DER SPIEGEL Jahrgang 1999 Heft 41
Transcription
DER SPIEGEL Jahrgang 1999 Heft 41
DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN Hausmitteilung 11. Oktober 1999 Betr.: Titel, SPIEGEL-Almanach W er kennt Jenny Erpenbeck, Elke Naters und Thomas Lehr? Wem sagen Karen Duve und Benjamin Lebert etwas? Niemand muss sich grämen, mit den Namen dieser Nachwuchsautoren – noch – nichts anfangen zu können, die auf dem SPIEGEL-Titelbild für die junge deutsche Literatur trommeln: Die Schriftsteller selbst wussten sogar nicht alle voneinander, als sie zum Fototermin nach Hamburg reisten. Dort drückte ihnen SPIEGEL-Fotografin Monika Zucht nacheinander eine rot-weiße Trommel in die Hand und ließ sie das InstruThomas Lehr Elke ment rühren. Thomas Brussig Naters Thomas Benjamin – er ist immerhin vielen durch Brussig Lebert seinen Roman „Helden wie wir“ bekannt – drosch gleich so begeistert auf das Gerät ein, dass die Fotografin um Mäßigung bat: „Das Ding ist heilig und hoch versichert.“ Es war schließlich jene OriKaren ginal-Trommel, die RomanDuve Held Oskar Matzerath in der Schlöndorff-Verfilmung von Günter Grass’ „Blechtrommel“ schlug und die seither im Deutschen Filmmuseum in Frankfurt am Main ausgestellt ist. Die Verbindung zum frisch gekürten LiteraturnobelpreisJenny Erpenbeck träger ist gewollt: „Die deutschen Talente sind seine literarischen Enkel“, sagt SPIEGEL-Redakteur Mathias Schreiber. Die für den Titel ausgewählten sechs Autoren stehen dabei auch für andere – es gibt noch einige mehr, die zu den Hoffnungsträgern zählen. Aber jene sechs Literaten sind den SPIEGEL-Kulturredakteuren durch ihre jüngsten Werke besonders aufgefallen. Schreiber: „Sie missachten literarische Theorien und Dogmen und erzählen so saftig, unterhaltsam und unbekümmert wie einst der junge Grass“ (Seite 244). Zur Frankfurter Buchmesse kommt der SPIEGEL mit einem großen Sonderteil. Darin enthalten sind Tipps und Empfehlungen für Lesehungrige und Wissbegierige. Wer von zu Hause aus in einer virtuellen Bibliothek stöbern möchte, kann zudem auf das Oktober-Heft von SPIEGEL Spezial („Die Zukunft des Lesens“) zurückgreifen. Dem Reportage-Magazin liegt eine CD-Rom mit rund einer Million Buchtiteln und Hinweisen auf Autoren, Preise und Verlage bei. R echtzeitig erscheint auch der neue SPIEGEL-Almanach – ein „Welt-Jahrbuch 2000“ der besonderen Art: einerseits ein Lexikon mit Zahlen, Daten und Analysen über alle Länder der Erde; andererseits ein Kompendium mit einer Chronik der laufenden Ereignisse, den Themen und Personen des Jahres, Nachrufen, Darstellungen internationaler Organisationen und einem großen Sonderteil mit Rückblicken auf das 20. Jahrhundert. Das alles gibt es auf 640 illustrierten Seiten und zudem auf einer CD-Rom. Heinz P. Lohfeldt, verantwortlicher Redakteur: „Das Jahrbuch 2000 ist nicht nur ein zuverlässiges Nachschlagewerk, es lädt auch zur Lektüre ein.“ Im Internet: www.spiegel.de d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 3 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite In diesem Heft Frankfurter Buchmesse: Neue Romane und Erzählungen in der Kritik .......................... 262 Rüstzeug für die Jahrtausendwende – neue Sachbücher............................................... 284 Gedichte von Schauspieler Manfred Krug ......... 294 Der Friedenspreisträger Fritz Stern über die zwei deutschen Diktaturen ........................... 296 Die aktuelle Literatur aus Ungarn .................... 304 Deutschland Panorama: Anklage gegen Fußball-Star Yeboah / Papst lässt Bischöfe abblitzen............... 17 Regierung: Gerhard Schröder geht auf seine Partei zu .................................................... 22 Sozialstaat: SPIEGEL-Gespräch mit Wirtschaftsminister Werner Müller über notwendige Reformen......................................... 26 SPD: Oskar Lafontaine zwischen Ehrgeiz und Resignation..................................... 34 CDU: Reserve-Kanzler Helmut Kohl................... 38 Spionage: Handys als Wanzen........................... 42 Minister: Jürgen Trittin gibt den Staatsmann ...... 50 Arzneimittel: Preistricks der Pharmaindustrie .... 56 Gesundheit: Spar-Therapie in Südbaden ........... 57 Grenzverkehr: Sex und Billigbenzin locken hunderttausende nach Tschechien ...................... 62 Einheit: Wie Honecker ganz Deutschland regiert hätte........................................................ 69 DDR: Geburtstagsfeiern für die untergegangene Republik .................................. 112 Sprachenstreit: Muss die EU Deutsch dolmetschen?....................................... 114 Affären: Verkehrsminister Klimmt im Saar-Filz.. 116 NS-Verbrechen: New Yorker Nazi-Jäger belastet Bundesverdienstkreuzträger ................ 123 100 Tage im Herbst Wende und Ende des SED-Staates (3): „Keine Gewalt!“ – Die DDR am Rande des Bürgerkriegs ............................................. 77 Porträt: Kurt Masur – Dirigent der Wende ... 100 Analyse: Das Gewaltpotenzial der DDR ...... 105 Habibie: Geld aufs Privatkonto? Habibie Saar-Filz belastet Klimmt N. MASKUS F Durch seine egomane Buch-Kampagne gegen Gerhard Schröder hat es Oskar Lafontaine mit der Mehrheit seiner Genossen verdorben. Doch mit dem Kaschmir- und Cohiba-Kanzler können sich altgediente Sozialdemokraten auch nicht identifizieren. Nun will Schröder das Herz der Partei für sich gewinnen. Sein künftiger Generalsekretär Franz Müntefering bereitet mit seinen Wahlkampf-Experten eine Kampagne zum Parteitag im Dezember vor, die das Image Schröder vom Zigarren rauchenden Genossen der Bosse sozialdemokratisieren soll. Der dritte Rivale in der alten SPD-Troika, Verteidigungsminister Rudolf Scharping, zeigt derweil immer ungenierter seinen Führungsanspruch. Lafontaine AP Seite 134 Während Indonesiens Staatspräsident Bacharuddin Habibie in Jakarta um seinen Posten kämpft, droht ihm Ärger aus Deutschland: Aus Unterlagen des Ferrostaal-Konzerns ergibt sich der Verdacht, dass Habibie von der Firma 200 000 Mark auf ein Privatkonto überwiesen bekam. FerrostaalChef Klaus von Menges kennt Habibie seit langem und macht gute Geschäfte mit Indonesien. Er soll auch Geld an den derzeitigen Industrieminister Indonesiens überwiesen haben. Seite 116 Die Filz-Affäre um Zuwendungen eines Unternehmers für den 1. FC Saarbrücken und Verkehrsminister Reinhard Klimmt weitet sich aus. Eine Ex-Ministerin intervenierte im Sinne des Geldgebers, Polizisten durchsuchten eine SPD-Wahlkampfagentur. Wirtschaft Trends: Deutsche Konkurrenz für Moody’s / Weniger Subventionen für BMW?..................... 125 Geld: Blase an der Wall Street? / Erholung in Lateinamerika ............................................... 127 Vermögen: Die Regierung will Stiftungen nach US-Vorbild fördern ................................... 128 Renten: Neue Allianz für die Zwangsrente ...... 130 Affären: Schmiergeld für Habibie? ................... 134 Chemie-Industrie: Bayer braucht einen Partner .................................................... 138 Banken: Dresdner-Bank-Chef unter Druck ...... 142 Standort: Warum DaimlerChrysler in Deutschland bleibt ........................................ 146 Reformen: Polens Aufstieg ............................... 148 Luftfahrt: Verworrene Allianzen, verärgerte Kunden ............................................ 155 Medien Trends: ARD baut Filmhandel aus / „Bild“ verbannt Pin-up-Girls ............................ 159 Fernsehen: Sinkende Quoten für Rotlicht-Filme.............................................. 160 Vorschau ........................................................... 161 TV-Konzerne: Kirch ordnet sein Imperium ....... 162 6 F. OSSENBRINK R Seiten 22, 34 FOTOS: M. DARCHINGER A Der Kampf ums Herz der SPD K.-B. KARWASZ Titel Vorbild Grass: Eine neue deutsche Dichtergeneration meldet sich zu Wort............. 244 Junge Literaten im Globetrotter-Fieber............. 246 Die Erzählerin Karen Duve über ihren Debüt-Erfolg „Regenroman“ und das Thema Sexualität ................................. 255 Mobil-Telefonierer Minister Fischer, Scharping, Grünen-Abgeordneter Özdemir Lauschangriff per Handy Seite 42 Sicherheitsexperten warnen vor einer neuen Abhörmöglichkeit: Mit dem Handy habe die Wanze laufen gelernt – eine einfache Manipulation ermögliche einen Lauschangriff aus sicherer Distanz. Jetzt prüft die Regierung ein Verbot für MobilTelefone im Kabinettssaal und in vertraulichen Sitzungen der Parlamentsgremien. d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Presse: Die deutsche „Financial Times“ übt den Ernstfall ............................................... 165 Fernsehfilm: Die TV-Version von Victor Klemperers Tagebüchern ........................ 172 Zeitungen: Die Macht des „Hollywood Reporter“ ..................................... 181 Gesellschaft K. MÜLLER Uno-Administrator Koenigs, Polizist in Mitrovica Sport Fischers Freund im Kosovo Seite 228 Als Stadtkämmerer von Frankfurt sorgte der Grüne Tom Koenigs für geordnete Finanzen. Dann hievte Außenminister Fischer seinen Freund auf den Posten des UnoAdministrators im Kosovo. Dort soll er eine demokratische Verwaltung aufbauen. Die neue Normalität des David Bowie Seite 196 Sein neues Album trauert der großen Liebe nach, aber privat ist Rock-Superstar David Bowie, wie er dem SPIEGEL gesteht, „ein Baby, das vor Glück nur so strampelt“. Er, der einst so „Extreme“, setzt nun auf „vertraute Dinge“ und „normale Songs“. Trip in die Tiefsee Seite 340 R. B. WHITE Szene: Comeback des Palästinensertuchs / Verein für Parkplatzraver.................................. 185 Mode: Wolfgang Joop über Pelz-Pomp und die neue Pop-Kundschaft ........................... 186 Unternehmen: Sabbaticals für Aufsteiger......... 192 Rockstars: SPIEGEL-Gespräch mit David Bowie über Altersweisheit und seinen Börsengang.............. 196 Immobilien: Vertreibung von Sylt .................... 204 Erstmals starteten Urlauber mit einem U-Boot zu den „Schwarzen Rauchern“ am Ozeangrund. Jeden Teilnehmer kostete die abenteuerliche Tauchfahrt 35 000 Mark. Der amerikanische Reiseveranstalter hat Schaulustige auch schon zum „Titanic“Wrack kutschiert und plant Reisen ins All. „Schwarze Raucher“ am Tiefseegrund Märkte: Amerikas und Europas Sportwelten wachsen zusammen ...................... 208 Warum ein Milliardär zwei deutsche Eishockeyclubs kauft......................................... 210 Eiskunstlaufen: Tonya Hardings Comeback ..... 215 Ausland Panorama: Glücksspielgelder für Washingtons Wahlkampf / Kirchenkampf zwischen Christen und Muslimen im Heiligen Land......... 219 Kaukasus: Moskaus zweiter Eroberungsfeldzug in Tschetschenien................ 222 Banken: Anklage gegen russische Geldschieber ...................................... 225 Österreich: Haider will an die Macht............... 226 Kosovo: Ein Grüner soll Frieden schaffen ........ 228 Großbritannien: Chaos bei der Bahn ............... 232 Weltbevölkerung: Kampf ums Wasser ............. 234 Zeitgeschichte: Generalprobe für die Bombardierung Berlins ..................................... 238 Spiegel des 20. Jahrhunderts Das Jahrhundert der Massenkultur: Gerd Koenen über die Dichter und die Macht ............................................... 311 Kultur Szene: Exzentrische Frauenporträts von Annie Leibovitz / Peter Herrmann über Dreh-Erfahrungen in Iran ................................. 325 Musicals: Die Illusionsmaschine läuft wieder ...................................................... 328 Museen: Christoph Stölzl über seinen Abschied vom Deutschen Historischen Museum .............. 331 Nobelpreis: Rudolf Augstein – Erinnerungen an Günter Grass................................................ 332 Bestseller ........................................................ 334 Wissenschaft + Technik Seite 186 Abendkleider aus Krokodilleder, mit toten Tieren dekorierte Hüte, Röcke aus Pelz, BHs aus Federn – für die Haute-Couture- und Prêt-à-porter-Kollektionen, schreibt der Modedesigner Wolfgang Joop, ist in diesem Jahr kein Material zu luxuriös. Und Pelz ist wieder gesellschaftsfähig. Weil der alte Geldadel aber an pompösen und effektheischenden Entwürfen das Interesse verloren hat, haben die Couturiers eine neue Kundschaft gesucht und gefunden: die Popstars. Haute-Couture-Entwurf von Dior CORBIS SYGMA Pomp für Popstars Prisma: Rätselhaftes Lachssterben in den USA / Neuer Super-Kat für Pkw................ 337 Prisma Computer: Trend zum Sub-Notebook / Linux-Programmierer Dalheimer über das Geschäft mit kostenloser Software ..... 338 Tourismus: Tauchfahrten zum Tiefseegrund ...... 340 Medizin: Werden tausende Briten am Rinderwahn sterben? .................................. 343 Preise: Ehrung für die überflüssigsten Forschungsarbeiten der Welt............................. 348 Rüstung: Erster Test des amerikanischen SDI-light-Programms ........................................ 350 Meteorologie: Wolkenmelken mit Salzkristallen .................................................... 352 Briefe ................................................................... 8 Impressum.................................................. 14, 356 Leserservice .................................................... 356 Chronik ............................................................ 357 Register ........................................................... 358 Personalien...................................................... 360 Hohlspiegel/Rückspiegel ............................... 362 7 Briefe Olaf Plotke aus Kleve (Nrdrh.-Westf.) zum Titel „Gen-Projekt Übermensch“ SPIEGEL-Titel 39/1999 Gentechnik als Zaubermittel Nr. 39/1999, Titel: Gen-Projekt Übermensch Auch wenn Sloterdijk nur vage und bewusst missverständliche Andeutungen über konkrete Gen-Ethik macht: Die Diskussion ist notwendig! Die Gentechnik ist entdeckt, und wir müssen einen Preis dafür zahlen. Nur über die Art und die Höhe können wir entscheiden oder uns von denen, die bereits jetzt aus der Gentechnik Profit schlagen, den Preis vorschreiben lassen. Köln Andreas Mühldorfer Wann also kommt die Talkshow, in der Herr Sloterdijk, vielfach geklont, als Moderator, Gäste und Publikum in einem, gänzlich unbelästigt von „völlig naturbelassenen Denunzianten“ (vulgo: lumpigen Idioten) sich an seinen ebenso abgestandenen wie hinterlistigen Wortdrechseleien befriedigen kann? Wackernheim (Rhld.-Pf.) Wolfgang Adam Vielen Dank dafür, dass Sie Sloterdijk als einen profilierungssüchtigen Schwätzer entlarvt haben. Ich hoffe, dass durch die Diskussion über seine wirren Thesen klar wird, dass wir schon seit längerem eine schleichende Erosion der Menschenwürde erleben. Brüssel Dr. Peter Liese CDU/MdEP, Vors. d. Arbeitsgruppe Bioethik Gene allein genügen nicht, eine Persönlichkeit festzulegen. Schneverdingen (Nieders.) Dr. Karl Wulff Seit Urzeiten kämpft der Mensch gegen die destruktiven Seiten seiner Natur. Auch Aufklärung und Humanismus änderten seine Destruktivität nur marginal – ein Fiasko der Geistesgeschichte. Aber aussprechen darf man diese kränkende Wahrheit nicht. Und jede Überlegung, die Natur des Menschen (gen)technisch zu evolutionieren, ruft Abwehrreflexe hervor, die üblichen Beschwörungen, von Frankenstein bis Faschismus, wie jetzt gegenüber Sloterdijk. Dabei ist es gerade seine Stärke, dass 8 er nicht vorschnell Antworten gibt, sondern nur eine notwendige Diskussion anstößt, die anderswo längst geführt, allein bei uns in Deutschland tabuisiert wird. Köln Ben-Alexander Bohnke Herr Sloterdijk scheint der festen Überzeugung zu sein, dass wirklich dringend benötigte menschliche Qualitäten, wie zum Beispiel Liebesfähigkeit, bei Menschen wie ihm nur angezüchtet werden können. Münster (Nrdrh.-Westf.) Rainer C. Kohnen Braunschweig Martin Vogt Arbeitskreis Bioethik Mit der Eugenik – sobald sie mal zum Nutzen der Menschheit gereicht – wird es wohl so sein wie mit den meisten Errungenschaften der Wissenschaft: Sie wird ausschließlich der Ersten Welt, die sie wohl am wenigsten braucht, zur Verfügung stehen. Hollywood Sebastian Zidek Aus dem „Nutzen“, den manche darin sehen, einen Menschen – den zweifellos mehr als nur sein Körper ausmacht – zu klonen, spricht meines Erachtens weniger wissenschaftliches Interesse als vielmehr die Unfähigkeit zu akzeptieren, was ebenfalls zur natürlichen Ausstattung eines Menschen gehört: der Tod beziehungsweise das Sterben. Bonn Jens Krischker Da wird das „Jahrhundert der Biologie“ mit seinen grundlegenden ethischen, sozialen und rechtlichen Fragestellungen verkündet, deren Beantwortung die Zukunft des Menschen bestimmen wird. Dabei wird leider übersehen, dass die Züchtung und Verbesserung einer abstrakten Spezies „Mensch“, die (wenn auch erst nur gedankliche) Eliminierung der Individualität und Kultur zur Voraussetzung haben. Trotz dieses zerstörerischen Eingriffspotenzials in den indivi- Geklonte Kälber: Erfolg durch Unvollkommenheit duellen Lebensbereich sowie in unser Kulturgefüge werden die zukünfti- Über Sloterdijks provokante und fragwürgen als auch schon praktizierten techni- dige Wortwahl und seine ,,menschlich-allschen Anwendungsmöglichkeiten in der zumenschliche“ Reaktion auf die aufflamÖffentlichkeit nicht diskutiert. Dies ver- mende Kritik lässt sich sicherlich streiten. wundert auch nicht, lässt sich die in der Neben der durch seinen Vortrag angeBioethik-Konvention des Europarates ver- stoßenen oder neu belebten Diskussion ordnete „public education“ doch am ehes- über konkrete Fragen der Bioethik macht ten als „durchorganisierte Desinformati- sein Text aber vor allem auch darauf aufon“ zur Durchsetzung wirtschaftlicher, merksam, dass es bei grundsätzlichen Pro- Vor 50 Jahren der spiegel vom 13. Oktober 1949 Licht im Frankfurter Zoo-Skandal Vergiftete Tiere sollten Direktor Grzimeks Ruf ruinieren. Regierungskrise in Paris Henri Queuille, der achte Ministerpräsident nach dem Krieg, tritt zurück. Prag im Kampf gegen die katholische Kirche Dirnen gegen Dorfpfarrer. Dritter russischer Atombombenversuch Robert Tellmann gibt Aufschluss über die sowjetische Rüstungsforschung. Handelsabkommen zwischen West- und OstDeutschland Unterzeichnung nach fünf zähen Verhandlungsmonaten. Be-Bop erobert die Welt Benny Goodman geht auf Europatournee. Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter http://www.spiegel.de Titel: Otto Grotewohl wird Ministerpräsident der DDR d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 AP „Ich glaube nicht, dass Nietzsches ,Übermensch‘ züchtbar ist. Er hat ihn als moralisch höherwertiges Wesen erklärt. Und Moral wird sich auch in 1000 Jahren nicht genetisch züchten lassen.“ medizinischer und politischer Interessen beschreiben: Sie reicht von der Lüge über das Vorenthalten von Informationen bis hin zur medialen Propagierung eines Lebens ohne Leiden, Schmerz und Not, also eines alten Menschheitstraums, zu dessen Erfüllung die Gentechnik als Zaubermittel dienen soll. Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Meiningen (Thüringen) Andreas Woyke Das ganze Lebensprinzip basiert auf dem grässlichen Mechanismus der Selektion. Am Ende stehen Opfer und Ungerechtigkeiten: Intelligenz, Aussehen, Begabung sind in mancher Hinsicht diskriminierend verteilt. Dazu kommen Krankheiten, die den Menschen quälen. Gäbe es einen Gott, müsste man ihm unterlassene Hilfeleistung vorwerfen.Wie desillusionierend muss diese Erkenntnis für Christen sein. An einen allmächtigen guten Gott glaubend, müssen sie sich mit dem Gedanken plagen, einen Genforscher die nicht gemachten Hausaufgaben ihres Gottes erledigen zu sehen. Köln Leopold Janosch Liegt nicht der Erfolg unserer Spezies in unserer „Unvollkommenheit“ und der damit verbundenen Vielfalt? Ich glaube, Sloterdijk ist mit seinen provokanten Thesen über das Ziel hinausgeschossen. Gleichwohl hat er damit (freiwillig oder unfreiwillig) auf einen echten Mangel hingewiesen: Die Entwicklung der menschlichen Ethik hat in keiner Weise Schritt gehalten mit dem technischen Fortschritt. Grebenstein (Hessen) Rainer Degethoff Wer manipuliertes Leben aussetzt oder auch unbeabsichtigt entkommen lässt, hat keine Gewissheit, was das langfristig bedeutet. Salzburg Gerald Lehner Eine hohle Nuss Nr. 39/1999, Regierung: Grüne in Untergangsstimmung Ein Everybody’s Darling macht, als heimlicher oder offizieller Vorsitzender, die Partei, die sich als Avantgarde betrachtet, nur für Schizophrene wählbar. Hannover Dietrich Jahn Die Grünen haben das gleiche Problem wie die FDP in der Koalition mit den Unionsparteien bis 1998: Sie haben als kleinerer Koalitionspartner nicht die Macht, sich im großen Maße in ihren Vorstellungen gegen die Sozialdemokraten durchzusetzen, und verlieren dadurch an Profil. Das Problem ist zudem, dass die SPD nicht ökologisch ist – immer noch das Hauptattribut der Grünen –, genauso wie die Unionsparteien nicht liberal waren und sind. Uttenreuth (Bayern) Claus Carl Jakob Das Problem der Grünen besteht darin, dass sie mit ihrer Technophobie und Gutmensch-Idylle eigentlich ein konservatives 12 d e r K.-B. KARWASZ blemen des allgemeinen Bewusstseinszustands nicht mehr ausreicht, auf die abgegriffenen Schablonen von „links“ und „rechts“ zurückzugreifen. Weder ist die Kritische Theorie tot, noch gehört Heideggers Philosophie in ein vermeintlich „rechtes“ und antidemokratisches „Eck“. Farbbeutel-Opfer Fischer (in Bielefeld) Berechtigte Endzeit-Angst Theaterstück aufführen, welches auf der Heidi-Wiese weit rechts von der CDU spielt. Wenn es den Grünen nicht gelingt, diesen Gegensatz aufzulösen, wird die Entwicklung hin zu zwei grünen Parteien unaufhaltsam sein: die eine grün mit roten Tupfen und die andere – ja, was für Farbe kriegt Grünzeug denn, wenn es alt wird? Leinburg (Bayern) Albert Loohuis Ohne echte Galionsfigur geht es einfach nicht, der Partei kann nicht oberste Leitungsbefugnis zuerkannt werden – es bedarf eines einzelnen Leiters wie Fischer. Bochum Markus Pietraszek Was ist noch übrig von der Vision, für die die Grünen einst standen? Eine Potemkinsche Fassade, eine hohle Nuss. Essen Jürgen Törber Die Endzeit-Angst der Grünen ist berechtigt, ihr Absturz wird gnadenlos weitergehen. Wer seine Wählerschaft missbraucht (Nato-Krieg gegen Jugoslawien, Atomkraftausstieg am Sankt Nimmerleinstag, kein wirkungsvoller Einstieg in den Abbau der Arbeitslosigkeit, Sparen bei den Rentnern), wer meint, ein Einzelner wie Joschka könne irgendetwas zum Guten wenden, was dann mit der Geschichte der Grünen absolut nichts mehr zu tun hat, der hat seine Chance eindeutig verspielt. Unsere Zeit ist überreif für ein neues Parteienprojekt. Berlin Christoph Schlüter Die Grünen sollten sich damit abfinden, dass sie nicht in die Regierung gehören, ihr Status bedient nun mal – noch – eine Randgruppe, also stabile fünf Prozent. Belgern (Sachsen) Michael Schmidt Grob fahrlässig und lieblos Nr. 39/1999, Senioren: Elektronische Fußfesseln für Heimbewohner Natürlich geht meine Großmutter gern spazieren. Raus aus dem Heim, rechts runter in den Ort – irgendjemand bringt sie dann zurück. Aber wehe, die Oma verlässt das Heim und wendet sich nach links. Vergangenes Jahr ist eine der Damen aus dem Heim dort spazieren gegangen. Sie stürzte in einem Maisfeld. Man fand sie Monate später beim Mähen. Ich s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Briefe bin froh, dass meine Oma den „Chip am Kleid“ hat. Waldsassen (Bayern) Kathrin Frowein Pfarrerin Wenn man als Angehöriger einer Freiwilligen Feuerwehr mit hundert oder mehr ehrenamtlichen Kräften öfter, auch nachts, stundenlang in unwegsamem Gelände vermisste Personen gesucht und gelegentlich nicht mehr rechtzeitig vor deren Ableben gefunden hat, eben weil sie keinen „Chip am Kleid“ trugen, steht man der kritischen Diskussion um die technische Überwachung von Patienten mit Altersdemenz verständnislos gegenüber. Jesteburg (Nieders.) Michael Bruhn Wir legen Wert auf die Feststellung, dass unsere Systeme zur Desorientiertensicherung diskret sind. Die akustischen oder optischen Alarmmeldungen werden dezent direkt an das Pflegepersonal weitergeleitet. Die betroffene Person sowie andere Bewohner erfahren keinesfalls „schrilles Piepen“. Sich darauf zu verlassen, dass alte Menschen „immer irgendwie“ zurückkommen, halten wir für grob fahrlässig und lieblos. Buchholz (Nieders.) Silke Wiechers Witec Elektronik GmbH Reine Propaganda Nr. 39/1999, Taiwan: Tigerstaat mit wackligem Fundament Natürlich ist die Bevölkerung in Taiwan sehr dankbar für die Hilfe, die von vielen Ländern, darunter auch Deutschland, angeboten und geleistet wurde. Was jedoch das „Hilfsangebot“ aus Peking und seine Ablehnung durch Taiwan betrifft, sollte man unbedingt Folgendes wissen: Peking hat es beispielsweise nicht erlaubt, dass das russische Rettungsteam über das Territorium der VR China nach Taiwan fliegt. Das Resultat: eine um zehn Stunden verspätete Ankunft, die vermutlich Menschenleben gekostet hat. Angesichts dessen ist es sehr verständlich, dass die Taiwaner Pekings Angebot abgelehnt haben. Die Intention ist nämlich nicht „Hilfe“, sondern „Bevormundung“. Si-Ping Ou SIPA PRESS Hagen (Nrdrh.