, bombardieren sie ihn mit Vorwürfen, die an Kinderstreitigkeiten erinnern und der Opposition zugute kommen. Mainz Hamburg Holger Schnaars Dass eitle Fotos in edlem Zwirn nicht gerade von der Stilsicherheit des PremiumGenossen künden, ist wohl unstrittig. Ob Dr. Christa Hategan Erstickendes Gefieder Isabel Raouf Letztlich gilt: Design ist wichtig – doch das Produkt ist nur so gut wie sein Inhalt. Und: Auch Klassiker sind nicht unmodern. Sorgfältig entstaubt und renoviert machen sie sich auch in einem neuen Umfeld ganz gut. Berlin Leitantrag mit der Forderung nach „professionellem Handwerk“ dokumentiert. Dieser Forderung nachzukommen wäre sicherlich ein intelligenter Schritt auf dem langen Weg zur Wiedergewinnung verlorener Glaubwürdigkeit. Nr. 41/1999, Renten: Neue Allianz für die Zwangsrente Jeder halbwegs intelligente Mensch wird sich ausrechnen können, dass es ohne eigene Vorsorge nicht mehr geht. Damit die „Vorsorgesparer“ und deren Nachkommen nicht auch noch für jene aufkommen müssen, die meinen, nicht vorsorgen zu müssen, da sie ja so oder so vom Staat versorgt werden, wird man, der Gerechtigkeit halber, nicht um einen Zwang zur Altersvorsorge herumkommen. Immerhin ist dies ein Zwang, von dem man auch garantiert etwas hat. Nortmoor (Nieders.) Gerda Hasseler J. H. DARCHINGER Riesters Zwangsrente beziehungsweise Zwangslebensversicherung stellt eine Herabwürdigung der Freiheit des Einzelnen, über sein Leben selbst zu entscheiden, dar. Einem Individuum muss es möglich sein, sich gegen die Flucht unter das erstickende Gefieder der überwachenden Glucke zu entscheiden. Mir persönlich gruselt’s vor Modellen à la Schweden wirklich. Von Schlimmerem ganz zu schweigen. Zigarre rauchender Kanzler Der einzige Luxus Kanzlers Zigarre nun unbedingt als Symbol seiner großkapitalistischen Neigungen herhalten muss, scheint allerdings fraglich. Dürfen Sozis qua Parteibuch und proletarischer Herkunft nur billiges Kraut rauchen? Herrscht vielleicht sogar Currywurstzwang, während die Kollegen von der CDU immerhin gutbürgerlich essen, die Besserverdiener von der FDP sogar schick im Sushi stochern dürfen? Markt Schwaben (Bayern) Uwe Schleifenbaum Wenn „die mangelnde Glaubwürdigkeit“ tatsächlich das „derzeit größte Problem“ des Bundeskanzlers Gerhard Schröder ist, dann kann die empfohlene Imagewerbung keine Lösung sein. Das weiß man ja spätestens seit der „Brent Spar“-Affäre, als hervorragende Imagewerte der Deutschen Shell AG den Kundenboykott nicht verhindern konnten. Das Geschäft mit dem Kanzler-Image sei den Werbern unbenommen, aber Delegierte (und Wähler) erwarten keine stimmigen Bilder „zur Untermalung der Botschaft“, sondern die Umsetzung der Botschaft in kompetentes Regierungshandeln. Delegierte (und Wähler) sind auch nicht länger bereit, das geflügelte Wort vom „handwerklichen Fehler“ zu akzeptieren, wie der Bochumer 14 d e r Weiden (Bayern) Dr. Thomas Stemmer Bullterrier und Marktschreier Nr. 41/1999, Sozialstaat: SPIEGEL-Gespräch mit Wirtschaftsminister Werner Müller über notwendige Reformen Das Interview mit Bundeswirtschaftsminister Müller zeigt deutlich seine kompetente, vernunftgeleitete und konzeptionelle Auffassung, wie die aktuellen Wirtschaftsund Finanzprobleme zu analysieren sind. Daraus folgen mit großer Verständlichkeit seine Fazits, die wiederum zu Konzepten taugen. Schröder hat mit ihm einen brillanten Fachmann in seinem Kabinett, dessen Können er viel mehr einsetzen sollte, um verständliche Aufklärung und sogar ein Politikmarketing zu leisten. Bonn Brigitte Bebermeyer Bundesminister Müller beklagt die zweifellos vorhandene Vollkasko-Mentalität vieler Deutscher. Er vergisst aber, diese Gruppe näher zu beschreiben: Dazu gehören in erster Linie Regierungsmitglieder, Bundestags- und Landtagsabgeordne- s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 M. DARCHINGER Wirtschaftsminister Müller Kompetente, vernunftgeleitete Auffassung te, Beamte, Partei-, Kirchen- und Gewerkschaftsfunktionäre, kurzum alle jene, deren Alimentierung niemals Finanzierungsprobleme aufweist, weil sie von der unfreiwilligen Solidarität der Mehrheit der übrigen Bundesbürger getragen wird. Bei Rentnern der Sozialversicherung könnte man höchstens von einer „Teilkasko-Mentalität“ sprechen, doch das klingt nicht besonders spektakulär. Solange man nicht diese aus Serenissimus-Zeiten stammende Zweiklassengesellschaft abschafft, sind sämtliche Rentenreformen für die Katz. Helmbrechts-Unterweißenbach (Bayern) Hermann Wirth „Jede Mehrleistung ist in die Staatskassen transferiert, also systematisch sozialisiert worden“, meint Herr Müller. Er sollte es besser wissen: Allein die diesjährige Bundesschuld von 82 Milliarden Mark mit ihrem satten Anteil der Wiedervereinigung auf Pump wird automatisch in die Taschen von uns Besserverdienenden transferiert und ähnliche Beträge jedes Jahr wieder. Kassel Klaus Seeliger Der Wirtschaftsminister wächst langsam in die ihm als Parteilosen von der SPD zugedachte Rolle hinein. Er spielt den Bullterrier, den Marktschreier der Bundesregierung immer lauter und besser. Der Vergleich mit den Industriellenverbänden, bei denen die Funktion der „Medien-Speerspitze“ Herr Henkel vom BDI ausübt, drängt sich förmlich auf. Sowohl Herr Müller als auch Herr Henkel wären intellektuell sicherlich sehr wohl in der Lage, sich differenzierter und sachlicher zu äußern, als sie es zurzeit tun. Sollen sie aber nicht! Ihr Job ist die Serienproduktion von Binsenweisheiten und Platituden, die Produktionsstätte sind die Medien. Herr Müller ist der „Sektkorken“ des Bundeskanzlers. Wenn der Korken geknallt hat, kann Herr Schröder in Ruhe und neuer Bescheidenheit an der Marke „Rotkäppchen“ nippen. Lengerich d e r Alexander Reisenhofer s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Briefe Nr. 41/1999, Arzneimittel: Preistricks der Pharmaindustrie Die Apotheke ist verpflichtet, einem Patienten genau das vom Arzt ausgesuchte Fertigarzneimittel zu geben, auch wenn sie wirkstoffgleiche, gleich teure oder günstigere Arzneimittel in ihrem Lager hat. Unsere Warenlager, die wir voll bezahlt haben, füllen sich so mit unendlich vielen wirkungsgleichen Präparaten, weil wir, obwohl Arzneifachleute, nicht im Bereich der wirkstoffgleichen Präparate nach sinnvollen Kriterien auswählen dürfen. Jahr für Jahr vernichte ich in meiner Apotheke viele dieser Arzneimittel, weil einem Ver- machen es Ratiopharm und Co. möglich, ihre Präparate billiger zu beziehen. Man sollte von diesen Firmen allerdings keine Neuentwicklungen erwarten – in die Forschung wird hier in der Regel nicht investiert. Entsprechend wären die Auswirkungen einer ausschließlichen Verordnung von günstigeren Generika auf die Neuentwicklung und Verbesserung von Medikamenten. Köln Andreas Werth Apotheker Luftangriff durch U. S. Army Air Forces auf Berlin Die Apothekenverkaufspreise werden nicht nach obskuren Regeln festgesetzt, sondern sind Resultat der Arzneimittelpreisverordnung, die für alle apothekenpflichtigen Arzneimittel bundeseinheitliche Endverbraucherpreise sicherstellt. Bei der Arzneimittelversorgung für die Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung entfallen 56,9 Prozent auf die pharmazeutische Industrie, 20,8 Prozent auf die Apotheken, 8,7 Prozent auf den Großhandel und 13,6 Prozent auf die Mehrwertsteuer. Eschborn (Hessen) Dr. Frank Diener ABDA-BV Deutsche Apothekerverb. S. WALLOCHA Apotheker, Ärzte und Pharmaindustrie klagen höchst effektiv im Chor, wenn es um ihre Pfründen geht. Ursache ist der gesetzlich sanktionierte Lobbyismus, der das wirkungsvolle „Schmieren“ erlaubt und das logische Denken von VolksArzneimittelverkauf in einer Apotheke vertretern wirkungsvoll hemmt. Schnell wechselndes Verordnungsverhalten Helfen kann hier nur die EU, indem sie mehr Wettbewerb einfordert. schreiber auf einmal andere Arzneien mit Das allerverlogenste Argument ist der Hingleichen Wirkstoffen, die nicht zwingend weis, dass diese Handelsspanne notwendig besser oder billiger sind, besser „gefallen“. sei, um die Qualität der Versorgung zu siAugsburg Christiane Fahrmbacher-Lutz chern. Da müsste es mit der Qualität unserer Lebensmittel schlecht bestellt sein, denn Die Niedrigpreis-Präparate sind nicht des- die Spannen sind dort deutlich geringer. halb bei den Apothekern unbeliebt, weil sie Bischberg (Bayern) Elmar K. Brueckner billig sind, sondern weil es im GenerikaBereich zu einem so schnell wechselnden Deutschland ist das einzige Land in Europa Verordnungsverhalten gekommen ist, dass mit vollem Mehrwertsteuersatz auf Arzneidie Apotheken immer öfter Präparate nicht mittel. Der Fiskus verdient an den Medikagleich am Lager haben können. Auf Grund menten mehr als alle Apotheken zusammen. der guten Logistik zwischen den Apothe- Köln-Mülheim Heinz Jürgen Schäfer ken und dem pharmazeutischen Großhandel können in den meisten Fällen die gewünschten Arzneimittel innerhalb von drei VERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe für Panorama, ReStunden besorgt werden. Die dadurch zugierung, Grüne, Atomkraft, Rüstung, Bundeswehr, Hochschulen, Zeitgeschichte (S. 112): Dr. Gerhard Spörl; für Rente, Trends, Geld, sätzlich anfallenden Transportkosten werEuropa, Telefon, Fernsehen (S. 134), Manager, Banken, Hightech, den nicht, wie sonst im Einzelhandel übUnternehmer, Filmindustrie, Internet-TV: Gabor Steingart; für Rente (S. 30), Spionage, Einheit, Jugendliche, Verbrechen, Zeitgelich, in den Verbraucherpreis einkalkuliert. Salzgitter Ilka Prinzig-Heidler Apothekerin Dass ein Originalpräparat zunächst teurer sein muss als ein Nachahmer-Präparat, ergibt sich aus der Tatsache, dass der Hersteller auch die Entwicklung eines neuen Medikaments wieder einfahren muss – die geht nämlich leicht in die Millionen. Ist der Patentschutz nach einigen Jahren abgelaufen, 16 ULLSTEIN BILDERDIENST Unendlich viele wirkstoffgleiche schichte (S. 116), Betrüger, Fans, Chronik: Clemens Höges; für 100 Tage im Herbst: Jochen Bölsche; für Fernsehen (S. 158, 160), Zeitschriften, Zeitungen, Szene, Moral, Musik, Pop, Schauspieler, Bestseller, Kino, Filmgeschichte, Stars: Wolfgang Höbel; für Titelgeschichte: Dr. Dieter Wild; für Panorama Ausland, Justiz, Pakistan, Großbritannien, Tschetschenien, Indonesien, Frankreich, Reparationen, China, Russland, Spanien: Dr. Olaf Ihlau; für Prisma, Paläontologie, Rauchen, Computer, Medizin, Automobile: Olaf Stampf; für Unterhaltung, Fußball: Alfred Weinzierl; für die übrigen Beiträge: die Verfasser; für Briefe, Register, Hohlspiegel: Petra Kleinau; für Personalien, Rückspiegel: Gudrun Patricia Pott; für Titelbild: Thomas Bonnie; für Layout: Rainer Sennewald; für Hausmitteilung: Hans-Ulrich Stoldt; Chef vom Dienst: Thomas Schäfer (sämtlich Brandstwiete 19, 20457 Hamburg) TITELFOTO: Bayerische Staatsbibliothek/Presseillustrationen Heinrich R. Hoffmann d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Natürliche Folge von Coventry Wie eine ironische Spiegelung Nr. 41/1999, Zeitgeschichte: Generalprobe für die Bombardierung Berlins Mike Davis versucht, den Bombenkrieg gegen deutsche Arbeiterwohnquartiere als Reaktion auf die antisemitische Vergabepolitik der deutschen Arbeiterbewegung zu rechtfertigen. Diese Argumentation ist nicht nur in sich perfide, sondern auch sachlich falsch. Der Architekt Erich Mendelsohn erhielt den Auftrag, das Verwaltungsgebäude des sozialdemokratischen Deutschen Metallarbeiterverbandes an der Alten Jakobstraße in Berlin zu errichten. Der Bombenterror gegen deutsche Arbeiterwohnquartiere ist und bleibt ein strafwürdiges Kriegsverbrechen. Mendelsohns kriegerischer Dekonstruktivismus erscheint wie eine ironische Spiegelung der Bau- und Zerstörungswut bei Albert Speer. Kronberg im Taunus Dr. Gerhard Beier Wenn die U. S. Air Force die Zerstörung deutscher Städte in der Wüste von Utah probte, ist das nicht ungewöhnlich. Wenn Erich Mendelsohn als Deutscher die Mietskasernen dafür errichtet hat, macht das die Episode interessant. Eine Pointe bekommt Ihr Artikel aber erst dann, wenn man weiß, was nach der Emigration Mendelsohns aus dessen Architekturbüro geworden ist: Die Firma wurde von seinem Schüler Ernst Sagebiel weitergeführt, unter dessen Leitung das NS-Reichsluftfahrtministerium entstand. Dresden Tobias Gockel Die Bombardierung Berlins war keineswegs die Rache des Juden Erich Mendelsohn, sondern die natürliche Folge der Bombardierungen von Coventry, London, Belgrad, Warschau und Rotterdam. Düsseldorf Marta Valko Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit Anschrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen. Eine Teilauflage enthält einen Postkartenbeihefter der Firma Greenpeace, Hamburg. Einer Teilauflage ist eine Postkarte des Gruner & Jahr Verlages Bizz, Köln, beigeklebt. Einer Teilauflage liegen Beilagen der Firmen Humanitas Buchversand, Wiesbaden, VDI-Verlag, Düsseldorf, RM Buch und Medie, Rheda-Wiedenbrücken, Spiegel-Verlag/Abo, Hamburg, sowie die Verlegerbeilage Spiegel-Verlag/kulturSPIEGEL, Hamburg, bei. Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Deutschland P. GLASER Panorama Autobahnbau (bei Berlin) KOA L I T I O N Grüne Rache egen der Umweltpolitik steht die rot-grüne Koalition vor einer schweren Belastungsprobe. Kurz nach der von Kanzler Gerhard Schröder im Bundessicherheitsrat gegen Außenminister Joschka Fischer durchgesetzten Entscheidung, der Türkei zu Erprobungszwecken einen „Leopard-2“-Panzer zu liefern, meldet die Grünen-Fraktion Widerstand gegen das Verkehrsinvestitionsprogramm an. Es soll an diesem Mittwoch im Kabinett beschlossen werden. Bereits am Montag dieser Woche wollen die Vertreter der Grünen dem Kanzler in der Koalitionsrunde mitteilen, dass sie das Verkehrsprogramm, mit einem Aufwand von mehr als 60 Milliarden Mark bis 2002 immerhin der größte Investitionsposten der Bundesregierung, von der Tagesordnung der Kabinettssitzung streichen lassen wollen. Urenkel der RAF? D ie Sicherheitsbehörden prüfen, ob Linksextremisten den bewaffneten Kampf der Roten Armee Fraktion (RAF) wieder aufnehmen. Grund ist das Schreiben einer angeblichen „Aktionsgruppe horst ludwig meyer, respektive raf, 4. Generation“. In dem Brief, der vor 14 Tagen beim Bayerischen Rundfunk einging, drohen Unbekannte mit Anschlägen: „Kopenhagen war nur der Anfang.“ Dort war im September auf die österreichische Botschaft ein Brandanschlag verübt worden. Nach Einschätzung von Staatsschützern war die Tat eine Reaktion auf den Tod des ehemaligen RAF-Terroristen Horst Ludwig Meyer. Er wurde in Wien von der PoliErschossener RAF-Terrorist Meyer zei erschossen, seine Lebensgefährtin Andrea Klump festgenommen. Obwohl das aktuelle Schreiben mit dem RAFStern gekennzeichnet ist, glaubt das Bundeskriminalamt (BKA) nicht, dass die Absender Kontakt zu ehemaligen RAF-Kadern unterhalten. Der Brief unterscheide sich in Stil und Aufmachung zu sehr von früheren Schreiben. Auch habe die RAF nie nach Generationen unterschieden. Zumindest Anschläge auf Personen, urteilt das BKA, seien von dieser Gruppe nicht zu erwarten. SPD Generalsekretärin Ost O stdeutsche Sozialdemokraten fühlen sich von der SPD-Zentrale vernachlässigt. Der designierte Generalsekretär Franz Müntefering, klagt ein sächsischer Spitzengenosse, interessiere sich nur für die Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen, Hildebrandt nicht aber für die OstSPD. Um Ost-Kompetenz zu zeigen, schlägt der sächsische DGB-Chef und SPD-Landtagsabgeordnete Hanjo Lucassen vor, Brandenburgs ehemalige Sozialministerin Regine Hildebrandt zur Ost-Beauftragten der SPD zu machen, einer Art „Generalsekretärin Ost“. AP TERRORISMUS REUTERS W Wie schon der Panzerexport, meint die Grünen-Fraktion, würden auch die Planungen für Verkehr dem Koalitionsvertrag widersprechen. Danach sollen sich die Ausgaben für Straße und Schiene in den nächsten Jahren annähern. Nach dem Entwurf steigt die Differenz zu Gunsten der Straße dagegen von 1,7 Milliarden Mark (1999) auf 2,2 Milliarden (2002). Bliebe das unverändert, könne „die grüne Fraktion künftigen Haushaltsplänen nicht zustimmen“, sagt Albert Schmidt, Verkehrsexperte der Grünen. Ihr Haushaltsexperte Matthias Berninger will den „gravierenden Verstoß gegen die Koalitionsvereinbarung keinesfalls akzeptieren“. Schröder wird die Grünen kaum mit einer Rede besänftigen können, mit der er sich an diesem Montag auf der internationalen Klimakonferenz in Bonn als Ökokanzler präsentieren will. Der auch durch zunehmenden Autoverkehr verursachte CO2-Ausstoß ist nach dem Eingeständnis von Schröder in „vielen großen Ländern“ noch nicht so weit reduziert wie vereinbart. „Trotz weltweit gestiegenen Umweltbewusstseins“, so das Redemanuskript, „haben wir unsere Ziele noch nicht erreicht.“ 19 Panorama MEDIEN Kriegsschulung für Journalisten D PAPARAZZI ie Bundeswehr-Ausbildungsstätte in Hammelburg veranstaltet Mitte November erstmals einen Spezialkurs für Kriegsreporter. Ausgewählte Journalisten werden darauf vorbereitet, die Bundeswehr bei Einsätzen in Krisengebieten zu begleiten. Zwölf Plätze (Unkostenbeitrag: 100 Mark) stellt die Hardthöhe für die viertägige Schulung zur Verfügung. Die Journa- Bundeswehr-Training für Auslandseinsätze (in Hammelburg) listen sollen lernen, wie sie sich zu verhalten haben, wenn sie bedroht oder verletzt werden. So werden auch darum, den Medienleuten zu vermitteln, dass in befür die Presse- und Fernsehberichterstatter kritische Situatio- stimmten Ernstfällen die Erste Hilfe vor dem exklusiven Foto nen simuliert wie Granatenbeschuss, Kontrollen durch Milizen, stehen sollte. Ist die Resonanz positiv, will die Armee die ReHinterhalte und Unglücke mit Minen. Der Bundeswehr geht es porter-Schulung häufiger anbieten. Gesichtslose FDP Designer Wolfgang Joop, 54, über sein geplantes Engagement in der deutschen Politik SPIEGEL: Sie sitzen in Ihrer Wohnung in Monte Carlo und warten angeblich auf einen Anruf von FDP-Generalsekretär Guido Westerwelle, um in die FDP einzutreten? Joop: So schnell geht das nicht. Aber Westerwelle hat mich angerufen, wir treffen uns am Wochenende in Potsdam, und wir haben darüber gesprochen, wie ich der FDP helfen könnte. SPIEGEL: Wie könnten Sie denn? Joop: Politik braucht Köpfe, und ich habe einen. SPIEGEL: In der Hamburger FDP heißt es, Sie wären ein Glücksfall für die FDP, Sie könnten gute Kleider und Joop gute Parfüms machen. Reicht das für die Politik? Joop: Ich habe gute Verbindungen, und ich bin inzwischen ja beinahe mehr Manager als Modeschöpfer. Die FDP ist so gesichtslos geworden wie eine Modemarke, die am Boden liegt. Sie könnte von meiner kreativen Ader profitieren, und ich bin davon überzeugt, dass ich die Marke FDP vorantreiben könnte. SPIEGEL: Warum reizt Sie die FDP? 20 Joop: Weil Liberalität und Toleranz ihr eigentliches Programm sind. Und ich mache mir Sorgen um die politische Mitte, die von CDU und PDS zerdrückt wird. Bei den Grünen stören mich die Grabenkämpfe, allenfalls die SPD könnte mir auch gefallen. SPIEGEL: Käme für Sie eine FDP-Kandidatur für den Bundestag in Frage? Joop: Ja. Ich habe in meinem Leben gelernt, dass ich nichts mehr ausschließe. Aber vorher muss ich mich mit der FDP darüber verständigen. SPIEGEL: Sie leben in Monte Carlo und den USA. Wollen Sie ohne deutschen Wohnsitz kandidieren? Joop: Wenn ich Politik als wirkliches Lebensziel entdecken könnte und die FDP mir Perspektiven ermöglicht, würde ich nach Deutschland zurückkehren. Ich habe ein Verantwortungsgefühl gegenüber meinem Heimatland. SPIEGEL: Werden Sie der FDP-Spitze raten, etwas für ihr Outfit zu tun? Joop: Ganz sicher, wenn auch ungern und hinter verschlossenen Türen. Herrn Westerwelle würde eine andere Brille gut tun, auch dem Vorsitzenden Wolfgang Gerhardt könnte ich optisch helfen. Schicke Outfits haben sich ja auch Schröder und Fischer schnellstens zugelegt. Aber es muss in der Politik mehr um Inhalte als um Verpackung gehen. ACTION PRESS LIBERALE d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Zitat »Klar, dass der Politiker geworden ist, was hätte er denn sonst machen sollen?« Irene Gysi, 87, über die politische Karriere ihres Sohnes Gregor RECHT E-Mail ans Gericht B undesjustizministerin Hertha Däubler-Gmelin plant, elektronische Briefe als rechtswirksam zuzulassen. Derzeit liegt ein Referentenentwurf des Justizministeriums vor, wonach anstelle der eigenhändigen Unterschrift künftig eine digitale Signatur genügen soll. Bürger und Anwälte könnten damit bei Gericht auch mit digitalem Fax und E-Mail Klage einreichen oder Anträge stellen. Per elektronischem Briefwechsel ließen sich auch solche Verträge schließen, für die ein gesetzlicher Schriftzwang besteht. Ein entsprechender Gesetzentwurf soll nächstes Jahr in den Bundestag eingebracht werden. Bislang urteilen die höchsten Bundesgerichte unterschiedlich darüber, ob Klagen mit elektronischer Unterschrift zulässig sind. In Hamburg läuft dazu ein Modellversuch, allerdings nur für Prozesse am Finanzgericht und nur für Anwälte. Für schriftlich abzuschließende Verträge genügen E-Mails bisher nicht. Deutschland Offenes Geheimnis D ie Grünen wollen die Zinsbesteuerung verschärfen und dazu das Bankgeheimnis lockern. Mit Hilfe so genannter Kontrollmitteilungen könnten danach die Finanzämter künftig bei den Kreditinstituten in Erfahrung bringen, wie hoch die Zinserträge einzelner Steuerzahler sind. In einem internen Argumentationspapier der GrünenBundestagsfraktion heißt es, das Bankgeheimnis schütze „vor allem diejeni- HOCHSCHULEN Testlauf für Professoren A uch Professoren sollen sich in Zukunft erst bewähren müssen, bevor sie zu unkündbaren Beamten ernannt werden. Eine Expertenkommission zur „Reform des Hochschuldienstrechts“ will der Bildungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD) eine sechs Jahre währende „Juniorprofessur“ vorschlagen. In dieser Zeit soll die Qualifikation des Kandidaten für Forschung, Lehre und Verwaltung überprüft werden. Die 18-köpfige Kommission wird eine erste Evaluation der Anwärter nach drei Jahren empfehlen. Scheint der Bewerber unqualifiziert, solle ihm ein viertes ASYLPOLITIK Jahr zur „anderweitigen Orientierung“ bleiben. Nach Bestehen dieser Probezeit sollen die Professoren aber unbefristete Verträge erhalten, so der Kommissionsvorsitzende Hans Meyer, Präsident der Berliner Humboldt-Universität: „Die ProMeyer fessoren sollen sicher vor politischen Pressionen sein.“ Die Vorschläge der von Bulmahn berufenen Expertenrunde sollen im April nächsten Jahres vorgelegt werden und Grundlage für die Dienstrechtsreform der Regierung sein. Asylbewerber in der EU aufgenommen. Damit lag der Kanzler doppelt daneben: Laut einem Vermerk des Kanzleramts kamen zwischen Januar und September dieses Jahres 71 000 Asylbewerber nach Deutschland, in die EU seien insgesamt 180 000 eingereist, was einer deutschen Aufnahmequote von 39 Prozent entspricht. Diese Zahl muss noch nach unten korrigiert werden, weil die Bezugsgröße von EU-weit 180 000 Bewerbern die wahren Verhältnisse nicht wiedergibt. Während für die Bundesrepublik die Daten zwischen Januar und September vorliegen, stammen die Angaben der anderen EU-Länder nur aus den ersten Monaten dieses Jahres. Damit schrumpft die deutsche Quote nach Schätzung von Experten auf rund 30 Prozent. K. SCHÖNE / ZEITENSPIEGEL Schröders Zahlensalat gen, die Steuern hinterziehen“. Derzeit gibt es ähnliche Verfahren in Dänemark, Frankreich, Schweden und den USA, doch sind Bestrebungen der Europäischen Union, die Kontrollmitteilungen EU-weit einzuführen, bislang am Widerstand von Großbritannien und Luxemburg gescheitert. Die Briten fürchten um ihre Kundschaft am Londoner Eurobond-Markt, die Luxemburger um ihren Status als Steueroase. Sollten die EU-Pläne nicht wie geplant bis Jahresende umgesetzt werden, plädieren die Grünen dafür, „über nationale Maßnahmen nachzudenken“. P. GLASER ZINSEN Liberianische Asylbewerber (in Bayern) B undeskanzler Gerhard Schröder operiert auf europäischer Ebene mit übertriebenen Asylbewerberzahlen. Beim EU-Sondergipfel im finnischen Tampere wies er seine Kollegen darauf hin, die Bundesregierung habe allein in diesem Jahr schon fast die Hälfte aller d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 21 Panorama Deutschland WÄ H R U N G S U N I O N Am Rande Frühstart verlangt Das macht Spaß 22 I Sehbehinderte früher ausgeteilt würde. n Brüssel ist ein Streit um den StichDeutschland will das neue Geld tag zur Euro-Einführung entbrannt. erst kurz vor Silvester einführen, um Frankreich will die neuen Münzen und das Weihnachtsgeschäft nicht durch Scheine noch vor Weihnachten 2001 doppelte Bargeldhaltung zu erschweunters Volk bringen, offizieller Stichtag ren. Die Finanzminister wollen die Fraist der 1. Januar 2002. Die Verbraucher ge Anfang November entscheiden. sollten Gelegenheit haben, sich mit dem neuen Geld vertraut zu machen, bevor es zum gesetzlichen Zahlungsmittel wird. Auf dem Treffen der Finanzminister Mitte September im finnischen Turku setzten die Franzosen einen entsprechenden, allerdings noch vagen Beschluss durch. Damit würde die Übergangszeit verlängert, in der Landeswährung und Euro gleichzeitig gelten. Dagegen wehrt sich der Handel. Ihm wäre es am liebsten, wenn das neue Geld zur Gewöhnung nur an Blinde und EU-Zentralbank-Chef Duisenberg (r.) bei Euro-Feier FOTOS: DPA Wenn die Politik eine Kirmes wäre, welche Partei hätte dann wohl welche Attraktion im Angebot? Für die SPD ist das noch einfach: Sie betreibt die Boxbude – wer hier mitmacht, bezieht Prügel, er weiß nur noch nicht, ob von links oder von rechts. Auch die PDS ist ziemlich klar: Sie verkauft die Lebkuchenherzen, also Altbackenes mit zuckersüßen Lügen garniert: „Ich hab Dich lieb.“ Trotzdem läuft das Geschäft erstaunlich gut. Die Grünen managen eine Achterbahn, sind selbst erstaunt darüber, wie schnell es dort bergab geht, und wünschen sich die Zeit zurück, als sie noch das Kinderkarussell hatten. Die Geisterbahn gehört der CDU, und seit Pfarrer Hintze dort nicht mehr seinen diabolischen Scheitel präsentiert, trauen sich auch die Kunden wieder rein. Und für die FDP sitzt nun Parteichef Wolfgang Gerhardt an der Tür, redet von einem Kundenpotenzial von rund 20 Prozent und nuschelt routiniert ins Mikro: „Immer wieder zusteigen, ja, immer wieder dabei sein, es lohnt sich, das macht Spaß, hier kommt Freude auf, immer wieder zusteigen, immer wieder dabei sein.“ Die Leute wundern sich: Was redet der da? Hat dem Mann denn niemand gesagt, dass die FDP gar nicht mehr am Riesenrad dreht? Wieso merkt der nicht, welchem Laden er vorsteht? Ach, wenn die Politik eine Kirmes wäre, dann wäre die FDP der Saure-Gurken-Verkäufer. KANZLERAMT Schwarzer Kanal M ichael Naumann, Staatsminister für Kultur im Kanzleramt, ist einem Unterwanderungsversuch der CDU auf die Spur gekommen. Norbert Lammert, in der Unionsfraktion zuständig für Kultur und Medien, fordert unter dem Briefkopf der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Mitarbeiter der Naumann-Behörde mit CDU-Parteibuch auf, künftig mit ihm zusammenzuarbeiten. Der Machtverlust der Unionsparteien mache „einen engen Kontakt zwischen der Fraktion und den Unionsmitgliedern“ in Naumanns Amt „wünschenswert“. In Kürze sollen auf einem Treffen „Planungen“ für die künftige Lammert Zusammenarbeit verabredet werden, heißt es in dem Brief vom 7. Oktober. Naumann hält den Versuch, schwarze Kanäle in sein Amt zu legen, für „unanständig, das gehört sich nicht“. Er müsse nun fürchten, auf Mitarbeiter zu treffen, deren Loyalität auf die Probe gestellt werde. Die Unionsd e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 fraktion kann in dem Werbungsversuch nichts Unrechtes entdecken. Solche politische Lobbyarbeit sei „selbstverständlich und weit verbreitet“. Nachgefragt Zarte Annäherung? Wie sollten sich die großen Parteien gegenüber der PDS grundsätzlich verhalten? Anhänger der Gesamt West Ost SPD CDU/ CSU Sie sollten sie ignorieren. 32 38 9 29 44 Sie sollten in einzelnen Sachfragen 45 mit ihr zusammenarbeiten. Es spricht nichts gegen 15 eine Koalition mit der PDS. 43 50 55 40 11 30 12 10 Emnid-Umfrage für den SPIEGEL vom 19. und 20. Oktober; rund 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: keine Angabe Werbeseite Werbeseite Deutschland RENTE Kampf der Generationen Der geplante Vorruhestand mit 60 empört die Jungen in Gewerkschaften und Parteien. „Ein Konzept alter Männer für alte Männer“, so das Verdikt. Der Aufstand gegen die Luxusrente für Frühpensionäre heizt den Verteilungskampf Jung gegen Alt kräftig an. W schen Gesellschaft noch bevorsteht: ein Kampf der Generationen. Dass sich Arbeitsminister Walter Riester, allen Lippenbekenntnissen der vergangenen Monate zum Trotz, nun doch für den vorgezogenen Ruhestand stark macht, zeigt die Mutlosigkeit im Regierungslager. Noch immer wird ignoriert, dass der Generationenvertrag nicht mehr intakt ist. Noch immer steht eine Reform aus, die Generationengerechtigkeit verspricht. Über Partei- und Gewerkschaftsgrenzen hinweg formiert sich der Widerstand der Jungen gegen die Bevorzugung der Alten. M. URBAN enn IG-Metall-Chef Klaus Zwickel wissen will, was junge Metaller von einer Rente mit 60 halten, dann muss er nur auf die Internet-Seite seiner Gewerkschaft schauen. „Da fragt Ihr Euch noch, warum Euch die jungen Mitglieder weglaufen“, schimpft ein junger Gewerkschafter. „Ich sollte ernsthaft darüber nachdenken, ob ich nicht schon mal für meine private Rente spare und dazu den Mitgliedsbeitrag für die IG Metall verwende“, so ein anderer Teilnehmer der Chat-Runde. Der Vorstoß Zwickels, fünf Jahre lang einen Prozentpunkt der Lohnsteigerungen Kanzler Schröder, Arbeitsminister Riester: Rentenpolitik nach Stimmungslage abzuzweigen, damit 60-jährige Arbeitnehmer vorzeitig ohne Abstriche in Rente gehen können, bringt die junge Generation gegen die Alten auf. Verständnislos fragen sich die Nachwuchsmetaller, warum sie ausgerechnet für die „letzte Generation der Vollbeschäftigten“ Verzicht leisten sollen: „Es ist die reichste Generation, die jemals in Europa gelebt hat“, empört sich ein Berliner. Noch spielt sich der Aufstand der EMail-Generation gegen die Altvorderen im Virtuellen ab. Doch die Internet-Seiten der IG Metall nehmen vorweg, was der deut24 Die Verteilungskämpfe der Zukunft, davon sind Experten wie der Bonner Gesellschaftsforscher Meinhard Miegel überzeugt, werden zwischen den Generationen ausgetragen. Der Kampfbegriff von morgen heißt Generationengerechtigkeit. Zwei Fragen stehen im Zentrum der Debatte: Wie viele Lasten lassen sich die Jungen noch aufbürden? Wie lange können die Alten ihren Wohlstand noch genießen, ohne dass die Nachwachsenden auch ihnen ernstliche Opfer abverlangen? Noch scheint es so, als ob die Jungen auch das vorerst letzte Gefecht im Kampf der Generationen verloren haben – wieder d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 einmal. In der vorvergangenen Woche gab Arbeitsminister Riester der Rente mit 60 den regierungsamtlichen Segen. Dabei ist das Projekt ein typisches Geschäft zu Lasten Dritter. Es verpflichtet die Jungen, eine Luxusvariante des Vorruhestands mitzufinanzieren, von der heute schon sicher ist, dass sie selbst nie davon profitieren werden. Im Wirtschaftsleben gilt so etwas als sittenwidrig. Nicht so in der Rentenversicherung. Dort hält sich die Gesellschaft schon lange nicht mehr an die Geschäftsbedingungen. Der Generationenvertrag, wonach die arbeitende Generation die Alten unterhält und später selbst von den heutigen Kindern unterstützt wird, funktioniert nicht mehr. Immer weniger Junge müssen immer mehr Alte versorgen. Derzeit zahlen drei Beschäftigte das Ruhegeld für einen Rentner. In 30 Jahren wird auf jeden Beschäftigten fast ein Rentner kommen. Die Folge: Heutige Arbeitnehmer zahlen Rekordbeiträge, beziehen später selbst aber nur Minirenten. Arbeitsminister Riester wagte im Frühjahr immerhin einen ersten Schritt, auch die jetzige Rentnergeneration an der Konsolidierung des Systems zu beteiligen. In den beiden nächsten Jahren soll die Rente nicht mehr wie die Nettolöhne, sondern nur noch mit der Inflationsrate steigen. Von diesem Angriff auf den Besitzstand der Rentner hat sich die rot-grüne Regierungskoalition bis heute nicht erholt. Riesters Erfahrung zeigt: Es ist schwierig, sich gegen die mächtigen Alten durchzusetzen. Bei der letzten Bundestagswahl war fast jeder dritte Wähler über 60 Jahre. Kein Politiker glaubt dieser Klientel straflos Einschnitte zumuten zu können. Dabei trifft es keine Armen (siehe Seite 26). Der heutigen Rentnergeneration geht es so gut wie keiner anderen zuvor in der Geschichte Deutschlands. Ihr Berufsleben begann in den Wirtschaftswunderjahren, von Arbeitslosigkeit blieben die meisten verschont. Jahrzehntelang zahlten sie ununterbrochen ihre Sozialbeiträge, oft reichte es für eine zusätzliche Absicherung. Dem Alterssicherungsbericht der Bundesregierung von 1997 zufolge besteht praktisch keine Altersarmut mehr. Nur ein Prozent der Senioren, die außerhalb von Heimen wohnen, beziehen Sozialhilfe. Das Lebensabend gut gepolstert Altersgruppen und Vermögen in Deutschland 55 Jahre und älter unter 55 Jahre sind nur 28,8 % der Bevölkerung. Sie besitzen aber 44,8 % des gesamten Vermögens. 5730 Milliarden Bevölkerung. Jedoch besitzen sie nur 55,2% des gesamten Vermögens. 7050 Milliarden Mark WEST 33 200 374700 61400 476100 92 900 522200 92 400 510600 57 900 410 000 sind 71,2% der Bruttogeldvermögen * pro Haushalt in Mark Immobilienvermögen * pro Haushalt in Mark unter 35 Jahren 15900 35 bis 44 Jahre 25800 45 bis 54 Jahre 30500 55 bis 64 Jahre 65 oder mehr Jahre Kopf-an-Kopf-Rennen 2790 Durchschnittseinkommen der Arbeitnehmer ** in Mark 2710 2500 2270 2000 2110 OST Durchschnittseinkommen der Senioren** 247200 1500 Rentenempfänger und Pensionäre 271700 1000 248300 500 37300 208200 19700 149500 *Bezugsperson ist der jeweilige Haushaltsvorstand; Quelle: DIW, BBE ** Äquivalenzeinkommen (netto) 0 1991 92 93 94 95 96 97 1998 Bild der armen Oma mit einer Minirente Bemühungen fest. Wie zu Wirtschaftswun- Modell von alten Männern für alte Mänvon nur 900 Mark, das Gerhard Schröder derzeiten baut das Rentensystem noch heu- ner“, sagt Christel Riedel vom Deutschen im Bundestagswahlkampf 1998 beschwor, te auf Vollbeschäftigung. Jahr für Jahr stei- Frauenrat, „Frauen und junge Leute hagehört als Leitbild der politischen Debat- gen die Renten der Alten im Gleichschritt ben nichts davon.“ Erziehungszeiten und mit den Nettolöhnen. eine höhere Teilzeitquote bewirken, dass te längst ins Museum. So sollen die Ruheständler beteiligt wer- kaum eine Frau die notwendigen 35 VersiArmut in Deutschland ist vor allem ein Phänomen junger Leute. Mehr als eine Mil- den am Produktivitätsfortschritt in Wirt- cherungsjahre zusammenbringt, um in den lion Kinder und Jugendliche leben von So- schaft und Gesellschaft. Der Fehler dabei: Genuss des Modells zu kommen. Unter jungen Gewerkschaftsfunktionäzialhilfe, damit ist ein Drittel der Sozial- Während die Senioren wie selbstverständhilfebezieher unter 18 Jahre. Schuld daran lich vom Leistungszuwachs der Beschäftig- ren wird die Führung mittlerweile hart ranist nicht zuletzt auch der Staat. Schon bei ten profitieren, kostet der Produktivitäts- genommen. Michael Schrod, JugendseKleinverdienern greifen Sozialversiche- fortschritt junge, nicht so gut ausgebildete kretär des IG-Metall-Bezirks Küste: „Junge Arbeitnehmer, die ohnehin jede Mark rungen und Fiskus erbarmungslos zu. Die Arbeitnehmer den Job. Der Widerstand der Jungen gegen die umdrehen müssen, sollen in Tariffonds einRenten besteuert er dagegen kaum. Politikern ist diese Ungerechtigkeit seit Belastungen wächst, und am Beispiel der zahlen, werden aber nie von der FrührenJahrzehnten bekannt, genauso wie der Zu- Rente mit 60 wird er offenbar. „Das ist ein te profitieren.“ Parteiübergreifend fordert stand der Rentenversicherung. Geschehen ist nichts. Die rot-grüne Senke Dabei gehört die Misere des deutschen RentensysREN TE N N I V EAU 70,1 70,1 70,1 in Prozent des Nettodurchschnittslohns* tems zu den am besten 69,5 69,5 *bei Bruttostellung des Kindergeldes und 45 Beitragsjahren prognostizierten Katastro69,0 68,9 68,6 phen der Neuzeit. Seit 68,2 67,8 Ende der sechziger Jahre 67,7 67,3 der Pillenknick einsetzte, 67,2 67,2 67,0 66,7 werden Jahr für Jahr zu 66,4 66,4 wenig Babys geboren, um Blümsche Rente Nettolohnbezogene Rente mit Rot- grünes Modell Der demografische Faktor auch nur die Zahl der demografischem Faktor (derzeit geltendes Recht) entfällt, jedoch gibt es statt der Nettolohnanpassung Deutschen stabil zu halten 2000 und 2001 nur den Inflationsausgleich – die Gesellschaft altert. 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2010 2020 Immer wieder haben N E T TOSTAN DAR DR E N TE in Mark sich die Politiker aller Counach geltendem Recht leur an die Erneuerung der Alterssicherung gemacht. 1994 2040 2099 2145 2203 2257 2305 2633 3408 Alle fünf Jahre versprachen sie eine Jahrhundertnach dem rot-grünen Modell reform und stellten regel1994 2015 2620 Quelle: VDR 3445 2038 2080 2266 2212 2149 mäßig nach ein paar Jahren die Erfolglosigkeit ihrer d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 25 Deutschland Reiche Senioren Ökonomen kommen in Studien über die materielle Lage von Rentnern zu überraschenden Ergebnissen: Den Alten in Deutschland geht es so gut wie noch nie. 26 Westen. Und sicher gäbe es nach wie tel aber stammt aus anderen Quellen, vor noch arme Alte, räumt der Wissen- vor allem aus Kapitaleinkünften: 12,4 schaftler ein, „doch verliert ihre Zahl Prozent des Einkommens verdienen die Alten aus Zinserträgen oder Vermiean Bedeutung“. Wie des Kanzlers Mutter geht es im- tungen, 3,6 Prozent aus privaten Transmer weniger Alten in der Republik. fers wie Betriebsrenten. Hinzu kommt: Die Alten genießen Gerade noch 180 000 Rentner in Deutschland beziehen Sozialhilfe. „Es Privilegien, deren Wert kaum zu bezifsind nicht mehr die Älteren, die arm fern ist. Oft geben die Kommunen Sesind“, sagt Franz Ruland, Direktor des niorenpässe aus, die den Eintritt zu VerVerbandes Deutscher Rentenversiche- anstaltungen verbilligen. In Museen, rungsträger, „sondern vor allem Al- Theatern oder Schwimmbädern profitieren Rentner häufig von Rabatten, leinerziehende und Familien.“ Das Gros der Alten kann hingegen ohne Ansehen ihrer Bedürftigkeit. Längst hat die Wirtschaft die vermözufrieden sein und ist es auch. 91 Prozent der über 60-Jährigen bezeichnen genden Alten ins Visier genommen. ihre Lage als sehr gut bis zufrieden stel- Banken hätscheln ihre Kunden mit inlend, vor einer Generation waren es dividueller Anlageberatung. Und die Werbewirtschaft hat die reifere Genenur 71 Prozent. Über die Jahre haben die heutigen ration als Zielgruppe entdeckt. SchließSenioren Häuser gebaut, Firmen ge- lich können über 50-Jährige – nach gründet; sie haben Wohlstand ge- Abzug von Miete, Heizung, Kleidung schaffen und ihn gemehrt. Mit 5,7 Bil- und Nahrung – jeden Monat 15 Milliarlionen Mark besitzen sie inzwischen den Mark ausgeben. Der sonst so umeinen überproportional großen Teil schwärmten Gruppe der 14- bis 29-Jährides gesamten privaten Vermögens, den gen bleiben nur 6 Milliarden Mark. die Kölner BBE-Unternehmensberatung auf 12,8 Billionen Mark taxiert: 45 Prozent liegen in den Händen der über 55-Jährigen – obwohl sie nur 28,8 Prozent der Bevölkerung ausmachen. „Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“, so die BBE-Ökonomen, „waren so große Vermögen bei den Älteren akkumuliert.“ Vor allem ihr Besitz an Grundstücken, Wohnungen und Häusern hat die Senioren wohlhabend gemacht. Etwa die Hälfte der über 65-jährigen Westdeutschen besitzt ei- Rentner von heute: „Die reichste Generation, die jemals in ne Immobilie, ihr Wert beträgt Gert Wagner, einer der Wirtschaftslaut DIW-Rechnung im Schnitt 410 000 Mark. In Ostdeutschland verfügt im- professoren im Beraterteam von Armerhin jeder fünfte Rentner über ein beitsminister Walter Riester, wundert Haus oder eine Wohnung im Wert von sich schon seit längerem, dass der „arme Rentner“ noch in der politi149 000 Mark. Der gigantische Immobilienbesitz schen Diskussion dominiert. „Nie ist es zeigt, dass die gesetzliche Rente nicht einer Senioren-Generation so gut gemehr das einzige Instrument der Al- gangen wie der heutigen“, sagt er, tersvorsorge ist. 78,7 Prozent ihres Ein- „und mit großer Wahrscheinlichkommens beziehen Rentner zwar noch keit wird es auch keiner nach ihr so gut aus der Altersrente, mehr als ein Fünf- gehen.“ Alexander Jung TONY STONE I m Wahlkampf erinnerte sich Gerhard Schröder seiner kargen Herkunft. „Ein paar persönliche Erfahrungen“ habe er nicht vergessen, bekannte er gelegentlich und entsann sich, wie seine Mutter putzen gegangen war und fünf Kinder ohne Mann aufgezogen hatte. Dass Frauen wie sie heute nur winzige Renten bekämen, sei einfach „unanständig“, empörte sich der Kanzlerkandidat: „Wir müssen nicht immer alles abladen auf den schwächsten Schultern, die wir zur Verfügung haben.“ Die armen Alten. Gewöhnlich werden sie in einem Atemzug genannt mit Sozialhilfeempfängern und Arbeitslosen – der übliche Dreiklang der gesellschaftlich Benachteiligten. Ein Leben lang haben die 18 Millionen Rentner geschuftet und das Land aufgebaut. Heute gelten sie als notorische Opfer staatlicher Sparzwänge und bekommen immer weniger für ihre Lebensleistung. Die offiziellen Statistiken suggerieren eine Altersarmut, die es so kaum noch gibt. Nur knapp drei Prozent der Senioren sind allein stehende Rentnerinnen, die über weniger als 1000 Mark verfügen. Und Selbständige, die nur einige hundert Mark aus der Rentenkasse erhalten, weil sie fast nichts eingezahlt haben, stehen meist glänzend da: Ihre Rente speist sich aus Aktiengewinnen, Vermietungen und den Auszahlungen der Lebensversicherung. Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin kommt zu erstaunlichen Ergebnissen. Alter, so die DIW-Forscher, sei nicht mehr gleichbedeutend mit Armut. Im Gegenteil: Heute besteht kaum mehr ein Unterschied zwischen den Nettoeinkommen von Arbeitnehmern und von Rentnern. Inzwischen hat ein Seniorenhaushalt monatlich im Schnitt 2710 Mark zur Verfügung, das sind nur noch 80 Mark weniger als ein vergleichbarer Arbeitnehmerhaushalt. „Alles in allem“, so der DIW-Ökonom Klaus-Dietrich Bedau, „kann man die Lage der Seniorenhaushalte als günstig bezeichnen.“ Gewiss sei der Ostrentner längst nicht so wohlhabend wie der Senior im d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Trotz hoher Beitragssätze ... ... fällt die Rente vom Staat niedriger aus ... 20,3 % 20 19 18 17 16 15 14 Beispiel: Arbeitnehmer und Arbeitgeber zahlen seit 45 Jahren den monatlichen Höchstsatz in die gesetzli18,8 % 18,0 % che Rentenkasse ein, schrittweise heute 1658 Mark. Senkung bis Bei Renteneintritt 2002 1999 ergibt das für den Versicherten Arbeitgeber- und Arbeitneheine Rente von merbeitrag zur gesetzlichen Rentenversicherung in Prozent des Bruttoeinkommens monatlich 3752 Mark 80 Wären stattdessen die Beiträge in einem repräsentativen Aktienfonds angelegt worden, könnte derselbe Arbeitnehmer heute auf einen Kapitalstock von rund 1,7 Millionen Mark* zurückgreifen. *bei einer durchschnittlichen Rendite von 9 Prozent, die das Deutsche Aktieninstitut für die Jahre 1954 bis 1996 errechnet hat 90 99 2002 Mark allein aus der Rendite. Das Kapital wird nicht angetastet. 17000 Mark wenn zusätzlich zur Rendite das Kapital in den folgenden 15 Jahren aufgezehrt wird. sollten künftig in die Rentenversicherung zahlen. Ihr Ziel: das Rentensystem in der jetzigen Form zu zertrümmern. Auch wenn sich der Widerstand der Jungen zunehmend artikuliert, den politischen Diskurs um die Rente bestimmt noch immer das Klima der alten Bundesrepublik: die lang gehegte Wirtschaftswunderillusion, alles sei bezahlbar. Diese Stimmung haben die Sozialpolitiker aller Parteien selbst befördert. Als „soziale Schweinerei“ (Oskar Lafontaine) brandmarkte die SPD den zaghaften Versuch einer Reform der Kohl-Regierung. Mit dem Wahlsieg der rot-grünen Koalition wechselten die Rollen, nicht aber das Spiel. Konfrontiert mit der Realität und unter Bruch eines zentralen Wahlverspre- lismus zu punkten, wie der bayerische Staatskanzleichef Erwin Huber den „Willkürakt bei der Rente“ zu geißeln oder mit einer Unterschriftenaktion Wahlkampf gegen die Rentenreform zu machen. Doch auch das Regierungslager steht nicht gerade in Treue fest zu seinen eigenen Plänen. Nach der Serie von Niederlagen bei Landtagswahlen überlegten Experten aus Kanzleramt und Arbeitsministerium, wie vom „Handelsblatt“ veröffentlichte Unterlagen enthüllen, den Abschied vom Inflationsausgleich. Der Vorstoß der Beamten wurde, vorerst, von der politischen Leitung gestoppt. „Mit dem Rückzug wäre dem Konsolidierungspaket das Rückgrat gebrochen worden“, sagt der bündnisgrüne Oswald Metzger vom Haushaltsausschuss. Denn die Folgen einer solchen Operation sind unübersehbar: steigende Rentenbeiträge und eine höhere Beamtenbesoldung. Auch wenn Kanzler Schröder Kurs halten will, allein der Eindruck der vergangenen Wochen ist fatal: Der Rentenpolitik nach Kassenlage könnte jetzt eine nach Stimmungslage folgen. Verzweifelt werden nun Schuldige gesucht. „Ich finde es falsch, immer alles vor der Tür des Kanzlers abzuladen, was andere an Schwierigkeiten und Mist produzieren“, ließ SPD-Vize Rudolf Scharping wissen. Im Klartext: Schuld ist Riester. Die neuerliche Panne, die Schröder und seinen Minister nur eine Woche nach dem Beschluss zur Rente mit 60 schon wieder als unsichere Kantonisten dastehen ließ, ACTION PRESS die Jugend ihre Rechte ein. So attackiert Hildegard Müller, die Vorsitzende der Jungen Union, den Rentenkurs der CDU. Die öffentliche Debatte laufe „nur an den Interessen und Ängsten der Rentnergeneration entlang“. Die Jungpolitikerin stellt fest: „Immer mehr Pensionäre verlangen immer mehr.“ Carsten Schneider, 23-jähriger SPD-Abgeordneter aus Erfurt, hält die Idee einer Rente ab 60 für falsch: „Die Alten sind verunsichert, die Jungen sauer.“ Statt sich mit Vorruhestandsregelungen abzufinden, würde der jüngste Abgeordnete im Bundestag lieber über Altersteilzeitmodelle diskutieren. Da blocke das Arbeitsministerium. „Wir sind enttäuscht“, kritisiert auch Jörg Tremmel, Sprecher der Stiftung für monatlich monatlich 12 800 14,0 % 1960 70 . . . als eine Rente aus privater Altersvorsorge Europa gelebt hat“ die Rechte zukünftiger Generationen. Unterstützt vom Sozialrichter Jürgen Borchert, der „Zeit“-Herausgeberin Marion Gräfin Dönhoff und dem Naturwissenschaftler Ernst Ulrich von Weizsäcker, wirbt die Stiftung seit ihrer Gründung für eine behutsame Rentenreform. Jetzt allerdings ist es mit der Behutsamkeit vorbei. Tremmel und seine etwa 200 Mitglieder bereiten eine Klageschrift vor, die sie Anfang nächsten Jahres bei mehreren Sozialgerichten einreichen wollen. Ihre Forderung: Auch Beamte und Selbständige Alte von morgen: Hohe Beiträge, niedrige Renten chens macht sich nun die Schröder-Truppe daran, das System zu reformieren. Und als hätten sich die Rentenprobleme mit ihrem Wechsel in die Opposition in Luft aufgelöst, gibt sich neuerdings die CDU als Schutzmacht der Alten. Nur der sächsische CDU-Ministerpräsident Kurt Biedenkopf möchte nicht von seinen Einsichten lassen: „Wir müssen ein System einführen, das über Jahrzehnte verlässlich funktioniert“ (siehe Interview Seite 30). Die Union folgt ihm nicht. Zu verlockend ist die Aussicht, mit Rentenpopud e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 hat Riester viel Sympathie gekostet. „Das Maß ist langsam voll“, schimpft ein Vertrauter Schröders. Weil der Kanzler bis zum Parteitag Anfang Dezember Geschlossenheit herstellen will, scheint Riester sicher. Nach dem SPD-Konvent wird es turbulent für ihn. „Wann fliegt er?“, fragte „Bild“ am vergangenen Samstag. Als Nachfolger wird schon ein anderer Gewerkschafter gehandelt – Chemie-Chef Hubertus Schmoldt. Markus Dettmer, Alexander Neubacher, Christian Reiermann 27 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite S. DÖRING / PLUS 49 / VISUM Wahlsieger Biedenkopf (am 19. September im sächsischen Landtag): „Wir werden immer weniger und immer älter“ S P I E G E L - G E S P R ÄC H „Eine kopernikanische Wende“ Sachsens Ministerpräsident Kurt Biedenkopf (CDU) über den Reformstau der rot-grünen Bundesregierung, das Rentenchaos und die Vergreisung der Gesellschaft * Mit Jerry Sanders, Chef des Chipherstellers AMD, bei einer symbolischen Schlüsselübergabe am Mittwoch vergangener Woche in Dresden. 30 Fehler, genauso gravierend: Die Regierung hat versäumt, die voraussichtliche Entwicklung der nächsten fünf bis zehn Jahre vorzuzeichnen. Dabei wäre eine solche perspektivische Betrachtung ein Leichtes gewesen. Die Fakten sind doch allen bekannt, sowohl bei der Entwicklung der Bevölkerungszahlen als auch des Arbeitsmarktes. SPIEGEL: Vielleicht wollen die Leute nicht unbedingt akademische Ansätze? Biedenkopf: Deswegen hätte ich versucht, auf dieser Grundlage mit der deutschen Bevölkerung in ein Gespräch einzutreten über das, was wir nun gemeinsam tun müssen, um vor dem Hintergrund dieser mehr oder weniger unbeeinflussbaren Entwicklungslinien für das Land das Beste herauszuholen. Ich mache das seit 1990 im Mikrokosmos Sachsen. Und es funktioniert hervorragend. SPIEGEL: Womit konfrontieren Sie Ihre Wähler demnächst? Biedenkopf: An die Jahrtausendwende haben sich die Leute gewöhnt, aber vor uns liegt ein Paradigmenwechsel, das wird eine kopernikanische Wende, jedenfalls für den abendländischen Teil der Welt. Die Dramatik ist überhaupt noch nicht begriffen: Die Weltbevölkerung explodiert, aber der Teil, der durch die Aufklärung geprägt ist, der implodiert. Wir werden in Europa immer weniger und immer älter. Was dieser Prozess für die nächsten 30 Jahre bedeutet, wissen wir nicht. Für ein Land wie Ministerpräsident Biedenkopf*: „Know-how auftanken“ AP SPIEGEL: Herr Ministerpräsident, kaum ein Politiker genießt in den Umfragen ein so hohes Ansehen wie Sie. Machen Sie bessere PR als die Bundesregierung? Biedenkopf: Die Niederlagen, die die sozialdemokratische Partei in den letzten Wahlen erleiden musste, sind nicht das Ergebnis einer unzureichenden Vermittlung der rot-grünen Regierungsarbeit, wie es immer heißt. Sie sind auch nicht, was gern behauptet wird, die Folge des Sparkurses. Sie sind einzig und allein die Folge des Eindrucks, den die Regierung Schröder im ersten Jahr gemacht hat, einen Eindruck der Ziellosigkeit, Widersprüchlichkeit und Inkompetenz. SPIEGEL: Ein Kanzler Kurt Biedenkopf hätte alles besser gemacht? Biedenkopf: Ich bin nicht der Kanzler. Aber man hätte es anders machen können. Der erste Fehler war, soziale Wohltaten zu verteilen, ohne genau zu wissen, wie viel Geld in der Kasse ist. Der zweite d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Kommentar Der Kohl-König RUDOLF AUGSTEIN J a, es gibt ihn leibhaftig, den Kohlkönig. Jedes Jahr wird dieser Ehrentitel von der Stadt Oldenburg an den Spitzenpolitiker verliehen, der am meisten Grünkohl verdrücken kann. Königspflichten scheinen demnach mit einem hohen Amt nicht immer verbunden zu sein. Die Krönung des Ex-Kanzlers Helmut Kohl erfolgt nun erst, gewissermaßen posthum. In ganz Deutschland, und auch im Oldenburger Land, hört man es raunen: „Das hätte es unter Kanzler Kohl nicht gegeben!“ „Das hätte es unter Kaiser Wilhelm nicht gegeben“, steht uns aus Weimarer Zeiten noch vor Augen: Da spricht die Sehnsucht nach einem Gestern, das es gar nicht oder so nicht gegeben hat. Kohls Popularität steigt in dem Maße, wie die des neuen Kanzlers sinkt. Dies ist die wahre Krönung eines langen politischen Lebensweges. Die sonst eher negative Fülle seines Gewichts hat sich speziell auf Gerhard Schröder und seinen Nato-Minister Joschka Fischer erdrückend niedergeschlagen. Es waren nicht allein Kohls Taten oder auch Nicht-Taten, die Gerhard Schröder und dessen Versprechungen in einsame Gipfelzonen getragen haben. Da war auch ohne Zweifel eine gewisse Kohl-Müdigkeit, die Schröders und Fischers Parteien zu einem „Wahlsieg ohne Wahl“ emporhob. Den zu hohen Wahlsieg verdankt Schröder seiner die Wähler blendenden Rhetorik, mit der er gerade das ins Spiel brachte, wogegen auch heute noch kein Kohl und kein Kraut gewachsen ist: die Arbeitslosigkeit. Man mag das Wählertäuschung nennen, wie sie auch andernorts im Schwange ist. Aber der Täuschung darf nicht auf dem Fuße die Enttäuschung folgen. Die Besserwisser stehen auf dem Standpunkt, Kohl hätte seine letzte Legislaturperiode gar nicht erst antreten dürfen. Nie wollen sie den Menschen so nehmen, wie er ist. Einen Riesen wie Helmut Kohl, der mit Brachialgewalt gehindert werden muss, einem Eierwerfer an den Kragen zu gehen, kann man nicht beeinflussen, wenn er es „noch 32 d e r einmal wissen“ will. Seine letzte Niederlage steckte er genauso weg, wie er es noch bei jeder Niederlage getan hatte. So kam Schröder zu seinem RotGrün-Bündnis wie die Jungfrau zum Kind. Bescheiden schmunzelnd hielt Kohl sich zurück und gibt seinem Triumph keinen Ausdruck. Nun hat er noch seine Nachfolger ausgesessen. Hätten die Grünen ihre Rolle als Nicht- und Antipartei, die ihnen Stimmen einbrachte, allmählich ändern wollen, so hätte der Joschka Fischer, der er früher einmal war, Oppositionsführer werden müssen. Jetzt ist er ein Machtinhaber, im Ausland beliebt, in der eigenen Partei nur noch als Zerstörer tätig. Für die deutsche Presse trägt er Jeans und Pullover, das Ausland verwöhnt er mit Cerruti. Dem bodenständigen Kanzler Schröder hat er seine Intellektualität voraus, sie mindert aber seine Glaubwürdigkeit. Was die Grünen bisher zusammengehalten hat, war ein verschwommener Pazifismus, die MillenniumVersöhnungssehnsucht. Klar ist, die Grünen suchen ihr Profil durch eine angestrengte AtomkraftGegnerschaft zu schärfen, und Schröder kann es sich nicht mehr leisten, ihnen nur einen halben Schritt entgegenzukommen. Als SPD-Vorsitzender wirkt er nur noch makaber. Die Kohl nachgefolgte Bundesregierung ist weder rot noch grün, sondern ein Konglomerat aus kaum noch unterscheidbaren Absichten. Jeder Minister predigt seine eigene Richtlinie, die in den mittleren Rängen sofort vertauscht und verkungelt wird. Wie Schröder diesem Dilemma entrinnen kann, mit Türkenfreund Fischer und dem Waffenlieferanten Scharping im Boot, weiß niemand. Eines können demokratische Regierungen nicht, sie können die Höhe ihres Wahlsieges nicht künstlich verkleinern. Das Konzept hieß diesmal Schröder, der damit rechnete, in einer Großen Koalition mit der CDU/CSU als eine Art Präsident tätig zu werden. Wer Koch und wer Kellner ist, wäre nicht zu unterscheiden gewesen. König Kohl schmunzelt und raucht sein Pfeifchen. s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 S. DÖRING / PLUS 49 / VISUM IMO der Tagespolitik entzogen ist. Deswegen will ich eine steuerfinanzierte Bürgerrente – man könnte es auch Grundsicherung nennen, die an das Volkseinkommen gekoppelt ist und über deren Einführung und Veränderung mit Zweidrittelmehrheit beschlossen werden muss. An deren Finanzierung wären alle beteiligt, über die Lohn-, die Einkommensteuern und indirekten Steuern, selbständige Unternehmer genauso wie Beamte, Angestellte und Arbeiter. Dazu wird es auch kommen. SPIEGEL: Wann? In zwei Legislaturperioden? Biedenkopf: Zu spät. Dann wird passieren, was Riester selbst sagt: Die Wirklichkeit zerfrisst das System, es werden teure Ad-hocEntscheidungen gefällt, und die sprengen die Solidarität. Hätten wir 1985 begonnen, wären wir über das Gröbste weg. SPIEGEL: Wird Ihr Rat von Schröder eher angefragt als von HelGesprächspartner Wolfgang Schäuble (CDU), Gregor Gysi (PDS)*: „Nur Illusionen“ mut Kohl? Deutschland ist es von existenzieller Be- Biedenkopf: Bei diesem dicken Brett sieht Biedenkopf: Wenn ich wirklich um Rat gedeutung, sich damit zu befassen. Aber es man den Bohrer immerhin schon auf der fragt werde, ist das kein Gegenstand der öfgeschieht nicht. anderen Seite durchstoßen. Neulich habe fentlichen Debatte, auch kein Gegenstand SPIEGEL: Was schlagen Sie vor? ich Bundesarbeitsminister Walter Riester der öffentlichen Mitteilung. Biedenkopf: Es ist zu früh für Rezepte. Aber vorgeschlagen, einfach nur die abseh- SPIEGEL: Aber das Verhältnis zu Gerhard klar ist, dass wir beispielsweise einen bare Entwicklung der nächsten 30 Jahre Schröder ist entspannter als zu Kohl? Wettbewerb um die jungen Leute bekom- zu skizzieren und auf dieser Basis ein Biedenkopf: Wie Sie wissen, waren wir acht men werden. In einem freizügigen Europa Konzept zu entwickeln, das Familien Jahre lang Kollegen als Ministerpräsidenwird der Nachwuchs künftig dorthin nicht diskriminiert und Altersarmut ver- ten. 1996 haben wir gemeinsam ein Pagehen, wo die besten Universitäten, die meidet. pier zur Flexibilisierung auf dem Arbeitsbeste Ausbildung angeboten werden. Ich SPIEGEL: Und da ist Riester auf die obliga- markt verfasst. Solche Gemeinsamkeiten kann doch keinen zwingen, in Sachsen torische Vorsorge gekommen, selbst finan- vergisst man nicht. Das hindert mich aber zu bleiben. überhaupt nicht daran, inhaltliche Entziert, doch steuervergünstigt. SPIEGEL: Wie bereiten Sie sich auf diesen Biedenkopf: Aber so wird die Sache immer scheidungen scharf zu kritisieren oder Wettbewerb vor? verworrener: Was machen Sie mit Leuten, gutzuheißen – je nachdem, wie das im Biedenkopf: Wir haben keinerlei Erfahrun- die schon Vermögen haben, was mit Leu- Interesse Sachsens und nach meinen eigen mit einer Jugend, die in der Minderheit ten, die fünf Kinder großgezogen haben – genen Vorstellungen von der Zukunft ist. In 40 Jahren machen die Menschen un- das geht doch alles nicht. Wir müssen ein Deutschlands geboten ist. Ich kann es gar ter 20 Jahren noch 15 Prozent der Bevöl- System einführen, das über Jahrzehnte ver- nicht oft genug betonen: Erst das Land, kerung aus – ob von ihnen dann noch der lässlich funktioniert und dem Hin und Her dann die Partei. gewohnte Innovationsdruck SPIEGEL: Das lassen Sie Ihre ausgeht, ist schwer zu sagen. Parteifreunde bei der DisDeswegen wollen wir an den kussion um das Abstimsächsischen Universitäten mungsverhalten im BundesAufbaustudien für 45-Jährige rat zu Sparpaket und Renanbieten, die dort Know-how tenreform gerade wieder auftanken. Also: Gibt es nicht spüren. Sprengt der Querdenmehr genug Junge, verjüngen ker Biedenkopf die Unionswir die Älteren. reihen? SPIEGEL: Vor über 20 Jahren Biedenkopf: Ich bin seit mehr haben Sie erstmals die steuals 30 Jahren in der CDU. Ich erfinanzierte Grundrente vorhabe keinen Nachholbedarf in geschlagen. Quält Sie Ihre Sachen Parteiloyalität. Nur Rolle als Prophet nicht? wenn Loyalität von mir gefordert wird in einer Sache, die ich nach reiflicher Überlegung * Oben: mit dem Grünen Joschka Fischer (r.) am Rande einer WDR-Fernfür falsch halte, werde ich das sehdiskussion am 28. September; unnicht machen. ten: mit den Redakteuren Andreas WasSPIEGEL: Sie stimmen dem sermann und Hajo Schumacher in der Sparpaket zu? Biedenkopf beim SPIEGEL-Gespräch*: „Erst das Land, dann die Partei“ Dresdner Staatskanzlei. d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 33 Deutschland Biedenkopf: Dem Anliegen durchaus, aber dem Paket nicht in allen Teilen. Es gibt noch eine Menge Fragen, über die wir im Vermittlungsausschuss noch reden müssen, bevor wir über Zustimmung und Ablehnung entscheiden können. SPIEGEL: Sehen Sie das Bündnis für Arbeit als Ort, von dem aus die großen Reformen angeschoben werden? Biedenkopf: Wenn es ein wirkliches Bündnis für Arbeit wäre, wie es das in Holland und Dänemark gegeben hat, sicher. Aber „In Wirklichkeit bietet die PDS den alten Handel an: Sicherheit gegen Freiheit“ wir haben kein Bündnis für Arbeit. Wenn es ein Bündnis wäre, würden die Partner sich nicht in regelmäßigen Abständen gegenseitig androhen, dass sie aussteigen, wenn sie nicht ihren Willen bekommen. Ein „Fingerhakeln für Arbeit“ kann man das höchstens nennen, und die Vorstellung Beteiligter, dass dort Gesetze beschlossen würden, ist schlicht verfassungswidrig. SPIEGEL: Wird der Druck von links, der durch die Erfolge der PDS entstanden ist, der rot-grünen Regierung Beine machen? Biedenkopf: Ich glaube nicht, dass die PDSWähler in ihrer Mehrheit der Partei zutrauen, sie könne Zukunftsprobleme bewältigen. In Wirklichkeit bietet die PDS den alten Handel an: Sicherheit gegen Freiheit. SPIEGEL: Das scheint bei immer mehr Ostdeutschen anzukommen. Ein Fünftel bis ein Viertel gaben der PDS bei den Landtagswahlen ihre Stimme. War es ein Trugschluss zu denken, die PDS sei ein vorübergehendes Phänomen? Biedenkopf: Sicher, wir müssen heute erkennen, dass die PDS ein fester Bestandteil des ostdeutschen Parteiengefüges ist. Eine Gefahr für die demokratische Entwicklung in den neuen Ländern kann ich darin allerdings nicht sehen. Die PDS wird in freien und geheimen Wahlen gewählt, das ist Ausdruck eines demokratischen Prozesses. Dass Menschen PDS wählen, ist ihr gutes Recht. Und wir sollten nicht vergessen: Wäre Deutschland nicht geteilt worden, hätten wir wahrscheinlich wie in Frankreich und Italien seit Jahrzehnten eine kommunistische Partei in den Parlamenten. Eine Ächtung der PDS ist politisch nicht zielführend, wir müssen uns mit ihren Inhalten auseinander setzen. Genau das machen wir in Sachsen schon seit Jahren. SPIEGEL: Die SPD will die PDS über Regierungsbeteiligungen entzaubern. Biedenkopf: Die PDS ist nicht koalitionsfähig. Entzaubern lässt sich die Partei auch in der inhaltlichen Auseinandersetzung. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen: Der PDSVorsitzende Lothar Bisky ist gefragt worden, wie er sich denn die Finanzierung all 34 dessen vorstelle, was die PDS den Leuten verspricht. Darauf hat er die Antwort verweigert und so ungefähr gesagt, er dächte nicht daran, sich auf so eine Debatte einzulassen. Das muss man den PDS-Wählern klarmachen: Die Partei vermittelt nur Illusionen und hat keine Konzepte. SPIEGEL: Wann könnte die PDS eine normale Partei sein, die koalitionsfähig ist? Biedenkopf: Wenn es überhaupt dazu kommt, wird es lange dauern, und die PDS wird sich tiefgreifend ändern müssen, quasi sozialdemokratisieren. Während meiner politischen Laufbahn werde ich das wohl nicht mehr erleben. SPIEGEL: Wird es dann auch noch die kleinen Parteien FDP und Grüne geben? Biedenkopf: Die FDP ist zu einer Partei der Public Relations geworden. Das hat keinen Bestand. Dass sie im Osten nicht gewählt wird, liegt daran, dass sie nichts beitragen kann. Welcher wirklichen Probleme bemächtigt sich diese Partei denn auch, außer der Frage, wie sie sich besser profilieren kann? Wenn es eine Partei der Beliebigkeit gibt, dann ist es die heutige FDP. Und Generalsekretär Guido Westerwelle ist ein hervorragender Repräsentant dieser neuen Richtung. SPIEGEL: Des Nichts? Biedenkopf: Na ja, PR ist ja auch etwas. Aber wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, wie die traditionsreiche und „Wenn es eine Partei der Beliebigkeit gibt, dann ist es die heutige FDP“ historisch verdienstvolle Partei auf den Hund gekommen ist, dann hat ihn Wolfgang Joop geliefert. SPIEGEL: Indem sich der Modeschöpfer der FDP als Kandidat andiente? Biedenkopf: Genau, und dass die Liberalen darüber ernsthaft nachdachten. Das ist die Wirklichkeit der heutigen FDP, einfach belanglos. SPIEGEL: Und die Grünen? Biedenkopf: Das ist kein Vergleich zur FDP. Die Ernsthaftigkeit der Mitglieder ist viel größer. Auch die Bindung zur Partei. SPIEGEL: Also ein möglicher Koalitionspartner für die CDU? Biedenkopf: Das muss man in jedem Einzelfall genau betrachten. Ein Problem der Grünen ist, dass sie eine hochgradig individualisierte Mitgliederschaft haben, die in jedem Problem ein Grundsatzproblem sieht, also große Schwierigkeiten hat, die grundsätzlichen Fragen von den politischen Tagesfragen zu unterscheiden. In Koalitionen aber braucht man Verlässlichkeit. Wie das mit einer Partei möglich sein soll, die sich darüber streitet, ob sie einen oder zwei Vorsitzende haben will, das vermag ich momentan nicht zu beurteilen. SPIEGEL: Herr Ministerpräsident, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite S. SCHULZ / RETRO „Leopard“-Panzer bei Gefechtsübung: Ein Jahr zum Testen REGIERUNG Tanz um den Panzer Erstmals hat sich Kanzler Gerhard Schröder ausdrücklich über den Willen seines grünen Partners Joschka Fischer hinweggesetzt. Die Panzerlieferung an die Türkei kann zur rot-grünen Zerreißprobe werden – zumal eine lange Warteliste problematischer Waffenexporte ansteht. D er Verteidigungsminister nahm sich ordentlich Zeit. Anderthalb Stunden durften am vergangenen Donnerstag ein Dutzend Betriebsräte bei Rudolf Scharping (SPD) und seinem Rüstungsstaatssekretär Walther Stützle in der Berliner Julius-Leber-Kaserne die Sorgen der deutschen Waffenfirmen vortragen. Bis zu 20 000 Arbeitsplätze könne der Sparkurs bei der Bundeswehr kosten, die „Rahmenbedingungen“ für die Industrie seien denkbar schlecht. Doch tatsächlich haben die Betriebsräte aus den Rüstungskonzernen keinen Grund zur Klage. Ihre Befürchtung, dass unter Rot-Grün das profitable Exportgeschäft Schaden nehme, bewahrheitet sich nicht. Der Bundessicherheitsrat, eine geheime Runde von Kabinettsmitgliedern unter Vorsitz des Kanzlers, entschied vergangenen Mittwoch, dass die Türkei einen „Leopard 2A5“-Panzer zu Testzwecken erhält. Wenn der Nato-Partner Gefallen daran findet, will er 1000 weitere bestellen. Ein glänzendes Geschäft für die deutsche Rüstungsindustrie – und eine Belastungsprobe für die Koalition. Erstmals musste sich Außenminister Joschka Fischer in einer entscheidenden 36 Die Verkaufskanone Absatz von „Leopard 2“-Panzern seit 1979 Deutschland 1857 350 werden zum Leo 2A5 aufgerüstet Schweiz 380 Aufrüstung zum Leo 2A5 nach 2000 Niederlande 331 Aufrüstung zum Leo 2A5 Spanien 327 219 werden in Lizenz gebaut Schweden 280 120 als aufgerüstete Leo 2 (S) 114 Österreich Quelle: Jane’s Frage dem Kanzler fügen. Ausgerechnet die rot-grüne Regierung legt die Richtlinien für den Export von Kriegsgerät großzügiger aus als ihre Vorgänger. Unter den Grünen grassieren Angst und Wut über den Beschluss im Sicherheitsrat. Was ist eigentlich noch grün an dieser Regierung? d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Fischer warnte Schröder eindringlich, keine neue Front zu eröffnen, er äußerte Zweifel „dass das zu stemmen ist“. Eine Mehrheit in der Koalition, sagt Fischer voraus, sei für das Türkei-Geschäft nicht zu erwarten, da es genug Gegenstimmen auch in der SPD gebe. Entwicklungshilfeministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul hatte im Bundessicherheitsrat auf jene 100 Millionen Mark Hilfe verwiesen, die Deutschland jährlich an Ankara überweist. Fischer kritisierte den türkischen Umgang mit den Menschenrechten. Verteidigungsminister Scharping, vergangenen Mittwoch durch seinen Staatssekretär vertreten, und Wirtschaftsminister Werner Müller führten dagegen die Arbeitsplätze in Rüstungsindustrie und Mittelstand ins Feld. Müller mochte zudem „kein Problem erkennen, wenn man ein Gerät zur Erprobung vorübergehend stationiert“. Doch dann gab die Kanzlerstimme den Ausschlag.Vergeblich hatte zuvor der SPDFraktionsvize Gernot Erler versucht, Schröder von seinem Plan abzubringen. Er sehe „große Probleme“, erklärte Erler dem Regierungschef, „wenn du das machst“. Nur widerwillig ließ sich der Kanzler zu einem Kompromiss herab: Ursprünglich Deutschland Militär baut traditionell auf deutsche Hilfe. Seit 1964 verkaufte die Bundesrepublik dem Nato-Partner Rüstungsgüter für weit mehr als sieben Milliarden Mark – von der Fregatte bis zum „Phantom“-Kampfjet. Nach der Wiedervereinigung räumte Ankara kostenlos Riesenmengen aus dem Bestand der Nationalen Volksarmee ab: 300 BTR-60 Schützenpanzer, 100 000 Panzerfäuste, 256 000 Kalaschnikows nebst 445 Millionen Schuss Munition. So steht die nach Zahl der Soldaten zweitgrößte Nato-Streitmacht überwiegend unter deutschen Waffen. Mehr als die Hälfte der Artillerie stammt aus deutscher Produktion, zudem viele leichte Waffen. Das G3-Sturmgewehr wird ebenso in Lizenz produziert wie die MP 5 aus dem Hause Heckler & Koch. Immer noch boomt das Geschäft: Allein 1998 wurden der Rüstungsindustrie Ausfuhrgenehmigungen für die Türkei in Höhe von 449,2 Millionen Mark genehmigt. Zudem hat das Heer seit 1988 bereits 397 Leopard-Panzer der alten Bauart 1A1 und 1A3 in Betrieb. Tausende Panzerfahrer sind auf den Modellen geschult worden. Dazu erhielten die Türken Anlagen zur Instandsetzung, so dass sie beim späteren Bau des Leopard-2A5 auf die Maschinen und das Know-how zurückgreifen könnten. In Fischers Außenamt glaubt man nicht einmal an den langfristigen wirtschaftlichen Nutzen der Rüstungsexporte. Der massive Wunsch nach deutschen Waffen und Lizenzen – ursprünglich 3000 Panzer – dient nach Einschätzung des Außenminis- teriums eher dem Aufbau einer eigenen Rüstungsproduktion. Die vielen neuen Arbeitsplätze, die die Industrie verspricht, seien nicht realistisch. Sollten die Vertragsverhandlungen wirklich beginnen, werde die Koproduktion und der Weiterverkauf an die turkmenischen Nachbarn sich bald schon als das zentrale Problem herausstellen, so die Analyse des Außenamtes. Für die unruhige Ex-Provinz der Sowjetunion gilt jedenfalls nicht die Ausrede, es handle sich um einen NatoPartner. Doch auch mit guten Argumenten konnte sich Fischer im Waffen-Konsilium der Regierung nicht durchsetzen. Für sein heimlich erhofftes Image als größter Außenminister seit Hans-Dietrich Genscher ist das nicht gerade förderlich. Der hatte sich in seinen 18 Jahren als Außenminister im Bundessicherheitsrat nie überstimmen lassen: „Weder Helmut Schmidt noch Helmut Kohl hätte das gewagt.“ Zweimal verhinderte Genscher den Export des Leo nach Saudi-Arabien. Kanzler Schmidt musste eine Zusage zurücknehmen, die er voreilig ohne Wissen seines Vize abgegeben hatte, seinen Kanzler Kohl warnte Genscher rechtzeitig: „Sei vorsichtig. Schmidt hat Lehrgeld bezahlen müssen.“ Den Türken verweigerte Genscher die Lieferung von Schützenpanzern. Aber, bedauert er, „die Sensibilität ist abgestumpft“. Diese böse Ahnung plagt auch Fischers Parteifreunde. Nunmehr verlangen auch die Grünen Einstimmigkeit im Sicherheitsgremium für künftige Beschlüsse. „Um eine ARIS hatte er dem 1000-Panzer-Deal sofort zustimmen wollen. Nun soll nach etwa einem Jahr Probefahrt die endgültige Entscheidung fallen. Der Leopard und seine Konkurrenten aus Frankreich, den USA, Italien und der Ukraine werden jetzt auf einem für eine Million Dollar eigens errichteten Testgelände unter verschiedenen Gelände- und Klimabedingungen ausprobiert. Für die deutschen Zweifel haben die Türken wenig Verständnis. „Die anderen bringen sich gegenseitig um, damit sie uns ihren Panzer verkaufen können“, sagt Yalçin Burçak, Staatssekretär für die Rüstungsindustrie im türkischen Verteidigungsministerium. Wieder einmal zeigt sich, dass Schröder lieber den Interessen der Wirtschaft als den Wünschen des Koalitionspartners und auch Teilen seiner Partei folgt: wie schon bei seinem Kurs zur Steuer- und Sozialpolitik und beim Atomausstieg. „Die Jobs sind das Einzige, was den Kanzler an dem Thema interessiert“, ärgert sich ein Spitzenmann der SPD-Bundestagsfraktion: Nach Angaben der Rüstungsindustrie soll das Kriegsgerät 6000 Menschen zehn Jahre lang Arbeit geben. Im Windschatten der Panzer-Entscheidung – und ohne lästige Nebengeräusche – genehmigte der Sicherheitsrat gleich noch die Lieferung von sechs Minensuchbooten im Wert von 1,15 Milliarden Mark an die Türkei. Arbeitsplätze sichert das im Schröder-Land Niedersachsen und in Bremen. Über Lieferungen an Ankara wird es wohl noch öfter Streit geben. Das türkische Koalitionspartner Fischer, Scharping, Schröder: Die Kanzlerstimme gab den Ausschlag d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 37 Deutschland „Grundsätze achten“ Umweltminister Jürgen Trittin über die Koalitionskrise wegen des Panzerexports in die Türkei SPIEGEL: Herr Trittin, das Ver- M. URBAN bot von Rüstungsexporten ist ein urgrüner Wunsch. Wie wollen Sie Ihren Parteifreunden den geplanten Panzer-Deal mit der Türkei denn nun plausibel machen? Trittin: Das lässt sich gar nicht plausibel erklären. Das Problem liegt in der Abstimmung im Bundessicherheitsrat. Der Koalitionsvertrag sieht vor, dass bei Rüstungsentscheidungen die Menschenrechtsfrage zu berücksichtigen ist. Und es ist vereinbart, dass in Fragen von grundsätzlicher Bedeutung die beiden Partner sich nicht gegenseitig überstimmen. SPIEGEL: Im Bundessicherheitsrat aber wurde der grüne Außenminister Joschka Fischer Minister Trittin überstimmt. Ein Verstoß gegen „An Menschenrechten orientieren“ die Grundsätze? Trittin: Die Vereinbarung ist eindeutig. SPIEGEL: Bislang hat der BundessicherDie Einhaltung der Menschenrechte heitsrat lediglich den Export eines bei Rüstungsexporten ist ein Fall von Probe-Leo-2 genehmigt. Gleichwohl grundsätzlicher Bedeutung. eine Vorentscheidung, denn die Türkei SPIEGEL: Was können die Grünen jetzt möchte ja 1000 Panzer kaufen? noch unternehmen? Trittin: Wenn Sie einen Vorführwagen Trittin: Am Montag dieser Woche wer- fahren, sind Sie nicht verpflichtet, das den wir das Thema in der Koalitions- Gerät abzunehmen. Umgekehrt gilt alrunde beim Kanzler auf die Tagesord- lerdings: Wer einen Wagen zur Probenung setzen, sowohl dem Inhalt als fahrt anbietet, will ihn auch verkaufen. Im Falle der Panzer aber kann erst verauch der Form nach. SPIEGEL: Der Kanzler argumentiert, kauft werden, wenn die Frage der Mendass dem Nato-Partner Türkei nicht schenrechte geklärt ist. einfach Waffen verweigert werden SPIEGEL: Dass die Menschenrechte in könnten. Die Türkei sei schließlich so- der Türkei verletzt werden, ist auch gar Beitrittskandidat für die Europäi- dem jüngsten Lagebericht des Auswärsche Union. tigen Amtes zu entnehmen. Rechnen Trittin: Nur unter einer Bedingung, und Sie in absehbarer Zeit mit Besserung? darüber herrscht Konsens in Europa, Trittin: Ich erwarte, dass die Türkei auf kann die Türkei der EU beitreten: dem Weg nach Europa die BedingunSie muss künftig die Menschenrechte gen erfüllt, die innerhalb der EU gelten. achten, insbesondere den Krieg gegen Das gilt nicht nur für den Krieg gegen die eigene Bevölkerung in Kurdistan die Kurden, sondern zum Beispiel auch für die Haftbedingungen in den Gebeenden. SPIEGEL: Die Türkei gehört jetzt schon fängnissen. Dort wird immer noch gefoltert. Die Türkei muss rechtsstaatliche der Nato an. Trittin: Auch die Nato ist nach ihren Grundsätze achten. Statuten den Menschenrechten ver- SPIEGEL: Wird das 1000-Panzer-Projekt pflichtet. Man kann nicht in Anspruch am Ende nicht genehmigt? nehmen, zur Wahrung der Menschen- Trittin: Wir gehen davon aus, dass die rechte im Kosovo Krieg zu führen, Außen- und Sicherheitspolitik der Bunund Menschenrechtsverletzungen in desrepublik sich am Prinzip der Wahder Türkei mit Panzerlieferungen be- rung der Menschenrechte orientiert. lohnen. Interview: Paul Lersch 38 d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 K. MÜLLER schleichende Erosion zu verhindern“, sei die Partei „kategorisch gegen solche Geschäfte“, erklärt Renate Künast, aussichtsreiche Kandidatin für eine neue GrünenFührung. Wer Krieg um die Menschenrechte führe, sagt sie an die Adresse des Außenministers, müsse „diesen Werten auch an anderer Stelle Vorrang einräumen“. Dazu ist hinreichend Gelegenheit. Denn demnächst hat der Bundessicherheitsrat noch über diverse Wünsche der Türkei und anderer Staaten zu entscheiden. π Die Türkei wünscht 200 „Fuchs“-Transportpanzer und dazu die Lizenz für 1800 Exemplare, 145 „Tiger“-Helikopter sowie Granatwerfer, Gewehre und Munition. π Saudi-Arabien hat das Interesse am Leo nicht aufgegeben. Ex-Außenminister Klaus Kinkel hatte es im vergangenen Jahr abgelehnt, „eine Entscheidung von solcher Tragweite“ noch kurz vor der Bundestagswahl zu treffen. π 30 ausgemusterte Alpha-Jets hat das Verteidigungsministerium den Vereinigten Arabischen Emiraten und 25 den Thailändern angeboten. Für die Koalitionsrunde an diesem Montag hat der kleine Partner eine verschärfte Fassung der Exportrichtlinien vorbereitet. Zudem soll die parlamentarische Kontrolle sichergestellt werden, damit die Mauscheleien aufhören. Der Kanzler werde „nie erleben“, hofft die grüne Verteidigungsexpertin Angelika Beer zuversichtlich „dass die Panzer rollen“. Die Grünen wollen dem Koalitionspartner erstmals richtig Paroli bieten. Die Parteispitze will gegen die Panzerlieferungen „gesellschaftliche Gruppen und Instanzen mobilisieren“. „Jetzt“, kündigt ein Vertrauter von Fischer an, „beginnt der Tanz.“ Bundeswehreinsatz im Kosovo Kampf um Menschenrechte Das Kanzleramt aber setzt weiterhin großes Vertrauen in die Anpassungsfähigkeit des Außenministers: „Fischer hat seine Klientel“, so ein Spitzenbeamter. „Aber“, fügt er bissig hinzu, „manche wollen eben gern überstimmt werden.“ Horand Knaup, Paul Lersch, Georg Mascolo d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 PROFESSOREN Und noch ’ne Akte Kurz nach dem Start kommt der Uni Erfurt ihr Gründungsrektor abhanden. Peter Glotz geht nach St. Gallen – entnervt von der thüringischen Bürokratie. FOTOS: H. HAUSWALD / OSTKREUZ D a stand er mit goldener Amtskette und zufriedenem Lächeln, blickte auf die versammelten jungen Menschen im Festsaal, und die schauten erwartungsvoll zu ihrem Rektor hin. Von der „beschleunigten Welt“ und der „digitalen Gesellschaft“ sprach Peter Glotz, von „Risikobereitschaft“ und „Experimentierlust“. Er bat seine Studenten, „beweglich“ und „flexibel“ zu sein und ihre Forderungen an „uns, die Professoren“, zu stellen: „Verlangen Sie den persönlichen Kontakt.“ Das war am 13. Oktober, bei der Immatrikulationsfeier für die ersten 244 Studenten der Universität. Jetzt ist schon wieder alles anders – der Rektor geht. Beweglich und flexibel, beschleunigt und experimentierlustig verabschiedet sich der Sozialdemokrat Glotz, 60, von dem, was er eben erst als „Labor für Neuentwicklungen im Hochschulwesen“ gegründet hat. Zum 1. Januar 2000 wechselt er ins schweizerische St. Gallen, um dort einen Lehrstuhl für Medien und Gesellschaft zu besetzen. Von einer „kalten Dusche“ ist in der Univerwaltung die Rede, und unter Studenten herrscht die Wut. Das böse Wort von „Thüringens Lafontaine“ macht die Runde; am vorigen Donnerstag wurde Glotz von seinen angehenden Akademikern mit Vorwürfen überhäuft. Kostprobe: „Sie haben gesagt, wir würden weggehen wie warme Semmeln. Jetzt gehen Sie, und wir sind noch nicht einmal gebacken.“ Für die Studenten ist er ein Fahnenflüchtiger, ein Westler mehr, der dem Osten den Rücken kehrt, so bald er kann (siehe Rektor Glotz*: „Wie ein HB-Männchen“ auch Seite 60). Aber warum jetzt, so plötzlich und so schnell? Weil im Wissenschaftsministerium seit der Landtagswahl nicht mehr der SPD-Mann Gerd Schuchardt sitzt, sondern die parteilose Dagmar Schipanski, deren Ernennung Glotz mit auffälligem Mangel an Enthusiasmus begrüßt hat? Für Schipanski ist Erfurt eine Reformuniversität unter vielen im Osten, die sich in einen „gut bestehenden Reigen einordnen“ soll. Mehrfach schon hat sie, die ehemalige Rektorin der TU Ilmenau, bedauert, dass beim Thema Aufbruch im Thüringer Hochschulwesen immer wieder nur von Erfurt die Rede ist, „weil ihr Rektor Glotz aus dem Westen kommt und sich ständig vorstellt“. Glotz war mehr Unterstützung gewohnt – der alte und neue Ministerpräsident Bernhard Vogel gab Erfurt so viel Freiraum wie keiner Uni zuvor, und finanziell, so sagt Glotz, hatte er mit Vogel und Schuchardt „durchaus zufrieden stellende Übereinkommen getroffen“. Das kann anders werden mit Schipanski, auch wenn sie Erfurt weiterhin „jegliche Unterstützung“ verspricht. Doch die Gründe für den Abgang des Erfurter Rektors sind älter als die Landtagswahl. Der arbeitswütige Glotz, ein Mensch mit 80-StundenWoche, ist nicht kompatibel mit der ostdeutschen Bürokratie. Immer schon klagte Glotz, dass die deutschen Universitäten zu sehr am Gängelband der Ministerien gehalten wurden. Aber * Bei der Immatrikulationsfeier am 13. Oktober. Uni Erfurt: „Angst vor Entscheidungen“ 40 Thüringen findet er noch schlimmer als jede andere Verwaltung, die er kennt: Seinen Weg aus München (Konrektor) über Bonn (Bildungsstaatssekretär) und Berlin (Wissenschaftssenator) nach Erfurt (Rektor) hat er diesbezüglich als „kontinuierlichen Abstieg“ erlebt. Glotz orientiert sich an Amerika, will eine Elite-Uni, die sich irgendwann mit Harvard messen kann, und erlebt „bei jeder BAT1a-Einstellung einen Aufwand, den man einem Harvard-Professor überhaupt nicht vermitteln kann“. Eine „Angst vor Entscheidungen“ sah er in Erfurt, „da denkt man, die Sache ist erledigt, und dann kommt einer mit der dritten Akte daher“. „Wie ein HB-Männchen“ sei er zuweilen in die Luft gegangen, sagt der Noch-Rektor, und das ist nicht als Selbstkritik gemeint. Glotz, so formuliert es vorsichtig Martina Heppt (SPD), die Schuchardts Wissenschaftsstaatssekretärin war, sei „ein sehr zupackender Typ, der wenig Verständnis hatte, wenn andere weniger zupackend waren als er“. Etliche Male, so berichtet Glotz, habe er seine Probleme direkt über den Ministerpräsidenten geregelt. Wenn ein Referatsleiter oder Sachbearbeiter die Sache schwierig machte, habe Vogel gesagt, „dann sagen Sie es mir“ – was auf die Dauer keine Lösung war und Glotzens Beliebtheit in der Bürokratie nicht eben gesteigert hat. „Erfurt“, meint einer aus der Verwaltung, „war ein Irrweg für Glotz. Das hat er wohl verstanden.“ Seit diesem Frühjahr führte St. Gallen Gespräche mit Glotz über eine ständige Gastprofessur; seit dem Ende des Sommersemesters, sagt der St. Galler Rektor Peter Gomez, stand die Sache „so gut wie fest“. St. Gallen lockt den Erfurter, dort gibt es „mehr Praxisbezug“ – und weniger Staat. Der USA-Freund Glotz, der für Studiengebühren plädiert und „Bildungsprodukte“ anbieten will und gelegentlich davon träumt, dass deutsche Unis an die Börse gehen, schätzt die starke Orientierung an der Wirtschaft, die St. Gallen betreibt. Das Institut für Medien- und Kommunikationsmanagement, an dem Glotz seinen Lehrstuhl übernehmen wird, ist eine Einrichtung nach seinem Geschmack: Die Forschung dort, das ist typisch für die St. Galler Institute, wird fast ausschließlich aus Drittmitteln bestritten. Die Heinz-NixdorfStiftung zahlt, ebenso die von Bertelsmann, zu der er seit längerem gute Kontakte pflegt. Für einen Nachdiplom-Studiengang in Kommunikationsmanagement schließlich, den Glotz aufbauen soll, werden Gebühren verlangt – in amerikanischer Höhe. Barbara Supp d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Deutschland AT O M K R A F T Hochgradig versprödet Ist das Atomkraftwerk Obrigheim ein Schwarzbau? Weil der älteste Reaktor Deutschlands anders gebaut wurde als genehmigt, droht nun die Stilllegung per Gerichtsbeschluss. Ü dem Nachbarort Mosbach, sei stillzulegen, weil es völlig anders gebaut wurde, als es genehmigt worden war. Folglich werde die Anlage seit 31 Jahren „illegal“ betrieben und sei erheblich unsicherer als zulässig. Der Vorwurf klingt nur scheinbar absurd. Tatsächlich können die Kläger ihre Behauptung anhand von zahlreichen Behördenakten und Zeugenaussagen belegen. So hielt etwa der damals zuständige Aufsichtsbeamte des Stuttgarter Umweltministeriums, Walter Friedrich, im Juni P. GLASER ber 70 Milliarden Kilowattstunden hat die Anlage erzeugt. Ein halbes Dutzend Prozesse wurden um ihren Betrieb geführt. Weit über 100 Gutachter und Aufsichtsbeamte haben um die Sicherheit der Stromfabrik gestritten. Für Wolfgang Frey, Geschäftsführer des Kernkraftwerks Obrigheim (KWO) am Neckar, ist all das eine große „Erfolgsgeschichte“. Gleichwohl müssen Frey und seine 350 Mitarbeiter sich vielleicht schon bald neue Jobs suchen, weil ihr Reaktor vom Netz gehen muss. Doch das schnelle Aus für den Schon beim Bau des Reaktordruckbehälters für Deutschlands erstes kommerzielles Atomkraftwerk vor 33 Jahren hatten es die Betreiber nicht so genau genommen. Der gewaltige, fast zehn Meter hohe Kessel musste extremen Anforderungen genügen. 40 Jahre lang sollte er dem unter hohem Druck stehenden, 345 Grad heißen Kühlwasser standhalten sowie der aggressiven Neutronenstrahlung aus dem Spaltprozess in den Uranbrennstäben widerstehen. Die Konstruktion basierte auf einer Lizenz des US-Konzerns Westinghouse und sollte darum auch dem amerikanischen Regelwerk entsprechen. Demnach hätte die Behälterwand aus Spezialstahl 19 Zentimeter stark sein müssen. Doch die Konstrukteure des Kraftwerkbauers Siemens beschlossen eine folgenschwere Änderung: Statt der im öffentlichen Genehmigungsverfahren angegebenen 240 Megawatt elektrische Leistung ließen sich genauso gut 100 Megawatt mehr aus der Maschine herausholen, wenn nur der Urankern etwas erweitert wurde. Dazu musste der Innenraum des Druckbehälters jedoch vergrößert werden. Die Ingenieure bauten einfach um über drei Zentimeter dünnere Außenwände als vom US-Reglement vorgeschrieben. Diese Änderungen, urteilte später Kontrollingenieur Friedrich, „bedeuten eine Auslegung nach konventionellem Spannungsniveau“. Im Klartext: Der Obrigheimer Druckbehälter ist nicht stabiler als der Dampfkessel in einem gewöhnlichen Kohlekraftwerk. Die waghalsige Umkonstruktion hätte eigentlich ein neues öffentliches Genehmigungsverfahren erfordert. Doch bis zur Erteilung der abschließenden Errichtungsgenehmigung bekamen die Aufsichtsbeamten die neuen Konstruktionsunterlagen überhaupt nicht mehr zu sehen. Zwar behaupten die Anwälte der Landesregierung, die erteilte Genehmigung verweise auf Zeichnungen mit den richtigen Angaben. Aber dagegen steht die Aussage des wichtigsten Zeugen: Der Aufsichtsbeamte Joseph Günther, der die Genehmigung mitunterzeichnete, erklärte, dass er 1967 „eine andere Anlage genehmigt hat“, als er später zu prüfen hatte. Erst als der Reaktor 1968 in Betrieb ging, segneten die Behörden quasi nebenher die neue Anlage mit einer Genehmigung zum Probebetrieb ab. Einmal vom geraden Ge- Kernkraftwerk Obrigheim: Folgenschwere Änderung ältesten noch betriebenen Atommeiler in Deutschland droht nicht aus Berlin, wo die rot-grüne Bundesregierung bislang erfolglos um den Ausstieg aus der Atomkraft ringt. Die Zukunft des Altreaktors wird im nahen Mannheim entschieden. Dort verhandeln die Richter des 10. Senats am baden-württembergischen Verwaltungsgerichtshof ab Dienstag dieser Woche über eine Klage, die in der Geschichte der deutschen Nuklearindustrie einzigartig ist: Das Atomkraftwerk Obrigheim, so verlangt eine Klägergruppe aus 44 1992 in einem Vermerk fest, dass im Obrigheimer Kraftwerk π „sicherheitstechnisch entscheidende Stellen anders errichtet wurden als von den Genehmigungsbehörden freigegeben“; π „Änderungen an sicherheitstechnischen wichtigen Komponenten ohne Absprache mit den amtlich beigezogenen Sachverständigen vorgenommen“ wurden; π „Grenzwerte teilweise weit überschritten“ sowie „Mindestanforderungen nicht eingehalten“ werden. d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Deutschland Der Druckbehälter könnte springen wie ein Gefäß aus Porzellan listete akribisch für Vetters Nachfolger Harald Schäfer (SPD) die Sicherheitsmängel der „belastungsmäßig ausgereizten Altanlage“ auf. Mehrfach warnte er, dass die schwach konstruierte und mangelhaft verschweißte Wand des Druckbehälters durch den Neutronenbeschuss mutmaßlich hochgradig versprödet sei. Schon nach acht Betriebsjahren war der Kessel so verstrahlt, wie er es eigentlich erst nach der gesamten Laufzeit hätte sein sollen. Wenn wegen eines Lecks im Kühlkreislauf frisches Wasser eingeleitet wird und die Temperatur schlagartig sinkt, könnte der Druckbehälter springen wie ein Porzellangefäß, der GAU wäre nicht mehr aufzuhalten. Auch drei eigens bestellte Gutachter des TÜV, der Bundesanstalt für Materialprüfung und des Öko-Instituts mochten dem Altreaktor zunächst nicht die notwendige „Sprödbruchsicherheit“ bescheinigen. Nur zwei vom KWO-Management beauftragte Institute brachten das gewünschte Ergebnis. Minister Schäfer erhob deren Bericht kurzerhand zur Amtsmeinung – ein nach Ansicht des Klägeranwalts Peter Becker „extrem fragwürdiges“ Verfahren, mit dem „Parteigutachten“ zur amtlichen Expertise umgedeutet wurden. Die Kläger rechnen sich auch deswegen gute Chancen vor dem Mannheimer Ver- im Probebetrieb lief, setzten klagende Anwohner vor dem Mannheimer Gerichtshof nach drei Jahren schließlich die Stilllegung des Reaktors durch. Doch dem damaligen CDU-Umweltminister Erwin Vetter gelang es, die Richter des Berliner Bundesverwaltungsgerichts glauben zu machen, die fehlende Genehmigung sei nur eine Schlamperei der Verwaltung. Darum hoben die Bundesrichter das Mannheimer Urteil auf und verfügten, der fehlende Rechtsakt könne bei laufendem Betrieb nachgeholt werden. Die Obrigheimer Reaktorfahrer starteten die Anlage wieder. Ebendieses Urteil vom Juni 1991 könnte nun allerdings zum endgültigen Abschalten führen. Denn die Berliner Richter hatten rein formal argumentiert, dass die ursprüngliche Errichtungsgenehmigung auch beinhalte, die Anlage könne sicher betrieben werden. Das Urteil fußte aber ausdrücklich auf der Annahme, die Konstruktion sei „genehmigungskonform“ erfolgt. Dass diese Voraussetzung niemals zutraf, drang erst an die Öffentlichkeit, als der Stuttgarter Landtag nach einem SPIEGEL-Bericht über die Sicherheitsbedenken der Aufseher 1994 einen Untersuchungs- Aufseher Friedrich: „Ausgereizte Altanlage“ ausschuss einsetzte. Dort kam unter anderem heraus, dass die kritischen waltungsgericht aus. Doch selbst wenn Aufsichtsbeamten behördenintern diskre- die Stilllegung per Urteil nicht gelingt, kann sich das KWO seines Sieges keinesditiert worden waren. Der zuständige Referatsleiter Joseph wegs sicher sein. Einer der damaligen Gutachter, Lothar Günther hatte sich darum in den vorzeitigen Ruhestand versetzen lassen, weil die Hahn vom Öko-Institut, würde gern „die „wirtschaftlichen Belange des Betreibers Prüfung noch einmal aufrollen“. Und das ein zu starkes Gewicht gegenüber den kann der Physiker jetzt sogar von Amts sicherheitstechnischen Erfordernissen er- wegen machen: Vor sechs Monaten erhalten“ hätten. Sein Mitarbeiter Klaus nannte Bundesumweltminister Jürgen TritSchwabe ließ sich aus Gewissensgründen tin ihn zum Vorsitzenden der Reaktorsicherheitskommission des Bundes. Hahn: versetzen. Nur der ausgewiesene Kerntechnik- „Wir brauchen nur einen Auftrag des MiFachmann Friedrich blieb hartnäckig und nisteriums.“ Harald Schumann 48 d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 T. KLINK nehmigungsweg abgekommen, rutschten die KWO-Manager immer tiefer in den atomrechtlichen Sumpf. Denn die Aufsichtsbeamten des damaligen Sozial- und späteren Umweltministeriums verweigerten fortan die Erteilung einer endgültigen Betriebsgenehmigung, um die Betreiber zu zwingen, die fehlenden Sicherheitsnachweise doch noch zu erbringen. Das blieb zwar 20 Jahre lang erfolglos, wurde aber für die Nuklear-Hasardeure des KWO zur juristischen Falle. Als 1987 durchsickerte, dass die Anlage noch immer Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Deutschland Airbus-Transportflieger A400M (Computergrafik): Glanzlicht für die deutsch-französische Freundschaft RÜSTUNG Alarm in der Lobby Für ein neues Transportflugzeug liegen der Regierung zwei Offerten vor. Aber Verteidigungsminister Rudolf Scharping hat keine Wahl: Er muss den teureren Airbus nehmen. S * Am vorvergangenen Mittwoch in Berlin bei der Begutachtung von Transall-Maschinen. 52 SPD-Mann die weltweiten Ambitionen des Kollegen nicht: Scharping möchte 75 neue Transporter kaufen, weiß aber nicht, wie er die 13 Milliarden Mark dafür aufbringen soll. In seinem Dauerstreit um den Wehretat ist er froh um jeden, der Beistand gegen Kanzler und Finanzminister leisten könnte. Seit Januar liegen dem Verteidigungsminister zwei Angebote für einen neuen Luft-Laster vor: eines von Airbus, das andere von einem deutsch-russisch-ukrainischen Konsortium. Das Flugzeug aus dem Osten mit dem Kürzel An-7X ist zwar deutlich preiswerter – aber die freie Auswahl hat Scharping nicht. Er muss Rücksicht nehmen auf Arbeitsplätze, auf sperrige EUPartner wie Frankreich, auf die Interessen heimischer Firmen. AP echs Tage dauerte die Zitterpartie in den klapprigen Transall-Transportern. 