-Westf.) Erdbebenschäden in Taiwan Statt Hilfe Bevormundung d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Das Geschwafel von „wir sind alle ein Fleisch und Blut“ hat sich als reine Propaganda herausgestellt. Die Uno musste sich die Genehmigung Pekings einholen, um Hilfsaktionen einleiten zu können. Während die „Brüder und Schwestern in Taiwan“ noch ihre Toten bergen, feiert man mit großem Pomp den 50. Jahrestag der VR China. Taiwaner haben bei Naturkatastrophen in China in den letzten Jahren über 50 Millionen US-Dollar gespendet und ohne politisches Ballyhoo an die Betroffenen gebracht. Helmut Bolt Ho Taikuang The Taiwanese Student Association Neuer Mut und Hoffnung Nr. 39/1999, Partnerschaft: Wie Fernbeziehungen aufs Liebesleben wirken Marinesoldat beim Abschied (in Kiel) Platz für individuelle Freiräume In Ihrem Beitrag fehlt der Hinweis, dass die steuerliche Absetzbarkeit der durch doppelte Haushaltsführung entstehenden Mehrkosten nur für zwei Jahre möglich ist und dass das selbstverständlich nur für richtige Ehepaare (mit Stempel und Unterschrift) gilt. Lörrach Meine Erfahrungen sind eher gut, da die gemeinsame Zeit intensiver erlebt wird, die getrennte Zeit Platz für individuelle Freiräume bietet. Und das hat unserer zehnjährigen Ehe nicht geschadet. Kassel Köln Mark Steinhäuser Anstrengend ist das Fehlen einer Lebensmitte. Dieses Manko können auch Job und Freunde nicht mehr auffangen. Nachwuchs hat da kaum eine Chance. Es sei denn, einer von beiden gibt auf. Solange werden DB, Telekom und Mineralölgesellschaften fleißig weiter von uns subventioniert. Das ist gut für den Wirtschaftsstandort. Und wir können weiter das moderne und aufregende Leben der Menschen probieren, die immer unterwegs sind. Wir sind jung, dynamisch, flexibel und belastbar. Ganz so, wie gewünscht. Tolle Zeit, echt. Aus eigener Erfahrung möchte ich den zu Hause gebliebenen Frauen und Männern mit ihren Kindern Mut machen, mit der neuen Lebenssituation nicht wie mit einem rohen Ei umzugehen, die verbleibende Zeit nicht grundsätzlich anders zu verbringen als vorher und Konflikte, die oft ganz anders aussehen als in einer „normalen“ Partnerschaft, auf keinen Fall von Treffpunkt zu Treffpunkt zu verschieben. Eine Beziehung, die bis dahin liebevoll, offen und konstruktiv war, hat gute Chancen, es zu bleiben. Osnabrück Bad Homburg Dirk Jansen VERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe für Panorama, Spionage, Grenzverkehr, Einheit, Affären (S. 116), DDR, NSVerbrechen, Unternehmen, Immobilien: Clemens Höges; für Regierung, SPD, CDU, Minister, Gesundheit, Sprachenstreit: Michael Schmidt-Klingenberg; für Sozialstaat, Trends, Geld, Vermögen, Renten, Affären (S. 134), Chemie-Industrie, Banken, Standort, Reformen, Luftfahrt, TV-Konzerne, Presse, Zeitungen: Armin Mahler; für Arzneimittel, Prisma, Tourismus, Medizin, Preise, Rüstung, Meteorologie: Johann Grolle; für 100 Tage im Herbst: Jochen Bölsche; für Fernsehen, Fernsehfilm, Szene, Mode, Rockstars, Titel, Musicals, Museen, Bestseller: Dr. Mathias Schreiber; für Märkte, Eiskunstlaufen, Chronik: Alfred Weinzierl; für Panorama Ausland, Kaukasus, Banken, Österreich, Kosovo, Grossbritannien, Weltbevölkerung, Zeitgeschichte: Hans Hoyng; für Titel (S. 294): Dr. Rolf Rietzler; für Spiegel des 20. Jahrhunderts: Dr. Dieter Wild; für die übrigen Beiträge: die Verfasser; für Briefe, Register, Personalien, Hohlspiegel, Rückspiegel: Dr. Manfred Weber; für Titelbild: Stefan Kiefer; für Layout: Rainer Sennewald; für Hausmitteilung: HansUlrich Stoldt; Chef vom Dienst: Holger Wolters (sämtlich Brandstwiete 19, 20457 Hamburg) TITELFOTO: Monika Zucht Christiane Maerten Ich finde es Klasse, dass Frau Beyer und Frau Knöfel sich mit „Liebe in vollen Zügen“ dem Problem der Fernbeziehungen so kritisch angenommen haben. Allerdings habe ich die meiner Ansicht nach größte Gefahr der Fernbeziehungen in dem Artikel vermisst: Der hohe Stellenwert der Karriere verursacht ein familien- und somit auch gesellschaftsfeindliches Klima. Im Extremfall lassen sich Paare gar nicht erst auf Kinder ein. Gerade im Zusammenhang mit der „Baby-Lücke“ kann die bei uns vorherrschende karrierebezogene Einstellung noch zu einem großen Problem für die Zukunft werden. Hamburg 14 d e r Wangerland (Nieders.) Joachim Gramberger Bürgermeister der Gemeinde Blinder Wächter Nr. 39/1999, Strafjustiz: Der Fall Jenny Hans-Georg Stoll Danke für Ihren Artikel „Liebe in vollen Zügen“. Dieser macht mir, der auch eine Fernbeziehung führt, neuen Mut und Hoffnung, indem er die Probleme einer solchen Beziehung realistisch beschreibt, aber auch einen positiven Schluss lässt: dass solche Beziehungen doch eine Chance haben. Ina Laschinski Allein in den drei Kurhäusern des Ortes werden jährlich über 4500 Kinder mit Erfolg therapiert, die an Atemwegs- und Hauterkrankungen leiden. Es handelt sich hierbei um Kinder aus dem gesamten Bereich der Bundesrepublik. Die Gemeinde Wangerland, zu der Horumersiel-Schillig gehört, versucht als erste Gemeinde im Weser-Ems-Gebiet, die bindenden Regelungen des Paragrafen 35 Baugesetzbuch durch die Änderung des Flächennutzungsplans einzuschränken, um durch die Schaffung von „Schutzzonen“ gerade an der direkten Küstenlinie Bereiche festzulegen, in denen eine derartige Expansion der Landwirtschaft nicht mehr möglich ist. Katrin Klöpping s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Die Prognostizierbarkeit menschlichen Handelns hat Grenzen, wie wir aus den Rückfallquoten vorzeitig entlassener Straftäter wissen. Aus meiner Tätigkeit sind mir Fälle bekannt, in denen das Gericht entgegen den fachlichen Erkenntnissen und Empfehlungen des Jugendamtes die Rückführung von Kindern zu den leiblichen Eltern angeordnet hat, wo diese Kinder dann zu Schaden gekommen sind. Kein Staatsanwalt hat diese Richter angeklagt. Steht im Unterschied zu Medizinern und Sozialarbeitern das Richteramt außerhalb des Strafrechts? Berlin K.-H. Struzyna Jugendamtsleiter Das relativ junge Kinder- und Jugendhilferecht ist die Fortsetzung konservativer CDU-Politik und versagt nicht selten, wenn es um den Schutz von gefährdeten Kindern geht. Hier sind in erster Linie Politiker ge- Opfer Jenny fordert, neben diesem „Elternantragsgesetz“ ein „Kinderschutzgesetz“ zu erlassen. Sonst wird oder bleibt der Staat ein blinder Wächter. BILD ZEITUNG Das unmenschliche und unverschämte Verhalten Chinas sind die Gründe dafür, dass die Taiwaner die Hilfe aus Peking abgelehnt haben. Wir erwarten nicht, dass eine Regierung wie die chinesische, die seit Jahren eine Politik betreibt, die sich zum Teil gegen die Menschenwürde richtet, uns wie einen Partner gleichberechtigt behandelt. Bonn Nr. 39/1999, Umwelt: Allergien durch Geflügelfabriken? DPA Taipeh Mit Erfolg therapiert Mohrkirch (Schlesw.-Holst.) Christoph Malter Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit Anschrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen. Einer Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe ist ein Prospekt der Deutschen Bank, Frankfurt am Main, beigeklebt. Einer Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe liegen Beilagen der Firmen Günther Lotterie, Bamberg, Giordana, D’Alba und Cepiprint, Zürich, bei. Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Deutschland Panorama H. RAUCHENSTEINER Die Staatsanwaltschaft wirft den Angeklagten vor, dem Fiskus mehr als eine Million Mark an Steuern vorenthalten zu haben (SPIEGEL 40/1999). So sollen sie ein illegales „Steuersparmodell“ entwickelt haben, damit sich die Eintracht 1993 den teuren Star aus Ghana weiterhin leisten konnte. Die Bezahlung Yeboahs sei deshalb in zwei Teile zerlegt worden. Gegenüber dem zuständigen Finanzamt Hanau sei für den Kicker nur ein monatliches Bruttogehalt von 20 000 Mark angegeben worden. An eine Firma Aya Management Company Ltd. in Accra (Ghana) flossen – so die Ermittler – weitere 2,3 Millionen Mark für drei Jahre. Diese seien als Entschädigung der Eintracht für den Erwerb der Werberechte an Yeboah getarnt gewesen. Dadurch sollen der Verein Lohn- und Umsatzsteuer in Höhe von über einer Million Mark und Yeboah Einkommensteuer hinterzogen haben. Die Firma in Ghana war nach Erkenntnissen der Staatsanwaltschaft zunächst von dem Yeboah-Entdecker Attah Kyei und dem Spielerberater van Berk, der 200 000 Mark kassierte, gegründet worden. 1996 wurde der Fußballer Alleingesellschafter. Yeboah beglich seine Steuerschulden, rund 950 000 Mark plus Zinsen, nachdem er vor zwei Jahren vom englischen Fußballclub Leeds United wieder nach Hamburg wechselte. Angesichts der hohen Hinterziehungssumme drohen den Angeklagten Freiheitsstrafen. Während der Fußballer die Tricksereien einräumte, haben van Berk, der 40-malige deutsche Nationalspieler Hölzenbein und Steuerberater Knispel, der inzwischen auch als lizenzierter Spielervermittler tätig ist, zu den Vorwürfen bisher geschwiegen. Eintracht-Frankfurt-Spieler Yeboah (1993) STEUERHINTERZIEHUNG Firma in Ghana D ie Staatsanwaltschaft Frankfurt hat gegen den StürmerStar des Fußball-Erstligisten Hamburger Sport-Verein (HSV) Anthony Yeboah vor dem Landgericht Anklage wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung erhoben. Auch der ehemalige Manager Bernd Hölzenbein und Schatzmeister Wolfgang Knispel des Liga-Konkurrenten Eintracht Frankfurt sollen vor Gericht. Der Spielerberater Johannes van Berk wurde wegen des Verdachts der Beihilfe zur Steuerhinterziehung angeklagt (AZ: 94 Js 37644.3/98). KIRCHE Klare Weisung E schickt. Der Bischof von Münster, Reinhard Lettmann, erklärte in einem gesonderten Brief an Johannes Paul, er halte den Verbleib in der staatlichen Beratung „für moraltheologisch vertretbar“. Alle 13 Dissidenten beteuern, sie würden sich dem Papst beugen, wenn er klar und eindeutig die Verantwortung für den Ausstieg übernehme. d e r Runde macht Parteikarriere H DPA rneut brüskiert der Heilige Vater die deutschen Bischöfe: 13 Oberhirten, die sich in Briefen nochmals an den Papst gewandt haben, um ihre Bedenken gegen den Ausstieg der Kirche aus der Schwangerenkonfliktberatung vorzutragen, erhalten von Johannes Paul II. keine Antwort. Stattdessen wird der Chef der vatikanischen Glaubenskongregation, der deutsche Kardinal Joseph Ratzinger, sich „eindeutig“ zu den Episteln äußern. Die Bischöfe von Aachen, Trier, Essen, Limburg, Erfurt, Freiburg, Regensburg, Hildesheim, Magdeburg, Osnabrück, Hamburg und Passau haben ihre vom Papst abweichende Meinung in einem Schreiben nach Rom gePapst, deutsche Bischöfe SPD s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 amburgs Erster Bürgermeister steigt auf: Er soll finanzpolitischer Sprecher der Sozialdemokraten auf Bundesebene werden und damit in den engeren Führungskreis der Partei einrücken. Ortwin Runde, 55, Chef des rotgrünen Senats der Hansestadt, zuvor langjähriger Finanzsenator in Hamburg, ist bereits finanzpolitischer Koordinator der SPD-geführten Länder im Bundesrat und Vorsitzender des Vermittlungsausschusses von Länderkammer und Bundestag. Trotz dieser Ämter war der Parteilinke Runde bislang nie bundespolitisch aufgefallen. In der SPD wird seine Berufung daher als Geste des Parteivorsitzenden und Kanzlers Gerhard Schröder an den traditionellen Parteiflügel gewertet. 17 Panorama VERKEHR Staatliche Schiene N T. RAUPACH / ARGUS ordrhein-Westfalen will sich bei der Verkehrsministerkonferenz im November dafür einsetzen, dass die Schienenwege der zu privatisierenden Bahn öffentlich kontrolliert bleiben. „Es ist ein Fehler, die Trassen nicht in staatlicher Hand zu halten, das muss korrigiert werden“, fordert Jörg Hennerkes, Staatssekretär im Düsseldorfer Verkehrsministerium. Eine Regulierungsbehörde soll dann wie im Bereich der Telekommunikation, Wettbewerb und Sicherheitsstandards gewährleisten. Nur so sei das Ziel erreichbar, mehr Güter per Bahn zu transportieren. Bei der Bahn-Tochter DB Netz, so Hennerkes, sei nach der Umstrukturierung „unternehmerisches Denken noch nicht ausreichend eingezogen“. Fremden Anbietern werde der Zugang zur Schiene oft zu schwer und zu teuer gemacht. Güterverkehr der Bahn (in Maschen bei Hamburg) SPIONE FUSSBALL PDS-Fraktion soll Spitzel entlassen Sparwassers Geschäfte D er Präsident des Deutschen Bundestags, Wolfgang Thierse (SPD), hat die PDS-Bundestagsfraktion aufgefordert, „unverzüglich“ zwei Mitarbeiter der Fraktionspressestelle zu entlassen. Außerdem dürfen die beiden ab sofort nur noch die Räume der Pressestelle im Bereich der PDS-Fraktion betreten. Die Sanktionen des Parlamentschefs richten sich gegen das frühere Agentenehepaar Doris und George Pumphrey. Sie waren 1998 wegen „Geheimdienstlicher Agententätigkeit für eine fremde Macht“ vom Oberlandesgericht Düsseldorf zu je sieben Monaten Haft, ausgesetzt auf drei Jahre Bewährung, und zu je 3000 Mark Geldstrafe verurteilt worden, weil sie Ende der achtziger Jahre als Mitarbeiter von grünen Bundestagsabgeordneten für die Hauptabteilung Aufklärung des DDR-Geheimdienstes gearbeitet hatten. „Wir wollten“, rechtfertigte Doris Pumphrey ihre Spitzeltätigkeit vor Gericht, „dass die DDR besser verstehen konnte, mit welchen Entwicklungen sie in der Friedensfrage und vor allem auch in der Deutschlandpolitik der Grünen rechnen musste.“ Sie und ihr Ehemann hätten sich um ein „besseres Verhältnis“ zwischen DDR und Grünen bemüht. Bereits in der vergangenen Legislaturperiode arbeiteten die beiden für die PDS-Bundestagsgruppe – angeblich mit Wissen führender Grünen-Politiker. eine Neugestaltung der Verfahren vor dem Gericht einsetzen wird. Ursprünglich hatten SPD, CDU und Grüne die Absicht, die Nachfolger für alle drei Verfassungsrichter, die in diesem Jahr auseuer Richter am Bundesverfasscheiden sollen, zusammen zu benensungsgericht soll der Hamburger nen. Wer für Paul Kirchhof und Rechtsprofessor Wolfgang HoffJürgen Kühling nachrücken darf, mann-Riem, 59, werden. Der ist aber zwischen den Parteien parteilose Experte für Rundnoch umstritten. Für die Kirchfunkrecht und ehemalige Hamhof-Nachfolge hat die Union das burger Justizsenator wurde auf Vorschlagsrecht, für die von Vorschlag der SPD nominiert. Er Kühling eigentlich die SPD, die wird Nachfolger Dieter Grimms. nach den bisherigen GepflogenVon dem als Befürworter durchheiten die Nominierung aber greifender Justizreformen bedem grünen Koalitionspartner kannten Hoffmann-Riem wird überlassen müsste. erwartet, dass er sich auch für Hoffmann-Riem V E R FA S S U N G S G E R I C H T Reformer für Karlsruhe W eil er an Sponsorengeschäften mitverdienen wollte, ist Jürgen Sparwasser, 51, als Geschäftsführer der Wirtschaftsdienste GmbH der Vereinigung der Vertragsfußballspieler (VdV) abgesetzt worden. Der Torschütze beim legendären 1:0-Sieg der DDR über die bundesdeutsche Elf bei der Weltmeisterschaft 1974 hatte der VdV die Frankfurter Telekommunikationsfirma ACN als Sponsor vorgeschlagen. Bundesligaprofis sollten für den Neuling auf dem deutschen Telefonmarkt werben und die VdV dafür 0,25 Prozent der ACN-Einnahmen erhalten. Von diesen Erträgen wollte Sparwasser allerdings ein Fünftel selbst einstreichen. Außerdem soll Sparwasser der Spielergewerkschaft eröffnet haben, er wolle als Repräsentant im ACN-Direktvertrieb tätig werden. „Das könnte im Gespräch so gefallen sein“, räumt Sparwasser ein. Bei Borussia Dortmund hat er bereits „als Privatmann“ ACN-Serviceangebote offeriert. DPA N 18 d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Zitat »Die Gleichstellung der Geschlechter muss als horizontale Aufgabe begriffen werden.« Die grüne EU-Kommissarin Michaele Schreyer Deutschland DDR Biermanns Tatwerkzeuge M M. JENNICHEN it einem neuen Museum wird seit dem vergangenen Wochenende in Leipzig an „Diktatur und Widerstand in der DDR“ erinnert. Das „Zeitgeschichtliche Forum“, sagt sein Leiter Rainer Eckert, 49, sei „keine Nostalgie-Show, kein Haus der DDR“. In Leipzig soll „unser Beitrag zur deutschen Demokratiegeschichte“ festgehalten werden, Stiftung „Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“. Bürger der ehemaligen DDR werden vieles wieder finden, an das sie sich erinnern können, Besucher aus der alten BRD einiges entdecken, das sie noch nie gesehen haben. Belege der Diktatur sind unter anderem die erste handgestickte SED-Fahne aus dem Jahre 1946, eine Originaltür aus dem Zuchthaus „Bautzen 2“, ein echter Gefangenen-Transportwagen der Marke Barkas B 1000, einige Hohlbausteine, die zum Bau der Mauer verwendet wurden, ein bunter Wandteppich mit dem Konterfei von Wilhelm Pieck. Den Widerstand symbolisieren der Bücherschrank von Robert Havemann samt Inhalt (Engels: „Dialektik der Natur“), das Bandoneon von Stephan Krawczyk, „Zwei Tatwerkzeuge von Biermann“ (eine Gitarre und eine mechanische Schreibmaschine Marke „Erika“), das Originalschwert der Bewegung „Schwerter zu Pflugscharen“, die Vervielfältigungsmaschine Roto aus der OstBerliner Zionskirche. Die Eröffnung im umgebauten „Zentralmessepalast“ ist auch ein Beitrag zum Aufbau Ost: Bis jetzt wurden 30 Millionen Mark ausgegeben, das Jahresbudget beträgt über 10 Millionen, beschäftigt werden 120 Mitarbeiter. Biermann-Gitarre, Schreibmaschine „die friedliche Revolution von 1989“. So werden auf rund 2000 Quadratmeter Fläche etwa 2500 Objekte ausgestellt, eingeteilt in zwölf Abschnitte von der Nachkriegszeit in der „Zone“ bis zur Gegenwart: Der vorläufig letzte Abschnitt heißt: „Baustelle Deutschland“. Das Museum wird getragen von der ERNÄHRUNG Faule Beeren B Lesegut ermittelt wurden. Allerdings, so die Experten, sei es „bei einer großtechnischen Herstellung“ von Traubensaft „nur begrenzt“ möglich, schlechte Beeren auszusondern. Deshalb empfiehlt das Gremium, praxisnähere Höchstwerte für die Industrie zu vereinbaren. Laut Schutzgemeinschaft der Fruchtsaft-Industrie stammen über 90 Prozent der Traubenmoste im deutschen Handel aus dem Ausland, vor allem aus Frankreich und Italien. ei der Herstellung der meisten Traubensäfte im deutschen Handel gelangt angefaultes Lesegut mit in die Presse. Das verrät ein erhöhter Gehalt von Glycerin und Gluconsäure – zweier Stoffwechselprodukte von Schimmelpilzen und anderen Mikroorganismen. Eine Arbeitsgruppe der Lebensmittelchemischen Gesellschaft wertete jetzt entsprechendes Datenmaterial aus Industrie und amtlichen Überwachungslabors aus. Demnach enthalten drei von vier Traubensäften mehr als ein halbes Gramm Glycerin und zwei von dreien über 0,3 Gramm Gluconsäure pro Liter. Vor allem die roten Moste überschreiten damit jene Schwellenwerte, die in Laborversuchen für unverdorbenes Traubensaftproduktion d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 19 Panorama Deutschland Am Rande 20 Drach (M.), Bewacher 1998 in Buenos Aires REEMTSMA-ENTFÜHRER Wird Drach abgeschoben? N STEUERHINTERZIEHUNG Nachgefragt Haft auf Bewährung Keine Strafe für Oskar D er dreimalige Europameister der Springreiter Paul Schockemöhle ist vom Amtsgericht Oldenburg wegen Steuerhinterziehung zu einer Haftstrafe von elf Monaten auf Bewährung verurteilt worden. Er hat einen entsprechenden Strafbefehl akzeptiert. Schockemöhle hatte 1991 in Liechtenstein die Stiftung Satyr Foundation gegründet und darüber Teile seiner Geschäfte abgewickelt. Er entzog dem Fiskus so Steuern in zweistelliger Millionenhöhe (SPIEGEL 51/1997). 1997 erstattete Schockemöhle Selbstanzeige. Die Staatsanwaltschaft Schockemöhle bestritt zunächst, dass dies geschehen sei, bevor die Steuerbehörden ermittelten, und deshalb habe sie nicht strafbefreiend gewirkt. Als Kompromiss erging der Strafbefehl. d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 M.-S. UNGER Der Kidnapper, der seine Auslieferung an die deutsche Justiz mit allen juristischen Mitteln hinauszuzögern versucht, muss wegen der Bestechungsaffäre zudem mit baldiger Abschiebung nach Deutschland rechnen. In argentinischen Justizkreisen heißt es, der Reemtsma-Entführer könnte schon Ende dieses Monats oder Anfang November nach Deutschland überstellt werden. achdem seine Fluchtpläne ruchbar wurden, haben die argentinischen Behörden die Haftbedingungen für den seit März 1998 im „Caseros“-Gefängnis in Buenos Aires einsitzenden Reemtsma-Entführer Thomas Drach verschärft. Er soll Vollzugsbeamte bestochen haben, die ihm zur Flucht verhelfen sollten. Doch die Aktion flog auf, Drachs Bewacher werden seither ständig ausgewechselt. Nach Oskar Lafontaines öffentlichen Attacken auf Kanzler Schröder und führende Koalitionspolitiker werden Forderungen laut, den Ex-SPD-Chef aus der Partei auszuschließen. Was meinen Sie? F. KRUG / ACTION PRESS Der Vorgang ist so selten, dass er jedes Mal für Bestürzung sorgt. Wann immer in Deutschland ein Minister zurücktritt, fragen die Menschen und die Medien wie nach einem Zugunglück: Warum nur, warum? War es menschliches Versagen oder eine technische Panne? Kaum hat sich Oskar Lafontaine als freier Autor selbständig gemacht, geht die brandenburgische Ministerin für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Frauen, Regine Hildebrandt, in den freiwilligen Ruhestand. Die promovierte Biologin mag nicht mehr, weil ihr Freund, Manfred Stolpe, eine Vernunftehe mit der CDU eingegangen ist. Frau Hildebrandt hätte sich gewünscht, dass er eine Liebesheirat mit der PDS riskiert. Im Land Brandenburg flattern die Seelen auf halbmast. Denn die beliebteste Politikerin Ostdeutschlands, die schneller redet, als andere hören, „vermittelt das Wir-Gefühl der Frauen, die sich nicht unterkriegen lassen“ (Ostdeutscher Rundfunk Brandenburg). Grund genug für den Sender, „die letzten Tage ihrer Amtszeit“ zu dokumentieren. Die Ministerin fährt übers Land und räsoniert über das Leben: „Ich träume davon, dass überall Harmonie und Friede herrscht.“ Letzte Woche gab es zum Abschied „Rotkäppchen“-Sekt wie einst, als verdiente Mitglieder des Politbüros aufs Altenteil geschickt wurden. Doch anders als bei Lafontaine hat die Partei von ihr nichts zu befürchten. Sie will jetzt Bücher lesen und nicht schreiben und ihre Aktivitäten ins Ausland verlegen: „Ich heirate Prinz Charles und werde Königin von England.“ – Als ob die Briten nicht schon genug Sorgen hätten. ZDF Lady Regine Die SPD sollte Lafontaine wegen parteischädigenden Verhaltens ausschließen 30 % Ich halte nichts von einem Parteiausschlussverfahren 39 % Ich weiß nicht/ist mir egal 30 % Emnid-Umfrage für den SPIEGEL vom 5. und 6. Oktober; rund 1000 Befragte; an 100 fehlendes Prozent ist rundungsbedingt Werbeseite Werbeseite K.-B. KARWASZ Kanzler Schröder, IG-Metall-Chef Zwickel (l.) beim Gewerkschaftskongress in Hamburg: Die Wohltaten Mark für Mark vorgerechnet REGIERUNG Die Prügel der Partei Kanzler Gerhard Schröder wirbt um seine SPD. Die Genossen glauben seinen Gerechtigkeitsschwüren nicht, solange er dicke Zigarren raucht. Bis zum Parteitag im Dezember muss der Vorsitzende ein anderes Bild abgeben. W enn Guido Schmitz, der persönliche Referent, dieser Tage mit seinem Kanzler unterwegs ist, beult sich nicht mehr stramm seine Brust. Es war aber nicht Stolz, der sie geschwellt hatte, sondern ein Zigarren-Etui mit dicken Cohibas für den Chef. Die braucht der nun erst mal nicht mehr. Denn diesmal, so scheint es, hat Gerhard Schröder wohl wirklich verstanden. Nicht weil er erkältet war, sondern um seiner über den demonstrativen Luxus-Kanzler erbosten Basis ein Zeichen zu geben, verzichtete er – zumindest öffentlich – vergangene Woche auf seinen Rauchgenuss: Seht her, soll das heißen, ich bin doch noch einer von euch. Für Schröders Berater ist dieser symbolische Rückzug das bisher ernsthafteste 22 Signal ihres Chefs, auf seine Kritiker einzugehen: „Der arbeitet wirklich an sich.“ Es ist auch höchste Zeit. Dass seine Kanzlerschaft auf der Kippe steht, weiß Schröder so gut wie seine Gegner. Schröder: „Wenn wir die Politik nicht auf das Notwendige ausrichten, haben wir keine Chance mehr.“ Nur noch acht Wochen bleiben bis zum SPD-Parteitag Anfang Dezember in Berlin. Nur wenn der gelingt, da sind sich Partei, Kanzleramt und SPD-Fraktion ausnahmsweise einig, ist die Mindestvoraussetzung geschaffen, um das desaströse Stimmungstief der SPD bis zu den Wahlen in Schleswig-Holstein und vor allem in NordrheinWestfalen zu überwinden. Erst die eigene Partei, dann der Rest der Wähler – Gerhard Schröder, der sich den d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Sozialdemokraten durch Zustimmung aus einer vagen neuen Mitte als Kanzlerkandidat aufgenötigt hatte, muss umdenken. Mögen auch die Wachstumsprognosen für die Wirtschaft im kommenden Jahr günstig sein, mag die anspringende Konjunktur der Regierung auch ohne große Eigenverdienste helfen, die Arbeitslosigkeit zu reduzieren – entscheidend für sein Überleben wird die Unterstützung aus den eigenen Reihen sein. In Bochum haben die Genossen Schröder auf ihrem Bezirks-Parteitag eisig abfahren lassen, in Hamburg nötigte er den Kollegen von der IG Metall widerwilligen Respekt ab. Doch von einer Wende kann noch keine Rede sein. Für Schröder aber ist jetzt endgültig Schluss mit lustig. Ein Parteistratege bringt den Kurs, mit dem der Kanzler Partei und d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 FPA AKG M. URBAN Wähler überzeugen soll, auf die kurze Formel „Nie wieder ‚Wetten dass!‘“. Gefragt ist das Kanzler-Modell Kosovo: ernsthaft, verantwortungsvoll und standhaft. Und natürlich – sozial gerecht. Imagepflege tut also dringend Not. Doch während US-Präsident Bill Clinton oder der britische Premierminister Tony Blair ganze Stäbe beschäftigen, die bei jedem Auftritt für stimmige Bilder zur Untermalung der Botschaft sorgen, kümmert sich im Kanzleramt niemand so richtig um das Image des Chefs. Zumal es nicht in erster Linie um den Kanzler geht. Immer deutlicher George-Grosz-Grafik (1922) merkt Schröder, wie schwer es ist, für sein zweites wichtiges Amt den richtigen Zugang zu finden, das ihm durch den Abgang Oskar Lafontaines zugefallen ist – das des Parteichefs. Das ist die Stunde des Franz Müntefering, künftiger Generalsekretär und amtierender Geschäftsführer der SPD. „Die Partei kritisiert Stil und Attitüde von uns“, knurrte er in Richtung des CohibaKanzlers. „Das ist die Hälfte der Diskussion.“ Und ein Berater analysierte trocken: „Schröder kam einfach zu protzig rüber.“ Dass sie ihn in acht Wochen nicht Niedersächsischer Ministerpräsident Kopf (1956) zum „Liebling der Partei“ machen können, ist den neuen alten Strategen in der SPD-Zentrale klar, „das kann nicht Schröders Rolle sein“. Doch zwischen einem „Liebling“, wie es Oskar Lafontaine oder gar Willy Brandt einst waren, und dem distanzierten Vorsitzenden, als der Schröder empfunden wird, liegt ein weites Feld. Und das wollen Müntefering und sein Ex-Kampa-Team bis zum Parteitag intensiv bestellen. Klar ist: Der leichtfüßige Medienkanzler hat ausgedient. Stattdessen wird Schröder in einer Art verschärften Fronarbeit – der Terminplan wurde entsprechend um- Kanzler Erhard (1964) gekrempelt – in den nächsten Wochen kaum einen Landes- und Bezirksparteitag auslassen, um sich dem nölenden Parteivolk zu stellen. SPD-Landesparteitage, wie am vergangenen Wochenende in Schleswig-Holstein und in Hamburg, sind in den nächsten Wochen für Schröder Pflicht. Kreuz und quer durchs Land soll er ziehen und Betriebsräten, Sozialverbänden und SPD-Bezirksfunktionären zeigen, wie ernst es ihm ist mit dem Sparen, aber auch mit der sozialen Gerechtigkeit. Doch genau damit tut sich der Kanzler schwer. Mark für Mark Kanzler Schröder (1999) rechnete er den Metallgewerk- Zigarrenrauchen als Symbol: Insignie des Aufstiegs VG BILD-KUNST, BONN 1999; G. GROSZ Deutschland schaftern am vergangenen Mittwoch vor, welche Wohltaten er verteilt im Land. Die Steuerreform zum Beispiel, mit der er die Durchschnittsfamilie schon in diesem Jahr um 1000 Mark reicher mache. Und natürlich das Bündel der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, für das er, Gerhard Schröder, allein in diesem Jahr 6,3 Milliarden Mark mehr ausgebe als zuletzt die alte Koalition. „Das sind die Zahlen“, schmetterte er den Metallern und ihrem Chef Klaus Zwickel entgegen. „Das ist ein Erfolg.“ Am Tag darauf lieferte seine Koalition die nächste Sozialbotschaft nach. Mit satter Mehrheit von SPD, Grünen und PDS passierte die Schlechtwettergeld-Novelle den Bundestag – nach einer Debatte, in der befreite Genossen ihr aufgestautes Lieblingsvokabular von „gerecht“ bis „sozial“ loswurden. Um zu verhindern, dass Bauarbeiter im nasskalten Winter ihren Job verlieren, erschwert die Novelle witterungsbedingte Kündigungen. Sie verpflichtet die Bundesanstalt für Arbeit, den Bauarbeitern den Lohnausfall zu ersetzen: Im Extremfall 55 Millionen Mark Kosten. Zu einer weiteren Entscheidung im Sozialbereich konnte sich die Fraktion aber nicht durchringen: Die Erhöhung des Kindergelds für Sozialhilfeempfänger um 20 Mark mochten die SPD-Parlamentarier nicht beschließen. In Berlin zeigte der Kanzler dann am vergangenen Freitag noch einmal persönlichen Einsatz. Als kandidiere er selbst für den Posten des Regierenden Bürgermeisters, inspizierte er ein Ausbildungszentrum, ermunterte Jugendliche auf ihrem Weg zum Bürokaufmann, schüttelte die Hände angehender Maler und Lackierer. Dabei pries er – unterstützt von DGB-Chef Dieter Schulte und Handwerkspräsident Dieter Philipp – die Zwischenbilanz des Zwei-Milliarden-Mark-Programms gegen Jugendarbeitslosigkeit. Schröders derzeit größtes Problem ist die mangelnde Glaubwürdigkeit. Wo immer er hinkommt, prasseln die gleichen Vorwürfe auf ihn ein: Wie kann ein Kanzler rigoroses Sparen fordern, der mit 60Mark-Zigarren posiert und alle Welt wissen lässt, wie teuer seine Anzüge sind. Dabei passt das zuweilen fahrlässige Neureichen-Gehabe des Party-Kanzlers aus den ersten Monaten, vom ehemaligen Kanzleramtsminister Bodo Hombach noch angestachelt, so gar nicht zu Schrö23 M.-S. UNGER SPD-Präsidiumssitzung in Berlin: Verknüpfung von Partei und Regierung 24 d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 * Beim Besuch des Fallschirmjägerbataillons in Lebach im August. ACTION PRESS ders Selbstwahrnehmung. „Ich weiß, wo ich herkomme“, erklärt der Junge aus ganz kleinen Verhältnissen bei jeder Gelegenheit. Nur glaubt es ihm so recht keiner mehr. Um sein Gedächtnis aufzufrischen, überreichte ihm die Jugend der IG Metall in Hamburg einen dicken roten Pfeil aus Pappe. Dass Schröder zuerst als Stil, als Haltung, aber kaum als Inhalt wahrgenommen wird, macht seine Arbeit nicht leichter. Denn bevor er überhaupt Argumente für seine Politik vorbringen kann, muss er in jeder Versammlung aufs Neue den latenten Verdacht des Publikums ausräumen, da habe sich einer von Macht und Kapital korrumpieren lassen. Seine Aufgabe ist kompliziert. „Er muss die Prügel abholen, darf aber in der Sache nicht nachgeben“, sagen seine Berater. Und die Zeit drängt. Verteidigungsminister Scharping*: Drohung mit dem Rücktritt Schon stöhnt einer der Werber: „Wenn es bis zum Parteitag nicht gelingt, nach gutem Zureden beruhigte er sich erdings ständig betont: Sein Tonfall ist schon anders geworden. Soziale Gerechihn anders darzustellen, wird es sehr, sehr wieder. schwer.“ Scharping nimmt Schröder übel, dass er tigkeit ist als Leitmotiv zurückgekehrt, Leichter wird es für Schröder auch nicht den Osttimor-Einsatz der Bundeswehr aus Reizworte werden vermieden. „Deutlich andere Akzente als im Schrödadurch, dass Verteidigungsminister Ru- seinem Etat bezahlen soll. Im Kabinett gedolf Scharping, einst Parteivorsitzender, rieten beide vorvergangene Woche wegen der-Blair-Papier“ will Frank Teichmüller, immer wieder mal seine eigenen Kanzler- Osttimor aneinander. Der Minister warnte Leiter des IG-Metall-Bezirks Küste, in qualitäten bescheiden, aber deutlich her- davor, „Schuhe anzuziehen, die einem zu Schröders Rede vor den Gewerkschaftern vorhebt. An seine Adresse ging vergange- groß“ seien. Schröder giftete anzüglich vernommen haben. Endlich habe der Kanzler wieder von „Arbeitnehmerpolinen Freitag Schröders Mahnung vor ihm zurück: „Das musst du gerade sagen.“ nahe stehenden Sozialdemokraten im SeeDas Misstrauen der Genossen empfindet tik“ gesprochen – „ein erster Schritt weg heimer Kreis: „Es darf auf keinen Fall eine der Kanzler bisweilen als zutiefst unge- von der dicken Cohiba zum Zigarillo des Personaldebatte begonnen, weitergeführt recht. „Ich kann nicht verstehen, wie man kleinen Mannes“. Die Macht der Bilder hat Schröder groß oder initiiert werden.“ eine solche Politik von GewerkschaftsseiDer Ton des Verteidigungsministers wird te nicht unterstützen kann“, erregte er sich gemacht, jetzt droht sie ihn zu vernichten. Dass ausgerechnet seine geliebte Zigarhörbar schärfer. Bei einem Gespräch mit in Hamburg vor den Metall-Gewerkschafden Vorsitzenden und Haushaltsexperten tern und donnerte mit der Faust auf das re zum Symbol für den Stimmungsumder Koalitions-Fraktionen drohte er ver- Rednerpult, „wer fair ist, kann einfach schlag geworden ist, kann Schröder nur gangene Woche sogar mit seinem Rück- nicht davon reden, dass unsere Politik eine schwer einsehen. „Ich rauche die doch seit 15 Jahren“, beklagte er sich jüngst über tritt, falls ihm die Haushälter nicht 200 Mil- soziale Schieflage hat!“ lionen Mark für den Kosovo-Einsatz bewilDoch auch wenn der Kanzler darauf be- die ständige Kritik an seinen Raucherfreuligten. Scharping: „Wenn diese Sperre harrt, dass er richtig handele und nicht den. Für ihn war die Zigarre sowohl Insibleibt, trete ich zurück. Jetzt reicht’s.“ Erst etwa „unsozialdemokratisch“, wie er neu- gnie des Aufstiegs als auch Ausdruck schieren Lebensgenusses. Jetzt ist sie in der öffentlichen Wahrnehmung zum Symbol des Neoliberalismus schlechthin geworden, zur Chiffre für die falsche Attitüde. Da wirkt es rückblickend fast wie ein Danaer-Geschenk, dass Lafontaine am Tag der Kanzlerwahl dem frisch gewählten Amtsinhaber ausgerechnet eine Kiste edler Cohibas überreichte. Denn was beim Ministerpräsidenten von Niedersachsen als selbstverständliches Attribut des fürsorglichen Landesvaters wahrgenommen wurde – schließlich liebte auch Niedersachsens erster Ministerpräsident, der hochpopuläre Hinrich Wilhelm Kopf, voluminöse Zigarren und genoss sie oft und ungeniert in aller Öffentlichkeit –, weckt vor dem Hintergrund des machtvollen Bundeskanzleramts ganz andere Assoziationen. Gewiss, auch Ludwig Erhard stand stänAuf einem internen Strategietreffen zugleich anheizen und normalisieren. Die dig unter Zigarren-Dampf. Aber der war, Ende September in Hamburg fixierten SPD müsse, so der Kanzler auf dem Konwie Theodor Heuss, ein bürgerlicher Pro- enge Berater und Zuarbeiter Münteferings gress der IG Metall, „unter radikal veränfessor, zu dem das Gehabe passte. Das Bild die Eckpunkte eines Konzeptes, das die derten Bedingungen definieren, was sodes gut betuchten, Zigarren qualmenden Partei wieder auf Touren bringen soll. ziale Verantwortung ist“. Das ist ein Klärungsprozess, der auch Sozialdemokraten Schröder aber verzerr- Wichtigste Stationen sind der Parteitag am te sich in den Köpfen der Genossen und of- 7. Dezember in Berlin und die Landtags- durch den Rücktritt Oskar Lafontaines verfenbar auch vieler Wähler zur hässlichen wahl in Nordrhein-Westfalen am 14. Mai zögert wurde. „Ein halbes Jahr lang ist inhaltlich praktisch nichts passiert“, räumt eiFratze des Kapitalisten. Schröder mit Co- 2000. hiba – das ist der Kanzler der Bosse, wie sie „Der Parteitag ist das Schlüsselereignis“, ner aus dem Willy-Brandt-Haus ein, „der auf den Bildern des Malers George Grosz verkündet Parteisprecher Michael Donner- Rücktritt hat uns heftiger aus der Bahn gezu sehen sind: kalt, rücksichtslos und ohne meyer. Erste Vorbereitungen für die Jubel- worfen, als wir erwartet hatten.“ Auch Lafontaines Salami-Showdown – jejede Regung für Soziales. feier sind bereits getroffen: Am vorverganPlötzlich passen Bild und Botschaft genen Mittwoch verpflichtete Müntefering den Tag eine neue Portion Bosheit – fördert nicht mehr zusammen. „Wenn ich Men- die in Berlin versammelten SPD-Landes- die Auseinandersetzung um die Sache nicht. schen sage, ihr müsst den Gürtel enger und Bezirksvorsitzenden der Republik, ihre „Man dringt zu Inhalten gar nicht mehr schnallen, dann kann ich nicht öffentlich Delegierten zielgerichtet einzustimmen. Die vor“, klagt der frühere SPD-Bundesgemit der dicken Zigarre rumlaufen und klare Vorgabe: Es ist zu vermeiden, den Par- schäftsführer Peter Glotz. Weil Lafontaine rumprotzen“, schleuderte der Bochumer teichef mit schlechten Abstimmungsergeb- mit seiner hasserfüllten Abrechnung beinahe die gesamte Sozialdemokratie und die Genosse Carsten Rudolph auf dem Par- nissen zu kompromittieren. teitag des SPD-Bezirks Westliches WestDer Konvent soll vielmehr das Signal aus- grüne Spitze gleich mit brüskiert hat, mag falen in einem Satz die gesammelte Wut senden: Geschlossen und zuversichtlich geht sich für seinen Politikentwurf derzeit nieder Basis dem Parteichef entgegen. Nun will Müntefering mit seiner Kampa-Erfahrung dafür sorgen, dass bei der Basis das Bild von Schröder wieder stimmt. Dreimal die Woche will der Sauerländer mit der in Berlin gestutzten Kultfrisur künftig mit Schröder, Kanzleramtschef Frank-Walter Steinmeier und Fraktionschef Peter Struck zu Lagebesprechungen im Kanzleramt zusammenkommen. Süffisant ist in der Parteizentrale von der „Last, die Schröder zu tragen hat“, die Rede. So mannhaft springt Müntefering seinem Vorsitzenden bei, dass er vielen schon als heimlicher Parteichef gilt. Unverdächtig fordert er: „Wir müssen Regierung und Partei miteinander verknüpfen.“ Doch er hat ein handfestes Ziel: Er selbst und sei- SPD-Politiker Clement, Müntefering, Schröder*: Geschlossenheit als Schlüsselereignis ne Vertrauten wollen künftig dabei sein, wenn die politische Tages- die SPD in die Landtagswahlen von Schles- mand öffentlich begeistern. Um mehrheitsfähig zu bleiben, das haben die Wahlniederordnung gestaltet wird – wenn die Be- wig-Holstein und Nordrhein-Westfalen. schlüsse fallen, welches politische Thema Müntefering, selbst Landesvorsitzender lagen gezeigt, muss die SPD bei allem Groll wann, mit welchem Schwerpunkt und mit in NRW, weiß: Mit dem Ausgang der Wah- gegenüber der Person Lafontaines die Posiwelchen Folgen zu behandeln ist. len ist auch sein eigenes politisches Schick- tionen, für die er stand, dennoch integrieren. Erst mal dürfen die frustrierten Genossen In einer Art Handstreich – und sehr zum sal eng verknüpft. Deshalb berief er verVerdruss von Fraktionschef Struck – krem- gangene Woche seinen Intimus und zukünf- – vorzugsweise Mandatsträger – deshalb im pelte Müntefering die Abfolge der Gre- tigen Bundesgeschäftsführer Matthias November auf vier Regionalkonferenzen in miensitzungen am Montag um. Künftig Machnig zum Wahlkampfleiter für die Nürnberg, Köln, Berlin und Hamburg wird zuerst die Parteispitze tagen, erst Landtagsentscheidung an Rhein und Ruhr. Dampf ablassen. Keine lustvolle Veranstaldann folgen der geschäftsführende und erDie nächsten Schritte haben Müntefe- tung für die Parteigrößen. Nachdem Schröder zunächst als Teilweiterte Fraktionsvorstand. ring und seine Helfer schon klar fixiert. Dem gleichen Ziel dient die – bisher ein- Der Leitantrag des Parteivorstandes für nehmer nicht vorgesehen war, wird er malige – Installation eines neuen Abtei- den Dezember-Konvent soll die Diskussion sich nun doch auf allen vier Veranstaltunlungsleiters, der in der Parteizentrale die über das Selbstverständnis der deutschen gen dem Tribunal stellen. Sein künftiger Bund-Länder-Beziehungen organisieren soll. Sozialdemokraten zur Jahrtausendwende Generalsekretär prophezeit einen heißen Auftritt: Es könnte „ein Fegefeuer“ Zusätzlich holte Müntefering – gegen den Sparwillen der Schatzmeisterin – zehn neue * Auf dem SPD-Bezirksparteitag in Bochum am 2. Ok- werden. Susanne Fischer, Horand Knaup, Alexander Neubacher Mitarbeiter ins Berliner Willy-Brandt-Haus. tober. d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 25 DPA Deutschland M. URBAN Modernisierer Müller: „Bürger und Wirtschaft müssen bereit sein, lieb gewonnene Gewohnheiten aufzugeben“ S P I E G E L - G E S P R ÄC H „Übers Herz in den Verstand“ Wirtschaftsminister Werner Müller über die Vollkasko-Mentalität vieler Deutscher, den Umbau des Wohlfahrtsstaats und den Populismus der SPD-Linken 26 Müller: Wenn ich das wüsste. Schließlich besteht im Kern doch Einigkeit, dass wir den Sozialstaat sicher, das heißt: bezahlbar, in die Zukunft führen müssen. Denn so, wie die Weichen gestellt sind, würde Ihnen der Laden irgendwann um die Ohren fliegen. Das Sparpaket ist der erste Beleg in der Nachkriegsgeschichte, dass beim Haushalt der Grenzpunkt des noch gerade Möglichen an Steuer- und Abgabenerhöhungen plus Verschuldung überschritten ist. SPIEGEL: Vielleicht fehlt Ihrer Politik ein Leitbild, eine klare Zukunftsvorstellung, die Bindungskraft entfaltet. Die Menschen fragen sich: Es wird gespart, aber wofür? Müller: Ebenso wie jeder sein Leben aus dem Jetzt heraus gestalten muss, muss dies für die Gesellschaft gelten. Weder können wir auf ewig von Marshall-Plänen leben noch uns immer weiterverschulden. Und der Staat kann auch die Bürger nicht mit Steuern erdrosseln. Wir müssen uns wieder auf das besinnen, was sowohl vernünftig wie sozial ist: dass jede Generation zunächst die Zukunft aus eigener Kraft gestaltet und daran Befriedigung empfindet. SPIEGEL: Wer Lafontaine liest, muss den Eindruck gewinnen, es gehe auch anders. Müller: Was Lafontaine und seine Staatssekretäre Heiner Flassbeck und Claus Noé wollten, ist eine bequeme Politik. Wenn Sie mit geliehenem Geld um sich werfen und neue Wohltaten versprechen, können Sie immer wählerwirksam arbeiten, insbesondere H.-G. OED SPIEGEL: Herr Müller, was halten Sie von Lafontaines Buch? Müller: Das habe ich nicht gelesen. Das war mir denn doch zu blöd. SPIEGEL: Wir können Sie beruhigen. Sie kommen auf den Seiten, die bislang zu lesen sind, nicht vor. Müller: Wieso auch? Lafontaine rechnet ja mit der Partei ab. SPIEGEL: Glaubt man dem Buch, beschäftigen Politiker sich vor allem mit Postenschacher und Intrigen. Sind Sie als ehemaliger Manager froh, parteilos zu sein? Müller: Glauben Sie nicht, dass wichtige Personalentscheidungen in der Wirtschaft grundsätzlich anders getroffen werden. Wenn Sie in einem Konzern an die Spitze wollen, gelingt Ihnen das auch nicht, indem Sie jeden Abend ein Nachtgebet sprechen: Ich möchte morgen befördert werden. SPIEGEL: In der SPD dreht sich der Streit vor allem um die Frage der sozialen Gerechtigkeit. Was wollen die Linken in der Partei anders machen als Sie? Minister Riester, Eichel Es wird gespart, aber wofür? Werbeseite Werbeseite Deutschland in die eigene Klientel hinein. Grundsätzlich halte ich das aber für einen Versuch wider die praktische und theoretische Vernunft. Sozial auf Pump ist unsozial. SPIEGEL: Die Wähler scheinen den raschen Kurswechsel dennoch nicht zu goutieren. Müller: Die Menschen sind das Unsolide nun 20 Jahre lang gewöhnt. Und jetzt kommt dieser Wechsel und dann von einer sozialdemokratischen Regierung. Das ist ein Treppenwitz der Weltgeschichte, aber eine Notwendigkeit. Nur die SPD steht für Gerechtigkeit zwischen den Generationen. SPIEGEL: Können Sie die Menschen von dieser Notwendigkeit wirklich überzeugen? Müller: Ludwig Erhard konnte das Leitbild einer sozialen Marktwirtschaft mit dem Schlagwort „Wohlstand für alle“ als Faszination im Volk richtig verankern. Dass eine Politik des Sparens und Sanierens eine solche Faszination ausstrahlen kann, dass sie „Die alte Regierung hat sich schleichend in Richtung Sozialismus bewegt“ sozusagen übers Herz in den Verstand geht, ist leider sehr schwierig, aber eigentlich die Voraussetzung. SPIEGEL: Sind die Deutschen nicht empfänglich fürs Sparen? Müller: Leider hat bis September vergangenen Jahres niemand verbreitet, dass wir keinen verfassungsgemäßen Haushalt mehr aufstellen können. Die mittelfristige Finanzplanung war getürkt, um die Tatsache der Überschuldung zu verschleiern. Die alte Regierung hat sich schleichend in Richtung eines Sozialismus bewegt. SPIEGEL: Wie bitte? Der Eindruck der meisten Genossen von 16 Jahren Kohl ist genau der gegenteilige, nämlich dass von unten nach oben umverteilt wurde. Müller: Das ist ja das Phänomen. Eigentlich sollte jeder am Produktivitätsfortschritt gerecht partizipieren. Wenn nach 16 Jahren Kohl der Durchschnittsarbeitnehmer 50 Prozent mehr leistet, müsste er das auch im Portemonnaie spüren. Tatsächlich ist der Durchschnittslohn in Westdeutschland 1998 real kaum höher als 1982. Jede Mehrleistung ist in die Staatskassen transferiert, also systematisch sozialisiert worden. SPIEGEL: Sie begründen den neuen Kurs damit, der Staat müsse wieder handlungsfähig werden. Was heißt das eigentlich? Müller: Die Regierung ist finanzpolitisch erst wieder handlungsfähig, wenn der Haushalt ausgeglichen ist. Noch besser wäre es natürlich, wir machen Überschüsse, können weiter Steuern senken und Schulden tilgen. Dann können wir auch mal eine Sonderaufgabe schultern oder in einem schlechten Jahr „deficit spending“ betreiben, also kurzfristig die Konjunktur ankurbeln, und das Defizit wieder tilgen. SPIEGEL: Der Staat soll sich also nicht auf Dauer zurücknehmen? 28 d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Müller: Doch. Mit der Zeit wird der Elan nachlassen, das Alte erneut zu probieren. Der teilweise Rückzug des Staates wird dazu führen, dass die Wirtschaftssubjekte in toto wieder wirtschaftsfreudiger werden. Das heißt, es wird im Lande wieder mehr investiert. Es lohnt sich auch eine höhere individuelle Leistung, weil das, was einem verbleibt, mehr wird. SPIEGEL: Ist weniger Staat ein Wert an sich? Müller: Bei unserem Zustand schon, denn der Staat hat begonnen, durch Überregulierungen und zu hohe Steuern das abzuwürgen, was eigentlich ein menschliches Leben kennzeichnet. Es ist ja ein Missverständnis, wenn Sie versuchen, alle gleich- zumachen als Beleg dafür, dass alle am Anfang die gleichen Chancen hatten. Doch Bürger und Wirtschaft müssen auch bereit sein, lieb gewonnene Gewohnheiten aufzugeben, vom kleinen Beschiss bis zur Einforderung bequemer Staatshilfe. SPIEGEL: Sie haben als Ziel vorgegeben, die Staatsquote, also das Verhältnis der Staatsausgaben zur gesamten Wirtschaftsleistung des Landes, von 48,5 auf 40 Prozent zu senken. Selbst der Kanzler hält dies für zu ehrgeizig. Müller: Wenn jemand Ronald Reagan prognostiziert hätte, dass 15 Jahre später Amerika große Haushaltsüberschüsse schreibt, hätte das auch keiner geglaubt. Entschei- dend ist die ökonomische Dynamik. Wenn die Wirtschaft schneller wächst als die Staatsausgaben, geht die Quote automatisch zurück. Wenn die Arbeitslosigkeit merklich sinkt und zudem in Ostdeutschland eine stabile Wirtschaft entsteht, ist das langfristige Ziel nicht illusorisch. SPIEGEL: Viele interpretieren Ihre Forderung nach mehr Eigenverantwortung als Euphemismus für Sozialabbau. Müller: Mit Sozialabbau hat das nichts zu tun. Wenn die Wirtschaft expandiert, kann eine geringere Staatsquote, absolut gesehen, mehr Leistung bedeuten als heute. Jedenfalls müssen wir gegen diese Anspruchsmentalität ankämpfen, dass der Einzelne mit seiner Leistung nachlassen könne, weil der Staat ja ohnehin nimmt und gibt. Das ist eine Denkweise, die Deutschland zum Abstieg verurteilt. Leider hat sie sich wie Mehltau über das Land gelegt. SPIEGEL: Woran machen Sie das fest? Müller: Ein kleines Beispiel: Warum ist die Zahl der 630-Mark-Jobs auf über sechs Millionen in die Höhe geschnellt? Weil es die Steuerflucht des kleinen Mannes war. Für mich ist das ein Beleg, dass die Menschen zwar Leistungen des Staates erwarten, aber die Belastung durch Steuern und Abgaben nicht mehr tragen wollen. So gesehen müssen wir uns auch nicht wundern, dass der kleine Betrug gewissermaßen schon zum Recht des Alltags gehört. SPIEGEL: Können Sie das den Bürgern wirklich zum Vorwurf machen? Müller: Nein, sie wurden auch durch die Politik dazu verführt. In dem Maße, in dem versucht wird, einen perfekten Wohlfahrtsstaat zu organisieren, werden die Bürger in eine Vollkasko-Mentalität entführt. Wo immer Sie eine Ausnahme schaffen oder eine Wohltat ausgeben, wird es nicht lange dauern, bis die Nachbarschaft rechts und links dasselbe für sich fordert. SPIEGEL: Gibt es die von Ihnen beklagte Vollkasko-Mentalität denn tatsächlich? Müller: Nehmen Sie die vielfältigen Hilfen, die die Wirtschaft direkt oder indirekt erhält. Ein typisches Beispiel war die Reaktion, als die Regierung den Steuerparagrafen strich, wonach die Gewinne aus Firmenverkäufen nur mit dem halben Durch- „Warum soll der Staat regeln, was Gesellschaft und Familie selbst organisiert haben?