35 Stunden reine Flugzeit, dazu Tankund Reparaturstopps in Zypern, Oman, Indien, Singapur und Bali. Rund 14000 Kilometer von Rendsburg in Schleswig-Holstein nach Darwin in Nordaustralien zum Uno-Einsatz für Osttimor: An Ziele so fern der Heimat hatten Deutschland und Frankreich nicht gedacht, als sie vor 40 Jahren gemeinsam die zweimotorige Transall entwickelten. Die Nato brauchte damals „Kampfzonentransporter“ für kurze Strecken. Mittlerweile sind die Flieger reparaturanfällige Alu-Altertümer. Seit Jahren herrscht Mangel an Ersatzteilen. Fernflüge geraten zum Abenteuer. Die Luftwaffe ist schon froh, wenn einmal mehr als 30 ihrer 84 Transporter tatsächlich startklar sind. In vielen humanitären Aktionen haben sich die Transportflieger bewährt – bei Hungersnöten in Afrika wie bei Hilfsflügen ins belagerte Sarajevo. Vom Einsatz in Südostasien hatten die Militärs dem Verteidigungsminister aber wegen des großen Aufwands abgeraten. Doch trotz der hohen Kosten von sechs Millionen Mark pro Monat gab Rudolf Scharping dem Drängen von Außenminister Joschka Fischer nach. Denn ganz ungelegen kommen dem Durch die Fusion der deutschen DaimlerChrysler Aerospace (Dasa) mit dem französischen Konzern Aérospatiale Matra entsteht zusätzlicher Druck – zu Gunsten der teuren Airbus-Variante, die der neue Superkonzern im Angebot hat. Die Überlegungen für eine TransallNachfolge reichen schon in das Jahr 1982 zurück. Aber Schwung bekam das Projekt erst im Golfkrieg 1991. Die Bundeswehr wollte „Patriot“-Abwehrraketen nach Israel und „Roland“-Systeme in die Türkei schaffen. Das Kriegsgerät war für die Transall zu sperrig. Die Deutschen mussten Großflugzeuge chartern – ausgerechnet von den Russen, den vormaligen Gegnern im gerade beendeten Kalten Krieg. Das war der Bonner Regierung damals ziemlich peinlich. Aber CDU-Verteidigungsminister Volker Rühe fand kein Geld, um die auf acht Milliarden Mark veranschlagte Entwicklung eines neuen Fliegers zu finanzieren. Zudem einigten sich die Luftwaffenchefs aus sechs europäischen Ländern und der Türkei erst 1993 auf gemeinsame Anforderungen an einen neuen Groß-Transporter. Das viermotorige „Future Large Aircraft“ (FLA) sollte mehr Fracht schleppen (25 statt 16 Tonnen), schneller (750 statt 495 Stundenkilometer) und weiter (4350 statt 1850 Kilometer) fliegen. Der Rüstungsindustrie winkte ein dickes Geschäft: Die Westeuropäer wollten zusammen 288 Exemplare für insgesamt knapp 30 Milliarden Mark kaufen. Der Profit aus dem Milliardendeal, hoffte die Rüstungslobby, ließe sich durch Exporte in die Dritte Welt noch mehren. Überraschend kam plötzlich Konkurrenz aus dem Osten. Russland und die Ukraine wollten die Deutschen und ihre Partner am Bau des Transporters An-70 beteiligen. Die Maschine ähnelte dem FLA, der erste An-70-Prototyp flog schon 1994. Solche Zusammenarbeit könne „Zeichen Minister Scharping*: Beschränkte Auswahl d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Deutschland fahr, die Militär-Entwicklung könne technische Impulse geben für zivile Projekte wie den Super-Jumbo Airbus A3XX. Ohne den Transporter drohe dem alten Plan Gefahr, den europäischen Luft- und Raumfahrtkonzern nach der Dasa/Aérospatiale-Fusion weiter auszubauen. Nur so könne er den mächtigen Amerikanern Paroli bieten. Außerdem gehe die Chance verloren, endlich, wie in Amerika seit Jahrzehnten üblich, „Quersubventionen“ aus dem Wehretat in den zivilen Flugzeugbau zu schieben. Auch die Politik macht Druck. Die französische Regierung droht, Scharpings Lieblingsprojekt scheitern zu lassen: ein europäisches Lufttransportkommando. Der deutsche Verteidigungsminister möchte durch effizienteren Einsatz eu- M. GLOGER / JOKER für eine neue Zeit“ setzen, schwärmte Rühe. Die SPD-Opposition zollte ihm ausnahmsweise Beifall, als er 1997 die „Apothekerpreise“ der Dasa rügte und die skeptischen Kollegen aus Frankreich und Großbritannien überredete, das Angebot prüfen zu lassen. Noch im März 1998, bei einem Troika-Gipfel in Moskau, versprachen Helmut Kohl, Boris Jelzin und Präsident Jacques Chirac, die Kooperation voranzutreiben. Airbus und Dasa lehnten indes ab, als Generalunternehmer in einem Projekt mit Ost-Firmen zu fungieren, die sie flugs als unzuverlässig abstempelten. Das eigene FLA verhieß mehr Gewinn. Im vorigen Januar legte die neu gegründete Airbus Military Company (AMC) ein förmliches Angebot für den Militär-Airbus mit dem Kür- Airbus-Konkurrent An-70: Stänkern gegen den Ost-Flieger zel A400M vor. Ein neu formiertes „Airtruck“-Konsortium renommierter deutscher Luftfahrtfirmen wie Aircraft Services Lemwerder und BMW-Rolls-Royce hielt die auf West-Standard umgerüstete An-7X dagegen. Die Bonner Rüstungsabteilung gab im Juli ein klares Urteil ab: Die An-7X erfülle den Bedarf der Luftwaffe und sei mit rund 100 Millionen Mark pro Flugzeug rund 30 Prozent billiger als die Konkurrenz. Seither herrscht bei der Airbus-Lobby Großalarm. Die anfangs belächelte An-7X wurde zum ernsthaften Rivalen. Vor allem die Franzosen stänkern gegen den OstFlieger. Hilfstruppen finden sich im Berliner Wirtschaftsministerium, das die Risiken einer Zusammenarbeit mit den maroden Staatswirtschaften im Osten bewerten soll. Die zuständigen Beamten halfen schon vor Jahren den Airbus-Projekten mit Subventionen und Bürgschaften auf die Sprünge. Jetzt schätzen sie die Lage der östlichen Firmen natürlich düster ein. Viele Argumente sind aus der Auseinandersetzung um den Eurofighter geläufig: Tausende Arbeitsplätze seien in Ge54 d e r ropäischer Transporter Kosten senken und die Wehretats aller entlasten, da insgesamt weniger Flugzeuge angeschafft werden müssten. Bisher stieß er fast überall auf Wohlwollen. Doch als „Grundlage“ komme aus Pariser Sicht nur ein „gemeinsames Flugzeug“ in Frage: der teure Militär-Airbus, der – noch immer – nur auf dem Reißbrett existiert. Für die veranschlagten 13 Milliarden Mark bekäme die Luftwaffe dann nur um die 50 statt 75 Transall-Nachfolger. Nächsten Monat findet wieder ein deutsch-französischer Gipfel statt. Da wird Scharping, so Prognosen aus der Regierung, wohl die billigere An-7X opfern. Kanzler Gerhard Schröder und sein grüner Außenminister könnten so nach der deutsch-französischen Firmenfusion der vernachlässigten deutsch-französischen Freundschaft ein weiteres Glanzlicht aufsetzen. Zur Belohnung ließe Paris dann beim Europa-Gipfel im Dezember erste Schritte in Richtung Transportkommando zu – und Schröder verspricht dem klammen Scharping ein bisschen Extra-Geld für den Militär-Airbus. Alexander Szandar s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Deutschland ten auf den verschwundenen Festplatten sind für Wirtschaftsspione von unschätzbarem Wert. Für Diebe in staatlichem Auftrag spreche schon allein, so ein Experte, „der Staubsaugereffekt, Rechner gleich im Dutzend bei Mitarbeitern eines Unternehmens abzugreifen“. Für die Beratungsfirmen sind die Diebstähle außergewöhnlich heikel. Ihre Mitarbeiter – Juristen, Wirtschaftsund Finanzexperten – prüfen und testieren die Bilanzen der Kunden, beraten das Management oder stehen beim Kauf und Verkauf von Unternehmen Pate. Für ihre Tätigkeit benötigen die Spitzenberater Daten, die zu den intimsten eines jeden UnterPC-Verschlüsselungskarte: Diebe in staatlichem Auftrag nehmens gehören. Verlockend für Geheimdienstler. Seit S P I O NAG E Ende des Kalten Krieges bildet Industriespionage einen Schwerpunkt nachrichtendienstlicher Spitzeltätigkeit. Auch befreundete westliche Dienste – Amerikaner, Briten, Franzosen – finden nach Erkenntnissen von Bundesnachrichtendienst und Verfassungsschutz nichts dabei, die deutsche Wirtschaft auszuspähen. Bei deutschen WirtschaftsIm Beraterkodex steht Verschwiegenheit beratungsunternehmen zwar ganz obenan. Aber mit der Sicherheit geht der Computerklau um. im Computer gespeicherter Daten geht die Branche offenbar nicht anders um als anInsider verdächtigen dere auch – äußerst nachlässig. Geheimdienste als Täter. Nur wenige Firmen verwenden Steckm ICE von Frankfurt nach Hamburg karten zur Datenverschlüsselung für die hatte die Wirtschaftsprüferin ein trau- Laptops der Mitarbeiter, so genannte Krypmatisches Erlebnis. Als sie von der Toi- tocards. Nur mit deren Hilfe kann der so lette kam, war ihr Laptop weg. In dem gesicherte Computer in Betrieb genomComputer hatte die Frau wichtige Daten men werden. Die Daten auf den gestohlenen Comund Details einer geplanten Unternehputern waren nicht gesichert. Wer immensfusion gespeichert. Zwei Berufskollegen ereilte dasselbe mer die Hardware hat, hat auch die Missgeschick in London. Sie ließen ihre Software. Ohnehin könnten nur wenige, sehr hochkostbaren elektronischen Begleiter wähwertige Verschlüsselungsverfahren Comrend einer Lunchpause unbeaufsichtigt. Das Problem ist großen Wirtschaftsbe- puterdaten vor dem Zugriff staatlicher ratungsfirmen in Deutschland inzwischen Schnüffler schützen. Jedem Nachrichtengeläufig: Laptops verschwinden aus dienst stehen professionelle Codebrecher Büroräumen und Hotelzimmern, bei Ein- und Batterien von Hochleistungsrechnern brüchen in Wohnungen oder Pkw. Zumeist zur Dechiffrierung zur Verfügung. „Computerdiebstähle sollten Unternehwird der komplette Rechner, manchmal aber auch nur die Festplatte gestohlen, der men, die mit so sensiblen Daten umgehen, Datenträger jedes Computers. Insgesamt einen Schock versetzen“, warnt ein deutkamen in der Branche bislang mehr als 130 scher Geheimdienstler. Es sei unverständlich, dass sich Beraterfirmen nicht profesLaptops abhanden. Dass es sich um eine zufällige Häufung sionell betreuen lassen, um sich vor mögvon Diebstählen handelt, schließen die Be- licher Ausspähung zu schützen. Doch bei den Betroffenen mangelt es – troffenen ebenso aus wie die Vermutung, es könnte sich bei den Dieben um Junkies noch – an entsprechendem Bewusstsein. handeln, die Geld für den nächsten Schuss Die Idee, sein Unternehmen könne womöglich durch Dienste ausgeforscht brauchen. Der Verdacht richtet sich gegen ganz an- werden, „sei ihm so nie gekommen“, bedere Täter: Insider glauben, dass Geheim- kannte ein Firmenchef, als er von den dienste dahinter stecken könnten. Die Da- Diebstählen erfuhr. Ulrich Jaeger Schwund bei der Hardware I 56 d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Deutschland Wohnstandort Ost (Dresden): „Ich fühle mich behandelt wie ein Besatzer in einem fremden Land“ DPA EINHEIT „Geht doch wieder rüber!“ Zehn Jahre nach der Wende ist die Kluft zwischen Ost und West eher größer denn kleiner. Die deutschen Nachbarn haben sich kennen gelernt und sind sich noch fremder geworden. Viele Westdeutsche, die in den Osten zogen, haben ihn fürchten gelernt – und flüchten zurück. E ines Morgens im Spätsommer hatten die Glatzen von Blankenfelde ihre Botschaft in Leuchtfarben auf die roh verputzte Wand direkt beim Spielplatz gesprüht: „Scheiß-Wessi-Kinder“. Die Parole galt den Kindern der Klassenfeinde – den aus dem anderen Teil Deutschlands zugezogenen Nachbarn. Dann wurden die Wessi-Kinder bedroht und geschlagen. Die Polizei versuchte es mit Platzverboten für die einheimischen Kahlgeschorenen – ohne Wirkung. Seitdem wappnen sich die West-Kinder im Neubaugebiet von Blankenfelde (Werbeslogan: „Natur, Wohnen, Lebensqualität“) mit Trillerpfeifen für den rauen OstAlltag. So können sie, wenn sie draußen spielen, jederzeit rasch Hilfe herbeirufen. Zehn Jahre nach der Wende eskaliert im Osten Abneigung und Gewalt nicht allein gegen Ausländer. Gefährlich fremd sind selbst die anderen Deutschen. Permanentes Antiwestlertum und nostalgisch gepflegte DDR-Mentalität lässt viele, die einst euphorisch ins Neuland aufbrachen, inzwischen resignieren. 60 Rund zwei Millionen Ostler sind seit 1990 nach Westdeutschland gezogen – etwa eine Million Bevölkerungswanderung zwischen den neuen in die Gegenrichtung (siehe Graund den alten Bundesländern fik). Allein 200 000 Berliner ginVon Ost- nach Von West- nach gen seit der Wende ins Umland, Westdeutschland Ostdeutschland in „Gartenstädte“, „Wohnparks“ oder die „Waldesruh“-Siedlung. 1990 36 217 395 343 Man hoffte auf gute Nachbarschaft anstelle anonymen Groß1991 80 267 249 743 stadtlebens. „Die ersten kehren bereits wie1992 111 345 199 170 der zurück“, stellt das Berliner Fachblatt „Mietermagazin“ in sei1993 119 100 172 386 ner jüngsten Ausgabe fest, „ge1994 135 774 frustet von abweisenden Dorfbe163 034 wohnern und autoritären DDR1995 143 083 Pädagogen, die sie ihren Kindern 168 336 nicht zumuten wollen.“ Die Alt1996 151 973 eingesessenen fühlten sich dage166 007 gen „überrollt von arroganten 1997 157 348 Wessis, die sich in ihren Reihen167 789 haus-Siedlungen abschotten und 1998 151 750 Waldorfschulen gründen wollen“. 182 478 Quelle: Die neue deutsche FluchtbeweStatistisches Bundesamt gung hat vor allem Familien mit Den Osten entdeckt d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 M. TRIPPEL / OSTKREUZ M. TRIPPEL / OSTKREUZ loge und HIV-Forscher. Nach nur einem Jahr geht er mit zwei Kollegen der medizinischen Fakultät der Universität zurück in den Westen: „Da ich jahrelang in Afrika unter besonderen Umständen gearbeitet hatte, glaubte ich damals, dass es nicht so schwierig werden würde. Aber man hat uns zu viele Knüppel in den Weg geworfen.“ Mit ihrem progressiv ausgerichteten Engagement und effizientem Handeln – so sein Eindruck – seien sie bei der Seilschaft der alten Verwaltung und deren NostalgieNetzwerk immer wieder auf- Werbefachmann von der Ahé gelaufen. Gürtler: „Die alten Chefs sind weg, die zweite und dritte Reihe hat überlebt. Sie machen so weiter wie früher. Ehe man durchblickt, wer da wo mit wem verbunden ist, ist man auch schon gestolpert.“ Die Stadt erlebte der Mediziner nicht viel anders. „Greifswald ist ohne Seele. Zwar wurde alles renoviert, aber es gibt kaum öffentliches, gesellschaftliches Leben, wenig Flair.“ Die Ostalgie hemme jede Entwicklung, „das Beharren auf rückwärts gewandte Besonderheit blockiert die Menschen, die Wirtschaft, Familie Tzschentke die Forschung“. Brieselang, weit draußen vor den Toren Berlins, ist eine Kleinstadt ohne jegliches Zentrum, eine Häuseransammlung im märkischen Sand. Hier hatte die West-Berlinerin Marianne Tzschentke, 47, vor sechs Jahren ein Haus im Grünen gefunden und sich, um nicht als Wessi unangenehm aufzufallen, den neuen Nachbarn „mit Kleidung und Frisur derart angepasst, dass ein ebenfalls zugezogener Friseur aus dem Westen mich für die erste Ostlerin hielt, mit der er gut reden konnte“. Mit den Einheimischen habe sie gesprochen, „aber wir Psychologe Brähler sind uns fremd geblieben“. Westdeutsche Umsiedler: „Kollektive Aversionen“ Immer hätten Klagen der Ostdeutschen, dass ihnen das Leben heute gar dem Schulweg von der Direktorin angenicht gefalle, die Gespräche bestimmt. Und herrscht wurde: „Dafür kriegst du von deiihr Sohn Dominique sei – obwohl er sich ner Mutter den Arsch voll.“ Der Junge die Haare kurz schneiden ließ und Jog- konterte: „So was macht meine Mutter ging-Anzüge wie seine Ost-Mitschüler trug aber nie.“ Am nächsten Morgen musste er – als „verwöhnte Wessi-Sau“ beschimpft „zur Belehrung“ vor die versammelte Klasworden. se treten und sich in Büßermanier den FraEndgültig genervt war die einstige West- gen der Schüler und der Lehrerin stellen. Berliner Kinderladen-Mutter, als ihr Sohn Ein anderer West-Schüler bekam im Dennis nach einem Verkehrsvergehen auf Kunstunterricht eine Fünf, weil er mit MalS. DÖRING / PLUS 49 / VISUM Kindern erfasst, die es leid sind, dass ihre Sprösslinge in der Schule als „West-Arsch“ begrüßt oder schon mal von der Lehrerin im Unterricht gefragt werden: „Was sagt denn unser Ausländer dazu?“ Zurück in den guten alten Westen wollen auch solche, die lange Zeit frohen Mutes waren, dass eines Tages – so wie es Politiker gern in Festreden beschwören – zusammenwächst, was zusammengehört. Oft ist ihr Lebenstraum im Osten zum Trauma geworden. In den Berliner Kliniken im TheodorWenzel-Werk sind stationäre Therapien für geflohene Westler längst keine Seltenheit mehr. „Wir haben Patienten, die nach ihrer Rückkehr aus dem Osten total verzweifelt sind“, berichten Klinik-Angestellte. „Sie kommen nicht zurecht mit dem Ausmaß an Ablehnung und Aggression, das ihnen entgegengeschlagen ist.“ Selbst Wissenschaftler, die das Phänomen von Berufs wegen analysieren, tun sich mit der deutsch-deutschen Realität schwer. Als im Oktober eine Arbeitsgruppe beim Deutschen Psychologentag die Ergebnisse ihrer jüngsten Ost-West-Vergleichsstudien vortrug (Fazit: Die Ostler finden sich selbst toll, die Wessis dagegen mies), bat Elmar Brähler am Rande seines Vortrags, eine private Anmerkung machen zu dürfen. Der Professor für medizinische Psychologie, der 1991 von Gießen nach Leipzig gegangen war, bekannte, ihm gehe es „im Osten zur Zeit überhaupt nicht gut. Ich fühle mich behandelt wie ein Besatzer in einem fremden Land“. Vor allem das Berliner Umland, so das „Mietermagazin“, sei Schauplatz eines Ost-West-Kulturkampfes geworden – mit „Symptomen eines Kleinkriegs“. Da wird schon mal von Unbekannten zur Kennzeichnung der ungeliebten Nachbarn der Schriftzug „Wessi“ aufs Haus gesprüht oder ins Auto gekratzt. Jugendliche pöbeln Autofahrer an, „weil die aus dem Westen unsere Straßen benutzen“. Es gibt über Nacht zertrampelte Blumenbeete, zerstochene Reifen, Farbbeutel an frisch gestrichenen Neubauwänden. „Die Konflikte gehen über die üblichen Stadt-Land-Animositäten, wie wir sie auch in Hamburg und München erleben, weit hinaus“, stellte der Soziologe Ulf Matthiesen vom „Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung“ nach fast zweijähriger Beobachtung des Zusammenlebens in verschiedenen Gemeinden fest. Hier träfen „völlig unterschiedliche Mentalitäten und kulturelle Prägungen aufeinander“. In Brandenburg herrsche ein „Summton der Unzufriedenheit“. Das Land sei mit „einer selbstzerstörerisch-fundamentalistischen Betonung des Eigenen“ in eine „Negativ-Spirale perspektivloser Abschottungsversuche“ geraten. „Ich hatte einen Riesen-Enthusiasmus, als ich 1998 nach Greifswald kam“, erinnert sich Professor Lutz Gürtler, 57, Mikrobio- d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 61 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Deutschland M. TRIPPEL / OSTKREUZ schablonen nicht fein und säuberlich gear„Bis zuletzt wurde der Westen schlecht Universität. Seiner Ansicht nach ist die beitet hatte, sondern – wie er es gewohnt gemacht in der DDR. Das einfache Raster „mentale Masse von 16 Millionen, die 1990 war – mit Phantasie und Kreativität. Als die hat sich erhalten“, sagt der Ingolstädter an die Bundesrepublik angedockt hat“, als Mutter sich über die schlechte Note be- Claus Detjen, 63. Er lebte sieben Jahre in Problem unterschätzt worden. Viele Wessis aus der bundesrepublikaschwerte, antwortete die Kunstlehrerin: Frankfurt (Oder), war dort Herausgeber nischen Großstadtkultur seien in einen „Wir sind hier doch nicht bei Picasso.“ der „Märkischen Oderzeitung“. Da dauerte es nicht lange, und MarianIn seinem Buch „Die anderen Deut- „Staat der kleinen Leute“ gezogen „und ne Tzschentke roch wieder, wenn ihre Söh- schen“ macht Detjen „vor allem Wessis treffen mancherorts auf dieselbe Mine aus der Schule kamen, die DDR-Desin- ohne DDR-Kenntnis“ für die Konflikte ver- schung wie in der Bundesrepublik der fektionsmittel, die sich in Haaren und antwortlich*. Noch heute gebe es an Main fünfziger und sechziger Jahre: miefig, Kleidung festgesetzt hatten. Das hatte und Rhein „Wahrnehmungsverweigerun- eng, konservativ und in der Jugendkulsie schon beinahe verdrängt. Als Marianne gen, als ob der Osten Deutschlands jen- tur sogar gewalttätig“. Er selbst will nun im Osten bleiben, um „Politik und die Tzschentke dann auch noch mitbekam, seits des Urals liege“. dass ihr Engagement in einer BürgerinitiaIn Lühsdorf, einem malerischen Rund- Kultur des Umgangs miteinander zu vertive von den Einheimischen „nur lächerlich dorf zwischen Stoppelfeldern und Kie- ändern“. Sind das alles nur „westdeutsche Blicke gefunden wurde“, beschloss die Familie fernwäldchen im Kreis Potsdam-Mitteldie Rückkehr nach Wilmersdorf. mark, gibt es 79 Alteingesessene und 5 zu- auf ostdeutsche Fratzen“? Die Frage stellt Zum Abschied sagte der Brieselanger gezogene West-Berliner, darunter einen das (Ost-)Berliner Szeneblatt „telegraph“ Amtsleiter zur Westfamilie: „Wir hätten Professor, der aus Liebhaberei und als in seiner jüngsten Ausgabe. Themenschwerpunkt: „Westdeutsche euch schon eingebürgert!“ Ressentiments, der Ossi in „Ja, wann denn?“, fragte die der ethnologischen DebatBerlinerin zurück, „nach 15, te“. Die Autoren – Wende20 oder 30 Jahren? Oder erst aktivisten und DDR-Gesellin der nächsten Generation, schaftsverbesserer – sind es im nächsten Leben?“ leid, wie sich Wessis über Eine Familie aus Westden einstigen Osten und Berlin, die 1992 nach Kleinseine Bewohner lustig mamachnow südlich von Berlin chen wie etwa im Kinofilm zog, machte ähnliche Erfah„Sonnenallee“ oder in mittrungen. Gerald Endres sieht lerweile einem Dutzend in den „unterschiedlichen Büchern wie „It’s a Zoni – Konfliktstrategien“ das größdie Ossis als Belastung te Verständigungsproblem. und Belästigung“ (SPIEGEL Während Westler den Aus40/1999). tausch von Argumenten geImmerhin wird eingewohnt seien, höre man von räumt, dass die DDR ein Ostlern stets: „Lass uns nicht gewaltiger „Integrationsbrostreiten, wir wollen doch cken“ ist. Heute noch haben dasselbe.“ Und dann werde Neubaugebiet bei Blankenfelde: Wagenburgen aus Reihenhäusern die Ostdeutschen wie früher „hinterrücks intrigiert und der Westler rennt gegen eine Wand, ohne „kleinen Beitrag zur Wiedervereinigung“ hohe Erwartungen an den Staat, ohne etzu wissen warum“. die Dorfkirche renovieren ließ – vom ei- was von ihm zu halten. So ist die innere Distanz zum Schröder-Land und zur Auch bei Endres entzündete sich der genen Geld. Streit vor allem am Schulalltag. Die FamiAls den Professor eine neu gebaute Dat- Honecker-Republik gleich – und damit lie blieb zwar in Kleinmachnow wohnen, sche in der Nähe störte, rief er die Bau- auch zu jedem, der die Westgesellschaft schickte aber die Kinder in eine West-Ber- aufsicht. Das Dorf solidarisierte sich gegen tatsächlich oder vermeintlich repräsentiert. Paradoxerweise, so die Autoren, lasse liner Schule. den vermeintlichen Gönner. „Die ZugezoSolche Probleme tauchen seltener auf, genen haben mit ihrem Grundstück kein das bessere Kennenlernen die Kluft zwiwenn die Westler im Osten eine Art Wa- Recht auf Idylle gekauft“, sagt Dorfbür- schen Ost und West nur weiterwachsen. genburg bauen wie etwa im brandenbur- germeister Gerd Uhl. Der Professor stopp- DDR-Übersiedler im Westen würden sich gischen Stahnsdorf. Dort kommen im Neu- te daraufhin die Renovierung der Kirche. individuell dem Westen anpassen. In den baugebiet „Grashüpferviertel“ von 100 Traut sich ein hinzugezogener Westler, neuen Bundesländern dagegen hätten sich „Neubürgern“ rund 90 aus dem Westen. sich über die Verwahrlosung seiner neuen die Ostler „kulturelle und soziale SelbstDie Kinder werden hier in Extra-Klassen Heimat oder über einen stundenlang lau- verständnisse der Gruppe bewahrt“. Und unterrichtet. fenden Diesel-Lkw zu beklagen, kommt das sei „ein Grund für die Verärgerung der Doch die West-Ghettos in Ostdeutsch- schon mal die Antwort: „Wenn’s Ihnen hier Westdeutschen“. Wortführer Ost des neuen Diskurses ist land lösen nicht die Probleme, vertagen nicht passt, können Sie ja wieder rüberder Berliner Kultursoziologe Wolfgang sie nur. So entstehen ganze Ortschaften, gehen.“ Ostdeutscher Herbst 1999. die von einer virtuellen Mauer geteilt wer„Die meisten Wessis funktionieren hier Engler. Er bestätigt eine bittere Erfahrung den. In Stahnsdorf trennen eine Straße nur, wenn sie Ossis werden, nicht wenn sie der Westler, die resignierten: „Die größeund ein Lärmschutzwall die Deutschen – Wessis bleiben“, resümiert Karl-Rainer von re Vertrautheit mit der Art des jeweils anim kaum sanierten Ortskern leben die Alt- der Ahé, 46, seine Ost-Erfahrung. Er zog deren führt nicht zur Einebnung, sondern eingesessenen, im Neubaugebiet mit den 1992 nach Vorpommern, betreibt eine Wer- zur Vertiefung der Spannungen, zu wechmodernen Eigenheimen residieren die Zu- beagentur und war Dozent für Geistes- selseitigen kollektiven Aversionen.“ Das Szeneblatt hat denn auch düstere gezogenen. Da verkörpert dann jeder Ein- und Designgeschichte an der Greifswalder Prognosen zum deutsch-deutschen Nachzelne für den anderen das jeweils andere System – nicht konkrete Menschen be- * Claus Detjen: „Die anderen Deutschen. Wie der Osten barschaftsduell anzubieten: „Was wir jetzt gegnen sich, sondern Stellvertreter zwei- die Republik verändert“. Bouvier Verlag, Bonn; 151 Sei- erleben, ist erst der Anfang.“ er Weltbilder. Peter Wensierski ten; 32 Mark. 64 d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Deutschland BUNDESWEHR Offen für alle Ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs könnte Frauen bald den Dienst an der Waffe ermöglichen. 68 A. GRIESCH / AGENTUR ANNE HAMANN D Sanitäterinnen bei der Grundausbildung*: Absurde Widersprüche 29. Commando Regiment der Königlichen Artillerie in Plymouth. Als ihre Stelle eingespart werden sollte, bekam sie das Angebot, zur Marineinfanterie zu wechseln, einer Art schnelle Eingreiftruppe. Sirdar wäre dem gern gefolgt – wenn nicht die Marine das Angebot plötzlich zu einem Versehen erklärt und zurückgezogen hätte. Nach einem internen Bericht war es „neue Einstellungspolitik“ der Marineinfanterie, keine Frauen zu beschäftigen, in welcher Funktion auch immer. Begründung: Marineinfanteristen müssten „allseitig verwendbar“ sein – und Frauen wären das nicht. W. SCHMIDT / NOVUM ie Auskunft, die das Kreiswehrersatzamt Hannover der Anruferin erteilte, war die übliche: Natürlich könne sie als „weiblicher Soldat“ zur Bundeswehr kommen – aber nur im Sanitätsoder Militärmusikdienst. Eine militärische Laufbahn als Elektrotechnikerin, wie sie es wünsche, sei ausgeschlossen. Unüblich war die Reaktion der Anruferin. Tanja Kreil, damals 19 Jahre alt, kurz vor Abschluss ihrer Ausbildung zur Energieanlagenelektronikerin und auf der Suche nach einem Arbeitsplatz, bewarb sich Ende 1996 trotzdem bei der Bundeswehr: für eine Stelle zur Instandsetzung von Waffenelektronik. Zwei Wochen später erhielt sie die Absage schriftlich. „Ich fühlte mich nicht für voll genommen“, sagt Tanja Kreil. „Es hat an meinem Ego gekratzt, dass die gesagt haben: ‚Wenn Sie ein Mann wären, dann wäre das möglich.‘“ Sie entschloss sich, die Sache durchzufechten, und reichte am 11. Dezember 1996 gegen die Ablehnung Klage ein beim Verwaltungsgericht Hannover. Das Grundgesetz verbietet, dass Frauen „Dienst mit der Waffe“ leisten. Darunter fallen nach deutscher Rechtsprechung nicht nur Aufgaben mit Kampfauftrag: Auch „unterstützende Tätigkeiten“, die in „unmittelbarem Zusammenhang“ mit dem Einsatz von Kriegswaffen stehen, sind für weibliche Soldaten tabu. Vielleicht nicht mehr lange. Inzwischen haben die Verwaltungsgerichte den Fall Tanja Kreil dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg vorgelegt. Die höchsten Richter der Europäischen Union könnten die Bundeswehr zwingen, Frauen als Freiwillige in allen Truppenteilen aufzunehmen – als Panzergrenadiere, Kampfpiloten oder eben Elektrotechniker. Das Urteil im Fall Kreil kommt wohl Anfang nächsten Jahres – doch schon in dieser Woche wird die Linie der Entscheidung bestimmt: Am Dienstag stellt der zuständige europäische Generalanwalt seinen Schlussantrag – ein Votum, dem der Gerichtshof in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle folgt. Und in derselben Sitzung verkünden die Richter ein anderes Urteil, das richtungweisend sein wird für Tanja Kreil und die Bundeswehr. In diesem zweiten Verfahren klagt die Engländerin Angela Maria Sirdar gegen die britische Krone, weil auch ihr ein gleichberechtigter Zugang zu den Streitkräften verwehrt wurde. Sirdar war Köchin beim Sirdar wurde entlassen – und klagte.Wie Tanja Kreil beruft sie sich auf die EU-Richtlinie zur „Gleichbehandlung von Mann und Frau“: Sie verbietet „bei den Bedingungen des Zugangs zu den Beschäftigungen oder Arbeitsplätzen“ eine „Diskriminierung auf Grund des Geschlechts“. Die britische Regierung hält dagegen, dass die EU-Richtlinie eine Ungleichbehandlung dann erlaubt, wenn das Geschlecht eine „unabdingbare Voraussetzung“ für die Tätigkeit darstellt. Ob sich damit auch die deutsche Praxis rechtfertigen lässt, ist schon deswegen zweifelhaft, weil anderswo Soldatinnen nicht in dieser Weise gegen ihren Willen vor den Fährnissen des Kriegsdienstes geschützt werden. So nehmen fast alle anderen Nato-Staaten Frauen als Freiwillige zumindest in Einheiten auf, die Kampftruppen unterstützen. In Belgien, Dänemark, Spanien, Norwegen, den Niederlanden, den USA und Kanada sind auch die meisten Kampfeinheiten für Frauen geöffnet – nur Kommandotruppen und U-Boote sind zum Teil frauenfreie Zone. Auch in Großbritannien stellt die Marineinfanterie eine Ausnahme dar, und in Italien soll der rigorose FrauenAusschluss gerade gekippt werden. Der Deutsche Bundeswehrverband, die Interessenvertretung der männlichen und weiblichen Soldaten, hat nur auf jemanden wie Tanja Kreil gewartet, um auch in Deutschland das Waffenverbot für Frauen zu Fall zu bringen. Der Verband berät die abgelehnte Bewerberin deshalb bei ihrem Verfahren und bezahlt ihren Anwalt Jochen Rothardt. „Das Interesse von Frauen an der Bundeswehr ist sehr groß“, sagt Klägerin Kreil „Am Ego gekratzt“ d e r s p i e g e l * Im August in Feldkirchen bei Straubing. 4 3 / 1 9 9 9 Jürgen Meinberg vom Bundeswehrverband, „wenn sie dürften, würden viele gern in die Logistik oder Elektronik gehen, zum fliegenden Personal oder Panzer fahren.“ Selbst Frauen im Sanitätsdienst leiden unter ihrer Sonderstellung: „Viele weibliche Unteroffiziere würden gern länger als vier Jahre dienen und hätten für die dazu notwendige Beförderung zum Feldwebel auch die Qualifikation“, stellt Oberstleutnant Fritz Mumm vom „Gemischten Lazarettregiment 12“ in Feldkirchen bei Straubing fest. „Weil das der Stellenkegel im Sanitätsdienst aber nicht erlaubt, müssen häufig auch qualifizierte Frauen ausscheiden.“ Die Männer dagegen können in andere Einheiten ausweichen. Die Regeln für Soldatinnen führen zu absurden Widersprüchen. Denn der Dienst mit der Waffe ist zwar für weibliche Soldaten verboten – nicht aber für zivile Angestellte. So kommt es, dass eine Frau wie Melanie Meier, 24, beim „Lufttransportgeschwader 62“ in Wunstorf als zivile Elektrotechnikerin arbeitet – mit der gleichen Funktion und Weisungsbefugnis wie ein Feldwebel. Wenn sie Soldat wäre und damit eine militärische Grundausbildung hätte, dürfte sie das aber nicht. Andererseits werden Sanitäterinnen auch in der Bundeswehr an Gewehr und Pistole ausgebildet – im Ernstfall müssen sie sogar selbst schießen, um sich, ihre Patienten oder ihr Sanitätsmaterial gegen Angriffe zu verteidigen. Angehende Ärztinnen lernen in der Offiziersausbildung, ein Sanitätsbataillon zu führen. Dazu gehören nicht nur bewaffnete Sanitäter, sondern auch Panzer mit aufmontiertem Geschütz. Um die deutschen Sonderregeln doch noch zu retten, brachten die Vertreter der Bundesregierung in Luxemburg vor, für Fragen der Verteidigung sei europäisches Recht gar nicht maßgebend. Doch der Generalanwalt Antonio La Pergola, der für beide Fälle, Kreil und Sirdar, zuständig ist, hat bereits darauf hingewiesen, dass die europäische Gleichbehandlungsrichtlinie allgemein anwendbar ist. Und der Europäische Gerichtshof hat diese allgemeinen Regeln stets auch auf Rechtsbereiche angewandt, die wie die Verteidigung in nationaler Zuständigkeit verblieben sind. Dabei heißt Gleichbehandlung nicht, dass alle weiblichen Soldaten auch überall einzusetzen sind – die Bundeswehr müsste sie aber nach ihrer individuellen Leistung bewerten, wie die Männer, und nicht pauschal nach ihrem Geschlecht. „Der flächendeckende und undifferenzierte Ausschluss von Frauen aus der Bundeswehr wird nicht zu halten sein“, sagt Kreil-Anwalt Rothardt. „Die Bundeswehr wird sich für Frauen öffnen müssen wie die Armeen der anderen europäischen Staaten auch.“ Dietmar Hipp d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite FOTOS: K. MÜLLER Deutschland Straßenkinder in der Mülheimer „Zinkhütte“, Schlafplatz: „Bloß kein hoch pädagogisches Gequatsche“ JUGENDLICHE Letzte Chance Mit ungewöhnlichen Angeboten versuchen Sozialarbeiter, Straßenkindern zu helfen. Modellversuche sollen neue Wege für die Jugendhilfe aufzeigen. I rgendwo haben sich die meisten von ihnen schon mal gesehen. Auf den Bahnhofsvorplätzen der RuhrgebietsMetropolen. In U-Bahn-Schächten und unter Brücken. Oder in einem dieser Heime für Ausreißer, Streuner, Straßenkinder. Ausgehalten haben sie es nirgendwo lange. Haben geklaut, Drogen genommen, Therapien abgebrochen. „Die vom Jugendamt haben von mir längst die Schnauze voll“, meint Marijke, 16, die zwei Jahre lang Heroin spritzte. Und der schmächtige Beamtensohn Steffen, 17, der auf seiner Odyssee durch die Jugendhilfe-Häuser in diesem Jahr schon zwölfmal umgezogen ist, sagt: „Das hier ist meine letzte Chance.“ Er meint die „Zinkhütte“ in Mülheim an der Ruhr, einen neuen und höchst ungewöhnlichen Zufluchtsort für Kinder und Jugendliche, die von anderen längst abgeschrieben wurden. Acht Kids schlafen unter dem Dach eines alten Industriebaus in Müllcontainern, einem zerlegten Auto oder zwischen hunderten von Bierkästen – fast wie auf der „Zinkhütte“-Einrichtung Inszeniertes Chaos 72 Straße. Und die meisten, hofft Initiator Günther Stolz, Sozialpädagoge und Architekt, werden nicht gleich wieder davonlaufen. Das vier Monate junge Mülheimer Experiment, finanziert von mehreren Jugendämtern und betreut vom Oberhausener Jugendzentrum GTI, ist kein Einzelfall. An zahlreichen Orten der Republik testen Sozialarbeiter derzeit neue Wege der Jugendhilfe. Die Kundschaft: obdachlose, oft kriminelle Kinder und Jugendliche, bei denen die traditionellen Methoden der Betreuer scheiterten. Rund 6000 davon sollen sich derzeit auf deutschen Straßen durchschlagen. „Dein Scheißleben wollen wir nicht verändern“, raunzt Stolz neue ZinkhüttenKids an, „daran haben sich ja schon andere die Zähne ausgebissen.“ Das inszenierte Chaos in dem ehemaligen Firmengebäude, die halb geklebten Tapeten, der Gullydeckel als Tischersatz – für ihn sind das keine spinnerten Ideen, sondern Signale an die Jugendlichen: „Wir akzeptieren, dass ihr anders seid.“ Ziel sei es, die Kids „dort abzuholen, wo sie herkommen“. Und beiläufig mit ihnen ins Gespräch zu kommen: „Bloß kein hoch pädagogisches Gequatsche, dann sind die sofort wieder weg.“ Wer hier wohnen will, muss nur drei Spielregeln befolgen: keine Gewalt, kein Drogenkonsum im Haus, und bis 24 Uhr soll jeder von der Straße zurück sein. Das ist für die meisten schon eine Menge. Steffen, der auf seiner Matratze im Vorderteil eines zerschnittenen VW Passat hockt, zerschlug bei Wutausbrüchen schon zweimal Fensterscheiben im Haus. Einmal trafen die Scherben seine Betreuerin vom Jugendamt. „Von der kann ich jetzt auch nicht mehr viel erwarten“, sagt er. Auf seine Mutter („Die arbeitet bei der Stadt und findet, ich sei eine Schande für die Familie“) zählt der schmale Junge mit der ovalen Brille ebenso wenig, auf den Stiefvater erst recht nicht. Doch Steffen hat die Wochen in der Zinkhütte genutzt, um nachzudenken. Er will seinen Realschulabschluss nachholen. Er will endlich vom Kiffen loskommen – „elfter Versuch“. Und am Küchentisch diskutiert er mit Marijke, welche Ausbildung zu ihm passen würde. „Mach was mit Computern“, sagt die, „das ist die Zukunft.“ Experten wie der Soziologe Peter Hansbauer („Kinder und Jugendliche auf der Straße: Analysen, Strategien, Lösungsansätze“) begrüßen zwar, dass es mit der Mülheimer Zinkhütte für Kids eine neue Alternative zum Leben auf der Straße gibt. Doch entscheidend sei, dass solche „szenenahen Einrichtungen“ mit anderen, weiterführenden Angeboten vernetzt würden, die den Streunern dann so viel Reintegration wie möglich abverlangen. Darauf zielt das Modellprojekt „Ambulante Intensive Begleitung“ des Bundesjugendministeriums, das sich an niederländischen Vorbildern orientiert. Die 20 Projektmitarbeiter in Dortmund, Nürnberg, Magdeburg, Leipzig und im Landkreis Harburg verstehen sich kühl als „Fallmanager“. Die Betreuer, geschult vom Hamburger Institut für Soziale Praxis (isp), bieten seit April obdachlosen und kriminellen Kindern und Jugendlichen, die „pädagogisch kaum noch zu erreichen sind“ d e r (isp-Geschäftsführer Reinhard Koch), einen Deal an: Für drei Monate leistet ein professioneller Helfer Hilfe zur Selbsthilfe. Er ist in Notfällen 24 Stunden erreichbar. Der junge „Kunde“ verpflichtet sich dafür, drei Monate lang einmal am Tag seinen Manager anzurufen oder zu treffen. Gemeinsam versuchen sie, Alltagsprobleme – von Besuchen bei Ärzten und Meldeämtern bis zur Schlafplatzsuche – zu regeln. Damit der Klient anschließend allein klarkommt, soll derweil ein Beziehungsnetz zu Vertrauenspersonen (so genannten VIPs) geknüpft oder repariert werden. VIPs können Verwandte sein, frühere Nachbarn, Lehrer und alte Freunde, aber auch Sachbearbeiter aus dem Wohnungsamt oder pensionierte Polizisten. Noch gibt es keine Abbrecherstatistiken für das bis November 2001 befristete Projekt. Mitinitiator Koch ist optimistisch: Aus den Niederlanden würden „Erfolgsquoten von 50 bis 70 Prozent“ gemeldet. Das dritte neue Konzept setzt früher an. Mit dem „Buddy-Projekt“ will der Verein „Off-Road-Kids“ aus Bad Dürrheim eingreifen, bevor Kinder auf der Straße landen. Die erste Präventionskampagne dieser Art startet bundesweit gegen Jahresende. Dann können Lehrer via Internet (www.offroadkids.de) beispielsweise ein „Medienpaket“ mit Unterrichtsmaterial für die Sekundarstufe 1 anfordern. Dazu gehört ein Dokumentarfilm über Straßenkinder, den Kultregisseur Sönke Wortmann („Der bewegte Mann“) eigens gedreht hat. Wortmann: „Für mich als Regisseur sind Straßenkinder als Menschen mit extremen biografischen Brüchen interessant. Ich sehe in ihnen ein Symptom einer beziehungskranken Gesellschaft.“ Zudem finden Lehrer und Schüler in der Mappe Tipps, wie an der Schule ein Netzwerk aus Kumpeln („Buddys“) zur gegenseitigen Nothilfe aufgebaut werden kann. Denn die Familie kann oft nicht helfen, manchmal ist sie gar der Grund dafür, dass Kinder auf der Straße landen. So bekam Marijke aus der Zinkhütte, wie sie erzählt, zum 14. Geburtstag von ihrer drogensüchtigen Mutter ein paar Gramm Heroin geschenkt. Heute möchte sie „endlich wieder ein richtiges Leben haben“. Seit vier Wochen hat Marijke den Entzug hinter sich. Das blonde Mädchen mit den silbergrau lackierten Fingernägeln und dem Stecker in der Unterlippe meint, dass sie den Absprung diesmal schafft. Denn zum Leben auf der Straße fällt ihr nur noch ein Wort ein: „Dreck.“ Andrea Stuppe s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 73 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Deutschland HOCHSCHULEN Subtiler Druck Hamburger Studenten beklagen sich über nachlässige Professoren – einer soll sogar Examensprotokolle gefälscht haben. 76 M. SCHRÖDER / ARGUS D Hörsaal an der Universität Hamburg: Parzellen reiner Willkür schulrektorenkonferenz. Noch immer können die Lehrherren recht feudal herrschen. Glaubt man den Vorwürfen der drei ExStudenten, gibt es im „WiWi-Bunker“, wie Studierende das hässliche VWL-Lernzentrum auf dem Campus treffend nennen, Parzellen reiner Willkür. Mal ist der Professor bedauerlicherweise zu Tisch, als der Prüfling zum abgesprochenen Termin erscheint, dann nimmt er das Examen gnädig, aber unvorbereitet und missmutig ab. Ergebnis – leider, leider eine 5. Eine Studen- ACTION PRESS ie Politikstudentin an der Universität Hamburg war stinkwütend. „So eine Sauerei“, schimpfte die Examenskandidatin, als sie aus der Sprechstunde ihres Prüfers kam, „was mache ich denn jetzt bloß?“ Eigentlich hatte sie gehofft, ihre schlechte schriftliche Klausurnote im Nebenfach Volkswirtschaftslehre (VWL) mit der mündlichen Prüfung deutlich verbessern zu können, und nun dies: Der zuständige Professor regte recht massiv an, entgegen der Prüfungsordnung auf das mündliche Examen zu verzichten und das Ergebnis der schriftlichen Übung – eine 4 – zu übernehmen. Andernfalls, nun ja, man könne sich ja auch noch verschlechtern. „Das war ein ganz subtiler Druck“, schilderte die Studentin im April dem SPD-Bürgerschaftsabgeordneten Martin Schäfer das Gespräch. Der schrieb eine parlamentarische Anfrage: „Sind dem Senat Fälle bekannt, in denen ein Professor Prüfungskandidaten nahe legte, sich nicht von ihm prüfen zu lassen?“ Antwort des Senats: „Nein.“ Nun haben Schäfer und Kollegen eine weitere Anfrage gestellt: „Es gibt jetzt neuen, zusätzlichen Klärungsbedarf.“ Denn drei Uni-Absolventen mit dem Nebenfach VWL haben inzwischen an Wissenschaftssenatorin Krista Sager und Universitätspräsident Jürgen Lüthje geschrieben und sich detailliert und mit Gedächtnisprotokollen über Missstände im Fachbereich beschwert. Die Vorwürfe sind heftig: Danach verirren sich Professoren nur sporadisch in ihre eigenen Hauptseminare, verändern willkürlich Prüfungsinhalte und verschieben kurzfristig Examenstermine. Die schwerste Anschuldigung aber richtet sich gegen einen der Hochschullehrer: Er soll Studenten von vorgeschriebenen mündlichen Examen abgehalten haben. „Eine mündliche Prüfung findet also nicht statt“, so die Beschwerdeführer in ihrem Brief, „das Prüfungsprotokoll wird frei erfunden.“ Juristen nennen diesen Straftatbestand „mittelbare Falschbeurkundung“. Die Anschuldigungen untermauern die Forderungen nach einer besseren Leistungskontrolle von Professoren und einer Reform des Dienstrechts, die immer stärker die Diskussion um die Modernisierung der deutschen Universitäten beherrschen. „Der Professorenstand ist eine der Zünfte, die aus grauer Vorzeit stammen“, sagt Klaus Landfried, Präsident der Hoch- Uni-Präsident Lüthje Untersuchungsführer beauftragt tin erfährt zufällig durch Aushang am Schwarzen Brett, dass ihre Prüfung bereits stattgefunden hat – ohne sie zu benachrichtigen, war der Termin ein paar Tage vorverlegt worden. „Selbstverständlich können Sie die Note der schriftlichen Klausur übernehmen“, zitiert ein anderer seinen Professor, der sogleich seinen Assistenten angewiesen habe, das Protokoll der Prüfung zu schreiben, die gar nicht stattgefunden hatte: „Geprüft in Internalisierung externer Effekte, in Geldmengensteuerung“. d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Ein wenig plaudert man noch über den Berufswunsch des Studenten – er möchte Journalist werden –, dann gibt es doch einen anderen Eintrag: „Geprüft in Marktversagen in der deutschen Medienlandschaft“. Klausurnote: 3,2, mündliche Prüfungsnote: 3,2. Zum Schluss nur noch die Bitte des Professors, niemandem von seinem „großzügigen Angebot“ zu erzählen – so schreibt es der ehemalige Student. Die Professoren reagieren gereizt: „Es ist ganz klar festzuhalten, dass mich nachweislich kein Vorwurf persönlich betrifft“, sagt Wirtschaftswissenschaftler Wilhelm Pfähler. Kritik an einzelnen Prüfungsmodalitäten hält er allerdings für berechtigt. Vor allem für Nebenfachstudenten entstünde häufig eine „unzumutbare Situation“, wenn sie kurz vor dem Examen einem anderen Professor zugeteilt würden. Ökonom Wolfgang Maennig ist nicht so glücklich darüber, dass Kollege Pfähler öffentlich zu den Anschuldigungen Stellung genommen hat: „Jeder, der sagt, ich war das nicht, weist indirekt anderen die Schuld zu.“ Maennig – im Nebenjob Vorsitzender des Deutschen Ruderverbandes – will sich derzeit nicht äußern, da bitte er um Verständnis. Nur so viel, damit das klar sei: „Ich habe nichts zu verbergen.“ Maennigs Name wird von den Studenten im Zusammenhang mit angeblich gefälschten Protokollen genannt.Vergangene Woche bestellte Uni-Präsident Lüthje den Gelehrten zu sich. „Er hat die Vorwürfe bestritten“, sagt Lüthje, „jetzt muss geklärt werden, welche Darstellung zutrifft.“ Ein „Untersuchungsführer“ soll dies nun versuchen. Studenten, die ihr Examen möglicherweise einer „mittelbaren Falschbeurkundung“ verdanken, können indes weiter ruhig schlafen: „Die Prüfungen bleiben gültig.“ Hans-Ulrich Stoldt Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite SPIEGEL-Serie über Wende und Ende des SED-Staates (5) Die Woche vom 23. 10. 1989 bis zum 29. 10. 1989 »Krenz – kein Lenz« R. BOSSU / SYGMA Mit Tricks und Schikanen gegen die Opposition will die bedrängte SED ihre Vormachtstellung retten. Doch hunderttausende fordern, im Schutz der Kirche, Reisepässe und freie Wahlen: „40 Jahre sind genug.“ Demonstranten mit Anti-Krenz-Parolen am 24. Oktober in Ost-Berlin d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 81 100 TAGE IM HERBST: »KRENZ – KEIN LENZ« CHRONIK E. HÖHNE »Wir können auch anders« Anhänger des Neuen Forums am 23. Oktober in Schwerin: „Das Volk kehrt seinem König den Rücken“ Montag, 23. Oktober 1989 Ost-Berlin Seit seinem Amtsantritt als Stasi-Chef hat Erich Mielke, 81, in der DDR Schrecken verbreitet. Einst, als er seine Opfer noch selbst verhörte, drohte er ihnen: „Dir hack ich den Kopf ab.“ Mutmaßliche Verräter ließ er, zuletzt 1981, nach kurzem Prozess durch einen „unerwarteten Nahschuss in den Hinterkopf“ umbringen. An diesem Montag lernt der Altkommunist – vier Jahrzehnte lang Herr über Leben und Tod, Karriere oder Knast – selbst das Fürchten. In der „Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe“ des Ministeriums für Staatssicherheit läuft Beunruhigendes aus allen Teilen des Landes zusammen. Die Ablösung Honeckers durch den Mielke-Favoriten Egon Krenz hat das Volk zwar von jahrzehntealter Angst befreit, aber die Gemüter keineswegs beruhigt – im Gegenteil: Lange unterdrückte Wut auf die SED und deren „Schild und Schwert“, die Stasi, bricht sich überall im Lande Bahn. 82 In Leipzig – dort strömen diesmal eine drittel Million Menschen zur Montagsdemonstration – rufen Familien in Ausflugsatmosphäre „Krenz macht keinen Lenz“. In Dresden ertönt „Egon Krenz, wir sind nicht deine Fans“. Mit dem Schlachtruf „Neues Forum zulassen“ fordern hunderttausende „unbekrenzte Demokratie“ – gemeint ist das Ende des SED-Machtmonopols: „Egon, sei klug, 40 Jahre sind genug“, „Egon allein, das kann nicht sein“, „Zu viel Macht in einer Hand ist nicht gut für unser Land“. Selbst aus einem Kaff wie Pößneck, Bezirk Gera, 700 Einwohner, melden StasiAgenten „negativ-feindliche Handlungen“: „Ca. 200 Personen“ skandieren „Demokratie, jetzt oder nie“ und stellen Kerzen vor dem Rathaus auf. Geradezu als Fiasko für die Staatspartei und deren Stasi aber erweist sich eine mit Spannung erwartete Kraftprobe zwischen Regierung und Neuem Forum im relativ ruhigen Norden der Republik. In Schwerin hat die SED, ganz im Sinne der von Krenz angekündigten „politischen Offensive“, zu einer Großkundgebung im d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Alten Garten aufgerufen – tückischerweise zum selben Termin, zu dem kurz zuvor die Oppositionsbewegung zur Demonstration geladen hatte. Für Mielke ist der erste große Versuch, dem Neuen Forum die Straße streitig zu machen, ein wichtiger Test: Man müsse „abwarten, was Schwerin an Erfahrung bringt“, hat er vor zwei Tagen in einer Dienstkonferenz erklärt, „das müssen wir dann im weiteren Vorgehen mit berücksichtigen“. Um dem Experiment zum Erfolg zu verhelfen, startet die Schweriner StasiBezirksverwaltung mit Hilfe „aller IM“ eine groß angelegte Geheim-„Aktion ,Offensive‘“: Durch Schikanen und Pressionen („politisch-operative Maßnahmen“) soll erreicht werden, dass die Schweriner Oppositionellen – seit Jahren in Fotosammlungen und Karteien penibel erfasst – „nicht an der Großkundgebung teilnehmen“. Parallel dazu mobilisiert die SED zehntausende von Werktätigen und Kampfgruppen-Angehörigen in Zivil. Doch schon im Vorfeld gibt es Ärger. Im Schweriner Plastmaschinenwerk lehnen 8 von 16 Ab- die Staatsfeinde ihre Archive und Arsenale plündern. „Eigensicherung“ ist das Gebot der Stunde. Noch bilden zwar, wie an diesem Abend in Leipzig, friedliche Demonstranten dichte Menschenketten, um den Eingang der Stasi-Dependancen abzuschirmen – doch wie lange noch? Republikweit ertönen neuerdings immer öfter Rufe wie „Stasi raus“ und „Stasi in teilungsgewerkschaftsleitungen es ab, die Kollegen über die SED-Kundgebung zu informieren; eine solche Gegen-Demo sei „nicht zeitgemäß“. Einzelne Angehörige der Hilfsarmee weigern sich offen, als „Spitzel“ und „Büttel“ zur Demo abkommandiert zu werden. Die ersten „Kämpfer“ hätten, registriert die Stasi, „politisch-ideologisch kapituliert“. Auf dem Kundgebungsplatz hält SEDBezirkssekretär Heinz Ziegner eine inhaltsarme Kurzansprache. Doch trotz aller Manipulationsversuche im Vorfeld beherrschen die Bürgerrechtler die Szene – mit Pfeifkonzerten und Parolen wie „Neues Forum, freie Wahlen, Reisefreiheit!“ „Was in den darauf folgenden Minuten geschieht, ist geschichtsträchtig“, notiert die Journalistin Astrid Kloock – es kommt zu einem „stillschweigenden Volksentscheid, einer Mündigkeitserklärung der Bürger“. Kloock: jor Horst Böhm eine „Einsatzkonzeption“ für „spezielle chemische Substanzen“ entwickeln. Mit so genannten R2-Zerstäubern soll, in Kombination mit Chloroform und Nebelmitteln, das Reizgas Chloracetophenon versprüht werden. In Böhms Einsatzplan ist vermerkt, was die „Alternative zur Schusswaffenanwendung“ bewirken kann: „Bei extremen und ungünstigen Bedingungen können tödliche Vergiftungen auftreten.“ P / F / H Für die SED ist der Tag der Gegenoffensive zum „Schwarzen Montag“ (Kloock) geworden. Tausende teilen den Eindruck, den eine Schneiderin in die Worte kleidet: „Das war ein perfektes Eigentor.“ Einer vom Neuen Forum frohlockt: „Besser hätten die Schweriner Genossen ihren Untergang nicht organisieren können.“ Das spüren auch die Stasi-Beobachter: Sie berichten, dass sich „große Teile der Anwesenden beeindruckt“ zeigten von den Protestlern. Deren „massives Auftreten“ habe bei „einer Reihe“ der 40 000 Kundgebungsteilnehmer „beängstigende Auswirkungen hinterlassen“. Die Stasi-Herren in der Berliner Normannenstraße begreifen: Die eigene Basis ist tief demoralisiert, die Opposition dagegen hoch motiviert. Die Aktion „Offensive“ ist gescheitert, die SED endgültig in die Defensive geraten. Spätestens jetzt wird für Mielke das Undenkbare denkbar: dass die aufgebrachten Bürger irgendwann die Dienststellen der verhassten Staatssicherheit stürmen – und die einst allmächtige Geheimpolizei ohnmächtig zuschauen muss, wie Stasi-Chef Mielke* * Mit Verteidigungsminister Heinz Keßler (r.). BUNDESARCHIV KOBLENZ Niemand hat etwas befohlen, nichts ist verabredet, aber das Volk kehrt seinem König den Rücken und geht eigene Wege. Bürger für Bürger, ein endloser Zug, bewegt sich weg vom Alten Garten durch die Schweriner Innenstadt, friedlich, fröhlichgelöst im Bewusstsein einer ersten Übung in Sachen Demokratie. Gescheiterte SED-Gegendemonstration am 23. Oktober in Schwerin: „Perfektes Eigentor“ die Produktion“. Vorsorglich beauftragt Mielke die „Arbeitsgruppe des Ministers“, Vorschläge zur „Gewährleistung der Sicherheit der Dienstobjekte“ zu erarbeiten. Die Stasi-Strategen sehen sich im Dilemma: Schüsse auf Gebäude-Besetzer würden „der von der Partei angestrebten politischen Lösung entgegenstehen“ und den DialogKurs akut gefährden. Auf eine Objektsicherung ohne Schusswaffe aber ist die DDRGeheimarmee nie vorbereitet worden. Mielkes Helfer entwerfen an den folgenden Tagen einen fünfseitigen Geheimbefehl an alle Diensteinheiten. Kernsatz: „Die Anwendung der Schusswaffe ist nur dann zulässig, wenn das gewaltsame Eindringen in das Dienstgebäude selbst nicht mehr verhindert werden kann.“ Vorrangig, befiehlt der Minister, seien „pioniertechnische Sperrmittel“, „Schlagstöcke (kurz oder lang)“ und „chemische Abwehrmittel“ anzuwenden: „Die betreffenden Angehörigen sind unverzüglich mit der Handhabung der o. g. Geräte und Mittel vertraut zu machen.“ In der besonders gefährdeten Dresdner Bezirksverwaltung lässt Stasi-Generalmad e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Bevor sie Reizgas und Knüppel gegen Demonstranten einsetzen, sollen sich die Stasi-Leute laut Mielke-Order mit Hilfe der „Tontechnik (z. B. Megafon)“ ans Volk wenden. Als Anlage zu seinem Befehl (Aktenzeichen: VVS MfS 0008-84/89) verschickt Mielke zwei Mustertexte, die je nach Gefährdungsgrad in die Flüstertüte gesprochen werden sollen, „nach Möglichkeit im territorialen Dialekt“. Variante 1, Zuckerbrot: „Werte Bürger! Sie werden gebeten, weiterzugehen. Ich appelliere an Ihre Vernunft, bewahren Sie den gewaltfreien Charakter Ihrer Demonstration ... Wenn Sie die Absicht haben, mit uns zu sprechen, sind wir gesprächsbereit. Bilden Sie eine Abordnung von (3 bis 5) Personen …“ Variante 2, Peitsche: „Achtung, Achtung! Hier spricht der Objektkommandant! ... Ich fordere alle auf: Verlassen Sie diesen Straßenabschnitt! Sie zwingen mich, zum Schutz dieses militärischen Objektes Maßnahmen der Gewaltabwendung zu befehlen.“ Militärische Fragen erörtert unterdessen, in seinem Arbeitszimmer im ZK83 100 TAGE IM HERBST: »KRENZ – KEIN LENZ« Gebäude, auch Egon Krenz. Er empfängt den Oberkommandierenden der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte, Armeegeneral Boris Snetkow, der ihm versichert: „Genosse Krenz, wir sind immer bereit, der DDR jede Hilfe zu geben. Benachrichtigen Sie mich, wann immer Sie wollen.“ Krenz notiert über das Gespräch: „Sollte es Provokationen geben, ist die Westgruppe bereit, ihre Verpflichtungen gegenüber der DDR zu erfüllen. Die Westgruppe ist in der Lage, unter x-beliebigen Bedingungen alle gestellten Aufgaben zu erfüllen.“ Stasi-Observationsfoto von Schweriner Oppositionellen*: „Schwarzer Montag“ Dienstag, 24. Oktober 1989 Ost-Berlin JÜRGENS OST + EUROPA PHOTO Volkskammer-Präsident Horst Sindermann, 76, ist überfordert. 26 Gegenstimmen und 26 Enthaltungen bei der Wahl von Egon Krenz zum Staatsratsvorsitzenden – ein solches Ergebnis hat es in der Geschichte des 500-köpfigen DDR-Scheinparlaments, wo Wahlen stets „einmütig“ über die Bühne gingen, nie gegeben. Prompt vertut sich Sindermann. Hilfeheischend wendet er sich an seinen Nachbarn: „Zähl mal mit hier.“ Dann versucht der alte Herr zu scherzen: „Ich werde das Ergebnis nicht verfälschen“ – und weckt damit, peinlich, Erinnerungen an den Kommunalwahlbetrug vom Mai, für den der soeben zum Staatschef gekürte Krenz verantwortlich ist. Staatsratsvorsitzender Krenz (l.)* „Im Dialog als Kommunist bewähren“ 84 Zu diesem Zeitpunkt glaubt die alte Garde der SED offenbar noch allen Ernstes, durch bloßen Personalwechsel die Alleinherrschaft der Partei retten zu können – ohne auf Privilegien verzichten, eine Opposition zulassen und freie Wahlen gewähren zu müssen. Intern, in einer Sitzung der SED-Volkskammerfraktion, hat Egon Krenz die Parole ausgegeben: „Unsere führende Rolle müssen wir besser wahrnehmen. Aber wir sind nicht bereit, sie abzugeben.“ Eine „Wende“ versprechen, aber keine Demokratisierung zulassen, allenfalls eine Liberalisierung – diesen Kurs verordnet Krenz sofort nach seiner Wahl in einem vertraulichen Fernschreiben auch den Spitzenfunktionären in den SED-Bezirks- und Kreisleitungen: Nunmehr gelte es, „die gesamte Partei in die Offensive zu führen“. Jeder Genosse müsse sich, so Krenz, „im ständigen offensiven Dialog mit den Menschen als Kommunist bewähren“: „Er darf nicht zurückweichen und gegnerischen Kräften keinen Spielraum bieten.“ Mit drei längst überfälligen Reförmchen glaubt die SED-Spitze, den Druck im Lande mildern und den galoppierenden Popularitätsschwund bremsen zu können: π Die Medien sollen über Demonstrationen berichten dürfen – die sich, angesichts der nunmehr nach hunderttausenden zählenden Teilnehmerschaft, ohnehin nicht länger verschweigen lassen; π wer wegen versuchter Republikflucht im Gefängnis sitzt, soll amnestiert werden – eine schlichte Selbstverständlichkeit, nachdem Honecker Anfang des Monats tausende von Botschaftsbesetzern in die Bundesrepublik entlassen hat; π Ausreisen in den Westen sollen fortan kurzfristig genehmigt werden – nach einer internen Stasi-Analyse vom Vortag die einzige Möglichkeit, „den künftigen Zulauf zu den diplomatischen Vertretungen der BRD zu minimieren“. Im Übrigen setzt Krenz auf kosmetische Korrekturen. In sein Konzept passt ein Vorschlag des Magdeburger SED-Bezirkschefs * Oben: Nummerierung durch das MfS, Schwärzung von Gesichtspartien durch die Gauck-Behörde; unten: nach seiner Wahl am 24. Oktober, mit Volkskammerpräsident Horst Sindermann. d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Werner Eberlein. Der äußert brieflich die Bitte, der „liebe Genosse Egon“ möge sich einer „sehr akuten Frage“ annehmen: „Was soll mit der ,traditionellen‘ Hasenjagd für Diplomaten geschehen, deren Vorbereitung zentral und in unserem Bezirk bereits intensiv läuft?“ Mit Eberleins Vorschlag, den „Rummel aus unserem Protokoll streichen“ zu lassen, ist Krenz „sehr einverstanden“ – mit diesem Vermerk leitet er den Brief aus Magdeburg ans Politbüro weiter. Ansonsten hofft der Staatschef, weitermachen zu können wie bisher – mitsamt dem alten Personal, mitsamt seinem Mitverschwörer Erich Mielke und all den Angehörigen des Sicherheitsapparats, die für die Übergriffe der letzten Wochen verantwortlich sind. Doch schon am Abend seiner Wahl muss Krenz fürchten, dass er die Rechnung ohne das Volk gemacht hat. Tausend Jugendliche ziehen vom Alexanderplatz zur Krenz-Residenz am MarxEngels-Platz und stimmen Sprechchöre an: „Egon, deine Wahl nicht zählt, weil dich nicht das Volk gewählt.“ Zur selben Zeit zeigt eine Veranstaltung im Ost-Berliner „Haus der jungen Talente“, welche Risiken die SED mit ihrer neuen Dialog- und Pressepolitik eingeht. Im überfüllten Konzertraum, in schweißtreibender Hitze, glauben nicht wenige Besucher, einer Sinnestäuschung zu erliegen: Auf dem Holzpodium diskutiert Markus Wolf, der legendäre Ex-Geheimdienstchef, mit Bärbel Bohley und Professor Jens Reich vom Neuen Forum – der einstige Staatsschützer Seite an Seite mit zwei angeblichen Staatsfeinden. Und neben den jahrelang gegängelten Schriftstellern Stefan Heym und Christoph Hein sitzt nun der Vertreter des Zensurregimes, Vize-Kulturminister Hartmut König. Jeder weiß, wer gemeint ist, als Heym sagt: „Auch nach dem Wechsel bleibt das Wort des Tages: Glaubwürdigkeit.“ Zu erwerben aber, fügt er hinzu, sei diese Eigenschaft „nur durch Taten und nicht durch Worte, und seien sie noch so rührend“. Dann meldet sich ein junges SEDMitglied zu Wort und spricht einen Satz Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite K. MEHNER 100 TAGE IM HERBST: »KRENZ – KEIN LENZ« Ex-Agentenchef Wolf (2. v. l.), Dissident Reich (r.)*: Staatsschützer neben Staatsfeinden derspenstige Geistliche (siehe Analyse Seite 104). Die dialektisch versierten Stasi-Auswerter in Ost-Berlin schätzen die Kirchenveranstaltungen mit Vertretern des Neuen Forums dennoch nicht als puren Misserfolg ein, sondern als halben Erfolg. Die Diskussionen rangieren unter dem Titel: aus, auf den vor kurzem noch Gefängnis stand: „In einem modernen Sozialismus lässt sich die Führungsrolle einer Partei nicht mehr aufrechterhalten.“ Nie zuvor ist eine derart ketzerische These über staatlichen Medien an die Öffentlichkeit gelangt. Bei dieser Diskussion aber ist das Ost-Berliner TV-Jugendmagazin „Elf99“ live dabei. Negativ-feindliche Handlungen und geplante Veranstaltungen des „Neuen Forums“, welche durch intensive Maßnahmen unserer Partei beeinflusst wurden. Mittwoch, 25. Oktober 1989 Ost-Berlin * Oben: am 24. Oktober im „Haus der jungen Talente“; unten: am 19. Oktober auf Schloss Hubertusstock; Konsistorialpräsident Manfred Stolpe (l.) und Landesbischof Werner Leich (3. v. l.). Die Kirchenveranstaltungen fügen sich ein Stück weit in die neue Strategie der SED, den Protest möglichst rasch von der Straße in Gebäude umzulenken. Die „Junge Welt“ gibt die Parole aus: „Man kann über alles reden, aber nicht auf der Straße.“ Und am 19. Oktober, bei einem Treffen mit Kirchenführern auf Schloss Hubertusstock, hat es Krenz als sein Ziel bezeichnet, „die Beendigung der Demonstrationen zu erreichen“. Die öffentlichen Debatten, die sich nun in der Regel an die kirchlichen Andachten anschließen, kommen der Absicht der SED entgegen, Unzufriedene in einen langwie- Donnerstag, 26. Oktober 1989 Bonn Punkt 8.30 Uhr ruft Helmut Kohl den neuen SED-Generalsekretär an: „Also“, spricht der Kanzler, „mein erster Wunsch ist, um das gleich vorweg zu sagen, dass wir regelmäßig miteinander telefonieren.“ JÜRGENS OST + EUROPA PHOTO In der überfüllten Marienkirche drängen sich um 19 Uhr rund 1400 Menschen, hunderte müssen draußen bleiben. Am Mikrofon steht ein prominenter Gast: die westdeutsche Spitzen-Grüne Petra Kelly, 41. Tief bewegt dankt die kleine Frau ihren Freunden von der DDR-Bürgerrechtsbewegung: „Diese Gewaltfreiheit wird in die Geschichte eingehen! Ich verbeuge mich vor euch! Ihr habt mir viel Kraft gegeben.“ „Sehr theatralisch und unterbrochen von Tränenausbrüchen“ sei der Auftritt der „operativ bekannten“ BRD-Bürgerin gewesen, berichten die allgegenwärtigen Stasi-Spitzel an ihre Zentrale. Und: „In der Kirche war ein Team des ZDF tätig.“ Im „Zentralen Operativstab“ der Stasi reißt der Strom ähnlicher Meldungen im Laufe des Abends nicht ab: Ob die Stadtkirche in Jena, die Hauptkirche in Suhl oder die Martinikirche in Haldensleben – zwei dutzend Gotteshäuser haben allein an diesem Tag ihre Pforten für Sympathisanten des Neuen Forums geöffnet, das der Staat gerade erst, vor fünf Wochen, für illegal erklärt hat. Die Kirche in der DDR, so scheint es, hat sich endgültig dem Zugriff des Staates entwunden. Dabei hatte der Geheimdienst sich jahrzehntelang bemüht, die religiösen Freiräume unter seine Kontrolle zu bekommen – mit Hilfe abertausender von Agenten und mit perfidesten Mitteln, bis hin zu Mordplänen gegen wi- rigen Dialog mit den Repräsentanten des Regimes zu verwickeln. Der SED erwächst auf diese Weise ein neues Podium. Beispiel Neubrandenburg: Nach einem Friedensgebet in der Johanniskirche ziehen an diesem Abend tausende zum KarlMarx-Platz. Als sie dort eintreffen, ist das Areal – wie aus einem geheimen Lagebericht hervorgeht – bereits durch „5000 organisierte progressive Bürger“ besetzt. Trotz der bestellten Gegendemonstranten: Auch hier missglückt – wie zwei Tage zuvor in Schwerin – der Versuch der Partei, die Straße zurückzuerobern. Als SED-Bezirkssekretär Johannes Chemnitzer, der die Konter-Kundgebung organisiert hat, ans Mikrofon eilt und die Bürger vor weiteren Demonstrationen warnt, ertönt ein anhaltendes Pfeifkonzert. Da lässt der Dialog-Politiker entnervt die Maske fallen: „Wenn ihr nicht still seid, können wir auch anders!“ Auch West-Kommentatoren sehen die Krenzsche Wendetaktik zu diesem Zeitpunkt zum Scheitern verurteilt. „Zu offenkundig ist die Strategie der SED, die gesellschaftliche Diskussion von der Straße in die Säle und von den Sälen in die vorhandenen Gremien und Institutionen zu kanalisieren“, schreibt die West-Berliner „taz“: „Die SED ist – trotz der Lernangebote der letzten Wochen – weiterhin dabei, Dynamik und Richtung der jüngsten Entwicklung zu verkennen.“ SED-Chef Krenz, Kirchenführer*: „Beendigung der Demonstrationen erreichen“ d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 87 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite 100 TAGE IM HERBST: »KRENZ – KEIN LENZ« Krenz: „Das ist eine gute Idee. Miteinander reden ist immer besser als übereinander reden.“ Kohl: „Es ist inzwischen möglich, dass ich, um einmal ein Beispiel zu nennen, ganz selbstverständlich zum Telefonhörer greife und den Generalsekretär in Moskau anrufe oder umgekehrt. Und das wünsche ich mir auch, dass das zwischen uns geschieht.“ Krenz: „Also abgemacht, Herr Bundeskanzler.“ JÜRGENS OST + EUROPA PHOTO Nach dem Vorgeplänkel wendet sich der Staatsratsvorsitzende gegen übertriebene Hoffnungen im Westen. Er stehe zwar zu seinem „Wende“-Versprechen, werde aber „keinen Umbruch“ zulassen: „Da, hoffe ich, stimmen Sie mit mir überein, dass eine sozialistische DDR auch im Interesse der Stabilität in Europa ist.“ Kohl übergeht die Bemerkung. Wenig später steuert Krenz vorsichtig das Thema Finanzen an. Der SED-Spitzenmann gehört zu den wenigen, die wissen, was in Ost-Berlin als Staatsgeheimnis behandelt wird: Der DDR-Sozialismus, dessen Rettung er sich verpflichtet fühlt, ist pleite. Um die Unruhe im Lande zu dämpfen, müsste Krenz sofort die Versorgungslage verbessern und mehr Auslandsreisen gestatten. Doch für beides fehlt es der DDR an Devisen – die Krenz sich von Kohl erhofft. Das geplante Reisegesetz, lässt der Generalsekretär durchblicken, bedeute für die DDR „erhebliche zusätzliche ökonomische Belastungen“. Die Ständige Vertretung in Ost-Berlin hat der Bonner Regierung bereits vor Tagen signalisiert, das neue Reiserecht sei nur dann durchsetzbar, wenn die Bundesrepublik sich an der Fi- SED-Mann Schabowski (r.), Bürgerrechtler*: Kekse für die Konterrevolution nanzierung beteilige – mit 20 Milliarden Mark. Telefonisch bedrängt der Staatsratsvorsitzende den Bundeskanzler, die Beauftragten beider Seiten sollten möglichst bald Kontakt aufnehmen, „damit dann die Dinge schnell in Gang gesetzt werden können“. Es pressiert. Krenz – der nicht ahnt, dass er sechs Wochen später zum Rücktritt von allen Partei- und Staatsämtern gezwungen wird – zu Kohl: „Der Zeitfaktor spielt ja in der Politik immer eine große Rolle.“ Als der Bittsteller den Hörer auflegt, hat er begriffen: „Die Bonner wollen Zeit gewinnen.“ Krenz notiert: „Den schwarzen Peter, vor allem bei den zusätzlichen Kosten für den Reiseverkehr, soll die DDR behalten.“ ULLSTEIN BILDERDIENST Ost-Berlin Unterschriftensammlung des Neuen Forums „Anhaltende Popularisierung“ 90 Als der Physiker Sebastian Pflugbeil, 42, morgens im Zentralinstitut für Herz-Kreislauf-Forschung in Berlin-Buch erscheint, läuft ihm die Chefsekretärin in die Arme: Günter Schabowski, Mitglied des Politbüros, wolle ihn dringend sehen – noch heute. Unter den Genossen im Institut herrscht helle Aufregung darüber, dass der SEDSpitzenmann ausgerechnet Pflugbeil treffen will. Der Eigenbrötler wird wegen seines Einsatzes für das Neue Forum von den Bonzen an der Spitze der Forschungseinrichtung seit langem schikaniert: Wann immer ein öffentlicher Pflugbeil-Auftritt ansteht, überhäufen sie den Physiker mit Arbeitsaufträgen. Zwei Kilometer weiter, im Institut für Molekularbiologie, forscht Professor Jens Reich, 50. Dort ereignet sich zur selben Zeit eine ähnliche Szene: Auch den Pflugbeil-Mitstreiter wünscht der Genosse Scha* Sebastian Pflugbeil (l.) und Jens Reich (M.) am 26. Oktober in Ost-Berlin. d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 bowski noch heute zu sprechen. Pflugbeil und Reich telefonieren miteinander und setzten sich in die S-Bahn Richtung Stadtmitte. Im Haus der SED-Bezirksleitung in der Kurstraße empfängt der Spitzenfunktionär, der für seine polternde Art berüchtigt ist, das Dissidenten-Duo freundlich bei Keks und Tee. Zwei Stunden lang plaudert die Runde über die Lage des Landes. In einem Punkt kneift Schabowski: Ob er die Meinung des Innenministeriums teile, dass das Neue Forum „verfassungsfeindlich“ sei, wollen Reich und Pflugbeil wissen. „Dafür“, weicht der SED-Bezirkschef aus, „bin ich nicht zuständig.“ Schabowskis Verhalten entspricht der Vorgabe des Politbüros: Gespräche mit jedem Bürger zu führen, „der als Vertreter des Neuen Forums bekannt ist“, aber so, „dass daraus keine offizielle Anerkennung des Neuen Forums abgeleitet werden kann“. Dennoch muss das Treffen von vielen im Land als De-facto-Anerkennung der Oppositionsbewegung verstanden werden. Denn gegen Ende des Gespräches verständigen sich Reich, Pflugbeil und Schabowski auf eine Information an die Presse. Sogar ein Fotograf von „Zentralbild“ erscheint. Auch die SED-Blätter berichten über das „informative Gespräch“ mit „Angehörigen einer Initiativgruppe, die sich ,Neues Forum‘ nennt“. Die Strategie der Bürgerrechtler ist aufgegangen: Bewusst haben die Initiatoren keine Oppositionspartei, sondern eine Sammlungsbewegung gegründet, um auch SED-Genossen in die Debatte über die Zukunft des Landes einzubeziehen. Seit Veröffentlichung des Gründungsaufrufes am 9. September kursieren zwischen Rügen und Rennsteig Listen, in denen sich zu hunderten auch Parteigenossen eingetragen haben, weil sie die Forderung Werbeseite Werbeseite 100 TAGE IM HERBST: »KRENZ – KEIN LENZ« ULLSTEIN BILDERDIENST SIPA PRESS nach Glasnost teilen. Binnen und Staatsgewerkschaft ein sechs Wochen sind 200 000 Problem von hoher „KomUnterschriften zusammengepliziertheit“: Für den 4. Nokommen. vember haben sozialistische Anwalt der Initiative ist Künstler eine Kundgebung auf Gregor Gysi, 41, seit Jahren dem Alexanderplatz beanRechtsvertreter von Oppositragt. Die Demonstration – tionellen und als Sohn eines Thema: Presse- und MeiSED-Staatssekretärs ein Kind nungsfreiheit – weckt bei den der DDR-Nomenklatura. BeVerantwortlichen in Partei reits am 3. Oktober hat Gysi und Geheimdienst von Tag zu dem Innenministerium mitgeTag entsetzlichere Horrorvorteilt, eine Nichtzulassung des stellungen. Neuen Forums widerspreche Polizeichef Rausch Die Genossen fürchten, der „Vereinigungsordnung“ dass der revolutionäre Funke der DDR. von Leipzig am 4. November Weil die Bürgerrechtler auf Berlin überspringt; dass den Sozialismus und die die bislang relativ angepassten Vorherrschaft der SED nicht (weil privilegierten) Hauptoffen in Frage stellen, glaustädter nicht länger bloß Teilben mehr und mehr Genosreformen fordern, sondern sen, diese Opposition lasse massenhaft Verbotenes versich ins System integrieren. langen: freie Wahlen oder gar Potsdams Bezirkssekretär die Wiedervereinigung. Günther Jahn etwa möchte „Inspiratoren und Organidas Neue Forum „in die Nasatoren“ seien „zumeist auf tionale Front eingliedern“, alantisozialistischen Positionen lerdings „keine Strukturen Minister Hoffmann stehende Kräfte“, hat Mielke zulassen“. Zu spät. Über erste vor einer Woche bei einer Organisationsstrukturen verfügt das Fo- Dienstbesprechung analysiert. Ein Teilrum bereits. nehmer, Oberst Rolf Scheffel, notierte darDrei Tage vor der Unterredung mit aufhin als Konsequenz: „Demo möglichst Reich und Pflugbeil hat Schabowski ein verhindern.“ Dossier von Mielke („Streng geheim!“) erDoch Überlegungen, das „gefährliche halten, in dem es heißt, dass sich bei den Ereignis“ zu verbieten, werden rasch fallen „antisozialistischen Sammlungsbewegun- gelassen: „Eine Nichtgenehmigung der Degen“ ein „kontinuierlicher Ausbau der monstration“, schreibt ZK-Kultursekretär Kommunikationsstrukturen“ vollziehe. Kurt Hager an Krenz, „würde die EmotioAlle Aufrufe, so Mielke, würden „un- nen erneut ansprechen.“ Ein Versuch, die vermindert“ verbreitet. Das Neue Forum, Initiatoren durch Einschaltung der Berliner das zunehmend auch „in Betrieben und Theaterintendanten zur Rücknahme der im kommunalen Bereich“ agiere, erfreue Anmeldung zu bewegen, scheitert. sich „anhaltender Popularisierung“. So stecken die Genossen in der Klemme. Der „bekannte Prof. Reich“ plane neu- Ihnen ist klar, was auf dem Spiel steht, erdings sogar, den „Aktionsraum“ durch wenn in der Hauptstadt der DDR, unter „Infiltration“ der Einheitsgewerkschaft den Augen der Weltpresse, die Regierenden FDGB zu erweitern: Die Staatsfeinde wen- Buhrufe und die Oppositionellen Beifall den sich den Werktätigen zu. ernten. Höchste Zeit also für die SED, die AusStasi-Generalmajor Siegfried Hähnel, grenzung der „Konterrevolutionäre“ auf- der die Ergebnisse der Sitzung in der SEDzugeben. Andernfalls riskiert sie, rasch vol- Bezirksleitung festhält, notiert beschwölends in die Isolation zu geraten. rende Worte des Kulturministers: „Wir können die Hauptstadt nicht abriegeln. Das, was hier geschieht, ist demzufolge eine SiSonnabend, 28. Oktober 1989 tuation in europäischen Dimensionen, wenn nicht noch mehr.“ Ost-Berlin Angesichts der Bedrohungslage ist in Die Krisensitzung ist geheim, Kulturminis- den letzten Tagen eine kühne Idee gereift: ter Hans-Joachim Hoffmann, 60, kann of- der Plan, die riskante Künstler-Kundgefen reden: „Diese Regierung ist zur Zeit bung umzufunktionieren – in eine Prohöchst unpopulär. Da kann kommen, wer SED-Reformdemo. Auch Polizeipräsident Friedhelm Rausch will, er wird von vornherein ausgepfiffen.“ Das Misstrauen im Volk sei gewaltig: „Es empfiehlt, die Veranstaltung „offensiv“ nutzt alles nichts, wenn wir hoch und hei- und „unter Nutzung anerkannter Persönlig beteuern, es mit der Wende ehrlich zu lichkeiten“ zu organisieren. Es müsse versucht werden, sie „in die Politik der Partei meinen – sie glauben uns einfach nicht.“ In den Räumen der Berliner SED-Be- einzuordnen“. Natürlich, gibt Kulturminister Hoffmann zirksleitung erörtert Hoffmann mit den Spitzen von Stasi und Vopo, Staatspartei laut Protokoll zu bedenken, dürfe die Par92 d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite 100 TAGE IM HERBST: »KRENZ – KEIN LENZ« tei dabei „nicht zu vordergründig“ operieren, also nicht „nach der alten Methode der Bolschewiki“. Der Minister erläutert, was er meint: Dissidenten wie den Liedermacher Wolf Biermann nach Ost-Berlin eingeladen. Tatsächlich hat die Bürgerrechtlerin den Sänger, der seit November 1976 aus der DDR ausgesperrt ist, vor vier Tagen am Telefon dringend gebeten, er möge „auf unserer Demo am 4. November singen“. Wenn die Gegner eine Demonstration organisieren, denn gehen die Bolschewiki hin und stellen sich an die Spitze – das war unter den Bedingungen von 1905 sicher möglich. Heute können wir nicht einfach mit unseren Losungen hingehen und die Sache umzudrehen versuchen und sagen, das ist unsere Demonstration. Wer so rangeht, verfehlt von vornherein unsere Absicht. Denn wenn sie sich von uns abspalten, werden sie unkontrollierbar und werden das Gegenteil von dem machen, was wir wollen. Biermann: „Du hast ja tolle Pläne. Meinst du, das ist möglich? Meinst du wirklich?“ Bohley: „Das muss möglich sein, dass du hier für uns singst …“ Biermann: „Ach Mensch, Bärbel, mach mir nicht den Mund wässerig … Ich möchte so, so gerne bei euch sein und singen oder Handstand machen … Klar Mensch. Dann bring ich meine schöne alte Weißgerber-Gitarre mit, auf der ich ja noch immer spiele. Wenn wir die Demonstration richtig in die Hand kriegen würden, könnten wir auch ohne Zweifel die Führung bestimmter Prozesse wieder fester in die Hand bekommen. GAMMA / STUDIO X So werden die treuen IM und SED-Genossen unter den Kulturschaffenden verpflichtet, „sich in einem angemessenen Umfang an dieser Veranstaltung aktiv zu beteiligen“: Sie sollen der Kundgebung „durch ihr Auftreten bzw. ihre mitgeführten Losungen im Sinne unserer neuen Medienpolitik ein progressives Gepräge geben“. Zustimmend nehmen die versammelten Partei-, Polizei- und Geheimdienstgrößen die von den Veranstaltern vorgeschlagenen Losungen zur Kenntnis. Die Parolen sind brav genug – von der Feststellung „Die Straße ist die Tribüne des Volkes“ bis zu dem Spruch „Misstrauen ist die 1. Bürgerpflicht“. Sorge bereitet den Strategen die Möglichkeit, dass ein Teil der Demonstranten einfach zur Mauer weitermarschieren M. OLBRISCH Nötig sei vielmehr, so Hoffmann, „ein hohes Maß an Beweglichkeit“. Ein möglichst großes Aufgebot von SED-Freunden mit Reform-Image müsse, so offenbar sein Kalkül, die geplanten Auftritte von SEDGegnern zumindest neutralisieren: Dissident Biermann (1975) „Oh, ihr wunderbar Verrückten“ könnte. Polizeipräsident Rausch erklärt sich bereit, noch einmal mit den Initiatoren im Vorbereitungskomitee zu sprechen, um ihnen „mit aller Deutlichkeit“ darzulegen, dass „die Brücken am Marx-Engels-Platz unsere Festung bleiben müssen“ – von dort bis zum Brandenburger Tor sind es noch anderthalb Kilometer. Mit unterschiedlichem Ergebnis versuchen die Konspirateure, auf die Rednerliste Einfluss zu nehmen. Die Idee von SED-Kulturfunktionären, Egon Krenz aufs Podium zu hieven, wird rasch fallen gelassen. Erich Mielke ruft den pensionierten Stasi-General, Reformkommunisten und Einheitsgegner Markus Wolf an und fragt ihn, ob auch er auf der Freiheitskundgebung zum Volk sprechen wolle. Alarmiert zeigt sich das MfS über „interne Informationen“, dass „die Führungskräfte des ,Neuen Forum‘ zunehmend Einfluss auf die Gestaltung der geplanten Demonstration erlangen“: „Die Bohley“ habe Bohley: Am 4., Wolf … Biermann: Oh, ihr Verrückten, ihr wunderbar Verrückten. Ich will das gerne, natürlich … Aber ich muss dir wirklich sagen, Bärbel, diese affenartige Geschwindigkeit, mit der sich diese alten Schweinehunde jetzt ändern – da hat man natürlich Angst, dass sie sich nicht ändern, sondern nur winden, dass sie sich nur krümmen in die nächste Schiefheit und dass sie sozusagen mit Wahrheiten wieder lügen. Ich sehe das mit großer Skepsis. Eine Einreise Biermanns, des prominentesten aller DDR-Dissidenten, will das Mielke-Ministerium um jeden Preis verhindern. Dabei haben die Generäle willfährige „progressive Kunstschaffende“ (Stasi-Attribut) auf ihrer Seite. Bei einer Besprechung im Polizeipräsidium sagt der Schauspieler Hans-Peter Minetti, Mitglied des ZK der SED, laut Akte: „Biermann ist für uns inakzeptabel … der Sozialismus steht für uns nicht zur Disposition, und wir lassen ihn auch nicht zur Disposition stellen.“ Am 27. Oktober verfügt das MfS: Die Reisesperre für Biermann wird aufrechterhalten. Auch gegen einen Auftritt der Dissidenten Bärbel Bohley und Jürgen Fuchs interveniert die Stasi mit Erfolg. Auf einem Vorbereitungstreffen der Veranstalter besteht laut Protokoll Einigkeit bei den Organisatoren: „Wir sorgen dafür, dass die richtigen Redner sprechen und bei allem Ernst der Situation wir auf heitere Art den Problemen zu Leibe rücken.“ Am Ende stehen 26 Redner auf der Liste – großenteils „Persönlichkeiten“ (Stasi-Terminus) wie Rechtsanwalt Gysi und andere SED-Genossen. Dazwischen gemischt sind etliche systemtreue Reformer und gerade mal vier Vertreter der neuen BürgerbeweBürgerrechtlerin Bohley Einladung für den Liedermacher Werbeseite Werbeseite 100 TAGE IM HERBST: »KRENZ – KEIN LENZ« zwischen Dissidenten und Stasi. Nur 17 von 80 Oppositionellen erreichten die Wohnung in Berlin-Mitte. Doch nicht nur die Geheimpolizei hat im Vorfeld der DA-Gründung für Probleme gesorgt. Zwischen zwei führenden Köpfen der Bürgerbewegung kriselt es: Bohley und Eppelmann, die sich nicht ausstehen können, hatten sich abgesprochen, einander über alle Gründungsabsichten zu informieren. Bohleys Neues Forum, so der Vorwurf der DA-Initiatoren, habe die Absprache gebrochen. Dass die Malerin eine lockere Sammlungsbewegung ins Leben gerufen hat, der Pfarrer dagegen eine klassische Partei gründen will – das ist nicht nur Folge strategischer Differenzen. Bohley misstraut dem juristischen Berater des DA, dem Rostocker Rechtsanwalt und Eppelmann-Mitstreiter Wolfgang Schnur, 45. Der kleine Mann mit den großen Augen, Rechtsvertreter vieler Oppositioneller, umtriebigen wie umstrittenen Juristen Schnur. Für Eppelmann, der sich als „geistigen Vater“ des DA sieht, ist die Wahlschlappe eine „schmerzliche Überraschung“: Noch Anfang des Monats, als die Stasi die DA-Gründung verhinderte, wären seine Anhänger in der Mehrheit gewesen. Eppelmanns Kontrahent Schnur hat am selben Tag noch einen zweiten wichtigen Termin. Nach Anbruch der Dunkelheit fährt der Anwalt, wie so oft in den letzten Monaten, in die Greifswalder Straße 87 im Prenzlauer Berg. Dort, in einer Konspirativen Wohnung der Stasi, berichtet er brühwarm über den Coup, der ihn an die Spitze der DDR-Opposition geführt hat. Sonntag, 29. Oktober 1989 Sein Führungsoffizier Joachim Wiegand, Ost-Berlin 57, zählt den „IM Torsten“ zu seinen besten Kräften: Seit Schnur im Alter von 18 Das Königin-Elisabeth-Krankenhaus liegt Jahren eine Stasi-Verpflichtungserklärung nur wenige hundert Meter von der Mauer unterschrieben hat, zeichnet er sich durch entfernt, wo wie an jedem Morgen Grenz„operative Geschicklichkeit“ aus. Sogar soldaten Posten stehen. Doch allen Beden Entwurf des DA-Statuts hat er mit der Stasi abgestimmt. Nun kann Wiegand melden, dass mit Schnur ein Mann den DA führt, der sich „gegen einen Konflikt mit der SED“ ausspreche, während Eppelmann die „Aufhebung der führenden Rolle“ der Einheitspartei fordere. Seit mehr als 20 Jahren schon informiert Schnur die Geheimpolizei über Absichten und Ansichten von Bürgerrechtlern und Geistlichen. Allein in der Rostocker StasiZentrale füllen die Berichte des IM, der auch als „Dr. Ralf Schirmer“ geführt wurde, mehr als 20 Aktenordner. Während seiner Spitzeltätigkeit vertritt Schnur Oppositionelle wie die Regisseurin Freya Klier und deren Mann Stefan Krawczyk. Im Auftrag der Stasi hat der Anwalt mit Psycho-Tricks dafür gesorgt, dass beide nach ihrer Verhaftung 1988 gegen ihren Willen aus der DDR ausreisten. Mit „Onkel Jo“ Wiegand – wie Schnurs Kinder den Freund der Familie nennen – Stasi-Opfer Eppelmann, Stasi-Agent Schnur*: Spitzelberichte für „Onkel Jo“ verbindet den Spitzenspitzel „kameradschaftliche Zusamfürchtungen zum Trotz scheinen sich die steht bei einigen im Verdacht, menarbeit“. Die fördert nicht Uniformierten wenig darum zu kümmern, für die Stasi zu arbeiten. nur die Karriere des Agenwas in der kircheneigenen Klinik vorgeht. Doch die meisten der Kirtenführers, sondern zahlt sich Unbehelligt betreten rund 200 Frauen chenleute im DA halten das auch für Schnur aus. und Männer, darunter viele fromme Bart- für üble Gerüchtemacherei; Schon vor Jahren hat die träger, den Gemeindesaal des evangeli- sie sehen in dem Anwalt vor Stasi dem Juristen zu einer schen Krankenhauses. Dort wollen sie allem einen geschickten JurisZulassung als Einzelanwalt heimlich eine Partei gründen, die den Herr- ten und Organisator, der ihre verholfen. Seine Spitzelbeschenden ganz und gar nicht genehm ist: Reformvorstellungen teilt. richte werden überdurchSchnur hat auch das DAden Demokratischen Aufbruch (DA). schnittlich gut honoriert, Es ist nicht der erste Gründungsversuch. Statut mitentworfen, in dem dazu kommen Spesen für Noch am 1. Oktober hat die Stasi eine DA- es in schönstem BürokratenHotelaufenthalte sowie BenZusammenkunft in der Kirchengemeinde deutsch heißt: „Die Vertre- Stasi-Mann Wiegand zin fürs Westauto und ab von Rainer Eppelmann verhindert (siehe tung im Rechtsverkehr erfolgt Porträt Seite 100). Auf kleinen Zetteln gab durch den Vorsitzenden und einen zu be- und zu Auszeichnungen samt Zusatzprämie. der Pfarrer darauf einen neuen Versamm- stimmenden Stellvertreter.“ Den letzten Orden hat Mielke dem Zum Vorsitzenden ihrer „Partei in Grünlungsort aus: die Wohnung des Theologen dung“ wählen die Versammelten nicht den Vorsitzenden des DA erst jüngst verliehen Ehrhart Neubert. Kaum hatte sich der neue Treffpunkt allgemein geschätzten Pfarrer Eppelmann, – zum 40. Jahrestag der DDR, als Mielkes herumgesprochen, begann ein Wettlauf dessen „Blues-Messen“ der Opposition Schläger auch Schnurs Kirchenfreunde Schutz boten und gegen den die Stasi malträtierten. J OCH E N B ÖLSCH E ; * Bei der DA-Gründung am 29. Oktober. Mordpläne schmiedete, sondern den so STEFAN BERG, Norbert F. Pötzl, Peter Wensierski DPA W. BEU gungen, darunter Jens Reich und Marianne Birthler, in Stasi-Aktenvermerken als „hinlänglich bekannte Kräfte“ abgestempelt. Auch Kulturminister Hoffmann trägt zur Optimierung der Rednerliste bei. Der Zensur-Verfechter verzichtet zu Gunsten von Günter Schabowski darauf, auf der Künstler-Demo zum Thema Freiheit zu reden. „Für die Schlacht“ sei der wendige Polit-Bürokrat Schabowski geeigneter, findet Hoffmann – in dieser schwierigen Lage müsse die Partei Genossen aufbieten, die, anders als er, „nicht von vornherein ausgepfiffen werden“. 96 d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite 100 TAGE IM HERBST: »KRENZ – KEIN LENZ« PORTRÄT »Ick find det ja schau« Rainer Eppelmann: Der ehemalige Bürgerrechtler genießt seine Rolle als CDU-Vorzeigefigur 100 Nur der Ministerkollege im Westen, Gerhard Stoltenberg, widersetzt sich der Charme-Offensive des Ost-Pfarrers bockig. Eppelmann schlägt ihm 1990 als Ort für ein erstes Treffen Torgau an der Elbe vor – wo 1945 Amerikaner und Sowjets sich die Hände reichten. Stoltenberg findet, das Holiday Inn Airport Hotel in Köln reiche auch. Fünf Monate später ist Deutschland geeint – und Eppelmann nicht mehr Minister. „Früher hat man sich vom Kennenlernen bis zu dem Moment, in dem man sich ins AP E s gibt Tage, da legt Pfarrer Rainer Eppelmann, 56, sein theologisches Rüstzeug inzwischen ab wie der Seidenspinner den Kokon. Er vergisst dann Lukas 18, Vers 20: „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden.“ Auch Römer 16, Vers 17: „Dass ihr euch in Acht nehmt vor denen, die Zwietracht und Ärgernis anrichten.“ Und ist mit Fleisch und Blut und ohne rote Ohren Politiker. Ein „Arbeitslosenmarsch nach Berlin“ sei kaum mehr zu vermeiden, weissagt Eppelmann im Sommer 1999. Die „Gerechtigkeitslüge“ und die „Arbeitsmarktlüge“ der Regierung Schröder trügen Schuld an der Misere. Und er? 1989 ist Eppelmann Politiker geworden. Acht Jahre lang hat seine Partei, die CDU, nach der Wende Deutschland regiert. Aus zwei Millionen Arbeitslosen wurden fast fünf in jener Zeit. Aus dem von Staats wegen verfolgten DDR-Bürgerrechtler Eppelmann aber wurde ein Mitglied des gesamtdeutschen CDU-Präsidiums. Eppelmann sagt: „Ich bin mir treu geblieben. Nur die Verhältnisse haben sich geändert.“ Vor 1989 war der Mann mit dem Ulbrichtbart und den zupackenden Händen als aufmüpfiger Seelsorger der Berliner Samariterkirche und Bausoldat, als StasiOpfer und politischer Häftling ein dicker Dorn im wachsamen Auge des SED-Staats. Im Wendejahr 1990 aber wird der Vorsitzende des Demokratischen Aufbruchs mit einem Schlag Minister, zuerst ohne Geschäftsbereich, dann für Abrüstung und Verteidigung. Vom Objekt wandelt er sich zum Subjekt der Staatsräson – ein Quantensprung mit Punktlandung, vom Rand ins Zentrum der Gesellschaft. Es folgen sechs Monate Weltpolitik mit menschlichem Antlitz. Eppelmann erscheint bei Gorbatschow im Kreml mit einer handverzierten Kerze, auf der „Spassibo“ steht – danke; er versichert den Oberbefehlshaber der waffenstarrenden Warschauer-Pakt-Truppen beim Sekt seiner Freundschaft, um dann den Abschied der DDR vom Bündnis zu besiegeln. Und er stellt den gestürzten Honecker mit den Worten: „Ich komme als Mensch.“ Das geforderte Schuldbekenntnis des greisen Ex-Patriarchen tippt Margot Honecker eigenhändig unter Eppelmanns Augen. Bett legte, ein wenig mehr Zeit gelassen“, sagt Eppelmann später säuerlich. Er tröstet sich mit einem Bundestagsmandat, dem Vorsitz der Christlich Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA) und einem Platz im CDU-Präsidium. Eppelmann sagt, er wolle was bewegen, als Pendler zwischen den Welten. Aber versteht der Westen, was den Osten beschäftigt, und umgekehrt? „Zumindest da, wo Rainer Eppelmann uffjetreten is’“, sagt Rainer Eppelmann. Schwer zu sagen, wann er scherzt. Die verheerenden Urteile vieler seiner Parteifreunde scheinen ihn nicht zu erreichen oder nicht zu bekümmern. Der ehemals Unbeugsame habe es seit der Wende versäumt, für „irgendetwas gerade zu stehen“, heißt es. Stattdessen wolle er es allen recht machen: „Ein Pfarrer eben, Gutmensch; bekanntermaßen richten solche Leute nicht unerheblichen Schaden an.“ Gerade im Urteil des Ostens hat’s Eppelmann schwer. Vermutlich auch, weil er immer da steht, wo die Mehrheit nicht ist – in der DDR am Rand, seither im Mittel- Christdemokrat Eppelmann, Parteifreund Kohl (1989): „Weil ick ja so bejehrt bin“ d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 punkt. Und weil er einerseits betont, das proletarische Maurer- vor dem Pfarrerhandwerk erlernt zu haben, andererseits aber zunehmend von sich selbst in der dritten Person spricht: „Ick jeh mal davon aus, dass der Rainer Eppelmann ooch eitel is’“. „Dass man Rainer so leicht in die Pfanne hauen kann, hat einen Grund: Er ist authentisch“, sagt Katja Havemann. Die „Ich bin mir treu geblieben“, sagt der Pendler zwischen den Welten, „nur die Verhältnisse haben sich geändert.“ Witwe des Regimekritikers Robert Havemann, mit dem zusammen Eppelmann 1982 den „Berliner Appell“ verfasst hat, vermutet, des Pfarrers Geltungsdrang könne frühen Kränkungen geschuldet sein: „Die Stasi wollte ihn ja umlegen. Er sagt sich: Jetzt bin ich einflussreicher als ihr.“ Gehetzt wirkt er immer noch, zehn Jahre nach der Wende. Nur anders als früher, als sie ihm Wanzen in die Wohnung gepflanzt, eine untreue Ehefrau angedichtet, und nach dem Leben getrachtet haben. Jetzt hetzt er sich selbst. Zwischen dem Plenarsaal des Bundestages, Referaten vor Senioren im Bergischen Land und Ortsterminen in einsamen märkischen Flecken rudert der Abgeordnete nun im Rhythmus der Macher-Gesellschaft – mit einer Schlagzahl, die das Gefühl von Bedeutung gibt und die Angst vor der Leere nimmt. Eine organische Herzstörung haben die Ärzte letztes Jahr bei ihm festgestellt – nichts Schlimmes, sagt er. Seine Ehefrau hat ihn zum zweiten Mal verlassen. Traurig, aber nicht zu ändern, sagt der Christdemokrat: „Dit is’ eben der Eppelmann. Der is’ anders nicht zu haben.“ Und überspielt Zweifel am Sinn seines Tuns bei Auftritten im Osten, wo Hast weithin noch als verdächtig gilt, mit dem ihm eigenen Humor: „Ihr wisst ja, dass ick heut’ noch mal lospfeifen muss nach NRW, weil ick ja so bejehrt bin.“ Als Spitzenkandidat der brandenburgischen CDU hat Eppelmann bei der Bundestagswahl 1998 das schlechteste Zweitstimmen-Ergebnis aller Landesverbände eingefahren. Und keine einzige Erststimme. Er hatte die Anmeldung verschlafen. Ginge es danach, „wat Kutte und Luise so sajen“, wie Eppelmann Volkes Meinung nennt, war diese Panne ein Dämpfer zur rechten Zeit – für einen, der mit blütenreiner Widerstandsbiografie ein wenig zu glatt ins neue System geschlüpft ist. Eppelmann selbst sieht wenig Anlass, sich in Frage zu stellen. Er sagt: „Ick find det ja schau, wat ick jetzt mache.“ WALT E R M AYR d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite 100 TAGE IM HERBST: »KRENZ – KEIN LENZ« ANALYSE »Für Gott und Adenauer« Schutzraum Gotteshaus: In den DDR-Kirchen keimte die Wende – trotz Überwachung, Mordkomplotten und Schikanen D er 7. Mai 1953 war einer der Höhepunkte im Leben des Walter Ulbricht. An jenem Tag, wenige Wochen nach dem Tode Josef Stalins, reiste der DDR-Führer an die Oder, um eine neu erbaute Stadt zu weihen – Stalinstadt sollte sie fortan heißen. Mit der Kommune, in unmittelbarer Nähe eines soeben aus dem Boden gestampften Stahlwerkes, sollte die erste sozialistische Stadt auf deutschem Boden verwirklicht werden – ein Gemeinwesen, in Zum Gottesdienst trafen sich die wenigen Frommen in einer Holzbaracke, ohne dass eine Glocke zum Gebet rufen durfte. Erst 1977 willigte die SED in den Bau eines Gemeindezentrums ein – als der Wunsch nach Devisen den nach ideologischer Reinheit zurücktreten ließ. Gegen Westgeld durfte die evangelische Kirche ein Gotteshaus in Eisenhüttenstadt errichten. Der Kampf gegen die Kirche war für Ulbricht eine Herzenssache. „Die ,Junge Gemeinde‘ in Berlin gehört zu den ärgsten November 1952. Beispiel: „Dem Pfarrer G. in Karbe ist es gelungen, die gesamte FDJGruppe für die ,Junge Gemeinde‘ zu gewinnen. Große Zugkraft besitzt hier der Sänger- und Bläserchor.“ Bei harten Worten beließen es die Parteioberen nicht. In den Fünfzigern führten SED und Stasi einen offenen, brutalen Kampf gegen die Kirche – mit Verhaftungen, Brandstiftungen und Schikanen. Um die Kirche zu schwächen, schuf Ulbricht eigene Glaubensinhalte: Er setzte 1955 der Konfirmation die atheistische Jugendweihe entgegen, ließ später die „Zehn Gebote der sozialistischen Moral“ sowie die „Gebote der Jungpioniere“ verkünden. Die Folgen der konzertierten Aktion aus brutaler Gewalt und atheistischen Gegenangeboten waren verheerend: Weite Teile des Bürgertums verließen die DDR gen Westen, darunter tausende Kirchgänger. JÜRGENS OST + EUROPA PHOTO Weder Spitzel noch Einfluss-Agenten bekamen die zunehmend rebellische Basis der Kirche in den Griff. SED-Chef Honecker (r.), Kirchenführer (1987)*: Limousinen für die Oberhirten dem die „historische Mission“ der Arbeiterklasse Gestalt annehmen und kein Platz für andere Missionare sein sollte. Er sei gefragt worden, erklärte Ulbricht zur „Namensweihe“, ob die Stadt Türme erhalten werde. Antwort: „Jawohl, das Gebäude, das die neue Volksmacht repräsentiert, das Rathaus, wird selbstverständlich einen schönen Turm bekommen. Im Stadtplan ist ein schönes Kulturgebäude vorgesehen. Das wird einen noch schöneren Turm erhalten.“ Andere Türme brauche die Stadt nicht, jedenfalls „keine Türme bürgerlich-kapitalistischer Verdummungsanstalten“ – zu Deutsch: keine Kirchen. Jahrzehntelang wurde der kleinen Christenschar in Stalinstadt (später Eisenhüttenstadt) der Bau einer Kirche verwehrt. 104 konterrevolutionären Kräften“, schimpfte er im Politbüro, schlimmer als die Sozialdemokratie: „Sie sind Anhänger der Nato und des Klerikalismus. Sozialdemokratische Funktionäre sind oft feige, aber die von der ,Jungen Gemeinde‘ sind fanatisch. Sie sterben für Gott und Adenauer.“ Der sozialistische Jugendverband FDJ, den Erich Honecker von 1946 bis 1955 führte, fürchtete die fromme Konkurrenz. „Es ist der ,Jungen Gemeinde‘ gelungen, innerhalb eines Jahres einen Zuwachs von 50 Prozent Mitgliedern zu erhalten“, notierte Stasi-Chef Erich Mielke bereits im * Landesbischof Werner Leich (4. v. r.) und Konsistorialpräsident Manfred Stolpe (3. v. r.) bei Honeckers 75. Geburtstag. d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Der Umgang von SED und Stasi mit den Kirchen hat sich immer wieder geändert, die Grundeinstellung aber nicht. „Allein durch ihre Existenz“, bilanziert der Historiker Stefan Wolle, „untergruben die Kirchen das ideologische Wahrheitsmonopol, forderten die Staatsmacht an ihrer empfindlichsten Stelle heraus und wurden damit, ob sie es wollten oder nicht, zur ,offenen Tür‘ in einer geschlossenen Gesellschaft, hinter der die Macht der SED nur sehr eingeschränkt galt.“ Nach der Aus- und Gleichschaltung der politischen Parteien und Massenorganisationen blieben als selbständige gesellschaftliche Instanzen nur die Kirchen. Gefürchtet war vor allem die evangelische Kirche, die in beinahe jedem Dorf mit Räumen und Mitarbeitern präsent war. Zwar haben die Kirchenoberen niemals eine Strategie entwickelt, ihre Institution zur Operationsbasis für die Opposition zu machen. Dennoch glaubte die Stasi in ihrem Verschwörungswahn jahrzehntelang daran, die Geistlichen wirkten gezielt darauf hin, den SED-Staat von innen aus- Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite 100 TAGE IM HERBST: »KRENZ – KEIN LENZ« abgelehnt, da der Aufwand zu hoch und das Ergebnis nicht kalkulierbar“ war. Ein Mordkomplott gegen Pfarrer Eppelmann wurde abgeblasen, weil „das zu Schaden kommen von unbeteiligten Personen nicht ausgeschlossen werden konnte“. Eppelmann sollte laut Stasi-Bericht spätabends in seinem Trabi sterben. „Hierzu wurden mehrere Varianten geprüft (Radmuttern lockern, in der Kurve Scheibe zerstören, vor der Kurve Spiegel aufstellen).“ Ein öffentliches Konzert 1976 in der Nikolaikirche von Prenzlau, bei dem Wolf Biermann sang, wurde für oppositionelle Gruppen und Pastoren zur D. EISERMANN zuhöhlen. In Wahrheit waren die Oberhirten, geprägt von den Erfahrungen der fünfziger Jahre, vorwiegend auf die Erhaltung der eigenen Institution aus. Viele passten sich an, schwiegen zu Mauer-Schüssen und Stasi-Terror. Nicht wenige ließen sich mit Privilegien ködern. Für die Genehmigung von Westreisen oder die Erlaubnis zum Import von Luxuslimousinen dankten Bischöfe bisweilen gar mit Lobeshymnen auf Erich Honecker. Trotz aller Schikanen ließ sich die Masse der Jüngeren auf Dauer weder von den leidvollen Erfahrungen der Älteren einschüchtern noch von den Privilegien kor- Kirchliche Friedensaktion (1983), Friedenszeichen „Radmuttern lockern, in der Kurve Scheibe zerstören“ rumpieren. Sie nutzten den Freiraum Kirche und öffneten ihre Räume zunehmend für offene Jugendarbeit, Friedenskreise oder die Beratung von Wehrdienstverweigerern. Gegen renitente Gemeindepfarrer oder Kirchenhelfer ging die Stasi häufig brutal vor: Es wurde verprügelt, denunziert und drangsaliert, selbst vor Mordplänen schreckten Mielkes Helfer nicht zurück. Dem Ost-Berliner Dissidenten Ralf Hirsch etwa sollte, so hatten sich kranke Hirne in der Bezirksfiliale Berlin des MfS ausgedacht, eine Vergewaltigung im Vollrausch untergeschoben werden. Der junge Mann, der gute Kontakte zu westlichen Korrespondenten hielt und zum engsten Kreis um den Pfarrer Rainer Eppelmann von der Ost-Berliner Samaritergemeinde gehörte, schien den Mielke-Leuten so gefährlich, dass sie sogar erwogen, ihn betrunken zu machen und dann „in einer strengen Winternacht“ (Stasi-Akten) erfrieren zu lassen. Die Ost-Berliner Pfarrerin Ruth Misselwitz, die zusammen mit ihrem Mann, dem Pfarrer Hans-Jürgen Misselwitz, ebenfalls zur kirchlichen Kern-Opposition gegen das Regime gehörte, sollte bei einem Fahrradunfall zu Tode kommen. „Der Plan“, heißt es in den Stasi-Unterlagen lapidar, „wurde Initialzündung. Überall im Land öffneten sich nun Kirchentore für kritische Schriftsteller wie Stefan Heym, Günter de Bruyn und Rolf Schneider. Nachdem die SED-Führung, auf internationale Anerkennung bedacht, 1975 die KSZE-Schlussakte von Helsinki unterzeichnet hatte, verzichtete sie weitgehend auf offene Konfrontation mit den Kirchen; Strafverfolgung kritischer Pfarrer und Dissidenten wurde selten. Umso mehr agierte die Stasi im Verborgenen. Das Spitzelsystem, mit dem der Staatssicherheitsdienst vor allem die evangelische Kirche durchdrang, wurde ausgebaut. Ende der achtziger Jahre waren allein 3000 Inoffizielle Mitarbeiter gegen die Protestanten im Einsatz. „Unser Ziel“, so Klaus Roßberg, langjähriger Chef der Stasi-Kirchenabteilung, „war die Lagebeherrschung.“ Zumindest in den Chefetagen hatte die Mielke-Truppe Erfolg: Durch Spitzeldienste Inoffizieller Mitarbeiter wie Konsistorialpräsident Martin Kirchner (IM „Küster“) und durch Offiziere im besonderen Einsatz wie Kirchenjurist Detlef Hammer (OibE „Günter“) war Mielke stets im Bilde. Doch die Kirche war nie so autoritär und zentralistisch aufgebaut wie SED und d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Stasi. Weder Spitzel noch Einflussagenten bekamen die zunehmend rebellische Basis der Kirche in den Griff. Nahezu zeitgleich mit der Friedens- und Ökologiebewegung im Westen erfasste auch im Osten Deutschlands die Angst vor Hochrüstung und Umweltverschmutzung weite Teile der Jugend. Blues-Messen und Friedenswerkstätten wurden von jungen Männern und Frauen, die sich mit den platten Parteiparolen nicht länger abspeisen lassen wollten, regelrecht gestürmt. Der Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen“ wurde zum Symbol der DDR-Friedensbewegung – und von den „Organen“ als böse Provokation empfunden. Weil das Friedenszeichen nur schwer zu entfernen war, beschlagnahmte die Polizei oft gleich die ganze Jeans-Jacke. Hart ging die Stasi gegen Pfarrer und Gläubige vor, die sich den Protest der rebellischen Generation zu Eigen machten und selbst in Umwelt- und Menschenrechtsgruppen mitwirkten. In der Nacht vom 24. zum 25. November 1987 stürmten Stasi-Männer gar die Räume der Zionsgemeinde in Berlin, in denen eine kirchliche „Umweltbibliothek“ untergebracht war. Doch solche Aktionen konnten die Opposition nicht mehr zerschlagen. Im Gegenteil: Sie schweißten die Szene zusammen. Die SED-Propaganda verfiel daraufhin wieder in den Tonfall der fünfziger Jahre. So schrieb ein Hans-Dieter Schütt 1987 im FDJ-Blatt „Junge Welt“: „Der Feind, ob er nun mit missionarischem Eifer junge Literaten gegen uns losschickt, ob er nun in der Pose des Mahnwächters, stets pünktlich auf Bestellung mit Fernsehkameras, vor Kirchentore zieht, oder ob er Rowdys mit faschistischem Vokabular und Schlagwaffen ausrüstet – er hat bei uns keine Chance.“ Die Genossen sollten sich täuschen. Schritt für Schritt wagten Oppositionelle den Weg aus dem Schutzraum Kirche. Landesweit organisierten kirchliche und nichtkirchliche Oppositionsgruppen im Frühjahr 1989 eine Aktion, die auch vielen treuen Genossen die Augen öffnete: Sie kontrollierten am 7. Mai die Stimmenauszählung der Kommunalwahlen – und kamen so den Fälschern auf die Schliche. Dass es hunderten DDR-Bürgern auf diese Weise gelang, der Staatsführung Wahlbetrug nachzuweisen, läutete die letzte Runde im Konflikt zwischen Regierenden und Regierten ein. Stefan Berg Im nächsten Heft „Schnitzler in die Muppet-Show!