“ schnittssatz versteuert werden müssen. Wenn Sie so wollen, war das ein Anspruch, der zementiert schien. Ein anderes Beispiel: die Arbeitslosenhilfe. Darf die Gesellschaft nicht einfordern, dass der im Moment unglücklich Betroffene sich bemüht, wieder einen Job zu finden? Oder muss die Gesellschaft auch denjenigen, der nicht arbeiten will, genauso tragen wie den, der keine Arbeit findet? SPIEGEL: Wollen Sie also Empfänger von Arbeitslosenhilfe zur Arbeit verpflichten? Müller: Er sollte zumindest dokumentieren, dass er sich um Arbeit bemüht. Andere Länder geben soziale Hilfe nicht nur als Geld. In Amerika gibt es Sachleistungen und Güter. Wer dort zusätzlich das attraktivste aller Güter, nämlich Geld, haben will, muss Arbeit finden. SPIEGEL: Welche Leistungen bietet der deutsche Wohlfahrtsstaat denn Ihrer Ansicht nach ohne Grund an? Müller: Bei objektiver Bedürftigkeit grundsätzlich keine. Aber: Als die Pflegeversicherung eingeführt wurde, war das selbst unter Sozialpolitikern umstritten. Warum soll der Staat etwas regeln, was Gesellschaft und Familie bislang selber recht gut organisiert haben? Schlussendlich wurde ein Anreiz geschaffen, sich aus der Verantwortung für Eltern oder Verwandte freizukaufen. So generiert sich die Nachfrage nach Staat fast von selbst. SPIEGEL: Noch sensibler ist das Thema Rente. Können Sie nicht verstehen, dass die Gewerkschaften den Plan, die Renten nur entsprechend der Inflation anzuheben, als unsozial geißeln? Müller: Ja, Gott, sollen wir es so machen wie die alte Regierung, nämlich erst mal jede Lohnerhöhung durch höhere Steuern und Abgaben auf null stutzen? Dann würd e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 29 Deutschland M. URBAN den die Renten nach der Logik der Nettolohnformel nicht steigen, sondern wie seit Jahren real entwertet. Wenn aus der Kritik der Gewerkschaften folgt, dass diese Farce der alten Koalition besser war, fasse ich mir an den Kopf. SPIEGEL: Bei der Rente scheint die von Ihnen beklagte Anspruchsmentalität besonders ausgeprägt zu sein. Oder wie verstehen Sie die Forderung Müller beim SPIEGEL-Gespräch*: „Stattliche Entlastung“ nach einer Rente mit 60? Müller: Wenn das für alle gelten soll, ohne auf 25 Prozent. Und dann steht in dem dass die Rente sinkt, kann sich die Gesell- Konzept ein komischer Satz: Gegenfinanschaft das nicht leisten. Seit Bismarck hat zierung gemäß Petersberg. Zu den Peterssich die Lebensarbeitszeit halbiert und die berger Beschlüssen gehört auch die BeRentenzeit verdoppelt. Insofern wird ein steuerung sämtlicher KapitallebensversiUmlageverfahren per se immer schwieriger cherungen. Petersberg kann für viele durchzuhalten sein. Das ist der Grund, höchst dramatisch werden, nicht zuletzt warum andere Formen der Vorsorge hin- für die Inhaber von Versicherungen, die zukommen müssen. schon 20, 30 Jahre laufen. SPIEGEL: Die Pläne von Walter Riester, die SPIEGEL: Können Sie denn wenigstens die gesetzliche Rente durch eine private Zu- Vision teilen, die hinter einer gewaltigen satzvorsorge zu ergänzen, wurden aber Nettoentlastung steht, dass nämlich der wieder einkassiert. War sein Modell für staatliche Zugriff zurückgeht? eine „Zwangsrente“ falsch? Müller: Grundsätzlich ist das richtig. Aber Müller: Eigentlich bin ich prinzipiell gegen wir haben ja auch eine stattliche Nettoneue staatliche Vorschriften. Aber wenn entlastung, allerdings bewusst bei den kleiAppelle, fürs Alter vorzusorgen, nichts nen und mittleren Einkommen um 40 Milfruchten, dann müsste die Regierung eben liarden netto jährlich, bereits zum Gesetz ein bisschen nachhelfen. Ansonsten laufen gemacht. Im Jahr 2001 kommt eine NettoMenschen Gefahr, dass sie im Alter nur ein entlastung bei den Unternehmen von 8 Milliarden hinzu. Mehr ist zur Stunde Existenzminimum bekommen. SPIEGEL: Die Union, ohne die bei der Ren- nicht machbar, sonst verstößt der Haustenreform nichts geht, lehnt diese Varian- halt gegen die Verfassung. te ab. Sie setzt auf Freiwilligkeit. SPIEGEL: Die Amerikaner haben ihren Müller: Das wird kaum reichen. Letztlich Haushalt nicht zuletzt durch die Einnahverhält es sich ähnlich wie aktuell beim men aus der Aktiensteuer saniert. Wäre Ökostrom. Wenn Sie eine Umfrage ma- das ein Modell für Deutschland? chen, sind wahrscheinlich 95 Prozent der Müller: Das wäre prinzipiell eine Methode, Gesellschaft für grünen Strom, und der die niedrigeren US-Einkommensteuersätze kostet ja nur ein paar Pfennig mehr als vorausgesetzt. Dass wir Spekulationsnormaler Strom. Nur bestellen tut den gewinne nach der Frist von einem Jahr kaum jemand. Man fragt sich, ob man das überhaupt nicht veranlagen, ist sicher disirgendwie zwangsverordnen müsste. Aber kutabel. Aber die Steuer müsste gleichSie sollten die freie Wahl haben, welchen gewichtig sein. Gegebenenfalls muss der Ökostrom-Anbieter Sie dann wählen. Anleger sich auch Verluste beim Fiskus anrechnen lassen dürfen. SPIEGEL: Wird das wirklich klappen? Müller: Bei zusätzlicher privater Altersvor- SPIEGEL: Wenn Ihre Zustandsbeschreibung sorge ist auch entscheidend, ob die Leute richtig ist, dann meint die Mehrheit: Spadafür genügend Einkommen zur Verfügung ren ja, aber nicht bei mir. haben. Unsere Steuerreform entlastet ei- Müller: Daraus darf aber nicht folgen, dass nen Durchschnittshaushalt bis zum Jahr man sich zu einer populistischen oder op2002 netto um 3000 Mark; das setzt genug portunistischen Politik zurückentwickelt. Mittel frei, um eine zusätzliche Altersvor- Dann sähe ich allerdings wirklich schwarz für die Regierungsparteien. Denn die Resorge aufzubauen. SPIEGEL: Die Union will die Regierung zu gierung ist verpflichtet, die Gesellschaft in einer Steuerreform drängen, die die Bürger eine sichere Zukunft zu führen und nicht irbis 2003 um bis zu 50 Milliarden netto ent- gendwelchen Wunschträumen Rechnung zu lastet. tragen. Schlussendlich würde ich sagen: LieMüller: Was da entworfen wird, ist in man- ber nicht wiedergewählt werden, weil man chen Punkten eine Ecke schlechter als un- eine für die Zukunft notwendige Politik verser Vorschlag. Die Union will den Körper- antwortlich betrieben hat, als der Wankelschaftsteuersatz auf 35 Prozent senken, wir mütigkeit des Populismus wegen in Schimpf und Schande abgewählt zu werden. SPIEGEL: Herr Müller, wir danken Ihnen für * Mit Redakteuren Ulrich Schäfer und Jan Fleischhauer. dieses Gespräch. 30 d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite M. KRIZANOVIC / DIE ZEIT Privatmann Lafontaine (am vergangenen Montag): Mit Oskar war immer zu rechnen – und nie auf ihn zu bauen SPD Die verfolgende Unschuld Die Welt aus Oskar Lafontaines Sicht: Wenn er den Film zurückdrehen könnte, würde er Gerhard Schröder nie zum Kanzler machen. Von Jürgen Leinemann 34 muliert: „In früheren Jahrhunderten nagelte das Publikum den Journalisten die Ohren an die Pumpe.“ Ach ja, das waren Zeiten. Nun liegt das Büchlein griffbereit auf dem Schreibtisch eines Mannes, der in diesen Tagen seinerseits mit einer sorgfältig inszenierten Pressekampagne die Republik überzieht. Kein Tag ohne neue rüde Angriffe auf die SPD, die er als Vorsitzender wieder an die Macht gebracht hat. Kein Interview ohne Häme über den Kanzler, der’s nicht bringt. Und keine öffentliche Äußerung ohne Werbung für sein Buch „Das Herz schlägt links“, BECKER & BREDEL N un stehen sie wieder vor seiner Haustür. Kameraleute, Fotografen, Mikrofonhalter. Ihre Blicke streichen an den Fenstern entlang, jeden Besucher des Hauses Am Hügel 26 in Saarbrücken fragen sie, ob Oskar Lafontaine zu Hause sei. Und wie er sich fühle. Der fühlt sich belagert. Belästigt. Terrorisiert. Auf seinem Schreibtisch im Souterrain, von wo aus er den Eingang nicht sehen kann, hält er Schriftgut bereit, das seinen Zorn in Worte kleidet, Botho Strauß zum Beispiel: „Das Regime der telekratischen Öffentlichkeit ist die unblutigste Gewaltherrschaft und zugleich der umfassendste Totalitarismus der Geschichte.“ Und er, Oskar Lafontaine, ist ihr Opfer. Weit reißt der Hausherr die Augen auf und starrt seinen Besucher herausfordernd unschuldig an. Er hat sich gut munitioniert für das Gespräch über die Medien mit den Medien. „In früheren Zeiten hatten die Menschen die Folter. Jetzt haben sie die Presse“, steht in einem Essay von Oscar Wilde, der aus dem Papierwust auf seinem Schreibtisch hervorlugt. 1891 hat der exentrische Brite in einer Abhandlung über den „Sozialismus und die Seele des Menschen“ seine Attacken auf den Journalismus for- Lafontaine-Buch Vergiftetes Vermächtnis d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 das er in dieser Woche mit gewaltigem Medienrummel auf der Buchmesse in Frankfurt vorstellen wird. Das Medienopfer Oskar Lafontaine ist eine rege verfolgende Unschuld. Es hat immer schon zum Selbstverständnis des robusten politischen Akteurs Oskar Lafontaine gehört, dass er dem Leben in Notwehr-Situation gegenüberstand. Alles ist ihm zugestoßen – Ämter, öffentliche Aufmerksamkeit, Niederlagen. Immer hat er nur reagiert. Im März mit fluchtartigem Rückzug, nun mit rächender Rechtfertigung. Was hätte er denn stattdessen machen sollen? Eine Blaskapelle vors Haus stellen und feierlich eine Proklamation vorlesen? Oskar Lafontaine klingt weder aggressiv noch sentimental in solchen Augenblicken, auch nicht hilflos oder trotzig. Er spricht leise und nachdenklich, wie aus weiter Ferne und außerhalb der Zeit. Zwei Armbanduhren hängen über dem Schaft seiner Schreibtischlampe, als hätte er die Gegenwart abgestreift. Hört er nichts vom Getümmel, das er auslöst? Kümmern ihn die Folgen seiner schrillen Anklagen nicht? Wenn er angegriffen wird, muss er leider die Wahrheit sagen. So ist das. Schulterzucken, blanker Deutschland F. OSSENBRINK * Am 14. März bei seiner ersten öffentlichen Erklärung nach dem Rücktritt vor seinem Haus in Saarbrücken. zimmer in Saarbrücken hängt nun jenes gerahmte Foto von Frau und Sohn mit Riesenbovist, mit dem er ein Stück Heimat vor seinen Bonner Schreibtisch zu zaubern versuchte. Vielleicht hätte er das nicht tun sollen, sagt er jetzt. Zu viel Heimweh. 30 Jahre lang war Oskar Lafontaine eine öffentliche Figur gewesen, und in all dieser Zeit verlief seine Achterbahnkarriere im Spannungsfeld einer irritierenden Ambivalenz. Hin- und hergerissen zwischen hechelndem Ehrgeiz, in der Politik der Erste und Beste zu sein, und einer saugenden Sehnsucht nach Heimat und Familienidyll, enttäuschte er Freunde und erschreckte Feinde. Mit Oskar war immer zu rechnen, auf Oskar war nie zu bauen. Unvergessen das Entsetzen in den Augen des jungen Oberbürgermeisters und SPDVorständlers aus Saarbrücken, als er den damaligen Kanzler Helmut Schmidt von zwei schwarzen Aktentaschen niedergezogen, grau und schwer die Stufen zur SPD-Baracke in Bonn hochstapfen sah. „So soll ich auch werden? So kaputt?“ Unübersehbar aber auch, wie ähnlich er ihm ein Vierteljahrhundert später geworden war. Zum Dienst mochte er der Partei verpflichtet gewesen sein, sagt er heute, aber nicht bis zum Infarkt. 1990, als ihn die Attentäterin mit einem Stich in den Hals niederstreckte, hatte er – den Tod vor Augen – schon einmal erschrocken Bilanz gezogen: War das sein Leben gewesen? Nicht noch einmal, nahm er sich vor, wollte er mit so leeren Händen vor Frau und Kindern stehen. Das Attentat.Wer dürfte zweifeln an den Folgen dieses Traumas. In den letzten WoFOTOS: REUTERS ( li.); AP (re.) Blick. Der gerade noch machtvolle SPD-Chef, der über seine politischen Kontrahenten mit unverblümter Verachtung schreibt und redet, thront hinter seinem Schreibtisch wie abgeschnitten von seinen eigenen Sätzen. In der vergangenen Woche scheint das schon Welten entfernt. Lafontaine – zuletzt mürrisch und gehetzt – wirkt wach und ausgeruht. Er überrascht durch milde Zuhörbereitschaft. Wenn er ins Argumentieren gerät, liest er do- Vater Lafontaine, Sohn Carl-Maurice: „Dahem is dahem“ zierend aus den Druckfahnen Regression. Rückzug auf kindliche Musseines Buches vor, die er mit roten Zusätter. Oskar Lafontaine überließ es seinem zen und Anmerkungen versehen hat. Er formuliert drastisch und riskant wie Sohn Carl-Maurice, diese Haltung auszueh und je, nennt Scheißdreck, was ihm drücken: Der erschien auf dem heimischen missfällt, und Flachgeister, die ihn nicht Balkon und streckte der Nation die Zunge raus. verstehen. Aber er bullert nicht mehr. Vier Monate, sagt Lafontaine heute, Die freundliche Stimme und die ruhige Aufmerksamkeit stehen in einem be- habe er sich mit dem Abschied rumgetrafremdlichen Kontrast zur kalten und schar- gen, bevor er gehandelt habe. Und in der fen Diktion seiner Aussagen. Wenn er den ersten Phase, vor Weihnachten, hat es nicht Film zurückdrehen könnte, würde Schrö- gefehlt an andeutenden Drohungen und der nie Kanzler werden, sagt er beiläufig. Vorhersagen. Als Lafontaine dann im heimischen Das Risiko mit dem Niedersachsen sei ihm ja immer klar gewesen, doch habe er an Saarbrücken selbst öffentlich auftauchte, dessen Vernunft geglaubt. Er sei also davon präsentierte er sich ostentativ als Privatausgegangen, dass Schröder, wenn er auf mann. In Strickjacke, den Sohn auf den Platz eins sitze, ihn, Oskar, gewähren lasse. Schultern, signalisierte er die Verwandlung Oskar, der Puppenspieler, mit der Kanz- zum Familienmenschen, bevor er sein verlerhandpuppe Gerd: So hätte es sein müs- giftetes Vermächtnis verlas. Alle Kränkunsen. Dass es so nicht gekommen ist, ver- gen, Enttäuschungen und Misserfolge seines politischen Lebens entluden sich in pazeiht er weder Schröder noch sich selbst. Lafontaine, der angebliche Lebensge- thetischer Selbstidealisierung als Gefühlsnießer, ist keiner, der milde mit sich um- Sozialist, der sein Herz nicht an der Börse geht beim Versagen. Alle haben ihn ge- handeln lässt. Neues Leben, neues Glück? Als Hauswarnt, sich dem Kanzler im Kabinett zu unterstellen. Er hat sich überschätzt, nun mann ist Oskar Lafontaine von liebensist die Selbstbestrafung unbarmherzig. Was würdiger Befangenheit. In seinem Arbeitsder Attentäterin Adelheid Streidel 1990 nicht gelungen ist, holt ihr Opfer jetzt nach: die Zerstörung der politischen Person Oskar Lafontaine. Beobachtern ist schon unmittelbar nach dem abrupten Abschied des Saarländers aus allen politischen Ämtern am 11. März aufgefallen, dass das Szenario des Endes, von Oskar Lafontaine sorgfältig geplant und umgesetzt, alle Züge eines Bilanz-Suizids hatte. Das reichte vom durchgehaltenen Alltag als Ablenkungsmanöver über einen Vorabend in Gesellschaft mit fast euphorischen und zukunftsorientierten Äußerungen bis zur aggressiven Kargheit der Abdankungsbriefe, die mehr Abstrafung waren als Abschied. Keine Erklärung, keine Chance für Nachfragen – sollten doch alle mal überlegen, was sie dem aus Bonn Verschiedenen angetan hatten. Es würde ihnen schon leid tun. Ex-Minister Lafontaine*: Abschied als Abstrafung d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 35 Lafontaine-Sohn Carl-Maurice, Mutter* Sehnsucht nach Heimat und Familienidyll chen in Bonn habe er wieder das Messer blitzen sehen im Traum, erzählt er. Aber war deshalb gleich sein ganzes politisches Leben ein Opfergang? In Wahrheit, behauptet Lafontaine heute, habe er überhaupt nur um zwei politische Positionen aus eigenem Antrieb gekämpft – um das Amt des Oberbürgermeisters von Saarbrücken und um das des SPD-Vorsitzenden im Saarland. Nicht einmal Ministerpräsident habe er wirklich werden wollen. In die Kanzlerkandidatur 1990 sah er sich hineingedrängt von den Genossen, am Parteivorsitz im November 1995 in Mannheim, als er putschartig Rudolf Scharping ablöste, war seine Frau Christa Müller schuld. Die habe ihn bekniet, er dürfe die Partei nicht absaufen lassen. Dass er sich Scharping und Schröder überlegen fühlte, damals wie heute, versteht sich. Nun geht es ihm, sagt er, saugut, sieht man vom Politischen ab. „Dahem is dahem“, wie die Saarländer sagen. Er trinkt von seinem Rotwein, wie es ihm der ehemalige Freund Günter Grass per Schlagzeile anrät, hat ein paar Pfunde zugelegt, doch das Maulhalten will ihm nicht gelingen. Seine Wohnung hängt voll mit Farbfotos, die Oskar Lafontaine von seiner Familie in heimischer Landschaft geknipst hat, idyllische Bilder, die sich nostalgisch zu MilieuGemälden von Fritz Zollenhofer aus der Hochzeit der Arbeiterbewegung gesellen. Zusammen ergibt das eine Anmutung von Heimatmu- seum, in dem der Hausherr selbst das Prunkstück bildet. Nur, dass er eben noch immer ein bisschen abwesend erscheint im eigenen Heim. Ein Leben als bloßer Provinzonkel lässt sich so leicht nicht durchhalten. Die Politik, die er amputiert zu haben vorgibt, quält ihn wie ein Phantomschmerz. Und er quält zurück. Mochte er das Buch, in dem er seinen Bruch mit den regierenden Genossen rechtfertigen wollte, zunächst noch als Bilanz seines politischen Wollens geplant haben; unter dem Druck der aktuellen Ereignisse wurde es zu einem Rachefeldzug. Es ist, als habe Lafontaine erst nachträglich begriffen, dass er das Werk der politischen Selbstvernichtung nur unvollständig betreibe, wenn er nicht alles mitzerdeppere, was er zuletzt, im Verein mit Schröder, geschaffen hat – eine halbwegs geeinte Partei und eine hoffnungsvolle Regierung. Nun teilt er aus. In der simplen mechanischen Logik seines vorkybernetischen physikalischen Denkens gibt es nur eindimensionale Abläufe von Ursache und Wirkung, Schuld und Bestrafung, Freund und Feind. Dort sind die Dummköpfe und Schurken, hier ist er. Die Folge ist, dass sich Oskar Lafontaine bis zur Unkenntlichkeit in Besserwisserei aufgelöst hat. Er scheint nur noch ein Reflex jener radikalen Beschuldigungen zu sein, mit denen er den Rest der Welt ins Unrecht setzt. Ist Oskar Lafontaine ein Linker? Ein Traditionalist? Er wehrt sich gegen diese Klischees, zu Recht. Aber sie prallen auf den Polemiker Lafontaine zurück, der jeden Andersdenkenden als Neoliberalen verteufelt, ob Bodo Hombach oder Walter Riester. In Wahrheit ist Lafontaine politisch zeitlebens so wendig und opportunistisch gewesen wie Gerhard Schröder auch. Ein Wunder ist es deshalb nicht, dass dort, wo er in der Partei gestanden hat, jetzt kein Nachfolger auftaucht, geschweige denn ein Bataillon von Gefolgsleuten. Und dass umgekehrt auch seine bedenkenswerten Positionen, seine Warnungen vor der Dominanz der Amerikaner auf den internationalen Finanzmärkten etwa, von den verbliebenen SPD-Linken nicht aufgegriffen werden, zeigt, wie irrlichternd er sich verrannt hatte. Nun tut Oskar Lafontaine so, als habe er alles hinter sich. Die Debatte, die er angeblich wollte, aber als Parteichef wegen ihres zerstörerischen Potenzials nicht anstoßen durfte, läuft jetzt und zerstört die Wahlchancen der SPD: Er begleitet sie mit Zitaten aus seinem „Hauptwerk“, wie er sein Buch nennt. Wenn seine parteipolitischen Gegner im Fernsehen auf ihn einprügeln oder die künftige SPD-Politik zu beschreiben versuchen, schläft er gelangweilt ein. Da ist nichts Neues für ihn drin. Was er nun machen will? Der Traum vom Bauernhof ist erst mal gestrichen – zu viel Arbeit. Er ist schließlich Autor. Und in Frankfurt wird der mediengeleitete Schröder schon sehen, was ein wirklicher Medienstar ist. Einer wie Oskar braucht kein Amt, um von sich reden zu machen. Vielleicht schreibt er sogar noch ein Buch. Oskar Lafontaine wiegt stolz seinen Sohn auf dem Arm und lehrt ihn, dass alle Menschen dumm sind, selbst Papa. Wenn es auch zur Belehrung der anderen noch allemal reicht. Nach der Frankfurter Buchmesse hat er jedenfalls jede Menge Einladungen, aber dass er von Buchhandlung zu Buchhandlung tingelt, kommt nicht in Frage. Und politisch? Da muss Oskar Lafontaine vorbeugend lachen. Jeden, der ihm Gedanken an ein Comeback in der Politik unterstellt, betrachtet er, als sei er geistesgestört. Andererseits bleibt er natürlich ein politisch interessierter Mensch. Da soll sich bloß keiner täuschen. Vor einigen Wochen hat er noch vielsagend durchblicken lassen, dass er einen Film im Kopf habe – in zwei Jahren sehe die Welt ganz anders aus. Jetzt beschränkt sich der Ruheständler Lafontaine erst einmal darauf, die Ungewissheit über seine Teilnahme am SPD-Parteitag in Berlin lebendig zu erhalten. Will er denn wirklich dahin? Na ja, er ist natürlich, seit er den Vorsitz aufgegeben hat, nicht mehr automatisch Delegierter. Andererseits – den Saaldiener möchte er sehen, der ihn rausschmeißt. Mag sich auch die politische Leitfigur Lafontaine selbst zerstören. Der Trickser Oskar lebt. ™ BERLINER ZEITUNG D. ZEHENTMAYR BECKER & BREDEL Deutschland * Christa Müller, bei einem Kinderfest in Saarbrücken im September. 36 d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Deutschland CDU Danke, es reicht Helmut Kohl benimmt sich noch immer wie ein Bundeskanzler – und nervt damit seine Partei. 38 B. BOSTELMANN / ARGUM E igentlich galt der Empfang im Berliner Opernpalais der früheren Bundestagspräsidentin Annemarie Renger, die am vergangenen Donnerstag ihren 80. Geburtstag feierte. Doch kaum schob sich die massige Gestalt des Altbundeskanzlers durch den Flur, ließen die versammelten Kamerateams die Jubilarin umstandslos stehen und stürzten sich auf Helmut Kohl. Der dicke Pfälzer, früher nicht gerade ein Freund der Presse, genoss den Auftritt sichtlich. „Zwei alte Männer und eine junge Frau“, scherzte der 69jährige mit kokettem Blinzeln und schob sich neben Renger und dem etwas gequält wirkenden Wolfgang Thierse, 55, vor die Objektive. Wo auch immer der abgewählte Regierungschef in diesen Tagen auftaucht, wird er empfangen wie ein Star. In Umfragen kletterte Kohl binnen zwei Monaten von Platz fünf der beliebtesten deutschen Politiker auf Platz drei. „Es gibt ein richtiges Kohl-Revival“, stellt der frühere Verkehrsminister Matthias Wissmann halb ungläubig, halb erfreut fest. Doch nicht immer kann der „Herr Bundeskanzler“, wie Kohl von Parteifreunden weiter ehrfürchtig genannt wird, zwischen Nostalgie und Realität unterscheiden. Beflügelt vom Jubel derer, die ihre eigene Vergangenheit feiern, benimmt Kohl sich gelegentlich eher als Kanzler „in Reserve“ denn als Kanzler „außer Dienst“. So forderte der Ehrenvorsitzende, das Adenauerhaus müsse wie früher zu jedem seiner Wahlkampfauftritte für professionellen Bühnenaufbau und Begleitpersonal von rund zehn Mann sorgen. Unzumutbar sei ihm auch die Qualität der Mikrofone, klagte Kohl und verlangte seine alte Lautsprecheranlage zurück. Schließlich sei er „derjenige, zu dem die meisten kommen“, brüstet sich der Publikumsliebling. Generalsekretärin Angela Merkel ließ den Antragsteller abfahren. Eine solche Sonderbehandlung sei nur für den amtierenden Parteivorsitzenden möglich, beschied sie kühl. Alle anderen müssten mit der normalen Ausstattung durch die Landesverbände vorlieb nehmen. Sie könne nicht erkennen, dass die Veranstaltungen des Ehrenvorsitzenden organisatorisch gelitten hätten. „Schließlich sind sie ja der Renner“, so Merkel. Erbost über die mangelnde Unterwürfigkeit seiner einstigen Ziehtochter, deren Modernisierungsforderungen Kohl zu Publikumsliebling Kohl*: „Zu mir kommen die meisten“ Recht als Kritik begreift, mobbt der ExKanzler nun beständig gegen Merkel. Das „Mädchen“ habe den Laden nicht im Griff. Früher habe alles besser funktioniert. Entgegen den öffentlichen Beteuerungen seiner Parteifreunde kann Kohl sich nur schwer damit abfinden, dass der Laden auch ohne ihn läuft, und mischt sich immer wieder ein. Als die CDU/CSU-Fraktion vergangene Woche heftig über den Einsatz deutscher Soldaten in Osttimor stritt, ließ Kohl über seinen Nachfolger Wolfgang Schäuble ausrichten, es sei „sein persönlicher Wunsch“, dass die Fraktion der Entsendung zustimme. Er erwarte entsprechendes Verhalten. Obwohl vielen Abgeordneten Kohls Intervention missfiel, stimmten sie schließlich zu. Mit seiner buddhahaften, Bonbon lutschenden Dauerpräsenz und seiner Comeback-Tournee geht Kohl der Fraktion kräftig auf die Nerven. Manch einer, meint ein CDU-Politiker, würde wohl gern einen SPD-Wahlkampf-Spruch wieder auspacken: „Danke Helmut, es reicht.“ Doch die Abrechnung mit 16 Jahren Kohl ist nach wie vor tabu. Und niemand will sich vorwerfen lassen, er beschädige die derzeit einzige Kultfigur der CDU. So fällt es dem Alten, der im kommenden April seinen 70. Geburtstag feiert, leicht, die garstigen Teile der Realität auszublenden. Mehr und mehr verfestigt sich in ihm die Überzeugung, er sei bei der Bundestagswahl vom 27. September um sein Amt betrogen worden. Kohl betrachte sich als Opfer eines großen Schwindels, den Schröder und Co. angezettelt haben, glaubt sein früherer Gesundheitsminister Horst Seehofer: „Durch die große Zustimmung * Bei einer CDU-Wahlveranstaltung im September in Erfurt. d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 bei seinen Auftritten fühlt er sich rehabilitiert.