“ – Offenbarungseid in Moskau – Millionen-Demo auf dem Alex – „Jetzt hilft nur noch Modrow“ 107 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Markus’ Mörder habe sein Opfer nur zerstückelt, um die Leiche besser transportieren zu können. Klaus-Günther Ebel, Anwalt von Alexander B., bezweifelt diese Theorien. Die Ähnlichkeit der beiden Fälle sei „einfach zu Anderthalb Jahre nach groß“. Er wittert Morgendem makaberen Mord ist der Fall luft, zumal Alexander B. offener denn je. Unbekannte noch keineswegs überstahlen den Kopf des Opfers aus führt ist. Der Junge kam 1997 aus Kasachstan nach dem Grab. Die wahren Täter? Deutschland. Er bestreitet die Tat hartnäckig. ei Mondschein stachen Unbekannte Der Haftbefehl die Heidepflanzen in akkuraten stützt sich im WesentRechtecken aus dem Boden. Sie lichen auf Jugendliwarfen die Plüsch-Teddys auf dem Grab che, die ausgesagt haneben das weiße Steinkreuz und häuften ben, der Kasache habe die sandige Erde mit dem Spaten neben mit dem Mord gedie Grube. Dann zertrümmerten die Täter prahlt. „Es wird eiden Sargdeckel, zogen den Schädel heraus ne außerordentlich und machten sich ungesehen davon. schwere BeweisDie makabere Tat wirft neue Rätsel auf führung“, gibt Chrisin einem der grauenhaftesten Mordfälle tian Gottfriedsen von der letzten Jahre, denn in dem Grab lag die der StaatsanwaltLeiche von Markus Wachtel. Der 13-jähri- Geöffnetes Grab, Mordopfer Wachtel: Grauenhaft zerstückelt schaft Hildesheim zu. ge Junge aus dem niedersächsischen Die Ermittler hätten „Zeugenbeweise“, Peine-Stederdorf war Anfang März aber „keine Tatzeugen und Sachbeweise“. vergangenen Jahres erwürgt und Alexander B. soll auf einem Garagendann in sechs Teile zerstückelt worhof Zigaretten von Markus Wachtel geforden. Nun grübeln Ermittler, wer den dert haben. Als der nicht darauf einging, sei Schädel gestohlen haben könnte. es zu einer Schlägerei gekommen. Danach Waren es Komplizen des Hauptverhabe Alexander B. Markus erwürgt. Bei dächtigen? Verrückte? Oder vielder Auseinandersetzung sollen andere Jumehr die wahren Täter? gendliche, die meisten ebenfalls Aussiedler, In einer Blitzaktion durchsuchte dabei gewesen sein. Mehrere bestätigen, die Polizei zeitgleich sieben Wohes habe die Keilerei gegeben. Andere wisnungen von Freunden und Verwandsen nur von einem friedlichen Treffen der ten des Hauptverdächtigen Alexanbeiden. Wieder andere bestreiten, dass der B., der seit fünf Wochen wegen Markus überhaupt da gewesen sei. Den Mordverdachts in Untersuchungshaft Mord will keiner gesehen haben. sitzt. Doch keiner der sichergestellten Die Polizei hatte die Russlanddeutschen Schuhe passte zu dem Abdruck, der sofort im Visier: Ihre Telefone wurden abam Grab gefunden wurde. Auch fangehört, ihre Wohnungen und Garagen den die Beamten weder Schmutz- Verdächtiger Alexander B.: Ein Unfall? durchsucht, Leichenspürhunde eingesetzt. reste noch Tatwerkzeug. Dabei hatten die Fahnder gehofft, Grab- versucht, das Grab des Mordopfers Tristan Fasern ihrer Kleidung wurden analysiert. schänder und Mittäter könnten identisch Brübach zu öffnen, wurden offenbar aber Weil an der Leiche von Markus fremde sein und sich so entlarven. Denn so viel ist gestört. Auch hier hoben die Täter die Hautschüppchen gefunden wurden, schickklar: Sollte der Russlanddeutsche Alexan- Gruft „fast professionell“ aus, so Klaus ten die Ermittler die 2100 männlichen Steder B., 18, Markus ermordet haben, muss er Buhlmann von der Kriminalpolizei in derdorfer, auch die Aussiedler, zum DNATest. Alles ohne Ergebnis. Helfer gehabt haben, die beim Aufbewah- Peine. Der Hauptbelastungszeuge, heute 16 ren, Zerstückeln und Transport der Leiche Mehr der Gemeinsamkeiten: Beide Opmit angepackt haben. fer waren 13 Jahre alt, beide waren Jungen, Jahre alt, hat erst eineinhalb Jahre nach Doch nun ist wieder alles offen: Nekro- beide starben im März 1998 – und beide dem Mord geplaudert. Alexander B. habe phile könnten das Grab geschändet haben, wurden grauenhaft zerstückelt. Trotzdem gesagt: „Ich habe Markus umgebracht, aber um sich so zu befriedigen. Es könnten aber glaubt die Polizei allenfalls bei der Grab- das war ein Unfall.“ Bei einer erneuten auch Satanisten gewesen sein oder Tro- schändung an einen Zusammenhang. Die Vernehmung zwei Tage später schwächte phäenjäger, die sich für das prominente Art, wie die Jungen zerschnitten worden der Zeuge seine Aussage aber wieder ab. Für die Eltern von Markus Wachtel ist Mordopfer interessierten. sind, lasse auf unterschiedliche Täter Auf jeden Fall bestärkt die nächtliche schließen: Bei Tristan, der in einem Bahn- schon das Hin und Her der Ermittlungen Buddelei Zweifel an der Schuld des Haupt- hofstunnel aufgefunden wurde, sei es wohl ein Alptraum ohne Ende. Am vergangenen verdächtigen, denn immer deutlicher wer- eher ein Geisteskranker gewesen, der den Samstag mussten sie ihren einzigen Sohn den jetzt Parallelen zu einem anderen Fall, Jungen „regelrecht angefallen“ habe, mut- ein zweites Mal beerdigen. Sollte sein mit dem er kaum etwas zu tun haben kann: maßt Polizeipsychologe Volker Ludwig, der Kopf je wiedergefunden werden, wird es Eine Woche vor der Grabschändung in ein Täterprofil erstellt hat. Die Peiner wohl eine dritte Bestattung geben müsStederdorf hatten Unbekannte in Frankfurt Mordkommission geht hingegen davon aus, sen. Cordula Meyer VERBRECHEN Fast professionell BILD ZEITUNG DPA DPA B d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 111 Deutschland ZEITGESCHICHTE „Wir nehmen Vorwürfe ernst“ 112 Umstrittenes Tarnopol-Foto aus der Wehrmachtsausstellung*: „Defizit deutlich geworden“ Heer: Das ist absurd. Da übernimmt Ungváry – ohne den Versuch eines Beweises – eine alte Rechnung von rechtsextremen Pamphletisten. SPIEGEL: Ungváry wirft Ihnen vor, ein retuschiertes Bild zu zeigen. Eine Leiche am Galgen soll auf dem Originalfoto ein Schild mit der Aufschrift „Ich bin ein Feigling“ tragen, was nahe legt, dass es sich um einen deutschen Deserteur handelt. Auf dem Foto in der Ausstellung fehlt die Aufschrift. Heer: Wenn wir retuschierte Bilder fanden, haben wir sie aussortiert. Möglicherweise ist das Exemplar, das Ungváry vorlegen will, retuschiert. SPIEGEL: Ungváry fordert, zwischen Fällen zu unterscheiden, in denen Wehrmachtssoldaten selbst Menschen erschossen haben, und Fällen, in denen die SS exekutierte, wenn auch im Befehlsbereich der Wehrmacht. Heer: Da kann ich nur zustimmen. Wenn ein Organisator Heer M. AUGUST J. MÜLLER SPIEGEL: Herr Heer, ein deutsch-polnischer und ein ungarischer Historiker üben massive Kritik an der Wehrmachtsausstellung. Muss sie komplett überarbeitet werden? Heer: Nein. Wir nehmen die Vorwürfe von Bogdan Musial und Krisztián Ungváry sehr ernst, aber bevor wir etwas ändern, müssen wir die Kritik prüfen. SPIEGEL: Worum geht es? Heer: Wir hatten in einem Archiv in Belgrad fünf Bilder gefunden, die eine Massenerschießung der 717. Infanteriedivision zeigen. Musial hingegen meint, dass ein Foto dieser Serie Opfer des sowjetischen Geheimdienstes NKWD in Lemberg zeigt. Der NKWD hatte dort 1941 beim Anrücken der deutschen Truppen 4000 Gefangene liquidiert. Das eine Foto werden wir jetzt überprüfen. Im Fall Zloczów können wir Musial allerdings nicht ganz folgen. SPIEGEL: Wieso nicht? Heer: Der Vorgang ist kompliziert, wie der SPIEGEL selbst Anfang des Jahres berichtet hat. Auch in Zloczów bei Lemberg ermordete der NKWD im Juni 1941 einige hundert Gefangene, als die deutschen Truppen näher kamen. Die Deutschen zwangen die Juden Zloczóws, die NKWDOpfer auszugraben; anschließend wurden die Juden von der SS erschossen. Das war der Auftakt zu einer systematischen SSMordaktion, von der Wehrmacht geduldet, der 3000 Juden zum Opfer fielen. SPIEGEL: Und was kann man auf den Fotos in Ihrer Ausstellung sehen? Heer: Wir hatten ursprünglich drei Bilder, von denen wir glaubten, sie zeigten die ermordeten Juden. Musial aber hält sie für die NKWD-Opfer. Wir haben jetzt fünf weitere Fotos gefunden, sie sind bereits in der Ausstellung zu sehen, die gerade in Osnabrück gezeigt wird. Zwei unserer Fotos zeigen tatsächlich die ermordeten Juden, zwei andere zeigen die Juden beim Exhumieren der Leichen der NKWD-Opfer, auf zwei Fotos sind beide Opfergruppen zu erkennen, und zwei Aufnahmen dokumentieren den Mord des NKWD. SPIEGEL: Der ungarische Historiker Ungváry behauptet, dass nur ein Zehntel Ihrer Fotos Verbrechen der Wehrmacht zeigen. Kritiker Musial M. AUGUST Der Historiker Hannes Heer über die Kritik an den Fotos der Wehrmachtsausstellung d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Massaker der SS im Befehlsbereich der Wehrmacht geschah, dann weiß man: Die Wehrmacht war informiert. In Bjelaja Zerkow bei Kiew hingegen weigerte sich Generalfeldmarschall Walter von Reichenau, ein Massaker an jüdischen Kindern zu verhindern, nachdem der Oberstleutnant Helmuth Groscurth die SS gestoppt hatte. Reichenau hob Groscurths Befehl einfach auf, und das Morden begann. Das ist eine klare Beteiligung, auch wenn der Mordbefehl nicht von der Wehrmacht kam. Und es gab – auch das zeigt die Ausstellung – Exekutionen, die die Wehrmacht eigenverantwortlich durchführte. SPIEGEL: Als Sie 1995 die Ausstellung aufbauten, haben Sie die Bildlegenden der jeweiligen Archive übernommen. Unter Historikern war schon damals bekannt, dass dieselben Bilder in unterschiedlichen Archiven unterschiedlich zugeordnet wurden. Heer: Die Ausstellung spiegelt den Forschungsstand von 1995 wider. Ich kann Ihnen Museen der Bundesrepublik nen* Wehrmachtssoldaten vor exhumierten NKWD-Opfern am 3. oder 4. Juli 1941. In der Wehrmachtsausstellung war ursprünglich von Opfern der Wehrmacht die Rede. nen, in denen noch heute von uns korrekt zugeordnete Fotos mit falschen Bildlegenden hängen. Das zeigt, in welchem Zustand sich die Geschichtswissenschaft hinsichtlich der Zuordnung der Bilder jahrelang befunden hat. SPIEGEL: Ab wann haben Sie denn damit angefangen, die Bildlegenden kritischer zu betrachten? Heer: Uns ist erst in den Auseinandersetzungen über die Ausstellung dieses Defizit deutlich geworden. Als wir 1997 allein für ein Bild in Archiven und Publikationen fünf verschiedene Zuschreibungen fanden, fingen wir, unterstützt durch Hinweise von Besuchern, mit der kritischen Aufarbeitung an. SPIEGEL: Ihren Kritikern haben Sie es damit sehr einfach gemacht. Heer: Nach dem Stand von 1995 kann ich mir da keinen Vorwurf machen. Wir haben, wenn wir ein Wehrmachtsverbrechen mit Dokumenten belegt hatten, nach Bildern gesucht, die der Bildlegende zufolge dieses Verbrechen zeigen. SPIEGEL: Das war offenbar nicht genug. Heer: Das räume ich ja sofort ein.Wir konnten zum Beispiel das Pogrom an 600 Juden in Tarnopol, bei dem nachweislich auch Wehrmachtseinheiten beteiligt waren, rekonstruieren. Dann haben wir in einem renommierten Wiener Archiv vier Bilder aus Tarnopol mit der Aufschrift „Judenpogrom“ gefunden. Die haben wir der Dokumentenrecherche hinzugefügt. Inzwischen wissen wir, dass drei Bilder politische Gefangene zeigen, die der NKWD ermordet hat, als die deutschen Truppen näher kamen. Ein Foto stellt die dann ermordeten Juden dar. SPIEGEL: Was machen Sie mit der Einsicht? Heer: Wir haben eine neue Texttafel in Auftrag gegeben. SPIEGEL: Bisher sind Sie ziemlich rüde mit Historikern umgesprungen, die Kritik an der Wehrmachtsausstellung übten. Heer: Das stimmt doch gar nicht. Wenn Kritik geäußert wurde, sind wir dem mit Errata-Zetteln im Katalog nachgekommen, haben Bilder ausgetauscht und Bildlegenden überarbeitet. SPIEGEL: Wie viele? Heer: Ohne die Porträtfotos sind 800 Bilder in der Ausstellung zu sehen, 3 haben wir bisher herausgenommen. SPIEGEL: Sie haben Musial verklagt, sind gegen den Potsdamer Historiker RolfDieter Müller vor Gericht gezogen. Heer: Wir haben in viereinhalb Jahren 12 Prozesse durchgeführt. Alle betrafen Falschaussagen, keiner ging gegen abweichende Meinungen vor. Die Klage gegen Müller haben wir inzwischen zurückgezogen, und der Rechtsstreit mit Musial ist erledigt. Wir haben ihn übrigens schon im Frühjahr, nachdem der SPIEGEL über seine Kritik berichtet hatte, eingeladen, seine Recherchen zu präsentieren. Die Einladung habe ich jetzt erneuert. Interview: Klaus Wiegrefe d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite ZEITGESCHICHTE Die letzte Gefährtin Nach dem Aufsehen erregenden Fund seiner Liste fühlen sich die Angehörigen Oskar Schindlers hereingelegt. Es droht heftiger Zwist vor Gericht. D er Brief, den die Geschäftsfrau Traude Ferrari im Jahr 1974 in ihrem Postkasten fand, enthielt nicht viel Tröstliches: Eine Annemarie aus Emilie Schindler, Nichte Traude (1949) Brüsk abgewiesen Hildesheim, offenbar die letzte Geliebte ihres gestorbenen Onkels, schickte ihr fünf Fotos des Verblichenen, außerdem eine Ansichtskarte an seine „Liebe Traude“, die der Mann noch geschrieben, aber nicht mehr eingeworfen hatte. Viel mehr, Wert- volles gar, sei leider nicht übrig geblieben, entnahm Ferrari dem Schreiben der fremden Frau. 25 Jahre nach dem Sterbefall in einer Hildesheimer Klinik weiß es Gertrud („Traude“) Ferrari, die Nichte des Emaillewarenfabrikanten Oskar Schindler, jetzt besser. Es gab noch einen Koffer, grau, von Samsonite, Inhalt: eine Weltsensation, ein Medien-Scoop, das Leben eines Helden im Höllenland, verdichtet zu Fotos, Briefen, Plänen – und einer Liste. Schindlers Liste. Es ist das Original mit den Namen von 1200 Juden, die er und seine Frau Emilie mitten im Holocaust gerettet haben, das Dokument zum Spielberg-Film, ein Lichtblick in dunkelster Deutschstunde, auf den jetzt selbst ein Schatten fällt – der Verdacht, dass Schindlers Nichte Traude, 64, und seine Witwe Emilie, 92, um den Koffer betrogen worden sein könnten. „Ich fühle mich hintergangen“ – kein Wort, so Ferrari, habe Schindlers letzte Gefährtin Annemarie Staehr jemals über den Koffer verloren. Am Telefon habe Staehr 1974 allerdings erklärt, wie sie an die Fotos samt Ansichtskarte für die Nichte herangekommen sei: Laut Ferrari gab sie damals zu, die Stücke mit „einigen anderen Dokumenten“ nach Schindlers Tod aus dessen Frankfurter Wohnung geholt zu haben, bevor der restliche Nachlass an gemeinnützige Organisationen verschenkt worden sei. „Ich hatte ja keine Ahnung, dass es noch einen ganzen Koffer gab“, entrüstet sich die Rentnerin, die vom Tod ihres Onkels erst aus der Zeitung erfahren hatte. Als sie später nach mehreren Briefen aus Schindlers Besitz fragte, wies Staehr sie brüsk ab: Sie wolle die Korrespondenz nicht in falsche Hände geben. „Das habe ich schriftlich“, versichert Ferrari, „und das hat mich so geärgert, dass ich mich bei ihr heftig beklagt habe. Ohne Reaktion.“ AFP / DPA Deutschland Schindler-Nachlass: Ein Lichtblick in dunkelster Andere hatten mehr Glück: Am vorvergangenen Samstag begann die „Stuttgarter Zeitung“, die den Koffer vom Sohn der 1984 verstorbenen Staehr bekommen hatte, mit ihrer Serie über den SchindlerSchatz. Seitdem leuchtet die Redaktion Schindler so allseitig wie ein Weltkultur- Konstanzer Jura-Professor Hans-Wolfgang Strätz die Beweislast dafür, dass der Koffer gar nicht verschenkt wurde, bei den Schindler-Erben. Anders Brox: Der StaehrSohn müsse nachweisen, dass der Koffer ein Präsent war – nach so langer Zeit dürfte beides so gut wie unmöglich sein. Dass der Bonvivant und Frauenheld Schindler seinen Aktenkoffer zu Lebzeiten verschenkt haben könnte, hält nicht nur Erika Rosenberg, Biografin der Witwe Emilie, für völlig ausgeschlossen. Auch REUTERS erbe aus. Nicht Geld und Ruhm, allein das Wissen der Menschheit um diesen Mann wolle man mehren und deshalb den Koffer im Einverständnis mit den Findern anschließend der Gedenkstätte Jad Waschem in Jerusalem anempfehlen. Um das verdienstvolle Tun nicht mit Fragen nach Recht und Besitz zu beflecken, Witwe Schindler: Anwälte eingeschaltet schreckte die Zeitung allerdings nicht vor Schönheitskorrekturen zurück: Den Mitschnitt eines Gesprächs Deutschstunde mit Schindler-Witwe Emilie kürzte die Redaktion ausgerechnet um die Stelle, in der die „alte gebrechliche Dame“ mit Nachdruck den Koffer zurückforderte, und erklärte diesen „Rest des Gesprächs“ zu einem „sehr privaten Dialog“. Da passte auch der Anruf von Nichte Traude am vergangenen Montag, mit dem sie die Herausgabe von Papieren und Fotos verlangte, schlecht in das Klima verantwortungsvoller Feinfühligkeit. Noch am Mittwoch schrieb die Zeitung, weder die Witwe „noch sonst jemand“ habe sich bei der Redaktion gemeldet, um Ansprüche zu erheben. „Eine Falschmeldung“, empört sich Ferrari, die sich von Chefredakteur Uwe Vorkötter „abgewimmelt“ sah.Von der Rechtsabteilung der Zeitung bekam sie zu hören, was Vorkötter auf Anfrage gern wiederholt: dass Schindler den Koffer vor seinem Tod seiner letzten Gefährtin geschenkt habe. Und damit, doziert der münstersche Professor Hans Brox, Autor eines Standardwerks zum Erbrecht, wäre er tatsächlich nicht Teil des Schindler-Erbes, sondern gehöre dem Staehr-Sohn. Tatsächlich ist die Rechtslage keineswegs so klar, wie Vorkötter sie sich wünscht, denn die entscheidende Frage, ob Schindler seinen Koffer wirklich verschenkt hat, bleibt offen. Und selbst Erbrechtsexperten sind uneinig, was daraus folgt: So sieht der d e r Nichte Traude ist sicher: „Mein Onkel hätte einer seiner Freundinnen niemals seine wichtigsten Dokumente überlassen. Frau Staehr war ja nur die letzte in einer langen Kette.“ Außerdem habe Annemarie Staehr ihr gegenüber auch nie etwas von einem „Geschenk“ erwähnt, nicht einmal, als sie später die Briefe verlangt habe. Noch ein zweiter Umstand könnte in dem Streit um den Koffer Bedeutung erlangen: Der Sohn Staehrs hatte das Erbe der Eltern nach dem Tod des Vaters 1997 ausgeschlagen. Durfte er den Koffer, dessen Wert nach dem Spielberg-Film bekannt sein musste, dann überhaupt noch aus der Wohnung mitnehmen? Sowohl Traude Ferrari wie Emilie Schindler schalten deshalb jetzt Anwälte ein, um den Koffer zu bekommen. Ferrari: „Das sind Familienangelegenheiten, da hat kein Fremder drin rumzuschnüffeln.“ Selbst eine Schadensersatzklage schließt sie, die die Kriegsjahre in Krakau und Brünnlitz bei Schindler verbracht hatte und der er Ende der fünfziger Jahre seine Biografie diktieren wollte, nicht aus. Dann müsste Vorkötter vor Gericht so argumentieren, wie er es jetzt schon tut: Der Koffer habe für die Zeitung keinerlei finanziellen Wert. Das könnte schwierig werden. Die Witwe lässt offen, ob es ihr auch um Geld geht. Die Frau, die im Krieg an Schindlers Seite alles riskiert hat, von ihm trotzdem dutzende Male betrogen und 1957 in Argentinien auf einem Schuldenberg sitzen gelassen wurde, sagt, sie wolle nur eines wissen: „Wie sein Leben wirklich war“. Jürgen Dahlkamp s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 117 Deutschland BETRÜGER Der Koch und die Schwarze Witwe Nach dem Selbstmord einer alten Frau im Gefängnis fürchtet Bayerns Schickeria peinliche Enthüllungen. Es geht um verschwundene Millionen, SED-Gelder und die Vatikan-Bank. Geleimte Prominente würden darüber lieber schweigen. S schen, die eine Menge Geld verloren haben, wünschen, dass das Spiel neu beginnt; und einige, die ihre Millionen zu vergessen versuchen, fürchten peinliche Enthüllungen. Denn Maria Bertram war eine Zockerin und Betrügerin. Die zarte Seniorin, die neben dem Hünen Schuhbeck wie ein verlorenes Vögelchen wirkte, steht neben dem Koch im Zentrum einer Affäre, die Bayerns höherer Gesellschaft die Moët & Chandon-Laune versaut. Mit Geschichten von SED-Millionen, die in Schließfächern warteten, oder Erbschaften, die auf Konten der Vatikan-Bank schlummerten, wurden Menschen geködert, die offenbar nicht wussten, was sie tun sollten mit ihrer vielen Kohle. Das Geld ging in kanadischen Immobilien, mit Wertpapieren oder anderen angeblichen „30-Prozent-Rendite-Geschäften“ (Schuhbeck) drauf. Die Deals des ungleichen Paares waren vertrackt – Geschäftsprinzip. Im Gewirr von Firmen und Konten verlor sich jede Fährte von Geld und Schuld. Konto Nummer 884442 Selbstmörderin Bertram: „Ich wurde zerbrochen“ der Firma FIC bei der Citibank in Monte Carlo, das ist die letzte Spur, die manche Anleger haben; andere hatten ihre Schätze gleich bar und ohne Quittung fortgegeben. Konnte ja keiner ahnen, dass mit neuen Einlagen mitunter alte Gläubiger ausbezahlt wurden – und dass Schuhbecks Konto Nummer 322 233 000 bei der Dresdner Bank schon mal bei 4 713 419,51 Mark im Minus stand und 54 502 Mark Sollzinsen fällig wurden. 24 Millionen Mark hat allein der Erbe des Dauerwellen-Imperiums Wella, Bernd Olbricht, verjubelt. Und viele andere waren dabei: Würdenträger beim Bayerischen Rundfunk (BR), aber auch Anwälte, Bankiers und Sänger wie Michael Schanze oder die Tennis-Millionärin Sylvia Hanika. „Soviel Dummheit ist unverzeihlich“, sagt der Münchner Rechtsanwalt Sewarion Kirkitadse, „es ist abenteuerlich, dass erwachsene Menschen so handeln können.“ Das Spiel begann, als Schuhbeck einen Michelin-Stern bekam. Der Freistaat hatte einen neuen Star: den Koch des FC Bayern, den Fernseh-Brutzler mit dem Kosenamen Geschäftemacher Schuhbeck: Hubschrauber überm Rosenbeet G. CHLEBAROV / PEOPLE IMAGE DPA ie nahm sich drei Stunden Zeit für sieben Briefe. Hockte in ihrer Zelle im B-Trakt der Justizvollzugsanstalt Aichach, schrieb mit dem Kugelschreiber, adressierte die Kuverts, klebte sie zu. Ein kleiner Stapel war es, Maria Bertrams Bilanz einer beispiellosen Affäre. Sie schrieb: „Ich bin am Ende u. ich kann nicht mehr. Stück um Stück wurde ich zerbrochen.“ Und: „Ich habe Schuhbeck um keine Mark betrogen geschweige um 8,9 Millionen.“ Im letzten der nunmehr beschlagnahmten Schreiben dankte sie ihrem Anwalt Dieter Pfannschmidt „für alle Ihre Mühe und Ihren Glauben an mich. Ihre verzweifelte Maria Bertram“. Dann nahm sich Maria Bertram, 64 Jahre alt, 1,60 Meter groß und wegen eines Magenkrebsleidens 45 Kilogramm leicht, das Band, mit dem Knastkleidung und Bettzeug verschnürt waren. Sie stieg auf den Stuhl, machte einen Knoten um den Fenstergriff, legte die Schlinge um den Hals und ließ sich fallen. Um 21.40 Uhr, am 12. Oktober, wurde ihr Leichnam gefunden. War es nun das Ende des Skandals oder eher ein neuer Anfang? Alfons Schuhbeck, 50, Prominentenwirt, Fernsehkoch und Buchautor aus Waging am See, hofft, dass es endlich vorbei ist; viele andere Men- 118 d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 ACTION PRESS „Fonse“. Sein „Kurhausstüberl“ wurde Glanzzeit. Geldkuriere wurden laut Aussagen durchs Land und zur Übergabe an zum Treff der Wichtigen. Irgendwann sprachen sie dort über Tankstellen gejagt: Schuhbeck „zog eine „dem Fonse seine Anlagen“. Jemanden an Plastiktüte hervor. Diese war voller Geld, der Börse müsse er kennen, phänomenal er legte das Geld auf den Tisch, teilte es seien die Gewinne: „Wann steigst du ein?“ grob in zwei Hälften. Die eine Hälfte gab er mir“. Es waren, so der Der Fonse köderte mit Bote, „450 000 Mark“. einfachen Tricks. Seinen Alfons Schuhbeck hieß Hubschrauberpiloten ließ früher Alfons Karg. Er spieler in Gärten am Chiemsee te Gitarre in einer Band, als landen und ganze Rosener vor gut 30 Jahren beim beete rasieren, um dann reichen Wirt Sebastian Bares aus der Hosentasche Schuhbeck Arbeit bekam. zu ziehen – das wirkte. Der Alte begann den Jungen Dem Multimillionär Olzu mögen. Weil er keine Erbricht knallte er einmal ben hatte, bot Schuhbeck 4000 Mark auf den Tisch dem Alfons Ausbildungen in und sprach: „Ich habe eiParis und sonstwo an, falls nen Zwanziger für dich inder sich adoptieren lasse. vestiert, da hast du die RenEin seltsamer Pakt, doch der dite.“ Schon zahlte OlBub schlug ein, wurde Erbe bricht ein, mehr als nur ei- Anleger Schanze und lernte schnell. nen Zwanziger. Für eine Gala in Bologna berechnete der Details der vermeintlich grandiosen Geschäfte kannte kaum einer; „es war nur Wirt 749 000 Mark. „Original Bayerischen ungefähr die Rede von so was“, von kom- Leberkäse“ ließ er in Bottrop produzieplexen Finanzmanövern also, gab der ge- ren, was die Staatsanwaltschaft interesprellte Fernsehmann Helmut Kilian zu sierte. Eine GmbH gründete er, durch die Protokoll. Selbst Anwälte, die Gläubiger er Verträge mit sich selbst machen konnte. vertraten, schrieben dem Koch unterwür- Eine Firma in Liberia entstand unter dem Präsidenten und Direktor Alfons Schuhfigst: „Ich bin ein Verehrer Ihrer Kunst.“ Es muss in etwa so zugegangen sein wie beck – oder war diese Finance Internatiobeim Tennispapa Peter Graf in dessen nal Corporation nur eine Finte? Schuhbeck sei Vermittler für andere gewesen, habe sich „leichtsinnig“ zum Präsidenten machen lassen, als die Firma zusammenbrach, und „die Dimension nicht erkannt“, so sein Anwalt Josef Nachmann. Im November 1997 faxte Interpol „sehr dringend“ eine Warnung durch Europa, „dass Schuhbeck, Alfons, 22 Mio USD bei einer Bank in Monaco abheben will“. Laut Selbstauskunft verdiente der Koch zwar zeitweise 427 565 Mark in einem Jahr „aus nichtselbständiger Arbeit“ und vieles nebenbei, hatte aber über 52 Millionen Mark „Passiva/Schulden“. Schuhbeck sei davon ausgegangen, dass „Geschäfte mit jungen Aktien funktionierten“, so Anwalt Nachmann; leider habe er sich auf den Düsseldorfer Anlagejongleur Lutz Winkler eingelassen – der soll vor allem mit kanadischen PennyStock-Papieren in 202 Fällen einen Gesamtschaden von rund 57 Millionen Mark verursacht haben. Schuhbeck sagte aus, er sei nie selbst Finanzmakler gewesen. Das Gegenteil war ihm bislang nicht zu beweisen. Die meisten Anleger hoffen noch auf Rückzahlungen und trauen sich nicht aus der Deckung. Aber für sie ist seltsam, dass die Witwe Bertram verurteilt wurde, während die Staatsanwaltschaft München II gegen Schuhbeck „keine Anhaltspunkte“ fand und nun die Ermittlungen einstellte. Deutschland 120 d e r sie von 100 Millionen Mark alter SED-Gelder in einem Schließfach wisse, aber Geld brauche, um den Schlüsselinhaber zu bezahlen. Schuhbeck mühte sich um Finanziers, schließlich hatte er die Kontakte. Später ging es um 28 Millionen Franken, die der verstorbene Karl Bertram bei der Vatikan-Bank hinterlassen habe. Ein Labyrinth aus Papieren, Aussagen, Lügen, Widersprüchen. Sicher ist, dass der G. JANSSEN / BILD ZEITUNG Der Koch steht sauber da, die angeblich allein Schuldige ist tot. Das Ergebnis hat vielleicht etwas mit Prominenz zu tun und sicherlich eine Menge mit Glaubwürdigkeit. Maria Bertram, im Zentralregister 1992 bereits 15-mal eingetragen, glaubte am Ende kaum noch jemand. Sie hatte es zu weit getrieben und zu rau, hatte den Anwalt einer Gegenpartei als „kleinen Giftzwerg“ und einen Richter als „schwankend und lallend“ bezeichnet, wobei „trinkende Richter am Landgericht Traunstein“ nichts Ungewöhnliches seien. Prozesse gewinnt so eine Dame kaum, schon gar nicht mit einer derartigen Biografie. Der Weg des unehelichen Kindes Maria Empl aus Kirchweidach zur „schwarzen Witwe“ des Boulevards begann trist. Mit acht Jahren erlitt sie eine Meningoenzephalitis; eine erneute Gehirn-Erkrankung ließ die 19-Jährige „völlig verändert“ und „delinquent“ (Bertram) zurück; 1960 kam die erste Verurteilung zu 50 Mark Geldstrafe wegen Diebstahls – sie habe sich Tabletten beschaffen müssen, sagte sie. Aber nach Hauptschule und Lehre als Hotelfachköchin machte sie weiter: Körperverletzung, üble Nachrede, Urkundenfälschung, schließlich Diebstahl und versuchte Erpressung. Den damaligen Innenminister Hans-Dietrich Genscher wollte sie mit einer vorgetäuschten Entführung hereinlegen; sie wurde freigesprochen wegen Schuldunfähigkeit und kam ins Bezirkskrankenhaus Gabersee. Sie sei eine schizoide Person, hieß es, aber das ist lange her. „Keinerlei Anhaltspunkte für das Vorliegen einer psychotischen Störung“ fand der Gutachter in Traunstein, „sie wirkte gepflegt, ruhig und kooperativ“. „Schwarze Witwe“ hieß sie, weil erst ihr Ehemann Karl Bertram, ehedem Verlagsdirektor, starb, und sie erbte; später pflegte sie den Bauer Franz Lichtmannegger, und der vererbte ihr rund 20 Schafe und ein „landwirtschaftliches Anwesen, welches neben der Hofstelle ca. 42 Tagwerk landwirtschaftlich nutzbaren Grund und etwa 5 – 6 Tagwerk Streuwiesen“ umfasste. Nichts an den Todesfällen war dubios, die Männer starben „eines natürlichen Todes“, so Oberstaatsanwalt Jürgen Michalke. Dubios trat eher die Witwe selbst auf. Sie war Männern, die auf „Herr Doktor“ hörten, gleichsam hörig. Sie fuhr einen BMW 528 i und trat Beratern schon mal ein ganzes Grundstück ab. Ihr Anwalt Pfannschmidt hielt sie für eine „sehr selbstbewusste, liebenswürdige und mit großem Gerechtigkeitsempfinden ausgestattete Frau“, die „am Ende überfordert“ war; Staatsanwalt Andreas Bartschmid unterstellt „Planung“ und „kriminelle Energie“ und lobt zugleich: „Wenn sie redete, fesselte sie alle.“ Die Pfade von Bertram und Schuhbeck kreuzten sich am 7. Oktober 1991, weil beide mit einem Bankdirektor aus Traunstein zu tun hatten, und da begann auch die Zeit der Räuberpistolen. Bertram erzählte, dass Anleger Olbricht 24 Millionen verschwunden Koch selbst einstieg und weitere Investoren fand; die Witwe wurde in der Vatikan-Geschichte wegen Betrugs, Urkundenfälschung und unerlaubten „Erwerbs einer halbautomatischen Selbstladewaffe“ zu zwei Jahren und zwei Monaten Gefängnis verurteilt (JS 40214/96). Beide unterschrieben viel und viel zu schnell, und das entzweite sie schließlich. Bertram unterzeichnete eine Erklärung darüber, dass sie Schuhbeck 8,9 Millionen Mark schulde; sie habe ihm helfen wollen, aus Steuergründen, sagte sie. Schuhbecks Unterschrift aber erschien unter einem Papier, auf dem steht, „dass sie mir keine 8,9 Mio schuldet“. „Eine Fälschung“, so Schuhbeck-Vertreter Nachmann. Nie gab es Quittungen, doch den Zivilprozess verlor die Witwe. „Alfons ist ein wertvoller Mensch“, hatte Bertram einmal gesagt. Er habe „in jeder Hinsicht mein Vertrauen u. meine Hilfen missbraucht“, formulierte Bertram, die zur Rückzahlung von fast neun Millionen Mark verdonnert wurde. In die JVA Aichach kam Maria Bertram, weil es neue Anzeigen gegeben hatte und die Staatsanwälte von Flucht- und Wiederholungsgefahr ausgingen. „Dieses Leben ist kein Leben mehr“, schrieb sie in ihren letzten Minuten. Wo all die Millionen sind, verriet sie nicht. Oder sie wusste es nicht. s p i e g e l Klaus Brinkbäumer 4 3 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Wirtschaft Trends DEUTSCHE TELEKOM Sommer auf Einkaufstour D J. SEIDEL ie Deutsche Telekom hält in den USA Ausschau nach geeigneten Übernahmekandidaten – nachdem sie erst vergangene Woche Mobilfunkbeteiligungen in Mittel- und Osteuropa erwarb. Ganz oben auf der Einkaufsliste von Telekom-Chef Ron Sommer steht jetzt die amerikanische Telefonfirma RSL Communications. Ende vergangener Woche reiste eine Bonner Verhandlungsdelegation nach New York, um die Übernahme der von Ronald S. Lauder, dem jüngsten Sohn der Kosmetikindustriellen Estée Lauder, gegründeten Firma zu sondieren. Als Kaufpreis ist ein hoher Milliardenbetrag im Gespräch. RSL setzt mit Firmenkunden in rund 20 Ländern etwa eine Milliarde Dollar um. Firmenchef Lauder, 54, der unter anderem als Chairman des New Sommer W. v. BRAUCHITSCH Telekom-Zentrale in Bonn Yorker Museum of Modern Art von sich reden machte, will seine Telefonfirma seit längerem abstoßen. Bereits im März verhandelten die Amerikaner deshalb in Bonn mit Telekom-Chef Sommer. Damals lehnte Sommer noch ab: Er hatte mit der Übernahme von Telecom Italia ehrgeizigere Pläne. STEUERREFORM BMW Stärker entlasten „Teurer Firlefanz“ ei der Unternehmensteuerreform will das Bundesfinanzministerium (BMF) die Wirtschaft stärker entlasten als bisher geplant. Statt wie ursprünglich vorgesehen 8 Milliarden Mark sollen die Unternehmen von 2001 an rund 15 Milliarden Mark weniger an Steuern bezahlen. Das sehen jüngste Berechnungen des BMF vor. Grund für die Großzügigkeit ist die Absicht von Finanzminister Hans Eichel, auch kleine und mittlere Unternehmen an der Steuersenkung teilhaben zu lassen. Nach ersten Überlegungen wären diese Unternehmen, die meist als Personengesellschaften organisiert sind, die Verlierer der Reform gewesen. Auch für sie hätte der neue Unternehmensteuersatz von 25 Prozent gegolten, der höher liegt als ihre bisherige Durchschnittsbesteuerung. Die BMF-Beamten haben sich einen Trick ausgedacht, um die Mehrbelastung zu vermeiden. Sie führen für die Eigentümer von Personengesellschaften einen fiktiven Unternehmerlohn von höchstens 150 000 Mark ein. Er wird als Betriebsausgabe von der Steuerbemessungsgrundlage abgezogen und dann beim Empfänger versteuert. Die Entlastung für kleine und mittlere Personenunternehmen kommt zu Stande, weil die Eigentümer wegen des neuen Unternehmerlohns künftig keine Gewerbesteuer mehr bezahlen müssen, worüber die Kommunen nicht glücklich sein dürften. d e r I n der deutschen BMW-Belegschaft stößt der Versuch des Autokonzerns auf Widerstand, sich durch einen neuen Namen als Global Player zu präsentieren. Nachdem der Münchner Autobauer sich auf der IAA erstmals als „BMW Group“ darstellte, sollen jetzt auch die deutschen Fabriken mit neuen Firmenzeichen versehen werden, auf denen „BMW Group“ statt „BMW-Werk“ steht. Alle Visitenkarten und sogar die Arbeitskittel der Bandarbeiter sollen ausgetauscht werden. Für diesen „millionenteuren Marketing-Firlefanz“, so ein Betriebsrat, hat die Belegschaft keinerlei Verständnis. Ge- BMW Z 8, Chef Milberg (auf der IAA in Frankfurt) REUTERS B rade weil die Tochter Rover den Konzern mit Milliardenverlusten belastet, sollten die BMW-Werke und die Marke BMW sich möglichst eigenständig präsentieren, sonst drohe ein Imageschaden. Mehrere Aufsichtsräte forderten Vorstandschef Joachim Milberg auf, das Projekt des Bereichs Marken- und Produktstrategie zu stoppen. Der BMW-Vorstand will darüber auf einer seiner nächsten Sitzungen entscheiden. s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 123 Trends VIDEOSPIELE Sega schöpft Hoffnung N P. MEISSNER / REFLEX ach der erfolgreichen Einführung seiner neuen Videospielekonsole „Dreamcast“ schöpft der japanische Elektronikkonzern Sega wieder Hoffnung, auf dem heiß umkämpften Entertainment-Markt mitmischen zu können. Die Firma, die in den vergangenen Jahren dramatische Verluste hinnehmen musste, werde nach dem Neustart den Erzkonkurrenten Sony und Nintendo mindestens 20 Prozent Marktanteil abnehmen, glaubt Segas Europachef Jean François Cecillon. Mit einem Verkauf von 100 000 Konsolen innerhalb von 24 Stunden hatte Sega am 15. Oktober einen neuen Branchenrekord in Europa aufgestellt. Allein in Deutschland brachte die Premiere der knapp 500 Mark Eichel KONJUNKTUR Weniger Wachstum K Sega-Spiel „Sonic the Hedgehog“ teuren „Dreamcast“-Maschine, auf der Sega-Spiele wie „Sonic the Hedgehog“ laufen können, den Japanern 22 Millionen Mark in die Kassen. Dennoch bleibt die Konkurrenz gelassen. Denn vergangene Woche flaute die Begeisterung für die neue Konsole schon wieder leicht ab. Nach vier Verkaufstagen meldete Sega einen Gesamtabsatz von 185 000 „Dreamcast“-Systemen in Europa. onjunkturexperten der Bundesregierung haben die Wachstumsaussichten für 1999 deutlich nach unten korrigiert. Statt mit einem Wirtschaftswachstum von 1,6 Prozent, wie noch im vergangenen Frühjahr vorausgesagt, rechnet der interministerielle „Arbeitskreis für gesamtwirtschaftliche Vorausschau“ nur noch mit 1,3 Prozent. Auch die Entwicklung der Arbeitslosigkeit bleibt hinter den Erwartungen zurück. Statt um 200 000 Personen werde die durchschnittliche Zahl der Arbeitslosen in diesem Jahr nur um rund 170 000 Personen gegenüber dem Vorjahr sinken. Für das nächste Jahr haben die Fachleute aus den Bundesministerien für Finanzen, Wirtschaft und Arbeit sowie des Kanzleramts ihre Wachstumserwartungen nur sehr gering angehoben. Für das Jahr 2000 rechnen sie jetzt mit einem Plus von 2,5 Prozent. Im Frühjahr waren sie von 2,4 Prozent ausgegangen. Mit ihrer Prognose dämpfen die Regierungsexperten den Konjunkturoptimismus von Bundeskanzler Gerhard Schröder und seinem Finanzminister Hans Eichel. Beide hatten in jüngster Zeit mehrfach öffentlich ihre Erwartung ausgedrückt, sie rechneten mit einem Wachstum von bis zu drei Prozent. VERKEHRSPOLITIK Baustopp bei der Bahn? er Deutschen Bahn AG geht das Geld für Investitionen aus. Eigentlich wollte der Bund in diesem Jahr 6,85 Milliarden Mark für Infrastrukturmaßnahmen der Bahn zahlen, etwa für die Neubaustrecke zwischen Köln und Frankfurt. Doch wie schon im Vorjahr, als der Bund im Dezember ganz einfach 850 Millionen Mark sperrte, fließen die Bundesmittel auch jetzt eher spärlich. Bis Ende August wurden lediglich 2,6 Milliarden Mark an die Bahn überwiesen. Weitere 2 Milliarden hat das Unternehmen aus Eigenmitteln aufgebracht. Würden die fehlenden mehr als 4 Milliarden Mark nicht freigegeben, schreibt der Bahnvorstand in einem internen Papier über die „Finanziellen Belastungen der Deutschen Bahn AG“, drohe ein „sofortiger Baustopp für nahezu alle Infrastrukturmaßnahmen“. ICE-Neigezug 124 d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 J. E. RÖTTGERS / GRAFFITI D Geld Aktien von Chip-Herstellern in Dollar + 65 % 1998 99 Okt. Jan. 22. Oktober; Veränderung nach einem Jahr 80 90 90 70 80 80 60 70 70 60 60 50 50 40 40 +164 % 30 40 30 20 + 508 % 30 1998 1999 20 Okt. 50 GDRAktie Okt. 1998 1999 20 Jan. Okt. Okt. Jan. Okt. 0 1998 1999 Okt. Quelle: Datastream Jan. Okt. chenprimus aus Kalifornien. Bedrängt durch die wachsende Konkurrenz des Erzrivalen AMD schaffte Intel in Jahresfrist zwar noch einen Kursgewinn von 65 Prozent. Im gleichen Zeitraum schossen die Aktien des südkoreanischen Elektronikkonzerns Samsung, der das Geschäft mit den Speicherchips mit Milliardeninvestitionen noch weiter ausbauen will, um über 500 Prozent hoch. Steigende Preise lassen die Gewinne sprudeln. Gegenüber dem Höhenflug der Koreaner verblassen sogar weitere Chip-Spezialisten wie Texas Instruments, die vor allem vom weltweiten Handy-Boom profitieren. AKTIEN Samsung schlägt Intel A ls Technologieführer für Chips war Intel jahrelang der Liebling vieler Börsianer. Aktien der Speicherchip-Hersteller dagegen galten wegen der schwankenden Produktionszyklen als riskantes Investment. Die Anleger müssen wohl umdenken. Die Kurse der bei Speicherchips starken Asiaten Samsung und NEC ziehen weit kräftiger an als die des Bran- ONLINE-BROKER +163% 10 24 22 20 18 16 14 12 10 8 6 Gewinner und Verlierer des Neuen Marktes Boom-Markt von morgen Aktienkurse seit Erstnotierung in Euro D N. MAI er Wertpapierkauf per Internet steht in Deutschland erst am Anfang. Die Zahl der Anleger, die elektronisch ordern, wird Schätzungen zufolge von derzeit gut 500 000 auf über vier Millionen im Jahr 2002 hochschnellen. Zwar liegen die Kurse der Discountbroker wie Consors, Charles Schwab und E*-Trade deutlich 4,1 unter ihren Höchstständen vom Nutzer von Frühsommer, doch der erwarteOnline-Brokern te Zustrom von Kunden wird in Deutschland wohl die Gewinne der Onlinein Millionen 2,6 Banker steigern: Der Vertrieb per Internet wird, wie die meisQuelle: forit ten Kreditinstitute glauben, „das 1,5 Bankgeschäft revolutionieren“ (WestLB). Die Banken verstär0,35 0,7 ken ihre Bemühungen, die imP R O G N O S E mer noch weit verbreitete Skep1998 1999 2000 2001 2002 sis gegenüber elektronischen Überweisungen abzubauen. So hat die Direkt Anlage Bank, die Mitte nächsten Monats an die Börse geht, vergangene Woche in einem Hamburger Kaufhaus ihren ersten „Börsen Corner“ eröffnet. Acht weitere werden in Kaufhof-Filialen folgen, um potenzielle Kunden mit dem Online-Banking vertraut zu machen. „Börsen Corner“ im Kaufhof d e r 60 40 Quelle: Datastream, DG Bank Aktienanteil 63,0% des Vorstands EM.TV 50 BETA SYSTEMS 40 kein Aktienanteil des Vorstands 30 20 0 80 20 1997 1998 1999 Okt. 10 45 KINOWELT 50,3% 60 35 40 25 20 Mai 1998 1999 Okt. NEUER MARKT Die Chef-Aktien I nvestoren am Neuen Markt sollten bevorzugt zu solchen Papieren greifen, bei denen die Beteiligung der Vorstände besonders groß ist. Denn die Aktionärsstruktur hängt unmittelbar mit dem Erfolg der Firmen zusammen. Zu diesem Schluss kommt die DG Bank in einer Studie über die Gewinner und Verlierer am Neuen Markt. Nach dieser Analyse liegt die Beteiligung der Vorstände bei den zehn s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 15 1997 1998 1999 EUROMICRON Juni 1998 1999 Okt. kein Aktienanteil des Vorstands Okt. seit ihrer Emission erfolgreichsten Firmen im Schnitt bei 50,8 Prozent, bei den zehn schlechtesten Unternehmen dagegen nur bei 25 Prozent. Firmen mit hoher Beteiligung der Entscheidungsträger sind „meistens konsequenter auf das Ziel der Erhöhung des Shareholder-Value ausgerichtet“, resümiert die DG Bank. Die Erfolge von EM.TV und Kinowelt sowie anfangs auch der Höhenflug von Mobilcom hingen direkt mit „der Dynamik und der strategischen Brillanz“ ihrer Firmenvorstände zusammen. 125 Wirtschaft E U R O PA „Jäger des grauen Marktes“ E ine flinke Kränkung, eine grobe Attacke gehen DaimlerChrysler-Boss Jürgen Schrempp gemeinhin flott von den Lippen. Die eigene Konzernzentrale beschimpfte er als „bullshit-castle“, dem Konkurrenten und VW-Chef Ferdinand Piëch zeigte er seine Verachtung durch eine vor über hundert Managern formulierte Verweigerung: „Mit dem würde ich nicht mal gemeinsam pinkeln gehen.“ Nur vor der Brüsseler EU-Kommission hat Schrempp wirklich Respekt: Über ihren Ex-Wettbewerbskommissar Karel Van Miert und dessen Nachfolger Mario Monti ist dem Lenker des Weltkonzerns weder öffentlich noch halblaut ein böses Wort entfahren. Die Einsicht, im Umgang mit Brüssel das Temperament zu zügeln, hat Schrempp dem ungeliebten Rivalen Piëch zu verdan- ken. Die beiden Konzernherren haben mit Brüssel ähnliche Probleme: Die EU-Wettbewerbshüter beschuldigen beide Unternehmen, den EU-Bürgern über Jahre hinweg systematisch das verbriefte Recht beschnitten zu haben, ihre Autos in jenem Mitgliedstaat zu kaufen, in dem sie am billigsten sind. Belgier, Holländer, Franzosen, Spanier, Portugiesen, Iren, Schweden, Italiener und eben auch die Deutschen machen das gern. Denn die Preisunterschiede sind bei fast allen Herstellern in den verschiedenen Ländern beträchtlich. Andere Länder, andere Preise: So sparen Deutsche, die den C 180 im Nachbarland Dänemark kaufen, 4054 Mark, fast zehn Prozent. Konzernchef Schrempp Kein böses Wort Mercedes-Benz SLR (auf der IAA in Frankfurt): Belastende Dokumente überall in Europa 126 d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 W. WILDE / AGENTUR FOCUS Schwere Vorwürfe der EU-Kommission gegen DaimlerChrysler: Der Konzern soll systematisch den Wettbewerb in Europa behindert haben. Höchstmögliches Bußgeld: 2,3 Milliarden Mark. K.-B. KARWASZ Viele europäische Autokonzerne wollen nach Meinung der Kommission verhindern, dass ihre Kunden jenseits der Grenzen billiger einkaufen. Diese Abschottung des Marktes ist illegal. Die Kommission ermittelt deswegen auch gegen Opel und Renault. Mit politischem Druck und herrischem Auftritt glaubten die VW-Manager, einer Strafe durch die EU zu entgehen. Ferdinand Piëch setzte Kanzler Helmut Kohl und diverse Minister als Lobbyisten ein – mit katastrophalem Resultat. Ende Januar 1998 kassierte Van Miert bei VW 200 Millionen Mark Bußgeld wegen grober Behinderung des Wettbewerbs im EU-Binnenmarkt. Schrempp überließ den Dialog mit Brüssel von Anfang an professionellen Streitern, den Experten und Advokaten. Seine Berater hofften, Van Mierts Nachfolger Monti werde flexibler sein. Welch ein Irrtum: Der Bußgeldbescheid gegen Daimler ist, bis auf Formalien, fertig gestellt. Gleiches Unrecht wird, so der Tenor, mit gleicher Härte bestraft. Nach einem letzten Gespräch Montis mit der Bundesregierung Anfang November soll die EU-Kommission die Vorlage billigen und die Höhe des Bußgeldes festlegen. Monti hatte keine andere Wahl. Zu ähnlich sind die Machenschaften, die beiden Autobauern vorgeworfen werden. Das Beweismaterial, das die Kommission durch Beschlagnahmung und durch Mithilfe des Daimler-Konzerns sicherstellte, zeigt das Bild eines Unternehmens, das vom Preiswettbewerb zwischen seinen Händlern nicht allzu viel hält. Den europäischen Autokonzernen ist bis 2002 erlaubt, ihre Autos ausschließlich über vertraglich gebundene Händler zu festen Preisen zu vertreiben. Diese Regelung soll auch dem Verbraucher nutzen, weil angeblich nur so ein hoher Qualitäts- und Wartungsstandard gesichert werden kann. Daimler darf seinen Händlern auch verbieten, Autos an berufsmäßige Wiederverkäufer außerhalb des eigenen Landes zu verkaufen. Strengstens untersagt ist aber, Privatleute am Kauf eines Autos außerhalb ihres eigenen Landes zu hindern. Anreiz zu solchen Geschäften bieten die unterschiedlich langen Lieferfristen und erhebliche Preis- An Beispielen für solche Praktiken mangelt es in den „streng verC 180 S 320 EU-Preisunterschiede traulichen“, Daimbei MercedeslerChrysler vor Limousinen knapp zwei Moin Mark naten zugesandten „BeschwerdeQuelle: EU-Kommission; punkten“ nicht, Stand: 1.Mai 1999, etwa in Spanien. Preise sind gerundet, ausIn einem Schreistattungsbereinigt, vor Steuern Preisdifferenz gegenüber Deutschland ben von MerceNeupreis Neupreis des-Benz España S. A. (MBE) vom 27. Oktober 40900 98500 Deutschland 1993 an Auto Juncosa in Barcelona wird der Partner 40779 – 121 100766 +2266 Belgien ermahnt, Aktivitäten in Osteuropa zu unterlassen Dänemark 36846 – 4054 99740 + 1240 und „seine Geschäftstätigkeit auf das in seinem VerFinnland 39639 –1261 105591 +7091 trag festgelegte Gebiet“ zu beschränken. 39254 – 1646 100273 + 1773 Frankreich Ein anderer Erlass von Mercedes-Benz España 40679 – 221 109 276 +10776 Griechenland vom 1. Februar 1994 beGroßbritannien 42242 +1342 105685 +7185 scheidet die Händler: „Bezüglich der Exportationen sind wir der Meinung, dass 40656 – 244 97424 – 1076 Irland diese nicht durchgeführt 38444 – 2456 100252 +1752 werden dürfen. MBE wird Italien unter keinen Umständen 40515 –385 99198 +698 Luxemburg Bonifikationen für Flotten gutschreiben, die exportiert 37 319 –3581 100193 +1693 Niederlande werden.“ Auf Bitten von Daim40822 – 78 100 479 +1979 Österreich lerChrysler in Stuttgart versandte Mercedes-Benz 40652 – 248 105889 +7389 Portugal España diesen Text – offenbar, weil es nötig war – 37 122 – 3778 100244 +1744 Spanien noch einmal an die spanischen Händler, „auch wenn 38827 – 2073 99059 +559 Schweden unsere Rechtsabteilung mit dieser Art von Mitteilundifferenzen in den EU-Staaten. Je mehr gen auf Grund der geltenden EGVO-GeKunden versuchten, von diesem Preisge- setze nicht einverstanden ist“. Der Zusatz fälle zu profitieren und im billigsten Land entstammt einem Telefax aus Madrid an zu kaufen, desto schwerer musste es für die DaimlerChrysler-Zentrale. Diese und den Konzern werden, die Abschottung der ähnliche Vermerke bestärkten die KomMärkte durchzuhalten und hohe Profite zu mission in dem Verdacht, dass Daimlerbewahren. Es geht für den Konzern nicht Chrysler vorsätzlich und gewohnheitsum Peanuts. In einem Daimler-Papier wird mäßig EU-Recht gebrochen habe. der gesamte „graue Export“ auf insgesamt Zuweilen handelte der Konzern auch 30 000 Fahrzeuge geschätzt. auf Druck der Händler. Die „schädlichen Brüsseler Rechercheure fanden Papiere, und parasitären Einwirkungen des Paraldie für DaimlerChrysler außerordentlich lelmarktes in Belgien“ veranlassten die peinlich sind. Danach versuchte der Kon- dortigen Händler zu einer Beschwerde. zern, das unerwünschte Geschäft einzuMit Datum vom 25. Januar 1993 teilten dämmen durch sie der Stuttgarter Zentrale mit, im Jahr zuπ geringere Provisionen an Händler, die vor seien wiederum 2000 Fahrzeuge außerder Versuchung erlägen; halb des etablierten Händlernetzes nach π Aufforderungen und Abmahnungen an Belgien geliefert worden, davon 800 aus Verkäufer, nicht „an ausländische Kun- Deutschland. Daimler-Benz wird aufgeforden zu verkaufen“; dert, etwas gegen diese „Jäger des grauen π Lieferverweigerungen und -beschrän- Marktes“ zu tun. kungen und damit Eingriffe in die wirtDiese „Jäger“ aber pirschten zum Verschaftliche Existenz unbotmäßiger Mer- druss der deutschen Zentrale auch in Belcedes-Agenten; gien und lieferten von dort – rechtens, aber π Errichtung bürokratischer Hürden ge- unerwünscht – in andere Länder. Die „Gagen Auslandsverkäufe. rage Etoile“ in Wavre beispielsweise brach- Sterntaler d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 127 Wirtschaft Die Kommission wird stur bleiben, die Einwände gelten als Abwehrreflex nigten Königreiches auftauchen.“ Tatsächlich fanden sich Belege für die Ablehnung von Rechtslenker-Käufen. „Entsprechend diesem Verzicht auf Export“, heißt es in den „Beschwerdepunkten“ der Kommission, habe Mercedes-Benz Belgien zum Beispiel 1995 drei Kundenanfragen nach Rechtslenkern mit dem Hinweis abgelehnt, man sei nicht in der Lage, solche Autos zu liefern. Ausgeschwärmt waren die Wettbewerbsdetektive zuerst Anfang Dezember 1996. Sie forschten in der Stuttgarter Daimler-Zentrale sowie in Mercedes-Benz-Niederlassungen in Belgien, den Niederlanden und Spanien, sie suchten auf Festplatten und in Aktenordnern nach Belegen. Gut anderthalb Jahre lang prüften sie anschließend in ihren Brüsseler Amtsstuben die Funde. Der Konzern versuchte in einem nichtöffentlichen Hearing, die Vorwürfe zu entkräften. Die Kommission habe die Zufallsfunde falsch eingeordnet, trotz der schriftlichen Drohungen sei es in der Realität fast nie zur Abstrafung von Händlern gekommen. Und außerdem habe die Kommission die im Schriftwechsel verwandten Begriffe wie „Graumarkt“, „Parallelimport“ und habe zur Kenntnis genommen, „dass Sie uns verbieten, an Kunden in Spanien zu verkaufen“. Aber es werde mit „zweierlei Maß gemessen“. Andere Händler verkauften ins Ausland, ohne abgestraft zu werden. Es sei eben die ewige Geschichte von den Kleinen, die stets das Nachsehen hätten. Insgesamt aber scheinen die belgischen Daimler-Verkäufer mit ihrem Erfolg im Kampf gegen „Schleuderei“ zufrieden gewesen zu sein. Sie jagten die Übeltäter in ihren Reihen, wollten nun aber nicht länger „Invasionen“ aus Deutschland dulden. Am 17. Oktober 1995 legten sie gegenüber Stuttgart beflissen Zeugnis über ihr Wohlverhalten ab: „Wir tun alles Mögliche, um unsere Arbeit korrekt auszuführen (wir verzichten auf Export), wir versuchen unsere Durchschnittspreise auf einer hohen Preisebene beizubehalten.“ Eine regelwidrige Behinderung des Verkaufs von Daimler-Limousinen an Ausländer sieht die Kommission auch in einer unauffälligen Vertragsklausel begründet, die den Daimler- Wettbewerbskommissar Monti: Viel Freiheit nach oben Händlern jeweils nur Anspruch auf die Lieferung von Autos „in den „Einlieferungen“ überinterpretiert. In fast jeweiligen Landesausführungen“ zubilligt. allen Fällen sei es um professionelle AutoDie Bedeutung dieser Bestimmung er- exporteure gegangen – und deren Geschäft schließt sich aus einer E-Mail der britischen ist nun mal offiziell verboten. Der PrivatDaimler-Repräsentanz nach Stuttgart. In kunde sei nur ausnahmsweise betroffen geDeutschland stationierte britische Solda- wesen. ten, klagt Mercedes-Benz London, könnten Die EU-Kommission in Brüssel wird stur die Wagen mit dem Stern über ein Nato- bleiben, die Einwände des Stuttgarter AuProgramm erwerben, in das Vereinigte Kö- tomobilkonzerns gelten als üblicher Abnigreich importieren und dort „mit riesi- wehrreflex eines ertappten Sünders. Für gem Profit“ verkaufen. den italienischen Wettbewerbskommissar Der Autor des Schreibens weiter: „Ich Monti geht es jetzt nur noch um die Höhe weiß, dass es jemanden gibt in der Daim- des Bußgeldes. ler-Benz AG, der alle Rechtslenker-BestelDas Mindestmaß gibt der Fall VW mit lungen in den Niederlassungen abblockt, der 200-Millionen-Buße vor. Nach oben aber was ist mit den Nato-Orders? Kann aber hat Monti viel Freiheit. Der Höchstsich jemand darum kümmern, weil wir satz liegt bei zehn Prozent des Daimlerempfindlich berührt sind, wenn diese im- Umsatzes in Europa – das wären 2,3 Milportierten Autos auf dem Markt des Verei- liarden Mark. Winfried Didzoleit 128 d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 JARDAI / MODUS te 1995 „nach eigenen Angaben“ zehn Fahrzeuge an spanische Endverbraucher. Mercedes-Benz Belgien rapportierte sein Bedauern nach Stuttgart und schrieb: „Wir haben unseren Dealer ausdrücklich gebeten, diese Handlungen zu unterbinden, andernfalls müsste er mit einer Strafe rechnen“ – eine aus Sicht der Kommission illegale Sanktionsdrohung. Die Garage Etoile schrieb dann auch erbittert an Mercedes-Benz Belgien, man Werbeseite Werbeseite T E L E KO M M U N I K AT I O N Kauf aus Panik Für die Rekordsumme von 67 Milliarden Mark will Mannesmann den britischen Mobilfunkbetreiber Orange kaufen – um sich so vor einer Übernahme zu schützen. W S. WIELAND / LAIF erner Müller war voll des Lobes. Der Einstieg von Mannesmann in die Telekommunikationsbranche sei eine Erfolgsstory ohnegleichen, so der Wirtschaftsminister auf einem Symposium, zu dem der Düsseldorfer Traditionskonzern am vergangenen Mittwoch ins noble Berliner Hotel Adlon geladen hatte. Durch „geschicktes Marketing, Risikofreude und eine kluge Internationalisierungsstrategie“, schwärmte der Wirtschaftsminister, habe sich der Röhrenhersteller in nur wenigen Jahren zu einem „ernst zu nehmenden Player“ in der europäischen Telekommunikationsbranche gewandelt. Dafür zolle er dem Management „großen Respekt“. Hätte Müller gewusst, was sich fast zeitgleich einige Etagen höher im Adlon abspielte, wären seine Lobeshymnen wohl vorsichtiger ausgefallen. Dort nämlich zurrte Mannesmann-Chef Klaus Esser, 52, in hektischen Telefonaten die letzten Details eines Mega-Deals fest, der die gesamte Telefonbranche und die internationalen Finanzmärkte am Tag darauf in helle Aufregung versetzte. Für rund 67 Milliarden Mark, verkün- Mannesmann-Zentrale in Düsseldorf dete Esser freudestrahlend am Donners- Die Verschuldung steigt gewaltig tag vergangener Woche, wolle sein Unternehmen den drittgrößten englischen Mo- nerstag um über acht Prozent von 158 auf bilfunkbetreiber Orange kaufen. Der rund 145 Euro ab. Hauptaktionär der Handy-Firma, der in Grund für die hektischen Reaktionen an Hongkong ansässige Milliardär und Im- den Finanzmärkten ist der Preis, den Esser mobilienunternehmer Li Ka-Shing, 71, für das englische Mobilfunkunternehmen habe das Angebot, bei dem Mannesmann bezahlen will. Niemals zuvor wurde in Eurund 40 Prozent des Preises in bar und 60 ropa ein höherer Betrag für eine TelefonProzent in Form eines Aktientauschs bezahlen will, Wichtige Telekommunikationskäufe der Firma bereits unwiderruflich akMannesmann seit 1997 zeptiert. Doch was als genialer TELERING 53,8 % für Coup gedacht war und den ORANGE Aufstieg von Mannesmann 0,28 CEGETEL 100 % (geplant) für Milliarden 15 % für zum führenden MobilMark 1,5 funkanbieter Europas beMilliarden Mark Milliarden Mark siegeln sollte, endete für Esser und seinen Konzern zunächst einmal in einem mittleren Erdbeben. Tausende von Aktionären reaOTELO gierten auf das Übernah100 % für OMNITEL INFOSTRADA meangebot mit fast panik2,25 100 % 55 % artigen Verkäufen. Milliarden Mark für In nur wenigen Stunden 14,9 Milliarden Mark sackte der MannesmannKurs am vergangenen Don- 67 130 d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Wirtschaft Anfang des Jahres eine beispiellose Einkaufstour für den glitzernden Zukunftsbereich Telekommunikation. So sicherte sich Esser im Februar für rund 15 Milliarden Mark eine Beteiligung an der aufstrebenden italienischen HandyFirma Omnitel und der Festnetzgesellschaft Infostrada. Wenig später kaufte er den Energiekonzernen Veba und RWE für 2,25 Milliarden Mark die angeschlagene Telefonfirma Otelo ab und schluckte auch noch den Düsseldorfer City-Betreiber Isis. Die konsequente Neuausrichtung des Konzerns und die geschickte Einkaufspolitik wurden von den Börsianern belohnt. Der Kurs des Mannesmann-Papiers kletterte in den vergangenen Monaten kontinuierlich. Vor zwei Wochen erreichte das Papier seinen Spitzenwert von über 161 Euro. Je teurer die Aktie, desto schwerer wird es für einen Angreifer, den Konzern zu schlucken. Mit dem Kauf von Orange könnte Esser sich jedoch verkalkuliert haben. Denn zusätzlich zu den unsicheren Geschäftserwartungen muss er für den Kauf der englischen Firma einen Kredit über rund 23 Milliarden Mark aufnehmen. Zwar soll das Geld schon im nächsten Jahr durch den Börsengang der Maschinenbausparte und eine Kapitalerhöhung wieder zurückgezahlt werden. Doch bis dahin, monieren Analysten, steige die Verschuldung des Konzerns zusammen mit alten Verbindlichkeiten auf 50 Milliarden Mark. Kleine Managementfehler können da schnell zur Katastrophe führen. Esser kann den Wirbel um seinen Milliarden-Deal nicht verstehen. Der Kauf von Orange mit seinen Auslandsbeteiligungen in Österreich, Belgien und der Schweiz, beteuert er tapfer, habe für den Orange-Hauptaktionär Li: Für jeden Kunden 19 000 Mark Mannesmann-Konzern „hohen strategischen Wert“. Auch Super-Deal wolle Esser den Konzern künst- die Börse werde das bald einsehen und mit lich verteuern, um sich so vor einer Über- wieder steigenden Kursen honorieren. Am Freitag zumindest war davon noch nahme durch den ehrgeizigen Mobilfunkriesen Vodafone Airtouch zu schützen. Das nicht viel zu spüren. Bei steigendem Dax Interesse der Aktionäre bleibe dabei auf rutschte der Kurs des Mannesmann-Papiers sogar noch einmal kräftig ins Minus. Für der Strecke. Tatsächlich wehren sich Esser und sein Esser wächst damit die Gefahr, dass genau Vorstand seit Monaten gegen Begehrlich- das passiert, was er mit seinem Super-Deal keiten des britisch-amerikanischen Mobil- verhindern wollte: von Vodafone Airtouch funkgiganten (Börsenwert: rund 250 Mil- geschluckt zu werden. Dort zumindest haben die Manager daliarden Mark), der an der MannesmannMobilfunktochter D2 schon mit etwa 35 mit begonnen, eifrig nachzurechnen. SollProzent beteiligt ist und die englischen Ex- te der Kurs von Mannesmann weiter fallen, pansionspläne seines Partners missbilligt. hieß es am Freitag in der Londoner ZenUm eine Übernahme zu erschweren, trale des Mobilfunkgiganten, sei man bestutzte der Mannesmann-Chef bereits den reit, den Mannesmann-Aktionären ein traditionellen Maschinen-, Anlagen- und großzügiges Übernahmeangebot zu unterRöhrenbau auf wenige Kerngeschäftsfelder breiten. Rund 120 Milliarden Mark, so heißt zusammen, die er im nächsten Jahr als es, wollen die Aufkäufer aus England dafür eigenständige Aktiengesellschaft an die springen lassen. Frank Dohmen, Klaus-Peter Kerbusk Börse bringen will. Gleichzeitig startete er REUTERS firma gezahlt. Die gewaltige Summe von fast 67 Milliarden Mark steht nach Ansicht vieler Experten in keinem Verhältnis zum tatsächlichen Wert der englischen HandyFirma mit ihren 3,5 Millionen Kunden. Vor wenigen Wochen erst hatte Telekom-Chef Ron Sommer für rund 25 Milliarden Mark den nur unwesentlich kleineren Orange-Konkurrenten One-2-One geschluckt und sich für diese Summe bereits herbe Kritik seines Finanzvorstands und zahlreicher Aktionäre anhören müssen. Im Vergleich zu Esser, der beim Milliarden-Poker um One-2-One überraschend ausgestiegen war, hat der Telekom-Chef jedoch geradezu ein Schnäppchen gemacht. Während Sommer für jeden One-2One-Kunden umgerechnet rund 9000 Mark zahlt, legt Esser für jeden Kunden von Orange-Chef Hans Snook fast 19 000 Mark auf den Tisch. Ein Betrag, der selbst auf dem boomenden Handy-Markt nur schwer, vielleicht gar nicht zu verdienen ist. Analysten und Experten wie der Bonner Telekommunikationsberater Bernd Jäger wittern hinter dem Milliarden-Deal denn auch ganz andere Beweggründe. Das Angebot von 67 Milliarden Mark, so Jäger, sei „Ausdruck höchster Panik“. Mit dem d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 131 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Wirtschaft FERNSEHEN Dokument des Grauens T. EINBERGER / ARGUM Im Pay-TV hat der Pionier Leo Kirch Zahlungsverpflichtungen von 4,5 Milliarden Mark. Ein von ihm selbst in Auftrag gegebenes Dossier zeigt: Ohne Hilfe ist seine Firma nicht überlebensfähig. TV-Unternehmer Kirch: „Geschichte von Betriebsverlusten“ I n der Öffentlichkeit geht Dieter Hahn, 38, das brisante Thema gern locker an. „Die Verbindlichkeiten waren nie ein Grund zur Sorge“, sagt er über das Reich des Medienunternehmers Leo Kirch, 73. Als Hahn, zweiter Mann hinter Kirch in der Geschäftsführung, vor zwei Monaten die erste Bilanzpressekonferenz in der Geschichte der Kirch-Gruppe eröffnete, witzelte er selbstbewusst: „Bisher wurde nur über die Verschuldung der Gruppe geschrieben, jetzt können die Journalisten mal was anderes schreiben.“ Unermüdlich arbeitet Hahn daran, das verschachtelte Imperium seines Chefs zu ordnen und zum bedeutendsten europäischen Fernsehkonzern auszubauen – und die vielen Gerüchte über die Finanzkraft der Gruppe zu zerstreuen. Für das schwierige Zukunftsgeschäft des Pay-TV mit den erforderlichen massiven Investitionen dachte sich Stratege Hahn etwas Neues aus: den Gang auf den internationalen Kapitalmarkt. Der Plan sah vor, dass eine Anleihe der Zwischenholding KirchPayTV zwei Milliarden Mark erlöst – es wäre eine der größten Anleihe-Emissionen europäischer Firmen gewesen. Anschließend beabsichtigte Hahn, sich weltweit bei Banken weitere vier Milliarden Mark zu leihen. Das Geld sollte endgültig den Ausbau des deutschen Bezahlfernsehens rund um den Sender Premiere World sichern. Das Unternehmen könnte dann zum Kern einer neuen Fernsehwelt werden, mit exklusiven 134 Programmen und Filmen auf Abruf, mit Internet und Multimedia, alles auf hunderten von Kanälen. Doch die schöne Idee mit der Anleihe ist geplatzt. Nach den Präsentationen der Kirch-Truppe in Europa und an der Wall Street winkten die umworbenen Investoren einhellig ab. Die Anleihe, die Kirch mit rund zwölf Prozent verzinsen wollte, war zu diesen Konditionen nicht an den Mann zu bringen. Die Bedenken der Banker hatte ein Prospekt geweckt, den das renommierte New Yorker Investmenthaus Morgan Stanley Dean Witter im Kirch-Auftrag einem handverlesenen Kreis finanzstarker Interessenten reichte. Das brisante Papier („Strictly confidential“) durfte nicht kopiert werden und war nach Lektüre unverzüglich an Morgan Stanley zurückzugeben. Denn es bietet un- Kirchs Milliardengrab Verluste im Pay-TV 1998 nach einer vorläufigen internen Bilanz der Kirch-Gruppe nach Übernahme von Premiere und Zusammenlegung mit DF-1 (konsolidierte Zahlen) Angaben in Millionen Mark mit Beta Digital Einnahmen Gesamt 957,7 129,1 836,3 – 347,5 – 189,7 – 22,3 – 13,6 – 90,1 – 17,3 – 559,7 – 96,7 –72,3 – 163,5 –196,7 – 50,9 –907,1 –278,7 –94,5 –177,1 –286,9 –196,8* – 551,4 – 303,5 –983,4 – 130,1 – 8,9 + 0,7 –18,4 –5,0 –128,1 –672,9 –362,0 aus Abonnements abzüglich Betriebsausgaben Film- und Programmkosten Sendetechnik und Übertragung Abonnentenbetreuung u.a. Kosten für Decoder Vertriebskosten Verwaltung und Sonstiges Betriebsergebnis Weitere Verluste Beteiligungsgewinne/-verluste bei Töchtern Zinszahlungen für Kredite weitere Fehlbeträge und Gewinne eingerechnet, ergibt sich nach Steuern ein Gesamtverlust Quelle: Morgan Stanley Dean Witter d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 –1122 Millionen Mark *einschließlich Abschreibung auf Vermögenswerte Werbeseite Werbeseite Wirtschaft rangig an Fakten interessiert. gewohnt intime Einblicke in das Und deren Sprache ist deutlich: bisher verschwiegene UnternehLaut dem internen Finanzstatus men des Leo Kirch. lagen die ZahlungsverpflichtunErstmals waren interne Paygen von KirchPayTV zum StichTV-Bilanzen nach den strengen tag 31. März 1999 bei 4,56 Milamerikanischen Regeln erstellt liarden Mark. worden, erstmals bekommen Diese Zahl überrascht selbst Außenstehende einen präzisen Kirch-Kenner. Als 1997 ein inÜberblick über die Geschäfte. terner Finanzstatus via „ManaSchonungslos seziert das „Ofger Magazin“ den Weg in die Öffering Memorandum“ vom 31. fentlichkeit fand, war von drei August das Unternehmen Kirch, Milliarden Mark Bankschulden es referiert einfach alles: Vermödie Rede – für den Gesamtkongen und Schulden, Verluste und zern. Mittlerweile hat sich die Verpflichtungen, Chancen und Lage offenbar zugespitzt. immer wieder die Risiken. Der Grund sind die AktivitäSo entstand auf 160 Seiten ein Dokument des Grauens: Kirchs Kirch-Memorandum (Ausriss): „Hohes Niveau der Verschuldung“ ten im Pay-TV. 1998 hatte das Münchner Medienhaus nach der Finanzen sind demnach aufs Natürlich schreiben die Kirch-Strategen für die Wall Street und die Londoner City Äußerste angespannt, dicht an der Grenze zur Schieflage. An vielen Stellen klaffen in dem Papier für die Investoren voller Be- erstellten Bilanz auf diesem Gebiet genau Löcher, drohen finanzielle Risiken, deren geisterung, wie sie die Konkurrenz des 1,122 Milliarden Mark Verlust gemacht – Free-TV, wo Sender wie ARD oder RTL die Summe liegt um fast ein Drittel über Bewältigung allein kaum zu schaffen ist. Selbst die Anleihe sollte lediglich der das Publikum locken, künftig mit den bes- den Umsätzen. Tag für Tag verliert Kirch Umschuldung dienen. Der Zweck: die Til- seren Programmen klein halten wollen: im Pay-TV-Geschäft demnach über zwei „Wir glauben, die Attraktivität von Fern- Millionen Mark. gung alter Kredite. Innerhalb des Bezahlfernsehens ist die Auch die an das Anleihegeld geknüpften sehprogramm-Inhalten ist der einzige entneuen Milliarden-Bankkredite sollten teil- scheidende Wettbewerbsfaktor im deut- Hauptursache für die Horrorzahlen das weise Belastungen aus der Übernahme des schen Fernsehmarkt.“ Premiere World alte Kirch-Pay-Unternehmen DF 1. Damit Senders Premiere (Kaufpreis: insgesamt solle, so das Dokument, die „führende führte der Medienunternehmer Mitte 1996 2,356 Milliarden) finanzieren. Ein Gebilde Marke für Fernsehunterhaltung“ werden. das Digitalfernsehen in Deutschland ein. Es Die umworbenen Investoren jedoch wa- hat den Pay-Pionier bis Anfang April knapp wäre entstanden, dass vom Fundament bis ren weniger an Verheißungen, sondern vor- 1,8 Milliarden Mark gekostet. Jahr für Jahr zum Dachstuhl aus Krediten besteht. AP die steckt offenbar voller türmten sich die FehlbeträRisiken. Auf zehn Seiten ge (1997: 719 Millionen, werden all die großen und 1998: 673 Millionen Mark). kleinen Unwägbarkeiten „Wir haben eine Geschichaddiert. te bedeutender BetriebsRisikofaktor Nummer verluste“, erklärt der Proeins ist demnach die Exspekt lapidar. Der dafür pansion auf Pump: „Wir haverantwortliche Geschäftsben ein hohes Niveau der führer Gottfried Zmeck Verschuldung“, heißt es auf räumte mittlerweile den Seite 16 des Dokuments, Posten. „unsere namhafte SchulZu den Lasten bei DF 1 denmenge könnte eine Last addieren sich die Verluste für unsere Operationen und bei dem Sender Premiere. Profitabilität bedeuten.“ Dort hielt Kirch jahrelang Dazu gehört etwa, „dass nur einen Minderheitsanwir vielleicht einen bedeuteil von 25 Prozent, ehe er tenden Teil unserer Resim Frühjahr 1999 endgültig TV-Tycoon Murdoch sourcen abtreten müssen, die Mitgesellschafter Canal plus und Bertelsmann auskaufte. Seit um Schulden zu bezahlen“ – ein Teilver1. Oktober ist der Kanal mit DF 1 zum neu- kauf also nötig werden könnte. Vor allem für weitere Investitionen steht en Premiere World fusioniert. 1998 machte das alte Premiere 836 Millionen Mark angesichts dieser Kassenlage das nötige Umsatz – und 362 Millionen Mark Verlust. Geld anscheinend kaum zur Verfügung. Dicke Programmpakete aus Hollywood, Damit hätte die Kirch-Gruppe, so das ineine schwierige neue Technik, teure Satel- terne Dossier, „nur eine begrenzte Flexilitenplätze, aufwendige Marketingaktionen bilität, um auf veränderte Markt- und Ge– die Kosten setzen Kirch erkennbar zu. schäftsbedingungen zu antworten“. Neue Kredite, dieses Risiko wird eigens Die Einnahmen lassen auf sich warten. Der Bankenprospekt von Morgan Stan- aufgeführt, seien womöglich nicht mehr zu ley Dean Witter listet nicht nur Kredite ergattern. Im Dokument heißt es: Die und operative Verluste auf. Es wird auch Kirch-Gruppe sei „vielleicht nicht in der ein Blick in die Zukunft gewagt – und auch Lage, zur Finanzierung des laufenden Ge- schäfts oder zur Expansion mehr Geld zu leihen, zu attraktiven Zinssätzen oder überhaupt“. Schon die bisherigen Kredite machen der Firma schwer zu schaffen. Sie sind in ihrer künftigen Wirkung auf die Bilanz nur schwer zu kalkulieren, so das Investorenpapier, „da für einen Teil unserer Schulden ein variabler Zinssatz gilt“. Das heißt: Steigen an den Finanzmärkten die Zinsen, wächst die Belastung für das Münchner Unternehmen automatisch mit – eine Scala mobile nach unten. „Die Fähigkeit von KirchPayTV, weiterzumachen, hängt von den künftigen Betriebsergebnissen ab und von der Frage, ob zusätzliche Finanzen von der KirchGruppe oder aus externen Quellen kommen“, bilanziert das Papier folgerichtig. Die Warnungen wirkten auf ausgewiesene Finanzexperten in Großbanken alarmierend. Die Anleihe zu den von Kirch angebotenen Konditionen war allen zu riskant. „Das war eine der schlimmsten Neuemissionen, die dieses Jahr auf meinen Tisch kamen“, sagt ein Frankfurter Banker. Kirchs offenkundige Finanzprobleme zeigen sich auch beim Verwendungszweck der Anleihe. Das Kirch-Team hatte die erbetenen zwei Milliarden nicht etwa für den Kauf von Kinoknüllern oder für Investitionen in die Technik eingeplant, sondern schlicht zur Bewältigung alter Lasten. Die Wirtschaft Geldgeber hätten in die Vergangenheit inDie nächsten großen Rechnungen ste- sächlich fand er im Frühjahr bereits Minvestiert, ohne allzu viel Zukunftsphantasie. hen schon fest: So sind ausweislich der ver- derheitsgesellschafter für die profitable Von dem frischen Geld sollten 600 Mil- traulichen Finanzaufstellung in den nächs- KirchMedia: Den italienischen TV-König lionen Mark für einen Kredit der Bayeri- ten fünf Jahren rund 880 Millionen Mark Silvio Berlusconi, den saudischen Prinzen schen Landesbank sowie gut 1,3 Milliar- für Satelliten, Kabelkanäle und Gebäude Walid sowie die Investmentbank Lehman den Mark für ein Darlehen Kirchs bezahlt sowie 1,457 Milliarden Mark für Pro- Brothers. Die dortigen Verbindlichkeiten – ebenfalls mehrere Milliarden Mark – werden. Der Alleineigentümer hat über die grammlizenzen fällig. Obergesellschaft KirchVermögensverwalVom Jahr 2000 an stehen daher in der konnten die Harmonie nicht trüben. Auch an der neuen Zukunftsfirma Kirch tung seiner KirchPayTV insgesamt 1,682 Kirch-Gruppe Börsengänge fest auf dem Milliarden Mark zu 5,5 Prozent Zins ge- Programm, so zumindest wurde es den New Media sollen sich bald Investoren beteiligen. Dort bereitet Kirch neue Dienste liehen – und sich dieses Geld wiederum potenziellen Geldgebern avisiert. anderweitig besorgt. Erster Kandidat ist die Holdinggesell- vor: beispielsweise den Zugang zum InterEine zentrale Rolle spielt dabei die schaft KirchMedia: Dort sind das ange- net, das Abrufen von Filmen und MusikBayerische Landesbank, auch das wird stammte Geschäft des Filmhandels, die titeln sowie interaktive Computerspiele. „Wir beabsichtigen, einen aus dem Dokument eroder mehrere strategisichtlich. sche Partner aufzunehmen“, In der Vergangenheit hatheißt es im Finanzprospekt. te das Staatsinstitut 500 MilTopmanager Hahn sieht lionen Mark für den laufensich durch die jüngste Geden Betrieb bereitgestellt. schäftsentwicklung bei PreDoch in diesem Jahr musste miere World bestätigt, die die Bank kräftiger ran, ofSituation bei Kirch sei keifenbar in einer relativ drinnesfalls dramatisch, erklärt genden Stützungsaktion. er. Seit dem Neustart am Am 29. April bürgte die 1. Oktober gewann das Bank für 1,565 Milliarden Pay-TV-Unternehmen über Mark. Von der Kreditlinie 80 000 Neukunden – und nahm Kirch bis September läge damit „deutlich über 600 Millionen in Anspruch, Plan“. Mit Marketingausgadieses Geld aber muss er bis Jahresende zurückzahlen – das geht aus dem „Offering Memorandum“ hervor. Es handelt sich also um eine so genannte Brückenfinanzie- Kirch-Werbung für Erotikprogramm: Über 80 000 Neukunden rung – und das zum Niedrigzins von derzeit 4,2 Prozent. Der Durchschnitt in Deutschland für Firmenkredite liegt bei 5,5 Prozent. Firmenzeichen Die Anleihe ist zwar geben von 300 Millionen platzt, aber der KapitalbeMark für die Jahre 1999 und darf von Kirch ist nach wie 2000 will Hahn das Publivor ungestillt. kum von den ProduktvorAuch deshalb wird seit teilen überzeugen: Top-Filneuestem wieder eindringme wie „Titanic“, exklusive lich mit dem internaSportsendungen wie die tionalen TV-Unternehmer Boxkämpfe von Mike TyRupert Murdoch über seison, Familienfreundliches nen Einstieg ins deutwie den Disney Channel sche Pay-Geschäft geredet. und Erotik-TV. Er soll eine Milliarde Mark Den Flop mit der Anleihe für rund 20 Prozent an hat Kirchs Stellvertreter KirchPayTV zahlen, so zulängst abgehakt, der Promindest der Wunsch der Kirch-Leute. Doch Mur- KIrch-Sportangebot mit Mike Tyson: „Von Zeit zu Zeit die Preise erhöhen“ spekt sei mit Rücksicht auf eventuelle Rechtsstreitigkeidoch pokert – er dürfte den Deal weniger nötig haben als sein Produktionen von Kino- und Fernseh- ten extrem vorsichtig verfasst worden, sagt Partner in spe. stücken sowie die Sender Sat 1, Pro Sieben, er. „Man kann ihn nicht isoliert sehen.“ Einer wird beim Pay-TV vermutlich in Lange kann das Unternehmen, das noch DSF und Kabel 1 vereinigt. Im Jahr 2001 im Mai eine Aufnahme von Gesellschaf- dürfte dann auch KirchPayTV so weit sein. jedem Fall zahlen, von dem bisher eher tern strikt ablehnte, ohne weitere fremde Nur die Beteiligungsholding KirchInvest – selten die Rede war: der Kunde. Der UmGelder nicht auskommen. Für das Nötigste zu der etwa ein dickes Aktienpaket am satz pro Pay-Abonnent solle nach oben gesorgt seit Wochen ein Kredit der US-Bank Axel Springer Verlag gehört – soll nicht an schraubt werden, erklärte das Kirch-Management in dem vertraulichen Prospekt: Morgan Stanley Dean Witter über 1,5 Mil- die Börse gebracht werden. liarden Mark. Sie erhofft sich offenbar lohMit der Dreiteilung sei die Kirch-Grup- „Von Zeit zu Zeit planen wir, neue Diensnende Folgegeschäfte bei einem Anteils- pe „transparent für neue Partner, Investo- te einzuführen und dabei die Preise zu erverkauf und einem Börsengang. ren und Aktionäre“, erklärte Hahn. Tat- höhen.“ Hans-Jürgen Jakobs 138 d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite schäftigte – wundern sich. Seit der promovierte Jurist 1992 an die Spitze des Telefonund Elektromultis rückte, kämpft der Siemens-Chef gegen den Ruf, er sei konfliktscheu und entscheidungsschwach. Weil der umgängliche Aufsteiger sich standhaft weigerte, im großen Stil Betriebe zu schließen oder unrentable Geschäftszweige abzugeben, galt er in Wirtschaftskreisen als Softie. Vorstandsheroen wie DaimlerChrysler-Chef Jürgen Schrempp oder General-Electric-Chef Jack Welch („Neutron Jack“) dagegen griffen beherzter zu. Sanieren, schließen oder verkaufen, „Fix it, close it, or sell it“, heißt das Motto von Welch. Schrempp brachte sein Unter- Die Aufholjagd 400 Siemens Aktienkurs im Vergleich zum Dax 350 1. Oktober 1992 = 100 300 1. Oktober 1992 Heinrich von Pierer wird Vorstandschef der Siemens AG 250 200 DAX D. REINARTZ / PLUS 49 / VISUM 150 19. Februar 1998 Hermann Franz scheidet aus dem Aufsichtsrat aus SIEMENS Konzernchef Pierer Quelle: Datastream 1992 93 M A NAG E R Ende eines Softies Siemens-Chef Heinrich von Pierer, bisher der sanfteste unter Deutschlands Top-Bossen, greift neuerdings hart durch. Vorstände werden gefeuert, Firmen verkauft, Jobs abgebaut. I hr letztes Arbeitstreffen Ende Juli im Berliner Hotel Interconti wird den obersten Führungskräften des Münchner Siemens-Konzerns noch lange in Erinnerung bleiben. So angriffslustig wie bei dem zweitägigen Seminar hatten die 500 Top-Manager ihren Chef Heinrich von Pierer, 58, noch nie erlebt. Viele der hoch dotierten Bereichs- und Abteilungsleiter zuckten zusammen, als der Konzernboss Fehlleistungen seiner leitenden Mitarbeiter anprangerte. „Die Qualitätsprobleme haben in den letzten Monaten ein Ausmaß angenommen, das nicht mehr akzeptabel ist“, wetterte Pierer. Statt „bei allem und jedem nach externen Be142 ratern zu rufen“, kritisierte der sonst so verbindliche Vorstandschef, sollten sie künftig „wieder selbst handeln“. Auch mit teuren Lustreisen zu ausländischen Tochtergesellschaften müsse endlich Schluss sein. „Das schafft doch keine Mark mehr Umsatz oder Geschäftswert“, hielt der Siemens-Chef den Spesenrittern vor. Noch abends an der Hotelbar standen die Zuhörer sichtlich unter Schock. „Was ist nur mit unserem Chef los?“, fragte einer den anderen. Auch Analysten und Konkurrenten des drittgrößten deutschen Industriekonzerns – 133 Milliarden Mark Umsatz im abgelaufenen Geschäftsjahr und 440 000 Bed e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 94 100 50 95 96 97 98 99 nehmercredo auf die Einfachformel: „Profit, Profit, Profit.“ Der ehemalige CSU-Kommunalpolitiker Pierer hielt jahrelang dagegen. Der Konsens ist unverzichtbar, lautete seine Maxime. Das Interesse der Aktionäre sei für ihn nicht der alleinige Maßstab. Er betrachtete den Siemens-Vorstand stets auch als ein politisches Gremium, das im Geflecht von Kunden, Mitarbeitern und Aktionären zu vermitteln hätte und auch die Interessen der Gesellschaft berücksichtigen müsse. Mit derlei Rhetorik ist jetzt Schluss. Nun beeilt sich auch der Siemens-Mann, den Anschluss an die neue Zeit zu finden. Pierer baut um, kauft auf und stößt ab, als hätte er nie zuvor etwas anderes gemacht. Die „Welt“ feierte den Spätstarter bereits als „Shooting Star“ der deutschen Wirtschaft. Auch bei seinen Führungskräften greift der Siemens-Chef neuerdings durch. Wer nicht spurt, muss empfindliche Gehaltseinbußen hinnehmen. Erfolgreiche Bereichsleiter können ihr Millionen-Salär dagegen um bis zu 600 000 Mark aufbessern. Der neue Kurs schlägt sich längst auch im Börsenkurs nieder. Kaum ein anderes Wirtschaft des Betriebsrats hält sich in Grenzen. „Fundamentalopposition bringt uns bei Siemens zurzeit nicht weiter“, sagt Konzernbetriebsratschef Ralf Heckmann. Erst Freitag vergangener Woche erfuhren die Mitarbeiter der Geldautomatensparte, dass sie bald neue Eigentümer bekommen, zwei US-Investmentfirmen. Auch die Beschäftigten der Verkehrs- und Medizintechnik sowie der Kernkraftsparte müssen künftig wohl mit Kollegen von Partnerfirmen zusammenarbeiten. Verstärkung erhalten soll dagegen der Handy-Bereich, auch bei der SiemensEDV-Dienstleistungstochter SBS stehen Zukäufe an. Weil beide Sparten im vergangenen Jahr erfolgreich gearbeitet haKonzern in Bewegung Die Siemens AG im Umbau ben, dürfen die Chefs auf Shopping-Tour Ausgewählte gehen. Im Visier haben die Bayern bereits Transaktionen Teile des EDV-Geschäfts der Daimlerin der KonzernChrysler-Tochter Debis. Kräftig aufgeführung mischt wird auch im Management. Seit einem Jahr müssen die 17 Bereichsleiter Oktober 1997 September 1999 regelmäßig zum Rapport antreten. Wer Walter Kunerth Juli 1998 Elektromechanische Zentralvorstand sein Planziel nicht erreicht, muss gehen. Energiekabel Komponenten Oktober 1998 Knapp ein halbes Dutzend SpitzenDie Energiekabelproduktion Der Bereich soll für Wolfram Martinsen wird für 500 Mio. Mark von 2 Mrd. Mark an Tyco manager hat es bislang schon erwischt, so Vorstand Verkehrstechnik Pirelli (Italien) übernommen (USA) verkauft werden erst kürzlich den glücklosen September 1998 Horst Langer Oktober 1999 KWU-Chef Adolf Hüttl. Bereits Zentralvorstand Chipfabrik Bauelemente im April schickte Pierer den ehe(vorzeitiger Ruhestand) Stilllegung der Halbleiterfabrik in Börsengang unter maligen Chef der Handy-Sparte, North Tyneside (Großbritannien) dem Namen Epcos April 1999 April 1999 Dietrich Botsch, vorzeitig aufs Dietrich Botsch Geldautomaten Halbleitertechnik Technologiebeauftragter Altenteil. Selbst vor einem KonUS-Investmentfirmen Der Halbleiterbereich wird als des Zentralvorstands kaufen die Siemens Nixdorf flikt mit der Siemens-Familie Infineon Technologies ausgeRetail and Banking Systems Oktober 1999 schreckt Pierer nicht zurück. Auf gliedert und im Frühjahr 2000 für 1,44 Mrd. Mark Adolf Hüttl der Hauptversammlung im Fean die Börse gebracht Vorstand Kraftwerkstechnik Glasfaserbereich bruar wurde beschlossen, SonJuni 1999 (vorzeitiger Ruhestand) Geplanter Verkauf der Siederrechte der Erben des Siemens-GrünComputersysteme mens-Anteile am GlasfaserGründung eines Gemeinschafts- produzenten Siecor an ders für einen Teil ihrer Aktien abzuunternehmens mit Fujitsu (Japan) Corning (USA) schaffen. Einige von ihnen haben die Entscheidung inzwischen angefochten und verlangen einen Ausgleich. Doch Pierer denkt gar nicht daran, freitrolleur saß bei Pierer im Büro gegenüber, rer die Balance finden – nur haben sich beide teilten sich ein Sekretariat. Das mittlerweile die Gewichte im Aufsichtsrat willig Geld rauszurücken. „Die Familie hat gehört bei Siemens zur Tradition. deutlich verschoben. Mit dem Abgang von dank der Kurssteigerung der vergangenen Franz hatte den weithin unbekannten Franz ging auch ein Stück der Siemens- Monate doch klotzig verdient“, meint ein Pierer-Berater. KWU-Manager Pierer Anfang der neunzi- Kultur in den Ruhestand. Gefährlich werden könnte dem Sieger Jahre überraschend an die SiemensIn einer Nacht-und-Nebel-Aktion entSpitze geholt. So konnte er weiter über die warf Pierer vor gut einem Jahr ein Zehn- mens-Chef nur noch ein Problem, der Geschäftspolitik bestimmen, der Kontrol- Punkte-Programm, in dem er einen radi- Siegeszug des Internet. Die Siemensleur als Macher. „Wir wollen nicht als die kalen Kurswechsel und die Trennung vom Manager versäumten, rechtzeitig in die großen Brutalos dastehen“, wehrte er sich Chipgeschäft ankündigte. Baumann und neue Technologie zu investieren oder gegen Forderungen, den Konzern stärker Neubürger konnten das Papier nur noch Internet-Unternehmen aufzukaufen. Nun auf die Interessen der Aktionäre auszu- abnicken. „Seither ist klar, wer bei Sie- sind die neu gegründeten Firmen so richten. „Wenn man sich so einseitig auf mens die unangefochtene Nummer eins teuer geworden, dass ein Kauf die Bilanz auf Jahre hinaus ruinieren den Shareholder fokussiert“, bekannte ist“, meint ein Aufsichtsrat anwürde. Franz, „bereitet es mir Unbehagen.“ erkennend. Inzwischen haben die MünchPierers Spielraum war damit begrenzt. Viele Siemens-Mitarbeiter ner zwar für eine Milliarde Einerseits entsprach der sanfte Ton eher hofften, dass nach der spektaMark einige kleinere Unterseinem Naturell, doch es ging immer auch kulären Ausgliederung des Baunehmen in den USA gekauft. um die Machtbalance, um den Einfluss sei- elemente-Geschäfts im verganDoch das wird nicht reichen: nes Förderers, den zu respektieren er sich genen Herbst erst einmal Ruhe „Hier mitzuhalten oder gar entschlossen hatte. „Ein Unternehmen wie im Konzern einkehren würde. wieder an die Spitze zu marSiemens, von dem allein in Deutschland Doch ihr Boss bastelte bereits schieren“, beschwor Pierer seieine Million Menschen direkt oder indirekt an neuen Plänen. ne Top-Manager in Berlin, „das abhängen“, verkündete er im SPIEGEL, Allein bei der Siemens-Tochist die größte Herausforde„hat auch eine gesellschaftspolitische Ver- ter KWU sollen in den komrung, die wir zu bewältigen hapflichtung.“ Dem Drängen angelsächsi- menden zwei Jahren über 1200 scher Analysten, den unübersichtlichen Jobs wegfallen. Der Widerstand Pierer-Förderer Franz ben.“ Dinah Deckstein NUNG N E E W. v. BRAUCHITSCH N ÄU F E e t c K R . VE Konzern zu zerschlagen, erteilte er eine klare Absage. „Wir schöpfen unsere Stärke aus unseren Synergien“, bürstete er Kritiker ab. Heute sieht der Siemens-Chef das offenbar anders. Kaum war Franz im Februar 1998 ausgeschieden, legte Pierer los. „Seither“, sagt ein enger Vertrauter, „hat er endlich die Luft, die er braucht.“ Doch so ganz freiwillig, wie es scheinen soll, ist der Kurswechsel nicht. Der neue Aufsichtsratschef Karl-Hermann Baumann, ein bekennender Shareholder-Value-Anhänger, und der frisch gekürte Finanzchef Heinz-Joachim Neubürger drängen hartnäckig auf mehr Profit. Wieder muss Pie- TR Unternehmen unter den deutschen DaxWerten legte in den vergangenen Monaten so kräftig zu wie das lange Zeit dümpelnde Siemens-Papier (siehe Grafik). Demnächst könnte die Aktie noch weiter steigen. Am 3. November will Pierer dem Aufsichtsrat das Ergebnis für das gerade abgelaufene Geschäftsjahr präsentieren. Und das liegt mit einem Jahresüberschuss von 3,1 Milliarden Mark deutlich höher als erwartet. Allmählich wird klar, was den Umschwung bewirkte. Solange Pierers Förderer Hermann Franz an der Spitze des Aufsichtsrats stand, konnte sein Zögling nicht gegen den Übervater aufmucken. Der Kon- d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 143 Wirtschaft Heiss daraufhin erklärt, „abweichende Kalkulationen“ zu den Risiken „seien unerwünscht. Diese sollten überhaupt gar nicht gemacht werden“. Auch interne Revisionsberichte wiesen auf die hohen Risiken hin. Den Erhalt zumindest eines dieser Papiere haben Martini und sein Bilanzchef Münstermann mit ihrer Unterschrift bestätigt, so die GutEin neues Gutachten enthüllt: achter. Dennoch beschlossen die VorstänMit halsbrecherischen de, die Berichte zu ignorieren und nur 1,5 Tricks versteckte die Hypobank Milliarden Mark in die Risikovorsorge aufzunehmen. Dabei hatten Immobilien-Fachein 3,6-Milliarden-Loch. leute der Bank den Vorständen ausdrückDie 97er Bilanz ist nichtig. lich erklärt, dass zu den höheren Risiken möglicherweise noch m Ende ihrer Arbeit fanweitere hinzukommen würden. den sich die Bilanzprofis Die Anmerkung der BDOder WirtschaftsprüfungsLeute zu diesem Vorgang wird gesellschaft BDO in einer ungewohl in die Annalen des deutwohnten Rolle wieder: als Obschen Finanzgewerbes eingehen. jektschützer. Sie sprechen von einem „TopZwei von ihnen bewachten Down“-Ansatz der Hypo bei die Tür des Zimmers im ersten der Ermittlung der RisikovorStock des Hypohauses-Ost im sorge. Deren Höhe habe sich Münchner Arabellapark. Drei nicht an den tatsächlichen Risiweitere schirmten das Kopierken orientiert, sondern sei nach gerät ab, während ein Kollege „bilanz- und dividendenpolitidie Dokumente vervielfältigte – schen Gesichtspunkten“ erstellt so brisant ist das Material. worden. Die Vorstände zogen Sechs Monate lang hatten die demnach die von den AktioPrüfer die 97er Bilanz der ehenären – allen voran der Allianz maligen Hypobank untersucht. – erwartete Dividende vom GeDie Aktionäre der HypoVereinswinn ab. Die Risikovorsorge war bank, in der die Hypo 1998 aufdann eine Art Restposten. gegangen ist, wollten offene FraNüchtern erklären die Gutgen verbindlich geklärt wissen. achter, dass die wahren Risiken, Hatte die Hypo tatsächlich die der Vorstand hätte erkennen 3,5 Milliarden Mark ungedeckmüssen, ein Mehrfaches des Jahter Immobilien-Risiken in ihresüberschusses und ein Drittel ren Büchern, wie der Chef der des bilanziellen Eigenkapitals HypoVereinsbank, Albrecht überstiegen. Die 97er Bilanz der Schmidt, im Oktober 1998 lautHypo sei deshalb nichtig. stark verkündete (SPIEGEL Ganz ohne personelle Konse45/1998)? Oder war die Errequenzen wird das Desaster nicht gung des Bankers nur ein Trick, abgehen. So ist der in dem Gutum Kollegen und Ex-Konkurachten mehrmals kritisierte Birenten zu diskreditieren? lanzchef Münstermann noch Die Antwort steht im 140heute im Amt: als Vorstandschef seitigen Sondergutachten der der Vereins- und Westbank in BDO, das den Aufsichtsräten der Hamburg, einer Tochter der Bank am Samstag per Boten zugestellt wurde. Das Ergebnis: Ehemalige Hypobank-Zentrale in München: Alles ist noch schlimmer HypoVereinsbank. Und Martini sitzt noch im Schmidt hatte Recht, alles ist Aufsichtsrat des bayerischen Ineher noch schlimmer, als von stituts. Für seinen oder Münsihm angenommen. Die Prüfer termanns Rücktritt sah er vertestieren eine „Unterdotierung“ gangene Woche keinen Anlass. der Bilanz um 3,634 MilliarDoch die Zeit von Martini den Mark. und Münstermann, da sind sich Doch damit nicht genug: Die Insider einig, ist abgelaufen. Der Gutachter kommen zu dem neue Aufsichtsratschef Kurt Schluss, dass die Hypo-VorstänViermetz wird die beiden in den de ihre Sorgfaltspflicht verletzt nächsten Tagen wohl zu sich ruhaben – und zwar wider bessefen. „Früher hätte man ihnen res Wissen. Um das herauszueine Pistole auf den Tisch gefinden, hatten sich die BDOlegt“, sagt ein hochrangiger HyLeute die VernehmungsprotopoVereinsbanker, „heute ist es kolle der Staatsanwaltschaft benur die Rücktrittserklärung.“ sorgt. Seit März wird gegen den ehemaligen Hypo-Chef Eber- Banker Martini, Schmidt: Das Desaster wird Konsequenzen haben Wolfgang Reuter BANKEN Risiken unerwünscht hard Martini und weitere ehemalige Vorstandskollegen wegen des Verdachts auf Untreue und Bilanzfälschung ermittelt. Aus den Vernehmungen geht hervor, dass die zuständigen Hypo-Vorstände Werner Münstermann, Klaus Heiss und Hans Fey von den Geschäftsführern der Tochtergesellschaften Hypo-Tecta und HypoReal – bei ihnen waren die Risiken angefallen – seit September 1997 des Öfteren, auch schriftlich, über die wahre Höhe des Desasters informiert wurden. Einem der Geschäftsführer hat, laut Vernehmungsprotokoll, der damals zuständige Vorstand T. GEIGER / TANDEM C. LEHSTEN / ARGUM A 144 d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Wirtschaft HIGHTECH Schnell sein, reich werden Amerika im Ideenrausch. Schulen veranstalten Businesswettbewerbe, Teenager werden Unternehmer, jede Stunde entstehen über hundert neue Firmen. Die Losung heißt: Risiko macht Spaß. Teenager-Idol Yang: Nirgendwo setzen Junge so unbefangen Ideen um wie in den USA D as Hauptquartier der Firma Taoti ten für die Industrie und entwickelt SoftEnterprises sieht nicht gerade aus ware – eine hohe fünfstellige Summe hat er wie eine seriöse Firmenzentrale. An im vergangenen Jahr damit verdient. Eigentlich dürfte es eine Unternehmung der Wand des Chefzimmers hängen Poster von der Dave Matthews Band, ein mexi- wie Taoti nach den Regeln ordentlicher kanischer Teppich und ein paar Verkehrs- Betriebswirtschaft gar nicht geben. Als Firmengründer Lightner Lightner vor ein paar Jahren Sein jüngster Mitarbeiter ist 14 schilder, die der Firmengründer mit Freunanfing, hatte er kein Geld den nächtens irgendwo abgeschraubt hat. für Angestellte, nicht einSie sitzen zu Hause, bei ihren Eltern In der einen Ecke der 20 Quadratmal ein paar Dollar für oder im Studentenheim, in Kalifornien, Kameter großen Kammer türmt einen Büroraum und erst nada, Island oder England. Verbunden sind sich eine Stereoanlage mit SA Recht kein Budget sie über das weltweite Datennetz, gesehen zwei hüfthohen LautspreU 8,4 für Werbung. Mit haben sich die meisten noch nie. „Taoti“, chern, am anderen Ende 19 Jahren auf diese berichtet der Gründer stolz, „ist eben eine steht ein Bett. Auf dem Lust am Weise eine Soft- virtuelle Firma.“ Boden liegen Gitarren a d ware-Firma in Lightners globaler Studentenbetrieb ist herum, daneben ein Keyana Risiko K 6,8 Gang zu brin- eine der vielen tausend Geschäftsideen, board. Auf Arbeit deuten Anteil der gen, dazu noch mit denen junge Amerikaner derzeit verhier nur ein paar Hocherwachsenen im bergigen suchen, den üblichen Aushilfsjobs bei Pizza leistungscomputer hin, die rael s I Bevölkerung, ,4 5 Hut oder McDonald’s zu entkommen. Galt auf einer zerfurchten die erstmals es vor Jahren an den High Schools als cool, Schlachterbank ruhen und ein Unternehmen kein Geld zu haben und mit einer eigenen leise sirren. gegründet hat nien ien l n Band den Weltuntergang herbeizutromHier schläft, feiert und a a t t I i r in Prozent 3,4 roßb meln, gilt die Bewunderung heute den schafft der Medizin-StuG 3,3 d jungen Hightech-Gründern – je dent Brent Lightner, 22. n chla waghalsiger, umso besser. Wenn er sich nicht gerade k r euts a D em n Ihre Idole heißen Jerry mit Anatomie beschäftigt h ä 2,2 c i D re 2,0 Yang, der 1993 als 24-Jährioder mit seinen Kumpels rank F pan 1,8 ger mit einem Kumein paar Biere zischt, küm6 Ja nd , 1 pel die Suchmaschimert er sich ums Geldverinnla F 1,4 ne Yahoo! entwickelte dienen. Er entwirft Web-Sei146 C. E. MITCHELL / BLACK STAR R. HOLMGREN / TIME / INTER-TOPICS Hinterland von Pennsylvania, schien so verwegen wie die Eröffnung eines Eisstandes in der Arktis. Der Teenager schaffte es dennoch, ihm half seine Phantasie. Seine Mannschaft suchte er sich übers Internet zusammen, Schüler und Studenten, hungrig nach Geld wie er. Als Lohn versprach er ihnen Prozente vom Gewinn, die Kunden waren zunächst Firmen in der Nachbarschaft. 40 bis 60 Designer gehören heute zum Taoti-Team, der jüngste ist gerade 14 Jahre alt. Werbeseite Werbeseite Wirtschaft R. RAHN T. DALLAL Das World Wide Web vergrößert den Abstand zur alten Welt noch rascher. Nahezu jedes Online-Geschäftskonzept kommt aus den Vereinigten Staaten, oftmals von Studenten oder Jungunternehmern unter 30. Während deutsche Konzerne mit aller Macht versuchen, das Netz in den Griff zu bekommen, nehmen jenseits des Atlantiks neue Firmen den etablierten Konzernen Milliardengeschäfte ab: Online-Kaufhausketten wie Amazon, Online-Broker wie E-Trade oder Auktionshäuser wie eBay. Die Kommunikationskonzerne der Zukunft, wie AT&T oder MCI- Worldcom, liegen ebenso in den USA wie die Baumeister der Internet-Infrastruktur, etwa der Computerkonzern Cisco. Auf der größten Messe der Telekomindustrie, der „Telecom 99“ vorvergangene Woche in Genf, gab es unter 400 Rednern einige wenige Deutsche. Vom Wachstum ohne Arbeitsplätze, wie es der Sozialdemokrat Peter Glotz den Deutschen seit Jahren prophezeit, ist in Schüler beim Börsentraining: Traumziel ist der Boss in der eigenen Firma den USA nichts zu merken. Seit 1980 bauten die 500 größten USund heute Milliardär ist, oder Justin FranKonzerne fünf Millionen Stellen kel, 20, der kürzlich seine Internet-Muab. Doch prosperierende Firmen, sikfirma für 100 Millionen Dollar an AOL Gründer und Servicebetriebe verkaufte. schufen in der gleichen Zeit 34 In keinem Land der Welt werden so vieMillionen neue Jobs – besonders le Ideen entwickelt und zu Geld gemacht in den vergangenen Jahren, in wie jenseits des Atlantiks. Und nirgendwo der Mehrzahl mit überdurchfangen Menschen so früh damit an. Über schnittlichem Verdienst. 70 Prozent der Schüler an den amerikaniJede Stunde entstehen in den schen High Schools wünschen sich eine USA über 100 neue Firmen, die Zukunft als Boss in der eigenen Firma – in Angestellte beschäftigen – über Deutschland ist der Traum vieler Teen900 000 allein im vergangenen ager noch immer eine Beamtenkarriere mit Jahr, selbständige Berater und gesichertem Lohn, Urlaub und hoher Penandere Einzelkämpfer nicht einsion. Hier sind Leute wie Paulus Neef, 39, gerechnet. Jeder Zwölfte verder 1991 das Multimedia-Unternehmen sucht derzeit, seinen eigenen Pixelpark gründete und es vergangenen Betrieb in Gang zu bringen, in Monat an die Börse brachte, noch immer Deutschland ist es nur einer die Ausnahme. von 45. Bis zu 10 000 Geschäftsvorschläge pro Immer mehr junge AmerikaJahr bekommen Risikofinanzierer im Siliner begeistern sich für den neucon Valley oder in New York, oftmals noch en Kapitalismus: schnell sein, von Teenagern. Kein Plan scheint zu verSpaß haben, reich werden. wegen: weder die Massenproduktion von Business gehört heute zur ameblinkenden Badekappen noch ein Tisch- Jungmillionär Frankel: Firma gegründet und verkauft rikanischen Popkultur wie Dissalz mit Zuckergeschmack oder ein Schwimmcomputer für die Badewanne – unten an, ohne Erbe, ohne Millionen. Ihre ney, MTV oder der Rap-Star Puff Daddy. Geschichten lesen sich wie ein Vermächt- „Meine Generation glaubt, dass wir fast alein Land im Ideenrausch. Die Bostoner Firma Invention Machine nis des Ökonomen Joseph Schumpeter und les erreichen können, was wir wollen“, sagt hat sich sogar schon eine Innovationsma- seinem Gesetz von der Notwendigkeit Kevin Smith, 29, Autor des Kultfilms „Chasing Amy“: „Die Charaktere in meinem schine patentieren lassen: eine Software, „kreativer Zerstörung“. Noch vor 15 Jahren dominierten Fabri- Film sind frei: Keine Moral hält sie zurück.“ die beim Ausbrüten von Ideen hilft. Und im Früher als irgendwo sonst in den Internet werden bereits Ideen und Paten- kanten, Ölbarone und Immobilien-Clans die Liste, war der reichste Amerikaner ein Industrieländern lernen Kinder, sich mit te in Online-Auktionen versteigert. Immer mehr Universitäten veranstalten Öl-Erbe namens Gordon Getty. Heute sind guten Ideen auf eigene Faust durchs Leben Businesswettbewerbe, Gewinn: ein paar die Traditionsnamen fast alle verschwun- zu schlagen. Wo anderswo der Staat hilft, zehntausend Dollar. Die Schulen ziehen den, stehen die Gettys, Fords und Rocke- ist in den USA Kreativität gefragt. fellers unter „ferner liefen“. Teenager brüten Geschäftsideen aus, nach, das Fernsehen auch. Von den reichsten 30 haben 17 ihr Ver- um Geld für die Schulbibliothek zu samNirgendwo setzen junge Leute so unbefangen neue Ideen um, selbst wenn es mögen in neuen Industriezweigen ge- meln oder bessere Schulcomputer zu gegen übermächtige Traditionskonzerne macht, zumeist in den vergangenen zehn finanzieren. Pfadfinder veranstalten Ungeht. Und viele haben Erfolg: Von den Jahren: mit Kabelfernsehen, Mobiltelefon, ternehmerkurse und Ideenwettbewerbe. 400 reichsten Amerikanern fingen 251 ganz Computer oder neuerdings dem Internet. Bereits an High Schools wird das Fach 148 d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Wirtschaft K. THIELKER personal für junge Firmen bereitzuhalten, wie etwa den Finanzchef oder Marketingspezialisten. Wegen des chronischen Personalmangels in den neuen Industrien arbeiten erfahrene Manager immer häufiger für mehrere neue Betriebe gleichzeitig – die klassischen Firmengrenzen lösen sich auf. Nicht immer waren die Amerikaner so unternehmungsfreudig. Noch Anfang der achtziger Jahre träumten Studenten zumeist von einer Karriere bei einem prestigeträchtigen Konzern wie der Limonadenfirma Coca-Cola. Das änderte sich, als sich die US-Konzerne für Globalisierung und ComputerÖkonomie fit machten. Plötzlich waren Massenentlassungen alltäglich. Andererseits erlebten die Kids, wie junge Leute plötzlich teure Autos fuhren und immer genug Geld hatten. Fernsehen, Kino und Internet-Redakteure hämmerten ihnen seither Tag für Tag die Botschaft ein: Pixelpark-Gründer Neef: In Deutschland sind junge Hightech-Unternehmer selten Auch du kannst es schaffen, wenn du nur „Entrepreneurship“ – Unternehmertum – Anders als in Europa, wo Neuerungen hart genug kämpfst. Für die meisten ist ihr Leben längst zu gelehrt, an den Universitäten gehört es oft Angst auslösen, hilft den jungen Grünzu den gefragtesten Neuerungen: Über dern eine uramerikanische Lust an der einem Extremsport geworden. 82 Prozent 750 Colleges und Universitäten bieten Veränderung, Aufbruchsgeist und Spaß der Jugendlichen bejahten in einer Umfradas Lehrfach an. In Deutschland soll es am Risiko. Und ein anderer Begriff von ge den Satz: „Ich schätze den Wettkampf, bis Ende des Jahres gerade mal 20 Lehr- Misserfolg: Während in Deutschland eine er macht mich besser.“ Zwei Drittel sagen: stühle geben. Pleite wie ein Vernichtungsurteil behan- „Ich muss alles nehmen, was ich in dieIn der Aquina High School im New delt wird, gilt ein Fehlgriff in den USA sem Leben kriegen kann. Denn niemand Yorker Armenbezirk South Bronx lernen eher als eine Auszeichnung. „Wir nennen schenkt mir etwas.“ Erleichtert wird der Schritt Zwölfjährige, wie sie an der Wall Street es nicht Scheitern“, sagt der in die Unabhängigkeit durch Geld verdienen können. Zu Beginn des New Yorker Investmentbanker 10491 USA einen Überfluss an RisikoSchuljahres muss jeder Schüler für min- Seth Goldstein: „Wir sagen: Er Kapital. Allein 3,8 Milliarden destens einen Dollar einen Anteil am ist ein Risiko eingegangen.“ Dollar steckten Finanziers schuleigenen Aktienfonds kaufen. Später Während deutsche Hightechzwischen April und Juni dieses entscheiden die jungen Anleger mit Hil- Firmen im Schnitt knapp vier Jahres in neue Internet-Ideen, fe eines professionellen Brokers, in wel- Jahre brauchen, um eine Idee mehr als im gesamten verche Aktien der Fonds investieren soll. In auf den Markt zu bringen, schafgangenen Jahr. Immer mehr fünf Jahren vermehrten die Kids den fen es amerikanische VentureEntrepreneure bekommen Schulfonds von 500 Dollar auf über 3300 Kapitalisten, eine Firma innerneuerdings Kapital, ohne Dollar. halb eines Jahres zu gründen, zu überhaupt eine funktionierenÜber 25 000 Schulen spekulierten im entwickeln und an der Börse zu de Firma vorweisen zu könvergangenen Jahr bei einem landesweiten verkaufen. An der Harvard-Uninen. „Wir verkaufen Ideen“, Börsenspiel mit, die Teams mussten zehn versität waren im letzten Ideensagt ein Venture-Kapitalist in Wochen lang ein Portfolio von je 100 000 Wettbewerb bereits die Hälfte New York. Dollar verwalten. In Oregon veranstalteten der Teams von Risiko-Finanziers Schon planen InvestPädagogen Business-Camps für Kinder, mit gesponsert. mentbanker den nächsten Seminartiteln wie „Striking it rich“ – „Auf Private EntwicklungsgeSchritt. Sie wollen junge einen Schlag reich werden“. sellschaften, Brutkästen geTreibsatz Unternehmer an die Börse Manches, was Kinder dort vorbrachten, nannt, scannen pausenlos bringen, die sich dort Kapiklingt nach Größenwahn: Teg Graham, 14 den Markt nach neuen für Gründer tal für ihr nächstes Projekt Jahre alt, plante ein globales Satelliten- Ideen. Haben sie ein Erfolg Risikokapita lbeschaffen sollen, selbst Radionetzwerk. Harutyun Amirya, 17, versprechendes Team entInvestitionen wenn es noch nicht einmal wollte mit Qualitätskartoffelchips den deckt, versorgen sie es mit Hightech-Be im reich; eine Idee dafür gibt. „Wargroßen Billigproduzenten des Landes Kapital, Managern, Büroin Millionen Dollar um sollten wir nicht die Marktanteile abknöpfen. Vorsorglich hört raum und jeder Menge Ge1998 besten Business-Schooler sich schon mal einen Vortrag zum The- schäftskontakten. Die erfolgAbsolventen aus Harvard ma Importkontrollen an. reichste Firma dieser Art, 1988 Großbr itannien und Stanford an die Börse Andere hatten es schon weit gebracht. das kalifornische „Idealab“, bringen?“, fragt der InterDer 15-jährige Jono Spiro aus Beverly Hills gebar auf diese Weise in den net-Investor Goldstein: beschäftigte in seiner Software-Firma vergangenen drei Jahren „Die werden mit dem Geld bereits zehn Leute. Die Verlegerin Jasmin 30 Firmen, darunter Bör756 Deutsch land schon etwas GewinnbrinJordan, 15, arbeitete an der neuesten senstars wie die Internet544 Frankrei gendes auf die Beine stelAusgabe ihrer Zeitschrift „Tools for Li- Spielzeugfirma Etoys. ch len.“ Mathias Müller von ving“, einem Blatt für junge Unternehmer, Andere Firmen haben 112 Italien Blumencron Auflage 16 000 Exemplare. sich darauf verlegt, Fach150 d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Wirtschaft UNTERNEHMER Toilettenkönig von Berlin Das Geschäft mit dem Geschäft: Hans Wall schenkt den Städten moderne Toilettenhäuschen und verdient so Millionen. BZ H ans Wall kann sich an den modernen Toilettenhäuschen gar nicht satt sehen: „Ist das nicht toll? So schön! Schauen Sie mal hier.“ Stolz führt er Besucher durch seine neue Produktionsanlage im brandenburgischen Velten. In der Hauptstadt feiert ihn die Lokalpresse bereits als „Toilettenkönig von Berlin“ („BZ“). Auch die Bürgermeister anderer Großstädte horchen auf, wenn sich der selbstbewusste Wall bei ihnen meldet. Denn sein Geschäft mit dem Geschäft ist für die Kommunen höchst attraktiv. Kostenlos stellt der Toilettenkönig seine 250 000 Mark teuren, vollautomatischen Häuschen Marke „City Toilette“ auf, bevorzugt in attraktiven Innenstadtlagen. Im Gegenzug darf er Werbeflächen vermieten, darunter natürlich auch die Außenwände seiner Pissoirs, was ihm einen ordentlichen Gewinn beschert. Stadt und WC-Aufsteller, beide profitieren also, Ökonomen nennen das eine „Winwin-Situation“. Der Berliner Senat, mit WC-Aufsteller Wall: „Jetzt geht’s los“ K. THIELKER schüre ist konsequenterweise von der „Wall Vision“ die Rede – die Vision von der Verschönerung der Städte, wozu eigens eine „Wall-Methode“ entwickelt worden sei, nach der „erfahrene Stadtplaner und Architekten“ das Stadtbild analysierten, „zur Erfassung der gestaltprägenden Rahmenbedingungen“. Dass in ihm ein echter Unternehmer steckt, will der WC-Experte schon früh verspürt haben. Auch Misserfolge konnten ihn nicht stoppen. Die verpatzte AufnahmeprüWall-Produkt: „Dafür müsste ich einen Orden kriegen“ fung für das Maschinenbaudem Wall 1993 sein erstes großes Geschäft studium dient ihm heute als Beweis, dass einfädelte, spart jährlich 30 Millionen Mark „es auch ohne gute Noten geht“. an Reinigungs- und Wartungskosten für Er jobbte zunächst als Hausmeister, alle öffentlichen Toiletten. „Dafür“, sagt dann ging er zu einer Baufirma nach Wall, „müsste ich eigentlich einen Orden Karlsruhe, schließlich gab er eine Kleinankriegen.“ zeige auf: „Konstrukteur übernimmt AufBerlin ist überall, zumindest für WC- träge aller Art.“ Er geriet in ein WerbeunExperte Wall. In mittlerweile sieben ternehmen, und bald fiel ihm auf, dass mit deutschen Städten, in Istanbul, Moskau, dem Vermarkten von Reklameflächen St. Petersburg und Amsterdam installierte schönes Geld zu verdienen ist. 1976 grüner seine Örtchen, die er großspurig „Stadt- dete er im badischen Ettlingen seine Firma, möbel“ nennt. In der Unternehmensbro- die Wall Verkehrsanlagen GmbH. 154 Angeblich hat er mit geborgten 5000 Mark von seinem Vater mehr als 100 Millionen Mark Kredit bei der Bank losgeeist, sagt er zumindest. Und schiebt gleich hinterher: „Fragen Sie nicht, wie ich das angestellt habe.“ Fest steht: Wall ging nach Berlin und expandierte. Aus dem 15-Mitarbeiter-Unternehmen ist ein 400-Mann-Betrieb geworden, 1000 Mitarbeiter sollen es werden. Der Umsatz der noch nicht börsennotierten AG soll im laufenden Jahr bei 120 Millionen Mark liegen, im nächsten sind 145 Millionen angepeilt. Schon sinniert Wall über die W-Aktie. Beim Gedanken daran wird es ihm wohlig zu Mute. Er lacht sein Siegerlachen, das ihm auch nach einer Herzklappenoperation nicht abhanden kam: „Ich bin erst am Anfang, jetzt geht’s erst los.“ Mit dem Erfolg allerdings setzt auch die Kritik an seinem Geschäftsmodell ein. Nicht alle Bürgermeister lassen sich vom edlen Klohäuschen-Design beeindrucken, einige sehen ein Monopol entstehen. Vor allem in Berlin setzt es von mehreren Bezirkspolitikern herbe Kritik, sie warnen vor einer Werbeflut. In der ganzen Stadt darf Wall über 1200 Reklametafeln und Litfaßsäulen aufstellen, was einige Kommunalentscheider als „Verschandelung“ empfinden. Der WC-Mann kontert hart: „Kritiker, die mich Monopolist schelten, bringen mich auf die Palme. Die sehen nicht, dass ich die besten Angebote mache“, sagt er. Bezirksbürgermeister, die sich gegen WallWerbung wehrten, hätten sich wohl schon „an den Dreck und das Unästhetische gewöhnt“. Der Unternehmer sieht sich als Wohltäter in offensiver Mission, dem niemand das Wasser reichen kann. Sein Konkurrent, die Deutsche Städte-Reklame in Frankfurt am Main, diffamiert er nach Kräften: „Die arbeiten auf dem Niveau eines kleinen Negerdorfs.“ Auch den Toiletten-Marktführer Decaux aus Paris, der zehnmal so groß ist wie die Wall-Firma und der ihm in der Vergangenheit einige Städte (wie Hamburg) vor der Nase weggeschnappt hat, lässt er nicht gelten. „Wir sind besser als de Franzos“, sagt er. Selbstverständlich widerstand er schon vor Jahren einem Übernahmeangebot. „Das war verlockend, aber ich wollte mein eigener Herr sein und wusste: Ich bin besser.“ Chris Löwer d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Medien Trends RTL Flirt mit n-tv Otto PRESSE „Extreme Schwankungen“ Medienunternehmer Frank Otto, 42, über den Kauf der „Hamburger Morgenpost“ SPIEGEL: Sie treten künftig mit der „Hamburger Morgenpost“ gegen die „Bild“-Zeitung an. Was können Sie besser als der bisherige Eigentümer Gruner + Jahr? Otto: In komplizierten Zeiten kommt es auf schnelle Entscheidungswege an, und die haben wir. Ein Konzern ist ein weich gemachtes Bett, da fehlt es manchmal an Schwung und Motivation. Die Manager dort denken gern über bundesweite Strategien und Synergien nach – wir wollen lokal gute Geschäfte machen. M. YILMAZ / PAPARAZZI n-tv-Studio schaftsberichte sorgen. Mit solchen Sendungen, moderiert etwa von Carola Ferstl, gewann n-tv an Profil. HandelsblattGeschäftsführer Heinz-Werner Nienstedt sieht keinen Grund zur Eile: „Wir haben eine Reihe von Kooperationsersuchen. Bertelsmann ist einer der Interessenten.“ Bislang scheiterte die Aufnahme von Partnern an Time Warner: Der US-Konzern taxiert den Senderwert auf hohe 300 Millionen Mark. SPIEGEL: Liegt es also an der Konzernstruktur, dass die „Hamburger Morgenpost“ seit Jahren Geld verliert? Otto: Die wirtschaftlichen Ergebnisse schwankten extrem. Ein Grund sind sicherlich die vielen Korrekturen an der Zeitung, sie scheint mit einer gewissen Nervosität geführt worden zu sein. SPIEGEL: Was wollen Sie ändern? Otto: Ein genaues Konzept liegt noch nicht vor, schließlich beschäftige ich mich erst seit kurzem mit dem Kauf. Ich glaube aber, neue Impulse geben zu können. Jeder Mitarbeiter weiß nun, dass ich ihm nur die eine Position bei der „Mopo“ bieten kann – und keine andere in einem Großverlag. SPIEGEL: Bundesweit liegen Boulevardblätter im Abwärtstrend. Wieso sollte sich die „Mopo“ davon abkoppeln? Otto: Sicher ist es schwer, unsere Auflage von 140 000 zu steigern. Die Zeitung liegt wirtschaftlich aber im positiven Trend, auf der Kostenseite ist schon viel getan worden. Und ich glaube, wir können durch unsere Kenntnis der lokalen Werbemärkte einiges bewegen. SPIEGEL: Bisher investierten Sie bewusst in kleine Nischen des Medienmarkts, etwa bei Hamburg 1 ins Regionalfernsehen oder bei Radio Kiss FM im Berliner Hörfunkmarkt. Ändern Sie die Strategie? Otto: Ich investiere seit Jahren in tagesaktuelle lokale Medien, so groß ist der Sprung nicht. Ich kann Sie aber beruhigen: Aus mir wird kein Medientycoon – ab und zu stoße ich auch zum Erfolg gebrachte Beteiligungen wieder ab. d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 FERNSEHEN Beckmann wieder Fußball-Moderator A RD-Star Reinhold Beckmann kommt im Sport zum Einsatz. Der Entertainer („GuinnessShow“) präsentiert vom Dezember an Fußball-Pokalspiele. Und bei der Olympiade in Sydney tritt er im Jahr 2000 als Moderator und als Interviewer von Sportlern an. „Fallweise“ soll Beckmann auch bei Fußball-Länderspielen arbeiten, beschloss die ARD-Programmkonferenz – wahrscheinlich als Reporter, während das Team Gerhard Delling/Günter Netzer weiterhin die Spiele analysiert. Der frühere Sat-1-Fußball-Moderator soll jüngere Zuschauer zur ARD holen. In dieser Gruppe habe er ein „positives Ansehen“, sagt NDR-Programmchef Jürgen Kellermeier. Er hofft auf einen „Imagetransfer“. Beckmann, der für Produktionen und Auftritte auf vier Jahre 46 Millionen Mark bekommt, sei „geradezu imprägniert vom Sportaroma“. Beckmann B. BOSTELMANN / ARGUM C. AUGUSTIN er Privatsender RTL denkt an einen Einstieg beim Nachrichtenkanal n-tv. „Auf Dauer wird man unsere Newskompetenz in einem eigenen Kanal sehen“, so RTL-Informationsdirektor Hans Mahr: „Entweder wir machen ihn selbst oder mit Partnern.“ Zwischen n-tv und dem neuen Mitbewerber N 24 (Kirch-Gruppe) werde es heftige Konkurrenz geben – „da brauchen beide Verbündete“. RTL will mit n-tv sein eigenes Newssystem stärken, das Ferstl etwa RTL 2 eine Nachrichtensendung zuliefert. Zwischen der Bertelsmann-Tochter RTL und n-tv-Gesellschaftern wurden Vorgespräche geführt. Geplant ist eine Bereinigung der zersplitterten Eigentümerstruktur von n-tv: Dabei würden kleinere Investoren wie die Familie Nixdorf (18,6 Prozent) oder Com 2i Compagnie (0,7 Prozent) aussteigen und Haupteigner Time Warner (49,8 Prozent) Anteile abgeben. Die Handelsblatt-Gruppe (27,8 Prozent) soll weiter für Wirt- J. L. CHOLET / ACTION PRESS D 157 Medien HORROR-TV 158 A usgerechnet die neue Welt gibt sich wüstem Spukglauben hin – das wurde in Deutschland vor wenigen Jahren noch belächelt. Jedes Jahr am 31. Oktober maskieren sich ansonsten unbescholtene Amerikaner als Draculas, Frankensteins Monster und Hexen, traktieren friedfertige Nachbarn mit üblen Scherzen, stellen, um selbst verschont zu werden, unheimlich glimmende Kürbisköpfe in ihre Fenster – ein einziger PWE VERLAG ass die Welt schlecht und gemein ist, wissen die Menschen zwischen Weimar und Wuppertal. Doch nur die Leser der „Neuen Revue“ erfahren, wer schuld daran ist: Joschka Fischer, grüner deutscher Außenminister, Hauptfeind der friedliebenden Menschheit, Verräter und Plattmacher des Planeten Erde, den wir von unseren Kindern doch nur geleast haben – böse, böse, böse. „Wir hatten einen Traum“, schluchzt Jutta (von) Ditfurth, adliger Spross der Fernsehlegende Hoimar von Ditfurth, im Vorspann zu ihrer finalen Enthüllungsserie „Zahltag, Junker Joschka!“, der absolut exklusiv „wahren Geschichte der Grünen“: „Wir wollten eine Welt ohne Atomkraftwerke, ohne Unterdrückung, ohne Hunger“, erinnert sie zitternd die Leser des TittenMagazins, das von einem Ex-Chefredakteur der „Bild“-Zeitung derzeit behutsam alphabetisiert wird. Er aber, Junker Joschka mit dem Siegelring, hat den Traum zerstört. Er wollte immer nur eines: Macht, Macht, Macht und sonst gar nichts. Das aber verabscheut Jutta gutes Menschenkind, die einst als „schüchterne Delegierte“ die „Gefahr einer grünen Nazi-Partei abwehren“ wollte, eine Gefahr, die außer ihr niemand gesehen hatte. Und nun das. Alles ist so anders geworden. Früher kämpfte man auf der Straße gegen die Nato-Raketen, heute feuert man sie selber ab. Doch Junker Joschka hat viele fiese Mitstreiter. Etwa Cem Özdemir, der Türken-Fischer, dem „ein fusselfreies gelacktes Outfit wichtiger ist als die Dritte Welt“. Oder Rezzo Schlauch, dem Maultaschen auf dem Teller wichtiger sind als Tellerminen in Angola. Oder Daniel Cohn-Bendit, dem das süße Leben in Frankreich wichtiger ist als der Tod der kubanischen Revolution. Doch der Kampf geht weiter. Mit der „Neuen Revue“ gegen Opportunismus und Konterrevolution. Auch wir haben einen Traum: eine Welt, in der „Bunte“, „Playboy“ und die „Wahrheit“-Seite der „taz“ mit der Doppelspitze Jutta Ditfurth/Wiglaf Droste dafür sorgen, dass das Böse nie mehr eine Chance hat. Nie mehr. Szene aus „Die Hexen von Eastwick“ Jamie Lee Curtis in „Halloween“ fröhlicher Untotentanz. Seit ein paar Jahren sind nun auch die Deutschen zunehmend vom Spuk-Groove befallen: In Kindergärten und Kegelvereinen feiert man Halloween. Das Fernsehen steigt jetzt ein. Pro Sieben hat die kommenden Tage zur „Unheimlichen Woche“ erklärt. Am Mittwoch kommt etwa der amerikanische Spielfilm „Die Hexen von Eastwick“, am Freitag der MysteryThriller „Biikenbrennen“ (eine Eigenproduktion des Senders), am Sonntag der Klassiker „Halloween“. Schreck, lass nach. Zeitung“ eine Zusammenarbeit mit der „International Herald Tribune“ (IHT) an. Ein englischsprachiger Deutschlandteil, sechs bis acht Seiten stark, mit Nachrichten- und Kommentarteil, soll dem internationalen Leser geboten werden. Derartige Kooperationen praktiziert die IHT bereits in Israel, Italien und Griechenland. Ganz eigene Wege geht Springers „Welt“: Sie beglückt ihre Berliner Leser seit Anfang Oktober mit einer englischsprachigen Lokalseite, Titel: „The New Berlin“. ZEITUNGSMARKT Run auf globale Leser D er flexible Mensch, der den Globus umrundet, braucht neue, globale Zeitungen. Das „Handelsblatt“ wird bereits durch Texte aus dem „Wall Street Journal“ ergänzt, Gruner + Jahr plant gemeinsam mit dem britischen PearsonKonzern eine deutschsprachige „Financial Times“, und vergangene Woche kündigte die „Frankfurter Allgemeine ZDF „Kein Gequatsche, kein Türen-Einrennen“ Thomas Kretschmann, 37, über seine Titelrolle im Auftaktfilm der ZDF-Krimireihe „Der Solist“ SPIEGEL: Der „Solist“ Philip Lanart ist ein Polizist, der von eigenen Kollegen verfolgt wird. Warum? Kretschmann: Weil er einen Fall angenommen hat, in den korrupte Kollegen verwickelt sind – und er weiß nicht, wer involviert ist. SPIEGEL: Was reizte Sie an der Rolle? d e r s p i e g e l Kretschmann: Die Figur ist kernig, doch nicht durch Gequatsche und Türen-Eingerenne, sie ist altmodisch in Bewegung und Sprache – und dadurch eine zeitlose Figur. SPIEGEL: Polizisten bringen sich gegenseitig um – ist das glaubwürdig? Kretschmann: In Amerika durchaus, in Deutschland eher nicht. Aber ein Film ist auch eine Spekulation: Was passiert, wenn? Den normalen Polizeialltag zu erzählen „Solist“ Kretschmann ist nicht so abendfüllend. 4 3 / 1 9 9 9 ZDF D Fröhlicher Untotentanz CINETEXT Böse, böse, böse Das Magazin der Reporter Von dieser Woche an gibt es SPIEGELreporter, das neue Monatsmagazin für Reportage, Essay, Interview. Die Idee: 20 Reporter und 12 Korrespondenten durchstreifen die Welt auf der Suche nach Wegen in die Zukunft und liefern Storys für ein neues Jahrhundert. Titelbild, Seiten aus SPIEGELreporter I rritiert werden die Zuschauer der Harald-Schmidt-Show in dieser Woche auf die Werbeblöcke während der täglichen Sendungen schauen. Zwischen den Spots ist immer wieder der Showmaster zu sehen – lesend. Er studiert in aller Ruhe ein Magazin, beobachtet von Fernsehzuschauern, die denken müssen, ein Schaltfehler ermögliche ihnen zu sehen, was Harald Schmidt macht, während der Werbeblock läuft. Der Moderator liest im neuen Magazin SPIEGELreporter, und der 30-Sekunden-Spot wirbt mit Harald Schmidt für das neue Produkt aus dem SPIEGEL-Verlag. Das Monatsmagazin SPIEGELreporter soll mit Reportagen, Essays und Interviews „Pfade in die Zukunft“ beschreiben, will Ideen, Projekte und Pioniere finden, „die die Welt verändern“, wie es im Editorial des Blattes heißt. 20 Reporter schreiben für SPIEGELreporter, 13 von ihnen sind mit dem renommierten Egon-ErwinKisch-Preis ausgezeichnet, und 12 Korrespondenten liefern Storys aus den alten und neuen Metropolen. Vor allem mit Reportagen, optisch großzügig präsentiert, will das Monatsmagazin die Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts spiegeln und mit Porträts und Interviews „Abenteurer und Erfolgsmenschen, Entdecker und Lebenskünstler“ vorstellen. In der ersten Ausgabe wird unter anderem Donald Trump und seine New-YorkVision beschrieben; wird das Zucht- „Spiegel des 21. Jahrhunderts“ das Auto der Zukunft präsentiert. Eine Kurzgeschichte von Stewart O’Nan, Ingo Schulze, Johannes Mario Simmel oder anderen prominenten Autoren behausexperiment von Palmasola vorge- schäftigt sich jeweils fiktional mit der stellt, wo 2300 Schwerkriminelle ohne Zukunft. Ein ausführlicher Kultur- und Wärter und Gesetz sich selbst überlas- Programmteil informiert über die sen sind, und wird „die Zukunft des Avantgarde in Film, Theater, Musik und Krieges“ analysiert: Bundeswehr Literatur. Und ein Hauptstadtteil beund U. S. Army proben die Großstadt- schreibt das Wachsen Berlins zum poschlachten von morgen, ausgerüstet litischen und kulturellen Mittelpunkt mit Hightech und logistisch auf Gegner der Republik. Die Titelgeschichte des ersten Hefts eingestellt, die Banden sind und keine von SPIEGELreporter: Joschka FiArmeen. „Spiegel des 21. Jahrhunderts“ nennt scher, Außenminister der Nation, und sich diese Serie, die in jedem Heft das Harald Schmidt, Maulheld der Nation, Wohnen oder Reisen, die Stadt oder reden über die Lage der Nation und über die neuen Helden der Republik, also über sich selbst. Und eine Reportage über die Kleingärtner der Kolonie „Potsdamer Güterbahnhof“ erklärt, warum die Ur-Berliner Angst vor der neuen Hauptstadt und der neuen Republik haben. Das neue Monatsmagazin SPIEGELreporter tritt an die Stelle von SPIEGEL Spezial, das sich bisher in jedem Heft schwerpunktmäßig mit einem Thema beschäftigt hat, und ist von Dienstag dieser Woche an im Handel erhältlich. TV-Spot für SPIEGELreporter: Pioniere finden d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 159 Medien Vorschau Einschalten Bittere Unschuld Montag, 20.15 Uhr, ZDF Was für ein fabelhafter Psychothriller: Es beginnt mit dem Finale, bevor beklemmend erzählt wird, wie eine Familie zerfällt und auf eine Katastrophe zutreibt. Andreas Brandt (Elmar Wepper) leitet die Forschungsabteilung einer Pharmafirma, sein Feind Larssen (Michael Mendl) will diese Abteilung dichtmachen. Brandt entdeckt Unterlagen, die Larssen schwer belasten, und beobachtet ihn, ohne einzuschreiten, als er ein Mädchen vergewaltigt. Die Männer versuchen sich an Niedertracht zu überbieten, was Erpressun- Szene aus „Bittere Unschuld“ Fernsehen gen, Treuebrüche und Lügen nach sich zieht. Brandts Tochter Eva, 15, betrachtet die Verhärtungen ihrer Eltern zunehmend verstört und holt schließlich zum radikalen Befreiungsschlag aus. Regisseur Dominik Graf, einmal mehr in Bestform, erzählt mit präzisen Bildern und präzisen Darstellern eine menschliche Tragödie. Ally McBeal Dienstag, 22.05 Uhr, Vox Wer hier nicht hinguckt, ist selbst schuld: die wohl verrück- „Bodyguard“-Stars Ochsenknecht, Szyszkowitz teste Anwaltsserie der Welt zeigt mit viel Sinn und Seele universale Nadja (Aglaia Szyszkowitz) eine PerGeschlechterwirrnisse und kommentiert sonenschutz-Agentur in Berlin besie respektlos-ironisch. Die arg gezauste treibt und gerade den Unternehmer Ally ist scharf auf Männer und Sex, ihre Gilbert Metz (Uwe Ochsenknecht) beKollegen dito, wenn sie nicht gerade eitreut. Der Entführer fordert von der nen Frosch lieben. Auch in dieser Folge, Leibwächterin, den Millionär zu erin der es um Frauen-Schlammcatchen schießen, will sie ihre Schwester leund bedauernswerte, triebgesteuerte bend wieder sehen. Ochsenknecht Wesen geht, schlägt die Truppe in gesieht auch mit dunklen Haaren gut aus wohnt komödiantischer Hemmungslound spielt den reichen Widerling mit sigkeit über die Stränge. Möge dieser offensichtlichem Vergnügen, der schöwunderbare Serien-Irrsinn nie enden! nen Aglaia Szyszkowitz schaut man gern zu, wie sie mit kühlem Charme Bodyguard – Dein Leben in und heißem Herzen herumschießt und Hummer mit der Pistole traktiert. Die meiner Hand Geschichte ist spannend, voller verMittwoch, 20.15 Uhr, RTL blüffender Wendungen und präsentiert Der Finsterling (Helmut Rühl) kidnappt einen überraschenden Schluss. die taubstumme Nele, deren Schwester Ausschalten Hallo, Onkel Doc! Donnerstag, 20.15 Uhr, Sat 1 Krankenhausserien sind beliebt, folglich sind Krankenhausserien mit Kindern noch beliebter, denn die Schicksalsschläge der lieben Kleinen lassen bei den Zuschauern noch mehr Mitleidstränen rollen. „Hallo, Onkel Doc!“ war so ein Highlightmix in Mull. Doch der alte Arzt stieg nach fünf Staffeln aus, vielleicht machten seine Nerven das viele Geflenne nicht mehr mit. Nun wird in einer Staffel von weiteren 13 Folgen mit einem neuen Helden in Weiß wieder heftig gelitten. Gutmensch Dr. Ritter (Andreas Maria Schwaiger) ist blond, jünger, heldenhafter. Kein Wunder, dass sich Melanie, 15 (Judith Rohde), unsterblich in ihn verknallt, die Krücken fallen lässt und in seine Arme stürzt. Dem todkranken Pepi gibt sie heimlich Kekse zu essen, was diesen direkt auf den OP-Tisch befördert. Doch der Wunderdoktor rettet ihn mit einer 160 dramatischen Dünndarmtransplantation – natürlich in allerletzter Sekunde. Und weil sich alle so mögen, assistiert ihm der Professor höchstpersönlich. Wahrlich: Operation Kitsch. Zum Heulen. Heimlicher Tanz Mittwoch, 20.15, ARD Wenn sich Mann und Frau im Regen begegnen, ist das schon verdächtig. Wenn sich tags darauf herausstellt, dass er ihr beruflicher Aufpasser sein soll und beide sich von Herzen hassen, kann daraus nur eine heftige Liebesgeschichte werden (Regie: Angeliki Antoniou). Verzweifelt versucht Helen (Uschi Glas), ihr Obstgeschäft vor dem Ruin zu bewahren. Die Bank schickt ihr den Consulting-Manager Dominik Larsen (Michael von Au) in den Familienbetrieb, um die finanzielle Situation zu prüfen. Das passt ihm nicht und ihr schon gar nicht. Was folgt, ist viel Gezanke, Streit und Schreierei. Vor allem sind beide damit beschäftigt, immer wieder Akten in Obstkisten d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 aus der Großmarkthalle hin und her zu schleppen. So schleppt sich der Film dahin und ist nach 90 Minuten gnädig zu Ende. Denn irgendwann, gottlob, schafft es Larsen, das Herz der 15 Jahre älteren Frau zu gewinnen. Nebenbei haben sich beide noch tränenreich von ihren Partnern getrennt. Man wünscht beiden von Herzen alles Gute, aber eigentlich ist die Romanze einem ziemlich schnuppe. Und die Firma wird am Ende natürlich auch gerettet. Nicht heimlich, eher vorhersehbar. Glas, von Au in „Heimlicher Tanz“ Werbeseite Werbeseite Medien FILMINDUSTRIE Hollywood in Babelsberg Der französische Starregisseur Jean-Jacques Annaud will im kommenden Jahr die Schlacht um Stalingrad verfilmen – ausgerechnet in Brandenburg. Dem Not leidenden Studio Babelsberg ist es gelungen, die Megaproduktion nach Deutschland zu holen. E Zerstörtes Stalingrad (1942): „Als Regisseur sucht man immer den idealen Ort, aber den gibt D. LAUBNER in Hollywood-Produzent darf so etwas sagen. Ein Mann wie Peter Strauss sowieso, der schon 59 Jahre alt ist und in den siebziger Jahren mit „Cabaret“ seinen ersten Welterfolg schaffte. Nur so einer darf sich in der Lobby eines Münchner Luxushotels in den Biedermeiersessel zurücklehnen, an seinem Cappuccino nippen und dann – ohne jede Ironie – leise sagen: „Filme zu drehen ist so, als würde man Krieg führen.“ Er hat seine Schlacht geschlagen, gerade eben wieder. Er legte der Chase Manhattan Bank stapelweise Dokumente vor, um an einen Millionen-Kredit heranzukommen. Er hat seinen nächsten Film vorab in einem halben Dutzend Ländern verkauft und damit sichergestellt, dass er mindestens 60 Prozent seines 90-Millionen-Dollar-Budgets wieder einspielen wird. Jetzt genießt er es, seine Truppen zu inspizieren. Mit einem schwarzen 500er Mercedes wird der mächtige Mann aus Hollywood aufs Schlachtfeld gefahren. Er ist Gelände Studio Babelsberg ausgestiegen, hat seinen Schlips gelockert, die schwarzen Schuhe sofort mit weißem Staub verdreckt und dabei immer wieder ein Wort wiederholt: „Fantastic!“ Obwohl hier, in einer verrotteten Zementfabrik am Rande Berlins, seine Millionen verpulvert werden sollen. Ein mittelgroßer Franzose mit weißen Haaren und Hornbrille ist dabei, das Geld mit vollen Händen auszugeben. „Da hinten der Schornstein“, sagt Regisseur Jean-Jacques Annaud, „den werden wir in die Luft jagen.“ Die Aktion wird tausende kosten, doch Peter Strauss ist begeistert. Er stapft seinem Regisseur hinterher, kriecht unter riesigen, verrosteten Stahlrohren durch, klettert über verdreckte Leitern an gewaltigen Maschinen vorbei unter das Hallendach, sein dunkelblaues Jackett ist voller weißer Zementstreifen, immer wieder murmelt er: „Fantastic!“ Unten steht ein Mann in hellbraunem Kamelhaarmantel und lächelt leise vor sich hin: Rainer Schaper, einer der drei Geschäftsführer von Studio Babelsberg, feiert still seinen Triumph. Über ein Jahr lang Babelsberger Filmstudios Geschäfte dank TV-Serien hat er auf diesen Moment hingearbeitet. Jetzt sind sie da, die Filmleute aus Hollywood. Sie sind nicht nach London gegangen, nicht nach München, sie werden ihren Mammutfilm in Babelsberg drehen. Das legendäre Studio hat eigentlich seine großen Zeiten schon lange hinter sich. In den zwanziger Jahren wurde hier der „Blaue Engel“ mit Marlene Dietrich verfilmt, Fritz Lang drehte sein berühmtes „Metropolis“ in Babelsberg. Inzwischen hält sich das Studio, das nach der Wende von dem französischen Misch- den Schatten stellen. „Enemy at the gates“ zu suchen. Doch der Regisseur hatte sich ist die Geschichte des russischen Bauern- längst in Rumänien verliebt. „Wissen Sie“, jungen Wassilij, der als Scharfschütze sagt Annaud, „ich bin ein Verrückter, und während der Schlacht um Stalingrad von deshalb fand ich Rumänien am authender sowjetischen Propaganda entdeckt tischsten.“ und zum Helden hochgejubelt wird. Die Die verrotteten Fabriken, die herunterDeutschen setzen den besten Schützen gekommenen Städte, der morbide Charme des Reiches, einen adligen Major, auf des verarmten Landes hatten es ihm angeWassilij an, und in den Ruitan. Russland dagegen hatte er nen des brennenden Stalingrad schnell abgehakt. „Da herrscht Mit dem Film das Chaos, die Leute sind korkommt es zum finalen Shootkönnte out – nachgestellt in der herunrupt, und die Mächtigen stehlen tergekommenen Zementfabrik dem Volk das Geld.“ Babelsberg in Rüdersdorf bei Berlin. Annaud kam im September der Aufstieg Der Film mit Ed Harris, Jude vergangenen Jahres nach Berlin, in die Law, Joseph Fiennes und Rachel traf sich mit Schaper, reiste aber Weisz in den Hauptrollen soll im Überlebenszone mit dem festen Gefühl wieder gelingen Dezember kommenden Jahres in ab, in Babelsberg auf keinen Fall die Kinos kommen. Er beruht drehen zu wollen. Russen, Polen, auf einer wahren Geschichte, und so hat Ungarn, Tschechen, Rumänen, Litauer, Annaud den Ehrgeiz, so authentisch wie Weißrussen und Engländer bemühten sich möglich zu drehen. Am liebsten wollte er um den Film, doch Annaud konnte sich in Wolgograd einrücken, dem früheren nicht entscheiden. „Als Regisseur sucht Stalingrad. man immer nach dem idealen Ort“, sagt er, Im Juli vergangenen Jahres ließ er an „aber irgendwann realisiert man, dass es alle großen europäischen Filmstudios ein diesen Ort nicht gibt und man ihn irgenddünnes „Location Quickbook“ ver- wo nachbauen muss.“ schicken, eine Sammlung historischer FoAnnaud fuhr zurück nach Paris und artos von Stalingrad, die den Studios als Vor- beitete weiter an dem Drehbuch. In die- konzern Vivendi übernommen wurde, mit TV-Serien („Gute Zeiten, schlechte Zeiten“) und billigen Talkshows („Vera am Mittag“) mehr schlecht als recht über Wasser. In diesem Jahr wird ein Umsatz von 55 Millionen Mark angepeilt, und man hofft, den Verlust von 8 Millionen im vergangenen auf etwa 2 Millionen Mark in diesem Jahr reduzieren zu können. Kein Wunder, dass Schaper alles unternommen hat, um Annauds Riesenprojekt in sein Studio zu lotsen. Mit seinem 90Millionen-Dollar-Etat ist die StalingradVerfilmung wahrscheinlich der teuerste Film, der jemals in Europa gedreht wurde. Babelsberg könnte endlich der Aufstieg in die Überlebenszone gelingen. Regisseur Jean-Jacques Annaud ist für seine aufwendigen Filme berühmt geworden. Als er Umberto Ecos „Der Name der Rose“ mit Sean Connery verfilmte, ließ er auf einem Berg in der Nähe von Rom ein komplettes mittelalterliches Kloster aufbauen. Seinen letzten Film („Sieben Jahre in Tibet“ mit Brad Pitt) drehte er in den argentinischen Anden. Doch mit seinem neuesten Projekt wird der 56-jährige Starregisseur und OscarPreisträger alle seine bisherigen Filme in FOTEX es nicht“ Regisseur Annaud (bei Dreharbeiten in Argentinien): „Ich bin ein Verrückter“ lage dienen sollte, um geeignete Drehorte vorzuschlagen. Als Rainer Schaper die Bilder in die Hand bekam, war er wie elektrisiert. Der gelernte Filmarchitekt kannte Annauds Arbeitsweise von gemeinsamen Dreharbeiten an „Der Name der Rose“ und kapierte schnell, dass es sich bei dem neuen Film um ein Riesenprojekt handeln würde. „Ich habe die Bilder gesehen und wusste, dass wir alles daransetzen mussten, den Film nach Babelsberg zu bekommen.“ Schaper und ein Team von sechs Leuten zogen los, um nach geeigneten Drehorten d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 sem Frühjahr ging die Suche wieder los. Peter Strauss und die Hollywood-Firma Mandalay hatten John Schofield als Produzenten für die eigentlichen Dreharbeiten angeheuert. Der ergraute Brite gilt in der Branche als Spezialist für komplizierte Fälle. Wochenlang reiste er zusammen mit einem Filmarchitekten durch Europa. In Russland bekamen sie schnell das Gefühl, von den Funktionären der Mosfilm nur gemolken zu werden, in England wurden sie von der staatlichen Filmkommission unfreundlich behandelt („Das war schlimm“) und 163 Medien Film-Wolga in der Lausitz: Tagelang mit dem Hubschrauber nach Drehorten gesucht 164 kurrierenden Studios hatte die Wolga zu bieten, die in Annauds Drehbuch eine entscheidende Rolle spielt. Schaper war den ganzen Rhein abgeflogen, er hatte die Donau auf ihre WolgaTauglichkeit untersucht, die Elbe und die Oder. Doch keiner der Flüsse verfügte über das typische Steilufer der Wolga in Stalingrad. Schließlich wurden die Babelsberger in der Lausitz fündig. Die vom Braunkohletagebau verwüstete Landschaft in der Nähe von Cottbus gibt eine ideale russische Steppe her, die riesigen Baggerlöcher W. BELLWINKEL nicht richtig ernst genommen („Das war schlimmer“). Die Rumänen taten zwar vieles, um den Film zu bekommen, doch Schofield und sein Partner waren angenervt, weil sie stundenlang in alten Autos über kaputte Landstraßen von einer Kulisse zur nächsten fahren mussten. In Budapest schließlich bekamen sie einen Anruf aus Babelsberg. Schaper fragte an, ob er vorbeikommen könne, um eine bessere Vorstellung von dem Projekt zu bekommen. Schofield war positiv überrascht. Unauffällig, so dass es die ungarischen Gastgeber nicht mitbekamen, traf man sich zum gemeinsamen Abendessen im Hotel Marriott. Am nächsten Morgen reiste Schaper wieder ab, um mit Hochdruck den bevorstehenden Besuch der beiden Filmleute vorzubereiten. Tagelang flog er mit seinem Team im Hubschrauber durch die Republik. „Quadratkilometerweise haben wir alles nach möglichen Drehorten abgesucht“, sagt der Studiomanager, „von Rostock bis ins Ruhrgebiet.“ Als Schofield und sein Szenenbildner wenig später in Berlin ankamen, wurden sie zum ersten Mal in Europa so behandelt, wie sie es aus den Vereinigten Staaten kannten. „Angenommen, man fährt in ein kleines Kaff nach Idaho“, sagt Schofield, „dann holen sie dich mit einer dicken Limousine vom Flughafen ab, geben ein großes Bankett, fahren dich zu einem Hubschrauber und versuchen alles, um dich in ihr Kaff zu holen.“ Eine bessere Wirtschaftsförderung für eine Region sei angesichts der gewaltigen Filmbudgets doch gar nicht möglich, meint der Brite selbstbewusst. Drei Tage lang flog Schaper seine Gäste von einem möglichen Drehort zum nächsten, zeigte ihnen stapelweise Fotos und erreichte schließlich, dass Schofield zusagte, wenig später noch einmal nach Babelsberg zu kommen. Doch ein entscheidendes Problem war nach wie vor nicht gelöst: Keines der kon- lassen sich so fluten, dass sie der Wolga erstaunlich ähneln. Die Lausitz-Wolga gab schließlich den Ausschlag. Ende Juni reiste Annaud zum zweiten Mal nach Babelsberg und war begeistert. „Hier haben wir alles, was wir brauchen“, sagt der Regisseur, „die alten russischen Kasernen, die alten Fabriken, die nach russischem Vorbild gebaut wurden, die Nähe zu Berlin und eine moderne Infrastruktur.“ Babelsberg bekam den Zuschlag. Inoffiziell, denn drei Monate vor dem geplanten Drehbeginn im Januar ist immer noch kein Vertrag unterzeichnet. Dabei haben Schofield und seine Leute schon längst eine komplette Büroetage auf dem Babelsberger Studiogelände bezogen, in der alten Russenkaserne in Krampnitz bei Potsdam bauen Techniker den zentralen Platz in Stalingrad nach – eine gigantische Kulisse, die nach jetzigen Planungen allein schon fast zehn Millionen Mark kosten wird. Demnächst soll die Rüdersdorfer Zementfabrik in das Stalingrader Panzerwerk „Roter Oktober“ verwandelt werden, doch immer noch sind die Verträge nicht unter Dach und Fach. Beinhart wird um jede Mark gefeilscht. „Die Amerikaner versuchen uns gegenseitig auszuspielen“, sagt Thilo Kleine, der Chef der Bavaria Filmstudios in München, die sich ebenfalls um das Mammutprojekt beworben haben. Doch Kleine wird nur wenige Drehtage abbekommen, für Szenen, die in Bayern spielen, und vermutlich den Auftrag für die Postproduction, also für Schnitt, Mischung und Musik. Die Amerikaner klagen über die hohe Steuerlast in Deutschland, die jede Filmproduktion immer teurer mache. Produzent Strauss versucht in letzter Minute ein Fünf-MillionenDollar-Loch in seinem Etat zu stopfen, der Babelsberger Studio-Manager Schaper ist mit seinen Nerven zunehmend am Ende, doch allen Beteiligten ist klar, dass der Punkt längst überschritten ist, an dem man das Projekt noch an einen anderen Ort verlegen könnte. Etwa 50 Millionen Mark werden demnächst nach Brandenburg gepumpt. Schätzungsweise 20 Millionen davon wird das Studio kassieren – ein gewaltiger Brocken angesichts von nur 55 Millionen Mark Jahresumsatz. „Der Film wird ein Einzelfall bleiben“, behauptet Bavaria-Boss Kleine, doch in der ostdeutschen Filmstadt hofft man auf Folgeaufträge. Zumindest die Stalingrad-Crew macht den Babelsbergern Mut: „Wenn es bei uns gut läuft“, sagt Regisseur Annaud, „dann werden wir nicht die Letzten hier gewesen sein.“ Konstantin von Hammerstein Partner Schaper, Annaud: Stiller Triumph d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Medien ZEITUNGEN Wie viel Bedeutung braucht Berlin? In ihrem neuen Hauptstadt-Teil versucht sich die ansonsten hoch seriöse „Frankfurter Allgemeine“ in ungezogenem Metropolen-Journalismus. Von Andreas Lebert bitterten Kampf der Zeitungen in der Hauptstadt, einem Kampf um Leser und um Meinungsführerschaft. Außerdem will sie ihren größten Feind, die auflagenstärkere „Süddeutsche Zeitung“, wieder dorthin zurückdrängen, wo sie nach Meinung der Frankfurter hingehört: in die Region südlich der Donau. Die „SZ“ hatte schon 1990 eine wöchentliche Berlin-Seite eingeführt, allerdings die Initiative des damaligen Chefredakteurs Dieter Schröder (heute Herausgeber der „Berliner Zeitung“) nicht entschlossen weiterverfolgt. Erst seit Frühjahr 1999 gibt es die Seite täglich, ergänzt um einen Service-Teil. Der Eindruck, verglichen mit der „FAZ“: sparsam. Von hinten: Die beste Idee des neuen Teils der „FAZ“ findet man auf der letzten F 168 FOTOS: P. LANGROCK / ZENIT Seite. Das „Register“ listet jeden Tag die Prominenten auf, die auf den „Berliner Seiten“ erwähnt werden oder einen Artikel verfasst haben – Namen, in alphabetischer Ordnung, ohne Wertung, nur mit Angabe der Seitenzahl versehen. Arafat, Yassir ... 2; Glas, Uschi ... 5; Schröder, Gerhard ...3. Eine kleine Tabelle, auf die jeder Journalist neidisch ist, der schon nach solchen Ideen gesucht hat. Elegant wird der Leser ins Blatt gezogen. Sogar wenn er die Lektüre hinter sich hat, kehrt er gern noch einmal um. Auf den „Berliner Seiten“ hat Helge rank Schirrmacher hat einen Traum. Schneider Platz, „seinen“ Reichstag zu Und wie alle Menschen, die einen zeichnen, Christoph Schlingensief ist auf Traum haben, geht der „FAZ“-Herder Suche nach Deutschland, Auszüge aus ausgeber damit gelegentlich anderen MenBret Easton Ellis’ Roman „Glamorama“ schen auf die Nerven: Die Handys seiner werden auf einer ganzen Seite mit Fotos Mitarbeiter in Berlin läuten dauernd, der aus dem Luxustempel „Quartier Chef aus Frankfurt hätte da 206“ kombiniert. Dieter Thomas noch eine Idee, wehe, sie sind Heck begrüßt den Sänger Heinz nicht erreichbar, dann meldet Rudolf Kunze mit einer Liebesdie Mailbox mitunter schon erklärung, unter der Rubrik nach einer Stunde „sieben neue „Neues aus dem Politbüro“ erNachrichten“. innern Sitzungsprotokolle an Ein Berliner Großstadt-Feuilden Mauerfall vor zehn Jahren. leton, eine bedeutende Stimme Einerseits arbeiten die Redakin der Hauptstadt – das hat sich teure aus Frankfurt also mit moSchirrmacher in den Kopf gedernem Magazin-Journalismus, setzt. Und im Gegensatz zu anandererseits knüpfen sie an die deren Menschen hat er die Tradition des Feuilletons der Macht, seinen Traum zu verzwanziger und dreißiger Jahre an, wirklichen. Oder es jedenfalls zu das Feuilleton eines Alfred Kerr versuchen. Die neuen „Berliner und Joseph Roth. Dabei scheint Seiten“ der „Frankfurter Allgealles möglich, Betrachtungen, meinen Zeitung“ sind seine ErGlossen, Ich-Erzählungen, Krypfindung. Aber auch Berlin erfintisch-Unverständliches wie die det sich gerade neu – und reaAnsichten des Autors Benjamin giert genervt auf bedeutende von Stuckrad-Barre über Günter Stimmen. Besonders, so scheint Grass oder Poetisches wie das es, auf die von Zeitungen. Die „Flittchenbar“-Porträt von David Auflagen sinken oder stagnieren. Wagner. Bewusst wird die GrenIm Himmel über Berlin, auch ze zwischen Schriftstellerei und über dem traumhaften neuen Journalismus aufgehoben. „FAZ“-Büro, schwebt die FraMan liest Gerichtsberichte, ge: Spielen Zeitungen in einer aber keine Polizeimeldungen, Metropole des 21. Jahrhunderts bildungspolitische Themen, aber überhaupt noch eine Rolle? keine Wiedergabe von PresseVon vorne: Seit Mittwoch, konferenzen, und viele Hinweidem 1. September, erscheint die se (sogar die Fütterungszeiten „Frankfurter Allgemeine Zeider Berliner Tiergärten sind tung“ täglich in Berlin und Branangegeben). Ein ungezogener denburg mit einer neuen SekSprössling des ernsten „FAZ“tion, die mindestens sechs, am Feuilletons: ein bisschen wirr, ein Samstag acht Seiten umfasst. bisschen stürmisch. Und ein weMit den „Berliner Seiten“ zieht nig lustig. Ungewöhnlich für die die „FAZ“ das Schwert im er- „FAZ“-Werbung am Kurfürstendamm: Alles scheint möglich Lebert, 43, war MitErfinder und bis 1996 Chefredakteur des „SZ-Magazins“, danach ein halbes Jahr lang stellvertretender Chefredakteur des „Stern“. Derzeit betreut er das unter seiner Leitung konzipierte „Leben“-Ressort der „Zeit“ in Berlin. d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Medien humorfreie „FAZ“ – sogar die gefährlichen Wildschweine im Grunewald waren einen Wochenend-Aufmacher wert. Auf den ersten Blick erkennt man das Muntere allerdings nicht, auch nicht auf den zweiten. Die Gestaltung der Titelseite erinnert an eine Todesanzeige, die Überschriften der Artikel lassen uns im Dunkeln, worum es gehen könnte. Lies mich, PETERS / ULLSTEIN BILDERDIENST an diesem Tag etwas fehlte? Kümmert es die Berliner, ob ihr Großstadt-Feuilleton erscheint oder nicht? Und dabei sind nicht die Berliner Bürger in Marzahn oder Neukölln gemeint, sondern durchaus die Zielgruppe: die Galeristen, die Politiker, die Professoren, die Unternehmer, die Regisseure, die Clubs, die Radiomoderatoren und Sponsoring-Agenturen. In den zwanziger Jahren hatten Zeitungen eine andere Bedeutung. Man kann diese Bedeutung für eine Metropole, die sich am Ende des Jahrhunderts neu erfindet, wieder fordern, man kann sie sich wünschen. Aber wird die Stadt reagieren? Abgesehen von den zehn lokalen Zeitungen, die hier jeden Morgen die Kioske verkleiden und jeden Abend die Müllcontainer verstopfen: Wie viele Websites werden täglich in Berlin neu aufgebaut, wie viele Flyer verteilt, wie viele Radiosender funken, wie viele Events gleichzeitig werden auf VideoPandabärin Yan Yan im Berliner Zoo Walls geworfen? Vieloder lies mich nicht: die leicht erleben wir ja im Arroganz des FeuilletoBerliner Zeitungsmarkt nisten, der sich seiner das, was wir beim FernBedeutung sicher ist. sehen hinter uns haben: Von ganz unten beDort geht es längst nicht trachtet, also aus der mehr um Bedeutung für Perspektive der Leser, den intellektuellen Disdie man vielleicht gekurs, gekämpft wird nur winnen möchte, könnte noch um Schnipsel undas ein Fehler sein – in serer Aufmerksamkeit, einer Stadt, in der man Minuten, ja Sekunden. dem Pförtner des Bun- „FAZ“-Fütterungshinweise Und die Waffe ist nicht destags den Namen das Schwert. Norbert Blüm erst buchstabieren muss, um Von gegenüber, ein Gruß: Die Redakihn von der Existenz dieses Abgeordneten tion der „Berliner Seiten“ der „FAZ“ und auf seiner Liste zu überzeugen. die „Leben“-Redaktion der „Zeit“ liegen Von oben: Frank Schirrmacher schuf ein nur hundert Meter auseinander, getrennt teures, elitäres Produkt für ein paar tau- durch die Friedrichstraße und eine unsend Leser. Dafür ließ er das „FAZ-Maga- überwindliche Baustelle. Das „Leben“ ist zin“ sterben. Und er greift selbst in die oft für den Ansatz kritisiert worden, mit „Berliner Seiten“ ein, redigiert, schreibt Absicht auf die „Bedeutung“ zu verzichum. Dabei soll es gelegentlich auch zum ten, die der „Zeit“ sonst zu eigen ist. Aber: Streit mit den verantwortlichen Redak- Zeigen sich in der Hauptstadt nicht gerade teuren kommen. So hört man jedenfalls neue Codes der Kommunikation? Müssen im Dreieck zwischen dem Restaurant sich die „Berliner Seiten“ nicht noch entBorchardt, dem Café Einstein und dem schiedener gegen die althergebrachten ForS-Bahnhof Friedrichstraße, wo sie alle ihr meln des Feuilletons zur Wehr setzen? Im Märkischen Museum in Berlin wurSteak essen, ihren Espresso trinken oder ihre Sachen in die Reinigung bringen, die de anlässlich des 125. Geburtstags am „Stern“-, „FAZ“-, „Zeit“- und SPIEGEL- 9. Oktober eine Dauerausstellung eröffRedakteure: Schirrmachers Glosse über net, in der die Stadtgeschichte zu besichden Wechsel des Feuilleton-Chefs Jens Jes- tigen ist. Auf den „Berliner Seiten“ der sen von der „Berliner Zeitung“ zur „Zeit“ „FAZ“ warf Kai Michel dazu die Frage soll bei seinen Redakteuren auf so heftigen auf, ob das Museum gegen die „kommerWiderstand getroffen sein, dass bei der Dis- zielle Geschichtsshow The Story of Berlin“ kussion darüber ein Drucktermin ver- bestehen könne, ob dort „der wackelnde passt wurde. Offiziell wurde das Fehlen ei- Boden, der über ‚head phones‘ eingespielner ganzen Ausgabe des neuen Teils (am te Fabriklärm“ die Geschichte der InduDonnerstag, 30. September) mit techni- strialisierung nicht wirkungsvoller verdeutliche als die Wandgemälde Paul Meyschen Problemen entschuldigt. Der Alptraum eines Zeitungsmachers: erheims aus der Borsigvilla – „in einer Das Blatt erscheint nicht – und keiner Zeit, in der das Erlebnis an die Stelle der ™ merkt es. Hat Berlin wahrgenommen, dass Bedeutung tritt“. 170 d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Medien I N T E R N E T- T V „Du bist so süüüß“ FOTOS: M. WOLTMANN NBC Giga ist das erste wirklich interaktive Programm, es läuft im Fernsehen und parallel im Web – die Zuschauer sind via Internet Teil des Programms. „Simpsons“ ihren zehnten Geburtstag feiern oder die Firma Sun eine neue „Java“Software auf den Markt bringt, bei Giga wird es Teil des Programms. „Die Leute da draußen“ (Giga-Slang) müssen all das nicht widerstandslos über sich ergehen lassen. Mit einer E-Mail direkt an das Bildschirmpersonal können sie sich jederzeit einmischen. So wird das Programm fast zum Perpetuum mobile. Alle paar Minuten geben die Giga-Animateure im Fernsehen ein Thema vor und laden die Zuschauer zum Chat im Internet. Eine Viertelstunde später verlesen sie dann die geistreichsten Beiträge im TV und animieren sogleich zum nächsten OnlinePlausch. Zwischendurch gibt es Musikvideos und Plaudereien mit Studiogästen. Punk-Diva Nina Hagen war schon da, RTL-Talkerin Bärbel Schäfer und die Deutsch-Musiker „Die Prinzen“. Häufiger kommen aber Sternchen aus der zweiten oder dritten Reihe, zum Beispiel eine Band mit dem unaussprechbaren Namen „Oomph“, die es mit einer Single immerhin auf Platz 51 der Charts geschafft hat. Auch Sportler tauchen gelegentlich im Giga-Studio auf. Der Prominenteste war bislang SurfWeltmeister Josh Stone aus Hawaii. Den Besuchern dürfen die Zuschauer via Internet-Chat Löcher in den Bauch fragen: ob sie eine Lieblings-Website haben, welche Musik sie hören und welche Fernsehserien sie am liebsten gucken. Zwischen 6000 und 8000 E-Mails prasseln jeden Tag auf den Sender ein: Themenvorschläge, Fragen zu Computerspielen, Hilferufe bei Rechnerabstürzen. Ohne diese Mengen an elektronischer Post wären die Netzreporter aufgeschmissen. Denn nur maximal die Hälfte des täglichen FünfStunden-Marathons ist vorher geplant, der Rest entsteht während der Sendung. Der direkte Draht zum Publikum hat aber auch seine Tücken: „Wenn ich mich mal verspreche, habe ich Sekunden später Kommentare auf dem Bildschirm“, erzählt Netzreporterin Emily Whigham. Die 23Jährige, die früher beim Musiksender Viva als Redaktionsleiterin arbeitete, bekommt allein zwischen 300 und 500 Mails pro Tag. Manche klingen wie von alten Freunden: „Hey Emily, wie war Dein Wochenende“, will zum Beispiel Markus wissen, „meins war so lala.“ Matthias teilt Emilys Kollegin Kerstin Linnartz, 23, mit, was er von ihr denkt: „Du bist so süüüß!!!“ Seit dem 30. November vergangenen Jahres beglückt Giga die Zielgruppe mit diesem Programmsalat. Haupteigentümer ist die mittelständische DFA. Die wieder- NBC-Giga-Studio: Jeden Tag prasseln 6000 bis 8000 E-Mails auf den Sender ein D er Mann hat noch nicht mal eine eigene E-Mail-Adresse, kein Computer stört die Ordnung auf seinem Schreibtisch. „Den brauch ich nicht“, sagt Helmut Keiser, Chef der Deutschen Fernsehnachrichten Agentur (DFA). Ausgerechnet diesem Technik-Abstinenzler ist eine kleine Fernsehrevolution gelungen: Keiser hat Fernsehen und Internet miteinander verschmolzen. Das Ergebnis ist der TV-Kanal NBC Giga – „der erste wirklich interaktive Sender der Welt“, schwärmt Programmdirektor Ollie Weiberg. Mit normalem Fernsehen hat das Programm wenig zu tun. NBC Giga ist eine fünfstündige Internet-Orgie, live zelebriert von montags bis freitags zwischen 15 und 20 Uhr im Kabel-TV und parallel im Web unter www.giga.de. Seiner jugendlichen Zielgruppe will Weiberg den „Weg in die digitale Zukunft“ weisen. Basisstation ist ein Großraumbüro im Düsseldorfer Hafengelände, gleichzeitig das einzige Sendestudio. Dort hocken zehn so genannte Netzreporter vor InternetRechnern und Fernsehkameras. Die Jungs und Mädels, knapp jenseits der Volljährigkeit, surfen den ganzen Tag im Web und brabbeln dabei gut gelaunt 174 drauflos – über alles, was Leute zwischen 14 und 29 „bewegt und begeistert“, so Keiser. Hauptsächlich geht es ums Internet und um Stars, geredet wird über Sport und Computerspiele. Egal, ob es eine verschrobene Website über den Stimmbruch ist, die Programmdirektor Weiberg „Weg in die digitale Zukunft“ d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Medien um gehört mehrheitlich den Regionalzeitungen „Bonner General-Anzeiger“ und der Düsseldorfer „Rheinischen Post“. Der US-Gigant NBC hält zwar als Namensgeber her, ist aber lediglich mit einer Minderheitsbeteiligung dabei. Die DFA (500 Mitarbeiter) produziert unter anderem Nachrichtenbeiträge für n-tv und liefert die deutschen Sendungen für CNN. Die Idee mit NBC Giga hatte DFA-Geschäftsführer Keiser schon jahrelang mit sich herumgetragen – seit einem flüchtigem Blick in den Online-Dienst Netzreporterin Linnartz Fan-Post über das Internet AOL. „Ich habe mir sofort gedacht: Mensch, das müsste man mit Fernsehen verbinden.“ Weil aber kein Sendeplatz im Kabelfernsehen zu kriegen war, lag das Projekt zunächst auf Eis. Das änderte sich erst, als die DFA im Juni vergangenen Jahres 75 Prozent von NBC Europe übernahm und damit Zugriff auf den Kabelplatz von NBC bekam. Auf diesem Wege erreicht NBC Giga jetzt fast alle deutschen Kabelhaushalte. Eine bunte Truppe von inzwischen 60 Leuten, zurzeit noch auf einem Parkplatz im Düsseldorfer Hafengelände in 18 Bürocontainer gepfercht, macht das Programm. Bald bekommen die Interaktivarbeiter immerhin ein festes Dach über dem Kopf: Möglichst noch in diesem Jahr zieht Giga in ein entkerntes ehemaliges Lagerhaus im Hafen um. Vor ihrem Einstieg bei Giga hatten die meisten Netzreporter keine Fernseherfahrung. Ganz bewusst habe er solche Leute ausgesucht, berichtet Keiser, denn „die sind authentischer vor der Kamera“. d e r So wie George Zaal zum Beispiel: Der 25jährige Glatzkopf wollte es nach einem abgebrochenen Informatik-Studium eigentlich mit Betriebswirtschaftslehre noch mal an der Uni versuchen. Dann kam ihm Giga dazwischen. George ist für „Games“ zuständig, in der Sendung führt er neue Computerspiele vor. Texte für seine Kameraauftritte legt er sich vorher nie zurecht. „Ich überlege mir nur den ersten Satz, alles Weitere ergibt sich dann von alleine.“ Netzreporter Mirko Teichmeier, 26, gelernter Groß- und Einzelhandelskaufmann, wollte eigentlich gar nicht ins Fernsehen. Der Computerspezialist hatte sich für einen Job hinter den Kulissen beworben. Dass er am „Helpdesk“ vor laufender Kamera die Computerprobleme der GigaZuschauer lösen sollte, erfuhr Mirko erst, nachdem er bei seinem alten Arbeitgeber gekündigt hatte. „Da habe ich wirklich Muffensausen gekriegt“, erinnert sich Mirko, „ich hätte nie gedacht, dass ich das kann.“ Doch Mirkos Computer-Notdienst war von der ersten Sendestunde an bei den Zuschauern besonders beliebt. Weil alles so gut läuft, will DFAChef Keiser das Programm erweitern: Er plant eine Frauensendung am Vormittag und ein Prime-TimeProgramm für die Abendstunden. Schon jetzt sei Giga wirtschaftlich „ein voller Erfolg“. Spätestens 2001 werde der Sender schwarze Zahlen schreiben. Zwar befinden sich die Einschaltquoten – wie bei anderen Spartenkanälen – im nicht messbaren Bereich. Aber die Produktionskosten sind lächerlich gering: Weil es kaum teure Außendrehs gibt, kommt der Sender mit einem Minimalbudget von zwölf Millionen Mark pro Jahr aus. Und die Werbeeinnahmen sind mit acht Millionen Mark im ersten Jahr mehr als doppelt so hoch wie erwartet. Um die tägliche Seifenoper im Internet hat sich eine eingefleischte Guck-Gemeinde gebildet. Im Web gibt es inzwischen rund 50 verschiedene Fan-Seiten für den Kanal. „Giga macht süchtig“, warnt ein Zuschauer auf der Homepage des Senders. Ganz Hartgesottene sind schon ab zwölf Uhr mittags dabei, wenn die tägliche Redaktionskonferenz live im Internet übertragen wird. Im Netz können sie während der Sendung das Geschehen in der Regie verfolgen. Zudem schicken 14 verschiedene Webcams im Minutentakt aus fast jedem Winkel vor und hinter den Kulissen Standbilder ins Internet. Nur auf der Toilette dürfen sich die Programm-Schaffenden wirklich unbeobachtet fühlen. s p i e g e l Olaf Storbeck 4 3 / 1 9 9 9 177 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite L. GRINKER / CONTACT / AGENTUR FOCUS (o. l.); INTERFOTO ( u. l.); R. E. A. / LAIF (u. r.) Das 20. Jahrhundert geht zu Ende, das dritte Jahrtausend beginnt. Der SPIEGEL würdigte die prägenden Ereignisse der vergangenen 100 Jahre. Zum Abschluss der Serie: Joachim Fest über die Schreckensgestalt Adolf Hitler. Gebeine von Opfern der Roten Khmer in Kambodscha; „Führer“ Adolf Hitler; Stalin (Gemälde von 1939); serbische Milizionäre, Opfer (1992) Das Jahrhundert der Diktatoren Keine Epoche brachte so viele Staatsverbrecher hervor wie das 20. Jahrhundert. Doch Hitler bleibt bis heute einzigartig im Bestiarium der Tyrannen. Seine Gewaltherrschaft zerstörte das zivilisatorische Grundvertrauen, er wurde die Symbolfigur eines Kulturbruchs. d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 181 Titel Das Böse als reale Macht SAMMLUNG DR. RUDOLF HERZ Hitlers noch immer verleugnetes Vermächtnis / Von Joachim Fest Tyrann Hitler, Freund (1925): Einzigartige Radikalität des Aggressionswillens 182 d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 M. ZUCHT / DER SPIEGEL (l.); AKG (r.) KZ Auschwitz (nach 1945), deutsche Gräuel in der Ukraine (1942): Hass mit mörderischer Konsequenz K ein Jahrhundert hat mit so großen Erwartungen begonnen wie dieses. „An der Schwelle des 20. Jahrhunderts sieht es so aus, als könne es das Jahrhundert der Humanität und der Brüderschaft aller Menschen werden“, schrieb die „Chicago Tribune“ vom 1. Januar 1901. Aber der lange Traum zerstob in wenigen Jahren und war bereits zur Mitte des Jahrhunderts ausgeträumt. Alle Versuche, ihn zurückzuholen oder in veränderter Form fortzusetzen, sind Stückwerk geblieben. An der großen Entzauberung, die der Nenner der Epoche ist, hat vieles mitgewirkt: die Wissenschaften und die Künste, Ideologien, die Prozesse gesellschaftlichen Wandels, politische Erschütterungen und anderes mehr. Wer auf die Stichwortgeber am Beginn der zahlreichen Kulturschocks sieht, die das Zeitalter ereilten, kann mit nur geringer Vereinfachung von einem mehrdeutig „deutschen“ Jahrhundert sprechen. Am Anfang steht das Erbe von Karl Marx, es folgten Nietzsche, Freud und Einstein bis hin zu Otto Hahn, und am Ende kommt man an Adolf Hitler nicht vorbei. Sein Platz in dieser Jahrhundertgalerie hat weniger mit den Veränderungen auf der Weltkarte zu tun, die auf ihn zurückgehen. Vielmehr hat er dem zivilisatorischen Grundvertrauen, das die Menschen bis dicht an die Gegenwart getragen hat, auf lange Zeit den Boden entzogen. Er ist geradezu zur Symbolfigur des Epochenbruchs geworden. Zwar hat das Jahrhundert so viele Staatsverbrecher hervorgebracht wie kein anderes. Das beginnt schon an seinem Anfang mit den Kolonialmächten, in deren Ausrottungsfeldzügen und Konzentrationslagern Tote bereits nach Zehntausenden gezählt werden. Was damals einsetzte, war der massenhafte Tod, dessen Opfer keine Namen haben und nur noch als Ziffer in irgendwelchen Statistiken fortdauern. Lenin und Stalin erweiterten das Mordgeschäft nach den summarischen Metzeleien der Bürgerkriegsjahre zum Terror als Herrschaftsinstrument. Ihr Beispiel wirkte auf die eine oder andere Weise fort im Gewimmel der Dutzenddiktatoren während der zwanziger und dreißiger Jahre bis hin zu Mao, Pol Pot, Batista, Pinochet oder dem „Genius der Karpaten“ Nicolae Ceau≠escu und zu Saddam Hussein. Doch in diesem Bestiarium behauptet Hitler unangefochten die Spitze. Es ist nicht so sehr die Zahl der Opfer, die ihm den Vorrang eingetragen hat. Das „Schwarzbuch des Kommunismus“ hat enthüllt, dass Stalin und Mao ihn um etliche Millionen hinter sich lassen. Und andere Gewaltherrscher wie Papa Doc Duvalier oder Kim Il Sung haben womöglich mehr persönliche Grausamkeit offenbart, wieder andere wie Idi Amin mehr Rachsucht und Brutalität. Was Hitler einzigartig machte und den mit seinem Namen verbundenen Schrecken nicht enden lässt, waren die Radikalität seines Aggressionswillens und die Unverhohlenheit, mit der er alle Gesittungsnormen eines Kulturzusammenhangs verwarf, dem er immerhin selbst entstammte. Sein Programm, hatte er schon früh erklärt, sei „die Formulierung einer Kriegserklärung … gegen eine bestehende Weltauffassung überhaupt“. Nahezu sämtliche Despoten der Zeit haben ihren Machtwillen mit einem ideologischen Überwurf drapiert, wie löchrig er sich auch ausnehmen mochte. Lenin beispielsweise und auch Stalin haben ein durchaus zynisches Verhältnis zu den Verheißungen gehabt, die sie verkündeten, und, wie eine lange Zeit vorherrschende Auffassung gerade über Hitler behauptet hat, keine Glaubensgewissheiten anerkannt, sondern solche Gewissheiten nur zur Eroberung, Sicherung und Dem Optimismus des Menschenbildes der Aufklärung hat Hitler ein Ende bereitet. d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 183 Titel kern … Wenn die Menschen im Garten Eden lebten, würden sie verfaulen.“ Aller Widerspruch gegen dieses „Urgesetz des Lebens“, zumal im Namen der Menschlichkeit, sei nichts anderes als „Naturverrat“, behauptete er, ebenso sinnlos wie verlogen, und die so genannten Tischgespräche im Führerhauptquartier sind voll von Hohn über jedwede Moral als Ausdruck von Feigheit oder Schwäche. Dieses Weltbild wies indessen einen unübersehbaren Widerspruch auf, der aus Hitlers Judenhass kam. Denn die Juden waren, wie er fand, vom Grundgesetz des Daseins ausgenommen: Unfähig zur Staatenbildung, hätten sie sich seit Menschengedenken dem ewigen Kampf um Lebensraum entzogen und alle Schöpfungsregeln unterlaufen, um sich auf ihre Weise die Weltherrschaft zu sichern, angefangen von Moses, Paulus und dem Christentum bis zu Lenin, wie Hitler in einem Gespräch mit dem Dichter Dietrich Eckart versicherte. Zu ihrem vielarmigen Zangenangriff gehörten der Kapitalismus und, in absurder Nachbarschaft dazu, der Bolschewismus, die Demokratie und der Pazifismus eben- Steigerung ihrer persönlichen Macht eingesetzt. Im Unterschied zu ihnen hat Hitler auf große geschichtstheoretische Verbrämungen seiner Herrschaft verzichtet, sieht man von dem einzigen Prinzip ab, das er gelten ließ und dessen Gefangener er bis zuletzt blieb: dem Gedanken vom Dauerkampf des Einzelnen wie der Völker um Selbstbehauptung und Unterwerfung. Schon in seiner Programmschrift „Mein Kampf“ hat er den „Sieg des Stärkeren und die Vernichtung des Schwachen“ als „unumstößliche Wahrheit“ ausgegeben und sich in der Folgezeit immer wieder dazu bekannt. Mitunter verfiel er dabei in eine gehobene, ungewohnt poetisierende Tonlage, die aber deutlich macht, dass dies der Kern seiner Überzeugungen war. Bald nach Beginn des Krieges und wie zur Rechtfertigung der Anstalten, mit denen er den Konflikt herbeigeführt hatte, erklärte er einem ausländischen Diplomaten gegenüber: „Solange die Erde sich um die Sonne drehe, solange es Kälte und Wärme gebe, Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit, so lange werde der Kampf dauern, auch unter den Menschen und den Völ- so wie die Kriegstreiberei sowie überhaupt jene verderbliche Botschaft von der Gleichheit aller Menschen, die einer universellen „Bastardisierung“ Vorschub leistete. Wo immer man den Verhältnissen auf den Grund ging, kam der „Weltvergifter der Völker“ zum Vorschein, der sich gleichsam außerhalb der für alle geltenden Regeln gestellt und folglich jedes Daseinsrecht verwirkt hatte. Es war ein aberwitziges und weithin krankhaftes Weltbild, das die Obsessionen der rassekundlichen Traktatliteratur um die Jahrhundertwende, durchsetzt von eigenen Verdrehtheiten, widerspiegelte. Gemeingut hingegen war es nicht. Zwar gab es im Deutschland der Jahrhundertwende, nicht anders als fast überall in Europa, einen jederzeit abrufbaren Antisemitismus, und die radikalen völkischen Ideologen hatten ihn virulent gemacht, indem sie die Schuld für die nie begriffene Niederlage vom Herbst 1918, die Revolution und die folgende Währungszerrüttung mitsamt dem sozialen Absturz ganzer Schichten den Juden zuschoben. Zählbare Erfolge hatten sie damit vor allem in dem aufgebrachten, von den Tur- AKG J. TORREGANO / SIPA Moderne Barbaren Staatsverbrecher im 20. Jahrhundert FRANÇOIS DUVALIER errichtete in Haiti vom „Großen Sprung nach vorn“ mindestens 30 Millionen Chinesen. mit Hilfe seiner Mördertruppe Tontons Macoutes eine Voodoo-Diktatur. C. SALMANI / CORBIS SYGMA MAO TSE-TUNG opferte allein seiner Idee IDI AMIN terrorisierte zwischen 1971 AUGUSTO PINOCHET putschte in Chile 1973 und ließ tausende politischer Gegner verschwinden. 184 SLOBODAN MILOEVI± zettelte auf dem Balkan vier Kriege an, in denen mindestens 200 000 Menschen starben. d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 SABA ULLSTEIN BILDERDIENST ULLSTEIN BILDERDIENST und 1979 die Ugander und wurde sogar des Kannibalismus verdächtigt. SADDAM HUSSEIN bekämpfte die Kurden mit Giftgas und lässt seine Iraker lieber hungern, als der Uno nachzugeben. ULLSTEIN BILDERDIENST Hitler, Österreicherinnen auf dem Obersalzberg (1937): Verlangen nach einem gebieterischen Willen BUNDESARCHIV KOBLENZ bulenzen der Räteherrschaft Anfang 1919 kenntnisbuch „Mein Kampf“ distanziert: vor den Chefredakteuren der deutschen mitgenommenen München. Neuere For- Es sei ein Fehler gewesen, erklärte er, so Presse versichert, die mangelnde Kriegsschungen legen nahe, dass selbst Hitler viele eigene Zielsetzungen so frühzeitig lust der Deutschen habe ihn durch die Jahdie Juden damals erst als den nützlichen preiszugeben, und über sein so genanntes re hin zu Maskeraden der Friedwilligkeit Feind ausmachte, der es ihm ermöglichte, Zweites Buch, das damals unveröffentlicht gezwungen. Natürlich ist das keine halbwegs zureiähnlich wie der marxistische Gegner, alle blieb und erst in den sechziger Jahren beverwirrenden Nöte und Ängste des Ta- kannt wurde, hat er geäußert, er sei „heil- chende Antwort auf die mühevolle Frage nach den Ursachen dessen, was 1933 geges auf einen einzigen, zu mythischer froh“, es zurückgehalten zu haben. Überhaupt war beim Aufstieg Hitlers schah. Aber es liefert eine erste VerständGröße aufgeblähten Widersacher zurückmehr Täuschung im Spiel, als die stand- nisbrücke, wenn man wissen will, warum zuführen. Dennoch hat Hitlers Judenhass bei sei- punktfeste Klugheit von heute sich träu- der tiefe moralische Bruch nicht wahrgenem Aufstieg keine so ausschlaggebende men lässt, aber sicherlich auch viel Be- nommen wurde, den viele heutige BeRolle gespielt, wie im Rückblick oft be- reitschaft, sich täuschen zu lassen, poli- trachter im Machtantritt Hitlers erkennen. hauptet wird, zumal dessen verzwickte Be- tische Verantwortungsscheu und soziale Die Masse der Mitlebenden jedenfalls hat gründungen ganz überwiegend unbekannt Erbitterung. Selbst die Kriegsabsichten, diesen Bruch nicht empfunden. Der Frakblieben. Zu Teilen sind sie zudem erst ge- mit denen Hitler bei einem Teil der jahre- tionsvorsitzende der SPD im Reichstag, raume Zeit nach dem Untergang des Drit- lang gedemütigten Nation noch am ehes- Rudolf Breitscheid, der im Konzentraten Reiches von den Historikern aus bis ten auf Widerhall rechnen konnte, hat er tionslager Buchenwald endete, klatschte dahin nicht zugänglichen oder noch nicht die längste Zeit hintangehalten. Rund ein am Mittag des 30. Januar 1933 begeistert in entstandenen Quellen erschlossen worden, Jahr vor Ausbruch des Krieges hat er sei- die Hände, als die Nachricht von der Erjedenfalls hat von den Zeitgenossen kaum ne Verharmlosungstaktik eingeräumt und nennung Hitlers zum Reichskanzler eintraf; endlich habe man nicht jemand die mörderischen mehr gegen die Phantome Konsequenzen erkannt, die Boykott gegen Juden in Berlin (1933): Schwache Dämme der Moral leerer Versprechungen zu daraus folgten. kämpfen, mit denen Hitler Als mit den Septemberdie Öffentlichkeit aufrühre, wahlen von 1930 erstmals die innerhalb weniger Monate Chancen zum Machtgewinn werde er sich blamieren und in greifbare Nähe rückten, abtreten. hat Hitler sogar die antisemiNahezu niemand war sich tischen Parolen, die bis dahin auch nur halbwegs bewusst, eine Art Kennung seiner was kommen würde. Zwar Redeauftritte gebildet hathatte Hitler nach allen Seiten ten, zurückgestellt oder doch wilde Drohungen verbreitet, dem Radauwesen seiner Unund viele hätten gewarnt terführer überlassen. Und sein können. Aber Politikernach der Machtübernahme worte waren in dem aufgehat er sich bezeichnenderwühlten, seelisch zermürbweise sogar von seinem Be185 ULLSTEIN BILDERDIENST Titel Hitler, Gehilfen im Führerhauptquartier (1942)*: Durch persönliche Verstrickung jeden Ausweg abgeschnitten ten Lande billig, und keine schienen billiger als die seinen. Gleichwohl waren er und der „FührerMythos“, den eine einfallsreiche Selbstanpreisungskunst verbreitete, der Gegenstand vieler, oft unklarer Hoffnungen. Doch sie richteten sich keineswegs auf die kontinentweiten Eroberungszüge, die im Nachhinein das Bild beherrschen, auf ein Riesenreich bis zum Ural oder gar die genetische „Flurbereinigung“ in Osteuropa mitsamt den Übermenschenträumen, die durch die Visionen des engeren Kreises spukten. Vielmehr richteten sich die Erwartungen der von Krise zu Krise stolpernden Nation auf weit näher liegende Ziele wie die Überwindung der Arbeitslosigkeit, die Rückgewinnung des Ansehens in der Welt sowie auf die Wiederkehr der in den anarchischen Weimarer Jahren vermissten staatlichen Autorität. Der Anspruch der Hitlerleute, die beiden machtvollsten Strömungen des 19. Jahrhunderts, den Nationalstaat und den Sozialismus, in einem zukunftsweisenden dritten Weg jenseits von Kapitalismus und Kommunismus zu versöhnen, weckte über* Oberstleutnant Eckhard Christian, Generäle Alfred Jodl, Wilhelm Keitel. dies beträchtliche Hoffnungen auf die Beseitigung der noch immer starren gesellschaftlichen Schranken, auf größere soziale Gerechtigkeit und die Einlösung zahlreicher unerledigter Sehnsüchte nach einem Wandel der Verhältnisse. Die Vorgänge von 1933 bleiben unverständlich, wenn man aus Hitlers Programm die Ankündigung einer Schreckensherrschaft herausliest und, wie Fritz Stern dargelegt hat, die „Versuchung“ nicht begreift, die er für eine im Wirtschaftschaos versinkende Gesellschaft bedeutete. Aber auch Zweifel und Besorgnisse gab es mehr, als das meist grobkörnige Bild von heute wahrhaben will. Die frühzeitig einsetzende Verfolgung von Regimegegnern, die Gewaltakte auf den Straßen und die schon vier Wochen nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler verfügte Aussetzung wichtiger Grundrechte schufen Beklemmungen, die selbst von der pausenlos erzeugten Feierstimmung der neuen Machthaber, dem geputschten Jubel mit den Parolen von nationalem Erwachen und Fahnen heraus! nicht zum Schweigen gebracht werden konnten. Doch die in den Jahren der untergehenden Republik eingetretene Verwilderung des politischen Kampfes mit den bürgerkriegsähnlichen Straßenschlachten und den „Blutsonntagen“ hatte weithin die Bereitschaft erzeugt, das rücksichtslose Durchgreifen als Zeichen der endlich in ihr Recht zurückkehrenden Staatsgewalt zu deuten. Überhaupt war die „Machtergreifung“, wie es dem alsbald in Umlauf gebrachten paradoxen Begriff der „legalen Revolution“ entsprach, ein komplexer, in oftmals konfusem Stimmungsdurcheinander wahrgenommener Vorgang, und erst allmählich haben die rasch spürbaren, mit ungläubigem Staunen wahrgenommenen Erfolge des Regimes das große Überlaufen bewirkt. Weder in der Geschichtsschreibung noch in der Literatur hat der Gefühlszwiespalt, der viele erfüllte, bislang eine annähernd zutreffende Darstellung gefunden. Jedenfalls haben die Deutschen sich damals nicht, dem noch immer weit verbreiteten Bild entsprechend, wie Richard III. entschlossen, gleichsam über Nacht vom rechten Weg abzugehen und zum Bösewicht zu werden. Eben darauf freilich liefen die ersten, schon während des Krieges entwickelten Theorien über den Aufstieg Hitlers hinaus. Verschiedentlich sind lange Ahnenreihen konstruiert worden, die den Diktator zum Vollender einer in einigermaßen grauer Vorzeit mit Arminius dem Cherusker einset- Hitlers Bedeutung ist mit seinem Ende von Jahr zu Jahr gewachsen. 186 d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 phe des „faustischen“ Prinzips oder als apokalyptische Endfigur der Moderne gesehen wurde. In ähnliche Ungereimtheiten führte die bald zum Glaubenssatz erhobene kommunistische Auffassung, die an die Kominternformel vom Dezember 1933 über „die am meisten reaktionären, chauvinistischen, imperialistischen Elemente des deutschen Finanzkapitals“ anknüpfte. Danach war Hitler nichts anderes als der „mühselig hochgespielte und teuer bezahlte Kandidat einer im Hintergrund wirkenden Nazi-Clique“. Wie eine Antwort darauf klang die zur Zeit des Kalten Krieges in Umlauf gebrachte These, wonach der Diktator lediglich eine von Stalin ins Spiel gebrachte Marionette mit dem Auftrag war, die westliche Welt zu zersetzen. Und so noch manches, das meiste abwegig, widerspruchsvoll und an der Wirklichkeit vorbei. Gerade die marxistischen Interpretationen mit ihrer Gleichsetzung von Kapitalismus und „Faschismus“ haben indessen nie erklären können, warum einige Länder wie Großbritannien oder Frankreich jener „faschistischen Überwältigung“ nicht erlagen, der die Weimarer Republik zum Opfer fiel. Selbst Max Horkheimers viel zitiertes Diktum, wer vom Kapitalismus nicht reden wolle, solle auch vom Faschismus schweigen, trägt nicht weit und ist, wie zahlreiche Äußerungen aus seiner Schule, nur ein gestelzt daherkommender Gemeinplatz. Denn auf den Kapitalismus gehen in der einen oder anderen Form alle Erscheinungen im Europa der Neuzeit zurück, die Demokratie und der Liberalismus, der Wandel der gesellschaftlichen Strukturen und der Lebensformen sowie Marx und der Kommunismus schließlich auch. Im Ganzen leiden alle von einem vorgefassten Ausgangspunkt her entwickelten Theorien über Hitler an der Hilflosigkeit, die schon das Urteil der Zeitgenossen verwirrt hat. Das gilt, mit Unterschieden im Einzelnen, auch für die jüngeren, der sozialgeschichtlichen Richtung entstammen- den Deutungen, die Hitler als bloßen Vereinigungspunkt gesellschaftlicher Strömungen interpretieren, mehr Mittelsmann und Repräsentant übermächtiger Gruppen oder Vorgänge als bestimmender Gestalter. Erhebliches Aufsehen hat insbesondere Hans Mommsen mit seiner waghalsigen These von Hitler als „schwachem Diktator“ erregt. In den Zuspitzungen, zu denen der intellektuelle Streit neigt, war der Historiker Martin Broszat noch einen Schritt weitergegangen, indem er Hitler als „Opfer“ des ihm „von der Propaganda und seinem Volk angedichteten Führer-Mythos“ beschrieb, dessen außenpolitische Zielsetzungen überdies vor allem „metaphorisch“ gemeint gewesen seien, das heißt weniger auf Verwirklichung als auf die Dynamisierung der Gesellschaft angelegt. In alledem ist ein mehr oder weniger eingestandenes Bemühen am Werk, die Person Hitlers aus der Geschichte wegzuerklären, weil sie sich allzu offensichtlich dem Deutungsmuster von der steuernden Macht der Strukturen widersetzt: eine theoriewidrige Erscheinung, die noch einmal die lange überwundene Auffassung von den Männern zu bestätigen scheint, die „Geschichte machen“. Aber weder das Geschehen jener Jahre noch der gegenwärtige Weltzustand sind vorstellbar ohne die Figur Hitlers. Das schließt den Blick auf die seinen Aufstieg befördernden Bedingungen nicht aus, angefangen von den vielfach verharschten mentalen sowie strukturellen Traditionsbeständen über die Konventikel der stillen oder offenen Wegbereiter vor allem aus den alten Machteliten bis hin zu den orien- FOTOS: AKG zenden Politik des Widerstands gegen die zivilisierende Macht des Westens erhoben und die Geschichte des Landes zu einer einzigen Kette von Expansionsakten gegen das friedliebende Europa umschrieben. Das gewaltsame Bild tauchte zumal die Herrscherfiguren der deutschen Vergangenheit in dämonisches Licht und machte sie allesamt, oftmals bis zum blanken Widersinn, zu Vorläufern Hitlers. Doch die weitaus längste Zeit wurde die nicht ohne Mitwirkung der Nachbarn entstandene deutsche Miniaturwelt mit ihrer Vielzahl kleiner, erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts schrittweise zusammengeführter Fürstentümer von biederen, vielfach engstirnigen Landesherren regiert, und einzig Friedrich der Große und Bismarck treten aus der im Ganzen philiströsen Galerie heraus. Obwohl die seriöse Geschichtswissenschaft diese Legenden der Hitlerherrschaft schon bald verworfen hat, wirken sie bis heute nach. Nicht nur der allerdings schlichte General Dwight D. Eisenhower hielt die Deutschen daraufhin für das „synthetic evil“ der Welt, und viele, bis hin zu dem exzentrischen Alan J. P. Taylor, dessen zeitgeschichtliche Darstellungen die britische Vorstellung der deutschen „Vettern“ bis in die Gegenwart prägen, haben der Bemerkung gern zugestimmt. Auch der intellektuell freilich ebenso schlichte Daniel J. Goldhagen ist in seinem Buch über Hitlers willige Vollstrecker dahin zurückgekehrt. Den ungezählten Theorien, die bald nach dem Krieg in zunehmend rascherer Folge erschienen, lag durchweg die Absicht zu Grunde, das unerklärlich Scheinende zu erklären: wie Hitler hatte zur Macht kommen und sie trotz allen offen verübten Unrechts, trotz Krieg und Verbrechen hatte behaupten können. Die ersten Deutungen stellten vielfach überzeitliche, nicht selten metaphysisch gestimmte Zusammenhänge her, sei es, dass Hitler als eine „Strafe Gottes“ für den Allmachtswahn des Menschen, als Katastro- Arbeitslose (1930), Autobahnarbeiter (1933) Alle Welt pries die Vollbeschäftigung 187 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Titel tierungslosen Massen mit ihrer Sehnsucht nach Führung und strenger Ordnung. Aber am Ende führen alle Einzelbefunde immer wieder auf Hitler zurück, und Raymond Aron hat es einmal „idiotisch“ genannt, die Rolle des Diktators herabzudeuten. Das abschließende Wort dazu stammt von dem britischen Historiker Hugh R. Trevor-Roper, und es tut seiner Geltung keinen Abbruch, dass es schon bald nach dem Untergang des Dritten Reiches geschrieben wurde: „Emigranten, marxistische Theoretiker und verzweifelte Reaktionäre haben vorgegeben oder sich selbst eingeredet, dass Hitler selbst nur eine Schachfigur in einem Spiel war, das nicht er spielte, sondern einige andere Politiker oder gewisse kosmische Kräfte. Das ist ein fundamentaler Irrtum. Welche unabhängigen Kräfte immer er benutzt, welch zufällige Unterstützung er sich erborgt haben mag, Hitler blieb bis zum Schluss der alleinige Herr und Meister der Bewegung, der er selbst Leben eingehaucht, die er selbst gegründet hatte und die er selbst, durch seine persönliche Führerschaft, vernichten sollte … Weder das Heer noch die Junker, weder Hochfinanz noch Großindustrie hatten diesen dämonischen, verheerenden Genius jemals in ihrer Gewalt, welche Hilfe immer sie zuzeiten gegeben oder empfangen haben mögen.“ Die womöglich hartnäckigste der Legenden, die um Hitler und seinen Aufstieg gewoben wurden, geht dahin, dass er der große Gegenspieler seiner Zeit gewesen sei und die Zeit, zumindest außerhalb Deutschlands, ihn als ihren Widersacher erkannt habe.Aber die ausländischen Besucher, die, angezogen von dem „faschistischen Experiment“, in wachsender Zahl nach Deutschland kamen, empfanden zumeist mehr Respekt und sogar Bewunderung, als sie später wahrhaben wollten, und unvergessen ist der Hitlergruß hinauf zur Führertribüne, mit dem die französische Mannschaft während der Olympischen Spiele von 1936 in das Berliner Stadion einzog. Alle Welt pries die vermeintliche Befriedung im Innern, die Vollbeschäftigung und die sozialstaatlichen Errungenschaften, die Hitler so überzeugungsvoll im Munde führte. Dahinter verschwanden die Opfer, mit denen die prosperierende Volksgemeinschaft erkauft war, und die Mehrzahl der Besucher hat die brachialen Züge, die sie keineswegs übersahen, auf die den Deutschen eigentümliche Ordnungssucht zurückgeführt. Doch dem genaueren Blick hätte, inmitten der trügerisch arrangierten Idylle, nicht entgehen dürfen, dass Hitlers Unrast weitergespannten Zielen zustrebte als einem autoritären Wohlfahrtsstaat mitsamt seinem verachteten Kleineleuteglück. Kaum einer nahm es wahr. Viel eher schien es, Hitler habe eine Art Zauberformel für ein Zeitalter gefunden, das so und e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 TAURUS-FILM Französische Olympiamannschaft mit Hitlergruß 1936 (Szene aus dem Leni-Riefenstahl-Dokumentarfilm): Respekt und Bewunderung wie Mitte der dreißiger Jahre das bedrückende Konferenzpalaver, das jedem seiner Überrumpelungsmanöver folgte und aus einer immergleichen Mischung von Empörung, starken Worten und mutlosen Gesten bestand. Die ungezählten Offenbarungseide, die damals geleistet wurden, verleiteten Hitler geradezu, seine Zumutungen ständig höher zu schrauben. Als sein wirksamster, wenn auch stummer Verbündeter erwies sich dabei ausgerechnet die Sowjetunion. Die große Angst, die von ihrer unermüdlichen Revolutionsdrohung ausging und im Volksfrontbündnis in Frankreich, im Spanischen Bürgerkrieg oder in der großen „Säuberung“ mit rund einer Million Ermordeten beunruhigendes Anschauungsmaterial bereitstellte, hat Hitler die Gelegenheit verschafft, sich als das „Bollwerk“ und der „Wellenbrecher“ aufzuspielen, zu dem er sich auf einem der Nürnberger Reichsparteitage ausrief. Gleich vielen anderen Besuchern war selbst der britische Geschichtsphilosoph Arnold Toynbee beeindruckt, mit welcher Klarheit und Überzeugungskraft der Kanzler von der „Wächterrolle“ gesprochen hatte, die er für das gefährdete Europa übernommen habe. In dieser Rolle hätte Hitler noch geraume Zeit seine sprichwörtlich „leichten Siege“ erringen und dem Reich eine einzigartige Vormachtstellung auf dem Kontinent sichern können. Doch hatte er zu viel Verachtung für seine bürgerlichen Gegenspieler, die er als „kleine Würmchen“ bezeichnete. Auch brachte er weder die Geduld noch das Augenmaß auf, die für eine solche Politik vonnöten gewesen wären. Vor allem aber wollte er endlich den Krieg. Schon auf der Münchener Konferenz vom Herbst 1938 hatte er sich um den militärischen Konflikt betrogen gefühlt, ob- BAYERISCHE STAATSBIBLIOTHEK verkennbar im Zeichen der Massen, ihrer Orientierungsnöte, ihrem Verbrüderungsbedürfnis und ihrer Glaubenssehnsucht stand, und es bescherte den entschlossenen Hitlergegnern, zumal den Emigranten, immer neue Empfindungen von Bitterkeit und Zorn, wie der deutsche Diktator, nach Thomas Mann, zum „Hätschelkind“ der Epoche wurde. Kaum war Hitler zum Kanzler ernannt, setzte denn auch, auf Grund der gleichen Fehlrechnungen, wie sie den Papens und den Hugenbergs unterlaufen waren, eine Art Wettlauf der Mächte um Abmachungen und Verträge ein, und es gehört zu den Ironien der Geschichte, dass die Sowjetunion und der Vatikan, die von der Physik der politischen Kräfte offenbar mehr als andere verstanden, dabei den Anfang machten. Es folgten Polen und England, und bald hofierte den neuen Mann, dessen Rechtsverachtung längst offenkundig war, ein Land nach dem anderen, als dränge jedes dazu, einen eigenen Beitrag zu Hitlers unverkennbar hervortretender Absicht zu leisten, die europäische Zwischenkriegsordnung über den Haufen zu werfen. Wie fast alle Usurpatoren der Geschichte hatte Hitler seine Machtgewinne weniger der eigenen Stärke als der Schwäche seiner Gegner zu verdanken, ihrem Mangel an Standortbewusstsein, Geschlossenheit und Selbstbehauptungswillen. Das hat das Ende von Weimar ebenso offenbart Hitler in Paris (1940) Schwäche der Gegner In seinen imperialen Tagträumen war kein einziger zivilisatorischer Gedanke. d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 191 BPK Münchener Konferenz (1938)*: Trügerisch arrangierte Idylle wohl inzwischen unstrittig ist, dass er zu diesem Zeitpunkt eine bewaffnete Auseinandersetzung nur wenige Tage lang durchgehalten hätte. „Aber“, klagte er später, „sie haben überall eingelenkt. Wie Feiglinge haben sie allen unseren Forderungen nachgegeben.“ Jetzt war seine Hauptsorge, wie er inmitten der nächsten von ihm entfesselten Krise gestand, dass ihm „noch im letzten Moment irgendein Schweinehund einen Vermittlungsvorschlag vorlegt“. Seine Befürchtung war unbegründet, so dass er wenig später, kaum ein halbes Jahr nach München, in Prag einmarschieren konnte, und sogar als er gleich darauf auch noch die polnische Frage aufwarf, meldete sich kein Vermittler mehr, als habe die Welt endlich begriffen, was seine Schwüre galten. Aber selbst jetzt noch hätten die Mächte, aller begründeten Vermutung nach, mit sich reden lassen, jedenfalls kennt man die Zugeständnisse, auf die sich London vorbereitet hatte. * Regierungschefs Neville Chamberlain (England), Edouard Daladier (Frankreich), Hitler, Benito Mussolini (Italien) mit Außenminister Graf Galeazzo Ciano. Mit dem Moskauer Pakt vom August 1939 hingegen, der ihm das Tor zum Einmarsch in Polen aufsperrte, ging Hitler noch einen Schritt weiter und warf die wichtigste der Voraussetzungen um, die den Westen ein ums andere Mal nachgiebig gestimmt hatten. Jetzt gab er zu verstehen, dass er nicht der unnachgiebige Gegner der kommunistischen Revolution war, als der er sich aufgeführt hatte, sondern der Feind aller. Zugleich enthielt Hitlers Entschluss, den ungeduldig ersehnten Krieg zu beginnen, zwei Konsequenzen von kaum absehbaren Folgen. Die eine war der Verzicht gerade auf jene Politik, die so viel zu seinen Erfolgen beigetragen hatte. Schon seit Ende des Jahres 1937 vermittelt sein Verhalten den Eindruck, als sei er des ständigen Lavierens, der verschlagenen Einverständnisse und falschen Eide überdrüssig und könne es kaum mehr erwarten, zu den primitiven Rezepten des Dreinschlagens zurückzukehren, denen er zu Beginn seiner Laufbahn, als „Held von München“, gefolgt war. Jedenfalls gibt es in den nahezu sechs verbleibenden Jahren seiner Herrschaft kei- ne einzige halbwegs ernst gemeinte politische Initiative mehr von ihm. Auch rhetorisch versteifte er sich zunehmend auf die im Grunde apolitischen Gegensatzpaare von „Sieg oder Vernichtung“, „Weltmacht oder Untergang“. Am Ende steht dann die Antwort, mit der er das Ansinnen des Botschafters Walter Hewel im Frühjahr 1945 beschied, in letzter Stunde eine politische Lösung zu finden: „Politik? Ich mache keine Politik mehr. Das widert mich so an.“ Die andere Folge betraf die Radikalität seiner Einsätze. Als werfe er mit den diplomatischen Rücksichten, die ihm die Umstände so lange abgenötigt hatten, zugleich alle anderen ab, gab er wie befreit jedwede Hemmung auf. Bezeichnenderweise hat er den einzigen schriftlichen Mordbefehl, der von ihm überliefert ist, den im Oktober 1939 unterzeichneten Auftrag zur Tötung von „unheilbar Kranken“, auf den Tag des Kriegsbeginns zurückdatiert. Desgleichen verlegte er, wann immer er darauf zu sprechen kam, seine öffentliche Vernichtungsdrohung gegen die Juden, die tatsächlich vom 30. Januar 1939 stammte, auf den 1. September des Jahres.Annähernd vier Wochen nachdem er, seinen eigenen Worten zufolge, den Krieg „herbeigezwungen“ hatte, beauftragte er Himmler mit der „rassischen Flurbereinigung“ im Osten, zehn Tage später löste er die SS und die Polizei aus der geltenden Gerichtsbarkeit, und so eines nach dem anderen. Der Wille zur Verschärfung trat im Fortgang der Jahre immer ungehemmter hervor, und nicht zuletzt deshalb haben ihm die raschen Triumphe der ersten Feldzüge nur geringe und alsbald schal schmeckende Befriedigungen verschafft. Zeitlebens hatte er in der Vermeidung eines Zweifrontenkrieges eine Art Grundgesetz der SÜDD. VERLAG Deutscher Einfall in die Sowjetunion (1941) Rechenschaftslose Barbarei Titel deutschen Militärpolitik gesehen. Jetzt wandte er sich, kaum dass er den Sieg über Frankreich errungen und Gewissheit darüber erlangt hatte, dass Großbritannien weder zu besiegen noch für seine Weltteilungspläne zu gewinnen war, dem Krieg gegen die Sowjetunion zu. Die ersten Hinweise darauf stammen bereits vom Juni und Juli 1940. Er führte ihn unbarmherzig, mit kalter Grausamkeit und sichtlich glücklich darüber, aller politischen, menschlichen oder gar moralischen Rücksichten enthoben zu sein. Selbst auf die Befreiungsparolen, deren Nutzen ihm seine Umgebung wiederholt vor Augen stellte, verzichtete er, als wolle er sich nach Jahren der Verstellung endlich in seiner ganzen barbarischen Freiheit offenbaren. Am 30. März 1941, knapp drei Monate vor Beginn des Russlandfeldzugs, charakterisierte er die bevorstehende Auseinandersetzung vor nahezu 300 hohen Offizieren aller Waffengattungen als einen „Weltanschauungskrieg“ und „Vernichtungskampf“ gegen ein „asoziales Verbrechertum“, der sich „sehr unterscheiden (werde) vom Kampf im Westen“. Und rund zwei Wochen nach dem 22. Juni 1941, dem Tag des Angriffs, bezeichnete er es als Ziel des Krieges, eine „Volkskatastrophe“ im Osten herbeizuführen. Zwar waren die Spitzen des Militärs, wie die Berichte ausweisen, über Hitlers Ansprache zum größten Teil tief bestürzt. Aber keiner protestierte oder entschloss sich zum Rücktritt, so dass der 30. März 1941 tatsächlich zu einem schuldbegründenden Datum geworden ist. Was bis dahin als „Irrtum“ oder mit der Berufung auf Eid und Gehorsam hingehen mochte, wurde jetzt, zumindest im Blick auf die Anwesenden, zur Komplizenschaft, und einiges spricht dafür, dass Hitlers Eröffnungen ebendiese Absicht verfolgten: zunächst das Führungspersonal und allmählich, Schritt für Schritt, die gesamte Nation durch ein gewaltiges Verbrechen unwiderruflich an sich zu binden. Verschiedentlich hat er beklagt, dass die Deutschen für die ihnen aufgetragene grausame Mission psychologisch noch nicht gewappnet seien, und vermutlich hat der Zwang, seine „Zyklopenaufgabe“ unter Tarnvokabeln wie „Evakuierung“,„Sonderbehandlung“ oder „Endlösung“ zu verbergen, ihm lange Zeit zugesetzt. Umso nachdrücklicher ergriff er mit dem Feldzug gegen die Sowjetunion die Möglichkeit, Mitwisser und Mittäter zu schaffen und ihnen durch das Bewusstsein persönlicher Verstrickung jeden Ausweg abzuschneiden. Die Überlegung stand ersichtlich hinter der in Russland erstmals verfolgten Praxis, die Massaker der Einsatzgruppen mit der operativen Kriegführung zu verknüpfen. In zahlreichen kritischen Lagen hat Hitler beharrt, man müsse sich „die Rückd e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Titel ULLSTEIN BILDERDIENST dung befestigter Auffangstellungen hinter der Front sowie zahlreiche weitere Entscheidungen bis hin zur Ardennenoffensive, mit der er der an der Oder aufmarschierten Roten Armee den Weg nach Berlin freigab. Den Hinweis eines seiner Stabsoffiziere auf die unverhältnismäßig hohen Verluste an jungen Offizieren beantwortete er mit dem Bemerken: „Was wollen Sie? Dazu sind die jungen Leute doch da!“ Spätestens mit der Wende des Krieges jedenfalls drängt sich der Eindruck auf, dass Hitlers Vorstellung mehr und mehr von den Bildern eines von ihm selber beförderten und inszenierten Untergangs beherrscht war. Seit 1939 hatte er immer wieder die Alternative von Gefangene deutsche Soldaten nach der Schlacht von Stalingrad (1943): „Weltmacht oder Untergang“ „Weltmacht oder Unterzugslinien selbst abschneiden … dann tiger vorangetrieben hat, je aussichtsloser gang“ beschworen, und nichts erlaubte den kämpfe man leichter und entschlossener“. die militärische Lage wurde. Nicht zufällig Schluss, dass er den Untergang weniger Mit Vorliebe hat er dabei die Metapher von setzte die Radikalisierung der Judenver- buchstäblich gemeint habe als seinen nunden „abgebrochenen Brücken“ benutzt folgung Ende 1941 ein, als er zu der Einsicht mehr in Stücke gehenden Weltmachtehrund einmal einen Hinweis auf die Leiden gelangt war, dass mit der unvermittelt her- geiz. Von dieser Absicht geleitet, hat er im der Zivilbevölkerung während des Luft- eingebrochenen Winterkatastrophe vor Herbst 1944, als die gegnerischen Armeen kriegs mit dem Bemerken abgetan: Jede Moskau sein gesamtes strategisches Kon- sich den deutschen Grenzen näherten, die Praxis der „Verbrannten Erde“ auch für zerstörte Stadt sei eine Brücke weniger. zept gescheitert war. Zur gleichen Zeit erklärte er den Verei- das Reichsgebiet angeordnet und verlangt, Darüber hinaus hat er den Zusammenhang zwischen solchen Maximen und den Mas- nigten Staaten den Krieg, auch dabei unter dem Feind lediglich eine Zivilisationswüste senverbrechen selber hergestellt. „Der jü- anderem von der Absicht geleitet, den letz- zu hinterlassen. Seither beherrschte ihn einzig der Wildische Hass (sei) sowieso riesengroß“, er- ten Ausweg zu verbauen, und sei es um klärte er Anfang 1943, so dass „kein Zurück den Preis der Selbstvernichtung. Bezeich- le, das Ende hinauszuzögern – weniger um auf dem einmal eingeschlagenen Wege“ nenderweise stammt auch Hitlers erste die eigene Lebensfrist zu verlängern, als Drohung gegen das eigene Volk aus jenen um den doppelten Vernichtungsvorsatz so möglich sei. Zwar liegt bis heute kein eindeutiger Be- Tagen. Er werde ihm, erklärte er am 27. lange irgend möglich zu vollstrecken: den leg für Hitlers Entschluss zur Massenver- November 1941 während eines Empfangs, gegen die Juden und gegen das eigene Volk, nichtung der Juden vor. Aber die daraus „keine Träne nachweinen“, wenn es in die- das sich in dem großen Schicksalskampf verschiedentlich hergeleitete Folgerung, die sem Krieg „durch eine stärkere Macht zu als das schwächere erwiesen und folglich verdientermaßen zum Untergang verurschon in Polen betriebene und mit dem Grunde ginge“. Als nach den Zwischenerfolgen des teilt hatte. Er ist damit weit gekommen. Krieg gegen die Sowjetunion systematisierNach allem belegbaren Ermessen hat er te Mordpraxis gehe nicht auf ihn zurück, Sommers 1942 die Gewissheit der Niedersondern sei eine Konsequenz aus Zu- lage unabweisbar wurde, ist er denn auch sich am Ende keineswegs als gescheitert ständigkeitschaos und Eigenmacht irgend- zusehends dazu übergegangen, seine An- betrachtet, sondern noch im Untergang nur welcher Unterführer, verkennt Hitlers Ex- kündigung wahr zu machen, dass „das die Bestätigung des „Urgesetzes“ vom Sieg tremismus und dass das Grundprinzip sei- deutsche Volk diese Schmach nicht über- des Stärkeren und der Vernichtung des ner Herrschaft keine Unternehmung von leben“ werde. Allen operativen Entschei- Schwachen gesehen. Einige Militärs aus solchem Gewicht duldete, die über seinen dungen war seither auch das Motiv ent- seiner Umgebung haben sich gelegentlich Willen hinwegging. In seinem Tagebuch hat täuschten Hasses gegen das eigene Volk darüber verwundert, dass er kein beGoebbels festgehalten, dass „der Führer“ untergemischt. Es hat schon die Katastro- schreibbares Kriegsziel gekannt habe. Aber phe von Stalingrad mitbewirkt, desgleichen Krieg war, wie er es sah, zu aller Zeit, und auch in dieser Frage „der radikalste“ sei. Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass Hitler den von Hitler wider alle Vernunft auf- vielleicht deutet die Tatsache, dass er ihn seine Ausrottungspläne umso unnachsich- rechterhaltenen Einspruch gegen die Bil- erst nach Osten, dann nach Norden, schon Hitler wollte die gesamte Nation durch ein gewaltiges Verbrechen unwiderruflich an sich binden. 