“ Schon gibt es Befürchtungen, der Alte plane eine Rückkehr in die aktive Politik. Der Ehrenvorsitzende sei sich „nicht immer ganz darüber im Klaren, dass er nie mehr der Spitzenkandidat sein wird“, beschreibt ein CDU-Führungsmitglied Kohls Gemütslage. Umgeben von seiner Gesteins- und Münzsammlung, umsorgt von seiner Vorzimmerdame Juliane Weber und seinem Kanzleramts-Adlatus Michael Roik, hat Kohl es sich in seinem Berliner Büro Unter den Linden in der eigenen Vergangenheit bequem gemacht. Kontakt pflegt er vor allem zu seinen alten Spezis „Carbonara“ (Eduard Ackermann), „Fritzi“ (Andreas Fritzenkötter) und „Tony“ (Anton Pfeiffer). Mit der neuen Garde der CDU könne der Alte dagegen nicht viel anfangen, sagt einer seiner früheren Minister. Ohne den Anflug eines ironischen Grinsens ließ Kohl sich im Berlin-Wahlkampf von Eberhard Diepgen mit „Das Wort hat der Bundeskanzler“ begrüßen. Ende August wurde er in China von Präsident Jiang Zemin wie ein Staatsgast empfangen, mit Bill Clinton telefoniert er regelmäßig, ebenso mit Männerfreund Boris Jelzin. Sogar eine Kabinettssitzung hielt Kohl bereits wieder ab. Mitte September traf sich die alte Regierungsmannschaft bis auf wenige Ausnahmen bei Pfronten im Allgäu und schwelgte in alten Erinnerungen. „Gegen Mitternacht haben wir mit Hilfe von viel Alkohol die Regierung wieder übernommen“, erinnert sich „Vizekanzler“ Klaus Kinkel. Das nächste Ehemaligentreffen ist bereits geplant. Kinkel lädt auf die Hohenzollernburg bei Hechingen. Tina Hildebrandt Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite J. H. DARCHINGER FOTOS: F. OSSENBRINK Mobiltelefonierer Andrea Fischer, Otto Schily, Joschka Fischer: Was es gibt, wird auch benutzt S P I O NAG E Die Wanze hat laufen gelernt Der technische Fortschritt beunruhigt die Regierung: Sie prüft ein Handy-Verbot im Kabinettssaal, da die Telefone zum Lauschangriff missbraucht werden können. S o manchem Minister der Bundesregierung steht demnächst ungewöhnlicher Besuch ins Haus. Die Herren vom Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) haben sich in den Ressorts angesagt. Sie wollen in den Büros elektronischen Hausputz halten. Dabei werden die Experten vom Referat IV4 („Lauschabwehr,Abstrahl- und Lauschabwehrprüfungen“) die Spitzenkräfte des Kabinetts freundlich, aber bestimmt aus deren Arbeitszimmer komplimentieren. Denn das futuristische Instrumentarium und die Arbeitsweisen der BSI-Männer sind so geheim, dass nicht einmal die Minister zusehen dürfen. Der Einsatz der Anti-Lausch-Einheit macht Sinn: Nirgendwo in Deutschland sitzen Geheimdienste aus aller Welt dichter aufeinander als im neuen Berliner Regierungsviertel. Und nirgendwo, befürchten Sicherheitsexperten, mühen sich die Späher so um gute Ausgangspositionen wie 42 an der Schnitt- und Baustelle zwischen Ost und West. Besonderes Unbehagen löst bei Staatsschützern der riesige Block der russischen Botschaft nahe dem Brandenburger Tor aus: ein geradezu idealer Standort für Lauschmaßnahmen aller Art. Selbst nach Ende des Kalten Krieges haben die russischen Dienste ihre Neugier nicht gezügelt. Schon 1997 warnte der Bundesnachrichtendienst (BND) die Bundesregierung, man habe eine „Vertretung der Fapsi“, des russischen Abhördienstes, ausgemacht – in der jetzigen russischen Vertretung in Berlin. Hatten die Geheimdienste West wie Ost einst mit Hilfe gewaltiger Horchanlagen eine Art elektronisches Spinnennetz installieren müssen, so macht jetzt der technische Fortschritt in der Telekommunikation das Ausspähen offenbar leichter: Anlagen und ihre Software lassen sich vor Ort manipulieren. Neueste Variante ist der Einsatz von Handys. Die Dimension des d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Lauschangriffs per Mobilfunk erklärt ein Spezialist so: „Jetzt hat die Wanze das Laufen gelernt.“ Wann und wo die Bundesfahnder zuletzt fündig wurden, ist streng geheim – schon weil es hochpeinlich wäre, wenn bekannt würde, dass in der Regierung ein Mithörgerät oder eine manipulierte Telefonanlage aufgetaucht ist. BSI-Sprecher Michael Dickopf konstatiert nur trocken: „Was es gibt, wird auch benutzt.“ Schon 1994 stellten Techniker der für die Sicherheit der deutschen Botschaften zuständigen Abteilung 5 des BND im TelefonZentralrechner der Vertretung in Washington eine folgenschwere Manipulation fest: Die Software war so verändert worden, dass durch einen einfachen Anruf von außen beliebig Gespräche mitgehört werden konnten. Siemens hatte eine amerikanische Firma mit den Wartungsarbeiten an der Anlage beauftragt – der BND argwöhnte, dass die amerikanischen Kollegen von der CIA sich darüber Zugang verschafft haben könnten. Dickopf: „Der Trend geht weg von der schlichten Wanze hin zu Kommunikationsanlagen.“ Damit Ähnliches nicht in der Heimat geschieht, werden nun die Regierungsbüros sondiert. Bis zu einem Tag brauchen die BSI-Spezialisten für die Überprüfung eines einzelnen Zimmers: Alle „Öffnungen“ müssen begutachtet, die Wände auf Wan- Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Deutschland 46 genannte IMSI-Catcher vorgestellt. Das ist ein Gerät, das den Handys vorgaukelt, es sei eine der Stationen, die sie mit dem Netz verbindet. So erhalten die Manipulateure alle Kenndaten des Nutzers und können die Gespräche belauschen. Als „fachkompetenter Referent“ trat der Sicherheitsbeauftragte der E-Plus-Mobilfunk GmbH auf. Die Zuhörer erfuhren, dass der IMSI-Catcher „aus zwei 19-Zoll-Einschüben besteht und einer handelsüblichen GSM-Antenne. Die Steuerung erfolgt durch einen normalen Laptop. Von dem wird das Handy angewiesen, den Funkverkehr unverschlüsselt abzuwickeln.“ Zu Deutsch: Solche Geräte hebeln den als besonders sicher geltenden GSM-Standard aus. Ein einziger IMSI-Catcher – im dicht bebauten Regierungsviertel unauffällig von wem auch immer zu betreiben – könnte wohl reiche Beute machen. Und der Aufwand ist gering: „Alle Komponenten sind problemlos von einer Person transportierbar“, urteilten die Experten. „Der Betrieb erfolgt aus einem Pkw heraus, damit ist ein schneller Ortswechsel unproblematisch.“ Kostenpunkt: rund 100 000 Mark. Ein Lauschangriff auf den Staat? Eine Gruppe norddeutscher Hacker brüstete sich während des Kosovo-Krieges, man habe die Handy-Telefonate von Außenminister Joschka Fischer abgehört. Als Beweis sollen Gesprächsfetzen vom Band abgespielt worden sein. Den Beleg, dass die Aufnahme tatsächlich von Fischers Mobiltelefon stammte, blieben die Tüftler bis heute schuldig. Aber dass die Lauschgefahr besteht, ist unstreitig. So beriet das Kabinett während des KosovoKonflikts, bis zu welchem Verschlusssachengrad militärische GeHandy-Sendemast*: Lauschangriff auf den Staat? heimnisse auch am Handy beNach einem erfolgreichen Selbstversuch sprochen oder per Fax versandt werden verlangte der Bundesbeauftragte für Da- könnten. Grenzenloses Zutrauen in die tenschutz von den Herstellern, endlich Sicherheit der eigenen Datenleitungen gab es nicht – also galt fortan die Devise, dass „diese Technik sicherer zu machen“. In naher Zukunft werden echte Lausch- nur Meldungen mit der Sicherheitsstufe angriffe durch Mobiltelefone – zumindest VS-NfD (Nur für den Dienstgebrauch) theoretisch – auch ohne vorherige Mani- durch den Äther durften. Für wirklich pulation am Gerät möglich werden. In den Wichtiges wurden bei den Entscheidungsnächsten Jahren soll der derzeitige Über- trägern eigens nicht belauschbare Telefone tragungsstandard für Sprache und Daten installiert. Das BSI ist gerade dabei, ein eigenes verbessert werden, eine wichtige Neuerung ist dabei die so genannte Fern- Verschlüsselungsverfahren für Handys zu wartung. Hersteller und Mobilfunkanbieter entwickeln. Auf die Hersteller allein wolkönnen dann neue Software oder neue len die Beamten sich nicht verlassen. Die Leistungsmerkmale quasi per Funk an alle neue Abwehrwaffe soll in so genannten Nutzer weitergeben – so könnte auch eine sensitiven Bereichen eingesetzt werden, also etwa bei Kanzler oder AußenminisLauschmöglichkeit geschaffen werden. Auf der Fortbildungsveranstaltung in Sa- ter. Bis die Technik so weit ist, bleibt chen Horch und Lausch wurde auch der so denen als Schutz nur Disziplin beim MobilTalk. Ansbert Kneip, Georg Mascolo, „Manipulationsmöglichkeiten“. Die liegen freilich eher auf dem Niveau von HobbySpionen: Bei bestimmten Marken müssen nur an der Steckerleiste unten am Gerät die Pins 3, 6 und 9 überbrückt werden – das Gerät reagiert dann, als sei es an eine Freisprecheinrichtung angeschlossen. Nun wird im Benutzermenü der Klingelton abgeschaltet und die automatische Rufannahme aktiviert. Wer sein Handy dann im Büro liegen lässt und es von außerhalb anruft, kann mithören, was im Kollegenkreis so getratscht wird. Jeder zufällige Anrufer kriegt das Hörspiel allerdings ebenfalls geboten. C. BACH / PRESSEFOTO BACH + PARTNER zen geprüft werden. Per Hochfrequenzmessung werden die mit eigener Sendeanlage versehenen Lauscheinrichtungen aufgespürt. Komplizierter ist es bei Systemen, die eine Stromleitung zum Datentransport nutzen: Da hilft nur aufschrauben und nachschauen. Ein eigens entwickeltes System, versichert das BSI, sei sogar in der Lage, die neueste Wanzengeneration aus Plastik hinter Putz und Tapete ausfindig zu machen. Mit einem Besuch ist es allerdings nicht getan; die Experten kommen regelmäßig wieder. „Lauschabwehr“, sagt Dickopf, „ist eine Daueraufgabe.“ Schon in den Rohbauten der Ministerien trieben sich die BSI-Fachleute herum, sichteten unverputzte Wände und elektrische Installationen. Auf der Baustelle des Kanzleramts schieben die Kollegen vom BND Wache – Hauptquartier ist ein Baucontainer. Vergangene Woche bekam die Sicherheitsdebatte einen neuen Schub. Bei Kabinettssitzungen und in vertraulichen Parlamentsgremien sollen Handys aus Sicherheitsgründen künftig draußen bleiben. Offenbar fürchten die Experten, dass manipulierte Geräte im Umlauf sein könnten, die als Abhörmikrofon arbeiten. Die plötzliche Eile der Regierung überrascht. Die Bedrohungen in der schönen neuen Handy-Welt sind Insidern längst bekannt. Seit zwei Jahren debattieren BSIDatenschützer und Sicherheitsexperten über das Thema „Handy als Wanze“ (Aktenvermerk). Mit einer speziellen Software ausgestattet, lässt sich ein Handy aus der Ferne anrufen, ohne dass es klingelt oder dass verräterische Zeichen auf dem Display erscheinen. Voraussetzung ist allerdings, der Lauscher hatte zuvor Zeit und Gelegenheit, das Handy zu präparieren. Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat längst reagiert. Besucher der Geheimdienstzentrale in Köln müssen ihre Handys an der Pforte abgeben – nicht einmal im ausgeschalteten Zustand dürfen sie mit hineingenommen werden. Auch Dickopf mahnt: „Wer auf der sicheren Seite sein will, lässt sein Handy draußen.“ Die Staatsschützer wissen, wovor sie warnen – Polizeibehörden arbeiten bereits mit dieser Technik. Verdeckte Ermittler nutzen manipulierte Handys, um sich bei Treffen mit Kriminellen abzusichern – die Kollegen können aus sicherer Entfernung mithören. Die Handyhersteller fertigen sogar eine geringe Stückzahl dieser mobilen Wanzen für die geheimen Einsätze an, auf dem freien Markt sollen sie nicht erhältlich sein. Doch die obskure Branche der „SpyShops“ wirbt auch hier zu Lande gern mit solcherlei Equipment. Verkauft werden darf es offiziell nur im Ausland. Sogar „technisch versierte Laien“, so das Ergebnis eines Datenschützer-Kolloquiums im September 1997, verfügten über Hajo Schumacher * Im Berliner Regierungsviertel. d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite M. EBNER / MELDEPRESS Umweltminister Trittin*: Unterdrückung des linksalternativen Oppositionsgehabes MINISTER Charme als Waffe Jürgen Trittin versucht, von seinem Image als Bösewicht des Kabinetts wegzukommen. Sogar die Atombosse beeindruckt er mit seiner neuen Umgänglichkeit. S taatsmännisch, als wäre der leibhaftige Joschka in ihn gefahren, informierte der Bundesumweltminister die Öffentlichkeit. Jürgen Trittin machte keine Panik und wiegelte nicht ab – er referierte mit kühlem Ernst die Nachrichtenlage aus Tokaimura, vom schwersten Atomunfall seit Tschernobyl. Mit keiner Geste, geschweige denn mit Worten verriet Trittin in der vorvergangenen Woche seine Genugtuung über die fernöstliche Bestätigung der Risiken der Atomenergie. Der neue Trittin: Der grüne Minister hat begriffen, dass er als politischer Outlaw auf Dauer nichts bewegt. Ausgerechnet auf dem Feld, das ihm das Image des bockbeinigen Rüpels eingetragen hat, wirbt er nun als freundlich-ernster Riese um Vertrauen. Inzwischen droht kein Kanzler mehr mit Rausschmiss, und kein Parteifreund käme wie vor einem Vierteljahr noch auf die Idee, dem notorischen Störenfried den freiwilligen Rückzug zu empfehlen. „In der Partei“, versichert Grünen-Bundesgeschäftsführer Reinhard Bütikofer, herrsche mittlerweile „völlige Klarheit, dass Trittin nicht mehr in Frage gestellt wird.“ * Auf dem Weg zu einer Kabinettssitzung im Berliner Alten Museum am 22. September. 50 Das Verhältnis zum Kanzler, heißt es in des Ministers Umgebung, habe sich „längst entspannt“. Und Michael Schroeren, der sich als Sprecher des ungeliebten Umweltaufsehers monatelang ebenso klag- wie erfolglos mühte, dessen konfrontative Politikversuche in ein freundliches Licht zu rücken, registriert hocherfreut eine „erkennbar differenziertere Berichterstattung“. Seit seinem Amtsantritt im Herbst 1998 war der grüne Minister mit Provokationen des Koalitionspartners, forschen Auftritten im befreundeten Ausland und barschem Gebaren aufgefallen – nur nicht mit Erfolgen in der Umweltpolitik oder beim Atomausstieg. Zielstrebig marschierte Trittin, vorbei an PDS-Vormann Gregor Gysi, ans unterste Ende jeder Sympathieskala. Selbst seinen Anhängern in Partei und Umweltverbänden schwante, dass sein aggressiver Politikstil der ökologischen Sache eher abträglich war. Statt dem Wahlvolk Angebote für einen attraktiven, jedoch ökologisch korrekten Lebensstil anzudienen – analysiert ein grüner Spitzenfunktionär –, habe sich Trittin in seinem ersten Amtsjahr als „Repräsentant des exekutiven Durchzockens“ präsentiert und so die eher libertär gesinnte grüne Stammklientel immer wieder vergrault. d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Oskar Lafontaines plötzlicher Abgang im März und Bodo Hombachs Zwangsversetzung Richtung Balkan machten alles noch schlimmer: Trittin blieb als letzter böser Bube am Kabinettstisch zurück. Was auch immer der Umweltminister danach anfasste, die Lobbyisten jaulten auf – und konnten sich der Zustimmung des Publikums sicher sein. Ob Trittin mit einer moderaten Verschärfung der zuvor zahnlosen Sommersmogverordnung seiner Vorgängerin Angela Merkel vorpreschte oder die Spitzen ihm unterstellter Bundeseinrichtungen neu besetzte, die Öffentlichkeit registrierte alles nur als neue Gemeinheiten. Neu am neuen Trittin ist vor allem die bislang erfolgreiche Unterdrückung eines linksalternativen Oppositiongehabes. Die Anti-Haltung hilft den regierenden Grünen nicht weiter, sie brauchen Erfolge. So hat der privat angenehm und witzig auftretende Minister den öffentlichen Charme als Waffe entdeckt. Als das dem Haus Trittin nachgeordnete Umweltbundesamt (UBA) in Berlin im September seinen 25. Geburtstag feierte, wurde der Minister unverhofft zum Star des Festakts. Vor der nahezu vollständig versammelten Creme der Umweltschutz-Wissenschaft begnügte er sich nicht mit jubiläumsüblichen Freundlichkeiten, sondern konterte spontan und witzig die Sticheleien des Vizepräsidenten des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Tyll Necker, der vor ihm gesprochen hatte. Das Auditorium applaudierte begeistert. Dabei war der Auftritt alles andere als ein Heimspiel. Weil Trittin monatelang als „Atomausstiegsminister“ absorbiert war, fühlten sich ganze Abteilungen der Berliner Behörde von ihrem obersten Dienstherrn missachtet. Mittlerweile ist UBA-Präsi- Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite DPA Deutschland Automesse-Besucher Trittin: Flexibel und verbindlich dent Andreas Troge, immerhin ein Mann mit CDU-Parteibuch, nicht die harmloseste Kritik an seinem Minister zu entlocken. Im Gegenteil: Aus dem Stegreif zählt der Amtschef eine ganze Liste umweltpolitischer Leistungen auf, die in die noch junge Amtszeit des Ministers fallen. Das Aktionsprogramm „Umwelt und Gesundheit“, das Trittin mit seiner grünen Kollegin Andrea Fischer aufgelegt habe, sei ambitioniert, bei den Regelungen zum Materialeinsatz in der Produktion habe es unter Trittin während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft „einen richtigen Ruck“ gegeben. Dass bei der anstehenden Millenniumsrunde der Welthandelsorganisation WTO im amerikanischen Seattle die Verankerung multilateraler Umweltabkommen auf der Agenda steht, gehe ebenfalls auf eine Initiative Trittins zurück. In Fachgesprächen, schwört Troge, habe er seinen neuen Dienstherrn stets „detailliert informiert und gut vorbereitet“ angetroffen. Mit der Steuerbefreiung umweltfreundlicher Gaskraftwerke und der vorgezogenen Einführung und steuerlichen Förderung schwefelarmen Benzins kann er nun auch echte Erfolge vorweisen. Die knapp zwei Wochen als kommissarischer Amtschef zwischen Franz Müntefering und Reinhard Klimmt nutzte der „erste Verkehrsminister ohne Führerschein“ geschickt zur Imageaufbesserung. Für seinen Einsatz gegen die von der finnischen EUPräsidentschaft anvisierte Lockerung des Sonntagsfahrverbots für Lkw lobten ihn selten einhellig Umweltverbände und ADAC. Seinen Auftritt bei der Internationalen Automobilausstellung in Frankfurt inszenierte der notorische Beifahrer als fröhliches Medienereignis. Gut gelaunt klappte der Interimsminister seine 196 Zentimeter in Sprit sparende Kleinwagen, um anschließend sein Interesse an den eigentlich als Accessoires gedachten Edelbikes von Audi und BMW zu demonstrieren. Schließlich, als das Betteln 54 d e r der Fotografen kein Ende nehmen wollte, ließ sich der vermeintliche Autofresser lächelnd in einer der zahllosen Sportlimousinen ablichten, nicht ohne die relativierende Bemerkung, jede Messe lebe schließlich von derlei „Verrücktheiten“. Natürlich weiß Trittin, dass alle Imagepflege folgenlos bleibt, wenn am Ende der Ausstiegsverhandlungen mit der Stromwirtschaft kein tragfähiger Atomkompromiss steht. Aber auch auf diesem Feld, auf dem Trittin in der Vergangenheit vom Kanzler mal gegen Wirtschaftsminister Werner Müller, mal gegen den Ober-Grünen Joschka Fischer ausgetauscht wurde, erlebt der Minister ein Comeback. Als sich die vier Bosse der wichtigsten Kernkraftkonzerne Mitte September mit Fischer, Trittin und dessen Staatssekretär Rainer Baake im Berliner Gästehaus des Auswärtigen Amts zum vertraulichen Plausch trafen, kamen die Herren aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Das grüne Trio harmonierte blendend. Der Umweltminister, berichtete nachher ein Teilnehmer, sei „kaum wieder zu erkennen“ gewesen. Die grüne Delegation überraschte die Stromer mit einem von Baake ausgearbeiteten Konsenspaket, das sich erstmals von einheitlichen Laufzeitbeschränkungen für alle Meiler verabschiedete. „Flexibilität und Verbindlichkeit“ lautet seither die Parole, mit der die grüne Doppelspitze die Stromer für einen Ausstiegsplan gewinnen will, der die Interessen der Kontrahenten besser verknüpft als der von Wirtschaftsminister Müller ausgehandelte Plan mit fixen Laufzeiten von mindestens 35 Jahren. Gegenüber der Öffentlichkeit blieben die Stromchefs zwar beim Müller-Plan, doch intern lobten sie das grüne Modell als „nicht unintelligent“. Der „große Friede“ sei zwar nicht ausgebrochen, sagt ein Spitzenmanager, doch müsse man sich hüten, „das kleine Pflänzchen gleich wieder platt zu treten“. Gerd Rosenkranz s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Deutschland Jahrhundert-Medikament – wird teuer verkauft. 20 Tabletten Valium, die jeweils ARZNEIMITTEL 10 Milligramm des Wirkstoffs Diazepam enthalten, kosten in der Apotheke 12,19 Mark. Die gleiche Menge Diazepam, auf dieselbe Weise abgepackt, ist aber schon für 2,38 Mark zu haben – dann heißt das Medikament Diazep – oder für 2,71 Mark Die Preise für Medikamente werden nach als Lamra. obskuren Regeln festgesetzt. Der Dumme ist der Patient. Der Valium-Hersteller Hoffmann-La Roche kann sich die Hochpreispolitik leisie Münchner Firma Sankyo Pharma die Hilflosigkeit und das Vertrauen der ten: Gewöhnlich vertrauen Patienten einem Medikament, welches sie in guter Ermacht sich vor allem um die Lah- Kundschaft aus. Beispiel Valium: Die Arznei – 1958 für innerung haben – koste es, was es wolle. men verdient. Sie offeriert allen, Alle Versuche der deutschen Gesundderen Gelenke wegen der degenerativen die Schweizer Firma Hoffmann-La Roche Abnutzung der Knorpel knacken und erstmals synthetisiert und wegen ihrer heitsminister Rita Süssmuth (CDU), Horst schmerzen, einen lindernden Spray. Er „entspannenden, vegetativ stabilisieren- Seehofer (CSU) und Andrea Fischer (Grüheißt Mobilat Indometacin, 50 Milliliter den, beruhigenden, schlaffördernden Wir- ne), den Arzneimittelmarkt, der vor allem kung“ (Roche-Werbung) unbestritten ein von den zwangsweise eingetriebenen kosten in der Apotheke 14,63 Mark. Beiträgen der KrankenkassenmitMan sprüht das Gemisch aus Alkohol, Mark glieder lebt, halbwegs unter KonFettsäuren, Geruchsstoffen und dem Rheu400 trolle zu bekommen, sind gescheimamittel Indometacin drei- bis fünfmal Griff zur Pille tert. In anderen EU-Ländern, dartäglich auf den Ort der Pein, manchmal 350 Arzneimittelumsatz unter Großbritannien und Spanien, hilft das. Neben dem teuren Mobilat-Spray pro Kopf 1995 300 müssen die Pharmaproduzenten bietet der Apotheker auch Elmetacin feil. 305 250 ihre Preiskalkulation der Regierung Die gleichgroße Sprühdose enthält haaroffen legen, sie ist genehmigungsgenau dieselben Substanzen in den glei200 pflichtig. chen Mengen – schließlich wird sie von 150 In diesem Jahr werden in derselben Firma im gleichen Bottich zuDeutschland mindestens 39 Milsammengerührt. Ihr Vorteil: Elmetacin kos100 liarden Mark auf Kassenkosten für tet nicht 14,63 Mark wie das Mobilat-Spray, 50 Arznei- und Heilmittel ausgegeben, sondern 8,25 Mark. Der Lahme und seine gut 16 Prozent mehr als im verganKasse sparen 44 Prozent. 0 genen Jahr. Das reicht aber noch Die frohe Beschwingtheit hält selten lanimmer nicht, klagen Ärzte, Apothege an, weil Arthrose- und Rheumaschmerker und Pharmafirmen im Chor. zen meist wiederkehren. Versucht der Quelle: Bild der Wissenschaft Obwohl die Ärzte pro Jahr mindesMalträtierte diesmal sein Glück mit einem anderen beliebten Wirkstoff namens Diclofenac, führt ihn der Schweizer Pharmariese Novartis in das geheimnisvolle Dunkel der Medikamentenpreise. Novartis empfiehlt für diese Gebresten sowohl sein Voltaren Schmerzgel als auch das Voltaren Emulgel. Die beiden Medikamente sind völlig identisch – allerdings ist das Schmerzgel deutlich teurer. Die meist viel zu üppige 120Gramm-Packung ist für 19,80 Mark (17 Pfennig pro Gramm) zu haben, während das Emulgel auch als 50-Gramm-Tube angeboten wird, für preiswerte 7,37 Mark (12 Pfennig pro Gramm). Solche Preistricks sind in der Pharmabranche gang und gäbe. Der Dumme ist immer der Patient. Selbst bei gutem Willen kann er sich im Dschungel der Kunstworte, Packungsgrößen und Werbetricks nicht zurechtfinden. Listig nutzen die Arzneimittelproduzenten (davon gibt es allein in Deutschland 1100) und Apotheker (21556 betreiben einen eigenen Laden) Qualitätskontrolle von Arzneimitteln: Preistricks sind in der Branche gang und gäbe Dschungel in der Apotheke 56 d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 US A Sp an ie Gr n oß br ita nn ie n De ut sc hl an d Ni ed er la nd e B. C. MÖLLER / AGENTUR FOCUS Fr an kr ei ch D Sparen per Rezept Dank eines Beratungsprogramms für Ärzte liegen die Ausgaben für Medikamente in Südbaden weit unter dem Durchschnitt. P enibel wie ein Buchhalter ver- ment des Arztes“, so die feste Übergleicht der Hausarzt die Preise zeugung von Hausarzt Ruf. Er hat jahvon Medikamenten. Peter Ruf ist relang als einer der Pharmako-Theraein Schnäppchen-Jäger. 20 Tabletten mit pie-Berater Kollegen rund um Offen500 Milligramm des Wirkstoffes Acetyl- burg in Sachen Kostendämpfung zur salicylsäure – bekannt unter dem Mar- Seite gestanden, deren Verordnungen kennamen Aspirin – gibt es für 10,60, analysiert, verglichen, gerechnet und aber auch für 3,18 Mark. Für den Dok- vielseitige Gutachten geschrieben: „Dietor in Kappelrodeck im Schwarzwald ist klar, welches Mittel er verschreibt: das preiswerteste. Sparsam wie Ruf verordnen in Südbaden viele Ärzte. Etwa 20 Prozent weniger als die durchschnittlichen Westdeutschen verbrauchen die Patienten in der SüdwestEcke der Republik an Arzneimitteln. Nach einer Krankenkassen-Erhebung liegt Südbaden mit 451 Mark pro Kopf jährlich am un- Protest gegen Gesundheitsreform*: Therapie der Kosten tersten Ende der Ausgabenskala, Bremen (532 Mark), Ham- ser Arzt hier hat 13 verschiedene Betaburg (554 Mark) und das Saarland ste- Blocker verordnet. Ich komme in meiner hen (578 Mark) ganz oben. Praxis mit ein bis zwei aus – der hatte Zwar ist der sparsame Arzneikon- einfach keinen Überblick mehr“, besum auch durch Faktoren wie die nie- richtet er. drige Arbeitslosenquote der Region beMit einer Gruppe gleich gesinnter dingt – die Menschen ohne Beschäfti- Kollegen trägt Ruf seine Erkenntnisse gung gehen öfter zum Arzt als die Be- weiter, für ein Honorar von 250 Mark rufstätigen. Doch eine entscheidende pro Beratung. Alle vier bis sechs WoUrsache für die zurückhaltende Ver- chen moderiert beispielsweise der Arzt schreibungspraxis sind die Aktionen Johannes Probst aus Sankt Georgen eider Kassenärztlichen Vereinigung (KV) nen von über 100 Qualitätszirkeln. Ob in Südbaden. Kreuzschmerzen oder Diabetes, die Seit 1993 unterstützt die KV ihre Mit- Ärzte diskutieren Krankheitsbilder – glieder beim wirtschaftlichen Umgang und immer auch die wirtschaftlichste mit dem Rezeptblock: mit einer Phar- Therapie. „Bei Rückenschmerzen etwa mako-Therapie-Beratung, bei der spe- muss der Arzt ja nicht unbedingt etziell ausgebildete Kollegen die Ärzte was verschreiben“, erklärt Gerhard im sparsamen Verschreiben unterwei- Dieter, Vorsitzender der KV Südbaden, sen. Durch Listen, die für jede einzel- die Idee des „grünen Rezepts“. ne Praxis die am besten geeigneten und Die Ärzte in Sankt Georgen haben preiswertesten Medikamente empfeh- sich überdies noch ein eigenes Sparlen, werden die Kosten ebenso ge- modell für Krankengymnastik ausgedrückt wie durch Qualitätszirkel, bei dacht: Statt sechs werden nur vier oder denen Ärzte das „grüne Rezept“, eine fünf Termine verschrieben, den Rest solTherapie möglichst ohne Medikamen- len die Patienten selbst bezahlen. „Date, entwickeln. mit haben wir dann Geld frei für die „Der Griffel auf dem Rezeptblock ist Sprachbehandlung bei Kindern“, freut das teuerste und gefährlichste Instru- sich Probst. Er hat beim Sparen seine neue Berufung gefunden: „Früher war * Am 22. September in Berlin mit einem Plakat ge- ich Mediziner“, sagt Probst, „heute bin ich Kämpfer.