194 d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Titel einen Monat später nach Westen und schließlich nach Süden führte, ehe er sich wieder dem Osten zuwandte, etwas von der Richtungsbeliebigkeit seines Aggressionswillens an. Selbst für „seinen“ Feldzug gegen die Sowjetunion und den „unendlichen Raum“, den er dort erobern wollte, besaß er kein Konzept. Eine Zeit lang geisterte das Bild eines vorindustriellen „Gartens Eden“ durch seine Tischtiraden mit einer „ewig blutenden Grenze“ weiter im Osten, an der die Auslese der Besten getroffen und die Rasse im Dauerkampf gehärtet werden sollte. Aber auch vom Durchstoß zu den Ölquellen des Nahen Ostens und sogar vom Griff nach Indien war die Rede, wo er gegen das Empire antreten wollte, das sich seinem Werben so spröde widersetzt hatte: alles nur wilde, vom Augenblick eingegebene Reizvorstellungen, überspannt, verblendet, infantil, und charakteristischerweise taucht in den imperialen Tagträumen, denen er sich wieder und wieder überließ, kein einziger zivilisatorischer Gedanke auf, durchweg geht es lediglich um Eroberung, Versklavung und Ausbeutung sowie um das Weiterhasten zu neuen Eroberungen, neuen Versklavungen und neuen Ausbeutungen. Anderes zählte daneben nicht. „Schlagen, schlagen und wieder schlagen“, hat er in einer Rede vom November 1942 als das „eine Prinzip“ ausgegeben, dem er lebenslang gefolgt sei. Auf diese Weise hat er ein beispielloses Zerstörungswerk angerichtet. In der Mischung aus Demagogie, Kälte und Phantastik, die ihm eigen war, hat man vielfach den Ausdruck einer tief gestörten, krankhaften Verfassung gesehen. Weitaus beunruhigender ist aber, dass er für seinen Furor des Vernichtens und Zugrunderichtens ungezählte Helfer ohne jede psychische Deformation fand. Bei Christopher Browning kann man nachlesen, wie „ganz normale Männer“ eines Polizeibataillons, Familienväter mittleren Alters, die in diesem Fall zumeist aus dem Hamburger Arbeitermilieu stammten und keineswegs ideologisch eingeschworen waren, den Befehl erhalten, die Juden einer kleinen Ortschaft im Distrikt Lublin umzubringen, und wie sie anfangs entsetzt, der Kommandeur vor der angetretenen Einheit sogar mit tränenerstickter Stimme, reagieren, doch dann bereitwillig das Mordgeschäft verrichten. Dergleichen Vorkommnisse sind, bei allen Unterschieden im Einzelnen, ungezählt. So dass das Erschrecken, das sich mit dem Namen Hitlers verbindet, nicht einzig auf seine Person zurückzuführen wäre als vielmehr auf die Wahrheit, die er über den Menschen und die jederzeit einsetzbare Neigung der meisten zu rechenschaftsloser Barbarei aufgedeckt hat. Die Unruhe, die diese Einsicht bereitet, würde die merkwürdige Tatsache erklären helfen, dass Hitlers Bedeutung mit seinem Ende von Jahr zu Jahr gewachsen ist. Seit er bei der Einnahme Berlins in einem Bombentrichter nahe dem Bunkerausgang der Reichskanzlei, eingestampft in Trümmer und Unrat, halb verkohlt aufgefunden wurde, ist der Schatten, den er wirft, ständig tiefer und länger geworden und das Grauen über seine Untaten unablässig größer. Desgleichen haben die Opfer, die seinen Weg säumen, all die Abermillionen aus dem Gedächtnis der Welt verdrängt, die andere Gewalthaber vor, neben und nach ihm ermordet haben. Längst gibt es eine Art Orthodoxie mit der Sünde wider den Geist. Denn auch die negative Theologie kennt ihre Gesetze und verlangt, keine anderen Teufel neben dem einen zu haben. Als Hans Magnus Enzensberger während des Golfkriegs den irakischen Diktator Saddam Hussein als „Hitlers Wiedergänger“ beschrieb, der keineswegs „einzigartig“ gewesen sei, und einen Zusammenhang zwischen den deutschen und den irakischen Massen, ihrer Blindheit und selbstzerstörerischen Ergebung herstellte, stieß er auf nahezu ungeteilte Empörung, als habe er nicht eine bedenkenswerte Überlegung angestellt, sondern einen Akt der Häresie begangen. Er bestand sichtlich in der perspektivischen Erweiterung des in die eigenen NATIONAL AIR AND SPACE MUSEUM Zerbombtes Nürnberg (1945): Von Hitler selber beförderter Untergang ULLSTEIN BILDERDIENST Hitler, Hitlerjungen in Berlin im März 1945: Letztes Aufgebot schwach die Dämme aus Kultur, Moral und Rechtsnormen sind und dass sie verstärkter Befestigung bedürfen. Die Gegenwart hat dieses eigentliche Vermächtnis jener Jahre nie angenommen. Sie baut stattdessen die zivilisierenden Schranken unablässig ab und beglückwünscht sich zu ihrer Lust am Ordinären, zur Missachtung von Tabus und der Verhöhnung hemmender Normen. Allenfalls aufkommende Besorgnisse beschwichtigt sie mit der Behauptung, wie fremd und folglich chancenlos sich ein Wiedergänger Hitlers in einer Zeit der extremen Individualisierung und der weltumspannenden Vernetzung ausnähme. Doch gibt es in der Anthropologie keine Anachronismen. Das Stück beginnt jeden Tag neu. Nur die Kulissen und die Stichworte wechseln, und niemand kann sich einreden, dass eine Figur wie Milo∆eviƒ der letzte Akteur auf dieser Bühne ist. Zur weiterwirkenden Bedeutung Hitlers gehört am Ende auch, dass er eine Vorstellung des Bösen in die Welt zurückgebracht hat, die lange Zeit als hinterwäldlerisches, „ins Fabelbuch geschriebenes“ Denkbild galt: das „so genannte Böse“, wie die kundigen Köpfe wissen, mit dem Teufel als Panoptikumsfigur und Kinderschreck. Aber offenbar benötigt der Mensch für die Schrecken, von denen die Geschichte wie das Leben voll sind, einen leibhaftigen Begriff und gibt sich nicht zufrieden mit den Abstraktionen, die unterdessen dafür stehen: als sei, was einst „das Böse“ hieß, nur die Funktion fehlgelaufener Sozialisationsprozesse, gesellschaftlicher Benachteiligungen, „MarginalisieB. BOSTELMANN / ARGUM Klischees vernarrten Deutungsschemas. Abweichend davon sah Enzensberger ein anthropologisches Problem und fragte, was es mit der Suggestion erkennbar katastrophischer Führerfiguren und ihres Untergangsfiebers auf sich habe, was mit den kollektiven Kränkungen sowie mit dem Verlangen, sie von einem Erzfeind her erklärt zu bekommen, und selbst mit der immer neuen Rührung bei Diktatorenhänden auf Kinderköpfen. Man kann noch weitergehen und herauszufinden versuchen, woher selbst in hoch entwickelten Nationen das Hordenglück unter flatternden Fahnen, bei Gemeinschaftsgelöbnissen oder vor rußigen Eintopfküchen kommt, wie die totalitäre Sehnsucht überhaupt entsteht und ob vielleicht ein Rest davon die letzten kampfbesessenen deutschen Soldaten beseelte, die im Frühjahr 1945 für ein erkennbar nicht geheures Regime in den Tod gingen? In den Lagern des Gulag hat man Gefangene weinen sehen, als Stalin starb. Fragen über Fragen. Sie drängen die Überlegung auf, ob das nach wie vor herrschende Menschenbild der Aufklärung je etwas anderes war als gleichsam erlauchte Literatur, und mit Hitler, wenn er denn die Symbolfigur der totalitären Epoche ist, seine Widerlegung gefunden hat. Zwar war die Aufklärung eine vielgesichtige Erscheinung und weniger eine halbwegs einheitliche Gedankenrichtung als ein großes, durch hochherzige Erwartungen verbundenes Stimmendurcheinander. Aber bewahrt und ins allgemeine Bewusstsein eingegangen ist daraus die Vorstellung, dass der Mensch von Natur aus gut, einsichtig und vernunftgeleitet sei und, einmal über sich belehrt, das selbstbestimmte Dasein will. Dem anhaltenden, freilich schon von Zweifeln angefochtenen Optimismus dieses Menschenbildes hat Hitler ein Ende gemacht. Wie keiner der demagogischen Machthaber des Jahrhunderts hat er das Verlangen der „einsamen Masse“ nach einem gebieterischen Willen, nach Gemeinschaft, Dramatik, Hingebung und in alledem nach einem fremdbestimmten Dasein aufgedeckt. Die meisten, heißt es bei Alexis de Tocqueville, fürchteten die Vereinsamung mehr als alles andere und nähmen dafür Täuschung und Wahn in Kauf. Es kann kein Zweifel sein, dass diese Einsicht nach wie vor zutrifft. Zwar gibt es die Ängste und Ressentiments nicht mehr, die so viel zu Hitlers Aufstieg beigetragen haben. Aber andere sind an ihre Stelle getreten, angefangen vom Schwinden des Geborgenheitsgefühls unter dem gewohnten Dach des Nationalstaats über die Migration bis hin zur Globalisierung, und jede dieser Entwicklungen rührt an eingewurzelte Instinkte. Zur Hinterlassenschaft Hitlers gehört ein Bewusstsein davon, wie leicht sie mobilisiert werden können, wie d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 rungen“ und was sich sonst noch dazu sagen lässt. Im Grunde laufen alle solche Deutungen auf den Versuch hinaus, das idealisierte Menschenbild der Aufklärung durch die Zeit zu retten. Aber das zurückliegende Jahrhundert hat es widerlegt und eine Ahnung davon vermittelt, dass es das Böse als reale Macht gibt, wie immer man es nennen mag. Das ist Hitlers noch immer verleugnetes Vermächtnis. Es ist in einer Vielzahl von Erscheinungen sichtbar geworden, und Hitler hat ihm lediglich den einprägsamsten Ausdruck gegeben. Damit hat womöglich zu tun, dass der Mensch sich in ihm eine zeitgerecht umgeformte Gestalt des Bösen zu erschaffen sucht. Das würde sein auffälliges Nachleben erklären, für das er als Person in seiner Nichtigkeit und Leere nicht den geringsten Anhalt hergibt. Auch lieferte es eine Begründung dafür, warum er in Debatten, Exorzismen und Mahnmalen gegenwärtiger ist als irgendein anderer Gewaltherrscher der Epoche und dem Bewusstsein der Gegenwart noch immer näher rückt. Der Autor Joachim Fest, 72, ist Historiker, vielfach ausgezeichneter Publizist und ehemaliger Mitherausgeber der „FAZ“. Seine 1973 erschienene „Hitler“-Biografie wurde in 20 Sprachen übersetzt und erreichte eine Gesamtauflage in Millionenhöhe. In einer neuen Biografie beschäftigt sich Fest mit dem Rätsel Albert Speer, Hitlers Architekten und Rüstungsminister. 197 Titel SPIEGEL-GESPRÄCH „Europa – ein einmaliges Modell“ B. BOSTELMANN / ARGUM SPIEGEL: Mr. Garton Ash, wer ist der bedeutendste europäische Staatsmann am Ende dieses Jahrhunderts? Garton Ash: Václav Havel, für mich immer noch eine leuchtende Gestalt. Er hat eine überzeugende Vision von einer fundamental liberalen Ordnung für Europa und darüber hinaus. Er denkt in langfristigen Perspektiven, was sonst kaum jemand in Europa tut. In diesem Sinne war auch Helmut Kohl ein Staatsmann. SPIEGEL: Welche Vision schreiben Sie ihm zu? Timothy Garton Ash lehrt Zeitgeschichte am St. Antony’s College in Oxford und gilt als einer der besten Kenner vor allem der osteuropäischen Geschichte und Politik. 1990 erschien sein Buch „Ein Jahrhundert wird abgewählt“, zur Buchmesse dieses Jahr „Zeit der Freiheit. Aus den Zentren von Mitteleuropa“ (Carl Hanser Verlag, München; 500 Seiten; 49,80 Mark). Die „Financial Times“ bewertete die Essays von Garton Ash, 44, als „die gewissenhaftesten, bestinformierten und zugleich lesbarsten“ des letzten Jahrzehnts. 198 Garton Ash: Er hatte ein paar große strategische Ziele: die europäische und die deutsche Einigung, Ziele, die er mit großem taktischem Geschick über viele Jahre verfolgt hat. SPIEGEL: Ohne Gorbatschow hätte kein noch so großer Taktiker oder Stratege die deutsche Einheit zu Stande gebracht. Garton Ash: Das ist völlig klar. Aber ich glaube trotzdem: Die deutsche Einheit wäre so nicht gekommen, wenn manch anderer führende deutsche Politiker Bundeskanzler gewesen wäre. SPIEGEL: Warum nicht? Bei Oskar Lafontaine würden wir Ihnen allerdings zustimmen. Garton Ash: Vielleicht nicht nur bei ihm. Ich erinnere mich noch gut an eine Tagung des Bergedorfer Gesprächskreises in Bonn im September 1989. Da sagte Egon Bahr, die Menschen der DDR würden sich ihren Staat nicht nehmen lassen. SPIEGEL: Welche Verdienste soll Kohl an Gorbatschows Kurs gehabt haben? Garton Ash: Gorbatschow hat mir erklärt, wie wichtig es für ihn seit 1987 war, dass Kohl die Bedeutung der deutschen Einigung ihm gegenüber immer wieder herausgestellt hat. SPIEGEL: Sonst weit und breit kein großer Staatsmann? Garton Ash: Im Moment sehe ich sonst keinen in Europa, auch nicht Tony Blair. SPIEGEL: Aber Blair hat doch Visionen, jedenfalls spricht er davon. Garton Ash: Das ist zweierlei. In der Bildungs- und Sozialpolitik hat er aber durchaus ein strategisches Ziel: Er möchte dem Thatcherismus ein menschliches Antlitz geben. SPIEGEL: Wie beurteilen Sie Schröder? Garton Ash: Qualitäten eines Staatsmanns habe ich an ihm noch nicht erkennen können. SPIEGEL: Der Staatsmann Václav Havel konnte immerhin nicht verhindern, dass seine Tschechoslowakei in zwei Staaten auseinander fiel. Garton Ash: Ja, aber das war nicht von ihm verschuldet. Und wichtig ist nicht, ob es zehn Staaten oder hundert gibt, ob sie groß sind oder klein. Wichtig ist, wie sie entstehen und was für Staaten es sind. d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 C. HILS / FOCUS PLUS / XXP Der britische Historiker Timothy Garton Ash über den alten Kontinent an der Jahrhundertwende Kanzler Kohl, Ostdeutsche in Leipzig (1990): „Er SPIEGEL: Ist das auch eine Lehre für den Balkan? Garton Ash: Das ist meines Erachtens eine Lehre aus den neunziger Jahren. Zwischen 1989 und 1999 sind in Europa 15 neue Nationalstaaten entstanden. Das muss an sich nicht schlecht sein, sofern sie friedlich entstehen und demokratisch sind. SPIEGEL: Diese 15 Staaten sind allesamt ethnisch orientierte Nationalstaaten. Ist das nicht rückwärts gewandt, reaktionär? Garton Ash: Ich bin natürlich kein Befürworter ethnischer Nationalstaaten. Aber zur Demokratie gehört auch, dass eine Minderheit den Willen der Mehrheit bereitwillig akzeptiert. Und das tut man lieber, wenn man die gleiche Sprache spricht – leider. Aber das ist nun mal die Richtung der neueren europäischen Geschichte gewesen. SPIEGEL: Belgien und die Schweiz sind interessante Ausnahmen. Garton Ash: Belgien doch immer weniger! So bleibt die Schweiz die einzige echte Ausnahme. Es gibt noch etwas Merkwürdiges: einen Vier-Nationen-Nationalstaat, Großbritannien. SPIEGEL: Wird es ebenfalls zerfallen? Garton Ash: Vor 10 Jahren, geschweige denn vor 20, wäre ein unabhängiges Schottland undenkbar gewesen. In letzter Zeit ist es eine reale Möglichkeit geworden. SPIEGEL: Holen alle diese Nationalbewegungen jetzt nur nach, was wir in Zentraleuropa im 19. Jahrhundert erlebt haben? Garton Ash: Ja, der Begriff „nachholende Revolution“, den Jürgen Habermas 1990 hatte große strategische Ziele, die er mit großem taktischem Geschick verfolgt hat“ geprägt hat, bekommt eine neue Bedeutung. SPIEGEL: Sie haben kürzlich geschrieben: „Es steht zu erwarten, dass Europa nicht fallenden, sondern eher steigenden Spannungen zwischen seinen führenden Staaten ausgesetzt sein wird.“ Was meinten Sie damit? Garton Ash: Das bezog sich vor allem auf die Europäische Währungsunion und ihre Folgen. Meine These ist, dass wir in Westeuropa Anfang der neunziger Jahre die falschen Prioritäten gesetzt haben. Anstatt uns nach dem Fall der Mauer um das größere Europa zu kümmern, haben renden Währungsunion immer eine politische Union vorausgegangen, auch in den Vereinigten Staaten von Amerika oder in Deutschland nach der Einigung von 1871. Daher, glaube ich, wird es zu steigenden Spannungen kommen. SPIEGEL: War die Währungsunion nicht zwingend, wenn man der europäischen Wirtschaft im globalen Wettbewerb bessere Chancen geben wollte? Garton Ash: Das war sicherlich der funktionalistische Ansatz – Vervollständigung des Binnenmarktes. Aber im Grunde war die Währungsunion eine eminent politische Entscheidung, sie war im Kern der Preis, den Deutschland für Frankreichs Einverständnis zur deutschen Einigung gezahlt hat. SPIEGEL: Wenn sogar das schon geregelt werden konnte – welche Art Spannungen befürchten Sie dann? Spannungen unter den Regierungen oder zwischen den Völkern? Garton Ash: Wenn in einer Rezession in irgendeinem Land die Arbeitslosigkeit explodiert, wird todsicher der Ruf ertönen: Daran ist die Europäische Zentralbank schuld! Oder: Daran ist der Euro schuld! Dann haben Sie die Spannungen schon. SPIEGEL: Könnte es nicht eher so sein, dass sich die europäische Wirtschaft – aber nicht nur sie – zunehmend konvergent entwickelt? Dass also ein ausscherender Staat wir die Perfektionierung des westeuropäischen Hauses betrieben, haben ihm sozusagen eine computerisierte Klimaanlage verpasst. SPIEGEL: Das war Ihr großer Staatsmann Kohl. Garton Ash: Gewiss, ich habe ja nicht gesagt, dass Kohls Prioritäten unbedingt richtig gewesen wären. SPIEGEL: Warum war die Klimaanlage so falsch? Garton Ash: Weil wir in Maastricht bastelten, während Sarajevo brannte. Es war vielleicht das Richtige – aber zur falschen Zeit. Im Übrigen: Bislang ist einer funktionie- AFP / DPA Oppositionspolitiker Havel in Prag (1989)*: „Eine leuchtende Gestalt“ * Vor seiner Wahl zum Staatspräsidenten der Tschechoslowakei. 199 Titel JARDAI / MODUS SPIEGEL: Ein neuer Marshall-Plan … Garton Ash: … hilft angesichts der unum- Regierungschefs Blair, Schröder*: Vielstimmiges Europa selbst in größere Schwierigkeiten gerät als die Gemeinschaft der anderen? Garton Ash: Ich wäre froh, wenn ich Unrecht hätte. Ich möchte diese Spannungen natürlich nicht erleben. Ich warne nur vor dem Glauben, dass der Euro an sich schon ein Erfolg sei. SPIEGEL: Gegen das wirtschaftliche Ungleichgewicht der einzelnen Staaten gibt es ja jetzt schon die berühmten Ausgleichsmechanismen, sprich: den Strukturfonds für die südlichen Länder. Garton Ash: Genau da liegt das Problem. Bis jetzt hat beispielsweise der englische Wähler akzeptiert, dass ein bedeutender Teil seiner Steuern nach Wales oder Schottland geht, weil es den Walisern und Schotten schlechter geht. Ob diese Akzeptanz aber bleibt? Und gesamteuropäisch ist sie absolut nicht vorhanden. SPIEGEL: Die von Ihnen so fervent vertretene Erweiterung nach Osten ist unter diesem Gesichtswinkel dann aber besonders fragwürdig, weil die wirtschaftlichen Unterschiede noch krasser sind. Garton Ash: Wenn wir die Ost-Erweiterung nach dem bisherigen Modell der europäischen Integration betreiben wollten, wird sie tatsächlich sehr spät oder überhaupt nicht kommen. Es ist natürlich unmöglich, dass wir den osteuropäischen Ländern Ausgleichstransfers zukommen lassen in dem * Mit den Außenministern Joschka Fischer und Robin Cook auf dem Europäischen Ratsgipfel in Köln. Ausmaß wie den Spaniern, Portugiesen und Griechen. SPIEGEL: Aber die osteuropäischen Länder dort fordern das. Garton Ash: Ich weiß von den entsprechenden ost- und mitteleuropäischen Politikern, dass sie für eine schnelle Mitgliedschaft auch längere Übergangsfristen und geringere strukturelle Transfers akzeptieren würden. Das sollten wir anbieten. Das Entscheidende ist die politische Mitgliedschaft – entscheidend, weil sie auch den weiter weg gelegenen Ländern Osteuropas eine Perspektive gibt. Denn die große Herausforderung des nächsten Jahrzehnts wird nicht in Mitteleuropa liegen, auch nicht in Südosteuropa, sondern in der ehemaligen Sowjetunion. SPIEGEL: Inwiefern eine große Herausforderung? Garton Ash: Nach meinem Dafürhalten könnte die ehemalige Sowjetunion das nächste Jugoslawien sein. SPIEGEL: Nur können wir daran leider gar nichts ändern. Garton Ash: Vermutlich haben Sie Recht. Der „worst case“ ist dort nicht mal eine kommunistisch-nationalistische Machtergreifung, sondern der totale staatliche und gesellschaftliche Zerfall, und der hat schon begonnen. Die Provinzgouverneure und großen Geschäftsleute sind die neuen Feudalherren in einem neuen Regierungssystem: der Kleptokratie.Von ihr muss man sogar den Verkauf geklauter Atom- und Chemiewaffen befürchten. schränkten Herrschaft der Kleptokratie gar nichts. Für einen solchen Plan bräuchte man wie in Westeuropa nach 1945 wenigstens einen Motor, der schon da ist und nur noch Benzin benötigt. Aber ein solcher Motor ist in Russland nicht vorhanden. SPIEGEL: Was also ist zu tun? Garton Ash: Wir sollten uns auf die Politik konzentrieren und konstruktive Kräfte stärken, etwa neue Eliten aufbauen helfen, vor allem in der jüngeren Generation. SPIEGEL: Der Westen hat für die Menschenrechte in Bosnien, im Kosovo und sogar in Osttimor interveniert. Müsste er nicht auch gegenüber Moskau auf die Einhaltung der Menschenrechte in Tschetschenien drängen? Garton Ash: Natürlich, ich bin engagierter Befürworter eines liberalen Internationalismus, der keine Doppelstandards zulässt. Wir hätten unsere Stimme bereits eindeutig erheben müssen, als Jelzin zum ersten Mal gegen Tschetschenien militärisch losschlug. Das hat man unterlassen, aber damit Jelzin nicht geholfen und der russischen Demokratie, weiß Gott, schon gar nicht. SPIEGEL: Eigentlich erstaunlich, dass Europa nicht mal dazu in der Lage war, wo doch in den wichtigsten Staaten Sozialdemokraten an der Macht sind. Garton Ash: Wir leben nicht mehr im 20. Jahrhundert, sondern bereits im 21. Eines der wichtigsten Kennzeichen dieses neuen Jahrhunderts ist, dass es „links“ und „rechts“, die große, seit der Französischen Revolution von 1789 bestehende Einteilung nicht mehr gibt. In unserem postideologischen Zeitalter geht es nur noch um verschiedene Versionen des Kapitalismus oder der Demokratie beziehungsweise um bestimmte Problemlösungen. SPIEGEL: Ist das nun das „Ende der Geschichte“? Garton Ash: Der arme Francis Fukuyama muss immer wieder sagen, so wörtlich habe er das nicht gemeint. Aber an der Substanz seiner These ist doch etwas dran – in dem Sinne, dass wir heute eben keine großen ideologischen Alternativen mehr haben. SPIEGEL: Der von Ihnen so genannte Thatcherismus mit menschlichem Antlitz in England – bezeichnet er eine neue Wirtschafts- oder auch eine neue Regierungsform? Garton Ash: Es bedeutet eine Variante des reformierten Kapitalismus. SPIEGEL: Der berühmte „dritte Weg“? Das war ja mal die „soziale Marktwirtschaft“, ein Mittelding zwischen Kapitalismus pur und Sozialismus. Nun scheinen der Abbau dieser sozialen Marktwirtschaft und die „Die Regierungschefs werden auch noch in 10 oder 20 Jahren die wahren Herrscher der Welt sein.“ 200 d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite B. BOSTELMANN / ARGUM P. KASSIN Hinwendung zu Ihrem „Thatcherismus mit menschlichem Antlitz“ auf der Tagesordnung zu stehen. Garton Ash: Ich würde es anders definieren. Ich glaube überhaupt nicht an einen dritten Weg. Es hat einen Traum davon gegeben – das war der Prager Frühling. Der wurde erst 1968 zerschlagen, dann 1989 begraben. SPIEGEL: Aber Clinton, Schröder und Blair sprechen dauernd von ihrem dritten Weg. Garton Ash: Dann ist es eigentlich nur die Marketing-Formel für eine Variante des reformierten Kapitalismus. SPIEGEL: Was wird herauskommen? Garton Ash: Eine soziale Marktwirtschaft am Anfang des 21. Jahr- Russische Soldaten in Tschetschenien (1995): „Wir hätten unsere Stimme erheben müssen“ hunderts, die gegenüber Asien und Nordamerika konkurrenzfähig sein oder der italienische Regierungschef?“, aber etwas tun angesichts der Tatsache, will, wird viele Besitzstände, die es im dann würde ich doch sagen: der britische. dass heute die Megakonzerne und Großdeutsch-französischen Kontinentaleuropa Nicht, weil ich Brite bin, sondern weil die banken das Sagen haben und die Politiker gibt, erheblich abbauen müssen. harte, brutale Knochenarbeit der liberali- nicht mehr Herr ihrer Entschlüsse sind? SPIEGEL: Effizient mag diese Variante ja sierenden Reformen schon von Margaret Garton Ash: Ich glaube nicht, dass George Thatcher getan wurde. sein, aber auch menschlich? Soros, den ich sehr bewundere, die Welt Garton Ash: Wollen wir hoffen. SPIEGEL: Stört es Sie nicht, dass der bri- regiert. Zweifellos gibt es die GlobalisieSPIEGEL: In Frankreich erleben wir im Au- tische Regierungschef auch der nettes- rung, aber immer noch ist die nationale genblick, wie eine relativ unmoderne So- te, freundlichste ist? Als ob das „mensch- koordinierte Politik von entscheidender zialdemokratie unter Lionel Jospin den- liche Antlitz“ in Großbritannien ent- Bedeutung. noch wirtschaftlich erstaunlich erfolgreich wickelter wäre als in Deutschland oder SPIEGEL: Und die Weltbank und der Internationale Währungsfonds? operiert und dabei traditionelle sozialde- Frankreich. Garton Ash: Das ist es natürlich nicht, im Garton Ash: Die sitzen an der 19. Straße in mokratische Werte durchaus hochhält. Garton Ash: Warten wir’s ab. Ich glaube Gegenteil. Es hat im britischen Kapitalis- Washington, D. C. Sie gehören zu diesem mus – da sind wir nahe an Amerika – im- System, und sicher ist das ein hegemonianicht, dass es langfristig gelingt. SPIEGEL: Welches ist denn im Rahmen der mer eine ziemlich elende Unterschicht ge- les Establishment. augenblicklichen sozialdemokratischen geben, die es im Nachkriegskapitalismus SPIEGEL: Und das frei flutende Kapital, das Kontinentaleuropas so nicht ge- heute in Hongkong und morgen in New geben hat. Da haben wir in Groß- York auftritt, ist das etwa ein Mythos? britannien eher Nachholbedarf. Garton Ash: Natürlich nicht. Natürlich SPIEGEL: Also kann Großbritan- könnte Großbritannien zum Beispiel seine eigene Währung gegenüber der Macht der nien doch kein Vorbild sein. Garton Ash: Die Frage ist, ob Kon- Märkte gar nicht verteidigen, das wissen tinentaleuropa wieder weltkon- wir alle. Dennoch werden auch noch in kurrenzfähig werden kann, ohne 10 oder 20 Jahren die Regierungschefs die den Preis des angloamerikani- wahren Herrscher der Welt sein und keine schen Kapitalismus zu bezahlen, noch so große internationale Bank. Die nämlich eine soziale Unterschicht neue Welt wird so ganz neu nicht sein. von 20 bis 30 Prozent der Bevöl- SPIEGEL: Der französische Politologe Jeankerung zu bekommen, die im Marie Guéhenno hat in seinem Buch „Das Elend lebt. Ende der Demokratie“ ausgeführt, dass im Garton Ash (2. v. l.) beim SPIEGEL-Gespräch* SPIEGEL: Begehren diese 20 bis 30 Grunde nicht das Weltkapital die Herr„Europa braucht ein starkes Deutschland“ Prozent bei Ihnen nicht irgend- schaft antrete, sondern die Bürokratie, gewann auf? rade im vereinigten Europa. Ideenkonkurrenz das aus Ihrer Sicht fort- Garton Ash: Ich erinnere Sie an den oft Garton Ash: Ich schätze Guéhenno sehr. schrittlichste politische Modell in Europa? zitierten Satz von Alexis de Tocqueville: Die Politikmüdigkeit der jüngsten Zeit Garton Ash: Wenn die gute Fee zu mir käme Revolutionen brechen nicht aus, wenn es dürfte in der Tat eine Folge des von ihm und fragte: „Wer wären Sie am liebsten, der den Menschen schlechter, sondern wenn beschriebenen Phänomens sein. britische, der deutsche, der französische es ihnen allmählich besser geht. SPIEGEL: Und die Gefahr für die DemoSPIEGEL: Wie immer – muss nicht eine so- kratie? zialdemokratische Regierung gegen eine Garton Ash: Wenn Sie sagen, die Gefahr * Mit Redakteuren Jürgen Leinemann, Dieter Wild und Martin Doerry. solche Verelendung etwas tun? Kann sie durch die Bürokratie sei objektiv zwin- „Anstelle der gemeinsamen europäischen Währung hätten wir eine gemeinsame Armee beschließen sollen.“ 202 d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 SPIEGEL: Wie wird sich England schließlich entscheiden? Garton Ash: Man neigt immer dazu GAMMA / STUDIO X zu sagen – so habe ich es mal von Helmut Kohl gehört –, die Londoner City werde schon bewirken, dass England der Währungsunion beitritt. So mächtig ist aber die City nicht. Ich halte es für durchaus denkbar, dass Blair die Volksabstimmung ansetzt – und sie verliert. Jedenfalls können wir Briten nicht so weitermachen, wie wir es über 40 Jahre lang getan haben: immer abwarten, ob es mit Europa gut geht, und uns dann eventuell als Letzte anschließen. SPIEGEL: Worauf beruht dieser spezifisch britische Attentismus in Bezug auf Europa? Garton Ash: Wir haben ein völlig anderes Rechtssystem, das Common Law, wir haben die Souveränität des Parlaments von Westminster und schließlich unser spezielles Verhältnis zur englischsprachigen Welt. Also mindestens drei große Unterschiede. SPIEGEL: Man hat dieses Jahrhundert das amerikanische genannt. England hat damit keine Schwierigkeiten wegen seiner kulturellen und politischen Nähe zu Amerika. Die Franzosen empören sich fortlaufend über den amerikanischen „Kulturimperialismus“. Die Deutschen finden Amerika einerseits großartig, wollen aber andererseits keine allzu robuste Bevormundung. Wird Europa diese Vielstimmigkeit gegenüber dem Großen Bruder je überwinden? Garton Ash: Diese Vielstimmigkeit wird es noch sehr lange Zeit geben. Aber irgendwie werden wir schließlich auch alle zunehmend Amerikaner, gerade die junge Generation. SPIEGEL: Also wird auch das 21. Jahrhundert ein amerikanisches sein? Garton Ash: Sicherlich sein Anfang. Die USA sind eben eine gewaltige, dreidimensionale Supermacht. Ich sehe nicht, dass etwa China oder Indien in den nächsten 10 oder 20 Jahren dazukämen. Ich sehe auch nicht, dass Europa eine Supermacht würde – muss es ja auch nicht. SPIEGEL: Und das wiedervereinigte große Deutschland? Ist es ein Glück für Europa, dass Deutschland Schwierigkeiten mit seiner inneren Wiedervereinigung hat? Garton Ash: Nein, überhaupt nicht, ich wünsche ihm von Herzen, dass es die wirklich dringende Liberalisierung und Umstrukturierung seiner Wirtschaft schafft. Denn Europa braucht natürlich kein schwaches, sondern ein starkes Deutschland. SPIEGEL: Mr. Garton Ash, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. Landwirtschaft in Polen: „Längere Übergangsfristen, geringere Transfers“ gend, weil die Politik keinerlei Spielräume mehr habe, würde ich dem widersprechen. SPIEGEL: Guéhenno fürchtet vor allem für eine übernationale europäische Demokratie. Garton Ash: Da bin ich seiner Meinung. Da es keinen europäischen Demos gibt, kann es auch keine europäische Demokratie geben. SPIEGEL: Auch keine demokratischen Institutionen? Garton Ash: Es wird eine halb demokratische, indirekt demokratische Regierung geben. Natürlich spielt auch das europäische Parlament eine Rolle. Aber der Schlüssel zur Kontrolle in der EU wird meines Erachtens bei den demokratisch gewählten Regierungen der Nationalstaaten bleiben. SPIEGEL: Ein merkwürdiges Gebilde scheint da zu entstehen. Garton Ash: Wieso eigentlich? Wenn Europa nicht zu einer einzigen demokratischen Polis wird, kann es dennoch ein einmaliges Modell einer freiheitlichen Ordnung sein, eine Mischung aus Integration und permanenter zwischenstaatlicher Kooperation. SPIEGEL: Wie freiheitlich ist so ein Gebilde, wenn beispielsweise in Kroatien ein autoritäres Regime wie das von Herrn Tudjman an der Macht ist. Man kann es ja wohl schwerlich mit Gewalt beseitigen. Garton Ash: Doch. Kroatien ist nicht so groß, und Europa ist nicht so klein, als dass wir nichts machen könnten. Anstelle der gemeinsamen europäischen Währung hätten wir Anfang der neunziger Jahre eine gemeinsame europäische Armee beschließen sollen, dann hätten wir auch den Führer der bosnischen Serben, Radovan Karad≈iƒ, stoppen können. SPIEGEL: Mit dieser Armee? Garton Ash: Ja, natürlich. Karad≈iƒ selbst hat gesagt, dass es nur 10 000 Mann gebraucht hätte, um ihn zu stoppen. Eine Eingreiftruppe von 20 000 oder 30 000 Mann hätten wir doch relativ schnell aufbauen können – und müssen. SPIEGEL: Aber mangels politischen Willens ist doch eine solche europäische Armee noch viel unrealistischer als die Währungsunion. Es wäre eine deutsch-belgischportugiesische gemeinsame Armee, weil England und Frankreich todsicher nicht mitmachen würden. Garton Ash: Ach, wissen Sie, in der Verteidigungspolitik sind Briten und Franzosen heute vergleichsweise bereitwillig, Souveränität zu teilen. SPIEGEL: Wenn es aber auch nur darum geht, eine neue Transportmaschine anzuschaffen und man aus Kostengründen die russische nehmen möchte, schießen die britische und die französische Rüstungsindustrie Sperrfeuer. Garton Ash: Die Probleme wären sicherlich sehr groß, aber nicht größer als jene bei der Vorbereitung der Währungsunion. SPIEGEL: Warum ist es eigentlich für England so viel schwerer, den mit der Währungsunion verbundenen Souveränitätsverlust zu akzeptieren, als für Deutschland oder Schweden? Garton Ash: Weil wir eine andere Geschichte haben und außerdem eine Presse, die, angeführt von einem australischen und einem kanadischen Tycoon, seit mehr als zehn Jahren eine unglaubliche Anti-EuroPropaganda treibt. Doch passen Sie auf: Wir werden in Großbritannien die große Euro-Debatte bekommen. Sie wird die britische Politik in den nächsten drei bis vier Jahren bestimmen. SPIEGEL: Will Blair vielleicht die nächsten Unterhauswahlen sogar vorziehen, um sie mit einem Referendum für die Währungsunion zu verbinden? Garton Ash: In meinen Augen ist seine Strategie eine andere: erst die nächsten Wahlen gewinnen, dann die Frage nach dem Euro stellen. Die Konservativen wollen genau das vermeiden, indem sie den Euro zum Wahlkampfthema Nummer eins zu machen versuchen. d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 ENDE 203 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Gesellschaft Szene H AU P T S TA D T „Hang zur Gemütlichkeit“ Der Ethnologe Bastian Bretthauer, 33, über seine wissenschaftliche Erkundung des Berliner Nachtlebens SPIEGEL: Herr Bretthauer, fünf Jahre lang INTERFOTO haben Sie mit wissenschaftlicher Akribie das Berliner Nachtleben erforscht. Was sind die Vorzüge der Dunkelheit? Bretthauer: Der Mensch als Augentier ist im Dunklen auf seine Sinne zurückgeworfen. Er erlebt intensiver, dass die Natur nachts in die Stadt zurückkehrt, riecht Blumen und hört morgens Vogelstimmen. SPIEGEL: Was haben Ihre Interviews mit Nachtschwärmern noch ergeben? Bretthauer: Die meisten sind Menschen, die mit ihrer Tagesrealität nicht versöhnt sind. Sie kompensieren Unausgefülltheit im Beruf, indem sie nachts in eine andere Rolle schlüpfen. SPIEGEL: Ist das Nachtverhalten von Männern und Frauen unterschiedlich? Bretthauer: Ja. Bei Frauen gibt es immer noch Furcht vor der Dunkelheit. Historisch hat die Nacht den Männern gehört. Sie konnten sich unbescholten bewegen, während Frauen, die nachts allein auf der Straße waren, noch um die Jahrhundertwende als Huren galten. Erst in den Zwanzigern eroberten Frauen sich die Nacht. SPIEGEL: Haben Sie einen Trend im Nachtleben ausgemacht? Chanel (dreißiger Jahre), aktuelle Kollektion MODE Der Duft der Frauen N. MICHALKE hr Vermögen verdanke sie einem alten JerseyPullover, behauptete Coco Chanel in einem ihrer letzten Interviews. Damit sie den Sweater ihres Liebsten über einem Kleid tragen konnte, hatte die 20-Jährige das Kleidungsstück vorn der Länge nach aufgeschnitten, die Kanten mit Borte eingefasst und die Kreation mit Kragen und Schleife gekrönt. Der spontane Einfall enthält schon die beiden entscheidenden Elemente des Chanel-Stils: Lässigkeit und Sinn für verspieltes Dekor. Später kam bei der ehrgeizigen Coco Entscheidendes dazu: ein guter Riecher für den Duft der Frauen. Ihr Chanel No. 5 ist bis heute eines der meistgekauften Parfums. Chanel machte das „kleine Schwarze“ weltbekannt, und ihr Kostüm befreite die Frauen von den Zumutungen einschnürender Kleidung. Wie sich in der bedeutendsten Modeschöpferin des Jahrhunderts Phantasie mit unternehmerischem Kampfgeist, Disziplin mit Sehnsucht vereinte, beschreibt die US-Autorin Janet Wallach in ihrer gründlichen Chanel-Biografie („Coco Chanel – Eleganz und Erfolg ihres Lebens“, KabelVerlag). Bei aller Ehrfurcht unterdrückt Wallach ihr Erstaunen nicht, dass ausgerechnet die autarke Geschäftsfrau Chanel, die ihre Liebhaber unter Künstlern und Aristokraten auswählte, sich zeitlebens nach einem männlichen Beschützer sehnte. Ein Widerspruch ist es nicht: Für Chanel waren Frauen edle Luxusgeschöpfe, die es zu verwöhnen galt. In ihren Worten: „Es ist das Verdienst einer Frau, Frau zu sein.“ Bretthauer Bretthauer: Die siebziger Jahre sind an- gesagt. In vielen Clubs befinden sich Wohnzimmermöbel, die die Besucher bei ihren Eltern hassten. Es spricht für einen Hang zur Gemütlichkeit, ist aber zugleich ironisches Zitat bürgerlicher Behütung. SPIEGEL: Ihre Prognose für Berlin? Bretthauer: Die Szene wird sich aus Mitte herausziehen, weil das Preisniveau dort zu hoch ist. Off-Kultur wird sich nach Friedrichshain oder Treptow orientieren und dort – wie in New York – verfallene Hinterhöfe und Industrieanlagen erobern. INTERNET Schmatzendes Geräusch A merikanische Frauen haben ein neues Hobby: Sie schauen sich Schönheitsoperationen live im Internet an. Inzwischen bieten diverse US-Websites den Service an: Etwa www.online surgery.com, www.celebritydoctor.com und www.adoctorinyourhouse.com senden live aus dem Operationssaal in die Welt. Wurden die Wunder der plastischen Chirurgie vor wenigen Jahren von den gelifteten Patientinnen noch dezent verschwiegen, so entwickelt sich derzeit ein neues Selbstbewusstsein der Skalpellgeschönten. Churchill-Enkelin Arabella, die im Februar äußere Ähnlichkeiten mit ihrem Großvater Winston d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Internet-Seite mit Live-Operation per OP beseitigen will, wird als Star gefeiert. Die Groupies sind treu: „Immer wenn ich den Computer anschalte“, erzählt die New Yorker Studentin Haley Strom, „kriege ich gleich das schmatzende Geräusch abgesaugten Fetts, es ist wunderbar widerlich.“ 207 A. SIEBMANN I U. BEIßEL Gesellschaft Kelly-Familie auf Schloss Gymnich: Singende Altkleidersammlung FA N S Ein Hauch von Woodstock Vor gut einem Jahr kaufte die Musikertruppe „The Kelly Family“ das Wasserschloss von Gymnich bei Köln – nun nerven Horden junger Mädchen die Anwohner. 208 d e r s p i e g e l ihren Fans genannt werden, werfen zu dürfen. Mädchen wie Saskia gibt es weit mehr, als den Bewohnern von Erftstadt-Gymnich bei Köln lieb ist. Seit die Musiker das Anwesen im Sommer vergangenen Jahres kauften, belagern Horden von Kelly-Fans die Einfahrt zum rund 800 Jahre alten Wasserschloss im Zentrum des 4000-Seelen-Ortes. Mangels Toiletten und Duschen verdrücken sich manche in die Vorgärten der Anwohner. Die Fans, fast ausschließlich pubertierende Mädchen, würden sich sogar auf dem Friedhof waschen, klagen Einheimische. Den Anblick von halbnackten Mädchen vor seinem Haus, die sich im Auto umziehen und am Rinnstein Katzenwäsche abhalten, findet Anwohner Patrick Morgen manchmal zwar ganz nett. Nur versteht er nicht, „was die Kids hier eigentlich wollen“. U. BEIßEL D as Schloss steht, kaum zu sehen, hinter hohen Bäumen. Es ist lausig kalt, doch sie versteht: Für ein Autogramm von Roy Black hätte die Frau aus Ludwigshafen in ihren jungen Jahren ja schließlich auch „alles hergegeben“. Darum wartet Gisela Jäntsch jetzt mit ihrer Tochter Saskia, 15, geduldig auf der Straße in Gymnich. Die beiden hoffen, dass bald ein Mitglied der Kelly-Familie herauskommt. Einen ganzen Stapel von Fotos haben sie mitgebracht. Und nach einem Autogramm sehnt sich Saskia doch nun schon seit sechs Jahren. Christina, Sanne und Tina aus Esbjerg in Dänemark haben ihr Zelt auf einer Wiese in der Nähe aufgeschlagen. In dicken Schlafsäcken trotzen sie den eisigen Temperaturen. Die Eltern der 15- und 16-Jährigen glauben, sie wären bei einer Freundin in Köln. Stattdessen hängen sie von morgens bis in die Nacht vor dem Schlosseingang und warten darauf, auch nur mal einen schnellen Blick auf einen der „Kels“, wie Mitglieder der musizierenden Großfamilie mit irischer Abstammung von Clan-Chef Kelly, Fans „Besser als dieser Rap-Krach“ 4 3 / 1 9 9 9 Pickelige Kelly-Jüngerinnen mit Babyspeck werfen schmachtende Blicke durch die hohen Eisengitter, die Musik der Gruppe wird auf mitgebrachten Gitarren gezupft – ein Hauch von Woodstock liegt in der Luft. Gegen Abend braust die männliche Dorfjugend mit aufgemotzten Autos vorbei, denn nirgendwo ist es einfacher, ein Mädchen aufzugabeln. Im Regen, ja selbst bei Minusgraden hat Marianne Krome schon Fans im Schlafsack vor dem Tor gesehen. Sie wohnt 20 Meter von der Schlosseinfahrt entfernt und ist mit ihren Nerven am Ende. Ihre drei Kin- K. HUMMEL Kelly-Fans in Gymnich, Saskia (mit Foto): Schmachtende Blicke durch hohe Eisengitter der könnten nachts nicht in Ruhe schlafen. Sie selbst ist wegen Schlaf- und Konzentrationsstörungen in Behandlung. Ehemann Volker sucht seit Wochen einen Käufer für die Doppelhaushälfte, die nach der Geburt des dritten Kindes zu klein geworden ist. Beim Anblick des Girlie-Lagers vor der Tür winken aber alle Interessenten dankend ab. Dabei lag das Haus einst in der besten Gegend des Ortes. Als die Kromes dort einzogen, war gerade die englische Queen zu Gast auf Schloss Gymnich. Baumeister Johann Balthasar Neumann soll das Barockschlösschen auf den Überresten einer ehemaligen Ritterburg nebenher errichtet haben, während er im nahen Brühl am prachtvollen Schloss Augustusburg arbeitete. Einer der letzten Eigentümer, Jörg Freiherr von Holzschuher. Das Anwesen mit der roten Fassade war von 1971 bis 1990 an den Bund vermietet: 23 edel ausgestattete Suiten und ein 273 000 Quadratmeter großer Park, in dem die ältesten Platanen Deutschlands stehen sollen. Mit der Einweihung des Gästehauses auf dem Petersberg, das näher an Bonn liegt, war es mit der Herrlichkeit vorbei. Das Schloss wechselte in schneller Folge die Besitzer. Bei einer Zwangsversteigerung griffen schließlich die Kellys zu, die wegen ihres Hangs zu altertümlichen Gewändern schon mal als „singende Altkleidersammlung“ verspottet werden: Patriarch Daniel Jerome Kelly, der bei Konzerten bis zu neun seiner Kinder auftreten lässt, erschien im Sommer letzten Jahres im Brühler Amtsgericht und packte als Anzahlung gleich 1,3 Millionen Mark auf den Tisch, der Gesamtpreis: 13,1 Millionen Mark. Seither ist das Schloss der Herren von Gymnich, die zur Kreuzfahrerzeit an der Seite König Barbarossas gefochten haben, zum Wallfahrtsort der Kelly-Gemeinde geworden. „Weil sie bei Konzerten keine Autogramme geben, müssen wir einfach hierher kommen“, erklärt Tanja, 14. Das Mädchen aus Aachen nutzte jeden Tag der zweiwöchigen Herbstferien, um nach Gymnich zu pilgern. Immer wieder gerät die Anhängerschaft am Tor in Bewegung. „Ich hab Paddy gesehen, er fährt auf dem Traktor“, ruft eines der Mädchen, und schon rennen alle zu dem Fleckchen am Zaun, von wo aus sich das Innere des Parks erahnen lässt. Andere klettern in die Bäume, mit Ferngläsern und Fotoapparaten bewaffnet – und werden von den irischen Bodyguards verscheucht. Einige Ältere verfolgen die Kellys per Auto, um Autogramme zu ergattern. „Nach einem Fernsehauftritt in Saarbrücken habe ich mich direkt hinter ihren Bus geklemmt“, erzählt Sandra, 19, aus Kassel. An die Gefahr hat sie dabei nicht gedacht, immer in der Hoffnung, „vielleicht muss einer aufs Klo, und sie halten an einer Raststätte an“. Andere warten nicht das Ende von Konzerten ab, sondern versuchen, vor ihren Idolen in Gymnich zu sein. „Eine regelrechte Rallye“ erlebt Anwohner Krome an solchen Tagen. Wer nach dem Grund ihrer Anbetung fragt, erntet bei den Fans fassungslose Blicke: „Weil sie immer zusammenhalten“, und „weil sie eine richtige Familie sind“, sind die häufigsten Antworten. Viele der d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Teenys, die da mit verklärtem Blick die heile Welt beschwören, haben die Kellys zu ihrer Ersatzfamilie gemacht, weil die eigene zerbrochen ist. „Meiner Mutter ist es völlig egal, wo ich übernachte“, erzählt die 15jährige Maike aus Passau. „Hier gibt’s süße Jungs“, sagt das Mädchen strahlend, vor allem aber hat sie schon mit „Kathy und Joey gesprochen“, zweien aus der Kelly-Schar. Dass Kathy ihr bei dieser Gelegenheit ein „Verpiss dich!“ zugerufen habe, erzählt sie erst später. Sie versteht die zweitälteste Kelly-Tochter ja, die mit Sohn auf dem Schloss wohnt: „Die Leute wollen doch auch ihre Ruhe haben.“ „Kathy hat bestimmt nicht ,Verpiss dich‘ gesagt, die Kellys sind nett zu uns Fans“, mischt sich Birte aus Köln ein. Die 17-Jährige weist sich als Kelly-Expertin aus: „Ich habe alle ‚Bravo‘-Artikel gesammelt und war auf fast allen Konzerten.“ Zum Beweis zieht sie drei dicke Fotoalben raus, andächtiges Schweigen macht sich breit. Fotos einzelner Kellys werden zu zwei Mark das Stück gehandelt. Fast alle Fans tragen dicke Alben mit sich herum – aber Birte hat sogar Autogramme von Paddy, Maite, Joey und Kathy, die von den anderen nun wie Reliquien betrachtet werden. Abseits von den Mädchentrauben macht es sich Karl-Jürgen Ludewig aus Duisburg in einem Campingstuhl bequem. Tochter Angela, 16, hat sich den Ausflug zu den Kellys mit einem Sieg im Cart-Rennen verdient. Auf dem Weg nach Gymnich hat sie morgens bei Saturn in Köln auch noch ein andernorts vergriffenes Video der Gruppe erstanden, während sich der Papa mit Westernsongs eingedeckt hat. „Die Musik der Kellys“, meint er, „ist nicht mein Fall. Aber 209 immer noch besser als dieser Rap-Krach.“ Außerdem sei er froh, dass sich seine Angela eine Gruppe ausgesucht hat, die nicht durch Drogen und andere Exzesse auffällt. Zudem sind Kelly-Fans treu – weit mehr, als den Gymnichern lieb ist. Als der Ansturm begann, suchte Ordnungsamtsleiter Adolf Bönsch Rat beim Jugendamt. „Das geht vorüber“, beruhigten ihn Kollegen und sollten sich damit gewaltig irren. Dabei hätten die Erftstädter gewarnt sein können. Aus Köln war die Mentalität der Fans längst bekannt. Die Kellys, die in den siebziger Jahren als Straßenmusiker angefangen haben, bewohnten dort das Hausboot „Loreley“ – und ihre Fangemeinde campierte jahrelang vor dem Boot am Rheinufer. Zum Ärger der Gymnicher Stadtväter trägt bei, dass die Kellys, die einen Jahresumsatz von 40 Millionen Mark machen, nur wenig Steuern in der finanziell arg gebeutelten Stadt lassen. Denn außer dem Vater ist kein Mitglied des Clans in Erftstadt gemeldet, die Musikfirma Kel-Life sitzt in Köln. Die Verwaltung will deshalb jetzt den Nachweis führen, dass viele Kellys in Wahrheit auf dem Schloss leben und somit dort steuerpflichtig sind. „Auch Künstler müssen sich ordentlich anmelden“, verlangt Bürgermeister Ernst-Dieter Bösche. Einfach wird das nicht. „Eine Familie, die ihr ganzes Leben lang gewandert ist, lässt sich nicht in unsere Normen pressen“, sagt sein Kollege Bönsch. 125 000 Mark gibt die Stadt im Jahr für die Kellys aus. Zwei Halbtagskräfte wurden eingestellt, die dafür sorgen sollen, dass ab 22 Uhr Ruhe vor dem Schloss einkehrt. Für die Fans wird zudem gerade das Gelände einer ehemaligen Kläranlage mit Parkplätzen, Schlaf- und Waschcontainern hergerichtet. Das sei „rausgeschmissenes Geld“, fürchtet Volker Krome, „von da aus können die Fans weder Schloss noch Einfahrt sehen, die werden weiter unsere Straße belagern.“ Die Musikerfamilie lehnt es ab, sich um die Fans zu kümmern.Auch den Wunsch der Nachbarn, nur noch an bestimmten Tagen Autogramme zu geben, damit wenigstens in der übrigen Zeit Ruhe einkehrt, wollen die Musiker nicht erfüllen. „Das lockt nur noch mehr Fans an“, erklärt Kelly-Anwalt Claus Peter Wagner. Den Ansturm empfindet er als „gar nicht so problematisch“. Die Anwohner von Fußballstadien müssten ja auch mit dem Trubel leben. Dem Gymnicher Patrick Morgen graut schon jetzt vor der Weihnachtszeit: Am 26. Dezember geben die Kellys ein Konzert in Köln. Dann werden wieder Fans aus ganz Europa anreisen. Viele, fürchtet Morgen, „bleiben bis Silvester“. Im vergangenen Jahr hatten die Kellys mit ihren Fans lautstark ins neue Jahr gefeiert – für die Anwohner alles andere als ein Vergnügen. Barbara Schmid d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Gesellschaft S P I E G E L - G E S P R ÄC H „Überall Bilder von perfektem Sex“ SPIEGEL: Mr. Ellis, Monsieur Houellebecq, Sie schildern beide in Ihren Büchern Exzesse der Sexualität und der Gewalt – und gelten jenseits aller literarischen Wertungen deshalb als Superstars des Bösen. Leiden Sie unter dieser Einschätzung? Houellebecq: Ich gelte in Frankreich eher als Inkarnation des politisch Inkorrekten. Ellis: Ich könnte vermutlich in einer Million Interviews erklären, warum das völlig falsch ist, und es würde trotzdem nichts ändern. Gerade in Amerika nehmen viele meine Bücher wortwörtlich, daher habe ich diesen Ruf. Houellebecq: Meine Bücher dagegen werden nicht wörtlich genug genommen. Anstatt zu lesen, was ich geschrieben habe, werden die Romane in vorher festgelegte Kategorien eingeordnet. Zum Beispiel kritisiere ich das Böse – aber die Leute halten das für einen Scherz. SPIEGEL: Heißt das, Sie verstehen sich in Wahrheit als Moralisten? Ellis: Wenn man über Missstände in der Gesellschaft schreiben will, legt man automatisch Wertmaßstäbe an. Ich glaube, dass jeder kreative Akt, sei es schreiben, malen oder Filme machen, Moral beinhaltet. Aber bei mir ist die Moral eher ein Nebenprodukt der Satire. Models auf dem Laufsteg: „Warum sehe ich nicht so aus?“ Houellebecq: Ich denke, man kann uns beide mit einem gewissen Das Gespräch führten die Redakteure Marianne Wellershoff und Rainer Traub. Bret Easton Ellis, A. SIEBMANN Die Autoren Bret Easton Ellis und Michel Houellebecq über Moral, Gewalt und Schönheitsterror Recht Moralisten nennen. Doch die Werte, um die es geht, sind unterschiedlich. In Amerika ist Gewalt, und davon handelt Ihr Roman „American Psycho“ ja, viel zentraler als in Europa. Auch die Diktatur der Jugend und die enorme Bedeutung von Reichtum sind amerikanische Themen. Also beschäftigen sich amerikanische Autoren vor allem mit den schönen, jungen Reichen. Für Europäer ist es dagegen angebracht, über mittelschöne, mittelalte, mittelreiche Menschen zu schreiben. Ellis: In den USA, eigentlich in der gesamten westlichen Welt, werden wir dauernd mit Bildern bombardiert, die uns an unsere Unzulänglichkeit erinnern. Das schädigt unsere Gesellschaft, denn alle, die nicht reich, jung und schön sind, und das sind die meisten, werden zwangsläufig verunsichert. Houellebecq: Ich werde auch umso depressiver, je öfter ich diese glamourösen Models in den Zeitschriften sehe … SPIEGEL: … weil das kapitalistische System, wie es in „Ausweitung der Kampfzone“ heißt, die Gesellschaft in sexuelle Sieger und Verlierer spaltet: Die Schönen haben ein tolles Sexleben, die anderen sind „auf Masturbation und Einsamkeit beschränkt“. Reicht es, die Bilder-Botschaften zu durchschauen, um sich ihnen zu entziehen? Ellis: Nein, ich sitze genauso in dieser Falle. Ich erwische mich dabei, dass ich Zeitschriften durchblätte- Michel Houellebecq, 35, wurde durch den Roman „American Psycho“ (1991) zum umstrittensten Schriftsteller der USA (SPIEGEL 45/1991). Die Hauptfigur dieses – in Deutschland seit 1995 als jugendgefährdend indizierten – Skandalromans, der luxusverwöhnte Börsenmakler Patrick Bateman, foltert und zerstückelt seine Opfer. Der neue, jetzt auf Deutsch erschienene Ellis-Roman „Glamorama“ (Kiepenheuer&Witsch) spielt in der Glitzerwelt der internationalen Modebranche; Held Victor Ward wird Teil eines Mordkomplotts unter Models. d e r 41, stieg mit seinem Romandebüt „Ausweitung der Kampfzone“ (SPIEGEL 9/1999) zum Star der französischen Gegenwartsliteratur auf. Zum Bestseller in Houellebecqs Heimatland wurde der jetzt auf Deutsch erschienene Roman „ElementarteilG. GERSTER chen“ (DuMont Buchverlag). Dessen brüderliche Helden – Söhne einer lieblosen, auf Selbstverwirklichungstrip entschwundenen Mutter – sind zwischen Liebesunfähigkeit, Sex-Sucht und hoffnungsloser Einsamkeit hin- und hergerissen; sie enden in Wahnsinn und Selbstmord. s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 211 re, die Models ansehe und denke: Warum Ellis: Um Spaß ging es mir jedenfalls nicht. sehe ich nicht so aus? Dann schenke ich Meine These in „American Psycho“ ist, mir einen Drink ein. Und was das Thema dass man sich aus einer gefühlsentleerten Gewalt betrifft: Auf meiner Europatour für Welt, in der es allein um Fassaden und Ob„Glamorama“ hat mich jeder Journalist von jekte geht, nur durch einen ultimativen Akt Italien bis Holland danach gefragt – in wie das Töten heraussprengen kann. Amerika kein einziger.Wahrscheinlich ist in SPIEGEL: „American Psycho“ erschien 1991. den USA Gewalt zu sehr Alltag, um über- Sehen Sie das immer noch so? haupt noch wahrgenommen zu werden. Ellis: Nein, für mich ist es sogar seltsam, SPIEGEL: Ändert sich die Einstellung ge- mich das jetzt sagen zu hören, denn das genüber der Darstellung von Gewalt nicht war die These eines sehr jungen Mannes. spätestens seit den Amokläufen in High Inzwischen bin ich älter geworden und Schools? Oliver Stone, der noch bei dem glaube, das ultimative Gefühl ist nicht gewaltsatten Film „Natural Born Killers“ Schmerz, sondern Liebe. Je mehr man sich Regie führte, hat bei der Verfilmung von der eigenen Sterblichkeit bewusst wird, „American Psycho“ die Regie niederge- desto wichtiger wird Liebe. In „American Psycho“ gibt Patrick Bateman an mit seilegt – wohl aus Angst um seinen Ruf. Ellis: Ich finde es krank, zwischen Filmen nen grotesken Frauenmorden, während die wie „Natural Born Killers“ oder Büchern Hauptfigur in „Glamorama“ angeekelt ist wie „American Psycho“ und diesen Mas- von Folter und Mord. Ich selbst habe heusakern Parallelen zu ziehen. Das soll nur te mehr Angst vor Gewalt als früher. die wahren Hintergründe der Taten verschleiern: soziale Probleme, Versagen der Eltern, Drogen – und eine Gesellschaft, die Menschen das Gefühl gibt, wertlos zu sein. SPIEGEL: In Ihren Büchern, Monsieur Houellebecq, manifestiert sich Gewalt in erster Linie im Selbstmord. Houellebecq: Ich beschäftige mich mit einer anderen Klasse von Personen, mit Menschen aus der Mittelschicht. Um persönliche Grenzen zu überschreiten, müssen sie nicht so weit gehen wie der Börsenmakler Patrick Fitness in Florida: Idealisierung des Körpers Bateman in „American Psycho“. Bateman hat sich durch seinen sozialen SPIEGEL: Heißt das, wenn Sie „American Status so weit über den Durchschnitts- Psycho“ heute schrieben, wären Sie von amerikaner herausgehoben, dass er eine Ihren eigenen Schilderungen angeekelt? noch herausragendere Position nur durch Ellis: Angeekelt war ich damals auch. Dieeinen extremen Akt wie Foltern und Töten se brutalen, fast surrealen Szenen zu erreichen kann. Meine Helden leben nicht schreiben hat mich sehr aufgewühlt, denn im Luxus, ihnen gelingt es noch nicht ein- in meiner Phantasie habe ich alle Morde mal zu vögeln. Deshalb kommt es ihnen begangen. gar nicht erst in den Sinn zu töten. Als in SPIEGEL: Monsieur Houellebecq, haben Sie „Ausweitung der Kampfzone“ der Compu- Ihre Romane auch mit dem Gefühl des terkursleiter erkennt, dass es seinem Kom- Ekels geschrieben? pagnon Tisserand nie gelingen wird, mit Houellebecq: Nein, ich habe vor allem einer Frau zu schlafen, schlägt er ihm vor, Scham gefühlt. Ich sage Dinge, die zu sagen ein Liebespaar zu erstechen. Der lehnt ab, sich nicht schickt, und auf diese Weise zerdenn er will Sex und nicht morden. störe ich nach und nach mein Image. Aber SPIEGEL: Zur Strafe stirbt Tisserand kurz gleichzeitig brauche ich das. Was mich an darauf bei einem Autounfall. „American Psycho“ so erschreckt hat – Houellebecq: Ehrlich gesagt sollte das kei- und hier liegt die Verbindung zu meinen ne Bestrafung sein. Ich wusste nur nicht, Büchern –, ist, dass die Hauptfigur nur im was ich mit dieser Figur noch anfangen Akt der Gewalt etwas spürt und nicht beim sollte. Sex. Mich interessiert die Frage, warum so Ellis: Gute Antwort, kann ich sehr gut ver- viele Menschen beim Sex nichts mehr empstehen. finden. Mir scheint, dass Europa sich hier Houellebecq: Im Übrigen glaube ich auch den Vereinigten Staaten annähert. nicht, dass man „American Psycho“ für ir- Ellis: Ich hatte immer den Eindruck, dass gendwelche Massaker verantwortlich ma- Europäer in Sachen Sex bei weitem nicht chen kann, denn es wird doch geschildert, so neurotisch sind wie Amerikaner. Ich hatwelche Qualen Gewalt verursacht. Es gibt te mit Europäerinnen viel besseren Sex als natürlich viele kulturelle Produkte, die Ge- mit Amerikanerinnen. Sex mit Italienerinwalt als Spaß, als Spiel darstellen. nen ist wunderbar. In der amerikanischen 212 d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 M. HORACEK / BILDERBERG Gesellschaft Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite JAUCH UND SCHEIKOWSKI Kultur wird so viel Wert auf physische Schönheit gelegt, dass am Ende niemand mehr zufrieden mit sich sein kann. Sex ist wie eine Filmproduktion geworden: Man ist der Regisseur und Hauptdarsteller und geht auf eine Party oder in einen Club, auf der man die Hauptdarstellerin aussucht. Entspricht sie dem Schönheitsideal, das auf dem „Vogue“-Cover abgebildet ist, entspricht sie meinem Marktwert? Wenn man schon so losgeht, kann man keinen natürlichen, entspannten, unkomplizierten Sex haben. Sex ist doch eigentlich eine Basisfunktion wie Essen und Trinken. Wenn man aber aus Sex eine Theatervorstellung macht, wird er zu einer leeren Erfahrung. Houellebecq: Ich freue mich, dass Sie in Europa so gute sexuelle Erfahrungen gemacht haben. Da ich mich schon länger als Sie mit der Lage des Sex in Europa beschäftige, muss ich leider sagen, die Situation hat sich verschlechtert. Sex in Kuba ist viel besser. Ellis: Okay, Frankreich fand ich auch sehr enttäuschend. In Italien sind die Leute in Bezug auf Sex sehr entspannt, in Irland sind sie für Sex zu betrunken. Ich möchte aber betonen, dass ich nicht der promiske TV-Thema Sexualität*: „Das Einzige, das in unserer Gesellschaft noch funktioniert“ Typ bin. mir manchmal, wie selbstverständlich und Houellebecq: Was Irland natürlich es für sie ist, in irgendeine Bar zu betrifft, bin ich anderer gehen und innerhalb von fünf Minuten mit Meinung. Für Sex sind es jemandem Sex zu haben. Bei heterosegute Zeiten dort, weil der xuellen Paaren dagegen geht man erst mit Katholizismus auf dem jemandem essen und pflegt stundenlang Rückzug ist. Konversation; die Partnerwahl wird fast SPIEGEL: In Ihren Büchern, theatralisch inszeniert. Monsieur Houellebecq, phantasieren die HauptfiSPIEGEL: Hat nicht gerade die individuelle guren über Sex, haben Jagd nach dem Glück aus Ihrer Sicht, Monaber kaum welchen. Übersieur Houellebecq, einen beziehungs- und schätzen Ihre Helden mögliebesunfähigen Trümmerhaufen von „Elelicherweise einfach die Bementarteilchen“ hinterlassen? deutung von Sex? Houellebecq: Richtig, es ist eine totale Sackgasse. Was Mr. Ellis sagt, trifft zwar zu: Die Houellebecq: Nein. Sex ist Schwulen haben leichter Sex als die Hedie beste Möglichkeit, eiteros. Aber gleichzeitig sind die Kriterien nem anderen Menschen Filmthema Gewalt*: „Töten als ultimativer Akt“ von Jugend und Schönheit in dieser Szene nahe zu kommen. Und ich denke, Sex ist das Einzige, das in unserer von anderen begehrt wird. Das bedeutet noch viel härter. nicht, dass er selbst diese Frau liebt. Ellis: Trotzdem glaube ich, dass die HalGesellschaft noch halbwegs funktioniert. SPIEGEL: „Funktioniert noch halbwegs“ SPIEGEL: Monsieur Houellebecq, Ihre Figu- tung zum Sex unter Schwulen ehrlicher heißt in Ihrem neuen Buch „Elementar- ren leiden furchtbar, weil Sex und Liebe und offener ist. Ich glaube nicht, dass für teilchen“, dass die beiden Liebesgeschich- meist voneinander getrennt sind. Frauen die körperliche Erscheinung von ten in Katastrophen enden: Psychiatrie, Houellebecq: Das sehen Sie ganz falsch. Die Männern von überragender Bedeutung ist. Krebs, Selbstmord. Liebesgeschichte zwischen Bruno und Aber für Männer zählt in unserer GesellHouellebecq: Stimmt, das ist sehr düster. In Christiane in „Elementarteilchen“ beginnt schaft bei der Partnersuche leider vor al„Ausweitung der Kampfzone“ gibt es kei- auf einer sexuellen Ebene, und sie verlie- lem, wie eine Frau aussieht. nen einzigen Lichtblick: Keine der Perso- ben sich beim Partnertausch in einer voll- Houellebecq: Ja, die Männer haben schrecknen hat jemals Sex. In „Elementarteilchen“ kommen sexualisierten Umgebung: in ei- lich simple Kriterien. Aber mir scheint, dass sich ihnen die europäischen Frauen in diemachen die Hauptpersonen einige positive nem Swinger-Club. Liebeserfahrungen, auch wenn es kein Ellis: Das Hauptproblem ist doch, dass wir ser Beziehung derzeit annähern. Happy End gibt. Was für mich zählt, ist, in unserem ganzen Wesen sexuelle Krea- Ellis: In Amerika auch. dass sie dem glücklichen Ende ziemlich turen sind. Wir hätten bestimmt alle mehr Houellebecq: Meiner Meinung nach kommt nahe waren, es hat wirklich nicht viel Sex und weniger Neurosen, wenn nicht Ge- diese ganze Tendenz ebenso aus Amerika sellschaft und Religion Mauern errichtet wie die Zeitschrift „Men’s Health“, die seit gefehlt. Ellis: In einer Gesellschaft, in der man über- und festgelegt hätten, was akzeptabel ist sechs Monaten großen Erfolg in Frankreich all Bilder von unerreichbarem, perfektem und was nicht. Schwule Freunde erzählen hat. Das ist eine neue Entwicklung, denn es ist nach fünf gescheiterten publizistischen Sex sieht, wird Sexualität entspiritualisiert. Sex wird zum Statussymbol. Daher kommt * Oben: Kai Scheve und Celia Sarto in dem ZDF-Film Projekten der erste Erfolg dieser Art. auch der Begriff „trophy wife“, der meint, „No Sex“; unten: Forest Whitaker (l.) in dem Kinofilm Ellis: Ich kenne viele Frauen, die „Men’s dass ein Mann eine Frau geheiratet hat, die „Ghost Dog“ (USA 1999). Health“ wegen der schönen Körper kaud e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 215 ZDF Gesellschaft Gesellschaft fen. So können sie sich Pornografie sparen. Die Idealisierung des männlichen Körpers hat sich in den letzten zehn Jahren explosionsartig ausgebreitet. Ich sehe mehr Werbeplakate voll attraktiver Männer mit nacktem Oberkörper als Werbeplakate mit Frauen. Ich kann keinen Fortschritt darin erkennen, dass inzwischen der männliche Körper genauso objektiviert wird wie der weibliche. Und im Gespräch mit Freundinnen – durchaus gebildete Frauen – stelle ich fest, dass ihre Erwartungen an Männer sich in dieser Richtung fundamental wandeln. Ironischerweise wird das neue Männerideal in der Werbung großenteils von homosexuellen Designern geprägt. SPIEGEL: Aber bei Ihnen beiden sind doch ganz traditionell eher die Frauen Objekte und Opfer. Ellis: Die meinen werden kurzerhand enthauptet (lacht). Das war ein Scherz. Houellebecq: Heute ist es ja noch so, dass älter werdende Männer sich jüngere Frauen nehmen, und die alternden Frauen sind die Opfer. Aber ich glaube, das wird sich ändern, die Frauen werden aggressiver. SPIEGEL: Inwiefern haben negative autobiografische Erfahrungen Ihr Schreiben beeinflusst? Sie, Monsieur Houellebecq, haben davon gesprochen, dass Ihre Mutter Sie als Kind im Stich gelassen und sich den Hippies angeschlossen habe. Houellebecq: Zu meiner Mutter hatte ich praktisch keine Beziehung, ich habe das alles mehr oder weniger vergessen. Ich möchte es mir auch wirklich nicht bewusst machen. SPIEGEL: Eine der schrecklichsten Szenen in Ihrem Roman „Elementarteilchen“ ist die, wo Ihre beiden Helden, die Brüder Bruno und Michel, sich am Sterbebett ihrer Mutter treffen. Obszöne Flüche und Verwünschungen begleiten deren Todeskampf. Houellebecq: Aber das ist doch richtig lustig! Das habe ich geschrieben, um die Leute zum Lachen zu bringen. SPIEGEL: Das dürfte Ihnen nur bei wenigen Lesern gelingen. Bei Ihnen, Mr. Ellis, scheint eher Ihr Vater ein emotionales Vakuum hinterlassen zu haben. Wie stark hat das Ihre Romane beeinflusst? Ellis: Mein Vater starb 1992. Obwohl ich nie im unmittelbar autobiografischen Sinn über ihn geschrieben habe, glaube ich, dass er in vielfacher Hinsicht meine Wahrnehmung von männlichem Verhalten geprägt hat. Was Patrick Bateman verkörpert, hat sicher auch mit meinem Vater zu tun. Er gehörte ursprünglich der Mittelklasse an und veränderte sich in schockierender Weise, nachdem er einen Haufen Geld gemacht hatte. Er benahm sich, als gäbe ihm der neue Reichtum die Lizenz, sich alles herauszunehmen: Leute zu kontrollieren und zu schikanieren, exzessiv zu trinken, gewalttätig zu werden und so weiter. Ich denke, alle meine Romane haben mit der Freiheit durch Geld zu tun – und damit, wie die Leute diese Freiheit missbrauchen. Wer ge216 d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 nug Geld hat, kann alle Schranken niederreißen, er kann sich Folter, Vergewaltigung, Mord leisten und damit davonkommen. Houellebecq: In unseren Gesellschaften wirken, so glaube ich, zu viele zentrifugale und zu wenig zentripetale Kräfte. SPIEGEL: Was soll das heißen? Houellebecq: In Frankreich wollen die Leute, so bald sie es sich leisten können, lieber in Entwicklungsländern leben, weil sie zu Hause nicht glücklich sind. Sie haben keinen Sex, sie dürfen an immer weniger Plätzen rauchen, ihr Leben ermüdet und langweilt sie. Ich kenne niemanden, der in der westlichen Welt lebt, ohne dazu gezwungen zu sein. SPIEGEL: Eine bizarre Wahrnehmung. Wo würden Sie lieber leben? Houellebecq: Ich liebe Thailand und fliege oft dorthin. Zurzeit lebe ich in Irland, weil ich Länder mit schönen Landschaften mag. Ellis: Ich glaube, Sie leben in Irland, weil es für Künstler ein Steuerparadies ist. Was Sex betrifft, ist Irland kaum ratsam. Vielleicht ist das irische Bier eine Reise wert. SPIEGEL: In Ihrem neuen Roman, Monsieur Houellebecq, ist die Rede davon, dass wir dem Selbstmord der westlichen Zivilisation beiwohnen. Hat diese apokalyptische Vorstellung mit der bevorstehenden Zeitenwende zu tun? Houellebecq: Ich glaube nicht, dass wir dem Kalender zu viel Bedeutung zumessen sollten. Aber im übrigen haben Sie Recht: Ja, ich glaube, alles geht zu Ende. SPIEGEL: Am Ende Ihres Buches entwerfen Sie die Vision einer geklonten Menschheit, die im kommenden Jahrtausend die Teilung der Gattung in zwei Geschlechter und alle Probleme und Schmerzen des Individuums hinter sich lässt. Houellebecq: Das ist eine Hypothese, ein Stück Science-Fiction. SPIEGEL: Erscheint Ihnen deren Realisierung wünschenswert? Houellebecq: Das ist deshalb eine gute Idee, weil ich nicht glaube, dass die Menschheit jemals den Tod akzeptieren wird. Übrigens träumte schon die Antike den Traum von Hermaphroditen, in denen Männer und Frauen eins werden. SPIEGEL: Mr. Ellis, während konservative Kritiker sich über Ihre Romane entrüsten, haben linke Kritiker Sie als großartigen Gesellschaftskritiker gerühmt. Ihr Landsmann Norman Mailer hat über den smarten Börsianer Patrick Bateman aus „American Psycho“ gesagt, niemals sei das Gesicht einer herrschenden Klasse in der Literatur widerwärtiger gezeichnet worden. Verstehen Sie sich als politischer Autor? Ellis: Ich reagiere mit meinen Büchern auf gesellschaftliche Entwicklungen, die mir nicht gefallen, aber ich würde mich eher als apolitisch bezeichnen. Patrick Bateman verkörpert ungefähr alles, was ich am Amerika der Jahre, in denen ich das Buch schrieb, grässlich fand. Dasselbe gilt für Victor Ward, den Helden meines aktuellen Buchs „Glamorama“. Man schreibt einen Roman aus sehr persönlichen Gründen. SPIEGEL: Und nicht, um die Welt zu ändern? Ellis: Ich glaube nicht, dass das möglich ist. Ich schreibe den Roman, den ich lesen will. Das Schreiben von Romanen ist kreativer Selbstausdruck – ein Hobby und kein Job, nichts für eine Karriere. Natürlich bekommt man Reaktionen auf ein Buch, und zwar verwirrend vielfältige, aber das ist nicht der Grund, warum man ein Buch schreibt. Das Schöne am Lesen ist doch, dass es eine urdemokratische Erfahrung ist: Jeder Leser hat Recht mit seiner unmittelbaren emotionalen Reaktion auf einen Roman. Ich kann noch so viele erklärende Interviews geben – meine Bücher führen ein Eigenleben. SPIEGEL: Monsieur Houellebecq, warum schreiben Sie? Houellebecq: Meinen ersten Roman habe ich geschrieben, weil ich in genau der Art von Informationswelt lebte, die da vorgeführt wird, und weil ich diese Wirklichkeit in keinem anderen Buch wiedergefunden hatte. Aber da mein erster Roman mich in einiger Hinsicht nicht zufrieden stellte, schrieb ich den zweiten. Als Schriftsteller will ich die Welt widerspiegeln. SPIEGEL: Schätzen Sie sich, wie Mr. Ellis, als apolitisch ein? Houellebecq: Die politischen Ideen sind Teil der Welt. Ellis: Sie drücken es kürzer und treffender aus als ich. SPIEGEL: Sie scheinen sich in vielem einig zu sein. Und doch haben Sie, Monsieur Houellebecq, kürzlich in einem Gespräch gesagt, Sie als Franzose stünden auf einer höheren Stufe als die Amerikaner. Houellebecq: Was ich meinte, war, dass das Niveau eines Durchschnittsamerikaners niedriger ist als das eines Durchschnittseuropäers. Ellis: Das sehe ich genauso. Houellebecq: Theoretisch müssten die amerikanischen Schriftsteller besser sein als die europäischen. SPIEGEL: Warum? Houellebecq: Weil das Land schlechter ist. Ellis: Ich stimme dem zu. SPIEGEL: Und praktisch? Houellebecq: Praktisch ist das Durchschnittsniveau der amerikanischen Literatur höher als das der europäischen. Ellis: Auch das ist völlig richtig. Houellebecq: Ich denke, diese Situation hat damit zu tun, dass der Roman vor allem das Unglück der Welt widerspiegelt. SPIEGEL: Mr. Ellis, Monsieur Houellebecq, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 217 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Ausland G. HUBER / LAIF Panorama Mallorquinische Künstlersiedlung, Makler Kühn Wirbel um Baustopp P roteste, Verwirrung und Verunsicherung bei Investoren auf Mallorca und den anderen Balearen-Inseln haben die Notmaßnahmen der neuen Regierung zum Stopp des Baubooms ausgelöst. Per Eilgesetz zur Raumordnungsplanung hatte die aus Linksparteien, Grünen und Nationalisten gebildete Koalition Anfang Oktober eine restriktivere Baulandpolitik beschlossen, um die Betonflut einzudämmen – über 70 Projekte von Urbanisationen sowie der Bau eines Poloplatzes auf Mallorca und eines zweiten Golfareals auf Ibiza wurden bereits gestoppt. Nach den neuen Regelungen gilt künftig ein Neubauverbot in einem 500 Meter breiten Küstenstreifen, außerdem wird bei Bauerwartungsland die Mindestgröße von Grundstücken auf 14 000 Quadratmeter, bei Fincas sogar auf 21 000 heraufgesetzt. Bis zur Verabschiedung neuer Flächennutzungsrichtlinien durch die jeweiligen Inselräte in spätestens fünf Jahren sind Grundstücksteilungen mit dem Ziel der Bebauung im landwirt- G R O S S B R I TA N N I E N Atom-Gefahr im Stadion B schaftlichen Bereich verboten. Besonders umstritten ist, dass die Neuregelung für Fincas rückwirkend ab Juli 1997 angewandt werden soll. Benachteiligt fühlen sich Besitzer kleinerer Grundstücke, die keine Baugenehmigung mehr erhalten und deren Boden nun an Wert verliert. „Es hilft alles nichts: Wollen wir unsere Zukunft sichern, müssen wir umdenken“, verteidigt Ibizas Umweltbeauftragter Juan Buades den Regierungsbeschluss. Zu den Folgen gehören auch neue Neiddiskussionen und Animositäten gegen ausländische Investoren. „Wer kann denn große oder ungeteilte Fincas überhaupt kaufen?“, fragte der Präsident der Landbesitzer-Vereinigung, Fernando Fortuny, polemisch und gab gleich die Antwort: „Die Deutschen.“ Derzeit gibt es auf den Balearen etwa 70 000 deutsche Immobilienbesitzer. Der erfolgreichste Makler Mallorcas, Matthias Kühn, glaubt, „dass eine Atempause den Inseln gut tun wird, um eine unkontrollierte Zersiedelung zu vermeiden“. Kühn rechnet wegen des knapper werdenden Baulandes mit einem „Preisschub“ für die vorhandenen Objekte. M. GUMM / WHITE STAR BALEAREN gespielt worden waren. Arbeiter hantieren dort mit hochangereichertem radioaktivem Uran – der Stoff, durch den beim Atomunfall im japanischen Tokaimura vorigen Monat zahlreiche Menschen zum Teil lebensgefährlich verstrahlt wurden. Das in Derby ver- d e r PA / DPA ritische Strahlenschutzexperten haben erhebliche Sicherheitsmängel in einer Fabrik in Derby aufgedeckt, die im Auftrag des Verteidigungsministeriums Kernbrennstoffe für den Antrieb von U-Booten herstellt. In der vor der Öffentlichkeit bislang geheim gehaltenen Produktion, die vom Nobelunternehmen Rolls-Royce in der mittelenglischen Stadt betrieben wird, besteht Gefahr von Strahlenunfällen durch unkontrollierte Kettenreaktionen, hatte zunächst die „Sunday Times“ berichtet, nachdem ihr firmeneigene Dokumente zu- Firmengelände in Derby wendete Uran ist nach Expertenmeinung sogar noch um ein Vielfaches höher angereichert als das in dem japanischen Werk. Die örtlichen Behörden fordern „schon seit Jahren Notfall- und Evakuierungspläne von den Betreibern – bislang vergebens“, räumt Teresa Knight von der Stadtverwaltung jetzt ein. In der unmittelbaren Umgebung der Fabrik liegen Wohngebiete und das neue Stadion des FußballErstligisten Derby County. Eine Schließung der Anlage lehnt der frisch berufene Verteidigungsminister Geoff Hoon strikt ab: Die zuständige Kontroll- und Aufsichtsbehörde für Nukleare Einrichtungen habe dem Werk „volle Betriebssicherheit“ bescheinigt. s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 221 Panorama TÜRKEI Islamistisches Strafgericht? ach dem Mordanschlag auf den prominenten Kemalisten Ahmet Taner Ki≠lali, 60, sehen sich Armee und Regierung in ihrem Kampf gegen die islamistische Bedrohung bestätigt. Der ehemalige Kulturminister und Freund des Ministerpräsidenten Bülent Ecevit war am vorigen Donnerstag in Ankara nach der Explosion einer Bombe an seinem Auto schwer verletzt worden und auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben. Obwohl bis Freitagabend kein Bekennerschreiben vorlag, gehen die Behörden von einem Anschlag der radikalen „Islamischen Großen Ost-Stürmer Front“ (IBDA-C) aus. Die hat 1999 zum „Jahr der Befreiung“ erklärt. Ki≠lali, Kolumnist der laizistischen Tageszeitung Ki≠lali-Auto nach Anschlag „Cumhuriyet“, hatte am Tag vor seiner Ermordung in einem Beitrag einen fundamentalistischen Ordensführer kriti- Täterschaft. Schon seit Jahren, heißt siert, der das schwere Erdbeben vom vergangenen August als es beispielsweise in den „Turkish Dai„Strafgericht Gottes“ über Armee- und Regierungsspitze be- ly News“, würden nach Attentaten zeichnet hatte. Es könne kein Zufall sein, erklärte auch Staats- und Mordanschlägen auf säkulare präsident Süleyman Demirel, dass der Ex-Politiker nun unmit- Politiker und Journalisten reflexartig telbar darauf Ziel eines Anschlags war. Oppositionelle Kritiker islamistische Splittergruppen beschuldes berüchtigten Netzwerks aus Politik, organisiertem Verbre- digt; keiner der Täter sei bislang jechen und türkischen Geheimdiensten hingegen bezweifeln die doch zweifelsfrei ermittelt worden. Ki≠lali E in neues Aufputschmittel hat aus Südostasien Europa erreicht: In England, Irland, Frankreich und in der Schweiz wurden Pillen der Droge „Yaba“ sichergestellt, die ihren Ursprung in chemischen Labors der Nationalsozialisten hat. Zürcher Polizisten berichten von Erfahrungen mit YabaKonsumenten, die im Rausch schwere Schübe von Verfolgungswahn erlebten. Yaba gehört zu den Methamphetaminen, wie das unter Junkies als Rauchdroge beliebte „Shabu“. Es ist billig – ein Gramm reicht für 50 Pillen und kostet 400 Franken –, und seine Wirkung hält lange vor. Entwickelt wurde das Rauschmittel, als deutsche Chemiker nach einer Substanz suchten, die Soldaten lange wach hält. Sie wird deshalb auch „Hitlers Droge“ genannt. Neben Halluzinationen und Verfolgungswahn beobachteten Experten bei Yaba und Shabu schwere Lungen- und Nierenschäden als Nebenwirkungen. Die Schweiz ist das erste westeuropäische Land, das jetzt große Mengen von Yaba beschlagnahmte. 222 Adel verpflichtet A d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 SEEGER-PRESS Hitlers Droge ist der Festakt durch einen blaublütigen Skandal verhagelt. Monarch Albert II., 65, hat eine uneheliche Tochter. Es soll sich um die in London lebende Künstlerin Delphine Boel, 31, handeln, die lles war vorbereitet, um Brüssel mal Pappmaschee-Skulpturen fertigt. wieder mit Glanz und Gloria in die Ein 18-jähriger belgischer Student, MaSchlagzeilen zu bringen: Am 4. Dezemrio Danneels, hatte die Personalie in eiber heiratet Thronfolger Prinz Philippe, ner 330-seitigen Biografie über Königin 39, seine Verlobte, die 26-jährige AristoPaola, 62, ausgeplaudert – wenn auch kratin Mathilde d’Udekem d’Acoz. Jetzt ohne Nennung des Nachnamens. Britische Reporter identifizierten sie dann. Albert, der 1993 den Thron bestieg, hatte früher den Ruf eines Lebemanns. Allerdings, Adel verpflichtet, hat er sich offenbar standesgemäß umgetan: Die Mutter seiner unehelichen Tochter soll eine Frau des belgischen Adels sein. „Das letzte Symbol eines geeinten Belgien“, so die Zeitung „La Meuse“, „versinkt in Betttüchern.“ Dem Hofe nahe stehende Beobachter wollen nicht ausschließen, dass Albert nun früher abdankt als geplant – sobald der Thronfolger verheiratet ist. Delphine Boel; Königin Paola, König Albert II. BELGIEN T. MAITLAND R AU S C H G I F T DPA N Ausland FRANKREICH Demokratischer Separatismus Mahir Kaynak, ehemaliger Abteilungsleiter im Geheimdienst MIT, unterstellt sogar ehemaligen Kollegen eine Beteiligung: „Es sieht sehr danach aus, als hätten die Geheimdienste diesen Anschlag fabriziert, nur um die Islamisten zu beschuldigen. Nun können die Behörden wieder offen gegen den Fundamentalismus vorgehen.“ aris verfolgt mit wachsender Sorge neue Aktionsformen bei den Autonomiebestrebungen ethnischer Minderheiten. Im Gegensatz zu korsischen, bretonischen oder baskischen Unabhängigkeitskämpfern, die sich mit ihrem Bombenterror selbst isoliert haben, agieren die neuen Gegner des Pariser Zentralstaats streng legal, überparteilich – und höchst erfolgreich. Den Anfang machten tausende von Bretonen, die im März in Nantes für die Erweiterung der Bretagne bis zur Loire demonstrierten. Landesweit Aufsehen erregte dann der verblüffende Aufmarsch von rund 10 000 Basken in Bayonne – an der Spitze 150 Demonstration in Bayonne Kerngebiete regionaler Minderheiten in Frankreich DEUTSCHLAND BELGIEN LUXEMBURG Bretonen Paris Elsässer F R A N K R E I C H Atlantischer Ozean I n einem Alarmruf an die Europäische Union warnt Ungarn vor einer gigantischen Umweltkatastrophe und bittet um dringende Hilfe. An den sieben serbischen Donaubrücken, die im Kosovokrieg von der Nato zerstört worden waren, könnten im heraufziehenden Winter gewaltige Eisdämme das Flusswasser stauen. Hunderttausende Menschen in Serbien, Kroatien und Ungarn seien von Überschwemmungen bedroht, fürchten Umweltpolitiker in Budapest. Hinter diesen „Eiskorken“ könnte der Strom bis zu 100 Kilometer flussaufwärts die Deiche durchbrechen. Ursprünglich hatte die Regierung darauf gebaut, dass die Donau noch vor dem Winter von den Trümmern befreit würde. Doch angesichts der Wiederaufbaukosten von rund 30 Millionen Mark pro Querung hat Belgrad damit nicht einmal begonnen und erwartet, dass die Nato-Staaten für den Schaden aufkommen. Ungarn möchte nun mit einem EU-Vorschuss die beiden einzigen geeigneten Donau-Schwimmkräne anmieten, um die Betonteile zu bergen. SCHWEIZ ITALIEN Savoyer D O NAU Basken Gefahr durch Eiskorken Katalanen Korsika SPANIEN 200 km Korsen ANDORRA Mittelmeer J O R DA N I E N Lektion für Journalisten D er Frieden mit dem Nachbarn Israel wird in Amman von Berufsverbänden untergraben. Drei jordanische Journalisten sollen aus der Journalistenvereinigung ihres Landes ausgeschlossen werden, nur weil sie im September auf Einladung der Universität Haifa nach Israel gereist waren. Der Ausschluss käme einem Berufsverbot gleich, da in Jordanien nur Mitglieder der Standesorganisation als Journalisten arbeiten dürfen. Wie alle 13 jordanischen Berufsverbände richtet d e r s p i e g e l AFP / DPA AP P 4 3 / 1 9 9 9 Politiker aller Couleur, Gewerkschafter, Kulturschaffende, Bauern –, die ein neues „département Pays basque“ forderten. Derzeit ist das französische Baskenland Teil des Departements Pyrénées-Atlantiques (Hauptstadt: Pau) – eine Teilung wäre ein Präzedenzfall. Dass Unbekannte pünktlich zur Demo den TV-Umsetzer La Rhune oberhalb von Biarritz in Brand setzten, werteten die Demonstranten als Diskriminierungsversuch durch französische oder spanische Geheimdienste. Die spanischen Eta-Terroristen verzichteten nämlich bislang auf Gewaltakte in Frankreich, um ihre dortige Operationsbasis nicht zu gefährden. sich auch die Journalistenvereinigung gegen eine Normalisierung des Verhältnisses mit Israel; Disziplinarausschüsse wachen über die verbotenen Kontakte ihrer Mitglieder zu Israelis. „Unsere Regierung hat Frieden mit Israel gemacht, aber nicht das Volk – und wir stehen für das Volk“, so ein Vorstandsmitglied. Der Vorsitzende Saif Scharif indes möchte die Strafe noch abmildern und den dreien lediglich „eine Lektion“ erteilen. Das israelische Außenministerium reagierte „besorgt“ auf die jüngste Entwicklung, „die im krassen Gegensatz zum Geist des Friedens steht“. Diese Woche jährt sich der von Jizchak Rabin und König Hussein unterzeichnete israelisch-jordanische Friedensvertrag zum fünften Mal. 223 Ausland AFP / DPA Beverly und Andreas Wüthrich: Aus Angst vor den Behörden Amerika verlassen JUSTIZ Kinder als Opfer des Rechts Wegen „schweren Inzests“ muss sich der elfjährige Raoul Wüthrich vor einem US-Gericht verantworten. Auch neue Vorwürfe gegen die Eltern können die gnadenlose Härte der amerikanischen Jugendjustiz nicht rechtfertigen. D as „Colorado Christian Home“ gilt nicht unbedingt als idealer Aufenthaltsort für Teenager. Die Anstalt in 2950 Tennyson Street in einem Vorort der Rocky-Mountains-Metropole Denver bezeichnet sich selber als „Zentrum für Kinder und Familien, die Opfer von Missbrauch oder Vernachlässigung sind oder zu werden drohen“. Auf gut Deutsch: ein Heim für Schwererziehbare. Dort soll Raoul Wüthrich einziehen – noch ehe das Strafverfahren wegen „schweren Inzests“ beginnt, das gegen den elfjährigen Jungen für den 8. November anberaumt worden ist. Nach der Gerichtsanhörung am Dienstag voriger Woche durfte der Knabe wenigstens seinen bisherigen Aufenthaltsort 224 verlassen – ein Jugendgefängnis mit dem idyllischen Namen Mount View. Immerhin: Die Aussicht auf die nahe gelegenen Gipfel der Rocky Mountains wird Raoul nun nicht mehr durch meterhohe Doppelzäune, gekrönt von endlosen Rollen messerscharfen Stacheldrahts, verstellt. Gleichwohl ist es für den Jungen mit der amerikanischen wie Schweizer Staatsbürgerschaft nur ein schwacher Trost, dass er die Wachtürme, die martialisch ausgerüsteten Posten und all die jugendlichen Übeltäter hinter sich lassen kann. Denn Raoul kehrte nicht heim in die Arme seiner Eltern. Beamte fuhren ihn zur nächsten Station seiner Odyssee – zu einer ihm völlig unbekannten Pflegefamilie. Bis zum Wochenende wusste nicht eind e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 mal die Schweizer Botschaft, wo genau ihr Schutzbefohlener nun festgehalten wurde. „Das wird behandelt wie ein Staatsgeheimnis“, klagte deren Sprecher Manuel Sager. Derweil schlägt der Fall immer höhere Wellen. Weniger in den USA. Dort verwundert vor allem die Aufregung darüber, dass ein Elfjähriger am 30. August mitten in der Nacht von der Polizei aus dem Schlaf gerissen und mit Handschellen und Fußeisen gefesselt aus dem Elternhaus ins Gefängnis geschleppt wurde. Eine Nachbarin der Wüthrichs hatte die Behörden informiert. Sie will aus 25 Metern Entfernung beobachtet haben, wie Raoul am 25. Mai im Garten seines Zuhauses der fünfjährigen Halbschwester K. HIGLEY DPA für seine traumatischen Er- die Mutter, hätte durch jahrelangen Misslebnisse weit dringender brauch keinen Schaden genommen. therapeutischer BehandZudem, so die „Denver Post“, soll Belung bedürfen als wegen verly wegen Verletzung ihrer Aufsichtsseines kindlichen Forscher- pflicht belangt worden sein – angeschwärzt drangs. von derselben Nachbarin. Aber selbst Ein solcher Umgang mit wenn sich diese Enthüllung bestätigt, rechtDelinquenten im Kindes- fertigt das nicht den überaus harten Zugriff alter ist für Amerikaner der Behörden auf ihr Kind. längst alltägliche Realität. „Zero tolerance“ – keine Nachsicht auch Nicht aber für Raouls El- mit jugendlichen Rechtsverletzern nennen tern und deren Landsleute Politiker die harte Welle, auf der sie im in der Alpenrepublik. Weit straflüsternen Mutterland der Menschenüber 25 000 Anrufe, Faxe rechte gern und erfolgreich reiten. Experund E-Mails waren bis ten wie Martin Guggenheim von der New Ende vergangener Woche York University beklagen: „Wir haben nur im Berner Außenministe- noch das unmittelbare Ziel der Vergeltung rium eingegangen, um ge- und Bestrafung im Auge.“ gen die „Skandal-Justiz“ Fast drei Millionen Kinder und Jugendzu protestieren. liche wurden 1997 in den USA festgenomEin Spendenkonto soll men. Rund 200 000 von ihnen landen mittder bedrängten Familie die lerweile vor normalen Strafgerichten. Mehr teuren Anwaltskosten tra- als 100 000 Teenager befinden sich derzeit gen helfen. Nach Ausgaben in staatlichem Gewahrsam, bis zu 15 000 von bislang schon 70 000 von ihnen gemeinsam mit erwachsenen Mark gehe ihm das Geld Strafgefangenen. Sogar in den berüchtigten aus, barmte der Vater, des- chain gangs, den Arbeitstrupps in Ketten, sen Stiefsohn Opfer des finden sich Jugendliche. neuesten Justiztrends in Haarsträubende Urteile sind an der Taden USA geworden ist. gesordnung. Erst im August wurde die Andreas Wüthrich führte 15-jährige La’Tasha Armstead zu lebensnicht nur seine Firma „Gri- langer Haft verurteilt. Sie hatte, 13-jähscha Engineering & Con- rig, einem vier Jahre älteren Freund bei struction Inc.“ von zu Hau- der Ermordung einer Krankenschwester se. Auch die Website „Ulti- assistiert. mate Fantasies“ wurde aus Vor zehn Jahren noch hätten Alter und Wüthrich-Sohn Raoul: In Handschellen und Fußeisen 28 509 Pine Drive in Ever- Vorgeschichte ausgereicht, um La’Tasha Sophia die Unterhose herunterzog, sein green mit schlüpfrigem Material versorgt. vor einem Jugendrichter eine halbwegs anGesicht an ihren entblößten Unterkörper Porno-Videos, wie behauptet, hätten sie gemessene Behandlung zu garantieren. presste und sich – mit geöffnetem Hosen- jedoch nicht produziert, beteuerte Mutter Heute jedoch schickt Amerika seine Kinder Beverly. Raouls deutscher Anwalt kann sich zunehmend vor Erwachsenengerichte. Wie stall – am nackten Kindergesäß rieb. Dem amerikanisch-schweizerischen Dop- das „bei so biederen Schweizern“ auch gar Volljährige werden sie dort zu langer, auch lebenslanger Haft verdonnert. In Texas pelbürger wird am 8. November für etwas nicht vorstellen. Der professionelle Umgang mit Porno- wurde 1998 ein Gesetz beraten, das die Toder Prozess gemacht, was anderswo in der zivilisierten Welt schlimmstenfalls mit Be- grafie könnte allerdings die Unbeküm- desstrafe für Elfjährige ermöglicht. La’Tasha verbringt ihr Leben nun im Erratungen durch Jugendhelfer und Kinder- mertheit erklären, mit der Beverly die Vorpsychologen „geahndet“ würde. „Doktor- haltungen ihrer Nachbarin erwiderte: Sie, wachsenenvollzug – ein klarer Verstoß gespiele“ hieß so etwas früher auch in dem Land, das schon vor fünf Jahrzehnten mit den Kinsey-Berichten die ganze Welt Einblick nehmen ließ in die Abgründe seiner sexuellen Phantasien und Praktiken. Und so nennt es auch Raouls deutscher Anwalt Steffen Ufer. „Selbst der Papst würde das nicht strafwürdig finden“, meint der Verteidiger. Was europäische Kinderpsychologen in den Rahmen absolut normaler kindlicher Neugier aufs andere Geschlecht einordnen, gilt in den USA als „schwerer Inzest“. Dafür kann der kleine Raoul im schlimmsten Fall zwei Jahre in eine geschlossene Erziehungsanstalt eingewiesen werden. Spätestens dann dürfte er Hofgang im Mount-View-Jugendgefängnis: Keine Nachsicht mit jungen Tätern d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 225 Ausland grund: Für die Verteidiger hängt an der Erfolgsquote die Höhe ihres Honorars; für die Staatsanwälte oft genug der Fortgang der juristischen Karriere, die fast immer auf das einträgliche Wahlamt eines Richters zielt. Mit allen Tricks und Zwangsmitteln, oft am Rande oder gar jenseits der Legalität, werden dabei Verfahrensbeteiligte unter Druck gesetzt. Eltern können gezwungen werden, gegen ihre Kinder auszusagen – ein Alptraum für jede Familie. In einem Fall wie dem der Wüthrichs hätte eine amerikanische Familie deshalb vermutlich umgehend einen Anwalt eingeschaltet, statt – wie die US-Schweizer – zunächst mit dem Jugendamt zu kooperieren. Dessen Psychologen gaben nämlich vor Gericht an, Sophia habe in „spieltherapeutischen Sitzungen“ die Angaben stellt. In Wenatchee, der „Apfelhauptstadt der Welt“, war Mitte der neunziger Jahre eine ganze Kirchengemeinde, Pfarrer inklusive, beschuldigt worden, bei Massenorgien im Gottesdienst oder beim gemütlichen Beisammensein im Kirchenkeller ihre Kinder für sexuellen Missbrauch herumgereicht zu haben. Gleich reihenweise wanderten Minderjährige daraufhin aus der Obhut ihrer Eltern in die der Fürsorge, ein schnell wachsender Erwerbszweig, der erst im Zuge dieser angeblichen Missbrauchsflut enormen Aufschwung fand. Wie in den meisten Vergleichsfällen zerrissen schließlich Jahre später Berufungsgerichte die Skandalurteile. Amerikas Ringen um die Unschuld der Jugend bleibt davon aber nahezu unberührt. Die erwachsenen Amerikaner bevormunden ihren Nachwuchs bisweilen bis zum Unerträglichen. In vielen Bundesstaaten muss derselbe Mensch, der mit 14 zu „lebenslänglich“ und mit 16 zum Tode verurteilt werden kann, 21 Jahre alt werden, ehe er legal sein erstes Glas Alkohol trinken darf. Im Bereich der Sexualität ist die Verklemmtheit besonders groß: Der Jugendliche, der Tag für Tag im Fernsehen dutzende von Morden, schlimmste Verstümmelungen und sadistische Quälereien in allen Details verfolgen kann, wird dort kaum je eine unbedeckte Frauenbrust oder gar Schamhaar zu Gesicht bekommen. Verbissen kämpfen christliche Elternverbände gegen Sexualkundeunterricht in der Schule. In Kansas setzte die gottesfürchtige Schulverwaltung gerade durch, dass nur noch die biblische Schöpfungsgeschichte als prüfungsrelevant im Unterricht gelehrt werden darf. Kein Wunder, dass in einem solchen Klima eine Nachbarin zur Behörde rennt, wenn sie inkriminierte Regungen bei Kindern beobachtet haben will. Die tiefe kulturelle Kluft, die sich im Fall Wüthrich auftut zwischen der Alten und der Neuen Welt, wird dem kleinen Raoul kaum helfen. Tausende Schweizer forderten vom eigenen Außenministerium „energische Schritte“ – bis hin zum „Abbruch der diplomatischen Beziehungen“. Viel spricht dafür, dass die eifrige Staatsanwältin Nancy Hooper und mit ihr die amerikanische Öffentlichkeit, die an den Protesten weit mehr Anstoß nimmt als an dem Fall Raoul, sich nicht beeinflussen lassen in ihrem Kreuzzug für sexuelle Sauberkeit. Frau Hooper jedenfalls hält all das, was bislang abgelaufen ist, für „völlig normal“. Siegesmund von Ilsemann LES STONE / CORBIS SYGMA gen die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen. Allerdings sind die USA (neben Somalia) der einzige Uno-Mitgliedstaat, der diese Konvention bislang nicht ratifiziert hat, rügt die Menschenrechtsorganisation Amnesty International (ai) in einem kritischen Bericht über amerikanische „Kinder in den Fängen des Strafrechts“. Auch das Vorgehen gegen Raoul hält ai für einen Verstoß gegen weltweit gültiges Menschenrecht. „Yo do adult crime, you do adult time“ – wer wie ein Erwachsener Verbrechen begeht, muss wie ein Erwachsener büßen, heißt einer der neuesten Grundsätze im rachedurstigen Amerika. 100 Jahre nachdem die Vereinigten Staaten, Vorreiter damals, eine gesonderte Jugendgerichtsbarkeit ins Leben riefen, haben fast alle Bundesstaaten ihre Strafvorschriften Angekettete Strafgefangene beim Steineklopfen in Alabama: Haarsträubende Urteile für junge Menschen drastisch verschärft. Als die Wüthrichs merkten, mit welchem Eifer sich die Behörden auf die Spur ihres Raoul setzten, flogen sie Hals über Kopf in ihre zweite Heimat, die Schweiz. Liegen nicht ganz andere Motive zu Grunde, dann können diese Flucht nur jene verstehen, die mit den Praktiken amerikanischer Staatsanwälte und den Eingriffsrechten der Jugendbehörde vertraut sind. Vor allem Europäer stellen immer wieder bestürzt fest, dass es im institutionalisierten Rechtskrieg zwischen Anklägern und Verteidigern nicht darum geht, Hintergründe einer Straftat aufzudecken, Wiederholungsgefahr abzuwägen und den besten Weg zur Rehabilitation eines Gesetzesbrechers zu erkunden. In der Cowboy-Justiz (SPIEGEL 10/1999) steht für beide Seiten der Sieg im Vorder226 der Nachbarin bestätigt, für Jugendrichterin Marilyn Leonard ein wichtiger Grund, das Verfahren einzuleiten. Doch Skepsis ist angebracht: In stundenlangen Gesprächen wurde die Kleine von ganz verschiedenen Personen befragt, in den Augen erfahrener Kinderpsychologen ein schwerer Fehler. Kinder entwickeln unter derartigen Bedingungen kein Vertrauen und versuchen, es den Fragenden recht zu machen. Seit Mitte der achtziger Jahre wurde eine ganze Serie sensationeller Fälle von angeblichem Kindesmissbrauch mit Aussagen von Kindern belegt. Fast alle danach ergangenen Strafurteile wurden von Berufungsgerichten wieder aufgehoben, weil die Anschuldigungen unhaltbar waren. Erst in diesem Jahr wurde in Oregon der letzte dieser Sensationsprozesse einged e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite AP Ausland Sicherheitskräfte auf einem Gebetsplatz in der Provinzhauptstadt Lahore: „Wir werden das Unkraut jetzt ausreißen“ PA K I S TA N Lächeln des Nussknackers Der neue Militärmachthaber General Pervez Musharraf will als Reformer das Erzübel Korruption mit einer „gründlichen Säuberung“ bekämpfen. Von einer baldigen Rückkehr zur Demokratie ist nicht mehr die Rede. I n Islamabad, Pakistans grüner Hauptstadt, hellen sich die Mienen jener Menschen wieder auf, die wegen der Misswirtschaft des abservierten Premiers Nawaz Sharif zu den Verlierern zählten. Die Putschgeneräle haben, so glauben viele, den kleinen Mann gerächt, der sich nur „lunda“ leisten kann, gebrauchte Bekleidung. „Allein die Armee hat in diesem Land Prinzipien“, sagt Gulam Rasul, ein Straßenarbeiter an der eleganten Jinnah Avenue, „die Soldaten werden das Unkraut jetzt ausreißen.“ Korruption im Stil astronomischer Bereicherung ist seit jeher eine Geißel des 1947 aus der Teilung Britisch-Indiens hervorgegangenen Muslim-Staates Pakistan, dem „Land der Reinen“. Der inkompetente Sharif war angeblich der schlimmste 230 Absahner im hohen Amt, so hat es vorigen Dienstag die Federal Investigation Agency dargelegt. Die Vorwürfe lauten auf Geldwäsche im Wert von 40 Millionen Dollar, hinterzogene Steuern in Höhe von 60 Millionen Dollar, schließlich auf Bankbetrug von vergleichsweise moderaten 10 Millionen Dollar. Doch nun soll die Ausbeutung des Staates durch ganze Kohorten von Raffzähnen unter dem Regime der Armee ein Ende finden. Das führte in kleinerem Maßstab dazu, dass Soldaten Diebe festnehmen, die Stromrechnungen kassieren und selbst dem Finanzministerium die Leitungen sperrten, weil es die September-Rechnung nicht beglichen hat. Mit der dritten Machtübernahme durch das Militär, das es in Pakistan bereits auf 25 d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Herrschaftsjahre brachte, ist ein neuer „chief executive“ über das 138-MillionenVolk gekommen: General Pervez Musharraf, 56, ein politischer Niemand aus der Artillerie, dem selbst erfahrene Diplomaten in Islamabad bis vor kurzem nicht mehr als das „Lächeln eines Nussknackers“ zuschreiben konnten. Der Armeechef war westlichen Beobachtern erst im Frühjahr aufgefallen – als Chefplaner des bizarren Kaschmir-Grenzkonflikts mit dem nuklearen Rivalen Indien. Trotz des demütigenden Rückzugs von den Höhen des Himalaja bekundete Musharraf, seine Truppen hätten sich „brillant“ geschlagen. Auch jetzt hat der General viel vor. Gleichsam per Handstreich will er im Land zwischen dem Arabischen Meer und dem REUTERS Putschgeneral Musharraf* REUTERS „Nirgendwo ist Licht zu sehen“ Familienvater Musharraf* Menscheln für die Weltöffentlichkeit Bergkoloss K-2 mit einer „gründlichen Säuberung“ das Erzübel der Korruption abschaffen – und das im Zeitraum von gerade mal vier Wochen. Denn bis zum 16. November sollen die üblichen Verdächtigen – Politiker und deren Berater, Industrielle, Prominente und deren Verwandte und Freunde – Kredite in Milliardenhöhe zurückzahlen, die sie unter Sharif zu traumhaften Konditionen bei den Banken aufgenommen hatten. Jene, die den Zaster nicht sofort herausrücken, riskieren drakonische Strafen, garniert mit öffentlicher Anprangerung. „Hoffnungslosigkeit umgibt uns, nirgendwo ist Licht zu sehen“, teilte Musharraf über das Staatsfernsehen dem Volk mit, „wir haben unsere Würde verloren.“ Doch diesen Pessimismus will der General verscheuchen: „Wir sind ganz unten, aber wir werden wieder nach oben kommen, so Gott will. Allah hilft nur jenen, die sich selbst helfen.