“ gen Gesundheitsministerin Andrea Fischer. Mathias Rittgerott ARIS tens eine Milliarde Kassen- und Privatrezepte ausstellen und jeder Allgemeinmediziner für mehr als 400 000 Mark Arzneimittel auf Kassenkosten verschreibt, obwohl die deutschen Patienten zu den Weltmeistern im Medikamentenverbrauch zählen (siehe Grafik) und das Pharmabusiness zu den profitabelsten Geschäftsfeldern zählt, nennt das pharmatreue „Deutsche Ärzteblatt“ die Rangelei um eine Ausgabenbegrenzung schlicht „Falschspielerei“. Als ginge die ganze Kostendebatte sie nichts an, hat beispielsweise die Pharmafirma Fumedica im Juli den Preis für ihr konkurrenzloses Schuppenflechte-Medikament Fumaderm initial um stolze 55 Prozent erhöht: Von 140,21 Mark auf 217,87 Mark für 40 Tabletten. Nur der Heilige Vitus, den Apotheker und Arzneifabrikanten um Beistand anrufen, mag wissen, warum. Von der kühnen Preispolitik profitieren nicht nur die Pillendreher: Apothekengroßhändler schlagen auf den Herstellerabgabepreis durchschnittlich 13,7 Prozent auf, die Apotheker dann noch einmal stolze 47,7 Prozent. Auch aus diesem Grund sind Medikamente in Deutschland so teuer wie in kaum einem Land der Welt. Der Berliner Arzt und Apotheker Wolfgang Becker-Brüser, Herausgeber des industrieunabhängigen „arznei-telegramm“, hat sich die Mühe gemacht, in einem „Kursbuch“ mehr als 12 000 Medikamente nach Wirkung und Preis zu vergleichen*. Das verdienstvolle Werk, soeben erschienen und dicker als die Bibel, ermöglicht die Verordnung sinnvoller und preiswerter Arzneimittel. Tatsächlich gibt es etliche kostengünstige Medikamente, der Arzt muss nur ihre Namen kennen. So werden von dem oft verordneten Nitrendipin – einem wichtigen Herzmedikament aus der Gruppe der Kalziumantagonisten – insgesamt sieben Präparate zu sehr kommoden Preisen abgegeben: Sie kosten alle kaum mehr als ein Zehntel des Nitrendipin-Renners Bayotensin der berühmten deutschen Firma Bayer Vital, die für 100 Tabletten 165,01 Mark verlangt. Niedrigpreis-Präparate erfreuen sich bei den Apothekern wenig Sympathie. Der Stand, früher auch im profitablen Branntweingeschäft engagiert, schätzt eher jene Kunden, die kaufen und die Ware – nach der Lektüre der Packungsbeilage – gleich wegwerfen. Pro Jahr landen in Deutschland Arzneimittel im Wert von mindestens vier Milliarden Mark auf dem Müll, getreu der bisher nur mündlich überlieferten Patientenregel: „Angesichts der bekannten Nebenwirkungen essen Sie die Packungsbeilage und sagen Sie nichts ihrem Arzt oder Apotheker.“ Hans Halter * „Arzneimittelkursbuch 99/2000“. A. V. I. ArzneimittelVerlags GmbH, Berlin; 2144 Seiten; 198 Mark. d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 57 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite FOTOS: R. SEYBOLDT Fahrzeugstau vor der tschechischen Grenze, Prostituierte bei Cheb: Schnelle Nummer zum Niedrigpreis GRENZVERKEHR Vati ins Bordell Steigende Benzinpreise in der Bundesrepublik befeuern einen Boom in Böhmen. Hunderttausende von Deutschen kaufen dort billig Sprit, Tabak und Sex. V ierzig Mark – mehr zahl ich nicht.“ Der Kunde hat sichtlich Spaß am Feilschen: „Das ist das letzte Angebot, mein Guter.“ Der Verkäufer schlägt die Hände vors Gesicht und jammert: „Viel zu billig. 50 Deutschmark – das ist geschenkt.“ Kurze Zeit später ist der Handel perfekt. Der korpulente Deutsche und der zartgebaute Vietnamese lachen, klopfen sich gegenseitig auf die Schultern. Für 45 Mark wechselt der Trainingsanzug mit Markensignet den Besitzer. Vergnügt verstaut Heiko Sporbert das raschelnde Stück Garderobe in einer Plastiktüte. „Wieder ein Schnäppchen gemacht“, grinst er zufrieden, „Neopren – so einer kostet bei uns mindestens 200 Mark.“ Sohn Christian kann die vielen Taschen und Tüten kaum noch fassen. „Wir decken uns hier mit Winterkleidung ein. Mindes- 62 tens 400 Mark haben wir schon gespart“, frohlockt Sporbert. Die Familie aus Schmiedefeld am Rennsteig ist frühmorgens in Suhl in einen Reisebus gestiegen. Nach drei Stunden Fahrt haben die Sporberts nun fünf Stunden Zeit, um auf dem Dragoun Bazar in der nordwestböhmischen Stadt Cheb ihre Schnäppchen zu machen. Die Ostler gehören zu einem Heer von deutschen Kauflustigen, die per Auto, Bus oder sogar zu Fuß die Grenze zur Tschechischen Republik überqueren, um einen Tag lang billig einzukaufen. Der Ameisenverkehr von West nach Ost begann gleich nach der Wende. Doch seit die Benzinpreise in der Bundesrepublik steigen, blüht das Geschäft erst richtig. Besonders an den Wochenenden stauen sich die Autos mit den Kennzeichen aus Sachsen, Thüringen und Bayern kilometerweit d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 auf den Landstraßen in Richtung Tschechien. 25 000 Pkw pro Tag allein am Grenzübergang Selb/A∆ sind keine Seltenheit. 650 000 Deutsche fahren pro Monat zum Einkaufen nach Tschechien. „Und es werden immer mehr“, sagt Max Sommerer, Chef des Hauptzollamts Hof. Die meisten füllen erst mal ihren Benzintank und den mitgeführten Zehn-LiterKanister und sparen dabei pro Liter zwischen 60 und 70 Pfennig. Die Stange Zigaretten ist rund 30 Mark billiger, ein Kasten Bier 12 Mark. Viele lockt zudem anständiges Essen zu unschlagbaren Preisen und billiger Sex; außerdem gibt es auf den Märkten Artikel aller Art und Fabrikate. Löhne und Steuern sind niedrig in Tschechien, die Zollkontrollen an der deutschen Ost-Grenze großzügig. Der größte Umschlagplatz ist der Dragoun Bazar, nur acht Kilometer hinter der Grenze im Zentrum von Cheb. Der Markt ist fest in vietnamesischer Hand, denn in der 33 000-Einwohner-Stadt stellen Vietnamesen – viele von ihnen ehemalige Vertragsarbeiter aus DDR-Zeiten – ein Zehntel der Bevölkerung. Auf einem riesigen ehemaligen Kasernenhof wird dort an 300 Ständen gehandelt und geschachert. Hier können Käufer jene scheinbar kostbaren Waren erwerben, die zu Hause für viele zu teuer sind: Turnschuhe und Trai- Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Deutschland ningsanzüge von Adidas, Hemden von Versace, Jeans von Calvin Klein, Taschen von Louis Vuitton. Besonders gefragt bei glatzköpfigen jungen Männern: Raubkopien von CDs der Gruppen Zillertaler Türkenjäger, Störkraft oder Böhse Onkelz mit Titeln wie „Dreckig, kahl & hundsgemein“. Dass die Designermode gefälscht und der Vertrieb vieler Neo-Nazi-CDs in Deutschland verboten ist, kann den Kaufeifer nicht dämpfen. Die Besitzer regulärer Läden in Cheb sehen die Invasion der kauffreudigen Grenzgänger mit gemischten Gefühlen. Sie beklagen sich über Mafia-ähnliche Vertriebsstrukturen der vietnamesischen Konkurrenten, die mit ihren Deutschkenntnissen die „Schnitzel“ (Spitzname für Deutsche) übers Ohr hauen würden, und mokieren sich über die dummen „TBZ-Touristen“ (T für Tanken, B für Bumsen, Z für Zigaretten). „Mutti geht zum Friseur und Vati ins Bordell“, witzelt ein Kellner aus der Kleinstadt A∆, der zur Mittagszeit den vom Kaufrausch müden Käufer Sporbert in Cheb: „400 Mark gespart“ Familien ordentliche böhmische Küche zu Niedrigstpreisen (Knödel, Schnit- einer schnellen Nummer in Grenznähe ein zel und ein Bier für weniger als sieben bisschen Geld verdienen wollen. Allein in Mark) serviert. der ersten Jahreshälfte wurden 1650 AmaIm Friseursalon „Linie“ unweit des his- teurhuren festgenommen – doch meist nur torischen Marktplatzes von Cheb drängen zur Aufnahme der Personalien, nach wesich die Kunden. Chefin Dagmar Fialová nigen Minuten gehen sie in der Regel wiekann den Ansturm der Deutschen kaum der anschaffen. „Uns fehlt die gesetzliche bewältigen. „Fünf Mark fürs Waschen, Handhabe“, sagt Polizeimajor Jaroslav Haare schneiden und Föhnen“, schwärmt ev‡ík. Franziska Ulbrich aus dem sächsischen FalDie Touristen, so ev‡ík, ließen sich kenstein, „so etwas gibt es doch heutzuta- nicht einmal durch die Bordell-Überfälle ge gar nicht mehr.“ abschrecken, die sich häufen. Oft lauern in Neben Optikern und Zahnärzten freuen der Wohnung einer Prostituierten männlisich auch die Ost-Zuhälter über den An- che Komplizen und setzen dem Freier sturm. Hunderte von biederen Ein- und buchstäblich das Messer an den Hals. „Die Zweifamilienhäusern entlang den böhmi- Sextouristen aus Deutschland sind unbeschen Landstraßen wurden in Bordelle und lehrbar“, wundert sich der Polizist. schummrige Etablissements umgewandelt, Auch ungewöhnliche Bedürfnisse ihrer die mit billigen Sex-Angeboten werben. West-Nachbarn befriedigen die Tschechen: Sobald die Sonne untergeht, verwandelt Etwa zweimal im Monat fährt Dieter sich auch Cheb selbst in einen einzigen Brandl aus Hof in Bayern über die Grenze Straßenstrich. zum „Schießclub Jimi“, zehn Kilometer Zentren des Geschäfts mit dem billigen von Cheb an der Straße nach Karlovy Vary Sex sind der Stadtpark und die Balthasar- auf einem Feld gelegen. Neumann-Straße. Die Frauen dort sind für Im ehemaligen Kuhstall einer landwirtnahezu alles zu haben, die Preise betra- schaftlichen Produktionsgenossenschaft gen einen Bruchteil dessen, was in einem messen sich Deutsche und Tschechen redeutschen Bordell fällig wäre. gelmäßig im Schießen. Zwischen 30 PfenEmpörte Cheber Bürger forderten kürz- nig und 1,20 Mark kostet ein Schuss – lich, dass die Polizei härter gegen die wil- spottbillig im Vergleich zu den Preisen, de Prostitution vorgehen solle. Besonders die auf deutschen Anlagen genommen die bei den Tschechen unbeliebten Roma- werden. Frauen und ihre Zuhälter würden dem An„Die Waffen sind älter hier, aber liebesehen der ehrwürdigen Stadt schaden. voll gepflegt“, rühmt der Bundeswehr-ZiIn der Bezirksabteilung der Polizei in vilangestellte Brandl: „Und wo kann man Cheb sind zwar nur 200 Prostituierte er- in Deutschland schon mit einer Makarow, fasst, doch es gibt hunderte junger Frauen einer Simonow oder einer Kalaschnikow und Mädchen aus der Provinz, die sich mit üben?“ Almut Hielscher d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 65 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite JÜRGENS OST+ EUROPA PHOTO Deutschland Militärparade in Ost-Berlin*: „Furchtbare Zusammenarbeit aller gesellschaftlichen Kräfte“ EINHEIT Alptraum der Wende Rainer Eppelmann über Christian v. Ditfurths Roman „Die Mauer steht am Rhein“ I ch weiß genau, von wann an ich mir Sorgen um meinen Freund CvD machte. Der sonst immer so muntere Journalist war ab Ende Juni 1995 nicht mehr gut drauf. Er vergaß Termine, schaute bei Gesprächen unter vier Augen immer wieder wie gehetzt hinter sich, wechselte seine Wohnungen und wirkte häufig so, als ob er auf der Flucht sei. Richtige Sorgen machte ich mir aber erst, als CvD eines Tages bei einer unverhofften Begegnung im Foyer des neuen Plenarsaals am Bonner Rheinufer ganz erstaunt zu mir sagte: „Was Rainer, haben sie dich wieder freigelassen?“ Auf alle Nachfragen, was er denn mit dieser Bemerkung * Zum 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober 1989. ** Christian v. Ditfurth: „Die Mauer steht am Rhein. Deutschland nach dem Sieg des Sozialismus“. Kiepenheuer & Witsch; 256 Seiten; 36 Mark. gemeint habe, verweigerte er jedoch standhaft jede Antwort. Da begann ich, genau nachzurechnen, ab wann mein Freund sich so seltsam aufführte. Richtig, es war der 22. Juni 1995. Da hatte der PDS-Abgeordnete Gerhard Zwerenz im Bundestag ehemalige DDR-Dissidenten als „paranoide Revolutionsparodisten“ und „Hitlers Kinder“ beschimpft und gedroht: „Wir werden die Umtriebe protokollieren für die nächste Wende. Sie kommt gewiss in diesem wendereichen Zeitalter.“ Die Zwerenz-Drohung muss CvD irgendwie aus dem Gleichgewicht gebracht haben. Er wusste von den Internierungslisten, die die Vorgängerpartei der PDS, Erich Honeckers SED, 1989 für die DDRBürgerrechtler vorbereitet hatte. Und er hatte auch einen Blick auf die Internierungslisten West von 1988 geworfen, nach denen am Tag der Machtübernahme 1400 BRD-Bürger, darunter Richard von Weizsäcker, Ulrich Schwarz vom SPIEGEL und Franz Alt von „Report“ sowie linke Kirchenmänner wie Heinrich Albertz und Kurt Scharf zur Verbringung in Lager vorgesehen waren. CvD ist ein kluger Mensch. Er diagnostizierte seine Angst vor einer „nächsten Wende“ als Psychose und folgte dem Rat einer noch klügeren Freundin: „Schreib alles auf, wovor du dich fürchtest!“ CvD hat aus seinen Ängsten gleich ein ganzes Buch gemacht**. Ich habe „Die Mauer steht am Rhein. Deutschland nach dem Sieg des Sozialismus“ an einem einzigen Abend in der Stille meiner Friedrichshagener Wohnung gelesen, und es wurde mir ganz anders: CvD hat seinen Alptraum so aufgeschrieben – mit allen Details und allen Namen –, dass ich froh Eppelmann lernten sich erst nach der Wiedervereinigung kennen. Da saß Rainer Eppelmann, 56, einer der bekanntesten Bürgerrechtler der DDR, schon für die CDU im Bundestag. Zu SED-Zeiten war der Ost-Berliner Pfarrer eine zentrale Figur der Dissidentenszene. Die Stasi zählte ihn zu den besonders gefährlichen Elementen. Der Historiker Christian v. Ditfurth, 46, in den siebziger Jahren Mitglied der westdeutschen DKP, kümmert sich seit der Wende um die Vergangenheit Ost. Er schrieb Bücher über die Ost-CDU („Blockflöten“) und über die SED-Nachfolgerin PDS („Ostalgie oder linke Alternative“). d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 K. STEINHAUSEN A. FROESE Eppelmann und Ditfurth Ditfurth 69 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Deutschland war, als ich in den „Tagesthemen“ sah, wie Bundeskanzler Schröder den alten Volvo von „Onkel Herbert“ aus der SPD-Baracke herausfuhr und Außenminister Fischer im feinen Zwirn zu diplomatischer Höchstform auflief. Gott sei Dank nur ein Alptraum. Aber was für einer! Der Journalist CvD gehört zu den 300 000 Menschen, die seit dem Herbst 1990 als Emigranten in die Schweiz geströmt sind. Am 3. Oktober 1990 wurde die Demokratische Republik Deutschland (DRD) gebildet, nachdem sich die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges darauf verständigt hatten, die deutsche Frage durch eine umfassende Neutralisierung Deutschlands und die Bildung einer Konföderation der Bundesrepublik mit der DDR zu lösen. Zur Absicherung der alliierten Beschlüsse übernahm die Sowjetunion die Kontrolle über Gesamtdeutsch- desstrafe vor, in der grünen Partei spricht Andrea Lederer für „die demokratischen Kräfte“, die GEW bildet Schulgewerkschaftsleitungen (SGL). In fast allen SPD-Landesverbänden haben sich „Sozialistische Arbeitsgemeinschaften“ gebildet, auf dem II. SEdDRDParteitag, der im Mai dieses Jahres stattfand, bekannte sich die Partei zum Marxismus-Leninismus und zum Aufbau des Sozialismus, Egon Krenz wurde zum Generalsekretär gewählt und Politbüromitglied Karsten D.Voigt mit dem Amt des Ministerpräsidenten und stellvertretenden Staatsratsvorsitzenden betraut. Der „Polo“ heißt nun „Baikal“, Daimler-Benz und BMW fusionierten zum Volkseigenen Betrieb (VEB) Autobau Süd, Siemens gehört wie Bosch zum VEB Elektrotechnik „Ernst Thälmann“. Helmut Schmidt, Helmut Kohl, HansDietrich Genscher, Joschka Fischer, Hans- Der Polo heißt jetzt Baikal, und Siemens gehört zum VEB „Ernst Thälmann“ Genscher fordert im Schweizer Exil: „Lasst Lambsdorff frei!“ land und stationierte ein auf 100 000 Soldaten begrenztes Militärkontingent in Westdeutschland. Seitdem sind die Isolierungslager in der DRD überfüllt, die gesamtdeutschen Grenzen sind besser geschützt, als es die alten der DDR je waren, die SED ist zur Sozialistischen Einheitspartei der Demokratischen Republik Deutschland (SEdDRD) mutiert, die den DRD-Volkstag beherrscht. Der Pfarrer Rainer Eppelmann sitzt im Zuchthaus Bautzen, Justizminister Horst Eylmann von der Blockflötenpartei CDU erklärt, er kenne keine politischen Straftäter, sondern nur Kriminelle, IG-ChemieChef Hermann Rappe hat längst gestanden, als „Agent des USA-Imperialismus“ im Auftrag von Georg Leber die Gewerkschaften indoktriniert zu haben. Der Städteexpress „Feliks Dsershinski“ verkehrt zwischen Warschau und Basel, Wolfgang Mischnicks Memoiren „Vom Liberalismus zum Sozialismus. Ein Leben für Deutschland“ sind ein Bestseller, EU-Kommissar Martin Bangemann lebt seit der Einheit von einer fetten EU-Rente in Waterloo, der SPIEGEL hat mit „ausgefeilter Rabulistik“ gerade noch die Kurve gekriegt (ExSPIEGEL-Herausgeber Rudolf Augstein sitzt irgendwo im Tessin). Coop und die DDR-Handelsorganisation (HO) fusionieren, die Club Cola vom VEB Getränkewerk Berlin ist zum Nationalgetränk avanciert, die DRD bekennt sich zum Antifaschismus und leistet deshalb keine weiteren Zahlungen an NaziOpfer. Die maximale Dauer der Untersuchungshaft ist auf vier Jahre heraufgesetzt, Innenminister Wolfgang Schäuble legt ein Gesetz über die Wiedereinführung der To- Jochen Vogel, Björn Engholm beschwören im Exil die Werte des Grundgesetzes, Genscher fordert: „Lasst Lambsdorff frei!“ Und im „Literarischen Quartett“, das jetzt aus Wien übertragen wird, charakterisiert Marcel Reich-Ranicki Hermann Kants neues Nationalepos „Die Einheit“ in gewohnt heftiger Manier: „Ein durch und durch abscheuliches Buch.“ Der Journalist CvD, der sich an der gleichgeschalteten „Rheinischen Post“ trotz mancher Anpassungsbemühungen nicht halten konnte und als kleiner Korrektor beim Kirchenblatt „Froher Bote“ herausflog, weil er übersehen hatte, dass der Druckfehlerteufel aus der „fruchtbaren Zusammenarbeit aller gesellschaftlichen Kräfte“ die „furchtbare Zusammenarbeit“ gemacht hatte, beobachtet aus seinem Schweizer Exil genau, wie schnell sich die westdeutsche Gesellschaft den neuen Erfordernissen anpasst. Der Aufstand im April 1993 mit seinem Zentrum in der Kohlenpott-Stadt CastropRauxel blieb eine Episode, wurde schnell niedergeschlagen, sorgte aber auch dafür, dass bald danach die ersten Intershops eingerichtet wurden. CvDs Enthüllungen über die deutsche Einheit, ihre Vorgeschichte und ihre Verwirklichung sind ein großes Stück investigativer Journalismus und werden bald auch zu den klassischen Geschichtsbüchern gezählt werden. Ich bin CvD dankbar für sein Alptraumbuch. Seit ich es gelesen habe, weiß ich noch besser, was wir Ossis an der Bundesrepublik haben – trotz ihrer zahlreichen Macken. Ich hoffe, dass auch CvD nun wieder ruhig und ohne Alpträume schläft. ™ d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 73 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite SPIEGEL-Serie über Wende und Ende des SED-Staates (3) Die Woche vom 8. 10. 1989 bis zum 13. 10. 1989 »Keine Gewalt« P. PIEL / GAMMA / STUDIO X Zwei Tage lang steht die DDR am Rande des Bürgerkrieges. Wird die Opposition blutig scheitern oder friedlich obsiegen? Die Entscheidung fällt in Dresden – und vor allem in Leipzig, der „Heldenstadt“. Mahnwache an der Gethsemane-Kirche in Ost-Berlin d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 77 100 TAGE IM HERBST: »KEINE GEWALT« CHRONIK »Entweder die oder wir« Sonntag, 8. Oktober 1989 Ost-Berlin In der DDR-Hauptstadt rattern Reinigungsmaschinen durch den kühlen Herbstmorgen, um die Spuren des Volksfestes und der brutalen Polizei- und Stasi-Einsätze am 40. Jahrestag zu beseitigen. Wenig später gibt der greise Staats- und Parteichef den 15 Bezirkssekretären der SED das Startsignal zum politischen Großreinemachen. Um 11 Uhr erlässt Erich Honecker einen Befehl, den ZK-Mitglied Wolfgang Herger am frühen Morgen entworfen und SED-Sicherheitsbeauftragter Egon Krenz während einer Vormittagssitzung im Ministerium für Staatssicherheit (MfS) überarbeitet hat. Per Fernschreiben umreißt der Generalsekretär seinen Statthaltern in der Provinz – von Ernst Timm in Rostock bis zu Hans Modrow in Dresden – zunächst die bedrohliche Sicherheitslage: Im Verlauf des gestrigen Tages kam es in verschiedenen Bezirken, besonders in Berlin, Leipzig, Dresden, Karl-Marx-Stadt, Halle, Erfurt und Potsdam, zu Demonstrationen, die gegen die verfassungsmäßigen Grundlagen unseres sozialistischen Staates gerichtet waren. Vor allem in Dresden, Plauen und Leipzig trugen sie den Charakter rowdyhafter Zusammenrottungen. Republikweit sind Tränengas und scharfe Munition bereitgestellt. In den Großstädten werden vorsorglich Krankenhausbetten freigemacht. Ost-Berlin ist für Westler seit Tagen eine verbotene Stadt. Neben der Vopo stehen als „Reservekräfte“ Militär- und Spezialeinheiten parat, deren „kurzfristiger Einsatz“, so MfS-Chef Erich Mielke, „zu offensiven Maßnahmen zur Unterbindung und Auflösung von Zusammenrottungen zu gewährleisten ist“. Eines muss Honecker klar sein: Wenn es zur Entscheidungsschlacht um die Zukunft der DDR kommt, dann im rebellischen Süden des Landes. In Leipzig wird für morgen die größte aller bisherigen Montagsdemonstrationen erwartet. Und in Dresden, wo Volk und Volkspolizei in den letzten Tagen härter aufeinander geprallt sind als irgendwo sonst in der DDR, versammeln sich abermals Bürger zum Protest. Dresden Am späten Vormittag erreicht der Befehl aus Ost-Berlin den Dresdner GeheimdienstChef Horst Böhm, 52, in seinem Quartier im Sowjet- und Stasi-Viertel am Meisenberg. Über ein geheimes Telefonnetz, dessen Spezialkabel durch Druckluft und Elektronik gegen Abhören und Anzapfen gesichert sind, informiert Mielke die regionalen Führer seiner Schattenarmee über die HoneckerDepesche, die parallel an die Ersten Sekretäre der SEDBezirke herausgegangen ist: Dann folgt der Einsatzbefehl: „Weitere Krawalle“ seien „von vornherein zu unterbinden“. In einer „soSie haben sich, ohne Kenntfortigen Zusammenkunft“ nis von dem Fernschreiben müsse jede Bezirkseinsatzzu geben, auf die dort anleitung umgehend die „entgewiesene sofortige Zusamsprechenden Maßnahmen“ menkunft der Bezirkseinfestlegen. Eile tut Not, denn satzleitungen einzustellen. die SED-Machthaber rechnen für den Abend mit dem Geheimdienstler Böhm Mielke befiehlt, alle Allerschlimmsten. hauptamtlichen Stasi-KräfDas MfS hat eine Lagebeurteilung vor- te, über 90 000 Mann, in „volle Dienstbegelegt, die an den schwärzesten Tag der reitschaft“ zu versetzen, sie anzuweisen, SED erinnert: Selbst „zahlreiche progres- ihre „Dienstwaffen entsprechend den gesive Kräfte“ sähen den Staat „in einer Si- gebenen Erfordernissen ständig bei sich zu tuation wie kurz vor den konterrevolu- führen“ und alle „Waffenlager … verstärkt tionären Ereignissen am 17. Juni 1953“ – als zu kontrollieren“. es nur mit Hilfe von Russenpanzern geAuf den Dresdner Generalmajor Böhm lang, den Volksaufstand niederzuschlagen. und seine Kollegen kommt eine Menge Ar78 d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 beit zu. Umgehend sollen sie Vorarbeiten für eine Geheimoperation treffen: die „Isolierung“ der gesamten Opposition. Zu diesem Zweck befiehlt Mielke unter dem Aktenzeichen VVS MfS 0008-71/89 der Stasi, ihre 170 000 Spitzel im Lande zu mobilisieren, vom Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) bis zum Gesellschaftlichen Mitarbeiter Sicherheit (GMS): „Alle geeigneten und verfügbaren IM/GMS sind unverzüglich lagebezogen zum Einsatz zu bringen.“ Big Brother lässt grüßen: Die Agenten sollen, einem gigantischen Schleppnetz gleich, unter den 16 Millionen DDR-Bürgern „alle Personen herausarbeiten“, bei denen „antisozialistische … Aktivitäten … nicht auszuschließen sind“. Dazu zählen ausdrücklich bereits solche Menschen, die „aufgrund schwankender Einstellungen“ von „Sammlungsbewegungen wie z. B. ,Neues Forum‘ usw. … missbraucht werden können bzw. eine potenzielle Reserve für diese Kräfte darstellen“. Der Auftrag – gezeichnet „Mielke, Armeegeneral“ – lässt keinen Zweifel, welchem Zweck die schwarze Liste gilt: „Es sind geeignete Maßnahmen festzulegen, um erforderlichenfalls kurzfristig die Zuführung bzw. Festnahme solcher Personen zu realisieren.