“ Auffallend der konziliante Ton, in dem der neue Militärmachthaber sich zu außenpolitischen Fragen äußerte. Mit dem Erz* Oben: bei seiner Fernsehansprache an die Nation am vorvergangenen Sonntag; unten: mit Ehefrau Seba und Enkelin Marriam. d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Ausland „Ich stehe bereit“ Die ehemalige Regierungschefin und Führerin der Pakistanischen Volkspartei, Benazir Bhutto, über den Putsch der Militärs und die Aussichten auf Demokratie Bhutto, 46, wurde im April von einem pakistanischen Gericht in Abwesenheit wegen Korruption zu fünf Jahren Haft, 8,6 Millionen Dollar Geldstrafe und zum Verzicht auf alle politischen Ämter verurteilt. Sie lebt seither in London und Dubai. Staatsstreich des Generals Pervez Musharraf begrüßt. Teilen Sie die Meinung der Offiziere, die in dem Coup den einzigen Ausweg aus der tiefen politischen und wirtschaftlichen Krise des Landes sehen, oder freut Sie vor allem, dass Ihr alter Widersacher, Premierminister Nawaz Sharif, aus dem Amt gejagt wurde? Bhutto: Ich habe nur das Ende des Despotismus begrüßt und meiner Hoffnung Ausdruck gegeben, dass nun die Demokratie in mein Land zurückkehrt. SPIEGEL: Auch der Westen wünscht Demokratie, nur ist ein Militärcoup dafür nicht unbedingt der richtige Weg. Bhutto: Sicher ist ein Putsch kein demokratisches Mittel. Aber so weit wäre es gar nicht erst gekommen, wenn der Westen bereits im November 1996 für die Demokratie in Pakistan eingetreten wäre. Damals wurde meine rechtmäßig gewählte Regierung gestürzt. Es war jener tödliche Schlag für die Demokratie in Pakistan, der jetzt zur Machtergreifung des Militärs geführt hat. SPIEGEL: General Musharraf hat bei seinen ersten Auftritten verkündet, dass er wieder demokratische Verhältnisse herstellen wolle. Glauben Sie an Musharrafs guten Willen? Bhutto: Manche vermuten hinter dem Putsch reinen Machthunger. Der General muss möglichst bald einen Zeitrahmen für die Rückkehr zu demokratischen Verhältnissen ankündigen und deutlich machen, dass er in der gegenwärtigen Situation tatsächlich nur eine Übergangsphase sieht. SPIEGEL: Der Internationale Währungsfonds zog bereits eine von Pakistan dringend benötigte Kreditrate zurück; auch wurde Islamabad vorläufig aus dem Commonwealth, der Gemeinschaft der ehemaligen britischen Kolonien, ausgeschlossen. Bhutto: Pakistan muss sich an die Spielregeln halten, sonst könnte die internationale Lage verheerend werden. Aber 232 S. TOUHIG / CORBIS SYGMA SPIEGEL: Frau Bhutto, Sie haben den Bhutto, Jubel nach dem Putsch in Karatschi: „Hoffnung auf Stabilität“ natürlich braucht der General zuerst einmal eine Atempause – die sich in Grenzen halten und Neuwahlen mit einbeziehen muss. SPIEGEL: Wie viel Zeit geben Sie Musharraf? Bhutto: Drei Monate wären angemessen. Die Zeit drängt, weil die „Brot und Butter“-Probleme der einfachen Pakistaner, etwa die Arbeitslosigkeit und die Inflation, nur im Rahmen eines demokratischen Systems gelöst werden können. SPIEGEL: Wie erklären Sie sich den geringen Widerstand in der Bevölkerung gegen den neuen Machthaber? Bhutto: Meine Landsleute sind erleichtert, dass die Tage der politischen und wirtschaftlichen Probleme unter Sharif vorbei sind. Sie hegen große Hoffnungen, dass die Militärs ihr Land endlich auf den Weg zur Stabilität bringen. Gleichwohl haben die Menschen Angst vor dem Kriegsrecht. Um das richtige Klima für Wirtschaftswachstum zu schaffen, müssen aber sehr bald Wahlen angekündigt werden. SPIEGEL: Wie sicher sind Pakistans Atomwaffen in den Händen der neuen Führung? Bhutto: Obwohl die eigentliche Verfügungsgewalt immer bei der Armee lag, war die Zivilregierung verantwortlich d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 für den Einsatz der Waffen. Diese Regelung gibt es nun ganz offensichtlich nicht mehr, und das bereitet vielen große Sorge. SPIEGEL: Sie haben dem neuen Machthaber Ihre Dienste angeboten? Bhutto: Ich habe keine bestimmte Offerte gemacht. Ich wurde öffentlich gefragt, ob ich einen Posten in der neuen Regierung akzeptieren würde. Als Demokratin würde ich das erst tun, wenn man mich dazu wählt. Ich stehe jedoch bereit, im Interesse meines Landes jede Art von informeller Hilfe zu leisten. SPIEGEL: Wegen mangelnder Beweise wies ein Gericht vor zwei Wochen Korruptionsvorwürfe gegen Sie zurück. Dennoch drohen Ihnen weitere Ermittlungen. General Musharraf hat den Kampf gegen die Korruption auf seine Fahnen geschrieben und will Ihnen keine „sichere Einreise“ garantieren. Bhutto: Das weiß ich nicht, aber es wäre sicherlich kein gutes Zeichen. Meine Partei hat General Musharraf gebeten, die gerichtliche Verfolgung zu stoppen und eine unabhängige Untersuchung einzuleiten. Wir wären sehr glücklich, wenn es wieder um die Fakten gehen würde, und begrüßen das Versprechen des Generals, dass Gerechtigkeit in Pakistan wieder Einzug halten soll. Interview: Padma Rao AP feind Indien sollen „erfolgsorientierte Gespräche“ geführt werden, als vertrauensbildende Maßnahme wurden Eliteeinheiten aus dem Grenzgebiet zurückgezogen. Wie und wann er der Demokratie wieder auf die Beine helfen will, verriet der Putschist allerdings nicht. Vergebens wartet die Ex-Premierministerin Benazir Bhutto auf den Heimruf. „Ich stehe bereit“, grummelte die Führerin der Volkspartei PPP im Londoner Exil und gab dem General „drei Monate“ für die Rückkehr zu demokratischen Verhältnissen (siehe Interview). Bis auf weiteres wird an Pakistans Spitze ein Nationaler Sicherheitsrat schalten und walten, bestehend aus Musharraf als Chef, den Befehlshabern der Luftwaffe und Marine sowie drei dringend benötigten Fachleuten für Finanzen, Wirtschaft und Auswärtige Angelegenheiten. Erst darunter kommt ein ziviles Ministerkabinett, dessen Mitglieder als wichtiges Qualifikationsmerkmal ein sauberes Konto präsentieren müssen. „Das Problem ist, die richtigen Leute zu finden“, räumt General Musharraf da gewisse Schwierigkeiten ein. Von langer Hand, so scheint es, wurde dieser Militärcoup nicht vorbereitet. Musharraf, anders als sein Putsch-Vorgänger Zia ul-Haq kein frömmelnder Islamist, ist wohl mehr in dieses Abenteuer hineingestolpert, weil Sharif ihn auf abenteuerliche Weise feuern wollte. Heldenhafte Anekdoten und eine Offensive des Charmes sollen nun bewirken, den General in ein angenehmes Licht zu rücken. Als Leutnant im zweiten Kaschmirkrieg, in dem die indische Armee 1965 fast bis nach Lahore vorstieß, habe Musharraf „einen Frontabschnitt gerettet“, hieß es. Er habe einen Stapel von Granaten bergen lassen, obwohl seine Geschützstellung beschossen wurde und Feuer fing. „Ich sah ihn an diesem Tag in Aktion und war überzeugt, dass Musharraf kein gewöhnlicher Soldat war“, berichtet Javed Kazi, ein ehemaliger Chef des Geheimdienstes ISI. Auch Menschelndes aus dem Privatleben Musharrafs wurde dosiert in die Medien lanciert. Der General, dessen älterer Bruder als Arzt in Chicago lebt, spielt Tennis und Squash, ist einem Glas Whisky nicht abgeneigt; er hört westliche Musik und liebt Bridge. Als braver Muslim nimmt er regelmäßig am Freitagsgebet in der Zentralmoschee von Rawalpindi teil, und bei d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Ausland AP Ansprachen vor der Truppe betont er stets chen. Daraus wurden dann bis zu seinem den Wert des Glaubens. Tod bei einem Flugzeugabsturz elf Jahre. In die Rolle des Reformers, der ein prakEs gehe jetzt um „Erfolg oder Untertisch bankrottes Land – die Devisenreser- gang“, verkündete Musharraf in seiner Deven betragen nur noch 1,46 Milliarden facto-Regierungserklärung, für die ihn der Dollar – vor dem Zusammenbruch be- amerikanische Botschafter – er war wahren soll, präsentierte sich der General während des Coups gegen Sharif im ferim Garten seines Hauses vor handverlese- nen Kalifornien – als „gemäßigten und nen Journalisten. Geladen waren vor al- patriotischen Mann“ pries. Doch nicht allem türkische Reporter, denen zwischen les scheint politisch so lupenklar, wie Jasminsträuchern und Eukalyptusbäumen Musharrafs Helfer dies gern darstellen. Erdnüsse gereicht wurden. Musharraf erschien mit den beiden Pekinesen Dot und Buddy unter den Armen, stellte seine Familie vor und unterbreitete sodann in perfektem Türkisch ein Bekenntnis. Er sei ein Bewunderer von Kemal Atatürk, der Enormes geleistet habe. „In meinem Bücherschrank steht seine Biografie. Die Türken sind für mich wie Brüder. Bald werde ich das Land besuchen“, plauderte Musharraf und erinnerte an die gemeinsame Mitgliedschaft im fast schon vergessenen Cen- Festnahme eines mutmaßlichen Taschendiebs to-Pakt, einem strate- „Die Armee hat Prinzipien“ gischen Bollwerk gegen die Sowjetunion im Kalten Krieg der fünfEngster Vertrauter des Coup-Masters ist ziger Jahre. der Generalleutnant Mohammed Aziz, ein Musharraf, dessen Vater Militärattaché in ausgewiesener Geheimdienstexperte, der Ankara war, sieht in der Türkei ein Vorbild. den Aufmarsch muslimischer Kämpfer in Dort gibt es ebenfalls einen Nationalen Kaschmir inszenierte. Und Musharraf Sicherheitsrat, der Schlagzeilen machte, als selbst war früher Chef der pakistanischen er Frauen das Tragen von Kopftüchern im Kommandotruppen, die seit dem AfghaÖffentlichen Dienst verwehren wollte. Und nistankrieg gegen die sowjetischen Besatwie die türkische Regierung wird sich auch zer mit den Glaubenskriegern am HinduGeneral Musharraf islamistischer Grup- kusch liiert sind. pen erwehren müssen, selbst in der eigeSolche Widersprüche wird der Refornen Armee, der Zia ul-Haq das Gebot mer, der vom Militärhauptquartier im stau„Glaube, Andacht und Heiliger Krieg“ ver- bigen Rawalpindi aus regiert, seinem Land ordnet hatte. wie dessen Nachbarn erklären müssen. Er Aus Peschawar, Hochburg fanatischer wird auch daran gemessen werden, was Koranschüler, meldete sich schon Qazi mit Nawaz Sharif geschieht. Dem gewählHussain Ahmed, Führer der größten reli- ten Premier, angeblich in der Festung von giösen Oppositionspartei Jamaat-i-Islami Attock am Indus inhaftiert, droht ein VerPakistan – mit einer Drohung. fahren vor dem Kriegsgericht. Auf einem Ahmed und seine Anhänger hatten ähnlichen Umweg überantwortete einst während der jüngsten Artillerie-Schlach- Zia den abgehalfterten Regierungschef ten mit Indien die Attrappe einer Atom- Zulfikar Ali Bhutto dem Henker. rakete nach Muzaffarabad im pakistaniVor allem aber muss Musharraf den wirtschen Teil Kaschmirs gerollt. Mit ihm ist schaftlichen Niedergang Pakistans schnell nicht zu spaßen. „Nur das System des stoppen, in dem niemand mehr etwas inIslam ist in Pakistan erlaubt. Wer weltliche vestiert. Das Militär ist an der Krise nicht Interessen hat, sollte Pakistan verlassen“, unschuldig: Es verbraucht zusammen mit verlangte der Fundi-Chef, „nur im Islam dem Schuldendienst des Landes phantasliegt die Lösung unserer Probleme.“ tische 70 Prozent des BruttoinlandsproNebulös ließ Musharraf unterdessen wis- dukts.Die Rüstung mit Atomwaffen und sen, dass er so lange Chef des Militär- Raketen fordert ihren Preis. regimes bleiben wird, „wie es nötig ist“. Wie ein Stoßseufzer klang da die AnkünDer Putschist Zia hatte seinerzeit ledig- digung des Generals: „Wir haben noch viel lich ein Intermezzo von 90 Tagen verspro- Arbeit vor uns.“ Joachim Hoelzgen 236 d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Ausland G R O S S B R I TA N N I E N Verräter mit Messer nen europäischen Superstaat“, befand der außenpolitische Sprecher der Konservativen, John Maples. Den Boden für den hartnäckigen Kampf der Konservativen um die nationale Souveränität bereiten Tag für Tag die mächtigen Zeitungen des australisch-amerikanischen Medientycoons Rupert Murdoch. Unermüdlich bläst etwa die „Sun“ zur „Schlacht für Britannien“ und denunziert die konservativen Europafreunde Clarke und Heseltine als „Tonys Speichellecker“. Zudem hat das Boulevardblatt mit rund zehn Millionen Lesern in „Kaiser Romano“, dem neuen EU-Kommissionschef Romano Prodi, einen weiteren Hauptfeind ausgemacht. „Der Boss in Brüssel“, so schreckt die „Sun“ ihre Leser, „will unsere Steuern und Streitkräfte kontrollieren.“ Solcher Kampagnenjournalismus bleibt allerdings nicht unwidersprochen. Der populäre Gründer und Eigentümer des VirginKonzerns, Richard Branson, wirbt weitaus beherzter für die Übernahme des Euro als die Regierung. Dennoch stehen Branson und gleichgesinnte Kollegen noch immer relativ einsam da. Nur etwa 30 Prozent der Befragten stimmten in aktuellen Meinungsumfragen für die gemeinsame Währung. In der anhaltenden Angst vor der Aufgabe des Pfundes, das für viele Briten die glorreichen Zeiten des Empire symbolisiert, sieht der bislang erfolglose Tory-Vorsitzende Hague seine größte Chance für die nächsten Wahlen zum Unterhaus in frühestens 18 Monaten. Falls er die Regierung übernehmen kann, will er die Gründungsverträge von Rom neu verhandeln und bei allen weiteren Abkommen eine Sonderklausel für Großbritannien durchsetzen. Manche seiner Parteifreunde würden am liebsten gleich ganz aus der EU austreten. Freilich hält sogar John Major die Politik der totalen Verweigerung, die sein Nachfolger im Parteivorsitz gegenüber Brüssel eingeschlagen hat, schlicht für „verrückt“. Der nach wie vor unangefochtene Premierminister Blair hat – im Gegensatz zum schlauen Helmut Kohl – den Briten allerdings von Anfang an ein Referendum über den Beitritt zum Euro versprochen. Angesichts der grassierenden Verlustängste will er die Volksabstimmung erst nach seiner Wiederwahl wagen. Europäische Touristen, die aus den Staaten mit gemeinsamer Währung kommen, werden deshalb an den zahlreichen Wechselstuben der Londoner Innenstadt wohl noch etliche Jahre rechnen müssen. Ihre Heimatländer sind dort auf den Kurstafeln schlicht als „Euroland“ geführt. Michael Sontheimer AP Tony Blair startete eine halbherzige Kampagne für den Euro, doch die Briten fürchten um ihre Souveränität. Konservative plädieren für den EU-Austritt. darüber, ob Europa mehr sein sollte als nur eine Freihandelszone, in der sich britische Produkte besser vermarkten lassen. Auch die aktuelle Debatte wird im angeblichen „cool Britannia“ mit einer Aufgeregtheit geführt, als beschwöre eine Kabale von Verrätern den Untergang des RestEmpires herauf. Eingeläutet hat die neue Runde im alten Ringen um den rechten Platz in Europa die notorische Brüssel-Gegnerin Margaret Thatcher. Auf dem Tory-Parteitag Anfang Oktober hatte sie ohne jedes britische Understatement erklärt: „Wir sind das beste Europapolitiker Blair, Prodi*: Entscheidung über den Euro erst nach der Wiederwahl M ehr, mehr“, verlangten enthusiasmierte Labour-Abgeordnete vorigen Dienstag von ihrem Regierungschef. In der ersten Sitzung des Unterhauses nach der Sommerpause hatte sich Tony Blair den konservativen Oppositionsführer William Hague vorgeknöpft, als stünde er bereits mitten im Wahlkampf. Bei der Redeschlacht verhöhnte Blair das „hysterische Geschwätz“ seines Kontrahenten. Er warf ihm vor, die Tories zu einer antieuropäischen „Ein-Punkt-Partei“ verkümmern zu lassen. Hague, so der Premierminister staatsmännisch, spiele „ein gefährliches Spiel mit den nationalen Interessen Britanniens“. Der bislang nicht sonderlich populäre Chef der Konservativen zahlte mit gleicher Münze heim. Blair sei der Metzger einer Nation, deren Rechte und Machtbefugnisse „Scheibe für Scheibe“ verkürzt würden: „Der eigene Premierminister schwingt das Messer.“ Einmal mehr ist in Großbritannien heilloser Streit über das ambivalente Verhältnis der Insulaner zur Europäischen Union entbrannt. Seit dem späten Beitritt zur Gemeinschaft im Jahre 1973 schwelt der bei geringstem Anlass entflammbare Dissens * Am 15. Oktober bei einem Restaurantbesuch während des EU-Gipfels im finnischen Tampere. 238 Land Europas.“ Zeit ihres Lebens, so die Ex-Premierministerin, „kamen alle unsere Probleme vom europäischen Festland und alle Lösungen von den Englisch sprechenden Nationen.“ Solche Brandreden mögen den zögerlichen Regierungschef bewogen haben, endlich in die Offensive zu gehen und die lange angekündigte überparteiliche Initiative „Britain in Europe“ zu starten. Gemeinsam mit dem Vorsitzenden der Liberaldemokraten, Charles Kennedy, eingerahmt von den konservativen Ex-Ministern Michael Heseltine und Kenneth Clarke, erklärte der Premierminister das britische Engagement in der EU zur „patriotischen Sache“. Vorsichtig, wie es seine Art ist, versuchte er sogar, seine Landsleute mit dem Gedanken vertraut zu machen, auf die eigene Währung zu verzichten: „Wenn der Euro Erfolg hat und es in Britanniens wirtschaftlichem Interesse liegt, sollten wir mitmachen.“ Selbst Blairs konservativer Vorgänger John Major unterstützte die Allianz, doch der Rückschlag folgte auf dem Fuß. Die unter anderem von Richard von Weizsäcker erarbeitete Empfehlung zur EU-Reform, die eine Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen vorsieht, stärkte die Ressentiments der britischen Antieuropäer. „Dies ist nichts weniger als ein Plan für eid e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Ausland M it einer Tasche voll Kartoffeln trollte sich Magomed Jussupow, 42, vom Markt an der DagestanStraße von Grosny. Es war am vorigen Donnerstag, kurz nach 17 Uhr, und in Moskau machte sich gerade Premier Putin auf den Weg nach Helsinki, wo er eine EU-Delegation zum Beistand gegen die „Terroristen“ gewinnen wollte. Plötzlich warf den schmächtigen Jussupow in seiner zerrissenen Lederjacke ein vierfacher Donnerschlag zu Boden. Als er aufstand, um seine Kartoffeln einzusammeln, sah er hinter sich nur Rauch und Flammen. „Es war, als hätte Allah einen riesigen Feuerstrahl auf den Markt gerichtet“, berichtet er. „Überall lagen zerrissene Leichen herum. Ich sah einen Mann, der weder Arme noch Beine hatte und nur noch einen halben Kopf.“ Jussupow schüttelt sich. Noch am Abend steht ein Pkw auf dem Markt, in dem zwei Tote sitzen. Am Boden daneben liegen Tote ohne Kopf. Und Reste einer Rakete. 62 Tote lautete die erste Bilanz des feindlichen Raketenschlags mitten auf den menschenreichsten Platz der Tschetschenen-Hauptstadt. „Nein, es sollen weit über hundert gewesen sein und unzählige Verletzte“, schreit Sargan Orzujewa, 58, angesichts der Kälte in einem viel zu dünnen grauen Strickkleid. Sie hat die Wagen mit den Verwundeten gesehen, die am Abend Richtung Nasran fuhren. In dem schon im vo- AP Der Raketenschlag ins Stadtzentrum von Grosny verhindert eine politische Lösung im Kaukasus-Konflikt. Aber Sieger wird es nicht geben. AFP / DPA Allahs Feuerstrahl rigen Tschetschenien-Krieg zerstörten Grosny funktioniert längst kein Krankenhaus mehr. Orzujewa ist mit den Nerven am Ende. „Ich fordere ihn zum Duell heraus, diesen Scheißkerl, diesen Goebbels“, brüllt sie über die Straße und meint den Ministerpräsidenten Wladimir Putin, 47, der fast jeden Abend im Fernsehen wider tschetschenische „Banditen“ trommelt, die man „ausrotten“ müsse. Die Frau will ihn „umbringen, am besten beim Pinkeln erschießen – das waren doch seine eigenen Worte gegen die Terroristen“. Sogar die Moskauer Büro-Generäle erschraken: Die ersten Meldungen vom blutigen Überfall wies das Verteidigungsministerium als „verlogene Provokation“ zurück. Wenig später lieferte das Hauptquartier des von General Wladimir Russischer Premier Putin, russischer Panzer bei Schamanow befehligten Expeditionskorps eine andere Version: Militärsprecher Alexander Weklitsch räumte ein, eine „Spezialoperation“ habe einem allseits bekannten Waffen-Basar nahe der Börse von Grosny gegolten, auf dem sich die Terroristen mit Nachschub versorgt hätten – der Platz des frechen öffentlichen Waffenhandels und auch die Kunden seien „vernichtet“ worden. Friedliche Bürger seien nicht betroffen, denn welch vernünftiger Mensch begebe sich schon auf einen Waffenmarkt? Premier Putin gab den Spezialeinsatz zu, be- Russischer General Schamanow stritt aber einen Zusammenhang Waffenhändler vernichtet mit den Explosionen. Schon ruderte Weklitsch zurück: Die Tschetsche- wohner Grosnys jetzt vor allem mit Lenen selbst hätten einen Munitions-Lkw in bensmitteln einzudecken: „Es gibt ja kaum die Luft gejagt. noch etwas zum Beißen in der Stadt. Strom Jussupow leidet unter solchen Lügen: und Gas haben uns die Russen schon vor „Als ob die Kämpfer um Bassajew oder zwei Wochen abgedreht.“ Chattab nach Grosny kommen müssten, Auch in der Entbindungsklinik Nummer um dort auf einem gewöhnlichen Markt eins schlugen an diesem Donnerstag RaMaschinenpistolen und Handgranaten zu keten ein (25 getötete Frauen und Kinder), kaufen.“ im Olympiski-Bezirk und in einer Moschee Auf dem Zentralmarkt gibt es praktisch in der Kalinin-Siedlung am Stadtrand (13 alles zu kaufen. Dort suchen sich die Ein- Opfer). Im nahen Dorf Urus-Martan hat AP TSCHETSCHENIEN einer Minenexplosion vor Grosny: „Ich fordere ihn zum Duell heraus, diesen Goebbels, ich will ihn umbringen“ REUTERS Auch die Gegenfahrbahn war verstopft. Jussupow vor zwei Tagen einen russischen der Entwurzelten und Entrechteten zog Blindgänger gesehen. „Ich helfe, so gut ich am Ortsschild vorbei Richtung Westen, Autos ohne Gepäck, in denen meist nur kann“, stand zynisch auf dem Metallman- über die einzige noch freie Trasse nach In- Männer sitzen, fuhren in Richtung Osten: tel der nicht explodierten Rakete. guschien, derweil der Weg nach Norden Tschetschenen, die Frauen und Kinder in Sicherheit gebracht haben und nun zurück Seit letztem Donnerstag weiß er, was durch Gefechte versperrt war. die russischen Militärs meinten, als sie für Eine achtköpfige Familie zwängte sich nach Grosny wollten, um gegen die vordieses Mal eine ganz andere Methode bei mitsamt ihren Koffern in ein Lada-Auto, rückenden Russen zu kämpfen, für die Under Einnahme Grosnys ankündigten. Nicht jemand hatte irgendwo einen Kühllaster abhängigkeit ihres Landes „Itschkeria“ mit Panzern und Infanterie würden sie in aufgetrieben, wackelige Wohnwagen – auf oder schlicht nur zum Schutz des eigenen die Rebellenhochburg einrücken, beteuer- irgendeiner Baustelle requiriert – schau- Heims. Denn mehr und mehr versank te ein General vorige Woche, um nicht so kelten vorbei, auf dem regennassen Dach Grosny in Gesetzlosigkeit. Marodeure durchstreiften die sich leerenden Stadthohe Verluste zu erleiden wie 1994/96. lagen Teppiche und Federbetten. Dann fiel der Begriff „Wydawliwanije“, Dazwischen tauchten immer wieder viertel. Stadtkommandant Isa Munajew gab sich was so viel wie „Hinausdrängen“ heißt. Tankwagen mit Dieselöl auf – hochwerHinter dem vagen Begriff könnte eine Tak- tige Schmuggelware, das Einzige, was trotzdem optimistisch. „Wir sind diesmal tik gezielter Terrorschläge mitten ins Stadt- findige Tschetschenen jenseits der Gren- wesentlich besser auf die Verteidigung von gebiet stecken, um die Bevölkerung in ze noch zu Geld machen können. Der Grosny vorbereitet als im letzten Krieg“, Panik und zur Flucht zu treiben. Rohstoff ist meist irgendwo aus einer sagte er. „Wir hatten genügend Zeit, und 99 Die Einnahme einer weitgehend ge- der Pipelines, die durch Tschetschenien Prozent unserer Kämpfer sind durch das Feuer des ersten Kriegs gegangen.“ räumten Stadt erscheint den Militärs we- führen, abgezapft. Das gilt nicht für Musse, sentlich leichter – obwohl den 14-jährigen Jungen, der auch die Verteidiger sich offrierend vor Jussupows Haus fenbar zurückhalten, bis stand. Doch auch er hatte Frauen, Kinder und Alte das eine Militärjacke übergezoLand verlassen haben. Algen und eine Kalaschnikow lenfalls an strategisch wichtigeschultert. „Er hat noch gar gen Punkten stießen die keinen Verstand“, sagt JusInvasoren auf Widerstand – supow traurig, „aber er sieht, und verloren gleichwohl was hier los ist und woher schon 200 ihrer Soldaten. die Raketen kommen.“ Insgesamt sind womöglich In der benachbarten Ingubereits eine viertel Million schen-Republik, wo 300 000 Tschetschenen geflüchtet, Einwohner und inzwischen mehr als ein Viertel aller Einfast ebenso viele Flüchtwohner. Das Bombardement linge leben, sieht Präsident im Zentrum Grosnys hat Ruslan Auschew kaum noch jetzt noch tausende auf die einen Ausweg aus der eskaBeine gebracht, die den weilierten Krise. „Moskau hat teren Kriegsverlauf eigent- Markt in Grosny nach Raketentreffer: Vertreiben durch Bombenterror das Volk der Tschetschenen lich zu Hause abwarten wollten. Die Saischanow-Straße, die parallel 40 Kilometer weiter, am Kontrollpunkt zu Banditen erklärt und es damit in die zum Flüsschen Sunscha aus Grosny hin- „Kawkas“, machten die inguschischen Ecke gedrängt. Weder für die eigene ausführt, war vorigen Freitag mit Flücht- Behörden an diesem Freitag die Grenze Armee noch für die Tschetschenen hat lingen verstopft. nach Wochen wieder auf – schon am Russland eine Ausflucht offen geSie hatten ihre wichtigste Habe auf of- frühen Morgen kapitulierten sie vor den lassen.“ Wohin das führt? „Jetzt beginnen beide fene Lastwagen gepackt: Schränke, Lam- andrängenden Tschetschenen, selbst die pen, Bettgestelle, letzte Küchenvorräte, ab Wagennummern werden kaum noch regis- Massen miteinander zu kämpfen, aber es wird keinen Sieger geben.“ Christian Neef und an auch eine Kuh. Ein panischer Zug triert. d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 241 Ausland FOTOS: REUTERS doch nach einem fintenreichen Stimmenpoker in der Beratenden Volksversammlung konnte Megawati sich einen Tag später immerhin zur Vizepräsidentin wählen lassen. Und ihre Aussichten, einmal in das höchste Amt des Staates aufzurücken, stehen keineswegs schlecht. Denn der nur einen Tag zuvor zum Staatspräsidenten gewählte Muslimführer Abdurrahman Wahid, 59, ist nach zwei Schlaganfällen ein schwer kranker Mann. Der Führer von Nahdatul Ulama, der „Renaissance der Rechtsgelehrten“, mit 30 Millionen Mitgliedern größte muslimische Vereinigung des Landes, hatte mit 60 Stimmen Vorsprung die Favoritin geschlagen. Die Abgeordneten der „Zentralen Achse“, eines losen Verbandes von Muslimparteien, die Wahid zur Macht verholfen hatten, ließen ihrer Freude freien Lauf. „Allahu akbar“, schallte es durch die Beratende Volksversammlung, „Allah ist groß“. Doch im Archipel der 17 500 Inseln hielt sich die Begeisterung eher in Grenzen. Auch wenn Wahid mit seiner Wahl bewiesen hatte, dass er ein geschickter politischer Strippenzieher ist, fragen sich viele: Kann der gebrechliche Staatschef tatsächlich das von ethnischen Konflikten, Wirtschaftskrise und Korruption geplagte Land die nächsten fünf Jahre auf den Weg zu Staatsoberhäupter Megawati, Wahid*: Vertrauen in den blinden Seher Wohlstand und Demokratie führen? Zudem gilt der Präsident als unbereINDONESIEN chenbar. Nach seinem letzten Schlaganfall, glaubt der populäre TV-Journalist Wimar Witoelar, habe sich Wahid „nicht in der Gewalt“. Und auch der Ex-Minister Sarwono Kusumaatmadja hält Wahids „Urteilsvermögen für beeinträchtigt“. Kurswechsel in Jakarta: Der Muslimführer Wahid löst Vor allem die einfachen Leute aber verden Suharto-Gefolgsmann Habibie als Staatspräsidenten ab. Der ehren Wahid wie einen Heiligen. So wie Megawati als Erbin ihres Vaters Sukarno schwer kranke Religionsgelehrte gilt als unberechenbar. von den Armen gefeiert wird, profitiert um Schluss bekam das einfache Volk der Erde war nicht zu überhören. Ihre Wahid davon, aus einer Familie von Relidoch noch seinen Willen. Es feierte „Mama Mega“ hatte es doch noch ge- gionsgelehrten zu stammen. Er wird resseinen Sieg, auch wenn der nicht so schafft: Zwar war die Tochter des Staats- pektvoll Gus Dur genannt. Von seinem gründers Sukarno bei der ersten demo- Vater, einst Minister unter Sukarno, übertriumphal ausgefallen ist wie erhofft. In den Moscheen der indonesischen kratischen Präsidentschaftswahl am Mitt- nahm er den Ehrentitel Gus, der so viel Hauptstadt war das muslimische Nachtge- woch nicht zum vierten Staatsoberhaupt wie „hoch verehrte Heiligkeit“ bedeutet. bet schon lange gesprochen, da zogen die der Republik Indonesien gekürt worden, Dur ist die Kurzform seines Vornamens. Doch in der Beratenden Anhänger Megawati SukarVolksversammlung konnte noputris, 52, noch immer er nicht mal den Stimmzetdurch Jakarta. Mit „Mega, tel ohne fremde Hilfe abMega“-Rufen bejubelten geben. sie eine Politikerin, die zum „Einen deutlicheren BeIdol der verarmten Massen weis, dass wir eine wirtund Zukurzgekommenen schaftlich kranke Nation aufgestiegen ist; aber imsind, hätte es nicht geben mer wieder wurde die Forkönnen“, klagt ein Regiederung nach „Reformasi“ rungsangestellter in Jakarta. laut, manche brüllten gar Die Finanzmärkte rea„Revolusi“ – der Ruf nach gierten prompt negativ.Wadramatischer Veränderung ren der Kurs der Landesdes mit 210 Millionen Menwährung Rupiah und Jaschen viertgrößten Landes kartas Börsenindex in der Erwartung eines Wahlsieges * Nach der Wahl Megawatis zur von Megawati am Vortag Vizepräsidentin am vergangenen deutlich angestiegen, so Verletzter Demonstrant in Jakarta: Für „Mama Mega“ auf die Straße Donnerstag. Sanftes Gesicht des Islam Z 242 d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Ausland sackten die Werte, nachdem Gus Dur zum Führer der Nation bestimmt war. Auch wenn der Religionsgelehrte ein Reformer ist, der den säkularen Staat verteidigt und mit engstirnigen Islamisten wenig gemein hat: Das Volk in den großen Städten, allen voran die Studenten, fühlte sich betrogen. Eine neue Welle der Gewalt drohte auszubrechen, als während eines Protestzugs auch noch eine Autobombe explodierte und zwei Tote forderte. „Hätte es noch eines Beweises bedurft, wie viele Defizite unsere junge Demokratie nach wie vor hat und wie weit der Weg zu reifen politischen Strukturen ist“, sagt Jusuf Wanandi, Direktor des Zentrums für Strategische und Internationale Studien in Jakarta, „dann wurde er in den vergangenen Tagen erneut erbracht.“ Die Hauptschuld dafür gibt er Megawati selbst. „Sie ist einfach zu dumm und träge, um funktionierende Koalitionen bilden zu können, die sich im politischen Alltagsgeschäft bewähren“, kritisiert der anerkannte Wissenschaftler. „Megawati hatte alle Chancen gehabt, dieses Land allein zu regieren; doch sie hat keine genutzt.“ Ganz so Unrecht hat Wanandi nicht. Als am 7. Juni dieses Jahres fast 131 Millionen Wahlberechtigte zum ersten Mal seit 1955 in freien Wahlen über die Zukunft ihres Landes abstimmten, schien es wenig Zweifel zu geben, dass die langjährige Hausfrau in Zukunft die Geschicke des Landes bestimmen würde. Ihre Indonesische Demokratische Partei des Kampfes zog mit fast 34 Prozent der Stimmen als Sieger ins Parlament ein. Mit nur gut 22 Prozent landete die Regierungspartei Golkar von Präsident Habibie abgeschlagen auf dem zweiten Platz. Dass sie sich fortan wie eine javanische Königin auf dem Ergebnis ausruhte, anstatt Allianzen mit den beiden Reformpolitikern Amien Rais und Gus Dur zu bilden, ließ sie in deren Augen arrogant erscheinen. Ihren Machthunger verbarg „Mega“ gleichwohl nicht. „Als stärkste Partei“, verkündete sie in einer emotional überladenen Fernsehansprache, „habe ich automatisch den Anspruch auf das Amt des Präsidenten.“ Wie meist bei öffentlichen Auftritten flossen Tränen über ihre Wangen. Damit rührte sie ihre Anhänger, ihre Gegner werteten Megawatis Selbstgefälligkeit als groben Regelverstoß im feinen Schattenspiel der javanischen Konsenspolitik. Zwar waren sich multinationale Konzerne und Banken in Jakarta einig, dass es dem eher bescheidenen politischen Talent gelungen war, die besten Experten für ihr zukünftiges Kabinett zusammenzustellen. Aber bald sickerte auch durch, dass ihre Reihen zu einem großen Teil mit Chinesen und Christen besetzt waren. In einem Land, in dem nahezu 90 Prozent der Bevölkerung sunnitische Muslime sind, lie244 d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 ferte sie ihren Gegenspielern aus dem islamischen Lager damit Munition. Obgleich der liberale islamische Gelehrte Gus Dur gegengehalten hatte, wenn Islamisten meinten, eine Frau dürfe nicht Präsidentin Indonesiens werden – im Oktober schwenkte der für seine raschen Meinungswechsel bekannte Wahid um. „Als Politikerin ist Megawati eine Null für mich“, sagte er über die Frau, die immer noch zu den Freunden seiner Familie gehört. Der fast blinde Seher kündigte an, sich selbst als Präsident zu bewerben. Präsident Bacharuddin Jusuf Habibie, 63, witterte in diesem Streit der Opposition seine letzte Chance für eine Bestätigung im Amt. Im Mai 1998 hatte der in Deutschland ausgebildete Flugzeugingenieur die Präsidentenwürde vom Autokraten Suharto übernommen. Dass es zur schnellen Demokratisierung im Inselreich kam, mit freier Presse und einem funktionierenden Mehrparteiensystem, war zweifellos das Verdienst des kleinen, quirligen Mannes. Wie um seinen Ruf, nur eine Marionette des Altmeisters Suharto zu sein, noch zu bekräftigen, blieb Habibie untätig, als kurz vor der Wahl die Untersuchungen der Korruptionsvorwürfe gegen seinen Mentor eingestellt wurden. Letztlich besiegelte aber die Krise in Osttimor Habibies politisches Schicksal. * Nach der Ablehnung seines Rechenschaftsberichts durch die Beratende Volksversammlung. REUTERS Zu Hause wurde ihm verübelt, dass er die Abtrennung der ehemaligen portugiesischen Kolonie von Indonesien zugelassen hat. Dies könnte zur Balkanisierung des gesamten Archipels führen. Im Ausland wurde ihm angelastet, dass er seinen Armeechef und Verteidigungsminister Wiranto nicht früher zur Mäßigung brachte, als Militärs und Milizen auf der Kaffeeinsel nach dem Unabhängigkeitsreferendum verbrannte Erde hinterließen. „Wenn Sie nicht zur Wiederwahl antreten“, hatte ihm seine Golkar-Partei vor WoGescheiterter Präsident Habibie* „Deutscher Anker in Indonesien“ chen durch einen Minister unterbreiten lassen, „dann gehen Sie als Held der Demokratie in die Geschichte Indonesiens ein.“ Habibie entgegnete: „Ich will nicht Held werden, sondern Präsident.“ Erst als in der Nacht zum vergangenen Mittwoch das erweiterte Parlament den Rechenschaftsbericht seiner gerade 17 Monate währenden Regentschaft verwarf, zog Habibie die Präsidentschaftskandidatur zurück. Mit Habibies Abgang verliert vor allem die deutsche Wirtschaft ihren wohl größten Lobbyisten. Der einstige Technologieminister unter Suharto, der in Aachen studierte, galt in Jakartas Wirtschaftskreisen als „deutscher Anker in Indonesien“, war bei Politikern und Managern aus der Bundesrepublik äußerst beliebt. Nach der Entmachtung Habibies, dessen jüngere Schwester bei dem Essener Konzern Ferrostaal als Repräsentantin für Indonesien unter Vertrag steht, könnten der deutschen Industrie erhebliche Einbußen drohen. Dass unter dem neuen Staatschef Wahid radikale Muslime an die Schalthebel in Jakarta gelangen könnten, befürchten selbst die Amerikaner nicht. „Abdurrahman Wahid ist eine beeindruckende Gestalt“, sagte US-Staatssekretär Stanley Roth beim Zwischenstopp in Singapur, „mit ihm können wir sicher gut zusammenarbeiten.“ In religiösen Fragen ist Wahid, der in Kairo und Bagdad studiert hat, kein Betonkopf. Stets hat er betont, dass in der säkularen Gesellschaft des Inselarchipels staatliche Politik um des inneren Friedens willen nicht mit Religion vermengt werden dürfe. In Wahids Heimat Java versteht sich der heimische Adat-Islam eher als Verschmelzung der traditionellen Riten mit dem sunnitischen Islam. Bereitwillig nahm Wahid deshalb auch die Mitgliedschaft im israelischen Friedensinstitut von Schimon Peres an. Beziehungen zum jüdischen Staat sind für ihn kein Problem. Nicht nur für den populären Kommentator Salim Said verkörpert Wahid daher das „sanfte Gesicht des Islam“. Als Privatmann liebt Wahid Beethoven und debattiert mit deutschen Besuchern gern die Ergebnisse der Fußballbundesliga. Politisches Geschick und Versöhnungsbereitschaft will Wahid bald demonstrieren. Zwar wird er den Ex-Präsidenten Suharto wegen Korruption zur Rechenschaft ziehen. Aber er wird den Erkrankten sofort begnadigen, wenn der im Gegenzug seine nach Meinung des Volkes geraubten Milliarden den Indonesiern zurückgibt. So war es für den alten Fuchs auch nichts Außergewöhnliches, dass er einen Tag nachdem er die Konkurrentin um den sicher geglaubten Präsidentenposten gebracht hatte, Megawati als seine Stellvertreterin wählen ließ. „Es war für das Wohl unserer Bürger“, glaubt Wahid, „wir hätten sonst die Unruhen nicht mehr in den Griff gekriegt.“ Jürgen Kremb d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 245 Ausland Die kurze Flucht des früheren Vichy-Beamten Papon blamierte die Justiz. Nun hat er jede Gnade verwirkt. D er alte, aber ungemein rüstige Herr, der sich vor zwei Wochen mit seiner Tochter Aline und einer Enkelin an der Rezeption des Hotels „Forum“ im Walliser Martigny präsentierte, nannte sich Monsieur de la Roche-Foucauld. Das Pseudonym war wohl mit Bedacht gewählt. Der falsche Name sollte seinem Träger offenkundig höhere Weihe verleihen. Denn François de La Rochefoucauld ist in Frankreich jedem Schüler ein Begriff: ein Klassiker des 17. Jahrhunderts, dessen „moralische Sentenzen und Maximen“ über Schuld, Gnade und Erlösung zur Pflichtlektüre gehören. Nach fünf Tagen reisten die Gäste mit unbekanntem Ziel wieder ab – und stürzten ganz Frankreich in helle Aufregung, ja in eine veritable Staatsaffäre. Denn bei dem selbst ernannten Moralisten handelte es sich in Wahrheit um den berühmtesten Justizflüchtling des Landes: Maurice Papon, 89, erster und einziger hochrangiger Franzose, der wegen Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit während der Nazi-Zeit verurteilt worden ist. Seit vergangenem Donnerstag ist das Verdikt – zehn Jahre Haft – rechtskräftig. Das Kassationsgericht in Bordeaux wies die Berufung zurück, weil der Beschuldigte nicht erschienen war. Gegen Papon, der sich nach eigener Darstellung ins „Exil“ begeben hatte, erging sogleich ein internationaler Haftbefehl, und schon am selben Abend nahm die Schweizer Polizei ihn in Gstaad fest, wobei sie 90 000 Francs und drei Pässe in Beschlag nahm. Der franzö- SIPA PRESS Kaltes Herz sische Geheimdienst hatte offenbar Papons cisque“, er trug. Zudem mochte sich der Präsident dem „schädlichen Einfluss der Spur nie verloren. Am Freitagabend ließ die eidgenössische jüdischen Lobby“ nicht beugen, wie er sehr Regierung den unerwünschten Gast aus viel später zugab. Das Verfahren gegen Pa„Gründen der nationalen Sicherheit“ nach pon versandete und wurde 1987 eingestellt. Doch die Protektion des furchtbaren Frankreich fliegen. So wird Papon seine letzten Tage, seine „Annäherung an die Funktionärs bröckelte. Staatschef Jacques Ewigkeit“, wie er sagt, statt im erhofften Chirac brach 1995 mit dem Schweigen seiSeelenfrieden im Gefängnis verbringen ner Vorgänger. Zum ersten Mal bekannte müssen. Dem vermochte er sich über ein ein Präsident der Republik, dass der „französische Staat“, und nicht nur die Vichyhalbes Jahrhundert zu entziehen. Im Alter von 31 Jahren Generalsekretär Clique, „untilgbare Schuld“ gegenüber den der Präfektur des Departements Gironde, Juden auf sich geladen habe. Diese Kehrtwende ermutigte Papons hatte sich Papon als beflissener Helfer der Gestapo im besetzten Frankreich hervor- alte Feinde, Kommunisten und jüdische getan. Zwischen dem 20. Juni 1942 und dem Verbände, den Kampf gegen den Selbst16. Mai 1944 schickte er mit Hilfe ihm un- gerechten noch einmal aufzunehmen. Im terstellter französischer Polizisten 1690 Ju- Oktober 1997 begann in Bordeaux der den, darunter 223 Kinder, in zwölf Kon- Prozess gegen den Repräsentanten der alten Bürokraten-Elite. Als das Verfahren vois in die deutschen Todeslager. Dem peniblen Beamten mit dem kalten jetzt endgültig abgeschlossen wurde, hatHerzen gelang nach dem Krieg im all- te die französische Justiz insgesamt 18 gemeinen Wunsch nach Verdrängen und Jahre gebraucht, um den reulosen NaziVergessen eine atemberaubende Karriere. Helfer zu richten – schon das ein Skandal Er brachte es zum Präfekten in Algerien, für sich. Dem in der ersten Prozessphase gezum Polizeichef von Paris, zum gaullistischen Abgeordneten und schließlich so- sundheitlich schwer mitgenommenen Greis gar bis zum Budgetminister unter dem gewährte das Gericht Haftverschonung liberalkonservativen Präsidenten Valéry bis zum Revisionstermin. Drei Polizisten wachten mit Videokameras vor Papons Giscard d’Estaing. Haus in Gretz-ArmainMit seinen guten Bezievilliers östlich von Paris. hungen schaffte es der nützAber sie waren nicht befugt, liche Staatsdiener mehrerer ihn festzuhalten, als er sich Herren und Republiken, in am 11. Oktober mit der Bedie Ehrenlegion aufgenommen zu werden und obenmerkung absetzte, er begedrein auch noch eine Mebe sich „für zwei oder drei daille als WiderstandskämpTage“ in ärztliche Behandfer zu bekommen. Erst als lung. Unkontrolliert passier1981 Giscard d’Estaing von te Papon im Auto die dem Sozialisten François Schweizer Grenze. Mitterrand abgelöst wurde, Einer seiner treuesten kam seine Rolle bei den JuFreunde, der Ex-Offizier dendeportationen ans Licht. Hubert de Beaufort, 72, kein Aber Mitterrand hatte so alter Vichy-Kamerad, sonseine eigenen Erfahrungen dern Sohn eines Widermit Vichy gemacht, dessen standskämpfers, hatte die höchsten Orden, die „Fran- Fahndungsaufruf in „Libération“ Flucht organisiert. Es gebe ein „Netz von Sympathisanten in Politik und Industrie“, so de Beaufort, die Papon ein schmähliches Schicksal im Gefängnis ersparen wollten. „Ich werde den Kopf nicht senken und bis zum letzten Atemzug jede vorgebliche Schuld bestreiten. Ich zweifle nicht, dass die Geschichte mir Gerechtigkeit erweisen wird.“ Solch hehre Abschiedsworte hinterließ Papon in einem Brief, bevor er seine vorletzte Reise antrat – eitel, von Selbstmitleid erfüllt und uneinsichtig bis zum Schluss. Hätte er nur seinen La Rochefoucauld genauer gelesen. „Der Stolz“, so lautet eine der Maximen des großen Moralisten, „will nichts schulden, und die Selbstsucht will nichts bezahlen.“ Romain Leick SICHOV / SIPA PRESS FRANKREICH Verurteilter Papon in Paris „Jede Schuld bestreiten“ Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite AFP / DPA Ausland Afrika-Besucher Clinton am „Tor ohne Wiederkehr“ vor Dakar: Wie Vieh auf die Schiffe getrieben R E PA R A T I O N E N Sühne für „schwarzen Holocaust“ Ermutigt durch deutsche Zahlungen an Zwangsarbeiter, fordern Afrikaner und Afroamerikaner jetzt Entschädigung für die Zeit der Sklaverei. 250 Ihr Ruf nach Reparationen wird gegenwärtig durch die Sammelklagen von Opfern des Nationalsozialismus beflügelt: Wenn Firmen Entschädigung für Sklavenarbeit in Nazi-Deutschland leisten, müsse auch Wiedergutmachung für die fürchterlichen Menschenrechtsverletzungen an den Schwarzen möglich sein. „Die Zahlungen der Deutschen sind ein Präzedenzfall, der uns enorm hilft“, sagt der kenianische Professor Ali Mazrui. Der in den USA lehrende Politologe will die „Kommission bedeutender Persönlichkeiten“ beleben, die sich Anfang der neunziger Jahre im Namen der Organisation Afrikanischer Einheit mit der Reparationsfrage beschäftigte. * Szene aus dem Steven-SpielbergFilm „Amistad“. d e r s p i e g e l STILLS / STUDIO X D er Name des Unternehmens erinnert an ein Versprechen: „Fourty Acres and a Mule“ nennt Spike Lee, der Filmemacher der Rap-Generation, seine Produktionsfirma: Mit 40 Morgen Land und einem Maulesel pro Familie wollte der US-Kongress nach dem amerikanischen Bürgerkrieg die Schwarzen für die Leiden der Sklavenzeit entschädigen. Die Zusage von 1865 wurde nicht erfüllt. Weil das entsprechende Gesetz nicht durchkam, erhielten die befreiten Sklaven keine Hilfe; und die Schwarzen haften bis heute am Bodensatz der amerikanischen Gesellschaft. Doch seit damals lebt die Idee, dass die Weißen dieser Welt den Schwarzen etwas schulden. Amerika verdanke seinen Wohlstand auch der unbezahlten Arbeit der Sklaven; und die Verschleppung von Millionen Menschen aus Afrika sei mitverantwortlich für die andauernde Unterentwicklung des Schwarzen Kontinents, argumentieren politische Aktivisten in den USA und in Afrika. Sie fordern Sühne für das „Verbrechen des Jahrtausends“. Unter der Leitung des inzwischen verstorbenen nigerianischen Großunternehmers und Politikers Moshood Abiola wollte die Kommission die Forderung nach Reparationszahlungen einer breiten Öffentlichkeit vermitteln. Deshalb wurde neben namhaften Historikern auch die weltweit beliebte südafrikanische Sängerin Miriam Makeba in das Gremium berufen. Das Anliegen der Schwarzen ist dennoch über Afrika und die afrikanische Diaspora hinaus kaum bekannt geworden. In diesem Jahr sollte nun am 23. August ein „Internationaler Gedenktag an den Sklavenhandel“ die Menschen aufrütteln; die Unesco hatte dazu aufgerufen. In den Vereinigten Staaten und in Großbritannien liefen Fernsehdokumentationen. New Yorker Afroamerikaner versenkten ein Denkmal im Meer zur Erinnerung an die „Middle Passage“, die grauenhafte Überfahrt ihrer Vorfahren nach Amerika. In Li- Verschleppte Schwarze*: Über 50 Millionen Opfer 4 3 / 1 9 9 9 verpool enthüllte der schwarze UnterhausAbgeordnete Bernie Grant eine Gedenktafel. Reeder aus der englischen Hafenstadt hatten allein zwischen 1783 und 1793 über 300 000 Sklaven transportiert und dabei zwölf Millionen Pfund verdient. Grant, der dem „African Reparations Movement“ angehört, verwies darauf, dass Traditionsbanken wie Barclays ihre frühen Profite dem Geschäft mit dem Menschenhandel verdanken. Auf englischen Plantagen in der Karibik, so berichtete die TV-Serie „Totgeschwiegen: Britannien und der Sklavenhandel“, leisteten die aus Afrika Verschleppten pro Jahr drei Milliarden Arbeitsstunden. Solche Zahlen schreien nach Kompensation. „Wir sind weltweit die einzige Gruppe, die noch keine Entschädigungszahlungen erhielt“, protestiert in Ghana die „African World Reparations and Repatriation Truth Commission“, die erst in diesem Jahr gegründet wurde. Ihre Vorsitzende Debra Kofie sieht die erfolgreichen Bemühungen von Juden und Indianern. Die Gruppe in Accra möchte die Nachkommen der Nutznießer von Sklaverei und Kolonialismus vor ein Uno-Tribunal oder vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag bringen. Sie fordert von westlichen Regierungen und Unternehmen die Irrsinnssumme von 777 Billionen Dollar – und entwertet sich so gegenüber anderen Initiativen. Ernst zu nehmende Advokaten der Wiedergutmachung für die schwarze Rasse wissen nämlich, dass sich das historische Unrecht weder finanziell erfassen noch juristisch aufarbeiten lässt. Denn anders als die Verbrechen Hitler-Deutschlands liegen die Untaten der Sklavenzeit mindestens 130 Jahre zurück. Überlebende kann es deshalb nicht geben; und die Zahlen über die größte Zwangsmigration der Weltgeschichte gehen weit auseinander. Nach neuesten Recherchen des britischen Historikers Hugh Thomas wurden zwischen 1440 und 1870 nachweislich 13 Millionen Afrikaner aus dem Schwarzen Kontinent verschifft (SPIEGEL 8/1998). Kollege Basil Davidson kommt dagegen auf über 50 Millionen Opfer der Sklaverei, weil er zur Verschleppung die Toten aus Kriegen und Hungersnöten hinzurechnet. In der Black-Power-Bewegung engagierte Politiker beziffern die Opfer des „schwarzen Holocaust“ gar auf 100 Millionen. Nur: Die auf hohe Zahlen fixierten Radikalen verdrängen meist, dass die Masse der Sklaven von Afrikanern gefangen und verkauft wurde. Die weißen Händler errichteten in der Regel nur Forts entlang der Küste und erwarben ihre menschliche Ware im Tausch gegen Waffen, Stoffe, Branntwein und andere westliche Produkte. Allerdings schufen Europäer und Amerikaner eben eine Nachfrage, die weite Teile Afrikas ihrer leistungsfähigsten Mend e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite A. BASTIAN / CARO Ausland Schwarzen-Aktivistin Makeba „Verbrechen des Jahrtausends“ schen beraubte und dabei Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen zerstörte. Den horrenden Schaden suchte eine Minderheit aufgeklärter Weißer schon im vorigen Jahrhundert zu begrenzen: Amerikaner schafften befreite Sklaven zurück nach Afrika und halfen ihnen bei der Gründung des Staates Liberia. Britische Abolitionisten siedelten ehemalige Sklaven in Freetown (Sierra Leone) an. Heute sehen westliche Politiker in der Entwicklungshilfe für Afrika, Amerikaner in den Fördermaßnahmen für ihre schwarzen Mitbürger eine Wiedergutmachung für die Sklaverei. Doch statt Stipendien und Krediten verlangen Gruppen wie die Washingtoner „National Coalition of Blacks for Reparations in America“ (N’Cobra) Sühnezahlungen. Im Kongress bringt John Conyers, ein schwarzer Demokrat aus Michigan, seit BPK * Kolorierter Holzstich vom Anfang des 19. Jahrhunderts. 1989 Jahr für Jahr eine Gesetzesvorlage ein: Die Volksvertreter sollen die Sklaverei als Unmenschlichkeit anerkennen und Vorschläge für die Entschädigung der Opfer erarbeiten. Bislang fand Conyers keine Mehrheit. Conyers und N’Cobra berufen sich auf die deutschen Zahlungen an Israel und Holocaust-Überlebende und nennen zudem ein amerikanisches Vorbild: Als Entschädigung für ihre Internierung im Zweiten Weltkrieg erhielten 60 000 US-Bürger japanischer Herkunft 1988 je 20 000 Dollar. Der damalige Präsident Ronald Reagan entschuldigte sich zudem bei den JapanAmerikanern, weil sie zu Unrecht als Feinde verfolgt wurden. Bei den Schwarzen hat sich bislang noch kein US-Präsident offiziell entschuldigt. Auf seiner Afrika-Reise 1998 bedauerte Bill Clinton zwar den Sklavenhandel. Er hatte Tränen in den Augen, als er auf der berüchtigten Insel Goreé vor Dakar das „Tor ohne Wiederkehr“ besuchte, durch das unzählige Afrikaner wie Vieh auf Schiffe getrieben wurden. Doch eine formelle Entschuldigung vermied Clinton. Eine solche Geste würde die lästige Diskussion um Reparationen vehement vorantreiben. Europäer werfen denn auch Washington vor, Menschenrechtsverletzungen der Vergangenheit mit zweierlei Maß zu messen: Als die US-Regierung im vergangenen Jahr die Schweizer Banken unter Druck setzte, Holocaust-Opfer und deren Erben zu entschädigen, blaffte der Berner Diplomat Thomas Borer: „Wie kommen die Amerikaner dazu, uns zu verurteilen? Wessen Reichtum gründet sich denn auf Sklaverei?“ Hans Hielscher, Christoph Plate Sklaven-Auktion in Amerika*: Basis des Reichtums d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 253 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Ausland ACTION PRESS Reiche Bauern können sich Konkubinen leisten. Familien brechen auseinander, weil die Partner gezwungen sind, an verschiedenen Orten Geld zu verdienen. Seitensprünge, früher von Parteikadern öffentlich gerügt, kommen immer häufiger vor. Doch Scheidungen bedeuten für die Frauen oft Elend und soziale Ächtung. In diesem Klima der Verunsicherung wachsen sich selbst Alltagskonflikte schnell zu Tragödien aus. So nahm sich die Bäuerin Guixiang das Leben, weil sie einen Streit zwischen ihrem Vater und ihrem Gatten nicht ertragen konnte. In ihrem Heimatort Dongshan ist es Sitte, dass Frauen während der ersten drei Ehejahre noch im Haus der Eltern wohnen. Als ihr Mann sie eines Tages vom Feld zum Mittagsreis zu sich holen wollte, zettelte ihr Vater vor der feixenden Dorfbevölkerung ein Wortgefecht an. Guixiang, hin- und hergerissen zwischen ihrem Mann und der Loyalität zu dem Alten, nahm Rattengift. Sie starb kurz darauf im Hospital. „Wir brauchen dringend Geld, um auf den Dörfern Beratungsstellen zu eröffnen“, warnt der Pekinger Arzt Liu. Nur: Für seelischen Beistand fühlt sich niemand verantwortlich. Die KP verdankt zwar ihre Macht dem Landvolk, sie mischt sich gern in Familienangelegenheiten ein und überwacht zur Geburtenkontrolle sogar die Menstruation. Aber Selbstmorde betrachten die Genossen als Privatsache. „Niemand fühlt sich wirklich verantwortlich“, klagt Xie Lihua, Chefredakteurin der Zeitschrift „Landfrauen wissen alles“. Xie kämpft mit ihrem vom Frauenverband herausgegebenen Monatsblatt im DIN-A5-Format (Auflage: 200 000, Preis: 34 Pfennig) einen einsamen Kampf gegen die Ignoranz und macht zum Beispiel Suizide regelmäßig publik. In Rubriken wie „Meine persönliche Geschichte“, „Arbeit in der Stadt“ oder „Liebe und Heirat“ berichten Betroffene und Journalistinnen zudem über sexuelle Probleme, prügelnde Ehemänner und ausbeuterische Arbeitgeber. „Die Frauen sehen, dass sie mit ihren Problemen nicht allein dastehen“, sagt Xie Lihua und weist in ihrem schmalen Büro in Pekings Weststadt auf Leserbriefe, die täglich stapelweise eintreffen. Längst versteht sich die Redaktion nicht mehr nur als Informationsorgan, sondern bietet auch Lösungen an: Sie organisiert Lese- und Schreibkurse für Bäuerinnen, erteilt Rechtsberatung und vergibt Kleinkredite. „Das Wichtigste aber ist“, so Xie, „dass wir den Frauen helfen, endlich ihren eigenen Wert zu erkennen.“ Andreas Lorenz Bäuerinnen bei der Erntearbeit: Die ersten drei Ehejahre noch zu Hause CHINA Griff zur Giftflasche Pekings Reformpolitik gefährdet die Dorfgemeinschaften. Unter jungen Bäuerinnen grassiert eine Selbstmordwelle. A ls sich im Dorf Shangdang in der östlichen Provinz Jiangsu das Glücksspiel Mahjong wie eine Epidemie verbreitete, konnte auch Zhao Yinger nicht widerstehen: Zu groß war die Verlockung, der mühsamen Feldarbeit entfliehen zu können. Nach ein paar Jahren hatte die Mutter zweier Söhne Schulden von mehr als 30000 Yuan (rund 6700 Mark) angehäuft, und eines Tages, Ehemann und Kinder waren nicht zu Hause, trank sie verzweifelt ein Schädlingsbekämpfungsmittel. Stunden später war Zhao Yinger, 35, tot. Die Bäuerin Xu Fengzhi träumte von einem einfachen, glücklichen Familienleben. Mit 20 heiratete sie, zwei Jahre später bekam sie einen Sohn. Dann beschloss ihr Mann, die Nordprovinz Hebei zu verlassen und sich im Süden in einer Ziegelei zu verdingen. Er begann eine Affäre, alle Versuche Xus, ihn zurückzugewinnen, scheiterten. Nach einem Streit griff sie zur Pestizidflasche. Xu Fengzhi war 29, als sie starb. Der Tod von Zhao und Xu markiert einen dramatischen Trend. Obwohl nur ein Fünftel aller Frauen auf der Erde Chinesinnen sind, stellen sie nach einer Studie der Weltgesundheitsorganisation WHO und 256 der Harvard-Universität rund 57 Prozent aller Selbstmörderinnen weltweit. Jeden Tag setzen in China etwa 500 Frauen ihrem Leben ein Ende – die meisten wohnten auf dem Lande. „Bäuerinnen wissen bei Problemen oft keinen anderen Ausweg“, sagt der Pekinger Arzt Liu Huaqing, der seit 1993 im Huilongguan-Krankenhaus die Ursachen der Suizid-Welle erforscht. So viel steht bereits fest: Die Frauen sind gefangen in traditionellen Bräuchen und zugleich Opfer der raschen Modernisierung Chinas. Ihr psychischer Druck wächst enorm. Frauen verdienen weniger als männliche Arbeitskollegen und werden schneller gefeuert; Unverheiratete bekommen in den Kommunen weniger Land zugeteilt. Falls sie keinen Ehepartner in einem anderen Dorf finden, müssen sie mancherorts sogar dafür bezahlen, in ihrer Heimat bleiben zu können. Viele Mädchen dürfen ihren Zukünftigen nicht selbst aussuchen. Zur Armut kommt Unwissenheit. Wie früher nehmen Eltern zuerst die Töchter aus dem Unterricht, wenn sie das Schulgeld nicht mehr bezahlen können. Schätzungsweise 100 Millionen Chinesinnen sind auch deshalb des Lesens und Schreibens unkundig. Die Regierung versprach, solche Diskriminierungen abzuschaffen – hatte doch Staatsgründer Mao Tse-tung den Frauen die „Hälfte des Himmels“ zugeteilt. Aber auch ein halbes Jahrhundert nach der kommunistischen Revolution gilt weiblicher Nachwuchs häufig als unnütz. Wichtigster Grund: In der Provinz existiert keine Rentenversicherung. Es sind der Sohn und die Schwiegertochter, die für die Alten sorgen, bloß funktioniert das nicht mehr wie gewohnt – die wirtschaftliche Reformpolitik hat das Landleben drastisch verändert. d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite J. POLLEROSS / JB PICTURES / AGENTUR FOCUS Ausland Aluminiumfabrik in Sibirien: Gewaltige Überschüsse auf Konten im Ausland? und Produktionsprogramme in der GUS und in Osteuropa“ vor, tätig vor allem als Joint-Venture-Partner der Genfer Niederlassung von Trans-World Metals. Diese TWG-Tochter widmet sich speziell dem GUS-Geschäft; sie weist alle Vorwürfe zurück. Noch ein Ermittlungsverfahren wegen Geldschiebungen David Rubin (im Westen: Reuben) steht aus Russland – wieder in der der TWG als Direktor vor. Mit 80 Angestellten wies die Firma 1996 einen Umsatz Schweiz, mit dem Vorwurf der Geldwäsche. von 27 931 000 Pfund aus, dabei einen Gewinn nach s waren einmal drei Brüder – Mi- perfield“ zu recherchieren. Steuern von 1202000 Pfund. chail, David und Lew Tschornoi. Sie Gerade erhob die New Yor1997 stieg der Profit dank kamen aus der Sowjetrepublik Us- ker Staatsanwaltschaft in einer Steuerrückzahlung bekistan und hofften auf das große Geld. Sachen russischer Milliarauf 4,8 Millionen Pfund, Zu denen gesellten sich zwei Brüder aus den-Transfers über die Bank of New York Anklage gegen doch der Umsatz sank drasdem Irak: David und Simon Rubin. tisch, 73 Mitarbeiter wurden Und es gab zu Sowjetzeiten eine Staats- drei Verdächtige, Schweizer entlassen: Die Dinge laufen handelsgesellschaft Transworld, speziali- Banken sperrten sogleich nicht mehr so, wie sie sollen. siert vor allem auf den Export von Alumi- wegen möglicher GeldwäTWG ist der Kopf eines nium; sie gehörte dem Ministerium für sche Konten mit mindestens verschachtelten Imperiums, Außenhandel in Moskau. Gegründet 1977, 26 Millionen Franken. Im das nach dem Stand vom wuchs unter den Händen der Rubin-Brü- Zentrum des Verdachts Juni insgesamt 86 Unterder die Trans-World Group PLC (TWG) steht der Jüngste aus den nehmen in 14 Ländern mit Sitz in London, 25 Harley Street, zum beiden Bruderschaften: Lew umfasst – vornehmlich auf drittgrößten Aluminiumkonzern der Welt. Tschornoi, 45. Gegen ihn hat die Genfer schönen Inseln von GuernDer Aufschwung kam, als Russland zum Privatkapitalismus wechselte. Da wurde Staatsanwaltschaft ein Un- Metallhändler Lew Tschornoi sey bis West-Samoa, aber auch in England und den für seine Rüstungsindustrie nicht mehr viel tersuchungsverfahren weAluminium gebraucht. Durch die Gebrüder gen des Verdachts der Geldwäsche einge- USA, und zwölf Firmen sowie zwei BanTschornoi fand die TWG Zugang zum rus- leitet. Tschornoi-Bruder Michail befand ken in Russland. Zwei Millionen Tonnen sischen Aluminiummarkt – allemal kritisch sich schon 1996 unter dem Verdacht der Aluminium verkauft die TWG im Jahr, das beäugt von den Konkurrenten in Amerika, Mitgliedschaft in einer kriminellen Verei- sind zwei Drittel der gesamten GUS-ProKanada, Frankreich, der Schweiz und in nigung ein paar Tage in Schweizer Unter- duktion und ein Zehntel der ganzen Welt: suchungshaft – doch ihm war nichts schlüs- endlich einmal ein Kapitalgeber, der sein der GUS. Sie müssen es zu bunt getrieben haben, sig nachzuweisen. Auch diese Ermittlung ist Geld in Russlands Produktion steckt, anstatt es zu horten. die forschen Leichtmetallhändler. Jedenfalls noch nicht abgeschlossen. Lew Tschornoi, der sich im Westen CherOder auch nicht. David Reuben veröfbegannen das amerikanische FBI und Britanniens Nationaler Kriminal-Geheimdienst noi schreibt, stellt sich als „Hauptkoordi- fentlichte 1997 große Anzeigen, adressiert gegen sie emsig in einer „Operation Cop- nator der britischen TWG für Wirtschafts- an US-Vizepräsident Al Gore und RussRUSSLAND Operation Copperfield KOMSOMOLSKAYA PRAVDA E 260 d e r s p i e g e l 4 3 / 9 9 Werbeseite Werbeseite Ausland REUTERS lands damaligen Premier Wiktor Tscher- 1993 bis 1997 kein einziger Rubel in Kras nomyrdin: Er warnte vor Hindernissen investiert. Hausherr im Gouvernement Krasnofür Investitionen in Russland. Denn Russlands Innenminister wollte die Alumi- jarsk ist Alexander Lebed, der General a. D. und Amateurboxer. Er lag im Clinch niumindustrie wieder verstaatlichen. Der TWG-Feind wurde geschasst. Zu- mit Anatolij Bykow, dem zehn Prozent der vor hatten freilich schon die TWG-Für- Kras gehören; nebenher ist er Präsident sprecher ihren Posten verloren – ein Vize- des russischen Boxverbands. Diesem Enerpremier und der Leibwächter des Präsi- gie-Baron müsse man „das Rückgrat bredenten Boris Jelzin. Der Wind hatte sich chen“, röhrte Lebed und vervierfachte den gedreht: TWG-Firmen büßten die Kon- Preis der Stromzulieferungen für den trolle über das Metallurgie-Kombinat in Kras-Betrieb. Seit 1. Januar muss Kras auf Nowolipezk ein, wo ihr eigener Manager seine Alu-Exporte auch noch Mehrwertdie Front wechselte, desgleichen über das steuer und Zoll abführen, was sich die FirAluminiumwerk in Sajansk: Dort hatte sich ma kraft staatlicher Exportförderung bis der Vize-Generaldirektor mit Lews Bruder dahin geschenkt hatte. Bykow kündigte Lebed den Kampf an, Michail verbündet – gegen Lew. Die Regierung von Kasachstan warf Lebed verglich diese Drohung mit dem TWG-Gesellschaften vor, sie hätten ihre Versuch, „einen Igel mit einem nackten Stahl- und Alu-Schmelzen ruiniert, indem Hintern einzuschüchtern“. Das war tapfer. sie Schulden und Steuern nicht bezahlten, Allein 1994 sind in Krasnojarsk 14 Aludie Gewinne aber ins Ausland transferier- miniumhändler auf nicht natürliche Weise verschieden. ten. Es ging um 370 Millionen Dollar. Jahrelang hatte Bykow Das war das Erfolgsgemit dem Weltmann Cherheimnis: Rohstoff zu Niednoi gemeinsame Sache gerigpreisen an Vertrauensmacht. Jetzt aber schwenkleute zu verkaufen, welche te Chernoi um, er setzt die Barren in London zu nun auf den Durchgreifer Weltmarktpreisen losschluLebed. Dazu verband er gen. Die gewaltige Diffesich mit dem Tycoon Berenz ging auf Konten im resowski, dem er die Mittel Ausland. zum Erwerb der HauptChernoi wandte sich stadtzeitung „Kommernun der Politik zu. Im sant“ besorgt haben soll vergangenen Herbst be(was Beresowski freilich schwor er, laut „New York bestreitet). Preis des ganTimes“ Inhaber eines iszen Verlagshauses: 15 Milraelischen Passes, in einer lionen Dollar und Überrussischen Zeitung seine nahme von 20 Millionen patriotischen Gefühle für Dollar Schulden. sein Heimatland. Im April Darauf reiste Beresowunterzeichnete er mit 32 ski im August nach Krasrussischen Wirtschaftska- Feinde Lebed, Bykow nojarsk zu Verhandlungen pitänen ein Manifest für eine starke Präsidentschaft – mit der mit Lebed, dem potenziellen GegengeAndeutung, Jelzin sei ein Hindenburg, wicht gegen die Moskauer Präsidentschaftsanwärter Primakow, Stepaschin, gefährlich durch Schwäche. Wer aber sollte ihn ersetzen, da die Luschkow – Befürworter eines gemäßigPrätendenten den Großkapitalisten an ten Staatskapitalismus. Wie es der Zufall will, erging am Tag den Kragen wollen? Denn jeden Monat fließt etwa eine Milliarde Dollar aus Russ- nach Beresowskis Abreise aus Sibirien ein land auf Westkonten, anstatt daheim die Haftbefehl gegen Bykow, der freilich nicht Wirtschaft anzukurbeln. Zentralbankchef anzutreffen war. Bykow hatte sich auf die Geraschtschenko, dessen Bank selbst Kandidatenliste der Liberaldemokratischen Milliarden auf die Steuersparinsel Jer- Partei des Rechtsaußen Schirinowski setzen sey überwies, zieht die Bilanz: „Russland lassen, was ihm Abgeordneten-Immunität hätte bescheren können. Wegen ungenaublutet aus.“ Chernoi setzte auf einen Retter aus er Angaben zu seinen EinkommensverSibirien, wo er sich auskennt: Dort, in hältnissen verwarf die Zentrale WahlkomKrasnojarsk, hatte er lange Zeit die Ge- mission die ganze Liste – Schirinowski hat winne der Aluminiumfabrik Kras ab- vorige Woche einen neuen Wahlverein reschöpfen lassen. Bei der Verarbeitung von gistrieren lassen, ohne Bykow. Mitten im Wahlkampf für die Duma 1,2 Millionen Tonnen im Wert von 1,2 Milliarden Dollar machte die Firma voriges kommt die Polizei nun aber auch zu Jahr offiziell mit 9,6 Millionen Rubel Chernoi. Der Berner Polizeisprecher nur 0,75 Prozent Gewinn. Die Differenz Jürg Pulver kündigte im ersten Überzu den Weltmarktpreisen muss auf Kon- schwang schon Dramatisches an: „Es geht ten im Ausland gelandet sein. Denn laut um eine Untersuchung von großer Tragrussischem Wirtschaftsministerium wurde weite.“ Fritjof Meyer 262 d e r s p i e g e l 4 3 / 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Ausland USA Out of Passau – ins Weiße Haus? Präsidentenwahl 2000: Eine Germanistin aus Bayern kämpft für ihren Ehemann Bill Bradley, der dem Clinton-Vize Al Gore die Kandidatur streitig macht. Die potenzielle First Lady gewinnt auch akademisches Profil: Deutschen Schriftstellern wirft sie in einem Buch Holocaust-Verdrängung vor. O der Vereinigten Staaten. Das gehört sich hier so. Strahlend blaue Augen, dunkelblonde Pagenfrisur, rosafarbenes Samtjackett, je eine Perle im Ohrläppchen: In der voll gepackten Aula des Elmira College im Bundesstaat New York findet die zart und doch agil wirkende Frau mit ihrer Werbung für den Ehemann („Mein Thema heißt Bill Bradley“) ein dankbares Publikum. Dabei haben die Studenten gute Vergleichsmöglichkeiten: Unlängst trat in diesem Saal die amtierende First Lady auf, die jetzt einen Sitz im US-Senat anstrebt; Hillary Clinton wirbt längst nicht mehr für ihren Bill, sondern für sich selbst. Gegen die druckreif dahinfließende Suada der einstigen Lady Macbeth von Ar- kansas käme Ernestine Bradley schwerlich an. Sie redet nicht wie eine Politikerin, denn sie ist keine – „und ich will auch keine werden“. Aber noch weniger gehört sie zum Typus der abgebrühten Washingtoner Politikerfrauen, die manche Reden ihrer Männer auswendig können und genauer wissen als jene, wie sie im Kongress abgestimmt haben. Bei Fragen aus dem Publikum kommt es vor, dass Mrs. Bradley passen muss: „Ich will für Sie herausfinden, was Bill hierzu gesagt hat“ – und ihre Assistentin notiert Namen und Adressen. Das fällt partout nicht unangenehm auf. Trotz ihrer 64 Jahre geht von Ernestine Bradley eine mädchenhafte Arglosigkeit aus, die sie wie Panzerglas schützt. Vielleicht erklärt das, warum dieser Frau, die REUTERS b der zierlichen Frau die Ohren schlackern, ist mit bloßem Auge nicht erkennbar. Obwohl sie den Bombast amerikanischer Wahlkampfredner leidlich gewohnt sein dürfte, scheint sie doch sekundenlang in ihrem Sessel zu gefrieren, als die Ankündigung erschallt: „Wir begrüßen Amerikas erste First Lady des kommenden Jahrtausends!“ Ernestine Bradley, geschiedene Schlant, geborene Misslbeck, setzt dem prasselnden Beifall kopfschüttelnd eine freundliche Miene entgegen. Als wollte sie sagen: „Ich und First Lady, das ist doch wohl nicht Ihr Ernst.“ Aber Minuten später spricht Universitätsdozentin Dr. Schlant, die sich nur im Wahlkampf Mrs. Bradley nennt, von ihrem Mann als dem künftigen Präsidenten Gegenkandidat Gore AP Der Vorsprung schrumpft Ehepaar Bradley: „Amerikas erste First Lady des kommenden Jahrtausends“? 266 d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 seit fünf Monaten durch Amerika tingelt und von demokratischen Lokalgrößen als potenzielle First Lady präsentiert wird, kaum Fragen über das Naheliegende gestellt werden: über ihre fremdländische Herkunft. Sicher, einen Akzent vom Kaliber Henry Kissingers hatte die aus Passau stammende, damals 21-jährige Pan-Am-Stewardess Ernestine Misslbeck nicht dabei, als sie 1957 von Bayern nach New York übersiedelte. Doch eine ganz leichte bajuwarische Sprachfärbung ist ihr schon erhalten geblieben, die bisweilen – bei Wörtern wie „sure“ oder „disgruntled“ – durchschlägt. Es mag auch vorkommen, dass Mrs. Bradley im Reden eine Sekunde pausiert, den richtigen englischen Ausdruck suchend. Ei- Werbeseite Werbeseite STAATSARCHIV PASSAU 268 d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Krieges zwar bei der Luftwaffe, jedoch keineswegs in der Partei gewesen sei. Bei der Lektüre drängt sich die Schlussfolgerung auf: ein Nazi im Stammbaum der Kandidatenfrau, und das Unternehmen „Bradley for President“ wäre erledigt. Kurioserweise liegt aber gerade in Fräulein Misslbecks deutscher Kindheit und Jugend der Grund, der 1969 das nachhaltige Interesse Bill Bradleys an der jungen Einwanderin weckte. Zu der Zeit, da die heutige Frau Bradley in Niederbayern heranwuchs, war in jener abgelegenen Weltgegend ein Sport namens Basketball unbekannt – weshalb Ernestine weder in ihrer Heimat noch später in Amerika das Korbballspiel zur Kenntnis nahm. Nur so ist erklärbar, warum ihr das Antlitz und der Name des überlangen Kerls, dem sie Ende der sechziger Jahre in ihrem New Yorker Apartmenthaus öfter im Fahrstuhl begegnete, absolut nichts bedeuteten. Der Mann im Fahrstuhl war Bill Bradley – eine lebende Legende, einer der ruhmreichsten Amerikaner seiner Zeit, dem Volk vertrauter als Hollywood-Stars. „Dollar Bill“ lautete sein Spitzname, denn der olympische Goldjunge von Tokio ’64 war höchstbezahlter Profispieler bei den New Yorker „Knicks“ geworden. Für Sporthistoriker ist Bradley schlicht der vorletzte große Basketball-Champion weißer Hautfarbe, den die Amerikaner hervorgebracht haben. „Und ich hatte von all dem keinen Schimmer“, bekennt Ernestine Schlant beim Hamburger-Essen mit entwaffnendem Lächeln: „Vom Sport war mir höchstens der Beckenbauer ein Begriff. Bradley sagte mir nix.“ Ebendeswegen fand der lange Bill, für den Millionen Amerikanerinnen schwärmten, diese Passauerin unwiderstehlich. Die Love-Story begann. Die Geschiedene mit dem leichten Akzent und einer Tochter aus erster Ehe war acht Jahre älter und mindestens 30 Zentimeter kürzer als Bradley, der 1,96 Meter misst. Sie bewunderte in ihm weniger den leichtfüßigen Korbballartisten als das intellektuelle Schwergewicht: den PrincetonAbsolventen und Rhodes-Stipendiaten, der in Oxford studiert hatte und mit der Politik liebäugelte. Ernestine Schlant ihrerseits hatte an der angesehenen Emory University in deutscher und vergleichender Literaturwissenschaft promoviert. Darauf jobbte sie in New York bei einer Filmgesellschaft und übersetzte, als Bradley sie umwarb, ein Standardwerk des militanten Feminismus: „Sexus und Herrschaft“ von Kate Millett, mit dem deutschen Untertitel: „Die Tyrannei des Mannes in unserer Gesellschaft“. Sobald im Spätherbst der Vorwahlkampf auf Touren kommt und die „Familienwerte“ der Bewerber unter die Lupe geraten, AP ne „Ausländerin“, eine „Deutsche“ gar (mit amerikanischem Pass) als Präsidentengattin im Weißen Haus – wäre das denn statthaft? Gewiss würden die meisten Amerikaner ein solches Novum weniger sensationell finden als die Deutschen. Tatsache aber ist, dass es eine außerhalb der USA geborene First Lady in diesem Jahrhundert noch nie gegeben hat – und auch vorher nur ein einziges Mal. „Aber das zählt ja kaum als Präzedenzfall“, sagt Ernestine Misslbeck aus Niederbayern in ihrem sorgfältigen Hochdeutsch: „Louisa Adams (Frau des sechsten US-Präsidenten) war zwar in London geboren, hatte aber US-Bürger als Eltern.“ Dass die Frage in der amerikanischen Presse nun doch angetippt wird, obwohl Mrs. Bradley schon seit Juni als Wahlhelferin von „Bradley for President“ unterwegs ist, hat demoskopische Gründe. Monatelang war Bill Clintons Vizepräsident Al Gore in den Meinungsumfragen der einsame Spitzenbewerber um die Präsidentschaftskandidatur der Demokraten gewesen – so unangefochten wie der Präsidentensohn George W. Bush bei den Re- Basketballer Bradley (1969): Lebende Legende publikanern. Dass Gore im früheren US-Senator Bill Bradley ein gefährlicher tember, brachte Bradley aber mehr Geld Herausforderer erwachsen ist, registrieren zusammen als Gore. Und da er weniger ausgibt als Clintons Vize, hat er derzeit die Umfragen erst seit wenigen Wochen. In Bundesstaaten wie New Hampshire auch mehr als dieser auf der Bank. Nicht ohne Komik die Folge: Der Vizeund New York, die bei den KandidatenVorwahlen Anfang 2000 einen mächtigen präsident gebärdet sich auf einmal wie ein Sog erzeugen können, hat Bradley in der Außenseiter – als ob er, Al Gore, nun einen Demoskopengunst schon mit Gore gleich- Spitzenreiter Bradley herausfordern müssgezogen oder ihn überrundet. Auf natio- te. Fernsehwirksam winkt der sonst so steinaler Ebene ist Gores Vorsprung gegenüber fe Gore bei öffentlichen Auftritten übers Publikum hinweg einem imaginären Bill Bradley auf zwölf Prozent geschrumpft. Ein zuverlässigeres Indiz als die oft lau- Bradley zu, um ihn zum Fernsehduell zu nischen Meinungsumfragen bieten die fordern. Derweil trompeten die ImageWahlkampfkassen der beiden demokrati- künstler des Vizepräsidenten, ein „neuer schen Bewerber. Auch beim Scheffeln von Gore“ sei geboren, selbstbewusst, locker, Spendengeld hat Bradley den Abstand zu volksnah, der Bradley in die Schranken Gore verkürzt: 19,2 Millionen Dollar ins- weisen werde. Diese jüngste Entwicklung lenkt die Aufgesamt konnte er sammeln, gegenüber den 24,9 Millionen des US-Vizepräsidenten. merksamkeit etwas stärker auf die unbeGerade in jüngster Zeit, von Juli bis Sep- zahlte Wahlkampfhelferin Ernestine Bradley – und den ungewöhnlichen Umstand, dass die Gattin eines der Bewerber keine gebürtige Amerikanerin ist. Dass es sich bei ihr obendrein um eine Deutsche handelt, und zwar vom Jahrgang 1935, führt in den USA zu diskreten, hochnotpeinlichen Nachfragen in einer bestimmten Richtung. In einem Porträt Ernestine Bradleys in der „New York Times“ heißt es schon im ersten Absatz, dass Vater Misslbeck – nach Auskunft der Tochter – während des NS-Aufmarsch in Passau (1934): Schock in Atlanta Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Ausland das aus persönlichem Erleben kommt und wenig mit schicken multikulturellen Umarmungsgesten zu schaffen hat. An Bill Bradley blieb das schlechte Gewissen des weißen Basketball-Champions gegenüber seinen dunkelhäutigen Mitspielern haften, die – obwohl sie so gut waren wie er – von den meisten Amerikanern viel weniger beachtet wurden. Sein persönlicher Ruhm hing allzu sehr mit seiner Hautfarbe zusammen, und jahrelang hatte er die Demütigungen mit ansehen müssen, die seinen schwarzen Kameraden in Hotels oder Restaurants zugefügt wurden. Bei Ernestine Misslbeck aus Passau ist der antirassistische Impuls komplizierterer Herkunft. Die Versuchung liegt nahe, einfach ihren Geburtsort haftbar zu machen – jenes „ewig braune Biotop“ (Henryk M. Broder) des „wunderbar tapferen Times“ erklärte, „angesichts jener mich ungeheuer verstörenden Realität von Juden gestützt und getröstet worden“. Die Universitätsdozentin Ernestine Schlant revanchierte sich vier Jahrzehnte später dafür – mit einem Buch, das „mein Versuch ist, die Last zu bewältigen“. Es heißt „The Language of Silence“ (Die Sprache des Verschweigens) und stellt eine verblüffende, ja explosive Abrechnung mit der deutschen Literatur seit 1945 dar. Mit ebenso schlüssigen wie manchmal anfechtbaren Argumenten behauptet die Germanistin, die deutschen Schriftsteller hätten sich mit dem Nazi-Holocaust und vor allem seinen Opfern fast nur auf oberflächliche, klischeehafte, verdrängende, eben „verschweigende“ Weise befasst. Der massive Vorwurf trifft – ausgerechnet – den neuen deutschen Nobelpreisträger Günter Grass sowie dessen 1972 nobelierten Freund und Vorgänger Heinrich Böll. In ihren bohrenden Stichproben rechnet Schlant mit Martin Walser ab, sie greift sich den verstorbenen Alfred Andersch ebenso wie die Lebenden Peter Härtling und Bernhard Schlink. In ihren Textanalysen entdeckt sie entweder „Strategien der Umgehung, Unterdrückung und Verdrängung des Wissens“ vom Holocaust – oder „tölpelhafte und unfähige Bemühungen, den Verbrechen ins Gesicht zu sehen“. Arthur Hertzberg, ehemals Vorsitzender des American Jewish Congress, preist das Werk als „Markstein moralischen Mutes und historischer Integrität“, die Magazine „Time“ und „Newsweek“ rühmen es ebenfalls, die „New Republic“ druckt einen sehr respektvollen Verriss. In den Dankadressen stellt Ernestine Schlant klar, dass ihr Mann den Text kritisch gelesen und auch Vorschläge gemacht habe. Würde Bradley nächstes Jahr gewählt, wäre er unter allen US-Präsidenten der größte Kenner moderner deutscher Literatur. Der Eindruck, das Ehepaar BradleySchlant sei ein Ausbund an politischer Korrektheit, hält heutigen europäischen Maßstäben allerdings nicht ganz stand. Als Frau Bradley im Elmira College gefragt wird, wie ihr Mann zur Todesstrafe stehe, antwortet sie zutiefst überzeugt: „Bill ist entschieden dagegen.“ Bradleys offizielle, festgeschriebene Meinung aber ist, dass im USStrafvollzug Todesurteile zügiger als bisher vollstreckt werden sollten. Den Widerspruch versucht seine Frau und Wahlhelferin mit der Einschränkung zu überbrücken: „Gegen millionenschwere Drogenkönige sollten Todesurteile zulässig sein.“ Die in Amerika so populären Hinrichtungen sind offenbar ein verdrängtes Thema im Hause Bradley, das noch der Bewältigung harrt. Carlos Widmann J. LEYNSE / SABA dürften die US-Wählerinnen erfahren, wie wenig der Ehemann Bradley dem Tyrannentypus entspricht – und wie sehr die Bradley-Schlant-Ehe den Wunschträumen berufstätiger, sogar erzfeministischer Frauen nahe kommt. Solche Aufklärung brächte sicher Stimmen: Bisher herrscht im Lager des früheren Profisportlers ein Übergewicht an Männern – wogegen der hölzerne Al Gore bei Amerikas Frauen immerhin mütterliche Instinkte mobilisiert. Ernestine und Bill heirateten 1974. Vier Jahre später hüpfte der Sportler – unter Umgehung des Repräsentantenhauses – direkt vom Madison Square Garden in den US-Senat. Das war damals der feinste und mächtigste Herrenclub der Welt, und Bradley war der jüngste US-Senator des Jahrhunderts – jünger sogar als seinerzeit der glamouröse John F. Kennedy. Doch ein Bradley mit Studenten des Elmira College: „Die Tyrannei des Mannes“ Washingtoner Politiker mit dem üblichen Anhang und Lebensstil wurde er nicht. Ernestine Schlant verfolgte ihre akademische Karriere fern der US-Hauptstadt, schrieb ihre Bücher, kam vielfach an Wochenenden zu Besuch. Oft war es der Senator, der sich allein um mindestens eine der beiden Töchter kümmern musste. Als bei Mrs. Bradley vor sieben Jahren Brustkrebs entdeckt wurde, eine Amputation und Chemotherapie nötig wurden, war es Bill, der politische Prioritäten zurückstellte und sich der seelischen Genesung seiner Frau widmete. „Wir entdeckten in unserer Beziehung damals eine Tiefe, von der wir vorher nichts geahnt hatten“, sagte Ernestine Jahre später. Zwischen den beiden gab es zudem von Anfang an Gemeinsamkeiten, die politisch genannt werden können, doch emotionale Wurzeln haben. Bill und Ernestine teilen seit jeher ein antirassistisches Engagement, 272 Mädchens“ Anna Elisabeth Rosmus, das auch vielen Amerikanern aus dem Film „The Nasty Girl“ (Deutschland, 1990) bekannt ist. Aber Ernestine Misslbeck kam in Passau ein Vierteljahrhundert früher auf die Welt als das „schreckliche Mädchen“ Rosmus. Sie hat noch Tee an verwundete Wehrmachtssoldaten ausgeschenkt. Doch in den frühen Nachkriegsjahren zog sie mit der Familie nach Ingolstadt. Ihren Vergangenheitsschock erlitt die junge Ernestine erst nach 1957, in Atlanta, als Lehrer und Freunde – Amerikaner jüdischer Herkunft – sie mit den Fakten des Holocaust konfrontierten: mit einer deutschen Realität, die den Deutschen ihrer Generation erst einige Jahre später, durch schockierende Dokumentarfilme und die ersten großen Prozesse gegen KZ-Schergen zu Bewusstsein kam. In Amerika aber war die eingewanderte Ernestine Misslbeck, wie sie kürzlich gegenüber der „New York d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Ausland S PA N I E N Erzengel mit blondem Zopf Die erste Matadorin trat ab – weil ihr die Männerwelt der Toreros nicht gleiche Chancen bot oder sie nicht für die Spitze taugte? E Matadora mit dem langen blonden Zopf schwer atmend ihrem Degenknecht über die Bande zu. „Sie wollen einfach Dinge, die unmöglich sind“, lästerte eine elegante Dame mit Hut in der ersten Reihe, „genau wie die Tochter von Cassius Clay, die unbedingt boxen muss.“ Ihr Begleiter in einer schottischen Jagdjacke raunte: „Wie hübsch wäre sie als Empfangsdame im Hotel.“ Klein und zerbrechlich wirkte die Stierkämpferin vor dem mächtigen Muskel- FOTOS: M. GUMM / WHITE STAR in heftiger Guss ging über Madrids Stierkampf-Arena Las Ventas nieder, als die zierliche Person mit den etwas runderen Hüften in der eng anliegenden Kniehose den Ring betrat. Unter Schirmen und Kapuzen hatten sich 19 000 Zuschauer eingefunden. Es ging um ein Spektakel der besonderen Art: Cristina Sánchez, die erste Frau, die in Spanien den höchsten Rang der Toreros erreichte und zum „Matador“ doktorierte, wie es hier respektvoll heißt, wenn Immerhin: Die Sánchez hatte es so weit gebracht wie bisher noch keine ihrer Geschlechtsgenossinnen. Denn fast ebenso hartnäckig, wie die katholische Kirche Frauen die Priesterweihe verweigert, schottet sich „el mundo taurino“, die Welt des Stierkampfs, gegen feminine Versuche ab, diese Domäne zu erobern. Und die „Kathedrale“ der Toreros, ihrer Manager, der Stierzüchter wie der Fans ist die Arena Las Ventas. Aus diesem Heiligtum trugen begeisterte Männer die Anfängerin nach einer sensationellen Novillada mit Jungstieren vor vier Jahren im Triumph auf den Schultern zum Hotel. Im Mai vergangenen Jahres brillierte sie dort während der Feria von San Isidro mit eleganter Führung von Capote, dem schweren gelb-rosa Umhang, und Muleta, dem roten Tuch. Und jetzt ein Adiós ohne Happy End? Noch in der Nacht ihres Abgangs trat Cristina Sánchez in einer Fernseh-Talkshow auf. Schön und unnahbar, mit offenem blondem Haar saß sie neben ihrem Freund, dem portugiesischen Banderillero aus ihrem Team, und klagte an: „Ich gehe, weil meine männlichen Kollegen nicht mit mir auftreten wollen.“ Wie eine Rachegöttin in dunkelrotem Kleid, die Lippen mit Gloss betont, nannte sie Namen – die gesamte Spitzengruppe der Stierkampf-Stars, von El Juli bis Fran Rivera, beschuldigte sie des Machismo. Sollte die stolze Matadora, die den Hörnern hunderter Kampfstiere trotzte, jetzt von jener geschlossenen Männerwelt um die Arena zur Strecke gebracht worden sein? In dieser Saison fehlte sie bei allen wichtigen Ereignissen. „Ich wurde auf die drittklassigen Plätze verwiesen“, verkündete sie bitter. „Das befriedigt mich weder beruflich noch finanziell.“ Dieser Anklage der zornigen Kollegin widerspricht Domingo Valderrama, 28, der im vergangenen Jahr bei Sevilla mit der Sánchez eine Corrida bestritt. Als Frau habe sie es viel leichter gehabt. Ein Mann mit gleichem Können hätte es nie so weit gebracht wie die schöne Madrilenin. Richtig ist wohl: Als Publikumsmagnet bekam die Stierkämpferin in den legendären Arenen von Sevilla bis Pamplona rascher als die meisten Neulinge ihre Chance. „Da hat sie nicht genug Klasse gezeigt“, sagt Curro Camacho, ein Sevillaner Star-Torero der siebziger Jahre. „Hätte sie in jeder Corrida beide Ohren oder den Schwanz erhalten“ – Trophäen als Belohnung für sensationelle Bravour eines Matadors –, „dann hätte sie sich vor Angeboten nicht retten können.“ 1996 notierte die Fachpresse die Stierkampf-Diva auf Rang zehn, letztes Matadorin Sánchez bei ihrer Abschiedsvorstellung*: Amazone im Ruhestand jemand einem Stier entgegentritt, um ihn zu töten, gab ihren Abschied. Doch Feststimmung wollte nicht aufkommen bei dieser letzten Vorstellung. Stiere wie Toreros rutschten zuweilen aus auf dem nassen Sand. Zudem hatte die abtretende Diva Pech bei der Auslosung: Ein Fleischkoloss von 626 Kilo, bei weitem das schwerste Tier der Corrida, schwarz und unberechenbar, stürmte in das Rund, entriss ihr fast den entgegengestreckten Umhang, holte den Picador vom Pferd. „Das kann ja heiter werden“, seufzte die 276 paket, das sie nur mit ihrem Hut überragte. Fahrig hantierte sie mit dem roten Tuch und tötete ihren letzten Stier unentschlossen, erst nach mehreren Fehlversuchen. Ein bitterer Abschied. Blass nahm die 27-Jährige den Applaus entgegen, als sie sich zum letzten Mal vor ihren Anhängern verbeugte. Dann entschwand sie aus der Arena, ohne sich umzublicken und mit tiefen Trauerfalten um den Mund. * Am 12. Oktober in Madrid. d e r s p i e g e l 4 3 / 9 9 Werbeseite Werbeseite Ausland des, wenn der Matador das Jahr belegte sie Platz 23, und Tier mit dem Degen penedieses Jahr stürzte sie vollends triert, werde es unterworfen ab, auf Nummer 40. wie eine Frau. Der Torero erEs war ein schöner Traum lebe dies als Orgasmus. Wer gewesen: Als Cristina Sánchez anders könnte das fühlen als 1972 geboren wurde, herrschte der Inbegriff des Macho, ein in Spanien zwar noch der erzwahrer Supermann? katholische Diktator FrancisToreros wie Valderrama und co Franco, der Frauen den Camacho halten solche TheoStierkampf zu Fuß verboten rien für „verblasen“. Während hatte. Doch schon als kleines der Konfrontation mit der GeMädchen folgte Cristina ihrem fahr, das Leben in der Arena Vater Antonio in die Arena. auszuhauchen, „schnurrt unDer Feuerwehrmann, der gern ser Ding zu einem Churro zuTorero geworden wäre, arbeisammen“, sagt lachend Camatete in einer Cuadrilla, dem cho, da sei die ganze MännTeam der Matadore, bestelichkeit nur noch winzig – er hend aus zwei berittenen Pizeigt seinen dünnen kleinen cadores und drei BanderilleFinger – wie ein Schmalzstänros. Antonio rammte dem Stier gelchen. Erotik erlebe höchsBanderillas, mit buntem Pa- Sánchez-Rivale Valderrama: „Entschlossenheit zum Töten“ tens das Publikum, das sich pier geschmückte Spieße, in den Nacken, um den Mut des Tiers für den Ausgerechnet der Mann aus einem Dorf mit dem Sieger identifiziert und die „MaTodeskampf anzustacheln. im bis heute sehr patriarchalischen Anda- gie der Macht“ genießt. Von 100 Burschen, die eine StierkampfIn der Tochter wuchs der Wunsch, es lusien gab der ersten Matadora eine Rechtdem Vater nachzutun und zu vollenden, fertigung für ihr freches Vordringen in die schule absolvieren, setzt sich höchstens eiwas der Bewunderte nicht erreicht hatte. Männerbastion mit auf den Weg: „Stier- ner durch. Und solange die Zahl der SchüDie Eltern steckten die Widerspenstige kampf ist eine Form der Liebe, und weil ihr lerinnen nicht deutlich steigt, bleibt dieses allerdings erst mal zu einem Friseur in die Frauen gut lieben könnt, wirst du sicher Terrain für Frauen einstweilen wenig erLehre. Als Cristina mit 17 bei einer Dorf- viel Glück haben.“ Das nahm sich die Sán- folgversprechend. Einzelne lassen sich gleichwohl nicht Fiesta das erste Stierkalb mit einem De- chez zum Leitspruch, wenn mal wieder genstoß getötet hatte, gab es kein Halten Missgünstige spekulierten, ob Frauen von abschrecken. Eva Armenta, 27, die Tochter mehr. „Ich habe das gefunden, was ich ihrer Körperbeschaffenheit her überhaupt eines Banderilleros aus Sevilla, hatte sich Cristina Sánchez zum Vorbild gewählt, als wirklich will im Leben“, beschreibt sie ihre zur Corrida taugten. Passion in dem Buch „Matadora“. Aber das Töten des Stiers, der Einsatz sie beschloss, Stierkämpferin zu werden. Kein Wunder, dass „dieser Torero, blond des Degens im richtigen Sekundenbruch- Heute arbeitet sie zu Pferd als Picadora wie ein Erzengel, der sich mit unendlicher teil, war immer schon Cristina Sánchez’ für viele kleine und große Matadore. UnAnmut bewegt“, anfänglich auch die hart- schwächster Punkt. „Frauen sind geboren, zählige Male hat sie den Minibus mit einer gesottensten Stierkampf-Kritiker in den um Leben zu schenken“, hatte ihr lang- Horde Männer geteilt, wenn es auf die Fachblättern zu poetischen Ergüssen hin- jähriger Manager Simón Casas diesen Ma- Dörfer zur Fiesta ging; sie hat mit männliriss. Ein neuer Medienstar war geboren, kel seines Schützlings zu entschuldigen chen Kollegen in einem Zimmer übernachals das Mädchen aus Parla im Mai 1996 in versucht. Die Matadora mit der Tötungs- tet und „gewartet, bis alle geduscht hatder französischen Stierkampf-Hochburg hemmung dagegen verweist darauf, dass ten“. Nur in der Cuadrilla ihres einstigen Nîmes feierlich zum Matador erklärt wur- auch viele ihrer männlichen Kollegen sich Idols durfte sie nicht mittun. „Cristina ist de. Die Patenschaft für diesen Aufstieg der häufig „pinchazos“, Fehlstiche auf die der Obermacho“, schimpft die Andalujungen Sánchez hatte Curro Romero über- Knochen oder in die Seite des Tiers, leisten. sierin, der ihre Männerkollegen einen nommen, damals 62, eine Legende in der Domingo Valderrama, der sich schon „blitzsauberen Stich“ bescheinigen. Schon öfter habe sie ihre Dienste CristiKunst der Tauromaquia. als fünfjähriger Knirps dem ersten Stier entgegenstellte, sagt: „Zum Töten na Sánchez angeboten, sei aber ohne Bebrauchst du keine Kraft, sondern Ent- gründung immer abgeschmettert worden. schlossenheit.“ Der junge Espada- „Was wütet sie gegen den Machismo, wenn Held ist einen Kopf kleiner als die sie den wenigen Frauen im Beruf nicht hilft?“, fragt die Picadora, die hauptsächKollegin und ebenso schmal wie sie. Viel haben Autoren in die Fiesta lich von Turnunterricht in Schulen lebt. Jedenfalls hat Cristina Sánchez den Nacional der Spanier hineingeheimnisst. In der Paarbeziehung zwischen Frauen eine Bresche geschlagen. Seit 1997 „toro bravo“ und „torero“ sei der gibt es eine weitere Matadora im MachoStier das männliche Element. Der en- land, für die sie als Patin bei deren Reifege funkelnde Anzug, die rosa Strümp- prüfung in der Arena fungierte. Und was wird aus der Amazone im Rufe und der Zweispitz, den der Torero wie eine Perücke auf dem Haar trägt, hestand? Heiraten und Kinder kriegen, verwandelten ihn in eine Frauenimi- schlagen die Moderatoren vor, die dieser tation. Mit feminin wirkenden Be- Tage die schöne Wilde vor den Kameras wegungen verwirre das falsche Weib und Mikros befragen. „Eins ist sicher“, antwortet Cristina Sándie Bestie. Andere Stierkampf-Mystiker be- chez dann mit felsenfester Überzeugung, haupten dagegen, die Picadores lie- „ich werde nicht zu Hause rumsitzen und ßen den Stier bluten wie eine Frau bei auch niemandem das Essen kochen.“ der Menstruation. Im Moment des ToPicadora Armenta: Blitzsauberer Stich Helene Zuber 278 d e r s p i e g e l 4 3 / 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Wissenschaft•Technik Prisma MEDIZIN Hungern macht dick G Inhalationsgerät „Pari Inhalierboy“ SPAARNESTAD FOTOARCHIEF HYGIENE Hungernde Niederländer (1944/45) Amsterdamern, die dem Hungerwinter als Föten ausgesetzt waren. Besonders stark sei der spätere Hang zur Fettsucht, wenn die Mutter im ersten Drittel der Schwangerschaft habe hungern müssen. Der Energiemangel, so schließen die Forscher, habe bei den weiblichen Föten normale Regelmechanismen des Energiehaushalts dauerhaft verändert. Keine Anzeichen für höhere Fettleibigkeit fand Ravelli hingegen bei den Männern der betroffenen Jahrgänge. Riskante Luft D ie Barmer Ersatzkasse prüft ein mögliches Regressverfahren gegen die Starnberger Firma Pari GmbH, einen der größten Hersteller von Inhalationsgeräten. Dabei soll festgestellt werden, ob Pari es unterlassen hat, in den Bedienungsanleitungen von älteren Geräten ausreichend auf hygienische Gefahren hinzuweisen. Der Hintergrund: Ein Versicherter der Barmer hatte angegeben, nach längerer Benutzung eines womöglich verkeimten „Pari Inhalierboy“ in einen Teufelskreis von Infektion und Reinfektion geraten zu sein, obwohl er sich streng an die Bedienungsanleitung der Firma gehalten habe. Die Bronchitis, wegen der er inhalierte, wurde trotz Therapie immer schlimmer. Nach S E X UA L I TÄT Käferstündchen zu dritt U nter Käfern ist Sexualität gemeinhin kein Akt äußerster Raffinesse: Weibchen unten, Männchen oben, dumpf lassen die Tiere ihre Chitin-Panzer aufeinander krachen; ihre Geschlechtsteile sind so winzig, dass Forscher sie nur mühevoll mit Lupe und Pinzette finden können. Von einer geradezu pornomanischen Käferart namens Diaprepes abbreviatus berichten hingegen zwei Forscherinnen im Wissenschaftsblatt „Nature“. Dieser Rüsselkäfer, so sagen Jane Brockmann aus Gainesville in Florida und Ally Harari aus Israel, ist von Natur aus bisexuell, exhibitionistisch und voyeuristisch. Immer wieder besteigen die Weibchen andere Weibchen – und nur aus einem Grund: d e r Mit der Lesben-Show versuchten sie, partizipationswillige Super-Männchen zum Dreier-Käferstündchen zu verführen. Mit der homosexuellen Einlage, so die Forscherinnen, lockten die Weibchen jene großen, starken Männchen an, die sich ansonsten nie für sie interessiert hätten. Jede Form von SexAppeal müsse bei dieser Art über optische Reize vermittelt werden, denn diese Käfer gucken gern – Pheromone, im übrigen Tierreich erfolgreiche Sexuallockstoffe, seien bei Diaprepes abbreviatus nutzlos. Als Nächstes wollen sich die Forscherinnen dem Rätsel der schwulen Männchen widmen. s p i e g e l Rüsselkäfer Diaprepes abbreviatus 4 3 / 1 9 9 9 283 A. HARARI F. SCHUMANN / DER SPIEGEL egen Ende der deutschen Besatzung brach in den Niederlanden eine Hungersnot aus, die womöglich immer noch Opfer fordert. Zwischen Dezember 1944 und Mai 1945 starben vor allem in den Städten fast 20 000 Menschen an den direkten Folgen des Nahrungsentzugs. Jetzt bringen niederländische Forscher diese Hungerszeit mit dem Problem der Fettleibigkeit in Verbindung: Mittlerweile fast 55-jährige Frauen, die den Hungerwinter noch ungeboren im Mutterleib zubrachten, neigen weitaus häufiger zu hohem Übergewicht, wie Anita Ravelli und Kollegen im „American Journal of Clinical Nutrition“ schreiben. Ihre Beobachtungen stützen sie auf Messungen an knapp 300 gebürtigen Kortisontherapie und fortlaufender Inhalation bekam er eine Lungenentzündung; wochenlang war der Mann arbeitsunfähig. In der Bedienungsanleitung zu dem bereits 1991 gekauften Gerät wird das Problem der Kontamination bagatellisiert. So heißt es eher beiläufig: „Reinigen Sie Maske, Vernebleroberteil und Medikamentenbecher kurz unter fließendem Wasser.“ Der Gebrauch von Desinfektionsmitteln wird nahe gelegt, aber nicht vorgeschrieben. Die Firma Pari zweifelt zwar nicht „an der Sicherheit der älteren Geräte“, wie die Geschäftsführung sagt. Mögliche Kontaminationen seien allerdings nicht als „besonderes Gefahrenpotenzial“ herausgestellt worden. Ihre aktuellen Produkte hat die Firma technisch verbessert und die Reinigungsvorschriften präziser formuliert, doch nur in den USA warnt sie ausdrücklich vor „ernster Krankheit oder Tod“, sollten Desinfektionsvorschriften nicht eingehalten werden. Der Freiburger Hygieniker Franz Daschner sieht in unklaren und bagatellisierenden Betriebsanleitungen bei Inhalationsgeräten „eine grobe Fahrlässigkeit“ und „ein strafwürdiges Vergehen“. Seit den siebziger Jahren sei in der Fachwelt bekannt, dass von kontaminierten Inhalationsgeräten Gesundheitsgefahren ausgingen – auch Tote habe es schon gegeben. Abwehrgeschwächte verlassen sich seit jeher nicht auf Herstellerangaben: Mukoviszidosekranke lernen die richtige Reinigung ihrer Inhalationsgeräte in Kursen. Prisma Wissenschaft•Technik ASTRONOMIE Lavastrom auf Jupitermond D ie deutsch-amerikanische Raumsonde „Galileo“ hat auf dem Jupitermond Io erstmals einen erkalteten (mehrere Kilometer breiten) Lavastrom fotografiert. Die „Galileo“-Nahaufnahme von Lavastrom auf Io, Jupitermond Io Aufnahme entstand, als Galistarken Strahlung in der Nähe des leo in nur wenigen hundert Kilometern über die Oberfläche Gasplaneten hatten wir schwere Bilddes Vulkanmondes hinwegraste. Nie zuvor hatte eine Sonde störungen befürchtet“, sagt Gerhard Neukum vom Berliner den Jupitertrabanten in so geringem Abstand passiert; mit eiPlaneteninstitut, der mit seinem Team an der Galileo-Mission ner Auflösung von zehn Metern sind die Fotos des Kamikazebeteiligt ist. „Das Io-Bild ist deshalb sehr beeindruckend.“ Fluges 50-mal schärfer als alle bisherigen Io-Bilder. „Wegen der TELEFONE HIRNFORSCHUNG Handy als Wegweiser Nervenzellen, täglich frisch B iologen der Princeton University im US-Bundesstaat New Jersey haben bei Versuchen an erwachsenen Makaken, einer meerkatzenartigen Affengattung, beobachtet, dass im Hirn der Tiere täglich einige tausend Nervenzellen (Neuronen) neu gebildet werden. Die Entdeckung steht im schroffen Gegensatz zu der über Jahrzehnte festgefügten und erst durch Experimente an Kanarienvögeln ins Wanken geratenen Vorstellung, das Gehirn von erwachsenen Menschen und Tieren sei zur Neubildung von Neuronen E nicht mehr fähig. Mit Hilfe einer DNSMarkierungsmethode konnten Elizabeth Gould und ihr Kollege Charles Gross auch den Entstehungsort der neuen Zellen im Hirn der Makaken ausmachen: eine Zone direkt über den mit GehirnRückenmark-Flüssigkeit gefüllten Kammern. Die meisten Experten erwarten, dass die Erkenntnisse der Princeton-Forscher auch auf den Menschen zutreffen. Sollte sich das bestätigen, könnten neue Wege bei der Behandlung von Alterskrankheiten beschritten werden. BAVARIA Makaken beim Lausen 284 d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 in Mobiltelefon hat der Verirrte oder Verwirrte vielleicht noch bei der Hand. Was aber antwortet er auf die Frage, wo er denn stecke? Orientierungshilfe gibt „Suunto NaviCom“, das „Outdoor Information System“ der finnischen Firma Benefon. Mit dem 150 Gramm schweren Telefon lässt sich nicht nur ein Hilferuf absetzen, sondern auch präzise der Aufenthaltsort bestimmen. Die Koordinaten ermittelt das Gerät mit Hilfe des „Global Positioning System“ (GPS). Nebst Kompass, Geschwindigkeitsanzeige und E-Mail-Funktion bietet der Apparat noch die Option „Friend Find“: Der Lokalisa- Handy-GPS-Gerät tor verrät jederzeit den genauen Aufenthaltsort eines Menschen, der in der Nähe ebenfalls ein Benefon-Apparat mit sich führt. Eine abgespeckte Version des GPS-Handys mit Namen „More“ („Mobile Rescue Telephone“) besitzt einen SOS-Knopf, mit dem sich ein Notruf mit genauer Positionsangabe absetzen lässt. Erste Feldversuche sollen demnächst im Neurologischen Reha-Krankenhaus „Kliniken Schmieder“ in Allensbach beginnen. Dort werden Patienten mit Schlaganfällen und schweren Hirn-Traumata mit „More“ ausgerüstet. „In Zukunft“, sagt Klinik-Chef Paul Walter Schönle, „schwebt uns vor, schwer gedächtnisgestörte Patienten auf freien Fuß zu setzen und quasi fernzusteuern.“ Werbeseite Werbeseite Wissenschaft PA L Ä O N T O L O G I E Seifenoper der Urzeit Eine TV-Serie der BBC lässt die Dinosaurier in atemberaubender Perfektion wieder auferstehen. Die computeranimierten Urzeit-Echsen fressen, pinkeln, jagen und haben Sex. Doch unter Forschern sind die Dino-Filme umstritten. Tauchende Urzeit-Reptilien Liopleurodon, Ophthalmosaurus (u.) im BBC-Film: Populärste Wissenschaftssendung aller Zeiten O xfordshire, England, 149 000 000 vor Christus: Der grauenvollste Räuber der Jurazeit hält auf stämmigen Hinterbeinen am Felsstrand Ur-Britanniens Ausschau nach Beute. Mit kleinen Augen fixiert der Riese wachsam die Wellen und wartet auf den perfekten Fang. Plötzlich schießt ein baumhohes, schwarz-weiß geschecktes Maul aus dem Wasser und schnappt nach dem Landtier. Happs. Wasser schäumt, Musik schwillt an, messerscharfe Zähne reißen den Dinosaurier in die tiefblaue See. „Cruel Sea“, grausames Meer, heißt die dritte von sechs Folgen einer neuen Dokumentation des britischen Fernsehsenders BBC, die am vergangenen Montag rund die Hälfte der englischen Fernsehzuschauer vor die Glotze bannte. Mehr als zwölf Millionen schauten zu, wie das schwimmende Riesenreptil Liopleurodon den Eustreptospondylus zerfleischte, der delfinartige Ophthalmosaurus unter Wasser ein Junges zur Welt brachte und der Flugsaurier Rhamphorhynchus elegant Fische fing. Damit ist die Serie mit dem Titel „Walking with Dinosaurs“ der Gassenfeger des englischen Fernsehherbstes und gilt schon jetzt als populärstes Wissenschaftsprogramm aller Zeiten. „Das größte Ding im Fernsehen in 200 Millionen Jahren“ (BBCEigenwerbung) versetzt derzeit ganz England ins Echsen-Fieber. Ab 11. November Riesen-Saurier Diplodocus: Probleme beim Sex durch 15 Meter lange Schwänze 286 d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 FOTOS: BBC WORLDWIDE ist das Dino-Drama auf Pro Sieben auch in Deutschland zu sehen. „Die Dinosaurier regieren wieder die Welt“, schreibt die Londoner Tageszeitung „The Mirror“. „Und wenn nicht die Welt, dann zumindest die Vorstellungskraft.“ Zum Minutenpreis von rund 100 000 Mark tummelt sich in „Walking with Dinosaurs“ ein Panoptikum reptilischen Lebens auf der Mattscheibe, das es so noch nie zuvor zu sehen gab. Eine Herde 20 Tonnen schwerer und 30 Meter langer Sauropoden der Gattung Diplodocus stampft da im Gänsemarsch über jurassisches Weideland. Urzeit-Räuber Postosuchus pinkelt im Jahre 220 Millionen vor Christus auf den heißen Steppensand, um sein Revier zu markieren. In der Episode „Gigant des tionsfirma „FrameStore“ mittels Laser- ben doch riesige Lücken, die wir mit dem Himmels“ erheben sich Flugsaurier der technik eingescannt und im Computer in füllen, was Forscher kreative Logik nenGattung Ornithocheirus mit einer Spann- ein dreidimensionales Modell verwandelt nen – wir denken uns etwas aus.“ Als Berater spannte Haines acht Dinoweite von bis zu zwölf Metern majestätisch wurde. Mit einem virtuellen Skelett und farbiger Haut versehen, konnten die Tiere saurier-Experten für die Serie ein. Über in die Lüfte. „Wir zeigen, wie sich die Dinosaurier dann im Rechner beliebig vervielfältigt und 100 weitere Spezialisten wurden für die bewegten, wie sie lebten und starben, wie in jede denkbare Position bewegt werden. Dreharbeiten etwa zur Größe von FußabFür Nahaufnahmen der Saurierköpfe drücken oder zur Konsistenz von Dinokot sie jagten, sich fortpflanzten und ihre Jungen aufzogen“, sagt Tim Haines, Produ- fertigten Techniker der Firma „Crawley befragt. Das Team studierte Elefanten und zent der Filme. „Diese Serie gibt den Leu- Creatures“ zusätzlich so genannte Anima- Nilpferde, um zu ergründen, wie die ten das Gefühl, lebende, atmende Krea- tronics an: Hightech-Puppen aus Latex und großen Dinosaurier-Arten gelaufen sein turen in ihrem natürlichen Lebensraum zu Aluminium mit ferngesteuerten Details wie könnten. Die Angriffstaktik von heute lebenden Wölfen lieferte die Vorsehen. Ich bin sehr stolz darauf, lage für Saurier-Attacken. Und dass wir das geschafft haben.“ bei der Farbe der Echsenhaut Für den Sprung in den Olymp orientierten sich die Techniker der Fernsehmacher konnten an der Tarnfärbung von lebenHaines und sein Team aus dem den Reptilien und Meerestieren. Vollen schöpfen. Rund 18 MillioDer Dino-Sex bereitete Haines nen Mark hat die Produktion der und seinem Team SchwierigkeiSerie gekostet. Mit modernsten ten. Über 150 Millionen Jahre beAnimationstechniken ist es den völkerten die Dinosaurier die Fernsehmachern gelungen, etwa Erde und hatten offenbar kein 40 Saurierarten in verblüffend Problem mit der Fortpflanzung. echt wirkenden Bildern wieder Wie aber ein 20-Tonnen Diploauferstehen zu lassen. 150 Minudocus-Bulle seine Partnerin am ten des insgesamt dreistündigen rund 15 Meter langen Schwanz Werkes sind mit Echsen untervorbei bestiegen haben könnte schiedlichster Art bestückt – Ste(Film-O-Ton: „Sie hat zehn Exven Spielbergs Dino-Drama „Jutratonnen auf dem Rücken.“), rassic Park“ brachte gerade blieb weitgehend der Phantasie knapp zehn Minuten ein anider Macher überlassen. „Es war miertes Reptil auf die Leinwand. Die Dramaturgie gleicht dabei Flugechsen Ornithocheirus: Reise zu den Giganten des Himmels schwierig, die Tiere für die Fortpflanzung nah genug zueinander verblüffend der Machart konventioneller Tierfilme. Jede Episode folgt beweglichen Nasenlöchern und Augen. zu positionieren“, erzählt Haines. „Wir wiseinzelnen Dino-Protagonisten durch die Große Puppen wie etwa der Kopf des Ty- sen noch nicht einmal, ob die Männchen Wirren des urzeitlichen Lebens. Ständig rannosaurus wurden zwecks Animation überhaupt einen Penis hatten.“ Die ganze Kreativität des Teams war droht der Unbill der Naturgewalten und über die Körper von Teammitgliedern gedie Gefahr aus dem Dickicht. Fast ein Wun- stülpt. Die kleineren Dinosaurierköpfe ka- schließlich bei den Dreharbeiten gefordert. Denn erst vor eine echte Landschaft proder, dass nicht plötzlich Heinz Sielmann men als Handpuppen zum Einsatz. Das größte Problem hatten Haines und jiziert, gruppieren sich die computeranimit einem Diplodocus-Jungen auf dem Arm die Szene betritt und treuherzig in sein Team jedoch damit, die Tiere schließ- mierten Echsen zu überzeugendem Dinolich zum virtuellen Leben zu erwecken. saurier-Treiben. Um die halbe Welt reiste die Kamera spricht. Das Geheimnis der naturgetreuen Sau- Denn aus den Knochenresten, die Paläon- das Drehteam auf der Suche nach landrier ist eine Kombination verschiedener tologen aus der Erde graben, lässt sich zwar schaftlichen Überbleibseln aus prähistoriComputer- und Trickfilmtechniken, die Größe und Form der Echsen herauslesen. schen Zeiten. Schließlich gaben chilenische schon in „Star Wars“ oder „Jurassic Park“ Wie sich die Saurier verhalten haben, liegt Lava-Wüsten, kalifornische Redwood-Wälder und neukaledonischer Dschungel die zum Einsatz kamen. Jede der Kreaturen jedoch noch weitgehend im Dunkeln. „Wir versuchen, die Geschichte der Tie- idealen Kulissen ab. startete ihre Existenz als eine einen halben Vor Ort musste das Team häufig als Meter hohe Ton- oder Plastilin-Skulptur, re an bekannten Fakten entlang zu erderen Form von der Londoner Anima- zählen“, sagt Haines. „Aber letztlich blei- Platzhalter für die Dinos herhalten, die erst Urzeitechsen Coelophysis, Tyrannosaurus, Torosaurus: „Nichts in der Serie ist nachweislich falsch“ d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 287 im Nachhinein digital in die Aufnahmen eingepasst wurden. Dort, wo später ein Tyrannosaurus rex entlangspazieren sollte, wurde am Astwerk geruckelt. Um das Geplansche eines Velociraptors im Dschungelfluss zu repräsentieren, zündeten die Fernsehmacher im Wasser kleine Granaten. Crew-Mitglieder liefen in riesenhaften Dino-Schuhen durch den Urwald, um authentische Fußstapfen zu erzeugen. Das Ergebnis ist fast so überzeugend wie Sielmanns „Expeditionen ins Tierreich“ und begeistert neben der britischen Öffentlichkeit sogar viele Experten. „Die Tiere, die wir seit Jahren erforschen, sind zum Leben erweckt worden“, schwärmt etwa der Paläontologe David Martill von der University of Portsmouth. Und David Norman, Dinosaurier-Experte an der University of Cambridge, glaubt sogar, bei den Dreharbeiten etwas gelernt zu haben: „Meine Vorstellung davon, wie die Gelenke der Dinosaurier funktionierten, hat sich etwas verändert.“ Neben aller Euphorie über „Walking with Dinosaurs“ stößt gerade die perfekte Illusion der Filme auch auf Kritik. Einige Experten bemängeln, dass die als Wissenschaftsprogramm beworbene Serie Fakten und Phantasien unzulässig vermischt. „Vieles ist reine Spekulation“, kritisiert etwa Paul Barrett, Paläontologe an der University of Oxford. „Die Zuschauer können unmöglich entscheiden, ob etwas gut möglich, wahrscheinlich oder total falsch ist.“ So lebt im Dino-Film der Säuger-Vorfahr „Cynodont“ in unterirdischen Bauen und monogam, legt Eier und säugt seine rosigen Jungtiere. Das Reptil, immerhin schon vor rund 200 Millionen Jahren ausgestorben, wackelt mit dem Schwänzchen wie Nachbars Waldi und frisst, bedroht von einer Rotte fieser Coelophysis-Saurier, sogar seine eigenen Jungen auf. „Die Serie trivialisiert die Forschung, die sie repräsentieren will“, sagt Barrett streng. „Die BBC hat eine Seifenoper produziert.“ Auch Angela Milner vom Natural History Museum in London ist skeptisch. „Einige Animationen sind phantastisch“, so die Paläontologin. „Doch viele Spekulationen werden unglücklicherweise als Fakten präsentiert.“ Tim Haines ficht die Nörgelei nicht an. „Nichts in der Serie ist nachweislich falsch“, sagt der TV-Produzent, der schon im zarten Alter von elf Jahren zum SaurierFan wurde. In der Paläontologie gebe es ohnehin kaum harte Fakten. Selbst das Zusammensetzen eines Saurier-Skeletts im Museum gründet auf Spekulationen. „Wir haben die Serie so wissenschaftlich wie nur irgend möglich gemacht“, sagt Haines. „Natürlich werden die Tiere niemals auferstehen und unsere Annahmen bestätigen.“ Angesichts der Furcht erregenden Fressmaschinen in der Dino-Saga kann man da nur dankbar sein. Philip Bethge d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Tabakbehandlung*: „Die Idee war einfach und brillant“ R AU C H E N „Raus aus dem Geschäft“ Kommt bald die schadstofffreie Zigarette? Eine kleine US-Firma hat ein Verfahren entwickelt, mit dem sich das stärkste Krebsgift im Tabak vermeiden lässt. I m Dauerstreit um die Droge Zigarette ist der amerikanische Tabakkonzern Brown & Williamson (B&W) für Überraschungen eine sichere Quelle. Aus den Archiven des Unternehmens in Louisville (Kentucky) etwa wurden vor einigen Jahren rund 4000 heimlich kopierte Einzelseiten herausgeschmuggelt. Anhand der Geheimpapiere konnte rekonstruiert werden, wie die Zigarettenindustrie Forschungsergebnisse über die gesundheitlichen Risiken des Rauchens unterdrückt hatte – Grundlage jener Prozesse, an deren Ende sich die US-Tabakkonzerne unlängst zur Zahlung von 206 Milliarden Dollar bereit erklärten. In Firmenunterlagen fanden sich auch Hinweise auf andere Machenschaften der Zigarettenindustrie. So hatte B&W bei Vertragsfarmen in Brasilien einen Spezialtabak (Codename „Y1“) anbauen lassen. Y1 enthielt eine sehr hohe Konzentration an Nikotin und sollte heimischen Tabaksorten beigemischt werden; das hätte die Suchtwirkung der Zigaretten verstärken können. Mitte vorletzter Woche ging der zum britischen BAT-Konzern gehörende Zigarettenhersteller erneut auf Einkaufstour – diesmal aber zum Wohle seiner Kunden. Bei einer kleinen Firma in Petersburg (Virginia) bestellte B&W insgesamt knapp 4000 Tonnen eines Tabaks, der offenbar weitgehend frei ist von einer der giftigsten Schadstoffgruppen im Zigarettenrauch: den Nitrosaminen. Diese chemischen Verbindungen sind hauptverantwortlich für die Entstehung vieler Krebsleiden bei Rauchern. Killer im Qualm Giftige Inhaltsstoffe des Tabakrauches Schadstoff Auswirkung Nitrosamine krebserregend Kohlenmonoxid verringert den Sauerstofftransport im Blut Teer mögliche Quelle krebserregender Substanzen Nikotin macht abhängig Blausäure greift die Lunge an 4-Aminodiphenyl verursacht Blasenkrebs * Mikrowellenanlage der Firma „Star Scientific“ in Chase City (Virginia). Quelle: Health Canada d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Lieferant des „Low Nitrosamine Tobacco“ (LNT) ist die Zigarettenfirma „Star Scientific“ (vormals „Star Tobacco“). Die Anfang dieses Jahres erfolgte Änderung des Firmennamens kennzeichnet das neue Unternehmensziel. „Im 21. Jahrhundert wird der Erfolg im Tabakbusiness nicht von cleveren Anzeigenkampagnen abhängen, sondern von fundierter Wissenschaft“, sagt Paul Perito, Vizepräsident und Rechtsberater des Unternehmens. Nicht nur diese Voraussicht unterscheidet den 1990 gegründeten Tabakzwerg von Branchenriesen wie Philip Morris, der im benachbarten Richmond seine hochmodernen Labors betreibt. Die 125 Angestellten von „Star Scientific“ stellen auf rumpelnden Maschinen in einem veralteten Fabrikgebäude Billigzigaretten her. Doch ausgerechnet diese mittelständische USFirma könnte mit ihrem schadstoffarmen Tabak jetzt dazu beitragen, den Großkonzernen aus der Patsche zu helfen. Denn es wird zunehmend eng für die Zigarettenindustrie. WHO-Schätzungen zufolge sterben jedes Jahr weltweit vier Millionen Raucher vorzeitig an den Folgen ihrer Sucht. Dass die Zigarettenindustrie dafür mitverantwortlich gehalten werden kann, macht auch ein Report deutlich, den die britische Antirauchergruppe „Action on Smoking and Health“ (ASH) kürzlich gemeinsam mit dem „Imperial Cancer Research Fund“ herausgegeben hat. Bei ihrer weltweiten Archivrecherche entdeckten die ASH-Experten insgesamt 57 Patente für „Technologien und Verfahren“, die von den Tabakkonzernen oder in deren Auftrag in den Jahren 1971 bis 1998 entwickelt worden waren. Mit Hilfe dieser Patente hätte sich, so das Fazit des Berichts, „die Konzentration einiger nachweislich bekannter Schadstoffe im Tabakrauch verringern lassen“. Doch – aus welchen Gründen auch immer – hat die Tabakindustrie von diesen Verfahren keinen Gebrauch gemacht; die „sichere Zigarette“ lässt bis heute auf sich warten. „Ein vergleichbares Versäumnis wird es bei uns nicht geben“, sagt „Star Scientific“-Vizepräsident Perito. Der gewiefte Anwalt betont aber zugleich, dass die Verarbeitung der nitrosaminreduzierten Tabakspezialität „keinesfalls die Aussage zulasse, es handele sich um eine völlig sichere Zigarette“. Hergestellt wird der LNT nach einem Verfahren, das Firmenmitbegründer Jonnie Williams Mitte der neunziger Jahre entwickelt hat. Die Entstehungsgeschichte, die von Firmenangehörigen mit folkloristischen Untertönen erzählt wird, erinnert an die freischaffenden Computertüftler im Silicon Valley. „Jonnie Williams, ein VirginiaD PA J. PAUL Wissenschaft 289 Werbeseite Werbeseite Wissenschaft ist die Herstellung so ausgeklügelt, dass die gefährlichen Krebsgifte im Zigarettenrauch „nur noch mit den feinsten Messmethoden entdeckt werden können“, bestätigt Jerome Jaffe, der als medizinischer Berater für „Star Scientific“ tätig ist. Jaffe, der einst US-Präsident Richard Nixon als „Drogen-Zar“ diente, führte auch eine erste klinische Pilotstudie mit der LNT-Zigarette durch. An dem 100tägigen Versuch nahmen 27 Erwachsene „mit ausgeprägter Nikotinsucht“ teil, von denen die Teilnehmer einer Gruppe die Testzigarette CigRx, die anderen marktgängige Zigaretten rauchten. Bei mehrtägigen Klinikaufenthalten wurden sowohl im ausgeatmeten Zigarettenrauch wie auch im Blut und Urin der Probanden der jeweilige Anteil von Kohlenmonoxid (CO) und der Stoffwechselprodukte von Nitrosaminen und Nikotin ermittelt. Vorläufiges Fazit der bislang noch unveröffentlichten Studie: Während die Nikotinwerte bei beiden Gruppen vergleichbar waren, lag bei den „Star Scientific“-Tabakfabrik: Belohnung für Nichtraucher CigRx-Rauchern die COdem getrockneten und geschnippelten Pro- Konzentration um 40 Prozent niedriger als bei denen der Vergleichsgruppe. Wichtiger dukt experimentieren“. Das Laborgut aber enthält bereits die noch, so erläutert Jaffe: „Die krebsbegünsNitrosamine. Sie entstehen durch Bakte- tigenden Nitrosamine waren in den Körrien, die sich während des so genannten persäften der Testzigaretten-Raucher auf Curing-Prozesses entfalten, bei dem die Werte gefallen, die praktisch kaum noch Tabakblätter zum Trocknen in Scheunen nachweisbar waren.“ Jaffe warnt allerdings vor allzu hochge(„barns“) aufgehängt werden. Die Nitrosaminproduktion, erst einmal angestoßen, steckten Erwartungen. Im Tabakrauch gibt es rund 4000 Stoffe, von denen 43 nachhält bis zum Verbrennen des Tabaks an. Williams’ Idee war „einfach und bril- weislich krebserregend sind. „Einen davon lant“ (Perito): Er versuchte die Aktivität haben wir entfernt“, sagt Jaffe, „doch nieder Bakterien bereits beim Trocknen zu mand weiß bisher, ob wir dadurch nicht stoppen. Bei seiner Methode werden die einen anderen begünstigt haben.“ Sicher allerdings ist, dass der Tabakgrün geernteten Tabakblätter zunächst dicht gestaffelt in containergroßen Stahl- zwerg aus Petersburg die Produktion ausbehältern aufgehängt. Der sechstägige weiten wird. Schon für die nächste ErnteTrocknungsvorgang wird reguliert durch saison will „Star Scientific“ die Anzahl seivon außen zugeleitete Luft bestimmter ner derzeit 220 Curing Barns um 1000 weiTemperatur und Feuchtigkeit, wodurch die tere Anlagen erhöhen und eine zweite Vermehrung der tückischen Mikroben ver- Mikrowellenanlage errichten. Langfristig will das Unternehmen aber langsamt wird. Die zweite Spezialbehandlung erhält der nichts mehr mit dem legalen Suchtmittel zu vorgetrocknete Tabak, wenn er auf einem tun haben. „Eigentlich verfolgen wir das Laufband durch „Amerikas größten Mi- Ziel, den Menschen zu helfen, von der Zikrowellenofen“ (Perito) geschoben wird. garettensucht loszukommen“, sagt Perito. Die Anlage ließ „Star Scientific“ in einer Mit den Gewinnen aus der TabakherstelHalle von Chase City, einem kleinen Ort an lung sollen deshalb weitere Entgiftungsder Grenze zu North Carolina, errichten. verfahren finanziert und Mittel zur RauchIn dem Mikrowellenofen werden auch entwöhnung entwickelt werden: „Wir wolnoch die letzten Gift produzierenden Bak- len raus aus dem Zigarettengeschäft.“ Innerbetrieblich geht die Tabakfirma terien abgetötet. Schon die ersten Tabakproben, die Williams von Tabakforschern schon mal mit gutem Beispiel voran. Jeder an der University of Kentucky in Lexing- Angestellte, der mit dem Rauchen aufhört, ton untersuchen ließ, wiesen deutlich ver- erhält eine einmalige Belohnung von 500 ringerte Nitrosaminwerte auf. Inzwischen Dollar. Rainer Paul J. PAUL Tabakfarmer der vierten Generation“, berichtet Finanzchef James McNulty, „hat beim Durchstreifen seiner Felder an die Tomate gedacht, die wie die Tabakpflanze zur Familie der Nachtschattengewächse gehört, aber keine Nitrosamine enthält.“ Hieraus folgerte Williams, dass die Krebsgifte womöglich beim Trocknungsprozess entstehen. „Der zweite Schritt zu Jonnies Geniestreich“, erläutert Perito, sei die Einsicht gewesen, dass die „Wissenschaftler in den Labors der großen Tabakkonzerne für ihre Versuche, schadstoffärmeren Tabak zu produzieren, zumeist mit d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 291 Technik S P I E G E L - G E S P R ÄC H „Darauf wette ich meine Firma“ Sun-Chef Scott McNealy über das Ende des PC, den digitalen Kapitalismus der Zukunft in einer total vernetzten Welt und die europäische Datenschutz-Hysterie McNealy, 44, ist Mitgründer und Chef der amerikanischen Computerfirma Sun Microsystems. SPIEGEL: Seit 1995 prophezeien Sie das Ende des PC. Wann ist es endlich so weit? McNealy: Das habe ich nie gesagt! Microsoft behauptet, ich hätte das gesagt – um mich unglaubwürdig zu machen. Das ist Blödsinn. Das Auto ist ja auch nicht das Ende des Pferdes gewesen, es sei denn, es läuft mal eins auf die Straße. SPIEGEL: Was haben Sie denn gesagt? McNealy: Es wird auch in Zukunft PC geben, genauso wie es heute noch Pferde Fernseher einschalten ohne Bedienungsanleitung, Sie brauchen kein Handbuch für die EC-Karte. Der einzige Computer, den man nicht versteht, ist der Microsoft-PC. SPIEGEL: Ihr Konzept des „Netzcomputers“, der seine Software aus dem Internet bezieht, ist ja technologisch reizvoll. Ihre Firma hat dafür die Programmiersprache „Java“ entwickelt, der Benutzer muss sich um Installation und Konfiguration nicht mehr kümmern. Aber gibt es dafür echten Bedarf? Offenbar finden die meisten das Herumbasteln am PC ganz reizvoll. McNealy: Aber die Computer, die wie PC aussehen, spielen doch kaum eine Rolle. Sehen Sie sich die zehn Millionen Chipkarten an, auf denen heute schon Java läuft. Denken Sie an Set-Top-Boxen für den Empfang von digitalem FernseSun-Chef McNealy, „Java Station“ gibt. Es wird in Zukunft PC geben, weil es immer ein paar Leute gibt, die dumme Sachen machen. SPIEGEL: Warum hassen Sie diese Geräte so? Millionen von Benutzern scheinen mit ihrem PC sehr glücklich zu sein. McNealy: Letztes Jahr wurden, glaube ich, 4,8 Milliarden Mikroprozessoren verkauft. Rund 120 Millionen davon wurden in PC eingebaut. Das sind die einzigen Chips, für deren Benutzung wir Bedienungsanleitungen brauchen. Wenn ich Ihnen den Schlüssel zu meinem Auto gebe, könnten Sie mit einem Handgriff dutzende Mikroprozessoren in Betrieb nehmen, ohne ein einziges Mal in ein Handbuch zu gucken. Sie können Ihren 292 AP „Leute machen dumme Sachen“ d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 hen, deren Software in Java geschrieben wird. In den nächsten drei Jahren will allein die japanische Firma DoCoMo 23 Millionen „i-Mode“-Mobiltelefone auf den Markt bringen, auf denen Java läuft. Das „Ami-C“-Konsortium, dem führende Automobilhersteller angehören, hat sich für Java als Software-Plattform für die Informationsgeräte in den Autos der Zukunft entschieden. Autos, Mobiltelefone, Fernseher, das sind die Computer, die in Zukunft wichtig sind. SPIEGEL: Bill Gates ist mit den PC immerhin der reichste Mann der Welt geworden. McNealy: Microsoft glaubt, dass die Benutzer eines Computers Programme kaufen müssen. Das ist ganz falsch. Nehmen Sie Ihr Handy. Das ist ein Computer. Wissen Sie, wie die Software heißt, die darauf läuft? Interessieren Sie sich für das Betriebssystem der Vermittlungsrechner der Telekom? Haben Sie schon einmal ein Antivirus-Programm für Ihr Telefon gekauft? Nie- Werbeseite Werbeseite L. PSIHOYOS / MATRIX / AGENTUR FOCUS Stattdessen stehen Mietwagen am mand kauft Programme für ein Straßenrand. Wenn man einen Faxgerät. Den Kunden geht es um braucht, schiebt man seine indiviFeatures. Wenn ich Anrufweiterleiduelle Chipkarte in den Schlitz, die tung haben will, suche ich mir einen Türen werden entriegelt, die Sitze Telefonnetzbetreiber, der das anstellen sich auf die Körpermaße ein, bietet. Genauso sollten Terminkaauf dem Armaturenbrett erscheinen lender, E-Mail und Textverarbeitung die Anzeigeninstrumente, die man Features eines Computers im Intergewohnt ist, das Radio stellt sich auf net sein und nicht Programme, die den Lieblingssender ein, die Fedeich kaufen und installieren muss. rung passt sich an den Fahrstil an. SPIEGEL: Wer die Textverarbeitung Man fährt los, und wenn man am als Service im Internet nutzt, zahlt Ziel ist, lässt man den Wagen eindann aber jede Minute, die er am fach stehen. Die Nutzungsgebühr Computer sitzt, um einen Brief an richtet sich nach Wagentyp und seine Oma zu schreiben. Fahrstrecke und wird automatisch McNealy: Nicht unbedingt. Wir bieabgebucht. Sie können auch einen ten Internet-Providern das „Star bestimmten Wagen reservieren, und Portal“ an, das komplette Officedas Internet sagt Ihnen über das Paket der deutschen Firma Star DiMobiltelefon, wo so einer steht. vision, die wir kürzlich gekauft haben. Mit dem Star Portal können SPIEGEL: Sie reden von einer Welt, Internet-Provider ihren Kunden in der alles mit allem verbunden Textverarbeitung und Tabellenkalist, in der jeder Mensch digitale kulation im Internet ermöglichen. Spuren hinterlässt, die seine InterUnd viele werden es umsonst anessen, Vorlieben und Konsumbieten, weil sie damit Kunden für gewohnheiten verraten. Doch ausden Internet-Zugang gewinnen. gerechnet in den USA, die diese Entwicklung am stärksten voranSPIEGEL: Was ist der Vorteil? treiben, gibt es kein wirksames McNealy: Ich verwende schon seit Datenschutzgesetz. Finden Sie drei Jahren ausschließlich Pronicht, dass es höchste Zeit wird, gramme, die auf Netzwerk-Servern auch einmal über diese Seite der laufen. Kein einziges Programm Entwicklung nachzudenken? läuft mehr auf meinem PC. Wer sein Geld sicher aufbewahren will, McNealy-Rivale Gates*: „Abstimmung mit der Brieftasche“ McNealy: Wir Amerikaner glauben bringt es zur Bank und packt es an die unsichtbare Hand des Marknicht unter die Matratze. Wer wichtige Da- net und Java ist die Lösung für jede Art von tes, die solche Dinge regelt. Wir haben ten hat, sollte sie nicht auf seinem PC spei- Gerät. Es gibt kein elektronisches Gerät, nicht das brennende Bedürfnis der chern, denn wir alle wissen, dass PC ab- das nicht über kurz oder lang mit jedem Europäer, alles mit Vorschriften zu regeln. stürzen. Wichtige Daten gehören in das Internet-Server auf diesem Planeten in Ver- Ihr Arzt hat Ihre Gesundheitsdaten, Ihre Netz, in die Hände von Profis. In der Java- bindung treten wird. Bank hat Ihre Kontoauszüge. Was würden Welt wird es keine Computerviren mehr SPIEGEL: Wie sieht diese total vernetzte Sie tun, wenn Sie herausfänden, dass Ihr geben, denn kein Programm, das über das Welt aus? Arzt Ihre Krankengeschichte im Internet Netz geladen wird, kann die Kontrolle über McNealy: Es gibt heute schon Automaten, veröffentlicht? Sie würden ihn verklagen den Computer übernehmen und Dinge an denen man eine Cola mit dem Handy und den Arzt wechseln. Und wenn Ihre tun, die es nicht darf. kaufen kann. Man ruft die Nummer auf Bank Ihre Kontoauszüge veröffentlicht, SPIEGEL: Wie viel wollen Sie darauf wetten? dem Automaten an, aus dem Schlitz fällt wechseln Sie die Bank. Bisher hat es noch in jeder Software Si- die Dose, und das Geld wird von der Tele- SPIEGEL: Aber genau das passiert doch heucherheitslücken gegeben. fonrechnung abgebucht. Warum sollte man te schon. Für ein paar Dollar kann man McNealy: Darauf gehe ich jede Wette ein. diesen Automaten nicht ans Internet an- praktisch jede Auskunft bekommen, wie Darauf wette ich meine Firma. schließen – und wenn es draußen heiß ist, viel Geld Sie verdienen und was Sie mit IhSPIEGEL: Bill Gates stellt sich die vernetzte wird kalte Brause teurer? Wenn der Vorrat rer Kreditkarte kaufen. Welt ganz anders vor: Windows-Computer an Diet Pepsi knapp wird, den Preis für McNealy: Dann sollten Sie als Journalist im Internet, Mobiltelefone, die mit „Win- dieses Getränk erhöhen und aus den letz- eine Liste der Firmen veröffentlichen, die dows CE“ funktionieren … ten Dosen einen Extraprofit herausschla- solche Daten verbreiten, und es würde entMcNealy: Diese Debatte ist doch längst vor- gen? Eine Stunde, bevor der Lieferwagen sprechende Konsequenzen haben. Genau bei. Sie wollen mit mir über Dinge disku- kommt, könnte der Preis sinken, weil es am so ging es dem Internet-Buchhändler tieren, über die kein Mensch mehr redet? effektivsten ist, wenn der Automat genau in Amazon.com. Der veröffentlichte AufstelIst der Himmel blau? Microsoft kann so dem Moment leer ist, wenn der Nachschub lungen von Büchern, die Angestellte von Firmen bestellt hatten. viel Lärm machen wie es will – diese Zei- eintrifft. ten sind vorbei. Im Quartal, das im Juni en- SPIEGEL: Die perfekte digitale Ökonomie? SPIEGEL: Das tut Amazon doch immer noch. dete, sind im Silicon Valley fast drei Milli- McNealy: Die gleiche Ökonomie wie heute, McNealy: Jeder Kunde, der das verlangt, arden Dollar Risikokapital an neue Firmen aber viel dynamischer und effektiver. Man taucht in dieser Liste nicht mehr auf. Und geflossen: Nicht eine einzige Firma für kann sich vieles zusammenphantasieren. wenn das für jemanden so eine KatastroWindows-Software war darunter. Jeder Es wird nicht passieren, aber es wäre mög- phe ist, kann er ja zum Konkurrenten Cent dieses Geldes ging an irgendeine Fir- lich, dass man keine Autos mehr besitzt. Barnes & Noble gehen. Wozu brauchen ma, die etwas mit dem Internet zu tun hat. wir da ein Gesetz? Recherchieren Sie mal und suchen Sie eine * Mit einer CD-Rom, die eine größere Informations- SPIEGEL: Aber um dagegen protestieren zu Start-up-Firma, die Programme für Win- menge enthält als die bedruckten Papierstapel, über de- können, muss der Kunde doch erst mal dows entwickelt. Es gibt keine. Das Inter- nen der Microsoft-Chef schwebt. wissen, was mit seinen Daten geschieht … 294 d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Technik McNealy: … und ich finde es wundervoll, wenn die Presse darüber berichtet, denn das ermöglicht den Lesern die Entscheidung, zum Beispiel ihren Arzt oder die Bank zu wechseln. SPIEGEL: Die amerikanischen Kfz-Zulassungsstellen zum Beispiel gehen sehr freigebig mit den Daten der Autofahrer um. Die Behörde können Sie schlecht wechseln. McNealy: Wenn das die Bürger so beunruhigt, wird irgendjemand im Kongress einen Gesetzentwurf einbringen, und darüber wird abgestimmt. Wo ist das Problem? SPIEGEL: Und so ein Gesetz gibt es nicht, also gibt es wohl auch kein Problem – ist das Ihre Logik? McNealy: Ich denke schon. Das interessiert mich einfach nicht. Wenn Ihre KrankengeTelefon-Studie von Ericsson schichte im Internet wäre, würde ich sie nicht lesen. Wir als Firma sagen unseren Kunden genau, was wir mit ihren Daten machen und geben ihnen die Möglichkeit, gegen die Datenspeicherung zu optieren. Ganz einfach. SPIEGEL: In der Zukunft, von der Sie reden, wird es so viele Informationsservices geben, dass es für den Benutzer sehr schwer sein wird, den Überblick zu behalten. Und da sind Sie der Meinung, dass es Sache des Kunden ist, sich in jedem Einzelfall darüber zu informieren, was mit seinen Daten passiert? Ist das nicht ein bisschen naiv? McNealy: Nein, ich verlasse mich auf die Presse, die den Missbrauch aufdecken würde. Viele Leute beschweren sich über „Spam“, unerwünschte E-Mail mit Werbebotschaften. Ich fände es gut, wenn Werbefirmen wüssten, dass ich Golfschuhe, aber keine Röcke kaufe. Also her mit allen Neuigkeiten über die besten und modernsten Golfschuhe! Ich würde all das lesen, ich würde mich darüber freuen. Was mich anödet, ist Werbung für Dinge, die mich nicht interessieren. SPIEGEL: Halten Sie solche Bedenken für typisch europäische Nörgelei? McNealy: Amerikaner stimmen mit der Brieftasche ab. Ich kenne keinen Amerikaner, der wegen mangelnden Datenschutzes ernsthaften Schaden erlitten hätte. SPIEGEL: Solche Beispiele gibt es genug. Manche haben ihren Job verloren, weil ihr Arbeitgeber vermeintlich Kompromittierendes über ihren Lebenswandel erfahren hat. McNealy: Bei knapp 300 Millionen Amerikanern mag es den einen oder anderen Fall gegeben haben. Durch Autos kommen be* Mit Redakteuren Harro Albrecht und Jürgen Scriba. 296 d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 stimmt mehr Menschen um. Sollen wir deshalb Autos verbieten? SPIEGEL: Na, das ist ja nun das Standardargument, wie es etwa die Waffenlobby immer verwendet … McNealy: Wollen Sie sich mit mir streiten? Ich repräsentiere hier nicht die USA, ich sage nur, dass mich diese Frage persönlich nicht interessiert. Ich glaube, dass Werbung Information ist. Mit Ihrer Hysterie sorgen Sie nur dafür, dass ich mit nutzloser Werbung zugeschüttet werde, weil meine Daten so gut geschützt sind, dass ich die Informationen, die für mich wichtig sind, nicht bekomme. Wenn ich ein paar Golfschuhe kaufe oder in einem Restaurant esse, und jemand veröffentlicht das im Internet? Das ist mir egal. Mir persönlich ist es sogar egal, ob die Akten meines Arztes im Internet stehen. Ich bin nicht Bill Clinton, ich habe nichts zu verbergen. SPIEGEL: Sie sind auch ein hochrangiger Vertreter der Informationsindustrie. Interessiert Sie Datenschutz in dieser Funktion? McNealy: Ja, ich finde, dass Firmen ihren Kunden klar sagen sollten, was sie mit ihren Daten machen. Meine Firma tut das auch ohne Gesetz. Für Gesetze bin ich nicht zu- McNealy (M.) B. BOSTELMANN / ARGUM beim SPIEGEL-Gespräch*: „Sauberes Leben“ ständig. Ich weiß wirklich nicht, worüber Sie mit mir streiten. SPIEGEL: Wer in einer elektronischen Ökonomie einkauft, will doch nicht unbedingt, dass jeder weiß, was er da kauft, oder? McNealy: Wen interessiert denn, was Sie kaufen? Wenn Sie Angst davor haben, kaufen Sie eben nichts im Internet. Setzen Sie sich ins Auto, fahren Sie irgendwo hin und bezahlen Sie bar.Am besten tragen Sie auch eine Strumpfmaske, damit Sie beim Einkaufen nicht erkannt werden. Anonymität führt auch zu Verantwortungslosigkeit. Sie wissen ja, dass Timothy McVeigh, der den Bombenanschlag von Oklahoma verübte, gefasst werden konnte, weil sich feststellen ließ, wer den Lastwagen gemietet hatte, in dem die Bombe deponiert war. Wäre diese Transaktion geheim gewesen, hätte man ihn nicht gefasst, und er hätte vielleicht noch andere Gebäude in die Luft gesprengt. SPIEGEL: Meinen Sie nicht, dass es ein paar Zwischenstufen gibt zwischen totaler Anonymität und dem gläsernen Menschen? McNealy: Doch natürlich, aber dafür ist die Industrie nicht zuständig. Das ist Sache der Politik. Ich bin nicht von den Bürgern gewählt, sondern von den Aktionären meiner Firma. SPIEGEL: Und Sie persönlich haben dazu auch keine Meinung? McNealy: Ich lebe ein sauberes, langweiliges Leben. Sie können in meinen Schrank gucken, Sie können sich jede Datei auf meiner Festplatte angucken. Es gibt nichts, was mir peinlich sein müsste. SPIEGEL: Die Telekommunikationswelt von morgen verspricht permanenten Datenzugriff und Erreichbarkeit in jedem Winkel der Welt. Wird es in so einer Welt noch eine Privatsphäre geben? Schon heute beklagen sich manche Angestellte, dass ihr Job sie dazu zwingt, immer für die Firma erreichbar zu sein. McNealy: Dann sollten die sich einen anderen Job suchen. Das ist das Schöne an der freien Marktwirtschaft: Es gibt keine Sklaverei mehr. Wenn dich dein Job nervt, hau ab und und schaufel Gräben, dreh Hamburger um oder werde Kellner. SPIEGEL: Sie sagen das aus einer privilegierten Position als Firmenchef. McNealy: Jeder meiner Angestellten kann im Handumdrehen einen neuen Job haben. Jeder meiner 30 000 Angestellten ist unglaublich begehrt. Wenn ich keine Umgebung schaffe, in der sie das Gefühl haben, dass sich ihre Anstrengung lohnt, kündigen sie. Ich zwinge niemanden bei Sun, ein Handy mit sich herumzutragen. Ganz im Gegenteil, meine Angestellten wollen jedes Spielzeug, das ich ihnen gebe: Laptop, Mobiltelefon, Organizer, egal, sie wollen alles. SPIEGEL: Es gibt auch Leute, für die ständige Erreichbarkeit eine Last ist. McNealy: Die arbeiten wahrscheinlich nicht auf Gewinnbeteiligung. Wer mehr Geld für weniger Arbeit haben will, für den habe ich keine Sympathie. SPIEGEL: Es gibt auch die so genannte Kalifornische Krankheit: Man hinterlässt Nachrichten auf drei verschiedenen Anrufbeantwortern, aber niemand ruft zurück. McNealy: Haben Sie mir schon mal eine E-Mail geschickt und keine Antwort bekommen? Anrufbeantworter benutze ich gar nicht. Dank der Technik bin ich viel häufiger zu Hause als früher, weil ich mein gesamtes Büro mit mir nehmen kann. Ich mag das. Wenn Ihnen Ihr Job nicht gefällt, suchen Sie sich einen anderen. In der Welt, in der ich lebe, ist das Problem nicht zu viel, sondern zu wenig Information. SPIEGEL: Mr. McNealy, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 297 Wissenschaft MEDIZIN Zeit des Erwachens M. SCHRÖDER / ARGUS Die Einführung neuartiger Narkosemittel hat dazu geführt, dass immer mehr Patienten während der Operation aufwachen. Einige leiden später unter schweren psychischen Störungen. Jetzt sollen in den Krankenhäusern erste Anlaufstellen für Narkoseopfer eingerichtet werden. Chirurgen, Anästhesist bei Operation: Eingriff bei vollem Bewusstsein erlebt 298 P. SCHINZLER / AGENTUR ANNE HAMANN E rst sah er nur ein grelles Licht. Dann ein Ding aus glitzerndem Edelstahl. Und plötzlich stach eine lange Nadel mitten in sein krankes Auge. Johannes versuchte zu schreien, doch er brachte keinen Laut hervor. Ein Tubus steckte in seiner Luftröhre, die Zunge war schwer wie Blei, die Lippen waren unbeweglich. Nicht einmal einen Finger konnte der Zehnjährige krümmen. Scheinbar friedlich schlafend lag Johannes auf dem OP-Tisch – und erlebte vollkommen hilflos, wie an seinem linken Auge gespritzt, geschnitten und genäht wurde. „Die wollten mich umbringen!“ brüllte er, als seine Eltern nach der Operation an seinem Bett standen. Und auch Monate später mochte Johannes noch nicht Fußball spielen, nicht schreiben, er konnte nur schwer einschlafen und wurde sogar zum Bettnässer. Auch für seinen Anästhesisten steht inzwischen fest: Der Junge hat fast die gesamte Operation bei vollem Bewusstsein erlebt. Immer wieder berichten Patienten davon, dass sie trotz Narkose klar und deutlich mitbekamen, wie ihnen die Ärzte den Bauch aufschnitten, die Mandeln heraustrennten oder mit der Säge ins Brustbein frästen. Einige von ihnen leiden hinterher Anästhesist Kochs „Im Narkoseprotokoll sehen wir nichts“ an Ängsten, Schlaflosigkeit, Alpträumen und Depressionen. „Intraoperative Wachheit“ nennen Fachleute das Phänomen. Es kommt zwar eher selten vor – die wenigen Studien aus den USA und Großbritannien sprechen von einem Fall unter tausend Narkosen. „Doch d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 die Berichte darüber haben in den letzten Jahrzehnten stetig zugenommen“, sagt Eberhard Kochs, Leiter der Anästhesiologischen Abteilung des Münchner Klinikums Rechts der Isar. Der Mediziner will deshalb nun bundesweit an Krankenhäusern Anlaufstellen für Narkoseopfer einrichten. Überträgt man die amerikanischen Zahlen auf Deutschland, würde das schätzungsweise 6000 betroffene Patienten pro Jahr bedeuten. Besonders gefährdet sind Herzpatienten, Schwangere, schwer Verletzte – also Menschen, bei denen die Narkose bewusst flach gehalten wird, um den Kreislauf zu schonen. Immerhin beginnen die Mediziner langsam, das Phänomen der intraoperativen Wachheit ansatzweise zu verstehen. Schuld an dem zunehmenden Erwachen während einer Operation sind offenbar die neuen, eigentlich sehr sicheren Narkosemittel. In der Ära des Äthers, mit dem bis in die vierziger Jahre narkotisiert wurde, mussten die Anästhesisten ihr ganzes Können darauf verwenden, zu verhindern, dass der Patient in allzu tiefe Bewusstlosigkeit versank. Noch lange nachdem er weggedämmert war und längst keine Schmerzen mehr spürte, zuckten noch seine Muskeln. Die Ätherdosis musste deshalb so lange erhöht werden, bis die Muskulatur so schlaff war, dass der Chirurg operieren konnte. Zweifel, dass bei dieser Prozedur die Patienten vollkommen bewusstlos waren, hatte niemand. Das änderte sich grundlegend mit der Einführung von Curare – einem südamerikanischen Pfeilgift, das die Muskeln lähmt, ohne auf das Bewusstsein zu wirken. Zusammen mit weiteren neuartigen Substanzen war es nun möglich, während einer Narkose Schmerz, Muskelanspannung und Bewusstsein getrennt voneinander auszuschalten. Dosieren kann man dadurch viel genauer, die Narkosen sind mithin wesentlich sicherer geworden; doch die Tiefe der Bewusstlosigkeit zu kontrollieren ist dadurch erheblich schwieriger geworden. Inzwischen hat eine aufeinander abgestimmte Kombination aus bis zu 15 Wirkstoffen die Äthernarkose ersetzt. Bereits am Abend vor der Operation bekommt der Patient ein Schlafmittel, das ihm helfen soll, dem kommenden Tag Werbeseite Werbeseite Wissenschaft FLASCHLIGHT lich sind, aus dem Tritt – und Monitoren und Kontrollapparaten. Die das lässt die Sinne schwinden. Geräte messen Blutdruck, Puls, Atmung Dieser Prozess ist jedoch und den Sauerstoffgehalt des Bluts. Fast ziemlich anfällig. „Ich stelle jede Veränderung wird lückenlos gemesmir eine Narkose als ein sen und protokolliert – doch ausgerechnet Gleichgewicht vor“, sagt Nar- ins Gehirn reicht die Überwachung nicht: koseforscher Urban, „auf der Keine der Apparaturen gibt Auskunft einen Seite die betäubenden über den Zustand des Bewusstseins, keine Narkosemittel – und auf der verrät dem Arzt, ob der Mensch, der vor anderen Seite wach machende ihm liegt, etwas von dem mitbekommt, was Einflüsse, wie Schmerzen, um ihn herum geschieht oder nicht. Dafür Angst oder Nervosität.“ gibt es bis heute noch keine geeignete Tatsächlich sind Anästhe- Methode. sisten immer wieder überNicht einmal im Nachhinein lässt sich rascht, wie unterschiedlich feststellen, ob ein Patient während der hoch die Dosis von Narkose- Operation wach war oder nicht. „Im Narmittel sein kann, die Patienten koseprotokoll“, so Kochs, „sehen wir gar zum Einschlafen benötigen. nichts.“ Wer sehr nervös ist oder starDer Anästhesist muss sich ganz auf seike Schmerzen hat, braucht in ne Erfahrung verlassen. Manche vermögen der Regel wesentlich mehr, be- am Gesicht des Patienten, an Tränen oder sonders Kinder teilweise er- kleinen Schweißperlen, zumindest ein westaunliche Mengen. „Da liegt nig abzulesen, wie es ihm geht. Vor allem dann so ein kleiner Wicht“, er- aber ist es wichtig, die Eigenschaften und zählt ein Anästhesist, „und ich Wirkdauern der verwendeten Narkosespritze und spritze, und der substanzen ganz genau zu kennen. „Anschläft immer noch nicht.“ ders als beim Rundumschlag-Medikament Auch der Bedarf an Narkose- Äther“, so Narkoseforscher Urban, „jongas, mit dem im Operations- glieren wir bei den modernen Narkosen saal die Betäubung aufrechter- mit vielen ganz unterschiedlichen Mitteln. halten wird, kann sehr unter- Es gibt nur ungefähre Vorschriften, wie sie schiedlich sein. aufeinander abgestimmt werden müssen, Bei Kindern und außerge- das meiste liegt in der Hand des Arztes. Erwöhnlich ängstlichen Patien- fahrung ist deshalb ungeheuer wichtig.“ Patient in Vollnarkose, Anästhesist: Sand im Getriebe ten reicht möglicherweise die Fast in jedem Krankenhaus wird eine etgelassen entgegenzudämmern. Am nächs- verabreichte Menge Narkosemittel einfach was andere Variante der Narkose praktiziert. Neue Ärzte brauchen eine Weile, um ten Morgen wird mit einem Beruhigungs- nicht aus, die Angst hält sie wach. Fatalerweise bekommt der Anästhesist sich umzustellen, und bei kleinen Schnitmittel noch einmal nachgelegt, bevor der Patient in den Operationstrakt gefah- davon aber oft gar nichts mit. Der Patient zern – wenn zum Beispiel ein Schmerzren wird. Im Vorbereitungsraum bekommt selbst kann sich nicht bemerkbar machen, mittel zu spät nachgespritzt wird – kann es der OP-Kandidat zunächst ein starkes die Narkose lähmt zuverlässig sämtliche immer wieder zu intraoperativer Wachheit Schmerzmittel gespritzt, das ein wohliges, Muskeln, und der Tubus in der Luftröhre kommen. Gelegentlich liegt es auch an purer warmes Gefühl und bereits eine gewisse würde ohnehin jedes Sprechen unmöglich Schlamperei. „Die Anästhesietechniken“, Schummerigkeit hervorruft. Dem Curare machen. Zwar werden alle wichtigen Körper- so Urban, „sind so zuverlässig geworden, verwandte Substanzen entspannen die Muskeln. Zum Einschlafen wird schließ- funktionen ständig kontrolliert. Der Kopf dass man sich in falscher Sicherheit wiegen lich ein starkes Barbiturat injiziert, ist vom Arbeitsfeld des Chirurgen durch könnte.“ Typisch ist zum Beispiel, dass der die Atmung wird flacher, die Reflexe ein grünes Tuch getrennt und umstellt von Anästhesist, nachdem er den Patienten aus lassen nach – dem Patienten wird schwarz vor Augen. Schlummern fürs Skalpell Übliche Narkoseverfahren Im OP wird die Bewusstlosigkeit durch ein Narkosegas, etwa Isofluran, aufrechtVERFAHREN OPERATIONSBEREICH MEDIKAMENT NARKOSEDAUER erhalten – meistens jedenfalls. Doch was Vereisung Öffnung kleiner Abszesse, Chloraethylspray 2 Sekunden genau passiert, wenn die Moleküle des Entfernung von Warzen Narkosemittels das Gehirn erreichen, weiß bislang niemand. Der Wirkmechanismus Lokalanästhesie Zahnextraktion, z.B. Meaverin, Scandicain 1 Stunde dieser Substanzen ist bis heute weitgehend Wundnaht unbekannt. Leitungsanästhesie z.B. Scandicain, Bupivacain 1 bis 2 Stunden „Vermutlich“, erläutert der Bonner Nervenblockade Finger, Zehe Anästhesieprofessor Bernd Urban, „wirPlexusblockade ganzer Arm ken die Narkosemittel weniger über einen Spinalanästhesie Hüft- oder Kniegelenk Schalter, mit dem das Bewusstsein an- und Kaudalanästhesie Entbindung ausgeknipst wird, sondern eher wie Sand Vollnarkose ganzer Körper Kombination von Betäubungs-, beliebig im Getriebe.“ Schmerz-, Entspannungsmitteln Nach dieser Vorstellung geraten durch Lachgas-Isofluran-SauerstoffMedikamente die Substanzen ganze Netzwerke untergemisch, Opiate (z.B. Fentanyl) werden forteinander kommunizierender Neurone, die Sedativum (z.B. Brevimytol) dauernd für die Aufrechterhaltung von Wachheit, Muskelrelaxans (z.B. Norcuron) nachgereicht Wahrnehmung und Denken verantwort300 d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Wissenschaft dem Vorbereitungsraum in den OP gefahren hat, vergisst, den Hahn für das Narkosegas aufzudrehen. Wenn die Wirkung des Barbiturats, mit dem die Narkose eingeleitet wurde, nach etwa 20 Minuten langsam nachlässt, wird es kritisch. „Das ist mir selber auch schon mal passiert“, berichtet ein Anästhesist, der nicht genannt werden will. „Weil zu diesem Zeitpunkt die muskelentspannenden Mittel noch nicht voll wirkten, fing der Patient auf dem OP-Tisch plötzlich an, sich aufzurichten. Wir haben dann schnell ein bestimmtes Mittel, ein Benzodiazepin, gespritzt, das die Erinnerung an dieses Ereignis auslöscht.“ Manchmal liegt eine knappe Dosierung der Narkosemittel aber auch in der Ab- Erst hörte der Patient das Sirren der Säge, dann spürte er etwas Scharfes in seinem Fleisch sicht des Arztes.Weil alle diese Substanzen den Kreislauf stark belasten, wird vor allem bei herzkranken Patienten die Dosis so niedrig wie möglich gehalten. Immer wieder berichten deshalb Menschen, dass sie ihre Bypassoperation bei vollem Bewusstsein erlebten. Der 55jährige Norman Dalton aus dem englischen Leeds beispielsweise hörte zunächst das Sirren der Säge. Dann spürte er, wie etwas Scharfes in sein Fleisch drang. Sich rühren oder irgendwie bemerkbar machen konnte er nicht – sieben Stunden lang, bis die Ärzte seinen Brustkorb wieder zugenäht hatten. Mit einer anderen Herzpatientin machten die Ärzte ein Experiment. Auch bei ihr hatten sie wegen Kreislaufproblemen das Narkosemittel (damals noch Äther) nur sehr sparsam dosiert. Als sie die Frau nun während der Operation und bei geöffnetem Brustkorb baten, die Zunge herauszustrecken, kam sie dieser Aufforderung ohne Zögern nach. Hinterher konnte sie sich allerdings an nichts mehr erinnern. Auch bei Kaiserschnitten wird die Vollnarkose bis zur Geburt des Kindes möglichst flach gehalten. Der Fall von Ursula V. ist typisch: „Ich spürte ein Reißen in meinem Bauch“, berichtet die 40-Jährige, „und habe immerzu gedacht: ,Was machen die da nur? Dort ist doch mein Kind drin!‘ Als ich es schließlich schreien hörte, war ich unendlich erleichtert.“ Immer wieder aufs Neue sind Anästhesisten und Chirurgen über die Berichte ihrer Patienten verblüfft – und manchmal peinlich berührt. Beispielsweise über Nigel Gunshaw, 34, der sich erinnerte, dass sein Chirurg ihn während seiner Blinddarmoperation als „innen genauso schwabbelig wie außen“ bezeichnet hatte. Oder über den Fall eines 45-jährigen Mannes, bei dem sich die Ärzte während der OP über das Wackeln der großen Zehe 302 lustig gemacht hatten. Hinterher stellte sich heraus: Der Patient hatte auf diese Weise den Chirurgen verzweifelt zu signalisieren versucht, dass er bei vollem Bewusstsein war. Manche Forscher behaupten sogar, es gebe eine Art „implizites Gedächtnis“ für das, was während einer Operation gesprochen wird. Menschen sollen sich unbewusst an Dinge erinnern können, die sie während einer Narkose friedlich schlummernd unbewusst erlebt haben. Der Münchner Anästhesist Dirk Schwender unternahm dazu ein Experiment: Er las während der Operation seinen Patienten die Geschichte von Robinson Crusoe und dem Eingeborenen Freitag vor. Keiner konnte sich später bewusst daran erinnern. Und doch konnte Schwender unbewusste Spuren seiner Lesung nachweisen: Als er die Patienten später zu ihrer spontanen Assoziation zu dem Wort „Freitag“ fragte, nannte jeder Fünfte die Robinson-Geschichte. Einer Kontrollgruppe dagegen fiel nur „Fisch essen“, „letzter Arbeitstag der Woche“ oder „Karfreitag“ ein. Sollten sich die Hinweise auf eine Erinnerung ohne Bewusstsein verdichten, müssten die Chirurgen in Zukunft vorsichtiger sein. Unbedachte Worte während der Operation, zum Beispiel zu den Überlebenschancen des Patienten, könnten möglicherweise ungeahnte Folgen haben. Wer eine Operation aber tatsächlich bei vollem Bewusstsein erlebte, hat mit den Folgen nicht selten jahrelang zu kämpfen: Ängste, Depressionen, Bilder, die immer wieder vor dem inneren Auge erscheinen: „Posttraumatisches Stress-Syndrom“ nennen die Ärzte die Reaktion auf das Erlebnis, dem Operations-Horror vollkommen hilflos ausgeliefert zu sein. In den Anlaufstellen, die Eberhard Kochs demnächst mit der Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin einrichten will, soll es deshalb neben Verständnis und Informationen vor allem Adressen von kompetenten Therapeuten geben. Dem zehnjährigen Johannes ging es nach einigen Therapiesitzungen zumindest vorübergehend ein wenig besser. Jetzt hat er den Kampf gegen die OP-Angst auch selbst aufgenommen. Er wollte unbedingt noch einmal den Ort des Schreckens sehen. Gemeinsam mit seinem Anästhesisten besuchte er den Raum, in dem er damals operiert wurde. Johannes erkannte alle Geräte wieder und merkte, dass die Instrumente für die Augenoperation fehlten. Der Besuch löste keinen neuen Schock aus, im Gegenteil: Mit dem Arzt verstand sich Johannes prima, und zum Abschied sagte er: „Ich muss unbedingt Abitur machen, dann kann ich später auch Anästhesist werden.“ Veronika Hackenbroch, Kristin Raabe Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Technik 4 3 / 1 9 9 9 305 T. WAGNER / SABA Barhocker in rollender Techno-Disco ratlos als beeindruckt durch die Messehallen. „Ich sehe keine klare Richtung“, gestand Ford-Entwicklungschef Richard Perry-Jones. Abgesehen von den zuweilen ans Rotlicht-Milieu erinnernden Kostümen der Messehostessen war in der Tat keine Linie erkennbar. Mitsubishi stimmt noch ganz die grüne Heuchelmelodie an, die vor zwei Jahren die gesamte „Tokyo Motor Show“ penetrant durchwaberte. Auf Monitoren schweben Delfine und Schmetterlinge zu getragener Opernmusik, während übergewichtige Nonsens-Autos wie der Geländewagen Pajero die Aufmerksamkeit auf den Stand lenken. Die größere aktuelle Herausforderung stellen nach Einschätzung von VW-Chef Piëch „die beiden erfolgreichen Unternehmen“ Japans dar: Toyota und Honda sind, anders als der Rest der Insel, extrem profitabel und präsentierten sich in Tokio mit dem unverhohlenen Stolz der Sieger. Toyota dementierte kühl jegliches Fusionsgerücht, nachdem das Management bekannt gegeben hatte, es arbeite an 15 gemeinsamen Entwicklungsprojekten mit General Motors zusammen. Allianzen nach DaimlerChrysler-Rezept habe man nicht nötig, ließ der mit Abstand größte Autokonzern Japans durchblicken. Sein Erfolg liegt vorwiegend in effektiver Produktion und hohen Qualitätsstandards, weniger in technischem Pioniergeist begründet. Die gezeigten Modelle und Studien fallen eher durch drollige Namen („Will Vi“, „Opa“) auf als durch beispielhafte Innovationen. Das neue „Sport Coupé“ der Toyota-Luxuswagensparte Lexus steht prominent auf einer Bühne, unter konstanter Vorführung seines elektrisch zusammenklappbaren Stahldachs – einer Technik, die Mercedes mit dem Roadster SLK schon vor drei Jahren einführte. Mit wirklich spritzigen Kreationen fiel lediglich Honda auf, aus Tradition der frechste Autokonzern Japans, wenngleich während der vergangenen Jahre etwas in Lethargie versunken. Als exotischste Studie der Schau präsentierten die HondaDesigner das City-Mobil „Fuya-Jo“, zu Deutsch: „Schlaflose Stadt“. Nur drei Meter lang und zwei Meter hoch dürfte das einer Mini-Lokomotive ähnelnde Vehikel zwar den Unbilden europäischer Elchtests kaum gewachsen sein, doch verspricht es völlig neue Perspektiven urbaner Mobilität. Vier Insassen sitzen auf Barhockern gleichendem Gestühl. Lautsprecher im Durchmesser von Medizinbällen können das urige Gefährt bei Bedarf in eine rollende Techno-Disco verwandeln. Das Lenkrad ist einer Schallplatte nachempfunden. Mit dem Stand-Motto „be smart, have fun“, spielt Honda offen auf die jüngsten Kleinwagen-Kapriolen von Mercedes an. Doch im Gegensatz zur Stuttgarter Konkurrenz werden die Japaner der Vision kei- Bugatti-Studie von VW: Gedrungenes Protzmobil zum Stückpreis von einer Million Mark AU T O M O B I L E Stolz der Sieger Ungehemmt lassen die deutschen Autohersteller auf der „Tokyo Motor Show“ die Muskeln spielen. Vor der Automacht Japan fürchten sie sich kaum noch. „Tokyo Motor Show“ ein Drittel der gesamten Ausstellungsfläche. Mit dem grünlich schillernden Motto der Schau („Blick in die Zukunft – Autos für diese Erde verändern“) haben die deutschen Ausstellungsstücke etwa so viel gemein wie die Fremdenlegion mit der Heilsarmee. Auch Japans Autoindustrie, von der anhaltenden asiatischen Wirtschaftsflaute schwer angeschlagen, macht sich mehr Sorgen um die eigenen Überlebenschancen als um das ökologische Wohlergehen des Planeten. Der Schatten der Nissan-Krise (siehe Kasten Seite 306) verdüsterte die Stimmung des fernöstlichen Fahrzeug-Festivals nachhaltig. Auf der Suche nach strategischen Visionen der einst so gefürchteten Asiaten irrten die internationalen Autobosse eher AP U ngewöhnlich zurückhaltend präsentierte Ferdinand Piëch am vergangenen Mittwoch in Tokio das neue Schmuckstück seines Konzerns. Als Chefdesigner Hartmut Warkuß die Hülle von der jüngsten Bugatti-Studie zog, schaute der VW-Chef reglos zu. Auf das sonst übliche Zeremoniell, den Motor anzulassen und mit beherztem Gasfuß eine Klangprobe zu liefern, verzichtete der Volkswagen-Patriarch. Stattdessen lieferte er sehr konkrete Aussagen über den geplanten Fortgang des BugattiProjekts. In vier Jahren startet die Produktion. Von da an sollen 50 Exemplare pro Jahr ausgeliefert werden. Bei einem Stückpreis von einer Million Mark „rentiert sich das Zeug“. Das gedrungene Protzmobil, benannt nach dem einst auf Bugatti siegreichen Rennfahrer Pierre Veyron, kann nun auf dem Messegelände der Nippon-Metropole für zwei Wochen am offenen Herzen bestaunt werden. Der ohne Abdeckung im Wagenzentrum platzierte Motor steht mit 18 Zylindern und 555 Pferdestärken voll im Zenit des PS-Exhibitionismus, den die deutschen Automobilhersteller in diesem Jahr auf Japans größter Automesse zelebrieren. Den Mercedes-Stand dominiert die Roadster-Studie SLR (557 PS). BMW schickte als Hauptattraktion den Roadster Z8 (400 PS) nach Fernost. Insgesamt belegen die deutschen Autohersteller auf der Stadtauto-Modell „Fuya-Jo“ von Honda d e r s p i e g e l Technik ne Serienfertigung folgen lassen und sich somit schlaflose Nächte ersparen. Marktreif ist dagegen der Honda „Insight“, das weltweit sparsamste Serienauto mit Benzinmotor. Dank der Unterstützung durch einen Elektroantrieb, der die Bremsenergie beim Verzögern über Generatoren speichert und später bei Bedarf wieder den Rädern zuführt, erreicht der Wagen einen Normverbrauch von 3,4 Litern auf 100 Kilometer. Der Wagen fährt 180 Stundenkilometer Spitze und soll ab April für etwa 35 000 Mark in Deutschland angeboten werden. Mit seinem Kohlendioxid-Ausstoß von 80 Gramm pro Kilometer liegt er etwa auf dem Niveau des Drei-Liter-Lupo von Volks- Bürostuhl im Kreidekreis DPA (l.); I. STUART / CORBIS SYGMA (r.) Kulturschock in Japan: Beim Autohersteller Nissan erzwingt ein ausländischer Sanierer radikalen Stellenabbau. Viele Japaner sehen in dem Kostenkiller einen Retter. Nissan-Sanierer Ghosn, Autoproduktion bei Nissan: Tausende neue Fenster-Hocker D ie Firmen-Samurai des japanischen Autobauers Nissan sind Niederlagen gewohnt. Tapfer lächelnd hatten sie es noch ertragen, dass sich ausgerechnet der französische Renault-Konzern an ihrer einstigen Vorzeigefirma beteiligte. Doch dann erlebten die Japaner vergangene Woche den eigentlichen Kulturschock. Vor laufenden Kameras verkündete Carlos Ghosn, der von Renault bei Nissan eingesetzte Statthalter, seinen „Wiederbelebungsplan“ für den hoch verschuldeten Autokonzern. Mit einer für Japan beispiellos brutalen Sanierung will der gebürtige Brasilianer (Spitzname: „le costkiller“) die Errungenschaften der fernöstlichen Firmenkultur hinwegfegen. Automatische Beförderung nach dem Berufsalter? Lebenslange Arbeitsplatzgarantie? Solche Wohltaten können Nissans Angestellte künftig vergessen. Mit fassungslosem Schweigen lauschte die Firmenfamilie dem Horrorkatalog des Ausländers: Bis April 2003 will er bei Nissan 21 000 Jobs streichen und allein in Japan fünf Werke schließen. 306 d e r Mit seinem Sanierungsplan schockierte Ghosn die japanische Nation: Die gegenseitige Treue zwischen Konzernen und verflochtenen Zulieferern galt bislang als Erfolgsrezept der „Japan AG“. Wie konfuzianische Familien schotteten sich die Firmengeflechte – die so genannten Keiretsu – gegenüber Außenseitern ab. Vor allem in der Not hielten die Keiretsu zusammen: Statt überzählige Mitarbeiter zu feuern, schoben viele Unternehmen diese zu Tochterfirmen oder Zulieferern ab. Dieser Taschenspielertrick erschwerte Nissan jedoch, seine Einkaufskosten zu drücken: Junge NissanManager brachten es nicht übers Herz, älteren Ex-Kollegen niedrigere Preise abzuhandeln. Entsetzen löste Ghosn vor allem mit dem Stellenabbau durch vorzeitigen Ruhestand aus. Zwar kann auch der RenaultMann nicht einfach Arbeitskräfte feuern. Aber so unverblümt hätten japanische Manager das Tabu-Thema nie angepackt. Um ihre zehntausende „MadogiwaZoku“ („Fenster-Hocker“) aus den Firmen zu ekeln, gehen Nippons Bosse dis- s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 wagen, der zwar etwas weniger verbraucht, als Diesel aber zugleich pro verfeuertem Liter mehr Kohlendioxid in die Luft pustet. VW-Chefentwickler Martin Winterkorn zollte den japanischen Ingenieuren vergangene Woche in Tokio offen Respekt: „Auf Honda muss man Acht geben.“ Christian Wüst kreter vor: Wer bei Bürobeginn einen Kreidekreis um seinen Stuhl findet, weiß: Ich werde hier nicht mehr gebraucht. Auch wer plötzlich das Telefon auf dem Schreibtisch vermisst, kann einpacken. Die lebenslange Arbeitsplatzgarantie ist längst zur hohlen Ideologie verkommen. Japans Arbeitslosigkeit beträgt offiziell 4,7 Prozent – in Wahrheit dürfte sie doppelt so hoch sein. Gleichwohl runzelte Premier Keizo Obuchi rituell die Stirn über Ghosns Sanierungspläne. Auch Hiroshi Okuda, Boss des Konkurrenten Toyota, sorgt sich um die Firmenkultur: Scheinheilig bedauerte er den Versuch Nissans, „durch Restrukturierung den Aktienkurs in die Höhe treiben zu wollen“. Ähnliche Schelte hatten Nissan-Manager bereits zu hören bekommen, als sie 1995 erstmals ein großes Autowerk in Zama bei Tokio schlossen. Um den sozialen Konsens nicht weiter zu gefährden, ließen sie ihre Firma dann sechs Jahre lang immer tiefer in die roten Zahlen schlittern. Als Nissan Anfang dieses Jahres vor der Pleite stand, verhandelten die Japaner zunächst mit DaimlerChryslerChef Jürgen Schrempp über eine Beteiligung. Doch den Deutschen schreckte der Schuldenberg – er lehnte schaudernd ab. Nun muss Monsieur „le costkiller“ bei Nissan den Stall auskehren. Gewalttätige Proteste braucht Ghosn von den Japanern nicht zu fürchten. Im Gegenteil: Insgeheim hoffen viele Nissan-Leute geradezu auf „gaiatsu“ („Druck von außen“). Manche erinnern sich gar an US-Besatzungsgeneral Douglas MacArthur, der dem besiegten Japan ab 1945 Demokratie verordnete. Bald verehrten die Japaner den Ausländer wie einen Ersatz-Kaiser. Japans Presse begrüßte den RenaultManager schon fast wie einen Retter: Es bringe nichts, Ghosn zu „hassen“, schrieb die Tageszeitung „Asahi“. Schuld an der Misere hätten die japanischen Manager. Das Wirtschaftsblatt „Nihon Keizai“ forderte keck den Rücktritt des glücklosen Nissan-Präsidenten Yoshikazu Hanawa. Hanawa ist jetzt der ranghöchste „Fenster-Hocker“ bei Nissan. Die Geschäfte führt Ghosn, der in der TV-Werbung auch mutig sein Bulldozer-Gesicht hinhält. Sein Slogan: „Nissans RenaisWieland Wagner sance beginnt.“ d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Kultur Szene FILM ADVANCED FILM „In jedem Leben Weltmeisterschaft“ Der bhutanische Mönch und Regisseur Khyentse Norbu, 38, über seine Fußballkomödie „Spiel der Götter“, die jetzt in die deutschen Kinos kommt Szene aus „Spiel der Götter“ Norbu: Eben. Und einer von beiden war auch noch ein sehr hoher Mönch. Niemand junge tibetisch-buddhistische Mönche der Faszinawollte gegen ihn antreten. tion des Fußballs – sie wollen unbedingt die WeltAm Ende musste es einem meisterschaft im Fernsehen gucken. Haben die Tibefohlen werden. beter keine anderen Sorgen? Norbu: Die Geschichte beruht auf einer wahren BeSPIEGEL: Sie selbst werden als gebenheit. Außerdem bin ich kein Freund von Probuddhistischer Meister verpagandafilmen. ehrt. Was hat Sie ins Filmgeschäft verschlagen? SPIEGEL: Propagieren Sie nicht den Fußball? Norbu: Ich bin erst während der Dreharbeiten zum Norbu: Buddhismus ist keine Fußballfan geworden. Zuerst habe ich einfach nur Religion, sondern eine Philonach einer Geschichte gesucht, die sich mit einem Regisseur Norbu sophie, eine Lebenseinstelganz kleinen Budget realisieren lässt. lung, eine Wissenschaft. Sie können Wissenschaftler sein und gleichzeitig Filmemacher. SPIEGEL: „Spiel der Götter“ wurde in einem Kloster am Fuße des Himalaya gedreht, mit echten Mönchen als Hauptdarstel- Film ist eine mächtige, globale, moderne Sprache. Anstatt davor zu fliehen, müssen wir diese Sprache lernen. lern. War es schwer, die Mönche für den Film zu begeistern? Norbu: Einige hatten vorher noch nie eine Kamera gesehen, aber SPIEGEL: Zum Buddhismus gehört der Glaube an die Reinkarnaich war überrascht, wie gut es ging. Mönche sind sehr diszipli- tion. Möchten Sie als Fußballprofi wiedergeboren werden? niert, sie verlangen nicht mal Gage. Schwierig war eine Szene, Norbu: Viele junge Mönche wünschen sich das bestimmt. Ich bin in der zwei Mönche miteinander ringen sollten. zufrieden, wenn ich in jedem neuen Leben die Fußballweltmeisterschaften sehen kann. SPIEGEL: Was Mönche normalerweise nicht tun. DPA SPIEGEL: Khyentse Norbu, in Ihrem Film erliegen Volksfeind am Erdrand E d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 VERLAGE Am kürzeren Ende D er nach der Wende von der Treuhand mit einer millionenschweren Anschub-Finanzierung gestützte ehemalige DDR-Verlag Volk & Welt wird im März nächsten Jahres nach München umziehen. In Berlin, wo das traditionsreiche Unternehmen seit 1947 residiert, wird voraussichtlich nur der Verleger Dietrich Simon, 60, mit einer Lektorin bleiben – Produktion, Pressearbeit und Werbung sollen gemeinsam betrieben werden mit den Münchner Verlagen Luchterhand und Limes, bisher lediglich Vertriebspartner. Überraschend kommt das nicht: Volk & Welt (aktueller Bestseller: Tho- Simon mas Brussigs „Am kürzeren Ende der Sonnenallee“) hat seit 1995 denselben Eigentümer wie Limes und Luchterhand: den Münchner Wirtschaftsanwalt Dietrich von Boetticher. 309 ACTION PRESS alampi Oroschakoff, 44, in der Heimat seiner Ahnen angekommen – im Sankt Petersburger Russischen Museum zeigt er einen 40-Gemälde-Zyklus, der den Dialog der Kulturen in pathetische Motiv-Kontraste umsetzt (bis 14. November). Künstlerisch-frei zitiert er die Visionen russischer „Wanderer“-Maler und westlicher „OrientalisOroschakoff-Werke „Welt“, „Tod der Cleopatra“ ten“ aus dem 19. Jahrhundert, er stellt ihnen aber unter dem KUNST Titel „Erdrandsiedler“ modern stilisierte Kompositionen gegenüber, die Krisenzonen und -phänomene symbolisieren sollen („Osmanisches Reich“, „Kunsts war, sagt der Künstler, eine „Exploraub“). Oroschakoff, im Kommunismus sion im Kopf“, damals vor 17 Jahren als „Volksfeind“ diskriminiert, in Wien an heiliger Stätte. Auf dem griechischen als sprachfremder „Tschusch“ zusamMönchsberg Athos empfand der aus mengeschlagen und nach 14 Münchner Bulgarien in den Westen verschlagene Jahren nun in Berlin ansässig, beurteilt Spross russischen Hochadels plötzlich die Verständigungsmöglichkeiten düster: die „eigene Geschichte, eigene Farben „Ein seelenloser Westen trifft auf einen und Töne“; seither sieht er sich auf eiausgehöhlten Osten.“ nem „langen Weg zurück“. Nun ist Har- Szene FOTOGRAFIE Miniröcke und Napalm D FOTOS: R. AVEDON er Schriftsteller Truman Capote zeigt seinen Bauch, die Sängerin Janis Joplin ihre Fäuste, und amerikanische Soldaten posieren mit ihren neuesten Eroberungen – verschüchterten Vietnamesinnen in Miniröcken. „The Sixties“ nennt der USFotograf Richard Avedon mit lakonischer Knappheit sein Panoptikum eines Jahrzehnts, das nun – mit Texten von Doon Arbus – ein prächtiger Bildband beschwört (Verlag Schirmer/Mosel, München; 240 Seiten; 148 Mark). Avedon, Jahrgang 1923, war als Modefotograf zu viel Ruhm und noch mehr Geld gekommen; 1957 gab sein Leben sogar den Stoff ab für das Filmmusical „Funny Face“ mit Fred Astaire und Audrey Hepburn in den Hauptrollen. In den sechziger Jahren erweiterte er dann sein Sujet; Avedon fotografierte sie alle: schwarze Bürgerrechtler wie weiße Neonazis, Regisseure, Musiker, Andy Warhols „Factory“-Mitstreiter, den ehemaligen Sklaven William Casby; meist in Schwarzweiß, isoliert vor weißem Hintergrund; den Beatles gönnt er poppig-verfremdende Farben. Gelacht wird nur selten auf Avedons porenscharfen Avedon-Fotos (von Joplin, John Lennon, Casby) Porträts – statt Friede-Freude-Eierkuchen-Verklärung blickt einmal ein monolithisch-selbstbewußter Außenminister Henry Kissinger in die Kamera, ein paar Seiten zuvor eine Frau mit vernarbtem Gesicht; „Napalm-Opfer, Saigon“ steht darunter. „Meine Fotos“, sagt Avedon, „lesen nur ab, was auf der Oberfläche zu sehen ist. Ich habe großes Vertrauen in die Aussagekraft der Oberfläche.“ Kino in Kürze Fall Robin Williams, und der menschelt als Jakob so feuchtwarm bewohner Jakob, der ausgerechnet im Polizei-Hauptquartier vor sich hin, als wolle er zu seinem Oscar nun auch noch den eine Rundfunknachricht vom Nahen der russischen Truppen Friedensnobelpreis gewinnen. aufschnappt, war eines der ersten literarischen Werke, die sich an das große „Der Vulkan“. Was für ein Stoff! Eine erThema Holocaust mit melancholischem folgreiche Schauspielerin, ein scheijüdischen Witz heranwagten. Jakob erternder Schriftsteller, ein aalglatter zählt die frohe Kunde weiter, und weil Spitzel – und viel Liebe, Drama, Wahnplötzlich alle glauben, er habe ein eigesinn unter deutschen Emigranten im nes Radio, ist er gezwungen, immer Paris der dreißiger Jahre. Jetzt, 60 Jahneue Nachrichten zu erfinden, um die re nachdem Klaus Mann seinen autoHoffnung schöpfenden Ghettobewohbiografisch geprägten Roman über Helner nicht zu enttäuschen: ein Lügner den, Verlierer und Verräter schrieb, hat aus Barmherzigkeit. 1974, fünf Jahre der Regisseur Ottokar Runze, 74, eine nach seiner Veröffentlichung, wurde JuVerfilmung gewagt. Sichtbar eingerek Beckers Meisterstück von der Defa schüchtert von der wortmächtigen Vorverfilmt, und nun hat auch Hollywood Szene aus „Jakob der Lügner“ lage, riskiert Runze jedoch nur eine braes entdeckt. Fairerweise ist anzumerve, seltsam zeitlose Bebilderung im Stiken, dass die Adaption (Regie: Peter Kassovitz) schon vor le öffentlich-rechtlichen Literatur-Fernsehens; gut gemeint, aber Roberto Benignis Hit „Das Leben ist schön“ entstand, dem sie leider kein Kino. Da mag die schöne Hauptdarstellerin Nina frappierend gleicht: kein Trittbrettprojekt, sondern ein sorgsam Hoss mit noch so viel Hingabe von „einer kleinen Sehnsucht“ geplantes „star vehicle“. Das Vehikel transportiert in diesem singen: Dieser „Vulkan“ speit kein Feuer. COLUMBIA TRI-STAR „Jakob der Lügner“. Der wundersame Roman um den Ghetto- 310 d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Kultur S AC H BU C H Wie Rock und Jazz nach Deutschland fanden E lvis Presley präsentiert sich in Uniform an einem Holztisch in Friedberg/Germany der Weltpresse, Archie Shepp bläst auf der Bühne des Donaueschinger Musikfestivals in sein Saxofon, Patti Smith ächzt im Münchner „Downtown“-Club ins Mikro: Schon die clever zusammengesuchten, prachtvoll gedruckten Schwarzweissfotos machen diesen Band zu einem kleinen Wunderwerk. Doch Konrad Heidkamps „It’s all over now“ ist nicht bloß ein staunenswert schönes, sondern auch ein staunenswert kluges Buch. Klug vor allem deshalb, weil Heidkamp ganz unaufgeregt und sehr persönlich den PopRoman der Bundesrepublik geschrieben hat – also die Geschichte jener krummen Wege, auf denen Jazz und Rock, zunächst als Musik der AmiBesatzer geschmäht, den Weg nach Deutschland fanden. Heidkamp, Jahrgang 1947 und seit vielen Jahren als Musikkritiker vor allem in der „Zeit“ zugange, erzählt durchaus autobiografisch davon, wie Elvis Presley und Charlie Parker in den Fünfzigern, die Rolling Stones und Thelonious Monk in den Sechzigern, Patti Smith und Miles Davis in den Siebzigern sein Leben veränderten. Und weil er dabei ohne die Hysterie des Fans (der er natürlich trotzdem ist) auskommt und ohne Fachgesimpel, ist seine Bestandsaufnahme der „Musik einer Generation – 40 Jahre Rock und Jazz“ (Untertitel) ein ebenso verständliches wie sachkundiges Werk der Kultur-Geschichtsschreibung. Heidkamp macht nicht nur begreiflich, wie man gleichzeitig John Wayne lieben und gegen den VietnamKrieg protestieren konnte, wie schwer sich die Deutschen zunächst mit den Texten Bob Dylans und mit den Zornausbrüchen der Sex Pistols taten, sondern er schildert auch die Atmosphäre, in der die anglo-amerikanischen PopSensationen in Deutschland aufgenommen wurden. Er schreibt von der „Suche nach Heimat im Mythos Amerika“, von einer Zeit, in der sich „die privaten Revolten höchstens gegen nummerierte Holzsitze richteten“, und darüber, was Charlie Parker mit Tipp-Kick-Spielen zu tun hatte. Der Titel „It’s all over now“ klingt resignativer, als er gemeint ist: Mit den aktuellen Pop- und Jazz-Moden kann Heidkamps Generation wenig anfangen – aber beim Hören von Neil Youngs Platten ahnt sie, so verrät dieses Buch, „dass es nie zu spät, nie zu früh ist“ für die Erlösung durch Musik. Konrad Heidkamp: „It’s all over now“. Alexander Fest Verlag, Berlin; 312 Seiten; 49,80 Mark. POP Münchens Mambo-King regiert weltweit uf dem Weg zum Erfolg kann ein Hut Wunder wirken, behauptet Lou Bega. Der 24-jährige Musiker macht seinen weißen Borsalino mit echter Seideneinlage durch das Video zum Bega-Sommerhit „Mambo No. 5“ nun weltweit bekannt. Der Song („A little bit of Monica …“) hat es weltweit in 21 Ländern an die Spitze der Hitparade geschafft. Auch in den USA wird Bega, afrikanisch-italienischer Abstammung und als David-Lou Bega in München aufgewachsen, derzeit als Pop-Sensation gefeiert. Dem Magazin „Entertainment Weekly“ durfte der Bayer ein paar Flirttipps diktieren: Zum Beispiel solle man schöne Frauen am besten in Supermärkten ansprechen, „dann glauben sie, dass man es ehrlich meint“. FOTEX A Popstar Bega d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Am Rande Doppel-König Na klar, wissen wir: Im Reich der Kunst herrschen Lug und Trug. Nicht nur sind Malersleute grundsätzlich Gaukler, die an des Kaisers neuen Kleidern weben; bei nennenswertem Marktwert ihrer Ware locken sie auch unwiderstehlich Doppelgänger an. Die werkeln in den Augen oberflächlicher Betrachter gleich gut und tun es, ohne die Mühe der ProduktEntwicklung, umso emsiger. Manch einer tritt schließlich, wenn er nach klingendem Erfolg dennoch aufgeflogen ist, stolz-verschämt aus dem Schatten und lässt sich „König der Fälscher“ titulieren. So geschah es jenem ungarischen Weltmann, der am liebsten den Namen Elmyr de Hory trug. Er hat eine internationale Klientel durch Monet-, Picasso- und Modigliani-Imitationen beglückt und steht auch nach seinem Tod (1976) bei amerikanischen Fans mit Bilderpreisen um 20 000 Dollar noch hoch im Kurs. Rotiert er nun – oder wäre er stolz auf die ihm erwiesene Ehre? Die US-Zeitschrift „Artnews“ verbreitet das ebenso einleuchtende wie schwindelerregende Gerücht, es seien De-Hory-Fälschungen aufgetaucht, solche von minderer Qualität, geeignet, das Renommee des Verblichenen in den Schmutz zu ziehen. Ist den Leuten gar nichts heilig? Nicht einmal auf ein Gaunerstück kann man sich mehr verlassen. Schreckliche Vorstellung: In irgendeinem Hinterzimmer sitzt jemand und fälscht Konrad Kujaus Tagebücher. Und die Geschichte der Diarienliteratur muss schon wieder umgeschrieben werden. 311 Kultur MUSIK Papagei unter Pinguinen Der britische Stargeiger Nigel Kennedy, jahrelang punkiger Bürgerschreck der Klassikszene, ist erwachsen geworden. Auf seiner neuen CD mit Salonmusik erweist er sich als überlegener Meister nostalgischer Miniaturen, im nächsten Jahr will er in zehn deutschen Städten jede Menge Bach spielen. W Wenn etwa der Franzose Jules Massenet in seiner Oper „Thais“ ein herzinniges Geigensolo streichen ließ, um einer ägyptischen Kurtisane zu huldigen; wenn Charles Gounod ein Klavierstück von Bach zum frömmelnden „Ave Maria“ kandierte oder der alte Händel im Oratorium „Solomon“ die Königin von Saba besang, dann konnte die Belle Époque wonniglich lauschen. Doch mit den Häkeldeckchen, den Stehgeigern und den höheren Töchtern verschwanden auch deren tönende Lollipops – als Salonmusik verpönt, als Schmachtfetzen verwünscht und aus den Program- RANKIN / CAMERA PRESS enn es die gute alte Zeit je gegeben hat, dann in ihren seligen Schlagern. Alle höheren Töchter klimperten sie auf dem Pianoforte; in den Vestibülen nobler Hotels wurden sie zur Teatime von pomadigen Stehgeigern serviert; und ganz feine Herrschaften lauschten ihnen daheim vor den Trichtern ihrer krächzenden Grammofone. Es waren (meist gefühlig arrangierte) Romanzen und Meditationen, Wiegenlieder, Träumereien und Nocturnes – lauter harmonische Petitessen voll zarter Schluchzer zwischen Soap und Schmus. Klassikgeiger Kennedy Reif für den Ritterschlag d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 men in Acht und Bann verteufelt. Einer will es jetzt wissen. Er schlägt noch einmal so ein Poesiealbum der Tonkunst auf und verspricht mit seiner jüngsten Einspielung (EMI), einen „Schaukasten für einige der schönsten Miniaturen“ zu öffnen, „die je komponiert wurden“, „jede für sich ein Geniestreich“. 79 Minuten lang reiht er 20 Titel zu einer nostalgischen Schlagerparade auf: Massenets „Thais“ ist, natürlich, dabei, Gounods „Ave Maria“, ein Nocturne von Chopin, aber zwischen den getragenen Gassenhauern legt er sich auch für RimskiKorsakows „Hummelflug“ ins Zeug, für die „Zigeunerweisen“ von Sarasate und für George Gershwin. „Ein kleines Musikstück kann ein Meisterwerk sein“, kommentiert der Geiger seinen Saitensprung in die Süßwarenabteilung, „egal, ob es von Schubert stammt, von Fritz Kreisler oder den Kinks.“ Recht hat er. Der Mann, keine Frage, meint das auch ernst. Vom Schwarzweiß-Cover seiner neuen CD guckt er so männlich-entschlossen RANKIN / CAMERA PRESS Her Majesty’s musischster Punker ein, sondern auch als der schlimmste Bad Boy der internationalen Klassikszene auf. Wenn ihn der Hafer stach, klebte er dem ahnungslosen Kapellmeister schon mal die Partitur zu oder, bei einer Tour durch Australien, einen Koala aus Plüsch auf den Rücken des Fracks; da war dann im Konzertsaal der Bär los. Einmal, in einem piekfeinen Washingtoner Restaurant, warf dieser Pausenclown zunächst mit Brötchen herum, griff sich dann am Nebentisch ein paar Kartoffeln, kaute sie weich, ließ das Püree zurück auf den Teller des Gastes fallen und spuckte, gleichsam zum Nachtisch, auch noch die Reste eines Windbeutels ins Weinglas. Klar, dass das klassische Establishment so einen Kotzbrocken nicht mal mit der Pinzette anfassen wollte. In den philharmonischen Gefilden galt er als Irrläufer – halbstark, unappetitlich, gaga; ein Pfui-Gei- te, hofierte auch der Markt den Schweinigel wie einen Goldesel, reif für den Ritterschlag der Guinness-Rekorde. Aus; vorbei; alles Schnee und Schnickschnack von gestern. Jetzt, im Oktober 1999, will der Geiger nichts mehr hören von seinen schrillen Flegeljahren und dem Marktgeschrei um jene Viv-CD, die damals die Barock-Puristen erblassen und die Plattenhändler jubilieren ließ und die ihn zum Millionär gemacht hat. „Fucking shit“, nichts weiter. Derbe Sprüche pflegt er immer noch, auch seinen prestissimo gehaspelten Cockney-Slang hat er kaum kultiviert. Er sitzt immer noch, bei jedem wichtigen Match, auf seinem Stammplatz im Stadion und grölt in der zehnten Reihe von oben mit den bierseligen Skinheads für Aston Villa. Zwischen den feierlich befrackten Orchestermusikern wirkt Kennedy, der Solist mit dem aparten Outfit, nach wie vor wie Punkgeiger Kennedy in die Weite wie Boris Becker, wenn der als Dressman posiert, und neben dem leicht geneigten Kopf mit Drei-Tage-Bart steht, ganz schön großspurig, der Name als Gütezeichen: „Classic Kennedy“. Ach der, ausgerechnet der: Nigel Kennedy, 42, der schon einmal die ganze klassische Zunft aufgebohrt hat und neuerdings, weil er Nigel „so unglaublich blöde“ findet, nur noch mit Nachnamen firmiert. Kennedy – das war doch der Typ mit der Macke. Der, als er vor knapp zehn Jahren laut und vorlaut auf die E-Musik-Szene platzte, seine Auftritte immer „Gigs“ nannte, seine Stradivari bloß „Strad“, Vivaldi stets „Viv“ und Wiens ehrwürdige Philharmoniker nur „the Schnitzels“. Was er auch machte, war „monster“, meist „fucking monster“. Und, igitt, wie der aussah: Schmuddeljacke, speckige Jeans, ausgelatschte Western-Stiefel, stoppeliger Wildwuchs im Milchgesicht und das steif geglibberte Bürstenhaar gelegentlich so bunt wie seine (von ihm öffentlich zur Show gestellten) Unterhosen und sein (jüngst schrottreif gefahrener) Jaguar XJ 6 – in Bordeauxrot und Blau, den Vereinsfarben seiner Lieblingskicker von Aston Villa. Für eine Wiedergabe des Violinkonzerts von Alban Berg, das der früh verstorbenen Architektentochter Manon Gropius und deshalb „Dem Andenken eines Engels“ gewidmet ist, verkleidete sich der Geiger durchaus auch mal als Dracula: mit knallblauem Umhang, lila Schuhen, grünem Gesicht, schwarzen Lippen und Vampirbiss im Nacken. „Es geht bei dem Stück doch ums Sterben, oder?“, feixte der Schocker mit der Strad. Damals, zum Auftakt einer beispiellos turbulenten Karriere, führte sich der englische Geiger Nigel Kennedy nicht nur als M. PELLETIER / CORBIS SYGMA Bravouröser Spinner Spaßgeiger Kennedy: Schluchzer zwischen Soap und Schmus ger. Nur: Der Kerl hatte halt auch mit dreckigen Fingernägeln den Bogen raus. Er war zwar als Monster nicht salonfähig, aber als Geiger absolut konzertreif. Schon damals hatte er sie alle drauf: Bach, Beethoven, Brahms, Bartók, die Säulen und Heiligen des Repertoires. Immerhin war Sir Yehudi Menuhin, der noble Altvordere des Saitenspiels, sein Lehrer und Förderer gewesen. Längst hatten ihm Wiens und Berlins Philharmoniker sowie Stardirigenten wie Simon Rattle, Bernard Haitink oder André Previn begleitend beigestanden und dabei in dem Kindskopf den Künstler entdeckt. Und nachdem dieser Nigel Kennedy im Herbst 1989 seine fetzig-frech verrockten Vivaldi-„Jahreszeiten“ herausgebracht und (mit inzwischen über zwei Millionen Exemplaren) die bestverkaufte Klassik-Aufnahme der Plattengeschichte hingelegt hatd e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 ein Papagei unter Pinguinen, und die krustige Schwiele links oben am Hals, ein Wundmal seines Handwerks, will und will nicht heilen. Schließlich klemmt er sein Instrument, heute eine Guarneri von 1735, seit über 30 Jahren jeden Tag vier bis fünf Stunden an dieselbe Stelle unterm Kinn. Über fünf Jahre hat Kennedy das klassische Terrain gemieden. Es stand ihm oben: 100 Konzerte in zehn Monaten, immer dieselben Schlachtrösser des Repertoires, der ganze öde Solistenzirkus: „Ich konnte das nicht mehr aushalten.“ Aber als angeblicher Stinkefinger der Violinkunst fühlte er sich auch „pissed off“, schnöde ausgestoßen aus dem philharmonischen Zirkel der Wohlanständigen: „Wieso haben manche Leute so irre auf mir herumgehackt, nur weil ich die Musik auch jenen Menschen näher brachte, die nicht zum Club der Privilegierten gehörten?“ Frustriert 313 schmiss er hin, wollte nicht länger „den trauEr ist, keine Frage, ein ernster Künstler rigen Motherfucker“ abgeben, „dessen Kar- geworden, und auf seiner jüngsten CD riere auf zehn Jahre im Voraus verplant ist“. mit all den Ohrwürmern von anno Tobak Stattdessen büxte er aus, von den phil- kann er, mit exquisitem Ton und leuchharmonischen Events zu rockigen Extras, tender Phrasierung, endlich einmal richtig von den weltweiten Klangkörpern zu bri- herausstreichen, was er wohl immer getischen Provinzbands wie Portishead oder wesen ist – ein altmodischer, romantischer Massive Attack, von Ludwig van Beetho- Phantast, der jetzt aus abgelutschten ven zu seinem Hausgott Jimi Hendrix, dem Sweeties eine feine Packung Knuspergold „Suchenden“ und „Freigeist“, dem er mit macht. einem feinfühligen „Concerto in Suite Doch komisch, dieser Musikbetrieb. GeForm“ nachtrauerte. nau im gleichen Augenblick, da der engliEr machte bei Plattenprojekten von Paul sche Primgeiger endlich erwachsen geworMcCartney, Talk Talk und den Stranglers den ist, putzt sich Anne-Sophie Mutter, 36, mit, tourte mit farbigen Jazzern herum und die deutsche Geigendiva, wieder als Teenie versuchte sich auch an Selbstgemachtem. raus, und nun redet sie gaga. In der Branche schien dieser Mister In dem kunterbunten Klappkarton, der Crossover schon als erstes Opfer der Mix- ihre Neuaufnahme (Grammo) von Vivaldis Mode abgehakt, und die feinen Pinkel in „Vier Jahreszeiten“ enthält, lässt sie sich den philharmonischen Tempeln glaubten bereits, das „Schreckgespenst jeglichen Kulturverfalls“ („Süddeutsche Zeitung“) los zu sein. Aber der Rebell Kennedy, immerhin ehemaliger Student der New Yorker Juilliard School, wollte den klassischen Kram nicht hinschmeißen. Daheim, auf seinem Anwesen in der Grafschaft Worcestershire, griff er immer wieder nach Bach oder Schubert, und selbst als er ein paar Hendrix-Titel öffentlich mit der Elektro-Fiedel geigte, hat ihm Sir Simon Rattle noch „den Sound eines großen Stargeigerin Mutter: Unterarm im Klappkarton Violinisten“ nachgerühmt. Jetzt, wo er sich in den Pop-Gefilden mit wild wehender Mähne und als überausgetobt und „die unglaublich reichen Er- mütige Gespielin übermütiger Musikanfahrungen mit dieser vitalen Musik“ ver- ten ablichten, in Jeans und mit Sonneninnerlicht hat, sehnt er sich zurück in den brille. „Mikrokosmos“ der gehobenen Tonkunst, Und da ihr die Idee zu den (bekanntlich und das ohne die Kapriolen eines bra- von Kennedy so erfolgreich vermarkteten) vourösen Spinners: „Auf einmal wurde mir Vivaldi-Konzerten angeblich erst „bei eibewusst, dass ich einfach diese phantasti- nem meiner Besuche“ im Atelier ihres sche Erfahrung vermisste, mit einer Grup- Lieblingsmalers Gotthard Graubner gepe von 70 Musikern hinter mir höchst ex- kommen ist, ist die Edition nicht nur mit quisit orchestrierte Musik zu spielen.“ Mutters rechter Gesichtshälfte oder ihrem Seine Wechseljahre sind ihm gut be- nackten Unterarm nebst Geige illustriert, kommen. Inzwischen hat Kennedy das sondern auch mit Pinseln und Paletten. äußerst diffizile Violinkonzert von Alban „Dieses explosive Funkeln, dieses WetBerg auf CD aufgenommen und sich mit terleuchten in beider Kunst!“, schlägt die dem bedeutenden amerikanischen Cellis- Musikerin kühn den Bogen zwischen Baten Lynn Harrell, 55, zusammengetan. Ge- rockkomponist und Gegenwartsmaler, meinsam führen sie Stücke von Maurice „Töne und Farben, die so federleicht wieRavel und Zoltán Kodály auf; das Duo gen, als würde mich die Winzigkeit der hofft auf eine Komposition des britischen Entstehung eines Lebens anhauchen.“ Und Neutöners Mark Anthony Turnage und „klitzekleine Abstraktionen“ entdeckt sie wird im nächsten Sommer Stargast bei der hier wie dort, „Sinnesgeburten, kleiner als Kölner Triennale sein. ein Embryo“. Vorher, im Januar 2000, will Kennedy „Ich glaube“, schließt die Solistin ihren zum Bach-Jahr im Bach-Land Bach spie- fulminanten Schwenk durch die Künste, len, nichts als Bach, und sich in Begleitung „wir müssen, was modern ist, auch in der eines Ensembles aus Berliner Philharmo- Musik ganz neu definieren. Mir nämlich nikern endgültig im New Look präsentie- kommt es so vor, als würden Antonio Viren – ohne Nigel, ohne grelle Klamotten valdi und Gotthard Graubner täglich mehrund ohne die Faxen und Schrullen eines mals miteinander telefonieren.“ Fucking geigenden Monty Python. shit, nichts weiter. Klaus Umbach 314 d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 L. BIRNBAUM / DEUTSCHE GRAMMOPHON Kultur Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Kultur POP Klangzauber aus dem Kino Musikmarkt und Filmgeschäft stützen sich gegenseitig: Soundtrack-CDs sind mittlerweile oft erfolgreicher als die zugehörigen Filme oder frei produzierte Pop-Alben. W o bitte geht’s nach Hollywood? Das fragen sich seit einiger Zeit nicht nur aufstrebende Schauspieler, sondern auch die Agenten der US-Popmusiker. „Ein Blutbad“, so sagte einer von ihnen der „Los Angeles Times“, lieferten sich die Musik-Manager jüngst um das Privileg, auf der FilmmusikCD zu der Agentenparodie „Austin Powers – Spion in geheimer Missionarsstellung“ vertreten zu sein. Denn „Austin Powers“ versprach einer der Kinoerfolge dieses Jahres in den USA zu werden. Was auch eintraf: Der Film, seit 14. Oktober auch in den deutschen Kinos, spielte in Amerika über 200 Millionen Dollar ein. Beim Kampf um einen Sonnenplatz auf der Soundtrack-CD zu diesem Film „ging es hart zur Sache“, sagt Danny Bramson, „aber es war „Austin Powers“ sofort klar, dass wir Madonnas Song ,Beautiful Stranger‘ zur Zugnummer der Filmmusik machen“. Bramson, 45, gilt schon seit einiger Zeit als wichtiger Mann im US-Unterhaltungsgeschäft. Er ist einer der Chefs der Soundtrack-Abteilung des Entertainment-Konzerns Warner und kann sich mit etlichen Filmmusik-Erfolgen brüsten, darunter die CDs zu „Singles“, „City of Angels“, „The Nutty Professor“ und „Batman and Robin“. Zuletzt war er mit „Austin Powers“ (verkaufte US-Auflage bislang: 1,2 Millionen) in den Charts, und auch die Musik zu Stanley Kubricks letztem Film „Eyes Wide Shut“ wurde unter Bramsons Aufsicht produziert. Soundtrack-CDs sind derzeit hoch be- „Absolute Giganten“ liebt, nicht selten beliebter als die zugehörigen Filme selbst – eine Erfolgsgeschichte, die auch deshalb bemerkenswert ist, weil das Musikgeschäft insgesamt eher stagniert. In den USA, dem größten Musikmarkt der Welt, waren im Sommer 1998 10 der 40 erfolgreichsten Alben Filmmusiken, in Deutschland stehen derzeit die SongSammlungen zu Wim Wenders’ „Buena Vista Social Club“ und zu den Liebesdramen „Eiskalte Engel“ und „Notting Hill“ weit vorn in der Hitparade; auch zu eher kleinen heimischen Produktionen wie dem Hamburg-Jungsfilm „Absolute Giganten“ werden sogleich Filmmusik-CDs aufgelegt. Kinoerfolge wie „Men in Black“, „Vier Hochzeiten und ein Todesfall“, „Robin „Notting Hill“ Hood“ und „Trainspotting“ verschafften Aktuelle Soundtrack-CDs d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 in den vergangenen Jahren bewährten PopHelden wie U2, Will Smith, Bryan Adams und Wet Wet Wet Millionenerfolge; vorher fast unbekannte Szene-Größen wie Underworld brachten es zu Weltruhm. Viele Popstars spielen deshalb direkt im Auftrag der Kinoproduzenten neue Songs – und weil das Geschäft so gut läuft, ist den Kinomachern diese Extraarbeit Honorare von bis zu 500 000 Dollar pro Song wert, wie sie Elton John für den Song „Can You Feel the Love Tonight“ zum Film „König der Löwen“ erhielt. Der Erfolg der Soundtrack-Alben hat mehrere Gründe: Den treuen Fans großer Stars ist oft ein einziger Song ihrer Idole Anreiz genug, gleich die ganze Filmmusik mitzukaufen; und in die von den TV-Musiksendern verbreiteten Videoclips zu den Songs sind so viele Filmszenen einmontiert, dass die Zuschauer sowohl in die Plattenläden als auch ins Kino gelockt werden; und die Zweit- und Drittverwertung der Kinowerke auf Video und im Fernsehen animiert Zuschauer ein weiteres Mal zum Kauf der Film-Erkennungsmelodien. Galt es früher als Sensation, wenn ein Popstar einen Anruf aus Hollywood bekam, so „haben heute all jene Depressionen, die nicht angerufen werden“, sagt Bramson. „Jeder halbwegs erfolgreiche Musiker erhält mittlerweile rund 20 Angebote pro Woche“, behauptet er – zumal heute auch „jedes neue Videospiel einen Soundtrack verpasst bekommt“. Sogar Porno-Produzenten lassen ihre Werke neuerdings von Pop-Größen wie Massive Attack veredeln. Die Musikerwahl für einen Erfolgs-Soundtrack bleibt trotzdem, so Bramson, ein „schwieriges Geschäft“. Die Namen einiger Stars allein garantierten noch lange keinen Hit: „Es gibt eine Menge Leute, die einmal einen Bestseller zusammenstellen und dann in der Versenkung verschwinden.“ Besonders stolz ist der Manager Bramson auf den Soundtrack zu dem Film „City of Angels“ (1998), dem US-Remake des WimWenders-Werks „Der Himmel über Berlin“ (1987). Nur weil er den Titel der HollywoodVersion toll fand, drängte er den „City of Angels“-Machern seine Hilfe auf – leider war der Film fast schon fertig, samt elegischer Orchesterbegleitung. Doch Bramson insistierte auf einem neuen Soundtrack: „Es war ein Kampf zwischen dem Regisseur und mir um jeden Ton Popmusik.“ Am Ende schaffte die Soundtrack-CD mit Songs von den Goo Goo Dolls und Alanis Morissette eine Auflage, die etwa der Hälfte der Zahl der Kinobesucher entsprach. Bis heute hat sich die CD weltweit fast sieben Millionen Mal verkauft, drei ausgekoppelte Singles erreichten die Spitzenposition der US-Charts. In Deutschland gelang mit der CD zu Katja von Garniers „Bandits“ Ähnliches: 317 Kultur Der Italiener Ennio Morricone lieferte Kompositionen für viele Kinoklassiker – und zürnt den Hit-Mixern von heute. E C. RORARIUS / PHOTO SELECTION de nicht nur der Schauspieine Schande, womit ler Clint Eastwood, sondern Hollywood-Produzenauch Morricone internaten heutzutage ihre tional berühmt. Stilbildend Filme zukleistern und dabei kombinierte der Komponist noch viel Geld verdienen – wehmütige Melodien mit denn: „Ein Lied wird noch Pfiffen, Peitschenknallen lange nicht zu Filmmusik, und Ambossschlägen. weil es in einem Film aufGleichwohl betont Mortaucht.“ Der Römer Ennio ricone, dass Western-SoundMorricone, 71, redet sich in Rage, wenn er über die Komponist Morricone tracks höchstens zehn Prozent seines Gesamtwerks aktuellen Erfolge von flugs zusammengestellten Filmmusik-CDs ausmachen; ihm selbst seien die Arbeiten für Pasolini und Bertolucci, Pospricht. Natürlich hat Morricones Zorn damit lanski und De Palma mindestens ebenzu tun, dass er selbst eine legendäre so wichtig. Aber so wie der Wunderpianist NoFigur aus dem Berufsstand der klassischen Filmkomponisten ist. Der Italie- vecento nie sein sicheres Schiff verner hat in seiner Karriere nach eige- lässt, hat Morricone seine Altbauwohner Auskunft für mehr als 400 Filme nung in Rom nie für einen Palast in Soundtracks maßgeschneidert – und Hollywood eingetauscht: „Es gab mehr muss neuerdings bei Werken wie War- als genug Angebote, tolle Häuser, irres ren Beattys „Bulworth“ sein Terrain Geld, aber warum sollte ich deswegen meiner Heimat den schon mal mit HipHop-Hits teilen. „Irgendein Rap-Song, der auf der Rücken kehren?“ So recht konnte sich der ItaLeinwand aus einem Autoradio dröhnt, taugt vielleicht als Spezialeffekt“, klagt liener mit Hollywood ohnehin Morricone, „aber er verleiht dem Film nie anfreunden. In den Achtzikeinen Charakter wie meine Arbeit.“ gern stellte er eine Zeit lang Der Maestro hält seine Kompositio- die Arbeit für die Amerikaner nen ohne falsche Bescheidenheit für nahezu ein: Zu schlechte Fildie wahren Stars vieler Filme, darunter me, zu wenig Geld, behauptet Klassiker wie Bernardo Bertoluccis er. Und Englisch spricht er so„1900“ und grandiose Spaghetti- wieso nicht. „Ich habe es proWestern von Sergio Leone wie „Spiel biert, aber ich kann mir die mir das Lied vom Tod“. Sein jüngstes Worte einfach nicht merken.“ Besonders bitter: Bis heute Werk, die Musik für Giuseppe Tornatores „Die Legende vom Ozeanpianis- verweigert Hollywood dem ten“ (derzeit in den deutschen Kinos), Italiener den wohlverdienten Kinofilm „Legende vom Ozeanpianisten“ ist eine Produktion ganz nach Morri- Oscar. „Ich wundere mich Ein Auftrag ganz nach Morricones Geschmack auch, aber beklage mich nicht“, cones Geschmack. Die Vorlage zum Film stammt von sagt der Künstler. Noch immer steht er Er selber gründete im Alter von 22 Jahren dem italienischen Bestsellerautor Ales- jeden Morgen um fünf auf und arbeitet seine eigene Plattenfirma und war dank sandro Baricco. Erzählt wird die Ge- bis in den Abend am Schreibtisch – „im seiner Entdeckung, Tom Petty, bereits mit schichte eines Findelkinds, das am ers- Urlaub nur vormittags“. Seine Arbeit, 30 Millionär – und er schwört bis heute ten Tag dieses Jahrhunderts auf einem so sagt er, habe mindestens so viel auf Kino-Klassiker wie den Beatles-Film Passagierdampfer gefunden wird. Der mit Technik wie mit Inspiration zu „A Hard Day’s Night“ und „Die ReifeKnabe, genannt „Novecento“, verfügt tun. Er höre fast immer Melodien, wenn prüfung“, zu dem Simon & Garfunkel die über ein märchenhaftes Talent fürs Pia- er Bilder sehe, fast so wie der OzeanSongs beisteuerten. Musik und Film müssno und eine tiefe Abneigung gegen die pianist. „Wenn mir ein Regisseur einen ten in direktem Bezug stehen, so sein CreIdee, seine Gabe auf dem Festland zu Rohschnitt vorführt, kann ich die Mudo, „wenn die Songs nur Untermalung sik direkt nach dem Abspann zu Pavergeuden. sind, dann ist der Soundtrack Schrott“. Ennio Morricone durfte die Musik pier bringen.“ Mit der Musik zu Stanley Kubricks Doch manche aufregenden Filmkomponieren, um die herum dann der „Eyes Wide Shut“ wird Bramson vermutFilm gedreht wurde. Ähnlich respekt- momente funktionieren auch ohne lich nicht allzu viel Kasse machen: Komvoll ist Morricone auch von seinem begleitende Musik, findet Morricone: ponisten wie Schostakowitsch und Franz Schulfreund Sergio Leone behandelt „Ein guter Kuss benötigt keine MeloLiszt, deren Stücke Kubrick vor seinem worden – mit dessen Italo-Western wur- die.