“ Pläne zur Isolierung tausender von Systemkritikern liegen schon seit langem in den Panzerschränken aller Stasi-Bezirksverwaltungen für den Tag X bereit (siehe Analyse Seite 105). Als Konzentrationsstätten sind vorzugsweise abgelegene Gemäuer vorgesehen, etwa die Burg Ranis im Thüringischen. Die Aktion soll „schlagartig und konspirativ“ ablaufen; schriftlich festgelegt sind Details von der Bewaffnung der Wächter („MP, Pistole und 1 Kampfsatz Munition“) bis zum „persönlichen Bedarf der zu isolierenden Personen“, darunter zwei Paar Socken, zwei Taschentücher und „zweimal Unterwäsche“. Dresdens Stasi-Befehlshaber Böhm scheint ganz der Meinung seines Ministers, dass nur noch Durchgreifen hilft. Mit wachsendem Missmut hat der Generalmajor seit Tagen „besondere Vorkommnisse“ nach Berlin gemeldet – von den Bahnhofskrawallen am vorigen Dienstag bis hin zu einem Bummelstreik beim Vorzeige-Devisenbringer, der Meißner Porzellan Manufaktur; dort ist das Kollektiv „Blume 5“ aus Protest gegen die Be- JÜRGENS OST + EUROPA PHOTO Stasi-„Isolierungsobjekt“ Burg Ranis schränkung von ∏SSR-Reisen sogar geschlossen aus der FDJ ausgetreten. Am Nachmittag spitzt sich die Lage in Dresden gefährlich zu. Auf dem Theaterplatz vor der Semperoper sammeln sich 350 Demonstranten zu einem erneuten Marsch auf den Hauptbahnhof. Um 15.15 Uhr befiehlt Vopo-Chef Willy Nyffenegger seinen Männern, Ordnung und Sicherheit unter allen Bedingungen herzustellen. Gegen 17 Uhr werden hunderte von Demonstranten eingekesselt, geprügelt und auf Lastwagen geladen, darunter auch ein Rollstuhlfahrer. „Die Menschen waren absolut friedlich“, wird später Major GerdUwe Malchow, Kommandeur der Bereitschaftspolizei, zu Protokoll geben: Die standen herum, die saßen herum. Aber unser Auftrag war: So viele Zuführungen wie möglich. Im Gänsemarsch mussten die auf die Lastwagen rauf. In der Polizeikaserne werden die Festgenommenen in Garagen und Waschräumen misshandelt und wie Vieh durch Treppenhäuser getrieben. Ein Offizier im Kampfanzug droht, auf Flüchtende werde geschossen. Die „Zugeführten“ müssen stundenlang mit gespreizten Beinen und vornübergebeugt Aufstellung nehmen. Wer sich rührt, wird mit Knüppelhieben und Tritten so brutal gequält, dass ein Polizist beschließt, seinem Seelsorger zu schreiben: Besonders erschütternd ist, wie von diesen „Leuten“ (es können keine Menschen mehr sein) Frauen, Mädchen und ältere Menschen geschlagen werden. Gegen 22.30 Uhr sind einige der Bereitschaftspolizisten des Schreiens und Schlagens müde. Da stürmen johlend Offiziersschüler des Strafvollzugs aus Bautzen her- W. SCHULZE „MP, Pistole und 1 Kampfsatz Munition“ Häftlinge in Bautzen (1989): „So viele Zuführungen wie möglich“ ein, um die Festgenommenen erneut mit Schlägen zwischen die Beine in die „Fliegerstellung“ zu zwingen. Ein Augenzeuge: Wer nicht gleich reagierte oder sich beschwerte, wurde angebrüllt, brutal aus der Garage geschleift und draußen gegen die Tore geschleudert. Je mehr Bürger abtransportiert werden, desto mehr Menschen versammeln sich auf den Straßen zu stummem Protest. Und je friedlicher diese Demonstranten auftreten, desto mehr Bereitschaftspolizisten meutern und verkünden: „Die schlagen wir nicht mehr.“ Gegen 18 Uhr sind über 2000 Menschen in zwei Schweigemarsch-Blöcken unterwegs. Anders als noch fünf Tage zuvor fliegen weder Steine noch Brandflaschen. Angezündet werden hunderte von Kerzen – eine für jeden der Mitbürger, die in den letzten Tagen in den Kerkern der Stasi verschwunden sind, unter anderem im berüchtigten „Gelben Elend“ in Bautzen. d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 In der Einsatzleitung macht sich Ratlosigkeit breit. Die Befehlslage ist widersprüchlich. Dafür hat nicht zuletzt SEDBezirkssekretär Modrow gesorgt. Der Mann, der im Ruf steht, heimlich mit Gorbatschow zu sympathisieren, hat am Nachmittag Polizeichef Nyffenegger ermahnt, „keine offenen Konfrontationen mit den Demonstranten … zuzulassen“. Denn die Geschehnisse der vergangenen Tage haben den Bezirkssekretär ins Grübeln gebracht. Am 6. Oktober hat er in einem geheimen Telex an die SED-Kreisleitungen in seinem Bezirk ganz andere Töne angeschlagen als die Berliner Altherrenriege. Bei „Provokationen feindlicher und negativer Elemente“ sei „taktisch klug“ vorzugehen und zu differenzieren „zwischen solchen Elementen und der Masse der Bürger“. Was tun? Stasi-Chef Böhm drängt zum Handeln, Bezirksfürst Modrow jedoch, der den Einsatzbefehl geben müsste, ist telefonisch nicht zu erreichen. Um 18.07 Uhr be79 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite K. MEHNER 100 TAGE IM HERBST: »KEINE GEWALT« Schweigemarsch am 8. Oktober in Dresden: „Dass wir diese Dinge hinnehmen, ist unverantwortlich“ W. KOSSACK / SÄCHSISCHE ZEITUNG und Superintendent Christof kommt Böhm schließlich Ziemer bei Berghofer im BürModrows Sicherheitsbeaufgermeister-Büro. Kurz vor 22 tragten Edmund Geppert an Uhr werden die Kirchenleute die Strippe, doch auch der mit flackerndem Blaulicht in mag den gewünschten Befehl die Prager Straße chauffiert. nicht geben. Böhm blafft in An der Demo-Front verden Hörer: „Dass wir diese künden sie eine Mitteilung, Dinge zulassen, ist unverantder Modrow soeben zugewortlich.“ stimmt hat: Die SED gehe auf Gegen Abend stehen an der die Gesprächsforderung ein. Prager Straße, in BahnhofsStasi-Chef Böhm schäumt. nähe, demoralisierte Polizisten und demonstrierende Bür- Polizeichef Nyffenegger Um 22.10 Uhr meldet er nach Berlin: „Beide Pfaffen haben ger einander lauernd gegenüber. Megafon-Aufrufe der Vopo, die zur Ansammlung gesprochen, die sich daStraße freizumachen, verhallen. Einzelne nach auflöste. Genosse Modrow hat diese Demonstranten lassen sich zum Sitzstreik Entscheidung politisch so getroffen und nieder. Die Atmosphäre ist zum Zerreißen trägt die Verantwortung.“ Böhm wird seine Niederlage, so scheint gespannt. Da geht, kurz vor 20 Uhr, der katholi- es, nie verwinden – Anfang 1990 nimmt er sche Kaplan Frank Richter, 29, mit einem sich das Leben. Glaubensbruder beherzt auf die Polizeikette zu. Die Uniformierten wissen mit den Kirchenmännern nichts anzufangen und Montag, 9. Oktober 1989 verweisen Richter an einen etwa gleichaltrigen jungen Mann in Zivil, Oberleut- Ost-Berlin nant Detlef Pappermann, 30. Die sowjetische Botschaft in Ost-Berlin ist Der Kaplan bittet den Polizisten, rasch seit vier Jahrzehnten das wahre Machtzeneinen „kompetenten Gesprächspartner der trum der DDR. Dunkel und drohend, für staatlichen Stellen“ herbeizuschaffen. Pap- die Ewigkeit gebaut, beherrscht das 100 Mepermann zögert zunächst, geht dann aber ter lange Gebäude die südliche Seite der zu einem Funkwagen und übermittelt den Straße Unter den Linden, nahe an Mauer Wunsch an seine Oberen. Ohne Rücken- und Brandenburger Tor. Hier hält Wjadeckung durch Vorgesetzte erlaubt der tscheslaw Iwanowitsch Kotschemassow, 71, Oberleutnant dem Kirchenmann schließ- allwöchentlich seine Lagebesprechung ab. An diesem Montag zeichnet der Botlich, über ein Polizei-Megafon eine Rede an schafter ein düsteres Bild vom Zustand der die Demonstranten zu halten. Dann geht alles sehr schnell. Die Bürger DDR: „Die Lage ist ernst und fährt fort, bestimmen per Zuruf und Applaus 20 Spre- schlimmer zu werden. Politisierung greift cher. Die Delegation, verlangen sie, solle um sich. Die Freunde sind sehr beunruam nächsten Morgen mit Oberbürger- higt.“ Dann referiert er über die Situation meister Wolfgang Berghofer über Presse- letzte Woche im Süden der Republik: und Reisefreiheit sowie eine Zulassung des Neuen Forums verhandeln. Ihr Angebot: 4000 Demonstranten in Dresden zeigten Wenn die SED zum Dialog mit den kriti- ein aggressives Verhalten. Man hat sieben schen Bürgern bereit sei, werde die De- Bataillone der Truppen des Innenministeriums gebraucht. In Plauen und in Karlmonstration sich auflösen. Als die Botschaft das Rathaus erreicht, Marx-Stadt begann es ganz belanglos, und sitzen Landesbischof Johannes Hempel dann kamen riesige Mengen zusammen. 82 d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Die „Konsolidierungstendenz bei der Opposition“ sei unverkennbar: „Das ,Neue Forum‘ gewinnt immer mehr Einfluss. Die Losungen ,Gorbi! Gorbi!‘ sind doppelsinnig.“ Kotschemassows Fazit: „Die Situation ist seit 1953 nie so ernst gewesen.“ Unterdessen, wenige Stunden vor der nun schon traditionellen Leipziger Montagsdemonstration, widmen sich Stasi-Strategen weiter ihren Plänen zur Einschüchterung der Opposition. Gewisse Sorgen bereiten den MfS-Oberen die 200 000 Mann starken betrieblichen „Kampfgruppen“ der SED, die seit Jahresbeginn für den Einsatz bei inneren Unruhen trainiert worden sind. Zwar hat soeben noch die „Kampfgruppeneinheit ,Hans Geiffert‘ “ in der parteieigenen „Leipziger Volkszeitung“ gedroht, sie sei allzeit bereit, „konterrevolutionäre Aktionen“, auch in kirchlichen Veranstaltungen, „endgültig und wirksam zu unterbinden – wenn es sein muss, mit der Waffe in der Hand!“ Doch von überall her melden Mielkes Spitzel, dass sich bei den Paramilitärs Anzeichen von Defätismus mehren. Laut aktuellem Lagebericht („Streng geheim! Um Rückgabe wird gebeten!“) haben binnen weniger Tage „146 Kämpfer“ Einsatzbefehle gegen Ausreisewillige und Demonstranten verweigert und „188 Kämpfer“ ihren Austritt erklärt. Beispiel: Nach der Alarmierung der I. KGB (mot.) Karl-Marx-Stadt … legten 9 Angehörige demonstrativ ihren Kampfgruppenausweis auf den Tisch, und weitere 15 Kämpfer lehnten den Einsatz ab. Unter diesem Personenkreis befinden sich 3 Gruppenführer und 12 Mitglieder der SED. Ursache der Befehlsverweigerung sei die „Angst, gegen die Bevölkerung ,Zwangsmaßnahmen‘ durchführen zu müssen“, aber auch „Solidarisierung mit Forderungen der oppositionellen Bewegung ,Neues Forum‘ in einzelnen Fällen“. Mit einer groß angelegten Säuberungsaktion will Mielke die Partei-Miliz wieder fit machen für den Straßenkampf. „Unverzüglich zu beseiti- Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite 100 TAGE IM HERBST: »KEINE GEWALT« Für Schefke hat der Tag abenteuerlich begonnen. Als „Rädelsführer“ und „Schlüsselfigur“ der Opposition wird er seit Wochen rund um die Uhr von der Stasi überwacht. Um die mindestens zehn Schnüffler vor seiner Haustür irrezuführen, hat er Zeitschaltuhren installiert, die sein Radio und die Beleuchtung steuern und eine belegte Wohnung vortäuschen. Gegen 9.30 Uhr ist Schefke durch eine Luke aufs Hausdach gestiegen und 500 Meter über Firste und Flachdächer geklettert – bis zur Schönhauser Allee, wo er zu seinem Kollegen Aram ins Auto stieg. Bevor das Duo Leipzig ansteuerte, hat es ein paar Mal das Fahrzeug gewechselt; Freunde hatten an verabredeten Punkten Trabis mit unverdächtigen Kennzeichen bereitgestellt. Als die beiden in Leipzig eintreffen, liegt über der Messestadt die übliche Dunstglocke aus Braunkohleabgasen und dem allgegenwärtigen DDR-Desinfektionsmittel „Wofasept“. Durch die Innenstadt schmuggeln die Journalisten ihre Kameras, in Plastetüten versteckt, in die Reformierte Kirche. Pfarrer Hans-Jürgen Sievers erlaubt ihnen, den Turm zu besteigen. Von oben beobachten Schefke und Radomski, wie sich der Ring mit Menschenmassen füllt. Die Reporter sind überwältigt: „Beide haben wir Gänsehaut. Zehntausende gehen auf die Straßen. Wahnsinn, das muss die Welt erfahren.“ Drunten vollzieht sich in diesen Stunden, was den 9. Oktober nach dem Urteil von Zeitgeschichtlern zum „Tag der Entscheidung“ macht: 70 000 friedlich demonstrierende Bürger geben der Staatsmacht nicht den geringsten Vorwand zum Dreinschlagen; die SED muss ihre erste große Niederlage einstecken; die gewaltfreie Revolution ist nicht mehr zu stoppen. „Von diesem Datum an“, wird später der Historiker Stefan Wolle urteilen, „begann ein neues und zugleich das letzte Kapitel in der Geschichte der DDR. Die totalitäre Diktatur existierte praktisch nicht mehr. Der Sieg der Demokratie und die Einheit Deutschlands waren nur noch eine Frage der Zeit.“ Rasch aufkommenden Gerüchten zufolge hat niemand anders als Egon Krenz bereits am 8. Oktober für den Umschwung gesorgt. Krenz selber nährt diese Version, als er sechs Wochen später behauptet: JÜRGENS OST + EUROPA PHOTO gen“ seien alle „die EinsatzbeLeipzig reitschaft beeinträchtigenden bzw. untergrabenden ErscheiGegen Mittag, auf der Autobahn nungen“, hat er gestern an die Berlin–Leipzig, überholt der Stasi-Bezirksverwaltungen geTrabi-Fahrer Siegbert Schefke, tickert; „entsprechende Kräfte“ 30, immer wieder Militärkongelte es sofort „herauszulösen“. vois, die gen Süden rollen. Zugleich hat der Minister seiDer Fotograf und sein Kolnen engsten Mitarbeitern belege Aram Radomski haben fohlen, für alle Fälle „Vorschlävon den Leipziger Montagsge zu Aufgaben/Festlegungen“ demonstrationen gehört, die für eine weitere Stufe der Eska- Botschafter von den DDR-Medien seit lation vorzulegen. Derzeit ist Kotschemassow Wochen totgeschwiegen wersein Stab damit beschäftigt, „im den. Und sie kennen die Sinne der Weisung des Genossen Minister Gerüchte, an diesem Montag werde die vom 8. 10. 1989“ einen „Maßnahmenkata- SED Militär gegen die protestierenden log“ aufzustellen. Die Liste der gespensti- Bürger einsetzen – wie die chinesische KP schen Empfehlungen reicht vom „Verbot im Juni auf dem Platz des Himmlischen der Tätigkeit ausländischer Journalisten“ Friedens. über den „Einsatz von Fahndungs- und Schefke und Radomski wollen in LeipFestnahmegruppen“ bis hin zur Bereit- zig heimlich die Montagsdemonstration filstellung von „Isolierungsobjekten“. men und fotografieren. Schon auf der HinDer Aktionsplan trägt den Decknamen fahrt, angesichts der Truppentransporte, „Offensive“. Seine Verwirklichung würde „geht uns die Muffe“, wie Schefke festdem zweiten deutschen Staat rumänische hält: „Ob sie schießen würden? Die chineVerhältnisse bescheren. sische Lösung ist vorstellbar.“ FOTOS: SIPA PRESS Ich war in Leipzig und habe dort erklärt: Wir sind dafür, politische Konflikte auch politisch zu lösen. Und ich habe dort in Leipzig mitgeholfen, dass diese Dinge auch so gelöst worden sind. Demonstranten, Anti-Gewalt-Appell*: „Ein Funke kann einen Flächenbrand auslösen“ d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Richtig ist: Krenz taucht zwar in Leipzig auf – aber erst am Freitag nach der entscheidenden Montagsdemonstration. Und er telefoniert an jenem geschichtsträch* Am 9. Oktober in Leipzig. 85 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite 100 TAGE IM HERBST: »KEINE GEWALT« sind 2500 Blutkonserven bereitgestellt. Wehrpflichtige der 5. Volkspolizei-Bereitschaft werden von Vorgesetzten instruiert: „Heute haben die Demonstranten keine Chance. Heute sind wir genug Kräfte, heute haben wir genug Technik, heute machen wir dem Spuk ein Ende.“ Und: „Wenn es nötig ist, wird auch geschossen.“ Ein Polit-Offizier hetzt: „Genossen, ab heute ist Klassenkampf. Die Situation entspricht dem 17. Juni 1953. Heute entscheidet es sich – entweder die oder wir … Wenn die Knüppel nicht ausreichen, wird die Waffe eingesetzt.“ „Zur Demo werden aber auch Bürger mit Kindern kommen“, wen- Stunden vorher „wegen Überfüllung geschlossen“. Die SED hat die innerstädtischen Grundorganisationen angewiesen, die Kirche zu besetzen, und den Genossen rasch noch einen Schnellkurs in pietätvollem Benehmen erteilt: Im Gotteshaus kein Applaus, kein Hut, kein Parteiabzeichen. Rund um die Nikolaikirche wechselt am Nachmittag schlagartig das Publikum. Der durch einen graublauen Stahlblech-Zaun geschickt verkleinerte Vorplatz ist plötzlich mit Pärchen und kleinen Gruppen übersät – die „Schwulenparade“ hat begonnen, wie der Volksmund spöttisch den Aufmarsch der Stasi-Männer nennt, die stets mit Henkeltäschchen und im Kollektiv auftreten. Währenddessen umrunden lange LkwKolonnen mit Blaulicht die Innenstadt. In den Straßen fahren Schützenpanzer und Mannschaftswagen mit Tränengaswerfern P. LANGROCK / ZENIT tigen 9. Oktober zwar mit Vertretern der SED-Bezirksleitung – aber erst, als die Gefahr eines Blutbades unter der Bevölkerung bereits gebannt ist. Am Morgen ist Krenz von dem Leipziger Jugendforscher Professor Walter Friedrich aufgesucht worden, der ihn mit zitternder Stimme beschworen hat: „Egon, heute Abend darf in Leipzig kein Blut fließen.“ Daraufhin telefonierten Krenz und dessen Adlatus Wolfgang Herger, 54, mit Mielke sowie dem Innen- und dem Verteidigungsminister. „Die Befehlslage ist eindeutig“, wird Krenz später das Resultat seiner Bemühungen beschreiben: „Die Si- Reporter Schefke* AP „Die chinesische Lösung ist vorstellbar“ Radomski-Foto von der Montagsdemonstration*: „Wahnsinn, das muss die Welt erfahren“ cherheitsorgane greifen nicht an, es sei denn, sie werden angegriffen.“ Das aber heißt zugleich, wie auch Krenz weiß: „Ein Funke kann einen Flächenbrand auslösen.“ Nur wenn beide Seiten strikt auf Deeskalation bedacht sind, kann Blutvergießen vermieden werden. Noch am Vormittag haben in der Stadt alle Anzeichen auf Bürgerkrieg gedeutet. In den Betrieben werden die Eltern morgens aufgefordert, ihre Sprösslinge bis spätestens 15 Uhr aus den Kindergärten zu holen. Wer in der Innenstadt arbeitet, bekommt früher frei und ist gehalten, die City zu verlassen. In den Krankenhäusern 88 det ein Bereitschaftspolizist ein: „Was wird mit den Kindern?“ Antwort des Offiziers: „Die haben Pech gehabt. Wir haben Pistolen, und die haben wir nicht umsonst.“ An eine Einheit aus der südlichen DDR wird gegen 15.30 Uhr Munition verteilt, 18 Patronen pro Mann. Weisung des Mannschaftsführers: „Und wenn was kommt, dann feuert ihr das Magazin leer bis zur letzten Mumpel.“ Die Nikolaikirche, wo wie üblich um 17 Uhr das Friedensgebet beginnt, ist schon * Links: am 9. Oktober in Leipzig; rechts: auf dem Dach seines Wohnhauses in Ost-Berlin. d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 auf. Polizisten mit Helm und Visier halten wütend kläffende Hunde zurück. Auf dem Karl-Marx-Platz versammeln sich trotz der bedrohlichen Szenerie zehntausende. Viele fürchten, „dass geschossen wird und dass ich jetzt vielleicht auch mein Leben riskiere“, wie eine 40-jährige Lehrerin sagt. Von ihren Kindern hat sie sich vorsichtshalber „regelrecht verabschiedet“. Noch ist offen, ob der Tag ohne Gewalt endet oder ob, wie an den Tagen zuvor, ein paar Steinewerfer den Bewaffneten einen Vorwand zum Angriff geben. Da ertönt, Punkt 18 Uhr, aus den Lautsprechern, die überall in der Innenstadt postiert sind, das Erkennungssignal des Leipziger Stadtfunks – und wenig später das erste Echo der Staatspartei auf die Forderungen der Massen. Der populäre Gewandhaus-Chef Kurt Masur (siehe Porträt Seite 100) hat gemeinsam mit Pfarrer Peter Zimmermann und dem Kabarettisten Bernd Lutz Lange einen Appell verfasst, der die Stimmung umschlagen lässt – nicht zuletzt, weil er sensationellerweise von drei (wenn auch untergeordneten) SED-Bezirkssekretären mitgetragen wird: Unsere gemeinsame Sorge und Verantwortung hat uns heute zusammengeführt. Wir sind von der Entwicklung in unserer Stadt betroffen und suchen nach einer Lö- Werbeseite Werbeseite 100 TAGE IM HERBST: »KEINE GEWALT« sung. Wir alle brauchen einen freien Meinungsaustausch über die Weiterführung des Sozialismus in unserem Land. Deshalb versprechen die Genannten heute allen Bürgern, die ganze Kraft und Autorität dafür einzusetzen, dass dieser Dialog nicht nur im Bezirk Leipzig, sondern auch mit unserer Regierung geführt wird. Wir bitten Sie dringend um Besonnenheit, damit der friedliche Dialog möglich wird. Der Appell der „Sechs von Leipzig“, wie die Autoren später genannt werden, baut blitzartig die Spannung ab, die seit dem Morgen über der Stadt liegt. Manche weinen, viele applaudieren vor Erleichterung. Tausende empfinden wie die zum Tag der Entscheidung ein doppeltes Spiel: Wäre es aufgrund von Gewalttaten der Demonstranten zu Schießereien gekommen, hätte er die Schuld auf die alte Garde geschoben und sich zum deutschen Gorbatschow erklärt. Als sich ein friedlicher Verlauf abzeichnet, signalisiert er gerade noch rechtzeitig seine Zustimmung – in der Hoffnung, sich als heimlicher Vater der friedlichen Revolution in die Geschichtsbücher mogeln zu können. Am Tag nach der Demonstration verfolgt Reporter Schefke mit heimlichem Stolz die „Tagesthemen“: Die ARD zeigt erstmals Bilder aus Leipzig, laut Moderator Hajo Friedrichs „aufgenommen von einem italienischen Kamerateam und uns unter schwierigen Umständen zugeliefert“. Schefke weiß es besser. Er hat das Video am Montagabend in Leipzig einem Freund zugesteckt, dem Ost-Berliner SPIEGELKorrespondenten Ulrich Schwarz. Dem Journalisten gelingt es, die Kassette zwischen Gürtel und Unterhose nach WestBerlin zum SFB zu schmuggeln. Schefke stolpert unterdessen bei völliger Dunkelheit über die Dächer Berlins zurück in seine Wohnung. Dort findet er alles vor, wie er es verlassen hat: Das Radio dudelt, das Licht brennt, und unten auf der Straße schieben die übertölpelten Stasi-Männer pflichtgemäß ihren Dienst. Um sich Rückendeckung aus Ost-Berlin zu verschaffen, bittet er Krenz dringend um Rückruf. Doch der lässt auf sich warten. Da ordnet Hackenberg, um 18.35 Uhr, auf eigene Faust den Rückzug an: Nach Bestätigung wird befohlen, keine aktiven Handlungen gegenüber den Demonstranten zu unternehmen. Befehl Chef: An alle Einsatzkräfte ist der Befehl zu erteilen, dass der Übergang zur Eigensicherung einzuleiten ist! Einsatz Kräfte nur bei Angriffen auf Sicherungskräfte, Objekte und Einrichtungen. Um 19 Uhr haben die 70 000, immer wieder „Keine Gewalt!“ rufend, die Innenstadt umrundet, ohne dass es zu Zwi- DPA Dienstag, 10. Oktober 1989 Ost-Berlin Sowjetpanzer in Prag 1968: „Nur so, nur zur Drohung“ Rentnerin Hannelore Kubitz: „Angst, ja, Angst habe ich gehabt, als ich da vor der Nikolaikirche die Armee habe aufmarschieren sehen. Es stand Spitz auf Knopf … und dann kam der Aufruf von Masur, und wir haben geklatscht.“ Eine entscheidende Rolle im Hintergrund spielt in diesen Stunden der amtierende SED-Bezirkschef Helmut Hackenberg. Wochenlang hat er sich gegenüber Ost-Berlin als Hardliner profiliert. Nun aber, soeben informiert über den geglückten Dialogbeginn in Dresden, beeindruckt von der Zahl der Demonstranten in Leipzig und bedrängt von seinen Sekretären, setzt er zögernd auf Deeskalation. Hackenberg verzichtet nicht nur darauf, den drei Sekretären die Mitwirkung am Masur-Appell zu verbieten. Er möchte am liebsten die martialisch aufmarschierten Sicherheitskräfte zurückziehen, bevor sich der Zug der 70 000 über den Ring in Bewegung setzt. 90 schenfällen gekommen ist. Krenz hat noch immer nicht zurückgerufen. Hackenberg seufzt: „Nu brauchen se auch nich anzurufen, nu sind se rum.“ Erst gegen 19.30 Uhr lässt Krenz von sich hören. Hackenberg meldet, alles sei gewaltfrei abgelaufen; Krenz billigt – im Nachhinein – den Entspannungskurs. Dass drei örtliche SED-Sekretäre das Dialog-Angebot unterzeichnet haben, erfährt die Parteispitze am nächsten Morgen durch ein mehrseitiges chiffriertes Fernschreiben (Nummer 527, Empfangszeit 7.22 Uhr). Hackenberg wird nach Berlin ins Politbüro beordert und angewiesen, sich mit den Genossen, die den Aufruf unterschrieben haben, „auseinander zu setzen“. Dem Mitunterzeichner Kurt Meyer wird noch Wochen später vorgeworfen, er habe „das Sekretariat gespalten“ und „die Sicherheitskräfte verunsichert“. Der später als Reformbeschleuniger auftretende Krenz, so scheint es, spielt bis d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 In den Fensterbänken der schäbigen Häuser im Prenzlauer Berg, Hochburg der Opposition, sind an diesem Morgen die Kerzen heruntergebrannt, die Sympathisanten in der Nacht entzündet haben – als Geste der Solidarität mit der Bürgerbewegung. Erleichterung über den friedlichen Ausgang der Leipziger Demonstration scheint auch aus dem aktuellen Lagebericht 452/89 der Stasi zu sprechen: Es kam zu keinen Gewalthandlungen; vorbereitete Maßnahmen zur Verhinderung/Auflösung kamen entsprechend der Lageentwicklung nicht zur Anwendung. Starrsinnig zeigt sich, in der 10-Uhr-Sitzung des Politbüros, nur Erich Honecker, der die Krise der DDR nach wie vor allein auf „das Wirken feindseliger Kräfte von außen“ zurückführt. Über die Leipziger Funktionäre, die zum friedlichen Verlauf der Demonstration beigetragen haben, giftet der Greis: „Nun sitzen die Kapitulanten schon in der Bezirksleitung.