“ Tod selbst für den Film ausgewählt hatte, Christoph Dallach taugen kaum für die Charts. Christoph Dallach, Jörg Böckem 318 d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 CINETEXT „Filmmusik braucht keinen Rap“ Knapp eine Million Kinobesucher wollten den Film sehen, 300000-mal ging das „Bandits“-Album weg. Besonders durchtrieben: Im Film selbst wurde gezeigt, wie die CD der fiktiven Bandits-Band von begeisterten Käufern aus den Regalen gerissen wurde – dreiste Leinwand-Reklame für den eigenen Soundtrack. Bramsons Geschäftsgebaren bei „City of Angels“ erklärt auch, warum auf vielen Soundtrack-CDs Songs erklingen, die im Film allenfalls ein paar Sekunden oder überhaupt nicht zu hören sind. „Inspired by the Movie“ nennen die Verkaufsstrategen diese Produkte. Inzwischen ist ein einziger Kinoerfolg auch schon mal für drei Soundtracks gut, so etwa der Zeichentrick-Hit „Prinz von Ägypten“: Um möglichst alle Zielgruppen einzufangen, gab es eine Gospel-Platte zum Film fürs schwarze Publikum, eine Country-Platte für die Weißen und für Deutsche einen Mix von beiden in ihrer Muttersprache. Für den diesjährigen Disney-Weihnachtsfilm „Tarzan“ hat Phil Collins fünf Songs beigesteuert – und diese gleich in fünf Sprachen aufgenommen. Diese Art von Vermarktung ist dem Puristen Bramson, der oft wochenlang über seinen Vorschlägen für die musikalische Ausstattung eines Films brütet, ein Gräuel. Werbeseite Werbeseite S. FALKE Kultur Brecht-Darsteller Bierbichler bei Dreharbeiten im polnischen Szczecinek: „Macht Ruhm wirklich geil?“ S P I E G E L - G E S P R ÄC H „Auf 50 Kanälen der gleiche Schrott“ Bierbichler, 51, zählt zu den herausragenden deutschen Bühnenschauspielern. Er wurde von der Zeitschrift „Theater heute“ dreimal zum Schauspieler des Jahres gewählt: 1985 für seine Darstellung des „Gust“ im gleichnamigen Stück von Herbert Achternbusch am Münchner Residenztheater, 1996, als er am Burgtheater unter Peter Zadeks Regie im „Kirschgarten“ den Lopachin spielte, und 1997 für seine Rolle als Kasimir in Christoph Marthalers Inszenierung von „Kasimir und Karoline“ am Hamburger Schauspielhaus. Zu Bierbichlers seltenen Filmarbeiten zählen neben einigen Achternbusch-Werken Doris Dörries Film „Mitten ins Herz“ (1983), „Winterschläfer“ von Tom Tykwer (1996) und das mit dem Grimme-Preis in Gold ausgezeichnete Fernsehspiel „Freier Fall“. Gerade hat er einen Film über den letzten Tag im Leben Bertolt Brechts (Regie: Jan Schütte, Drehbuch: Klaus Pohl) abgedreht. SPIEGEL: Herr Bierbichler, was reizt Sie daran, den alten Bertolt Brecht zu spielen? Bierbichler: Der Brecht war erst mal nicht alt, der war 58 an dem Tag, den wir versuchen herzustellen. Und der Brecht ist nur eine Vorlage, das war mir von vornherein Das Gespräch führten die Redakteure Wolfgang Höbel und Claudia Voigt. 320 H. SCHUBERT Der Schauspieler Josef Bierbichler über seine Abneigung gegen das Fernsehen, Glücksmomente im Theater und seine jüngste TV-Arbeit in der Rolle des todkranken Schriftstellers Bertolt Brecht Schriftsteller Brecht in Buckow (1954) Verfallender Körper, faszinierende Aura wichtig. Das Drehbuch ist gut genug, dass man es auch ohne diese Schlüsselnamen machen könnte. Also auch, wenn der Brecht Huber und die Helene Weigel Meier hießen. Die Verflechtung von einem Mann und fünf Frauen ist dem Pohl so gut gelungen, dass es nicht mehr wichtig ist, dass das der Brecht ist.Wenn das Drehbuch nur vom Brecht handeln würde, dann hätte es mich nicht interessiert. Ich will nicht erzählen: So war Brecht am letzten Tag. SPIEGEL: Worum geht es dann? Bierbichler: Um einen Mann mit einem verfallenden Körper und um die Faszination, d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 die er auf Frauen ausübt. Der Körper war ja wahrscheinlich wirklich nicht mehr so aufregend. Aber wahrscheinlich konnte er mit seiner geistigen Konzeption eine Aura erzeugen, die auch junge Frauen wie Isot Kilian und Käthe Reichel faszinierte. Das ist doch interessant, dass die beide auch mit dem alten Körper in Kontakt sind. Die vögeln ja noch miteinander. SPIEGEL: Was machte Brecht so anziehend? Sein Erfolg? Bierbichler: Das müssen jetzt Sie als Frau wissen, da kann ich nur spekulieren. Macht Ruhm wirklich geil? SPIEGEL: Man muss sich ja nur mal umgucken. Beispiele für Beziehungen zwischen alten erfolgreichen Männern und schönen jungen Frauen gibt es genug. Bierbichler: Natürlich denkt man da schnell an das Klischee Ruhm oder Geld. Aber dass möglicherweise geistige Fähigkeiten eine Wirkung haben könnten, vielleicht gerade auf junge Frauen, das ist unsere Geschichte. Die jungen Frauen waren offensichtlich in der Lage, den Erfahrungsvorsprung, den einer wie Brecht hatte, auszubeuten. Die dachten vielleicht, der erzählt mir was, da kann ich einen Lebensraum überspringen, den ich nicht selber durchleben muss. Das ist doch eine Qualität. SPIEGEL: War es im Fall Brecht nicht eher so, dass er die Frauen ausbeutete? Werbeseite Werbeseite B. GASS M. HORN Bierbichler: Das behaupbe, so bewundert, dass ich tet der Amerikaner John ihn ausbeuten wollte. Fuegi in seiner BrechtNach der zehnten VorBiografie. Eine sehr gestellung hat mir der Fotonaue Untersuchung, aber graf des Theaters eine FoFuegi benutzt das Matetoserie geschenkt – und rial für eine eindeutige da war ein Bild drin, auf Tendenz. Das Buch ist ja dem ich ausgesehen habe wie eine Fortsetzung des wie mein Vater auf dem Kalten Krieges – der Sterbebett. In dem MoBrecht als Stellvertreter ment habe ich gewusst, eines Systems. Der Komich habe die ganze Zeit munist Brecht beutet die meinen Vater gespielt, Frauen aus. Das ist einwar aber in dem Glaufach blöd. Die Frauen ben, ich hätte den Huber waren freiwillig bei ihm, Szene aus „Kasimir und Karoline“* Schorsch gespielt. Ein undie hatten genügend Pobewusster Vorgang. Ich tenzial, um unabhängig von Brecht zu führe nichts vor. Es passiert mir, wenn der überleben. Mit Geld hatte das nichts zu Text stimmt. tun.Wenn es eine Unterlegenheit gab, dann SPIEGEL: Woran erkennen Sie das? eine emotionale. Kennen Sie Brechts kür- Bierbichler: Ein Text funktioniert, wenn er zestes Gedicht? „Schwächen. Du hattest mit mir etwas macht und nicht umgekehrt, keine / Ich hatte eine: / Ich liebte.“ Ist doch wenn alles nach und nach von selber paswunderbar. Steht alles drinnen. Da geht es siert und ich keine Einfälle haben muss. nicht um Geld. Ich habe keine Einfälle. Die Leute, die nach SPIEGEL: Von einer künstlerischen oder Einfällen und Ideen suchen, bei denen wird menschlichen Ausbeutung der Frauen kann es Einfaltstheater. Ich will nichts zeigen. also Ihrer Meinung nach keine Rede sein? Und mich interessiert überhaupt nicht die Bierbichler: Natürlich leidet immer einer. Frage: Kommt es an, oder kommt es nicht Aber es kann genauso gut umgekehrt gehen. Frauen, die mir wichtig waren, haben „Warum stellen alle ihr Können mich immer verlassen. Ich habe jedes Mal in den Dienst dieses zwei Jahre lang gelitten wie eine Sau. Also schwachsinnigen Fernsehens?“ bin auch ich immer nur von Frauen ausgebeutet und zerstört worden. Aber nach der Zerstörung war ich jedes Mal stärker. Ich an? Das kalkulierte Unternehmen interessiert mich nicht. Deshalb mache ich auch habe keinen Verlust gehabt. SPIEGEL: Suchen Sie sich auch Ihre Rollen fast nichts im Fernsehen. unter dem Aspekt aus, ob Sie persönlich SPIEGEL: Weil das Fernsehen immerzu dardaraus Gewinn ziehen können? auf angewiesen ist, dass es ankommt? Bierbichler: Ich kann nur mich spielen, mit Bierbichler: Die vom Fernsehen wissen alle, dem jeweiligen Material, das ich zur Ver- wie es geht, das sind alles begabte Leute. fügung habe. Im günstigen Fall führt mich Ich frage mich nur schon lange, warum das in Bereiche hinein, die ich noch nicht nicht alle begabten Leute, die derzeit fürs kenne und damit an mir kennen lerne. Ich Fernsehen arbeiten, sich einfach verweiwürde nie etwas spielen, wofür ich keinen gern. Den Brecht-Film haben wir in Polen Erfahrungshintergrund habe. Wenn ich das gedreht, und die Leute von unserem poltrotzdem schon mal getan habe, dann war nischen Team haben mir erzählt, dass nach es sicher schlecht. Sich zu verstellen, finde der Verhängung des Kriegsrechts durch ich uninteressant. Das interessiert mich Jaruzelski einfach alle guten Leute, ob auch nicht, wenn ich zuSchauspieler oder Techschaue bei anderen. Ich niker, nicht mehr zur Arbin ich. beit gekommen sind: Da war das Fernsehen lahm SPIEGEL: Ist das Ihre gelegt. Insofern wäre es persönliche Schauspielauch hier ein politischer Theorie? Vorgang, wenn sich die Bierbichler: Das mache Mitmacher der Verdumich jetzt gerade zu meimungsfabrik Fernsehen ner Theorie. Als ich mit eines Tages plötzlich Achternbusch „Gust“ geweigern würden, weiter machte habe, das ist ein Volksverblödung zu beMonolog von einem altreiben. ten Mann, da habe ich SPIEGEL: Inwiefern bedie ganze Zeit einen ganz treibt das Fernsehen Ihbestimmten Typen aus rer Meinung nach Volksmeinem Dorf vor mir geverblödung? habt. Einen Typen, den ich auf Grund seiner Originalität bewundert ha- Bierbichler (r.), Achternbusch (1977) * Mit Bierbichler, Olivia Grigolli. 322 d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Kultur Bierbichler: Das, was Unterhaltung genannt wird, verliert allmählich, aber unaufhaltsam jede Qualität und bringt so das geistige Niveau des Publikums in einen Zustand völliger Vernebelung. Die geistige Freiheit besteht heute darin, dass ich 50 Kanäle zur Verfügung habe, zwischen denen ich zappen kann, und alle zeigen das Gleiche. Und da frage ich mich: Warum machen alle das mit? Warum stellen sie ihr Können in den Dienst dieses Schwachsinns? Was wäre, wenn die wirklich guten Schauspieler und Regisseure sich verweigern? Es wäre doch interessant, ob das Fernsehen dann zusammenbricht, ob das Niveau so sichtbar grässlich werden würde, dass sogar der letzte Zuschauer ka- piert, dass da nur noch Schrott produziert wird. SPIEGEL: Geben die Fernsehmacher ihrem Publikum nicht genau das, was es will? Bierbichler: Den Zuschauern wird ja gar nichts anderes mehr angeboten. Und das geht nur, weil alle mitmachen. Für mich ist das Korruption. SPIEGEL: Wer korrumpiert wen? Bierbichler: Jeder jeden und alle sich selbst. Wenn ich beim Theater 10 000 Mark im Monat verdiene, verdiene ich mehr als jeder Facharbeiter. Und dann rennt man zu Dreharbeiten, wo man pro Drehtag mindestens 4000 oder 5000 Mark kriegt – am Tag! Man sackt das ein, beklagt sich aber über schlechte Drehbücher – das ist doch Letzter Tag in Buckow In Jan Schüttes Brecht-Film spielt Josef Bierbichler den Dichter am Vorabend seines Todes. 324 d e r S. FALKE D ie Reiseschreibmaschine, ein Original aus den Fünfzigern, thront auf einem dunklen Holztisch, daneben ein Bleistift, ein Aschenbecher und Zigarren. Vom Arbeitsplatz schweift der Blick über einen ruhigen, spätsommerlichen See. Alles ist wie in Buckow, wo Bertolt Brecht 1952 ein Landhaus pachtete. Nur ist das hier nicht Buckow, sondern Szczecinek in Polen. Fast sechs Wochen lang haben der Regisseur Jan Schütte und sein Team hier einen Film unter dem Arbeitstitel „Brecht“ gedreht, ein Werk über den letzten Tag im Leben des Dichters. Alles, was im Drehbuch steht, sei so passiert, erzählt der Autor Klaus Pohl, nur nicht an einem Tag und nicht an einem Ort: „Ich habe, genau wie Brecht, alles Material verwendet, das da war, und es auf zwölf Stunden verdichtet.“ Die Story des Films beginnt mit einem anonymen Anrufer am frühen Morgen und endet mit Nasenbluten am Abend. Dazwischen liegen heimliche Begegnungen mit seinen Geliebten und kleine Fluchten vor seinen Ex-Geliebten: Käthe Reichel und Isot Kilian, Helene Weigel, Elisabeth Hauptmann und Ruth Berlau erschweren und versüßen ihm diesen fiktiven Spätsommertag am See. „Die Frauen waren seine einzige Verbindung zur Welt“, glaubt Pohl, „denn Brecht war scheu und zuletzt auch sehr isoliert.“ Drei Jahre hat es gedauert, bis Pohl und Schütte ihr Projekt realisieren konnten: Ursprünglich sollte es ein mehrtei- s p i e g e l Dreharbeiten zum Brecht-Film in Polen „Ich kann nur mich spielen“ liger Fernsehfilm werden über sehr unterschiedliche Phasen in Brechts Leben – seine erfolgreichen Jahre in Berlin, die Zeit im Exil und seine Rückkehr nach Deutschland, in die DDR. Doch dann nahmen Geldgeber Zusagen zurück, „und schließlich“, berichtet Schütte, „habe ich das Geld 20 000-Mark-weise selber eingesammelt“. Realisiert wird auf einem stillgelegten Campingplatz bei Szczecinek nun nur der dritte Teil des ursprünglich geplanten Projekts. Unten am See sind Kopien der Buckower Villa und des Gärtnerhauses aufgebaut, und es gibt wie dort auch eine Silberpappel – die ist allerdings ein Geschenk der Natur. Das ehemalige „Bufet“ am oberen Ende des Zeltplatzes heißt während der Dreharbeiten „Jan’s Dreigroschenbar“ und verfügt nicht bloß über eine große, sonnige Terrasse, son- 4 3 / 1 9 9 9 Korruption. Wenn ein Kollege sagt: „Ich bin eine Nutte, ich mache alles, was Geld bringt“, dagegen habe ich nichts. Aber wenn man den Laden bedient und sich quasi nur zwischen getrockneter und gequirlter Scheiße entscheidet und abends dann im Theater Georg Büchner und Heiner Müller mit genau der gleichen Haltung spielt – was ist das? SPIEGEL: Sie vertreten die elitäre Haltung, nur im Theater biete man echte Kunst? Bierbichler: Ich rede hier doch gar nicht von Kunst, ich habe Unterhaltung gesagt. Unterhaltung kann durchaus bilden und sensibilisieren. Ich habe gar nichts gegen Unterhaltung, obwohl ich mich allein unterhalten kann. Wie jedoch das Niveau des dern auch über einen biergefüllten Kühlschrank. „Brecht geht’s schlecht“, ruft die Schauspielerin Elfriede Irrall als Elisabeth Hauptmann und rennt die Stufen der Villa herab; „Brecht geht’s schlecht“, ruft sie noch mal und noch mal – die bei Filmdreharbeiten üblichen Wiederholungsrituale. Laut Drehbuch ist der Dichter dem Tod schon verdammt nah; die Stimmung am Set aber ist bestens. Drehbuchautor Pohl sitzt mit dem Brecht-Darsteller Josef Bierbichler vor der Dreigroschenbar in der Sonne und fuchtelt mit einer Ausgabe des Magazins „Konkret“ herum, während beide über Tagespolitik diskutieren. Bierbichler ist für Regisseur Schütte die Idealbesetzung für die Rolle des Dichters – sogar die Züge des am Ende seines Lebens dicklichen, herzkranken Brechts seien denen Bierbichlers doch durchaus ähnlich. Wenn Bierbichler in sackigen Tweedhosen und blauer Joppe vor der Kamera sitzt, an einer Zigarre zieht und gedankenverloren auf den See starrt, macht seine Präsenz ohnehin alle Vergleiche überflüssig. Der Brecht-Darsteller verkörpert jene Lebensmüdigkeit, die der Dichter so beschrieb: „Erst liess Freude mich nicht schlafen / Dann hielt Kummer nachts die Wacht / Als mich beide nicht mehr trafen / Schlief ich. Aber ach, es bracht / Jeder Maienmorgen mir Novembernacht.“ Der reale Brecht starb am 14. August 1956 eine Viertelstunde vor Mitternacht in seiner Wohnung in der Ost-Berliner Chausseestraße 125. Nicht um historische Genauigkeit gehe es ihm und seinen Mitstreitern, sagt Schütte, sondern um die Beschwörung eines Abschieds: „Man muss diesen Film verstehen können, ohne zu wissen, wer Brecht war: als die Geschichte eines berühmten Mannes in einer ausweglosen Situation.“ Claudia Voigt d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Kultur Fernsehens im Laufe der Zeit auf das Publikum gewirkt hat, kann man in Verbindung mit dem Kosovo-Krieg sehen. Es gab eigentlich keinen Widerstand aus der Bevölkerung. Der Walser hat mit seiner verdächtigen Friedenspreisrede über das Erinnern im Nachhinein auf unglaubliche Weise Recht gekriegt: Hier wurde Auschwitz instrumentalisiert. Der Außenminister Fischer erklärt den Kosovo zu Auschwitz, und die Gesellschaft frisst das einfach! SPIEGEL: Woher wollen Sie beurteilen können, wie groß das Ausmaß des Schreckens im Kosovo-Krieg wirklich war? Bierbichler: Ich habe das nie beurteilt. Ich habe mich immer gefragt, woher die anderen das wissen. Ich habe die Bilder von Vertreibung erst gesehen, als die Bomben fielen. Bilder von Flüchtlingskarawanen gab es vorher nicht. Milo∆eviƒ interessiert mich nicht, wer immer das ist. Mich interessieren die Interessen, die hinter diesem Krieg standen. Auch ich wusste und weiß bis heute annähernd nichts über das, was passiert ist. Aber wo liegt der Sinn, dass 70 Tage lang eine Kampfmaschinerie ein unglaubliches Zerstörungswerk anrichten durfte. Insofern fand ich es richtig, dass Handke darüber nachdachte: Kann es stimmen, dass es in einem Bürgerkrieg nur eine schuldige Seite gibt, wie die gesamte Weltpresse das suggerieren musste? SPIEGEL: Und deshalb haben Sie auch in einem Brief an Claus Peymann, der später in der „Zeit“ abgedruckt wurde, für Handke Partei ergriffen? Bierbichler: Ja, weil Handke sofort maßlos attackiert wurde. Dabei stellte er zunächst nur eine Frage: Kann das stimmen? Mehr hat er am Anfang nicht getan. Ein Dichter ist nicht nach wahr und unwahr zu beurteilen, ein Politiker dagegen muss danach beurteilt werden und ein Journalist auch. Für die Kunst gibt es die eine Wahrheit eh nicht, da mache ich mir nichts vor. Es gibt den Versuch der Annäherung an die Wahr- „Ich habe Grundstücke geerbt, aber es reicht mir nicht aus, die Quadratmeter anzuschauen“ heit. Und ich versuche, mich der Möglichkeit von Wahrheit anzunähern. SPIEGEL: Können Sie sich diese Wahrheitssuche als Schauspieler auch deshalb leisten, weil Sie sich durch den Grundbesitz am Starnberger See, den Ihre Eltern Ihnen vermacht haben, völlig abgesichert fühlen? Bierbichler: Natürlich habe ich Grundstücke geerbt, aber wenn ich mit denen nicht spekuliere, und das mache ich nicht, dann habe ich davon nichts. Bevor ich verhungere, würde ich ein paar Quadratmeter verkaufen, und das kann ein anderer nicht. Insofern ist es eine Sicherheit und ein Privileg. Aber das allein reicht mir nicht aus, sonst würde ich zu Hause sitzen und die d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Quadratmeter anschauen. Wenn ich als Schauspieler nicht erfolgreich gewesen wäre, wäre ich wahrscheinlich nicht verhungert, aber vielleicht wäre ich Alkoholiker geworden. SPIEGEL: Hat Ihnen Ihre Freundschaft mit Herbert Achternbusch, mit dem Sie schon früh Filme wie „Servus Bayern“ drehten, über künstlerische und existenzielle Krisen hinweggeholfen? Bierbichler: Wenn überhaupt, wurden durch Achternbusch unaufhörlich Krisen erzeugt. Ich bin immer Autodidakt gewesen, trotzdem habe ich vermutlich von allen gelernt, „Ein wirklich aufregender Mensch ist immer auch ein Vollidiot, ein echtes Arschloch“ also Erfahrungen gemacht. Der Achternbusch war immer ein wichtiger Eckpfeiler für mich. Gleichzeitig behaupte ich, der hat von mir auch enorm viel gelernt. Dann hebt es sich wieder auf. SPIEGEL: Waren Sie mit Achternbusch nicht auch einmal über Jahre zerstritten? Bierbichler: Je extremer ein Mensch veranlagt ist, je mehr Gefühle er zulässt, desto unerträglicher wird er. Das ist mit dem Achternbusch nicht anders als mit Brecht. Ein wirklich aufregender Mensch ist immer auch ein Vollidiot, ein echtes Arschloch. Gleichzeitig kann er unglaublich anziehend und liebenswert wirken. SPIEGEL: Leben Sie selber solche Extreme in der Arbeit aus? Bierbichler: Ich habe gar keine Lust, es als Arbeit zu bezeichnen. Die Schauspielerei ist ein Privileg. Arbeit ist in diesem Jahrhundert immer idealisiert worden, erst durch den Sozialismus, dann bis zur baldigen Abschaffung durch den Kapitalismus. Im Grunde meint der Begriff ja nur, dass man überhaupt eine Arbeitsstelle hat, und das hat nichts mit geistigem und selten mit materiellem Gewinn zu tun. SPIEGEL: Was bedeutet die Schauspielerei dann für Sie? Bierbichler: Es gibt diese Glücksmomente. Manche glauben ja, das Glück sei ein Zustand, weil die Konsumgesellschaft ihnen das vorgaukelt. Aber das Glück ist ein Moment, der aufblitzt und gleich wieder weg ist. Selbst beim Vögeln ist dieser Moment immer nur ganz kurz und immer egoistisch. Der Egoismus erzeugt die Glücksmomente. Wenn man sich dagegen einander zuwendet und sich Liebe vorspielt, dann macht man Political Correctness, dann ist es langweilig. Das ist im Theater ganz ähnlich: Glücksmomente gibt es, wenn ich merke, jetzt spielt es von selbst. Dann stimmt plötzlich alles. Aber wenn das dann zusammenfällt und man stellt die Figur wieder her, dann ist das Glück vorbei. SPIEGEL: Herr Bierbichler, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Kultur L I T E R AT U R Die argentinische Schriftstellerin Sylvia Iparraguirre und ihr poetischer Roman „Land der Feuer“ / Von Matthias Matussek ago nie n Pa mp a ten, die dieses unermessliche Land in den letzten hundert Jahren besiedelt haben. Und sie hat ihre Geschichten an die Enke- Autorin Iparraguirre lin weitergegeben, die immer getränkt wa- Analytischer Blick und Lust am Abenteuer ren von „der Liebe zum Land und dem besonderen Respekt vor seinen ersten te von Jemmy Button, einem Yámana-IndiBewohnern“. aner, der 1830 von Kapitän FitzRoy vor der Diese Kinderbezauberung durch die Küste Feuerlands aufgenommen wird – drei Abenteuer der Großmutter, die zu den Knöpfe bezahlt FitzRoy für den Jungen, ersten Siedlerinnen Patagoniens gehörte, zwei weitere Männer und das Mädchen La hat sich Sylvia Iparraguirre bewahrt. Nun Fuegia. FitzRoy, der einen Seeweg zwischen ist sie Literatur geworden – in ihrem neu- Atlantik und Pazifik erkundet, nimmt die en, mehrfach preisgekrön„Wilden“ mit zurück nach 400 km BOLIVIEN ten Roman „Land der FeuLondon, um ihnen die Seger“, einer sprachgewaltinungen der Zivilisation anPARAGUAY CHILE gen Meditation über Zivigedeihen zu lassen. Salta lisation und Wildnis, und Ein Experiment, ganz über die Wurzeln der Naim liberal-aufklärerischen ARGENTINIEN tion, der sie eine „erTrend der Zeit: Der Kapitän schreckende Geschichtslowill beweisen, dass der UmURUGUAY gang mit Kunst und Bildung, sigkeit“ attestiert*. Mendoza Ein Krimi vom Ende der mit Londoner Kneipiers Buenos Aires Welt, den endlosen eisigen und Hutmachern jeden edKüstenstreifen, an denen len Wilden in einen engliFeuer entfacht wurden, um schen Gentleman verwanden Schiffen den Weg durch deln kann. Die Umwelt San Carlos de Bariloche die Nacht zu zeigen: Iparraformt den Menschen – Atlantischer guirre erzählt die Geschichselbst der Königin werden Ozean die Indios aus dem fernen * Sylvia Iparraguirre: „Land der Feuerland vorgestellt. Feuer“. Aus dem Spanischen von Falkland-Inseln Als die Lehrjahre in den Enno Petermann. Alexander Fest (britisch) Straßen und den Teesalons Verlag, Berlin; 260 Seiten; 38 Mark. Pat U nauffällig lehnt das Gewehr an der Wand, zwischen all den Kunstobjekten dieser kultivierten Schriftstellerwohnung im Herzen von Buenos Aires, wie merkwürdiges Treibgut aus den Stürmen der Zeit. Kein verziertes Schaustück, sondern ein simpler Gebrauchsgegenstand: brauner, fleckiger Schaft, dunkler Lauf, eine Winchester .22. Die Schriftstellerin und Journalistin Sylvia Iparraguirre, klein und energisch und mädchenhaft, mag die Waffe nicht in die Hand nehmen, nicht für ein Foto, nicht zur Show. Sie hat Respekt vor dem Ding. Es gehörte ihrer Großmutter, die vor knapp 90 Jahren auf diesem vorgeschobenen Gehöft in der Pampa in die Nächte lauschte, auf Geräusche, die Gefahr bedeuten könnten. „Sie ist gut klargekommen mit den Indios“, sagt Sylvia Iparraguirre, „aber natürlich war sie auf der Hut.“ Da gab es erste Begegnungen zwischen Missionaren und Eingeborenen, und für eine Massenhochzeit auf ihrem Gehöft hatte die Großmutter Ringe organisiert. „Den Sinn der kirchlichen Trauung haben die Indios nicht so ganz begriffen, aber sie wussten, dass es eine dieser zivilisatorischen Spielregeln war, und dass es ihnen nützte, wenn sie da mitzogen.“ Iparraguirres Großmutter war ein Einwandererkind aus Spanien, wie die meis- Feuerland Ushuaia GEBHARD / LAIF Kap Hoorn Reiter in der kargen Wildnis Feuerlands: Sehnsucht nach dem vorzivilisatorischen Zustand 328 d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 LITERARISCHE AGENTUR Krimi vom Ende der Welt Werbeseite Werbeseite Kultur der feinen Gesellschaft vorüber sind, als Jemmy Button gelernt hat, wie man Zylinder und Handschuhe trägt, nimmt ihn der Kapitän auf eine weitere Passage nach Feuerland, bringt ihn dorthin zurück, wo er ihn aufgenommen hat. Die Yámanas tragen nun Tuch. Sie haben Geschirr bei sich, Töpfe, Möbel. Doch kaum ausgesetzt an ihrer Küste, wird klar, wie fremd ihnen die englische Sozialisation geblieben ist: Buttons Stamm zerlegt den Zivilisationskrempel der Rückkehrer im Nu, Button verschwindet halbnackt mit ihnen aus dem Gesichtsfeld des Kapitäns. Einige Jahre später werden Angehörige einer Missionsgesellschaft von Indios massakriert; Jemmy Button soll Anführer dieses Blutbads gewesen sein. Er stellt sich freiwillig einem bewaffneten Expeditionskorps, tritt vor die Schranken des Gerichts. Und hier nun wird mehr verhandelt als ein Mord – hier geht es um einen Showdown der Kulturen, um Wildnis und Zivilisation, um Invasion und Gegenwehr, um Menschenrechte. Was Iparraguirres Roman so lesenswert macht, sind die Schnitte und überaus kunstvollen Überblendungen von Poesie und Dokument, von Fiktion und Wirklichkeit. Nahezu wörtlich etwa übernimmt sie die Einlassungen von Anklage und Verteidigung. Jahrelang hat sie in den Archiven geforscht, hat die alten Gerichtsprotokolle ausgewertet und die Ausgaben der „London Times“, die über den Fall berichtete. „Hier“, sagt sie und öffnet einen großen weißen Karton, der Fotokopien alter Dokumente und Briefe enthält, „die ganze Geschichte ist belegbar, alles ist archiviert.“ Daneben aber sind es die Reflexionen und Volten der Erzähler-Figur, ihre Empörungen und Schwärmereien, die dem Buch eine seltene Überzeugungskraft mitgeben. Der Erzähler ist Jack Mallory Guevara, Sohn eines britischen Offiziers und einer einfachen Frau aus dem Landesinneren, der Button auf FitzRoys Schiff kennen lernt und nun, in einer langen Epistel an einen fernen Administrator in London, von Buttons Schicksal berichtet. „Dieser Mallory ist ein Bastard“, sagt Iparraguirre, „so wie wir alle Bastarde sind.“ Ihm hat sie eine melancholische, verstehende Zwischenstimme mitgegeben. Buttons „Zivilisierung“ in London begleitet Mallory mit mildem Spott und jenem Erstaunen, das nicht dem „Wilden“, sondern den Verrücktheiten der Londoner Kultur gilt. Er ist fatalistisch, wenn es um die Begleitumstände des Massakers geht. Und er schwingt sich auf zu hymnischen Liebeserklärungen, wenn er die herben Schönheiten Feuerlands beschwört, seine eisige Stille, seine erhabene Pracht. Mit ihrem Roman hat Iparraguirre die Kritik in Argentinien auch deshalb begeistert, weil sie für die seriöse Literatur des Landes das Abenteuer-Sujet zurückerobert hat. Diese wird nach wie vor vom ma330 d e r jestätischen, kühlen Fixstern Jorge Luis Borges überstrahlt, dessen 100. Geburtstag gerade mit Festivals und Seminaren gefeiert wird. Daneben sind es Autoren wie Julio Cortázar, deren zerebrale experimentelle Erzählweise die argentinische Literatur zur europäischsten auf dem latein- s p i e g e l Bestseller Belletristik 1 (1) Isabel Allende Fortunas Tochter Suhrkamp; 49,80 Mark 2 (5) Günter Grass Mein Jahrhundert Steidl; 48 Mark 3 (2) Elizabeth George Undank ist der Väter Lohn Blanvalet; 49,90 Mark 4 (3) Donna Leon Nobiltà Diogenes; 39,90 Mark 5 (7) Noah Gordon Der Medicus von Saragossa Blessing; 48 Mark 6 (4) John Irving Witwe für ein Jahr Diogenes; 49,90 Mark 7 (6) Henning Mankell Die falsche Fährte Zsolnay; 45 Mark 8 (10) Marianne Fredriksson Maria Magdalena W. Krüger; 39,80 Mark 9 (8) Henning Mankell Die fünfte Frau Zsolnay; 39,80 Mark 10 (9) Nicholas Sparks Zeit im Wind Heyne; 32 Mark Liebe kann wehtun: erste Erfahrungen eines gegensätzlichen Teenagerpärchens 11 (–) Ken Follett Die Kinder von Eden Lübbe; 46 Mark 12 (14) Siegfried Lenz Arnes Nachlass Hoffmann und Campe; 29,90 Mark 13 (11) Johannes Mario Simmel Liebe ist die letzte Brücke Droemer; 44,90 Mark 14 (12) Martha Grimes Die Frau im Pelzmantel Goldmann; 44 Mark 15 (–) John Grisham Der Verrat Hoffmann und Campe; 44,90 Mark 4 3 / 1 9 9 9 amerikanischen Kontinent gemacht haben. Doch darunter griff das Massenpublikum seit je ungeniert zu Historienschinken und Liebesromanen. Wie überall. Sylvia Iparraguirre, einer Schülerin von Borges, ist es gelungen, beides zu vereinen: Den analytischen Blick und die Lust Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin „Buchreport“ Sachbücher 1 (1) Marcel Reich-Ranicki Mein Leben DVA; 49,80 Mark 2 (2) Sigrid Damm Christiane und Goethe Insel; 49,80 Mark 3 (3) Waris Dirie Wüstenblume Schneekluth; 39,80 Mark 4 (4) Corinne Hofmann Die weiße Massai A1; 39,80 Mark 5 (5) Dale Carnegie Sorge dich nicht, lebe! Scherz; 46 Mark 6 (6) Tahar Ben Jelloun Papa, was ist ein Fremder? Rowohlt Berlin; 29,80 Mark 7 (8) Bodo Schäfer Der Weg zur finanziellen Freiheit Campus; 39,80 Mark 8 (7) Ruth Picardie Es wird mir fehlen, das Leben Wunderlich; 29,80 Mark 9 (11) Ulrich Wickert Vom Glück, Franzose zu sein Hoffmann und Campe; 36 Mark Geschichten über Humor, Diskretion und Arroganz eines lebensfrohen Nachbarlandes 10 (9) Klaus Bednarz Ballade vom Baikalsee Europa; 39,80 Mark 11 (10) Daniel Goeudevert Mit Träumen beginnt die Realität Rowohlt Berlin; 39,80 Mark 12 (14) Jon Krakauer In eisige Höhen Malik; 39,80 Mark 13 (15) Peter Kelder Die Fünf „Tibeter“ Integral; 22 Mark 14 (13) Günter Ogger Macher im Machtrausch Droemer; 39,90 Mark 15 (12) Guido Knopp Kanzler – Die Mächtigen der Republik C. Bertelsmann; 46,90 Mark d e r am Abenteuerroman, den hohen poetischen Ton und die erdnahe Leidenschaft. Ihr Jemmy Button ist keiner jener edlen nackten Wilden, der Salondamen in Verzückung treiben würde. Seine Botschaft ist unbequem. Sie rührt an Themen wie Kolonisierung, Vertreibung und Rache, denen die argentinische Gesellschaft in der Regel ausgewichen ist. Durch Iparraguirres Roman ist die Indio-Frage zum ersten Mal nachhaltig auf die Tagesordnung gekommen. Von den Yámanas leben heute gerade noch zwei Frauen. Um sie kümmern sich plötzlich die großen Redaktionen des Landes. Einem anderen Stamm Patagoniens, den Onas, wurde kürzlich von Staatspräsident Menem ein großes Gebiet an der Küste zurückgegeben. Eine neue Front ist da aufgemacht worden im intellektuellen Diskurs: Früher war es der Kampf gegen die Junta, in dem auch Iparraguirre und ihr Mann engagiert waren – Abelardo Castillo war, wie viele andere, dafür ins Gefängnis gegangen. Heute sind diese Schlachten geschlagen, heute hat die bürgerliche Demokratie gesiegt, wenngleich auch „die Suche nach einer Alternative zum Kapitalismus weitergeht“. Doch auch die Linke hat sich über das Schicksal der Ureinwohner selten den Kopf zerbrochen. Mit „Land der Feuer“ rückt die Frage nach der nationalen Identität über den Umweg der Siedlungsgeschichte ins Zentrum. „Die Hybris ist grundlegender Bestandteil unserer Nation.“ Als Journalistin und als Sprachwissenschaftlerin hat sich Iparraguirre schon seit Jahren für die Rechte der Indígenas eingesetzt. Mit Hilfe zweier Soziolinguisten hat sie neue Methoden entwickelt, mit deren Hilfe die Ureinwohner nach ihrer Façon Lesen und Schreiben lernen können. „Was sollen die barfüßigen Kinder an der bolivianischen Grenze damit anfangen, wenn ein Schulbuch einen Papa zeigt, der morgens zur Bank geht?“ Sie kämpft, sie streitet, sie fliegt von Kongress zu Kongress. Dass ihr Buch Publikum und Kritik gleichermaßen berührt, freut sie. Vor allem, weil sie darin mehr wahrnehmen als nur eine verschlüsselte Anklage gegen die weißen Kolonisatoren des Kontinents. Sondern erkennen: Es ist immer wieder auch ein Lied über die Schönheiten Feuerlands. Es ist der Sprung aus der Zeit, die Sehnsucht nach dem vorzivilisatorischen Zustand, die hier beschrieben wird. Von Zeit zu Zeit kehrt auch Sylvia Iparraguirre dem Stadt-Moloch den Rücken und fährt dort hinunter, an die Spitze Patagoniens, an den Rand der Antarktis. Und dann steht sie da und schaut den Eisriesen zu, die durch die Stille treiben, Gletscher groß wie Buenos Aires. „Dieses Blau, diese Ruhe“, sagt sie, „es ist einfach unglaublich.“ ™ s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 331 Kultur KINO „Ich will nicht lächerlich aussehen“ Der US-Komiker Steve Martin über Selbstzweifel, Walter Matthaus Geheimnis und seine neue Hollywood-Satire „Bowfingers große Nummer“ sagt immer: Das Einzige, was zwischen Bowfinger und dem Erfolg steht, ist dessen Unfähigkeit. SPIEGEL: Was gefällt Ihnen an diesem Spinner, der inbrünstig davon träumt, hochgradig dämliche Filme zu drehen? Martin: Ein Stück weit identifiziere ich mich mit ihm, weil ich auch schon in einer solchen Lage war. Dieser Augenblick, in dem man seinen Enthusiasmus spürt, alles auf eine Karte setzt und gerade kurz vor dem Durchbruch steht, ist vermutlich der prickelndste in einer ganzen Showbusiness-Karriere. SPIEGEL: Bowfinger ist kein junges Talent, das gerade durchstartet, sondern ein alternder Loser. Martin: Ich frage mich oft, was mit Leuten geschieht, die nur einen einzigen Erfolg in ihrer Laufbahn haben. Die verschwinden einfach von der Bildfläche – aber wohin? Was machen sie anschließend? So ein Typ ist Bowfinger. Ich stelle mir vor, dass er irgendwann mal einen kleineren Erfolg hatte und dachte, jetzt geht es weiter aufwärts, aber stattdessen vergingen die Jahre, ohne dass etwas passierte. Und plötzlich war er 49. SPIEGEL: Ist er eine Art Spiegelbild Ihrer selbst – derjenige, der Sie geworden wären, hätten Sie den Durchbruch nicht geschafft? Martin: Ja. Als ich 30 wurde, war meine größte Furcht, dass ich den Rest meines Lebens als Kabarettist zubringen würde. Ich wollte nicht endlos von Nachtclub zu Nachtclub tingeln. SPIEGEL: Dabei waren Sie in den siebziger Jahren ausgesprochen erfolgreich. Mit Ihrem Kabarettprogramm konnten Sie riesige Stadien füllen. Haben Sie daran gezweifelt, dass sich dieser Erfolg beim Film wiederholen würde? Martin: Lange. Mein erster Spielfilm, „The Jerk“ von 1979, war UIP SPIEGEL: Mr. Martin, Ihr Held Bowfinger ist ein erfolgloser Produzent, der die Idee hat, den größten Action-Star der Welt zum Hauptdarsteller eines Films zu machen.Weil der kein Interesse zeigt, jagt Bowfinger diesem Star, dargestellt von Eddie Murphy, in Restaurants, Geschäften und Tiefgaragen sein Team auf den Hals. So wird Murphy zum Hauptdarsteller, ohne überhaupt zu ahnen, dass er in einem Film mitspielt – und noch dazu in einem hundsmiserablen … Martin: … ja, mein Produzent ALPHA Martin, 54, gilt als Intellektueller unter den US-KlamaukStars. Neben seiner Arbeit als Schauspieler, Produzent und Drehbuchautor („L.. A. Story“, „Roxanne“) schrieb er ein Theaterstück und verfasst brillante Nonsens-Essays für den „New Yorker“. Auch zu seinem in dieser Woche anlaufenden Film „Bowfingers große Nummer“, dessen Titelrolle er spielt, lieferte Martin das Drehbuch. Martin Szene aus „Bowfinger“*: „Alles Geschmackssache“ 332 * Mit Steve Martin und Eddie Murphy. d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 zwar ein gigantischer Erfolg, aber danach war es einige Jahre ziemlich hart. Doch diese Selbstzweifel gehören dazu. Sie treiben einen an. Die Alternative ist eine übersteigerte Selbstsicherheit, und mir ist immer wohler, wenn ich mir verdient habe, was ich erreiche. SPIEGEL: Heute müssen sich Ihre Komödien am Markt behaupten gegen die Vulgarität und Krassheit von neuen, jüngeren Komikern wie etwa den Farrelly-Brüdern, die „Verrückt nach Mary“ gedreht haben. Stört Sie dieser neue Komödienstil? Martin: Ich habe kein Problem damit. Es ist alles eine Geschmacksfrage – und weil ich heute 54 bin und nicht mehr 20, hat sich auch mein Geschmack verändert. Aber ich sehe diese Art von Witzen nicht kritisch. Die Farrellys sind sehr komisch, und ich wünsche mir, dass ich mal einen Riesenhit wie „Verrückt nach Mary“ hätte. SPIEGEL: Fürchten Sie nicht den Verfall der humoristischen Kultur? Martin: Ich will nicht wie ein alter Komiker dastehen, der jetzt den Nachwuchs fertig macht. Als ich anfing, bin ich heftig kritisiert worden – jemand sagte, ich sei das Schlimmste, was dem amerikanischen Humor je widerfahren sei. Und dieses Spielchen will ich nicht wiederholen. SPIEGEL: Wird es mit zunehmendem Alter schwieriger, sich auf der Leinwand lächerlich zu machen? Martin: Ja, jedenfalls für mich. Ich sehe mit großer Bewunderung, wie albern Walter Matthau sich bis heute geben kann. Manchmal denke ich darüber nach, was wohl sein Geheimnis ist. Aber ich glaube, dass es eine Art von Angemessenheit geben muss: Was ich tue, muss dazu passen, wer ich bin. Ich habe ein gewisses Empfinden für Würde, und wenn ich glaube, dass etwas allzu lächerlich wirken wird, mache ich es nicht. Ich will nicht lächerlich aussehen. SPIEGEL: In „Bowfinger“ hopsen Sie am Ende in einer Ninjafilm-Parodie über die Leinwand – hat das Ihre Würde nicht gekränkt? Martin: Nein, das hat mir gefallen. Schließlich hatte ich es mir ausgedacht. SPIEGEL: Ursprünglich sollte der Film mit einer großen Party mit vielen HollywoodStars enden, die der Gastgeber schließlich allesamt in die Luft jagt. Warum haben Sie diesen Schluss nicht gedreht? Martin: Das wäre zu schwarz geworden. Ich wollte nicht, dass der Film einen feindseligen Touch bekommt. Er sollte leicht und heiter sein. SPIEGEL: Aber schon die Idee verrät eine gehörige Dosis Feindseligkeit. Wie steht es um Ihre eigene Beziehung zu Hollywood? Martin: Die ist bestens. Ich lebe und arbeite dort, und ich habe keinen Grund, sauer auf die Filmindustrie zu sein. Das war vermutlich auch der Grund, warum ich diesen Schluss verworfen habe. Hollywood war immer gut zu mir. Interview: Susanne Weingarten Werbeseite Werbeseite Kultur Ex-Kaiser Wilhelm (in Doorn), Farbaufnahme vom Fürstentreffen 1913 in Berlin: Die Straßen der Hauptstadt zur Schonung der Pferdehufe mit FILMGESCHICHTE Großwildjagd mit Stativ Vor der Kamera posierte Wilhelm II. als eitler Selbstdarsteller. Der Regisseur Peter Schamoni hat historische Bilddokumente zu einem Charakterporträt des letzten deutschen Kaisers montiert. E r liebte Pomp, Pickelhauben, schmucke Schiffe und funkelnde Kulissen, litt an seinem verkümmerten linken Arm, nahm selbst auf eine Reise in die Schweiz 30 Uniformen zur Auswahl mit und endete als verbitterter Exilant im holländischen Schlösschen Doorn: Mehr ist von der seltsamen Persönlichkeit des letzten deutschen Kaisers, seiner Majestät Wilhelm dem Zweiten aus dem Hause Hohenzollern, allenfalls unter Spezialisten bekannt. Dabei eignet sich der Monarch, dessen Name zuallererst an die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, den Ersten Weltkrieg, erinnert, bestens für Image-Studien. Während Wilhelms Regierungszeit begannen Fotografie und Film ihren Siegeszug, die Erfindung der Glühbirne ermöglichte Vorführungen ohne Risiko, und Kamerafans, die ihre neuen Zauberkästen mit und ohne Kurbel ausprobieren wollten, stürzten sich mit Vorliebe auf Deutschlands obersten Prominenten. Wilhelm, der nach anfänglichen Zweifeln begeistert für den Film eintrat, entwickelte sich zu einem Selbstdarsteller von Gottes Gnaden. Das jedenfalls meint Peter Schamoni, 65, ein Veteran des deutschen Autorenkinos. Jahrelang hat er nach Filmmaterial über Wilhelm gefahndet, es restauriert und nun – umrahmt von alten Fotos, Über334 tragen; für den Berliner Uniformnarren und Nippessammler, in dessen Namen Millionen Soldaten sterben mussten? Die Gräuel des Stellungs- und Grabenkriegs kommen tatsächlich allenfalls am Rande vor. Doch Bilder von feuernden Batterien zu Lande und auf See, zerbombten Städten und Gasmasken-Einsätzen zeigt eben jeder Kriegs-Schulfilm. Für Wilhelm dagegen war das Martialische ein Teil seiner gewaltigen Pose. Unnahbar und doch leutselig, fürsorglich, aber in schimmernder Wehr wollte der Kaiser für alle Vorbild spielen – ohne zu merken, dass sein Selbstbild aus Preußengloria und Gottesgnadentum von Anfang an eine Karikatur war. Schon wie der Mann mit zackigem „Esist-erreicht“-Schnurrbart, seinem Markenzeichen, über ein Treppchen aufs Pferd steigen muss, sieht entlarvend aus. Ähnlich kurios wirken Bilder von der Morgengymnastik, zu der Wilhelm auf seinen alljährlichen „Nordlandfahrten“ mit dem kaiserlichen Kreuzfahrtdampfer „Hohenzollern“ eine exklusive Herrengesellschaft aus hohen Militärs und sogenannten Ästheten – Professoren, Hofleute und Schmeichler – aus den Federn holte. blendungen ins Heute und auch einigen Tondokumenten – zu einem Großporträt aufbereitet, wie es bislang undenkbar schien: Von den ersten grobkörnigen Aufnahmen des Monarchen, die 1901 bei der Beisetzung seiner geliebten Großmutter Queen Victoria in London aufgenommen wurden, bis zu eindringlichen Porträtstudien des Greises vor seiner museal ausstaffierten Exil-Zuflucht scheint fast jede Unternehmung Wilhelms filmisch festgehalten zu sein. Programmkinos werden eine Version mit gerafftem Beiwerk zeigen, bevor der Film später in voller Länge als ZDF-Zweiteiler laufen soll. Uraufgeführt aber wird die gesamte von Wagnerklängen untermalte Zwei-Stunden-Collage am Dienstag zur Eröffnung des Leipziger Dokumentarfilmfestivals, das sich sonst der „Würde des Menschen“ verpflichtet fühlt. Schamoni kann damit rechnen, dass dem Opus dort einiger Unmut entgegenschlägt: Will er etwa um Verständnis werben für „Wilhelm den Plötzlichen“, der politisch so hirnlos agierte, dass ihm Spötter nachsagten, er Kaiserliche Matrosen beim Sackhüpfen auf Korfu habe eine Kopfprothese ge- Filmdokumente über Lebensstationen Wilhelms II.: Vom nationalen d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 gelbem märkischem Sand bestreut Doch Schamoni zeigt den „brillantesten Versager der Weltgeschichte“ keineswegs als Clown. Er lässt Mario Adorf einfühlsam den Kommentar sprechen und dazwischen originale Wilhelm-Texte majestätisch von Otto Sander vortragen. Er zeigt den gottesfürchtigen Wilhelm, während er auf seinem Staatsschiff oder später in Doorn höchstpersönlich die Hausandacht zelebriert. Oder er führt vor, wie der Kaiser samt Anhang sich am Sackhüpfen kaiserlicher Matrosen delektiert – auf Korfu, jenem Lieblingsurlaubsort, wo Wilhelm eine Residenz namens „Achilleion“ erwarb, die seit dem Tod ihrer Erbauerin, der unglücklichen Sisi von Österreich, leergestanden hatte. Das verblüffendste Dokument ist eine Passage aus dem Jahre 1913: Wieder hatte Wilhelm eine große Parade angeordnet, diesmal anlässlich des Fürstentreffens bei der Hochzeitsfeier seiner Tochter Viktoria Luise. Doch hier ist die ganze bunte Pracht der Märchen-Uniformen zu sehen, ja sogar, dass Berlins Straßen und Plätze zur Schonung der Pferdehufe mit gelbem märkischem Sand bestreut worden waren. Die Sequenzen, von drei Kameras gleichzeitig Wilhelm als Exilant in Doorn aufgenommen und später durch Filter übereinander projiziert, sind eines der frühesten Farbfilm-Dokumente überhaupt. Natürlich herrschte auch zu diesem Anlass „Kaiserwetter“. Regnete es, dann sagte Wilhelm Freiluft-Termine meist gleich ganz ab: Kameraleute hätten schließlich nichts davon gehabt. Ihnen zuliebe hatte er doch seinen grotesken Fundus von Uniformen angelegt. Ihnen zuliebe enthüllte er in jeder dritten Stadt ein Denkmal seines Großvaters, ihnen zuliebe schoss er auf Treibjagden einarmig nach Sechzehnendern – wobei ihm, der Film hält es fest, ein Stativ nachgetragen wurde. Und wohl nur für sie ließ er sich immer wieder hoch zu Ross sehen, obwohl er als Kind den Reitunterricht gefürchtet hatte, weil er nur mit einer Hand die Zügel führen und mühsam das Gleichgewicht halten konnte. In Doorn, wo er 1919 mit 70 Güterwagen Hausrat einzog, soll er kein Pferd mehr bestiegen und kein Gewehr mehr angerührt haben. Offiziell sind fast nur Filmbilder bekannt, die den abservierten Herrscher zeigen, wie er Verehrer begrüßt und freundlich Autogrammfotos verteilt. Aber Schamoni hat Dokumente aufgespürt, die ihn bei den Tätigkeiten zeigen, mit denen er deutschen Gästen – auch Göring war in Doorn – beweisen wollte, dass man mit ihm rechnen könne: Heuernte, Baumfällen, Holzsägen, Umgraben. Immer jedoch ist sofort zu sehen, dass nur der rechte Arm einsatzfähig war. Sogar bei der Vogelfütterung am Schlossgraben musste ihm der Brotkorb gehalten werden. Das Filmmaterial zum Begräbnis des Mannes, der sein Volk „herrlichen Zeiten entgegen“ hatte führen wollen und nun nur noch für die Livree seiner Chauffeure verantwortlich zeichnete, wurde von braunen Wochenschau-Profis gedreht, aber nur in Schweden und Holland freigegeben. Warum? Vielleicht, weil die Bilder von 1941 verstörend wirken wie eine Geisterstunde. Hitlers Schergen hatten den ExKaiser nicht für ihre großdeutschen Machtpläne einnehmen können. Und die ergriffenste Gestalt am Grab war ein Militär, der schon im Ersten Weltkrieg zu den Senioren gezählt hatte: Ex-Generalfeldmarschall August von Mackensen, geboren 1849. Johannes Saltzwedel Familienrunde auf dem Staatsschiff „Hohenzollern“ Vorbild in schimmernder Wehr zum verbitterten Exilanten in der Strickjoppe d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 335 S TA R S Geschwister im Glamour-Wald Das geschäftstüchtige britische Kosmetik-Model Liz Hurley betätigt sich jetzt auch als Filmproduzentin für ihren Dauerverlobten Hugh Grant. D er Glamour glimmt auf kleiner Flamme. Elizabeth Hurley, 34, eines der bestbezahlten Models der Welt, mäßig erfolgreiche Schauspielerin, Dauerverlobte von Hugh Grant und neuerdings auch Produzentin seiner Filme, hat die Grippe. Sie sitzt im Salon einer Suite in einem Kölner Luxushotel, raucht und schluckt Erkältungsdragees. In ihrem unscheinbaren pinkfarbenen Pullover wirkt das weltweit angehimmelte Sexsymbol mager und zerbrechlich. Doch ihre Stimme klingt entschieden und unmissverständlich. Ein Stockwerk über ihr unterzieht sich derweil Longtime-Lover Grant, 39, einem Interview-Marathon und beglückt lokale Sender mit Sätzen wie „Isch bin ne kölsche Jong“. Die beiden Briten sind in Deutschland, um „Mickey Blue Eyes“ zu vermarkten, eine temperiert witzige Komödie, die nächste Woche in den deutschen Kinos anläuft; Grant spielt darin wieder einmal den sympathisch-trotteligen Briten-Bengel. Diesmal ist Albions Beau mit dem SexAppeal einer Milchschnitte ein gewisser Michael Felgate, ein kultivierter Auktionator in New York, der sich in die Italoamerikanerin Gina Vitale (Jeanne Tripplehorn) verliebt. Aber sie will auf Teufel komm raus verhindern, dass Michael ihre Familie kennen lernt. Denn Papa Frank (James Caan), Onkel Vito, die Cousins und all die anderen Herren mit den Pockennarben im Gesicht 336 und der Knarre im Hosenbund, sind knasterfahrere Mafiosi. Aber wie es in Komödien so geht: Die Herren finden erst zu- und dann auch noch Gefallen aneinander, verstricken sich in unsaubere Geschäfte, und schließlich hat Michael einen Mord an der Hacke, und Gina droht mit Trennung. Im wirklichen Leben kann das der Grant-Gespielin Hurley wohl nicht mehr passieren. Seit zwölf Jahren ist sie mit Hugh Grant liiert, hat Höhen (ihre Modelkarriere für den Kosmetikkonzern Estée Lauder und seinen internationalen Aufstieg nach „Vier Hochzeiten und ein Todesfall“) verkraftet und einen demütigenden Dämpfer dazu. Die Panne im perfekten PR-Paket, zu dem sich das Paar verschnürt, ereignete sich in einem BMW in Los Angeles. Dort wurde Grant im Juni 1995 von einer Polizeistreife in einer Seitenstraße des Sunset Boulevard angetroffen, als ihm seine zungenfertige Beifahrerin, die professionelle Divine Brown, in der Limousine das verpasste, was im Englischen unromantisch, aber präzise „Blow Job“ heißt. Die göttliche Dienstleisterin und ihr bedürftiger Klient wurden nach ihrer Entdeckung erst erkennungsdienstlich behandelt und dann gnadenlos durchs globale Mediendorf getrieben. Für Liz war es „die Hölle“. Die oralen Fähigkeiten der Miss Brown warfen Fragen auf. Was hatte sie, was Liz womöglich nicht hatte? Und war die Liaison der Stars nicht doch das, was viele immer schon geargwöhnt hatten – eine Zweckgemeinschaft zu gegenseitigem Nutzen. Brüderchen und Schwesterchen im Glamour-Wald? Er – im Film wie im Leben selbstironisch, aber grenzwertig lebensuntüchtig. Sie – das toughe Working-Girl mit einem der appetitlichsten und fotogensten Blitzlicht-Bodys der Welt. Ein märchenhafter Doppel-Whopper nach dem magischen Muster von „la Claudia“ und ihrem zauberischen Copperfield? Liz Hurley weist diese ungalante Unterstellung energisch zurück („Claudia und d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Model Hurley „Noch nicht bereit für erwachsene Sachen“ J. SWANNELL / CAMERA PRESS UNIVERSAL PICTURES Filmstar Grant, Partnerin Trippelhorn in „Mickey Blue Eyes“: Ewiger Briten-Bengel David waren lange sehr verliebt, jetzt trifft sie sich mit Tim Jeffries, einem engen Freund von mir“). Ihr Argument gegen libidinös verbrämte Arbeitsgemeinschaften ist rein biologisch: „Das Leben ist zu kurz, um so viel Zeit für ein solches Arrangement zu opfern.“ Und warum heiratet sie dann nicht? „Oh, well“, sagt sie, und es klingt, als sei ihr der Satz schon öfter über die auffallend fülligen Lippen gekommen, „wir sind noch nicht bereit, solche erwachsenen Sachen zu machen. Wir haben keine Zeit.“ Gerade hat sie einen Film in Kanada abgedreht, mit Sean Penn als Partner. Das Ganze sei „arty“, künstlerisch also, und wohl kein potenzieller Kassen-Hit. Da laufen die Komödien mit Hugh Grant besser. Denn schließlich gebe es sonst niemanden im Business, der „gleichzeitig gut aussieht und komödiantisches Talent“ besitze. Ihre eigenen Talente, lästern Kritiker, seien nicht so verwirrend vielschichtig. Liz Hurley sei der Fall einer Frau, die bekannt und reich wurde (ihr Lauder-Vertrag brachte ihr allein acht Millionen Mark ein), weil sie über beneidenswert kamerataugliche Schönheit verfüge. Sie ist berühmt, weil sie berühmt ist. Hurleys wenige Kinoauftritte („Ja, ich habe schlechte Filme gedreht“) fallen deshalb ohnehin nicht ins Gewicht. Eigentlich hatte sie einst tatsächlich eine ernsthafte Schauspielerin werden wollen, aber schon der Start verrutschte gleich wegweisend in Richtung Showbusiness. Nach nur zwei von den drei vorgesehenen Jahren auf einer Londoner Schauspielschule musste sie aus Geldmangel die Ausbildung abbrechen. Um die notwendige Gewerkschaftszulassung für die Bühnenlaufbahn zu ergattern, tingelte sie Kultur mit Freunden durch Nachtclubs und führte selbst choreografierte Tänze auf, deren Qualität sie als „schrecklich“ in Erinnerung hat. Werbespots fürs Fernsehen hielten sie über Wasser. Und leider war ihr erster Film, „Aria“ von 1987, ein hochkünstlerischer Flop. Der Episodenfilm sollte zehn Regisseuren ermöglichen, jeweils eine Opernarie möglichst originell zu inszenieren. Hurley erwischte „Glück, das mir verblieb“, das vokale Glanzstück aus Erich Wolfgang Korngolds Oper „Die tote Stadt“. Mit blonder Walle-Perücke und als Rückenakt posierte sie zu den spätromantischen Klangräuschen im flämischen Brügge, eine Art Lady Godiva ohne Ross und – schlimmer noch – leider auch ohne jede Presse. Und bedauerlicherweise steht auch die Produzentenkarriere erst am Anfang. Außer „Mickey Blue Eyes“ steht nur „Extrem – Mit allen Mitteln“ auf der Liste. Ein Film, in dem sich Hugh Grant mit allen Mitteln als tragischer Held präsentieren wollte und prompt extrem floppte. Die Firma Castle Rock hat mit dem Paar einen Deal gemacht: „Die bezahlen uns die Büros und die Entwicklung der Drehbücher“, berichtet Hurley. „Und wir bieten ihnen dann Projekte an. Wenn sie eines akzeptieren, dann machen wir den Film für die. Wenn nicht, können wir mit der Story zu anderen Studios gehen.“ Bis jetzt aber, sagt Hurley, sei noch kein NachfolgeFilm mit ihrer gemeinsamen Produktionsfirma „Simian Films“ geplant. Liz Hurleys Strategie für die kommende Dekade ist streng sachlich motiviert. Sie will eine Modefirma gründen, dort kreativ und kaufmännisch mitbestimmen, denn „es ist unwahrscheinlich, dass ich in zehn Jahren noch einen Kontrakt mit einer Kosmetikfirma haben werde“. Immerhin verdankt sie der Mode einen ersten, unvergessenen Auftritt. Zur Premiere von Hughs Überraschungserfolg „Vier Hochzeiten und ein Todesfall“ benötigte sie 1994 ein Kleid. Bekannte verschafften ihr ein getragenes Versace-Modell, das sie in ihrem „winzigen Spiegel zu Hause nur bis zur Hüfte“ begutachten konnte. Liz stöckelte in zwei eng anliegenden Stoffbahnen, die nur von 16 goldfarbenen Sicherheitsnadeln zusammengehalten wurden, über den Leicester Square und war anderntags auf allen Titelseiten. Das Kleid heißt seitdem nur noch „that dress“, und der Rest ist PR-Legende. Diesem Auftritt verdankt Nadel-Liz eine Freundschaft mit Gianni Versace und dessen Schwester Donatella und einen Spruch, den Donatella von der Herzogin von Windsor übernommen hat: „Du kannst nie zu dünn oder zu reich sein.“ Das mit dem Dünnsein, meint Liz Hurley, „ist heute ja so eine Sache. Aber das andere, das kommt schon hin“. Joachim Kronsbein d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 SVEN SIMON Privatmann Basler in der Öffentlichkeit*: Was macht „ran“ künftig ohne „Super-Mario“? U N T E R H A LT U N G „Ich bin ein Weltstar“ Über Jahre demonstrierte Mario Basler, dass das pralle Leben an einem Fußballprofi nicht vorbeiziehen muss. Des Betriebsfriedens wegen hat Bayern München seinen exzentrischen Spieler jetzt verbannt. Die sportliche Show ist um eine Attraktion ärmer. D er „Kicker“, das Zentralorgan wider den Sittenverfall im deutschen Fußballwesen, wollte es genau wissen. Ist Mario Basler, 30, noch vermittelbar? Schließlich war der Profi des FC Bayern München neulich, an der Seite seines Teamkollegen Sven Scheuer, in einer Regensburger Trattoria mit anderen Gästen mächtig in Streit geraten. Die Redaktion befragte vorige Woche Entscheidungsträger aller Bundesligaclubs, ob sie an einer Verpflichtung Baslers interessiert seien. Das Votum war einstimmig – erleichtert titelte das Fachblatt: „Keiner will Mario Basler!“ Des Nationalspielers schmähliches Ende beim Deutschen Meister dokumentiert das Dilemma, in das sich der Berufsfußball hineingeboomt hat: Nach außen sind die Clubs Dienstleister in der Unterhaltungsindustrie – je spektakulärer die Show, desto besser die Position im Markt. Innerbetrieblich jedoch funktionieren die Mannschaften immer noch so wie zur Gründer* Bei der Eröffnung eines Fanshops in Oberhausen; mit Ehefrau Iris beim Profiboxen in Köln; auf der Meisterfeier im Englischen Garten in München. 338 zeit der Bundesliga – was zählt, sind Solidität, Teamgeist und Fleiß. „Hätten wir nicht eingegriffen“, erklärt Bayern-Vize Karl-Heinz Rummenigge, „wäre die Gemeinschaft kaputtgegangen.“ Vorvergangenen Samstag teilte Präsident Franz Beckenbauer deshalb den Sündern mit, dass sie ab sofort vom Dienst suspendiert seien. Im Falle des Ersatztorhüters Sven Scheuer, 28, wird das Deutschland verkraften können. Im Falle Basler ist das nicht so sicher. Was macht „ran“ künftig ohne Basler? Wie will Sat 1 die überschüssige Sendezeit füllen, wenn nicht mehr mit den Spaziergängen des Pfälzers auf Rechtsaußen, seinen ballistisch kühnen Freistößen oder seiner bebenden Halsschlagader im Disput mit den Männern an der Pfeife? Mit Jens Jeremies? Taugen Markus Babbels Querpässe für die Superzeitlupe? In der nur ihm eigenen Selbstüberschätzung hat der ehemalige Anstreicherlehrling Basler neulich schwadroniert, dass 50 Prozent der Leute ihn schätzen und die anderen 50 Prozent ihn hassen. Natürlich ist das Unsinn. Mit dem hochmütigen Kunstschützen verhält es sich d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 so ähnlich wie mit dem Schlager-Millionär Dieter Bohlen: Das Publikum schätzt ihn nicht, sondern weidet sich am Unerträglichen: an den überheblichen Sprüchen, den prolligen Gesten, dem Irrglauben, wichtig zu sein. „Ich bin ein Weltstar, und du bist eine Null“, hat Basler bei einem seiner Kneipenaufenthalte einen Zecher wissen lassen. Die Neigung, sich das Leben leicht zu reden, begleitet Basler, seit er den Beruf des Fußballspielers ergriffen hat. Beim Zweitligaclub Rot-Weiß Essen, mit Anfang 20, schickt ihn sein Vorgesetzter, Jürgen Röber, vom Training nach Hause, weil ihn eine Alkoholfahne umweht. Bei seiner nächsten Station, Hertha BSC Berlin, verdichtet der damalige Trainer Bernd Stange Baslers Fähigkeiten in einen dieser Tage wieder häufig zitierten Aphorismus: „Bis zum Hals Weltklasse, darüber Kreisklasse.“ Seine Ball-Artistik bringt ihn immerhin in die Bundesliga, zu Werder Bremen. Zwar verwendet der passionierte Raucher auch dort viel Zeit für Casinobesuche, fürs Kartenspiel und Amüsement an der Theke. Aber unter den Bremer Profis ist er ein Ausnahmekönner. Baslers Aktionen si- Die Bayern-Spitze ahnt die Gründe. Manager Uli Hoeneß beauftragt eine Detektei, Münchens gastronomische Betriebe auszukundschaften. Unter den Nachtaktiven wird Basler als besonders emsig ausgemacht. Er flieht ins Umland. In Landshut zieht es ihn nach dem Besuch der Spiele des örtlichen Eishockeyclubs gern ins „Michelangelo“. Eine neue Heimat findet Basler auch in Olching, einer beschaulichen Gemeinde westlich der tosenden City. Im Etablissement „Absolut“, dessen Wände antike Spiegel zieren, entspannt er bei Weißbier und Longdrinks. Die Abende lassen sich wunderbar rechtfertigen, seit der Profi das Training der A- und B-Jugendlichen des SC Olching übernommen hat. Was er über jene Fußballer denkt, die nicht mit so viel motorischem Talent wie er gesegnet sind, SVEN SIMON * Im Champions-League-Finale gegen Manchester United (1:2) am 26. Mai in Barcelona. SVEN SIMON H. RAUCHENSTEINER chern Siege, Prämien, Ruhm – das Enfant terrible ist dem Team zu Nutze, also werden die Entgleisungen toleriert. An der Weser gerät Basler jedoch in die Prominentenfalle. Seine Tore werden zu Kunstwerken hochgejazzt, seine präpotenten Ergüsse entzücken die Redaktionsstäbe zahlreicher Talkshows. Altmeister Udo Lattek preist ihn als „vielleicht schon letzten Künstler in der Bundesliga“. „Das Genie“ (Werder-Manager Willi Lemke) beginnt jetzt, öffentlich vor Fernsehpublikum zu paffen und zu trinken. Er glaubt, für sich die Nische des Unterhalters in der so uniform-öden Leistungsgesellschaft Bundesliga gefunden zu haben. Er sieht sich fortan als Mann fürs Launige. „Entertainment kommt von mir auf dem Platz, und die Zuschauer wollen unterhalten werden“, sagt er. Basler hält sich für einen Dennis Rodman oder einen Andre Agassi des deutschen Fußballbusiness. Auch die stilisieren ihre Egozentrik – ein einträglicher Marketingtrick. Doch am Morgen nach einer wilden Party knechten sich die Rodmans dieser Welt im Fitnessstudio, um ihr athletisches Niveau zu halten; dazu ist Basler nicht bereit. Das Verhängnis nimmt seinen Lauf, als „Super-Mario“ („Bild“) zu Bayern München findet. Dort heißen die Kollegen nicht Eilts, Wiedener und Wolter – dort warten Matthäus, Kahn und Babbel. Plötzlich ist es nicht mehr selbstverständlich, dass ihn der Trainer aufstellt – gleichgültig ob er die Woche über fleißig war oder faul, krank oder blessiert. „Wenn ich fit bin, dann spiele ich, das ist überhaupt kein Thema“, posaunt er. Aber Basler ist selten fit. bekommt einer seiner Schützlinge gleich bei der ersten Übungseinheit zu hören: „Du stehst schon wieder, gib mal ein bisschen Gas.“ So ähnlich springt auch der neue Chef des Münchner Starensembles, Ottmar Hitzfeld, mit Basler um: Sonderschichten, Training unter der Kontrolle eines Physiotherapeuten werden dem Star auferlegt. Und siehe da, Basler kehrt im April gegen Dynamo Kiew in die Elf zurück und befördert den Ball von halbrechts mit dem linken Fuß ins linke Tordreieck. Es ist der einzige Treffer des Abends – und die Nation bebt. Basler hält die Elogen für gerechtfertigt. Er signalisiert den Bayern, seinen im Sommer 2000 auslaufenden Vertrag vorzeitig verlängern zu wollen – natürlich zu Konditionen, die seiner Bedeutung angemessen sind. Er will in die Tarifgruppe des Spielmachers Effenberg eingereiht werden: statt drei rund fünf Millionen Mark per annum. Das halten die Wächter über die Vereinsfinanzen für unverschämt. Sie lehnen ab. Basler greint: „Mir wird zu wenig Respekt entgegengebracht.“ Der große Entertainer fühlt sich unverstanden. Statt das Genialische zu würdigen, werden die Weißbiere gezählt. Allen Ernstes rechnet er zur Verteidigung vor, dass er die Frei-Haus-Lieferungen des BayernSponsors Erdinger Weißbräu eher gering in Anspruch nehme: „Bei mir hat eine Kiste schon mal sechs Wochen gereicht. Es gibt Spieler, die öfter nachbestellen.“ Das scheint glaubhaft, weil Basler etwa im vergangenen September mit Vorliebe auswärts trinkt. In Hamburg mischt er sich bei einer Geburtstagsparty unter seinesgleichen, auf Du und Du mit VIPs wie Udo Lindenberg und Verona Feldbusch. In der Hauptstadt schaut er bei den EishockeyCracks der Berlin Capitals vorbei, bevor er die Nacht in der Disco „First“ ausklingen lässt. In Frankfurt springt er bei der Auto- Torschütze Basler*: „Wenn ich fit bin, dann spiele ich“ d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 339 Sport R. HOWARTH / ASSIGNMENTS PHOTOGRAPHERS mobil-Ausstellung herein, in Baden-Baden selbst vier Jahre Profi bei Bayern, gibt wird er auf der Galopprennbahn am Wett- präzise Auskunft. Die Delinquenten werden zur Rede geschalter gesehen. Nicht alles lässt der FC Bayern durch- stellt. Basler liest seine Aussage, wonach er gehen. Im August, zwei Tage vor dem Lo- und Scheuer Opfer eines pöbelnden Gastes kalderby gegen Unterhaching, wird Basler gewesen seien, von einem Zettel ab. „Ein im „Maximilian’s“, einem Musiktempel für dreister und impertinenter Auftritt“, die Wichtigen der Stadt, morgens gegen empört sich Beisitzer Rummenigge. Als Hoeneß die Suspendierung öffentlich halb drei geortet. Auf der Geburtstagsfeier des ehemaligen Münchner Kollegen begründet, berichtet er düster von der SpitDietmar Hamann gerät Basler in Wallung: ze eines Eisbergs, die mal wieder sichtbar Mit den Fäusten malträtiert er einen Spie- geworden sei. Die Blockwarte der Nation leler der Regionalliga-Mannschaft des FC gen in den folgenden Tagen Teile des MitBayern. Der Verein belegt ihn mit 20 000 telbaus frei. Jeder weiß was, jeder wispert was: dass Basler in Frontenhausen 180000 Mark Buße. Mark verloren haben Der Szenegänger, soll; dass ihm in BergSohn eines Maschinenkirchen der Wirt eines schlossers und einer Landgasthofes 20 000 Postangestellten, pflegt Mark abgeknöpft habe; ein legeres Verhältnis dass ihm in Straubing zum Geld. Seinen Geein bekannter Zocker haltsbogen würdigt er besonders zugesetzt keines Blickes. Das mahabe. Der Verlust soll che alles sein Manager, 380 000 Mark betragen. verrät Mario Neureich Mario Basler war auf vergnügt; der wisse, dem besten Wege, ein „was die Immobilien deutscher Paul Gaskosten und was ich vercoigne zu werden – jedienen muss“. ner gleichfalls begnadeVor einigen Jahren te englische Nationalhatte der Fußballprofi spieler, der die Tabloids 330 000 Mark in ein 40fast täglich mit Szenen Quadratmeter-Aparteines durchgeknallten ment in Düsseldorf geLebens versorgt hat. steckt, das niemals geDer Unterschied ist baut wurde. Von dem Englischer Fußballprofi Gascoigne bloß, dass der englische Projekt hatte er nur „super Bilder“ gesehen. Der Finanzberater Fußballfan jene Profis am innigsten verRoger Wittmann half ihm damals aus der ehrt, die genauso unflätig und raubeinig sind wie er selbst. Zu dieser Identifikation Bredouille. Es war der Anfang einer Männerfreund- ist der deutsche Tribünengast nicht fähig. schaft, und seither leben beide prächtig Voriges Jahr fragten die Meinungsforscher voneinander. Wittmann ist, seit Basler zu von Emnid nach, wen die Deutschen für seinem Kundenstamm zählt, zu einer be- den dümmsten Nationalspieler halten. Den deutenden Größe unter den deutschen Titel sicherte sich Mario Basler mit weitem Vorsprung. Spielerberatern aufgestiegen. Dass der Exzentriker noch rechtzeitig Wittmann, 39, kennt die Schwächen seines Schützlings. Dass er Basler nicht aus- zur Einsicht kommt, um Deutschland erredet, genauso viel verdienen zu wollen halten zu bleiben, steht nicht zu befürchwie Effenberg, wird zum Problem. „Die ten. Der Mann sehnt sich ins Ausland. Und gönnen mir nichts, jetzt gönne ich denen fragt sich: Muss ich mir den Stress der auch nichts“, verkündet sein Klient mit Champions League noch antun? „Ich werkindlichem Trotz. Wenn der Vertrag nicht de im Dezember 31 Jahre alt, da wäre es verlängert wird, kann Basler ablösefrei vielleicht nicht mal so schlecht, wenn man mal ein Jahr kürzer treten kann, nicht so München verlassen. Doch den Bayern-Verantwortlichen oft unterwegs ist.“ Das Mehr an Lebensqualität käme vielkommt es auf ein paar Millionen Mark Ablöse nicht mehr an. Sie interpretieren Bas- leicht auch seiner zweiten Ehe zugute. Volers Eskapaden als Provokation und wollen rigen Winter heiratete Basler die Schwester nur noch Ruhe im Team. Spieler wie Oli- seines Beraters Wittmann. Draußen vor der ver Kahn oder Giovane Elber, sagt einer Lutherkirche im pfälzischen Neustadt aus dem Präsidium, „sind es satt: Die wol- drängten sich über 1000 Schaulustige, abgeschirmt von Bodyguards und Polizisten len Fußball spielen“. Die Affäre von Regensburg kommt nicht in Zivil. Drinnen zitierte Pastor Lamotte ungelegen. Mit detektivischem Eifer re- aus dem Brief des Paulus an die Philipper: cherchiert Manager Hoeneß bei der Polizei „Tut nichts aus Eigennutz oder um eitler in Regensburg. Auch bei Zeugen erkundigt Ehre willen, sondern in Demut achte einer er sich nach den Geschehnissen in der den anderen höher als sich selbst.“ „Trattoria da Fernando“: Hans Dorfner, Alfred Weinzierl, Michael Wulzinger 340 d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Sport FUSSBALL Besuch aus Beverly Hills 170 000 Türken leben in Berlin, tausende spielen in etwa 40 türkischen Fußballclubs, die sich dem deutschen Vereinswesen oft enorm angepasst haben. Am Dienstag wird Berlin für 90 Minuten jedoch wieder zur geteilten Stadt: Galatasaray Istanbul gastiert bei Hertha BSC. M. GÜLBIZ Das Los hat jene Europacup-Paarung zu Stande gebracht, auf welche die größte türkische Gemeinde außerhalb der Türkei seit Jahrzehnten gewartet hat. Klar ist: Die Mehrheit der Zuschauer werden Türken sein. Aber ungewiss scheint: Wie viele von ihnen werden in der vereinten Stadt mit geteilten Herzen auf der Tribüne sitzen? Denn zwischen Galatasaray-Spielen und steril-staatstragenden Fußballterminen gibt es einen bedeutenden Unterschied: Mag das türkische Nationalteam stets eine Abordnung wohlfeiler Polit-Fans in seinem Gefolge haben – zu Galatasaray geht man aus Gesinnung und wahrem Patriotismus, erst recht, wenn man sich zur Elite zählt oder, wie die Söhne des türkischen Geldund Beamtenadels, selbst Zögling des frankophonen Lyzeums war, aus dem der Sportclub hervorgegangen ist. Um die Tickets fürs Corps Diplomatique, inklusive Außenminister Ismail Cem, kümmert sich der Berliner Konsul Iskender Okyay persönlich. „Für mich“, sagt Okyay, Galatasaray-Anhänger*: „Das sind nicht die einfachen Leute“ 36, „ist Galatasaray eine Reminiszenz ythos hin oder her, beim Freitag- wandern die Blicke kurz hinüber zum Mo- des alten Europa in der modernen Türkei: abendspiel unter dem trüben nitor. Kein Jubel, kein Zorn, höchstens ein gebildet, traditionsreich, aristokratisch. Istanbuler Herbsthimmel darf sich ums Elend des Ligaalltags wissendes Kopf- Schauen Sie sich nur unsere Anhänger an. Das sind nicht die einfachen Leute.“ auch die berühmteste aller türkischen Fuß- schütteln. Man hat Größeres im Sinn. Als Galatasaray 1905 gegründet wurde, ballmannschaften ein paar Durchhänger Irgendwo im Zigarettendampf hinten leisten. Die Kicker von Anatalyaspor sind rechts geht nämlich wertvolle Ware über regierte Sultan Abdulhamid II. das Osmagekommen, um sich beim Tabellenführer den Tisch. Şenol Akkaya, der Präsident von nische Reich. Und in den folgenden 94 JahGalatasaray ihre obligatorische Niederlage Türkiyemspor, bringt Eintrittskarten für ren hat keiner der Vereinsführer auch nur abzuholen. Erste türkische Liga, immer- das Champions-League-Spiel am kom- den Versuch unternommen, aus der Heimhin, aber es ist ein Kick zum Erbarmen. 1:0 menden Dienstag unters Vereinsvolk. Der statt für die Oberschicht einen Volksclub zu zur Halbzeit, 2:0 beim Schlusspfiff, ein glorreiche FC Galatasaray, das Aushänge- machen. Diesen Titel trägt der neureiche Pflichtsieg des 13fachen Landesmeisters. schild anatolischer Ballsportkultur, Lieb- und in den letzten Jahren etwas ölig geAuch 1800 Kilometer nordwestlich wird lingsclub türkischer Präsidenten, General- wordene Lokalrivale Fenerbahçe, knapp der Auftritt der Löwen vom Bosporus wie stabschefs und des Kurdenführers Abdullah vor Be≠ikta≠, dem dritten Istanbuler Stadtein freudloses Routineereignis verfolgt. Öcalan, gibt sich die Ehre bei Hertha BSC. club. Be≠ikta≠ und Fenerbahçe trainieren und spielen unter der schwefeGut hundert Freunde des türligen Smogglocke der 15-Milliokischen Fußballs haben sich im nen-Stadt, während GalatasaVereinsheim des Berliner Verray vor Jahren sein sportliches bandsligaclubs Türkiyemspor Hauptquartier nach Florya veram Kottbusser Tor eingefunden, legt hat – hinaus in den saubedoch die Fehlpässe auf dem Rieren und reichen Westen der senbildschirm ziehen nur ein Stadt, wo Istanbul mehr nach Grüppchen Eingeschworener in Beverly Hills aussieht als nach ihren Bann. den Slums hinterm Bosporus. Der Rest der Gesellschaft sitzt In welch unterschiedlichen rauchend beim Tee und spielt Welten Florya und Kreuzberg Karten. Wenn wieder eine Runliegen, hat neulich der Türke de türkisches Rommé vorbei ist, Veysel Sayilgan erkennen müssen. Als Abgesandter seines * Beim Champions-League-Spiel gegen Berliner Bezirksligavereins war Hertha BSC am 15. September in Istanbul. Galatasaray-Profi Akyel, Hertha-Stürmer Daei*: Club der Elite WENDE M 342 d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite FOTOS: M. TÜREMIS / LAIF Sayilgan nach Istanbul gereist; er glaubte, einen Kooperationsvertrag über Spieleraustausch, gemeinsame Jugendarbeit und eine Trikotlizenz aushandeln zu können. „Burnu havada“, sagt Sayilgan, „mit der Nase in der Luft“ seien ihm die Herren von der Geschäftsstelle jedoch begegnet. Ein paar Fähnchen habe man ihm in die Hand gedrückt und die Telefonnummer des Fanbeauftragten zugesteckt – wollen Türken aus der Hautevolee jemanden loswerden, dann sind sie nicht zimperlich. Die Enttäuschung sitzt tief. Monatelang hatte Sayilgans Verein mit sich gerungen, sich einen neuen Namen zu suchen, weil den alten – Üsküdarspor Siemensstadt – kaum einer aussprechen konnte. „Pergamonspor“ hat Sayilgan zunächst vorgeschlagen, in der Hoffnung, da denke jeder an Ruinen und Sonne und Urlaub. Doch das klang manchen Türken zu griechisch. Auch „SV Neue Heimat“ wurde erwogen; da wiederum warnte ein deutscher Freund vor unguten Assoziationen. Am Ende machte der Eintrag „1. FC Galatasaray Spandau 89 e. V.“ das Rennen. Es sei nicht ganz einfach gewesen, sagt Füsün Per, die Präsidentin des Clubs, auch die Anhänger anderer Teams der ersten türkischen Liga für den Namen des großen Rivalen zu begeistern. Dann aber habe sich die Einsicht durchgesetzt, dass „man den Laden ja schließlich auch sponsern muss“, und dass dies mit dem großen Wort Galatasaray eben einfacher sei. Zur Erleichterung ihres Gewissens haben sich manche M. TÜREMIS / LAIF Fans im Berliner Vereinslokal von Türkiyemspor: „Die Heimat ist da, wo du satt wirst“ Hertha-Fan Murat Familieninterner Konflikt Kicker auf einen Kompromiss verständigt. Die Fenerbahçe-Fans in der Männermannschaft spielen einstweilen mit blau-gelben Fener-Shirts unterm rot-gelben Galatasaray-Trikot – „doch das wird sich legen“, sagt die Präsidentin, „wir sind ein deutscher Verein, die hören schon auf mich“. Denn durchgängig ist bei den rund 40 türkischen Fußballvereinen auf Berliner Boden ein Phänomen zu beobachten, das mancher Muselman als Verrat an der orientalischen Seele empfinden mag. „Wer Erfolg will, braucht Führung und Organisation“, bekennt Sayilgan, in Personalunion Geschäftsführer bei Galatasaray Spandau und Türkiyemspor, außerdem stellvertre344 tender Bezirksligasprecher, CDU-Gastmitglied und Inhaber einer Schiedsrichter- und einer Trainerlizenz. Gerade weil er wisse, wovon er rede, sagt Sayilgan, habe ihn die Herablassung seiner Landsleute geschmerzt – „denn die haben von Organisation überhaupt keine Ahnung, von professioneller Jugendarbeit oder Buchführung ganz zu schweigen“. Sayilgan, 41, ist vor 20 Jahren nach Berlin gekommen, und wie viele aus der „ersten Generation“ verinnerlichte er das Deutschsein um des Deutschseins willen von Anfang an: „Ohne Statut und Ordnung: Wo kommen wir denn da hin?“ Reinhard Saftig, der deutsche Ex-Trainer des türkischen Erstligisten Kocaelispor, habe noch Mitte der neunziger Jahre seine Spieler auf Hoteltischen massieren lassen müssen, die Wäsche hing auf der Leine, weil es keinen Trockner gab. Unglaublich. Bei Hilalspor in der Waldemarstraße, einem Club, dem islamistische Tendenzen nachgesagt werden, führt zwar aus dem Vereinslokal eine Treppe in die Kellermoschee hinunter, doch bei der akkuraten Anordnung von Pokalen und Mannschaftsordnern herrschen deutsche Sekundärtugenden vor. Bei Agrispor am Görlitzer Park, einem Verein mit überwiegend kurdischen Mitgliedern, läuft von der „Pampers-Liga“, den Fünf- und Sechsjährigen, bis zu den Regionalliga-Frauen ein preußisch ausgefeilter Trainings- und Spielplan ab. Zuspätkommen gibt’s nicht. Al Spor (Aleviten), Dersim Spor (Aleviten und Kurden), BFC Tur Abdin (türkischsyrische Christen), Hürtürkelspor (Nationalisten) – so Feind sie sich untereinander sein mögen, die türkischen Fußballer von Berlin sind durchorganisiert, dass Turnvater Jahn seine Freude dran hätte. Im Grunde, meint der Kreuzberger Bezirksbürgermeister Franz Schulz, setzten die Türken das Erbe des zu Weimarer Zeiten gefestigten deutschen Vereinswesens fort. Wie den Berlinern von damals sei heute den Anatoliern die Figur des Vorsitzenden heilig – und vor allem das Schaufenster des Vereinslokals zur Straße hinaus. „Deutsche Clubs“, sagt der Grünen-Politiker, „ziehen sich mehr und mehr in Keller und Souterrains zurück, die Türken hingegen d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 achten schon traditionell auf ihre Schnittstelle zum öffentlichen Raum.“ Freilich: Berlin dankt den Türken die Bewahrung der deutschen Vereinskultur keineswegs. Er habe aufgehört zu zählen, sagt Veysel Sayilgan, wie oft man ihm die Aufkleber seiner beiden türkischen Clubs vom Briefkasten gerissen und mit SS-Zeichen und Hakenkreuzen beschmiert habe. Nicht dass er von rechtsradikalen Hertha-Fröschen im Hause wüsste, doch irgendwo aus dieser Richtung komme es wohl. „Galata, Galata, Galatasaray, Fenerbahçe Istanbul, wir hassen die Türkei“ singen, zur Melodie von „Jingle Bells“, die Hertha-Hools alle 14 Tage auf dem Weg ins Olympiastadion. Auch auf dem Rasen hat das friedliche Gegeneinander in den vergangenen Jahren gelitten. Seit Jahren mehren sich selbst in unteren Klassen Pöbelei, Handgreiflichkeiten und Spielabbrüche. Im Mai trafen der Ost-Berliner Verein BFC Dynamo und die Kreuzberger Elf von Türkspor zusammen. „Wir bauen euch eine U-Bahn nach Auschwitz“, sangen die BFC-Anhänger. Nach dem Abpfiff stürmten sie auf den Fußballplatz und jagten die türkischen Spieler. Acht Sportler wurden verletzt. Mitte der neunziger Jahre wäre dem besten türkischen Club in Berlin, Türkiyemspor, beinahe der Aufstieg in die Zweite Bundesliga geglückt. Das Märchen soll irgendwann in Erfüllung gehen. „Für manchen mag es ein Alptraum sein, dass wir eines Tages im Olympiastadion gegen Hertha spielen“, sagt Präsident Şenol Akkaya, „aber ich freu mich schon drauf.“ Den türkisch-patriotischen Atatürk-Cup boykottiert Präsident Akkaya hingegen, „weil das Ganze unprofessionell organisiert ist und irgendwie keine Klasse hat“. Loyalitätsappelle aus der Heimat lassen ihn kalt. „Die Heimat“, habe sein Vater immer gesagt, „ist da, wo du satt wirst.“ Ähnlich pragmatisch hält es auch Ramazan Öztürk von Agrispor. „Ich bin Berliner, also bin ich für Hertha.“ Unter seinen drei Söhnen befürchtet Öztürk am Dienstag indes einen familieninternen Konflikt: Die beiden Älteren werden Galatasaray anfeuern, der 13-jährige Murat will als bekennender Hertha-Fan im blau-weißen Schal ins Stadion ziehen. Bernhard Zand Werbeseite Werbeseite SERVICE Leserbriefe SPIEGEL-Verlag, Brandstwiete 19, 20457 Hamburg Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: leserbriefe@spiegel.de Fragen zu SPIEGEL-Artikeln Telefon: (040) 3007-2687 Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: artikel@spiegel.de Nachbestellung von SPIEGEL-Ausgaben Telefon: (040) 3007-2948 Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: nachbestellung@spiegel.de Nachdruckgenehmigungen für Texte und Grafiken: Deutschland, Österreich, Schweiz: Telefon: (040) 3007-2869 Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: nachdrucke@spiegel.de übriges Ausland: New York Times Syndication Sales, Paris Telefon: (00331) 47421711 Fax: (00331) 47428044 für Fotos: Telefon: (040) 3007-2869 Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: nachdrucke@spiegel.de DER SPIEGEL auf CD-Rom / SPIEGEL TV-Videos Telefon: (040) 3007-2485 Fax: (040) 3007-2826 E-Mail: service@spiegel.de Abonnenten-Service SPIEGEL-Verlag, Postfach 10 58 40, 20039 Hamburg Reise/Umzug/Ersatzheft Telefon: (040) 411488 Auskunft zum Abonnement Telefon: (040) 3007-2700 Fax: (040) 3007-2898 E-Mail: aboservice@spiegel.de Abonnenten-Service Schweiz: DER SPIEGEL, Postfach, 6002 Luzern, Telefon: (041) 3173399 Fax: (041) 3173389 E-Mail: leserservice@dcl.ch Abonnement für Blinde Deutsche Blindenstudienanstalt e. 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Schierhorn, Ekkehard Schmidt, Thomas Schmidt, Andrea Schumann-Eckert, Margret Spohn, Rainer Staudhammer, Anja Stehmann, Dr. Claudia Stodte, Stefan Storz, Rainer Szimm, Dr. Wilhelm Tappe, Dr. Eckart Teichert, Dr. Iris Timpke-Hamel, Heiner Ulrich, Hans-Jürgen Vogt, Carsten Voigt, Peter Wahle, Ursula Wamser, Peter Wetter, Andrea Wilkens, Holger Wilkop, Karl-Henning Windelbandt B Ü R O D E S H E R A U S G E B E R S Irma Nelles I N F O R M A T I O N Heinz P. Lohfeldt; Andreas M. Peets, Kirsten Wiedner, Peter Zobel K O O R D I N A T I O N Katrin Klocke L E S E R - S E R V I C E Catherine Stockinger S P I E G E L O N L I N E (im Auftrag des SPIEGEL: a + i art and information GmbH & Co.) Redaktion: Hans-Dieter Degler, Ulrich Booms N A C H R I C H T E N D I E N S T E AP, dpa, Los Angeles Times / Washington Post, New York Times, Reuters, sid, Time Nachdruck und Angebot in Lesezirkeln nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages. 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Bundesaußenminister Joschka Fischer fordert die Einführung eines Mindestalters von 18 Jahren für Soldaten. AFFÄREN US-Sonderanwalt Kenneth Starr legt nach sechsjährigen Ermittlungen gegen Präsident Bill Clinton sein Amt nieder. DIENSTAG, 19. 10. BESUCH Chinas Präsident Jiang Zemin wird bei seinem Staatsbesuch in Großbritannien von Königin Elizabeth II. und Premier Tony Blair begrüßt. ENTFÜHRUNG In Hamburg geht die Entführung einer Boeing 737 der Egypt Air mit 54 Insassen unblutig zu Ende. Der Täter springt aus dem Flugzeug und verlangt Asyl. 16. bis 22. Oktober SPIEGEL TV MONTAG 23.00 – 23.30 UHR SAT 1 MITTWOCH, 20. 10. RÜSTUNG Der Bundessicherheitsrat beschließt die Lieferung eines Kampfpanzers vom Typ „Leopard 2A5“ zu Testzwecken an die Türkei. SPIEGEL TV REPORTAGE Welche Farbe hat der Krieg? – Das Dritte Reich, Teil 1: 1937 – 1940 INDONESIEN Muslimführer Abdurrahman Wahid gewinnt überraschend die Präsidentenwahl. Er erhält 373 Stimmen, seine Konkurrentin Megawati Sukarnoputri 313. HOFFNUNGSLOS Der Uno-Vermittler für den Frieden in Afghanistan, Lakhdar Brahimi, gibt auf. SPIEGEL TV Chronik ERÖFFNUNG Der skandinavische Hochadel eröffnet in Berlin die gemeinsame Botschaft der Länder Dänemark, Schweden, Norwegen, Finnland und Island. Nazi-Aufmarsch in Iserlohn (1937) Marlene Dietrich und Hitlers Pilot, Eva Braun und einige Soldaten der Wehrmacht hatten eine gemeinsame Passion: Sie filmten Geschichte in Farbe. Michael Kloft hat weitgehend unveröffentlichtes Farbmaterial aus der Nazi-Zeit für eine zweiteilige Dokumentation zusammengetragen. In der ersten Folge sind unter anderem Aufnahmen vom Besuch Hitlers in Italien, vom Einmarsch deutscher Truppen in Paris, aber auch Bilder vom Alltagsleben unterm Hakenkreuz zu sehen. DONNERSTAG, 21. 10. OSTTIMOR Deutsche Soldaten fliegen bei ihrem ersten Einsatz im Krisengebiet mit einer „Transall“ Verletzte aus der Hauptstadt Dili ins australische Darwin. ATTENTAT Der Journalist und frühere türkische Kulturminister Ahmet Kislali wird in Ankara durch eine Autobombe getötet. DONNERSTAG 22.05 – 23.00 UHR VOX FREITAG, 22. 10. KRIEGSVERBRECHER Der in Frankreich verurteilte Nazi-Kollaborateur Maurice Papon, 89, wird nach seiner Flucht in der Schweiz festgenommen. SPIEGEL TV EXTRA Die Vollstrecker – Erfahrungen deutscher Gerichtsvollzieher FEIER Zweieinhalb Jahre nach Baubeginn Knapp 4000 Zwangsvollstrecker beschäftigen sich Tag für Tag mit den Folgen von Konsumrausch oder Ratenkrediten. Eine Reportage über die Schattenseiten einer vermeintlichen Wohlstandsgesellschaft. feiern Kanzler Gerhard Schröder und Gäste Richtfest im 465 Millionen Mark teuren Bundeskanzleramt in Berlin. FREITAG 22.10 – 00.15 UHR VOX NIEDERLAGE Die SPD-geführten Bundes- länder verzichten auf ein Abkommen gegen die Erhebung von Studiengebühren. SPIEGEL TV THEMENABEND Die Sehnsucht der Singles Etwa 13 Millionen Alleinlebende bevölkern die Bundesrepublik, die meisten von ihnen möchten diesen Zustand ändern. Studiogäste und Publikum: Singles auf der Suche nach dem großen Glück. In Zusammenarbeit mit SPIEGEL ONLINE ist während der Sendung ein Chatroom für Internet-Kommunikation eingerichtet. SAMSTAG 22.00 – 00.05 UHR VOX SPIEGEL TV DISCOVERY CHANNEL Zwei riesige Stoßzähne ragen aus dem tiefgefrorenen Mammut, das Wissenschaftler Bernard Buigues aus dem Eis der sibirischen Halbinsel Taimyr grub. SPECIAL People’s Century – Das Jahrhundert Der verlorene Frieden Dritter Teil der zehnteiligen Dokumentationsreihe. 347 Register ihr eine riesige Fangemeinde einbringen. Mit ihrer Romanserie um einen Planeten namens „Darkover“ hatte sie ihren ersten großen Erfolg. Doch erst mit dem 1118-Seiten-Wälzer „Die Nebel von Avalon“ (1982), einer feministischen Variante der Artus-Sage, gelang ihr der Aufstieg aus der Trivialklasse in einen höheren Rang der Unterhaltungsliteratur – mit einem Millionenverkauf allein im deutschsprachigen Raum. Im Sog des „Avalon“-Erfolgs stiegen auch ihre folgenden Werke „Das Licht von Atlantis“ und „Die Feuer von Troja“ zu Bestsellern auf. Marion Zimmer Bradley starb – wie erst jetzt bekannt wurde – am 25. September in ihrem kalifornischen Wohnort Berkeley an den Folgen eines Herzanfalls. Gestorben DPA MODERN ART STUDIO Nathalie Sarraute, 99. Die junge, als Natascha Tschernjak in Russland geborene Schriftstellerin war überzeugt, dass nach Dostojewski, Proust und Joyce der große Roman seinen Zenit überschritten hatte; also schuf die 32-jährige Rechtsanwältin ihren eigenen Stil – „le nouveau roman“. Obwohl Jean-Paul Sartre bereits dem Werk „Portrait eines Unbekannten“ ein Vorwort widmete, blieb die Kritik zunächst kalt, und das Hauptwerk „Tropismes“ wurde erst nach 17 Jahren als großer literarischer Wurf anerkannt. Die „Hohepriesterin des Nichtkommunizierbaren“ („Le Figaro“) betrieb mit Essays und Dramen für ein „Ja oder für ein Nein“ als Zentrum einer Literatengruppe mit Alain Robbe-Grillet und Michel Butor eine komplizierte Wirklichkeitssuche, die zu Weltruhm führte. Nathalie Sarraute starb vergangenen Dienstag in Paris. ben von Romanen, die im Genre ScienceFiction und Fantasy-Literatur angesiedelt waren, zu dem sich die im Staat New York geborene Tischlertochter besonders hingezogen fühlte, war in den fünfziger Jahren eher ungewöhnlich für eine Frau. Aber gerade das Einbeziehen von „starken Frauengestalten“, von weiblicher Intuition, von frauenfreundlichen Utopien in eine von Technik dominierte Männerdomäne sollte 348 d e r Ottfried Hennig, 62. Er spannte sich vor den schleswig-holsteinischen CDU-Karren, als der nach der Barschel-Affäre am tiefsten im Dreck steckte. Den Delegierten beim Wahlparteitag 1989 rief der Bonner Re-Import zu: „Wer, wenn nicht wir, und wann, wenn nicht jetzt?“, und brachte die Landespartei mit Fleiß und Realitätssinn wieder in die Nähe von 40 Prozent. 1997 zog er sich, enttäuscht über mangelnde Unterstützung seiner Parteifreunde, aus dem Vorsitz zurück, um als Generalsekretär der Konrad-Adenauer-Stiftung nach Sankt Augustin zu gehen. Ottfried Hennig starb vergangenen Dienstag in Bonn an einer Krebserkrankung. s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 TEUTOPRESS Marion Zimmer Bradley, 69. Das Schrei- geborene Lehrersohn war ein vielseitig begabter Mann, der sich an der Universität genauso gut machte wie als Mitherausgeber der Zeitschrift „Neue Rundschau“ – doch Heckmann wollte lieber Schriftsteller werden. Und er fand mit ersten Erzählungen und den beiden Roman „Benjamin und seine Väter“ (1962) und „Der große Knockout in sieben Runden“ (1972) durchaus verdiente Beachtung. Es folgten Kinder- und auch Kochbücher – und erst 1994 mit „Die Trauer meines Großvaters“ wieder ein Roman. Bekannt war er zuletzt vornehmlich als Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt, deren Geschicke er 14 Jahre lang so unaufdringlich wie kompetent lenkte. Herbert Heckmann starb am vergangenen Montag in Bad Vilbel an den Folgen eines Schlaganfalls. DPA Franz Peter Wirth, 80. In grauer FernsehFrühzeit, als die Bilder noch schwarzweiß waren und live gesendet wurden, war der Theatermann Wirth der Erste, der sich an große, um eine TVspezifische Ästhetik bemühende Schauspiel-Inszenierungen wagte – von 1954 an in Stuttgart, von 1960 bis 1984 als Oberspielleiter der Bavaria in München. Klassiker (Schiller, Shakespeare) wie auch zeitgenössische Autoren (Sartre, Brecht, García Lorca, Anouilh) brachte er als stilbildender Pionier zuerst auf den Bildschirm. Sein Œuvre umfasst weit über hundert TV-Inszenierungen, darunter gewichtige Serien wie „Die Buddenbrooks“ oder „Ein Stück Himmel“, und er blieb bis in die neunziger Jahre produktiv. Franz Peter Wirth starb am 17. Oktober in Berg am Starnberger See. Herbert Heckmann, 69. Der in Frankfurt Werbeseite Werbeseite Personalien Laetitia Casta, 21, korsisches Top-Model, Schauspielerin AP (l.); SIPA PRESS (r.) („Asterix und Obelix“) und gerade von 36 000 französischen Bürgermeistern als Nachfolgerin von Schönheiten wie Brigitte Bardot und Catherine Deneuve zum neuen Modell für die Gipsbüste der nationalen „Marianne“ gewählt, sorgt ungewollt für einen Frauenansturm auf das Dorf Roulans nordöstlich von Besançon. Bürgermeister Georges Mailley, 72, hatte aus Protest gegen die „Personalisierung der Revolutionsfigur durch Show-Stars“ in seiner 1005-Seelen-Kommune am Doubs eine lokale Marianne-Wahl ausgeschrieben und der Siegerin die Vergipsung fürs Rathaus garantiert. Einzige Auflage: Die Casta-Rivalin muss in Roulans wohnen. Der Postwurf-Appell des Gaullisten richtet sich zwar nur an etwa 100 Mitbürgerinnen – „Alter, Brustweite und Beinlänge ohne Bedeutung“ –, elektrisierte aber Möchtegern-Mariannes im ganzen Land. Grund: Frankreichs größter TV Sender TF 1 hat sich die Rechte für die Protestwahl im November gesichert; nun lockt Fernsehruhm im Casta-Schatten. Mailley fühlt sich inzwischen „wie der Zauberlehrling“. Da es in Frankreich keine örtliche Meldepflicht gibt, kann jede Französin sich vorübergehend als „Roulannaise“ ausgeben. Der Dorfschulze („Ich habe wohl das Alter erreicht, um Dummheiten zu machen“) will zwar die hausgemachte Gips-Marianne („wie immer sie ausfällt“) in seine „Mairie“ stellen, hat sich aber abgesichert: Ihre schon hundert Jahre alte – anonyme – Vorgängerin „bleibt auch im Rathaus“. Casta, Casta-Büste (Montage) Frank McCourt, 69, in den USA lebender irischstämmiger Bestseller-Autor und Pulitzer-Preisträger („Die Asche meiner Mutter“), gab in der CBS-Sendung „60 Minutes“ ein gut gehütetes Geheimnis preis: Um ein Haar wäre die Asche seiner 1981 in New York verstorbenen Mutter Angela in einem Müllcontainer gelandet. Nach ihrem Tod sollte McCourts schauspielernder und trinkfester Bruder Einladung der drei skandinavischen Königspaare zur den Geburtsort der MutEröffnung des skandinaviter, ins irische Limerick, schen Botschaftskompleüberführen. Zur Übergabe xes in Berlin bat sie dartrafen sich die Brüder in um, einen Blick in das Wileiner Kneipe. Nach einigen ly-Brandt-Haus werfen zu Drinks wechselten die beidürfen. Vor dem Büro von den das Lokal und verBundeskanzler Gerhard gaßen die Asche an der Schröder bewunderte Rut Bar. Erst nach ausführliBrandt besonders eine cher Rekonstruktion des Rainer-Fetting-Skulptur ihnächtlichen Gelages fan- Brandt, Brandt-Skulptur res Ex-Mannes. „Die würden sie die Urne schließde ich am liebsten mitnehlich wieder – eben noch rechtzeitig. Mc- men – ein Herzstück“, bemerkte sie leise Court: „Die Schachtel sollte gerade weg- auf norwegisch mit unübersehbar feuchgeworfen werden.“ Der Schriftsteller nahm ten Augen und wandte sich auf deutsch den Zwischenfall mit Humor: „Wir Iren ha- an SPD-Pressesprecher Michael Donnerben keinen Respekt vor dem Tod. Er ist meyer: „Die könnte ich gut zu Hause geein großer Witz.“ brauchen.“ Doch der hatte selbst ein Auge auf die Plastik geworfen: „Eigentlich hatRut Brandt, 79, norwegische Ex-Frau des te ich ja gehofft, dass ich das gute Stück ehemaligen Bundeskanzlers und SPD-Vor- mal geschenkt bekomme, wenn ich in Rensitzenden Willy Brandt, schwelgte in senti- te gehe. Aber bis dahin müssen wir wohl mentalen Erinnerungen. Am Rande einer erst mal noch ein paar Wahlen gewinnen.“ F. OSSENBRINK Malachy, 67, die Urne in L. BURKE / PRESS (l.); J. COOK / PEOPLE WEEKLY (r.) Frank McCourt (u.), Bruder d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 G. HILGEMANN / ACTION PRESS Clement, Clement-Töchter Wolfgang Clement, 59, nordrhein-westfälischer Ministerpräsident, versucht die deutsch-französischen Beziehungen durch Heiratspolitik zu beleben. Als ihn während seiner zweitägigen Parisreise vergangene Woche bei einem Mittagessen der deutschfranzösischen Handelskammer der lothringische Weinhändler Robert Wagner, 54, aufforderte, Sprachkenntnisse und zwischenmenschliche Beziehungen („Meine drei Söhne sprechen fließend Deutsch und Französisch“) zu fördern, nahm Clement das persönlich: „Ich habe fünf Töchter, zwei davon sind noch frei.“ Spontan bot er an, sie „gerne mal herüberzuschicken“. Bemerkung eines Lobbyisten am Nebentisch: „So gründete man früher Dynastien.“ Später befielen den Ministerpräsidenten offenbar Zweifel, wie der Vorschlag bei seiner Familie ankommen würde. Er bat, Name und Alter der beiden Töchter nicht zu nennen: „Das verzeihen die mir nie.“ Felipe, 31, Kronprinz von Spanien und auf FOTOS: ACTION PRESS Brautschau, greift nach Ansicht der konservativen Madrider Tageszeitung „El Mundo“ nicht durchweg nach Partnerinnen von unanfechtbarem Niveau. Grund zum Naserümpfen bietet eine Liaison des Sannum Felipe d e r Thronfolgers mit dem blonden norwegischen Fotomodell Eva Sannum, 24, das gern Büstenhalter und Schlüpfer vorführt und kürzlich von Felipe in einem betont unauffälligen Hotel Oslos aufgesucht wurde. Jaime Peñafiel, Hofberichterstatter des „Mundo“, räumt zwar ein, es sei „besser, der Prinz stößt sich als Junggeselle die Hörner ab, als wenn er dies als Ehemann tut“. Doch übertreiben dürfe er es nicht: „Wenn der junge Mann tausende von Kilometern zurücklegt für ein Wochenende mit einem Model, hat das Königspaar in Madrid Grund zur Sorge.“ Die Norwegerin habe „ihre Titten auf allen Laufstegen der Welt dargeboten“ und komme darum als Gattin des Infanten nicht in Betracht: „Eine Königin von Spanien kann keine Vergangenheit haben.“ Neil Kinnock, 57, Vizepräsident der EUKommission, ist ein Kenner männlicher Gesprächsrituale. Bei der Eröffnung der tschechischen Botschaft in Brüssel klingelten einige Handys im Publikum, deren Besitzer geraume Zeit brauchten, die MiniGeräte stumm zu stellen. Das provozierte den Briten zu der hämischen Bemerkung, einzig beim Gespräch über diese Apparate prahlten Männer damit, den kleinsten zu haben. Oskar Lafontaine, 56, Politrentner und Buchautor („Das Herz schlägt links“), ist aus der SPD ausgeschlossen worden – bislang allerdings rein virtuell. Auf der Internet-Seite der Partei wurde sein Foto und sein Name aus der Liste der wichtigen Sozialdemokraten gestrichen. Nach seinem Rücktritt im März hatte Lafontaine dort noch Platz, seit kurzem aber ist der ExParteivorsitzende schlicht nicht mehr existent, nicht mal in der Rubrik „Historisches“. Ganz wohl scheint den SPD-Verantwortlichen bei dem virtuellen Bannstrahl aber nicht gewesen zu sein: Die Seitenbetreiber haben nur den Link zu Lafontaines Bild getilgt, es gibt also nichts mehr, worauf ein Nutzer klicken könnte, um ihn zu sehen. Die eigentliche Bilddatei ist aber immer noch vorhanden: Wer die richtige Adresse eingibt (www.spd.de/illus/personen/lafon.jpg), kriegt den Verfemten in voller Bildschirmgröße zu sehen. Ein Parteisprecher versichert, die Tilgung Lafontaines sei „kein politischer Akt“, sondern das Werk eines übereifrigen Mitarbeiters, und kündigte daraufhin an, demnächst eine Galerie ehemaliger Parteivorsitzender ins Netz zu stellen. s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9 351 Hohlspiegel Rückspiegel Aus „Sonntag aktuell“: „Wer heute seinen 80. Geburtstag feiert, dessen Überlebenswahrscheinlichkeit hat sich innerhalb weniger Jahrzehnte vervielfacht.“ Zitate Aus der „Mittelbadischen Presse“ Aus der „Main Post“ Aus der „Südwestpresse/Schwäbisches Tagblatt“: „Wenn W. K. von Valparaíso spricht, glänzen seine Augen. ,Das ist eine wunderschöne Stadt‘, sagt er. Mit den Händen malt der 62-Jährige die Silhouette in die Luft: Unten der Pazifik, der Hafen, die Business-City und oben am Berg entlang kleben die Armenviertel. Valparaíso, Küstenstadt im Süden Chiles – der Traum von W. K.“ Aus dem „Reutlinger General-Anzeiger“ Aus einer Anzeige in der Zeitschrift „Die Pirsch“ Der Fachdienst „w & v Compact“ 10/1999 über eine Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach: In der diesjährigen AWA First Class werden wieder das Kauf- und Konsumverhalten (nicht markenbezogen!) sowie die Mediennutzung von 6,42 Millionen Bundesbürgern ab 14 Jahren untersucht, die sich durch Lebensstil, Geld und Bildung von der großen Masse abheben (zum Vergleich: 1998 zählten die Allensbacher noch 6,6 Millionen Personen zur Crème de la crème). Lieblingslektüre dieser Premium-Zielgruppe ist nach wie vor DER SPIEGEL, der seine Reichweite auf 22,6 Prozent (1,45 Millionen Leser) steigern konnte. Die „FAZ“ zur Panorama-Meldung „Affären: ,Scheck vom Zwick‘“ (Nr. 42/1999): Bundesverkehrsminister Klimmt (SPD) gerät im Zusammenhang mit der Finanzaffäre um den Fußballclub 1. FC Saarbrücken weiter in Bedrängnis. Nach Informationen des SPIEGEL hat der bayerische Bäderunternehmer Johannes Zwick dem finanziell angeschlagenen Sportverein auf eine Bitte des damaligen saarländischen SPD-Fraktionsvorsitzenden Klimmt 100000 Mark gespendet. Klimmt wollte sich nach Angaben des SPIEGEL zu den Vorwürfen nicht äußern, sein Sprecher nannte sie jedoch gestern „haltlos“. Klimmt habe viele Sponsoren angesprochen. „Es ist doch nicht verboten, Spenden einzuholen.“ Wenn Klimmt den Zwick-Vorstand um eine Spende gebeten hätte, hätte das weder mit Veruntreuung noch mit Bestechlichkeit zu tun … Gegen Klimmt ermittelt zurzeit die Staatsanwaltschaft Koblenz … Aus der Familie Zwick nahe stehenden Anwaltskreisen hieß es gestern, eine Spende an den Fußballverein könne Anfang der neunziger Jahre durchaus geflossen sein. Der SPIEGEL berichtete … Aus einem Interview der Münchner „Abendzeitung“ mit dem Hamburger Autor und Journalisten Michael Jürgs zu seinem neuen Alzheimer-Buch auf die Frage: Ist das Thema Alzheimer für Sie jetzt abgehakt? – „Nein, es beschäftigt mich weiter … Weil wir immer älter werden, steigt ja auch das Risiko. Nur wer früh stirbt, bleibt gesund.“ Aus der Wochenendausgabe der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung“: „In Nohant befand sich der Landsitz der Schriftstellerin George Sand, die sich noch vor Chopins Tod vom Komponisten trennte.“ 352 … in Nr.32/1999 „Höchste Not“ u. a. über die Bemühungen des früheren Kanzleramtsministers Bernd Schmidbauer, die von der GuerrillaOrganisation ELN in Kolumbien entführten Geiseln freizubekommen. In die Gespräche um die Freilassung der Geiseln scheint Bewegung gekommen zu sein. Schmidbauer, der im Juni zwar nicht an der Freilassung aller Geiseln mitwirken, jedoch zur Befreiung von 41 beitragen konnte, ist weiterhin in die schwierigen Bemühungen zur Freilassung weiterer Geiseln eingeschaltet. Dabei hofft er, die Befreiung aller Geiseln verwirklichen zu können. d e r s p i e g e l 4 3 / 1 9 9 9