“ In Wahrheit sitzen sie bereits im Politbüro. Dort bricht an diesem Vormittag ein Machtkampf aus, wie ihn die SED-Spitze kaum je erlebt hat: Um die eigene Haut zu retten, beginnen Honeckers Paladine gegen ihren Herrn zu rebellieren. Wolfgang Herger, ZK-Abteilungsleiter für Sicherheitsfragen, hat eine Beschluss- Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite 100 TAGE IM HERBST: »KEINE GEWALT« B. BOSTELMANN / ARGUM W. SCHMIDT / NOVUM BUNDESARCHIV vorlage vorbereitet, in der erstAuf das Taktieren seines mals eingestanden wird, dass Zöglings, das er als Konspiradie Ursachen der Ausreiseweltion zur Untergrabung seiner le auch in der DDR selbst zu Autorität wertet, reagiert er suchen seien. voller Wut. Ihm kommt Krenz zu Hilfe. Eine beiläufige Bemerkung Das jüngste Politbüro-Mitglied, seines Kritikers bietet dem Geseit 1983 als ZK-Sekretär vor alneralsekretär Gelegenheit zur lem für Sicherheits- und KaderGegenattacke. Ausgerechnet fragen zuständig, gilt im Lande Krenz, Vorsitzender der DDRals potenzieller Honecker- Dirigent Masur Wahlkommission, sagt, das Nachfolger. Noch ist nicht an Wahlgesetz müsse künftig die Öffentlichkeit gedrungen, „vollständig“ eingehalten werdaß der Alte auf Distanz zu seiden, auch ein 80- bis 90-pronem zunehmend von Zweifeln zentiger Stimmenanteil sei für geplagten Ziehsohn gegangen die SED ein recht gutes Ergebist. So hat Honecker, erstmals nis. Fast scheint es, als gestehe seit Jahren, nicht Krenz mit seiKrenz mit diesen Worten den ner Urlaubsvertretung beaufBetrug bei den Kommunaltragt, sondern seinen Vertrauwahlen am 7. Mai ein. ten Günter Mittag. Was Honecker im Zorn erBereits bei einer Einsatzbewidert, schreibt Gerhard Schüsprechung im Ministerium für Pfarrer Zimmermann rer, Leiter der Staatlichen PlanStaatssicherheit am 8. Oktober kommission, mit: (Teilnehmer unter anderem: Sagen, was man meint! Wahl Erich Mielke und Wolfgang gefälscht oder nicht. Sind geHerger) hat sich Krenz, der fälscht. Im PB aber nichts verstoßene Kronprinz, an die gesagt. Kontrolle hat das Spitze der Honecker-Kritiker ergeben. gesetzt. Auch wenn er zu dieser Zeit, wie er später bekundet, Am Ende der Sitzung greift den Sturz seines Mentors noch Honecker das Thema noch nicht beabsichtigt – unter seieinmal auf. Er kündigt „schärfnen Mitkonspirateuren keimt ste Maßnahmen gegen die die Einsicht, dass die Tage der Kabarettist Lange Wahlfälschung“ an – was unHonecker-Ära gezählt sind. verkennbar auf Krenz zielt. Der Krenz-Mitstreiter und KGB-Kontaktmann Mielke – so wird später ein hoher Stasi-Offizier dem Historiker Ekkehard Mittwoch, 11. Oktober 1989 Kuhn zu Protokoll geben – sieht nur noch eine Möglichkeit, Ruhe und Ordnung im Ost-Berlin Lande wiederherzustellen und die SED- Nach der Politbüro-Sitzung weiß der ewiHerrschaft zu stabilisieren: „Honecker als ge Rückversicherer Krenz: Wenn Honecker das störende Element der Entwicklung der die Macht behält und seine Drohung in die DDR zu beseitigen“. Der Offizier: „Einen Tat umsetzt, muss der Rebell den politiModrow wollte von den Herren keiner ho- schen Absturz fürchten. len. Krenz war der einzige Kandidat, der Unzufrieden ist Krenz auch mit dem ihnen geeignet schien, ihre eigenen Pfrün- wichtigsten Beschluss. Der Herger-Entwurf den nicht anzugreifen.“ ist verwässert worden, herausgekommen Vor der Sitzung hat sich Krenz bei 9 der ist ein „Kompromisspapier, dem jeder ent21 Politbüro-Mitglieder vergewissert, dass nehmen kann, was er will“. Nun sucht er das Herger-Papier (Kernsatz: „Wir stellen sein Heil in der Flucht nach vorn. uns der Diskussion“) deren Billigung finAm Abend besucht Krenz den Ministerdet. Wichtig ist Krenz – neben Mielkes Pla- ratsvorsitzenden Stoph in dessen Wohnung zet – vor allem die Zustimmung des Minis- und stellt die Frage: „Willi, ist es jetzt nicht terratsvorsitzenden Willi Stoph sowie der an der Zeit, den nächsten Schritt zu unSED-Bezirksfürsten von Berlin und Karl- ternehmen?“ Stoph antwortet: „Für Erichs Marx-Stadt (Chemnitz), Günter Scha- Absetzung brauchen wir eine Mehrheit. bowski und Siegfried Lorenz. Mit deren Wir müssen vorher mit allen sprechen.“ Rückendeckung, kalkuliert Krenz, kann er den Vorstoß wagen. In der Diskussion mahnt Honecker Ent- Donnerstag, 12. Oktober 1989 schlossenheit im Kampf gegen die Konterrevolution an. Dabei sei notfalls auch „von Ost-Berlin der Macht Gebrauch zu machen“. Die DDR-Bürger erfahren am Morgen aus Die Beschlussvorlage Hergers, für die dem „Neuen Deutschland“, dass Bewesich Krenz vehement einsetzt, lehnt gung in die Staatspartei gekommen ist: Die Honecker als „Kapitulations-Erklärung“ Zeit der Sprachlosigkeit geht dank Krenz strikt ab: „Selbstkritik hilft jetzt nicht.“ und Herger zu Ende, das SED-Zentral94 d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite 100 TAGE IM HERBST: »KEINE GEWALT« Krenz und Stoph überein: Die Absetzung Honeckers muss auf die Tagesordnung der nächsten Politbüro-Sitzung. lektiv zu treffen oder auch nur zu diskutieren“. So verspricht er Krenz seine Unterstützung. Der wiederum weiht den Sowjetbotschafter Kotschemassow in den PutschPlan ein. Anschließend beauftragt Krenz Freitag, 13. Oktober 1989 den FDGB-Chef Harry Tisch, am folgenden Ost-Berlin Montag nach Moskau zu reisen, um GorDie Verschwörung, kaum verabredet, batschows Zustimmung einzuholen. Die Verschwörer können, wenn ihr Vorscheint schon verraten. Die West-Berliner Lokalausgabe der „Bild“-Zeitung kommt haben gelingen soll, kein Interesse daran mit der Schlagzeile auf den Markt: haben, dass es bei der nächsten Montags„Honecker: Mittwoch letzter Arbeitstag“. demonstration zu Straßenschlachten und Am 18. Oktober werde der SED-Gene- bürgerkriegsähnlichen Zuständen kommt. ralsekretär entmachtet, berichtet das Blatt. Am Nachmittag fliegt Krenz daher mit eiDie Redaktion beruft sich auf eine Exklu- ner TU 154 von Berlin-Schönefeld nach siv-Information „aus höchstrangigen SED- Leipzig, um sich mit der Bezirkseinsatzleitung zu beraten. Kreisen in Ost-Berlin“. Begleitet wird Krenz von den Stabschefs der NVA und des Innenministeriums, Fritz Streletz und Karl-Heinz Wagner, dem stellvertretenden Stasi-Minister Rudi Mittig und ZK-Sicherheitssekretär Herger. Auf dem Rückflug formuliert die Fünferrunde ei„Bild“ vom 13. Oktober: Verschwörung verraten nen Befehl über „MaßnahDer Quellenhinweis soll womöglich in men zur Gewährleistung der Sicherheit und die Irre führen. Die Frondeure um Krenz Ordnung in Leipzig“. Am frühen Abend kommen als Informanten kaum in Frage. wird der Entwurf Honecker – in dessen EiWahrscheinlicher ist eine gezielte Indis- genschaft als Vorsitzender des Nationalen kretion aus Geheimdienst-Kreisen, sei es Verteidigungsrates – vorgelegt. „Der Einsatz der Schusswaffe im Zuvom sowjetischen KGB selbst oder von sammenhang mit möglichen Demonstradessen Kampfgenossen in der Stasi. Geheimdienst-Minister Mielke, der sich tionen“, heißt es in der Order, „ist gelegentlich als „Vertreter der Sowjetmacht grundsätzlich verboten.“ Zulässig sei der in der Partei“ bezeichnet, hört auf die „aktive Einsatz polizeilicher Kräfte und Stimme des Großen Bruders – auch wenn Mittel … nur bei Gewaltanwendung der er mit dem Reformkurs der Moskauer Demonstranten gegenüber den eingesetzten Sicherheitskräften bzw. bei GewaltanGenossen nicht einverstanden ist. Honeckers Ablösung hält er für „not- wendung gegenüber Objekten“. Honecker sträubt sich zunächst dagewendig“. Der SED-Chef sei „nicht mehr in * Bei der Ernennung von Generälen 1989. der Lage, seine Entscheidungen im Kol- gen, das Papier zu unterzeichnen. Er will sogar – „nur so, nur zur Drohung“ – ein SED-Funktionäre Mielke, Honecker, Krenz*: Der Ziehsohn geht auf Distanz Panzerregiment durch die Messestadt rattern lassen. Egon Krenz und Fritz Streletz reden auf den Generalsekretär ein: Eine solche militärische Drohgebärde sei unsinnig, weil die jugendlichen Demonstranten in Panzernahbekämpfung ausgebildet seien. Wer auf das Kettenfahrzeug springe und ein Tuch auf die Sichtluke werfe, könne einen Panzer spielend manövrierunfähig machen. Panzereinsatz in Städten setze die bedingungslose Bereitschaft zur Gewaltanwendung voraus – so wie 1968 in der Tschechoslowakei, als der Prager Frühling durch eine militärische Intervention blutig beendet wurde. Honecker zieht seinen Vorschlag zurück: „Na, denn nicht.“ DER SPIEGEL organ veröffentlicht die von Honecker bekämpfte Erklärung des Politbüros. Westliche Kommentatoren mutmaßen, dass in der SED-Führung die Hölle los ist – zumal Mielkes einstiger Spionagechef Markus Wolf tags zuvor in einem BBCInterview auf die Frage nach der Zukunft der gegenwärtigen DDR-Führung vielsagend geantwortet hat: „No comment.“ Honecker, plötzlich in Bedrängnis geraten, sucht Rückendeckung bei seinen Getreuen in der Provinz, den Ersten Bezirkssekretären. Er hat sie ins ZK beordert, um einschätzen zu können, wie weit der Einfluss von Krenz und Schabowski reicht. In seinem Referat verfälscht Honecker die zweitägige Krisendiskussion des Politbüros zu einer Debatte über „den Generalangriff der Nato auf den Vorposten des Sozialismus“. Die Genossen des Politbüros schweigen. Auch Schabowski wäre stumm geblieben, hätte Honecker nicht am Ende der Sitzung den frisch entdeckten Opponenten siegessicher mit der Bemerkung provoziert: „Na, will einer noch was sagen, Schabowski vielleicht?“ Der Berliner Bezirkschef, überrascht, nutzt die Attacke, um die Kollegen Sekretäre darüber aufzuklären, dass es im Politbüro zwei Tage lang in Wahrheit nicht um die Nato ging, sondern um den „Ernst der Lage in der DDR“. Ohne ihm zu widersprechen, beendet Honecker die Sitzung. Die Konspiration gewinnt Konturen. Beim Pinkeln verabreden Modrow und Schabowski ein Treffen. Krenz führt getrennte Gespräche mit Lorenz und Schabowski. Das Trio beschließt, den Sturz des Staats- und Parteichefs in die Wege zu leiten. Noch am selben Abend kommen Jochen Bölsche; Norbert F. Pötzl, Cordt Schnibben, Ulrich Schwarz, Alexander Smoltczyk, Andreas Wassermann Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite 100 TAGE IM HERBST: »KEINE GEWALT« PORTRÄT »Sie haben uns das Leben gerettet« Kurt Masur: Die Autorität des Gewandhaus-Stars half in Leipzig ein Blutbad vermeiden. E 100 sonnenheit“ samt Versprechen, sich für einen politischen Dialog einzusetzen. „Masur“, erinnert sich Lange, „hatte schon entsprechende Gedanken parat.“ Um 16.30 Uhr rasen die Sechs in drei Autos ins Gewandhaus. Academixer Lange vervielfältigt den Appell-Text mit einer Schreibmaschine und Kohlepapier, Zimmermann rennt mit den Durchschlägen in die vier Kirchen, in denen gerade die montäglichen Friedensgebete stattfinden. Schweißgebadet bittet der Kurier die Pastoren, den Text am Ende des Gottesdienstes „mit allem Nachdruck“ zu verlesen. Die Pfarrer folgen der Bitte. Masur und seine Mitstreiter sind nicht die Einzigen, die an diesem Nachmittag zur Gewaltlosigkeit auffordern. Drei Arbeitskreise der Bürgerbewegung appellieren an die Bevölkerung: Auch Landesbischof Johannes Hempel beschwört die Gläubigen: „Ich hoffe, ich bitte, ich flehe, dass diese Nacht in Leipzig vorübergeht ohne schlimme Dinge.“ Doch die breiteste und stärkste Wirkung erzielt der Aufruf der Sechs. Immer wieder wird der Appell, den Masur einem Mitarbeiter von Radio Leipzig auf Band gesprochen hat, über Stadt- und Rundfunk ausgestrahlt. „Dass der Aufruf zünden konnte“, urteilt Mitunterzeichner Zimmermann, „lag wesentlich an der moralischen Autorität von Masur.“ Der Hüne mit dem verhangenen Blick wird von den musikbegeisterten Leipzigern verehrt, seit er 1970 die Leitung von Deutschlands ältestem bürgerlichem Symphonieorchester übernommen hat und damit Nachfolger von Dirigenten-Denkmälern wie Felix Mendelssohn Bartholdy und Wilhelm Furtwängler geworden ist. Zwar nutzt die DDR Masur als kulturpolitisches Aushängeschild. Doch der AP igentlich wollte Professor Kurt Masur am Vormittag des 9. Oktober 1989 mit dem Leipziger Gewandhausorchester den „Till Eulenspiegel“ von Richard Strauss proben. Doch er sagt den Termin ab – der Maestro will nicht musizieren, „während draußen ein Massaker stattfinden kann“. Der Kapellmeister hat die Gerüchte vernommen, dass „die Armee eingreift“ – eine Information, die an diesem Tag auch den Superintendenten Friedrich Magirius von der Nikolaikirche auf vielerlei Kanälen erreicht. Aus Angst vor einem Blutbad operiert der Dirigent einen Tag lang als Diplomat. Der Künstler, international geachtet und daher nur schwer antastbar, will seine Autorität nutzen, um die bornierte Leipziger SED-Führung von dem bislang verfolgten Konfrontationskurs abzubringen. Weil der 1. Sekretär Horst Schumann seit Monaten krank ist und dessen Stellvertreter Helmut Hackenberg als Betonkopf gilt, ruft Masur um 13.45 Uhr eine subalterne Charge an: den SED-Kultursekretär Kurt Meyer, mit dem er sich bereits drei Tage zuvor voller Sorge über die zunehmend bedrohliche Lage ausgetauscht hat. Masur zu Meyer: „Lassen Sie uns gemeinsam darüber nachdenken, was man tun kann, um heute Abend das Schlimmste zu verhindern.“ Meyer verspricht, zurückzurufen und berät sich mit seinen Sekretärskollegen Jochen Pommert (Propaganda) und Roland Wötzel (Volksbildung). Beide sagen ihre Unterstützung zu, Pommert weist auf das Risiko hin, das sie eingehen: „Parteiausschluss, denn die Parteiführung sieht die Massen auf der Straße als Konterrevolution an, und wir drei stellen uns auf diese Seite.“ Die drei bieten Masur an, ihn sofort zu Hause aufzusuchen und zwei weitere prominente Leipziger mitzubringen: den Theologen und CDU-Politiker Peter Zimmermann (von dem später bekannt wird, dass er lange Zeit als IM „Karl Erb“ für die Stasi gearbeitet hat) und den Kabarettisten Bernd-Lutz Lange von den „Academixern“. Masur ist einverstanden. Im Wohnzimmer des Dirigenten formuliert die Gruppe gemeinsam ihren – an beide Seiten gerichteten – Aufruf zur „Be- Auch der letzte Montag in Leipzig endete mit Gewalt. Wir haben Angst. Angst um uns selbst, Angst um unsere Freunde, um den Menschen neben uns und Angst um den, der uns da in Uniform gegenübersteht … Gewalt schafft immer nur Gewalt. Gewalt löst keine Probleme. Gewalt ist unmenschlich. Gewalt kann nicht das Zeichen einer neuen, besseren Gesellschaft sein. Dirigent Masur bei seinem Leipziger Abschiedskonzert 1996: „Vetter Martin Luthers“ d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 eigenwillige „Vetter Martin Luthers“ („Time“) widersetzt sich jedem Versuch, sich von der SED instrumentalisieren zu lassen. Im Gegenteil: Masur setzt seinen Ruhm ein, um den Partei-Oberen viel Geld und ein neues Haus für sein Orchester abzutrotzen. So verfehlt der Appell des GewandhausStars nicht seine Wirkung. Als Kabarettist Lange sich abends unter die Menge mischt, haben – „Das war neu“ – die Menschen begonnen, mit den Uniformierten zu diskutieren. Zimmermann wird Zeuge, wie „Lassen Sie uns gemeinsam darüber nachdenken, was man tun kann, um heute Abend das Schlimmste zu verhindern.“ Kampfgruppen-Angehörige ihre Helme absetzen, Schilde und Knüppel weglegen und sich den Menschen, die noch Stunden zuvor als „Konterrevolutionäre“ und „Rowdys“ diffamiert worden waren, zum Gespräch anbieten. Zimmermann: „Eine großartige Erfahrung.“ Am nächsten Tag ziehen Bürgerrechtler zu Masurs Haus und schmücken den Zaun mit Blumen. Leipziger schlagen den Dirigenten der Wende für den Friedensnobelpreis vor, eine Frau spricht ihn tief bewegt an: „Im Namen meiner Kinder, meiner Familie und meiner Freunde bedanke ich mich bei Ihnen, dass Sie uns das Leben gerettet haben.“ Die Leipzigerin steht mit ihrem Urteil nicht allein. Ein Stasi-Bericht bestätigt: „Einfluss auf die Lageentwicklung und die Verhinderung von Gewalt hatte u. a. der im Rundfunk verlesene Aufruf zur Besonnenheit von Professor Masur.“ Als „Politiker wider Willen“ (Masur) agiert der Kapellmeister noch einige Wende-Wochen lang; für den Dialog mit den Regierenden stellt er sein Gewandhaus zur Verfügung. Der Versuchung, in die große Politik einzusteigen, widersteht er – etwa 1993, als Christdemokraten ihn als Bundespräsidenten ins Gespräch bringen. Stattdessen übernimmt der Gewandhaus-Chef zusätzlich die Leitung des New York Philharmonic Orchestra. Fünf Jahre lang ist Masur der einzige Mann, der gleichzeitig zwei Orchestern von Weltrang vorsteht – bis er, nach Querelen um Zuschüsse und Zuständigkeiten, 1996 in der so genannten Heldenstadt vorzeitig abdankt. Von den Leipzigern verabschiedete sich der Dickschädel mit Beethovens „9. Symphonie“ – und mit den bitteren Worten: „Hier haben wir im Augenblick einen Umgang miteinander, der dem Geschenk der Wiedervereinigung nicht adäquat ist.“ Jochen Bölsche d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite 100 TAGE IM HERBST: »KEINE GEWALT« ANALYSE »Liquidieren auf besonderen Befehl« Das Gewaltpotenzial des SED-Staates: eine Million Mann unter Waffen F riedrich Engels, 1841 Einjährig-Freiwilliger im Berliner „Garde-Fuß-Artillerie-Regiment“, später der Bruder im Geiste des ungedienten Karl Marx, hat den Kommunisten in aller Welt viel Lesestoff hinterlassen, vor allem über die Macht der Gewehre. Deshalb hieß die Militärakademie der Nationalen Volksarmee der DDR nach dem Barmer Fabrikantensohn, es gab einen Friedrich-Engels-Preis für „Stärkung und Vervollkommnung der sozialistischen Landesverteidigung“ und ein Friedrich-Engels-Wachregiment. „Waffen sind Werkzeuge der Gewalt“, hatte der Militärtheoretiker scharfsinnig erkannt. Seine ostdeutschen Enkel zogen daraus den dialektischen Schluss, dass Waffen deshalb auf gar keinen Fall in die Hände des Volkes gehörten. Denn die „Diktatur des Proletariats“ sei nur machbar, wenn die Partei die Gewehre kommandiere. Das sei die Machtfrage. Die Machtfrage begleitete die DDRKommunisten wie der Mond den Wanderer im dunklen Tann. Schon am 30. April 1945, als die „Gruppe Ulbricht“ aus Moskau in die sowjetisch besetzte Zone Deutschlands eingeflogen wurde, gab der KP-Remigrant den Seinen die Losung für den Verwaltungsaufbau aus: „Es muss demokratisch aussehen“, befahl Walter Ulbricht, „aber wir müssen alles in der Hand haben.“ Vom Tage Null im Mai 1945 bis zu Ultimo am 3. Oktober 1990, als die DDR aus der Geschichte verschwand, stand die Macht im Zentrum aller SED-Überlegungen. Die jeweilige Sicherheitsdoktrin überwucherte alle anderen Politikfelder – sie ruinierte die Wirtschaft, den demokratischen Zentralismus, Kultur- und Geistesleben, überzog das Land mit einem in Deutschland bisher nie da gewesenen Spitzelnetz und brachte am Ende zwei Rekorde zu Stande. Auf dem vergleichsweise winzigen Territorium der DDR – 108 333 Quadratkilometer, das sind 0,02 Prozent der Erdoberfläche – standen mehr als eine Million Mann, jeder fünfte Erwachsene, mit dem Gewehr bei Fuß, der Machtfrage wegen. Nirgendwo in Europa drängelten sich so viele Schwerbewaffnete auf so engem Raum. Dieser Rekord wird noch überboten durch das zweite Kuriosum: Die bitterarme DDR hinterließ der Bundesrepublik Deutschland in diversen Waffenkammern Schießgerät und Munition im Wert von rund 100 Milliarden Westmark. Jahrelang plagten sich die Bonner Behörden mit der Reduktion dieser Alt- lasten – sie wurden verschrottet, zersägt, verschenkt, verkauft, umgerubelt, ausgeschlachtet oder, wie die legendären Jagdflugzeuge vom Typ MiG-29, in die Bundeswehr integriert. Den Bewaffneten der Ex-DDR blieben nur ein paar Pistolen für die Polizei; die staatsnahen Weidmänner mussten ihre Jagdwaffen abgeben. Die Volkspolizei („Vopo“) der DDR, 90 000 Mann, hatte bereits Ende 1989 erkennen lassen, dass sie sich auf den westdeutschen Beamtenstatus (und die neuen Funkwagen) freute. Gegen das Versprechen der Weiterbeschäftigung, nunmehr fest auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, hielten die Vopos 1989/90 fein still, ließen sich auf der Straße kaum blicken, bereuten sogar ihre Prügelorgien in den Wochen vor der Maueröffnung und sammelten ohne Trara die Schießprügel der anderen „bewaffneten Organe“ ein. Es gab viel zu tun. Als erste war die Stasi dran. Das Ministerium für Staatssicherheit kommandierte der Armeegeneral und Waffennarr Erich Mielke, Jahrgang 1907. Er führte drei private Faustfeuerwaffen (alles Westimporte) und zwei Dutzend Büchsen für die Jagd. Die 92 000 Mann seiner Geheimpolizei waren bis an die Zähne bewaffnet, mit 124 503 Pistolen, 76 592 Ma- JÜRGENS OST UND EUROPA PHOTO SED-Betriebskampfgruppen: „Nur diejenige Revolution ist etwas wert, die sich auch zu verteidigen versteht“ Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite 100 TAGE IM HERBST: »KEINE GEWALT« d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 64 Jahre alt, ein Mann zum Fürchten. Den legte Gorbatschow persönlich an die Kette. Der KPdSU-Generalsekretär verbot der Westgruppe jedes Eingreifen in die inneren Konflikte der DDR. Die sowjetischen Streitkräfte zogen sich in die Kasernen zurück und sagten alle Manöver ab. Nicht einmal die Ehefrauen der Offiziere durften mehr einkaufen gehen. Dass sich der Wind gedreht hatte, erkannten die 15 führenden Generäle der Nationalen Volksarmee der DDR spätestens am 9. November 1989, in der Nacht des Mauersturms. Zur Krisensitzung des Generals-„Kollegiums“ erschien der sonst stets anwesende Vertreter der Westgruppe nicht. In dieser Nacht des höchsten Risikos bewies die NVA-Generalität Verantwortungsbewusstsein, Augenmaß und Vorsicht. Kommandiert von Generaloberst Fritz Streletz, Chef des Hauptstabes der NVA, einem militärisch talentierten und belastbaren Soldaten, widerstand die NVAFührung allen Versuchungen, in die finale Krise der DDR mit Gewalt einzugreifen. Dabei galt die sehr straff geführte Nationalen Volksarmee in diesen Tagen durch- BUNDESARCHIV schinenpistolen, 3611 Scharfschützenge- weil „unsere Partei nach der Leninschen wehren, 449 leichten Maschinengewehren, Erkenntnis handelt, dass nur diejenige Re766 schweren Maschinengewehren, 3537 volution etwas wert ist, die sich auch zu Panzerbüchsen, 342 Flugabwehr-Maschi- verteidigen versteht“. nengewehren, 48 Polizeiflinten und 3303 Deshalb hatte jeder Klassenkämpfer Leuchtpistolen. Bei der Stasi waren sogar eine Pistole M(akarow) und eine MPidie hauseigenen Küchenfrauen und Kran- K(alaschnikow) für die Abwehr der „Konkenschwestern bewaffnet. terrevolutionäre“ parat. Falls durch den Um die Stasi-Offiziere und ihre 172 000 Feind der Konflikt eskalieren würde, sollInoffiziellen Mitarbeiter (Stand: Oktober ten die „Kampfgruppen der Arbeiterklas1989) nicht zu reizen, sprach die Volkspo- se“ ihr schweres Gerät – Panzergeschütze, lizei nicht von „Entwaffnung“, sondern Granatwerfer, Zwillingsflak – in Stellung von „Abgabe“ oder „Übergabe“ der Waf- bringen. fen. Weil es nicht genug Kisten gab, wurde das Schießgerät in Decken abtransportiert. Für jeden Eventualfall hatte Mielkes geheime Armee einen Plan in der Schublade, nur ihre eigene Abschaffung war nicht bedacht worden. Die „Liquidierung“ hatte das MfS den Dissidenten zugedacht, also Personen mit einer „verfestigten feindlichnegativen Grundhaltung gegenüber der sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung“. Für diese DDR-Bürger – insgesamt 10 726 namentlich DDR-Volksarmee: Gefechtsbereit in 42 Minuten erfasste Abweichler, ein jeder mit aktualisierter Personalkarte – waGegen die friedlichen Demonstranten ren „zeitweilige Isolierungsstützpunkte“ des Wendeherbstes, die immerzu „Keine vorbereitet, für jede der 211 DDR-MfS- Gewalt!“ riefen, waren die Kampfgruppen Kreisdienststellen einer. Von dort wären völlig machtlos. In Leipzig und anderen die Regimegegner plangemäß in zentrale sächsischen Städten verweigerten zahlreiInternierungslager gebracht worden. che Mitglieder die Mobilmachung und den Die Unterbringung in diesen Konzen- Einsatz: „Das sind doch unsere Kinder.“ trationslagern sollte dazu dienen, „die perAuch die anderen Waffenträger der Resonelle Basis der subversiven Tätigkeit des publik hatten keine Lust, in den BürgerFeindes zu zerschlagen“. Die Dokumente krieg zu ziehen – weder die „Zivilverteilassen Böses ahnen. In der kalten Sprache diger“ noch die Zöllner, geschweige denn des Geheimdienstes wird erläutert, was für die Männer der Berufsfeuerwehr. Alle hatden Tag X mit den Internierten geplant ten zwar Waffen und Munition im Schrank, war: „ihre Liquidierung/Ausschaltung auf unterlagen zugleich aber einem strengen besonderen Befehl … wenn es die Lage Regiment: „Waffenmeister“ führten Buch erfordert“. über jedes Schießgerät und jeden Schuss. Daraus wurde nichts, weil die Lage sich Selbst „Geschenkwaffen“, etwa von eiim Herbst 1989 rasch zu Ungunsten der nem hochrangigen Sowjetfreund, wurden Staatsgewalt veränderte. Die MfSler hatten registriert. Angst um ihren Arbeitsplatz, fürchteten Die große Sowjetunion unterhielt in der sogar, gelyncht zu werden. Alle früheren kleinen DDR eine „Westgruppe“ ihrer Verbündeten – Polizei und Armee, Partei Streitkräfte, 365 000 Mann (plus 208 000 Ziund Betriebskampfgruppen – suchten rasch vilangestellte und Familienangehörige). Distanz zwischen sich und die Stasi zu Das Riesenheer bestand aus Gardedivisiobringen. Die paramilitärischen Verbände nen, Stoßarmeen und Sturmbrigaden. Die der Betriebskampfgruppen, insgesamt Elitesoldaten waren bestens gerüstet: 4116 202000 Mann, lösten sich besonders schnell Kampfpanzer, 7948 gepanzerte Fahrzeuin Wohlgefallen auf. ge, 3578 Artilleriesysteme, 623 Flugzeuge, Eigentlich, so hatte Erich Honecker 1983 615 Hubschrauber, 94 129 Kraftfahrzeuge im Berliner „Palast der Republik“ bei ei- sowie 677 000 Tonnen Munition. So steht es nem Festakt zum 30-jährigen Bestehen der in den 1990 mit der Bundesregierung geBetriebskampfgruppen getönt, habe „un- schlossenen Abzugsvereinbarungen. sere Partei die Kampfgruppen ins Leben“ Das Kommando führte der Armeegenegerufen und ständig „weiterentwickelt“, ral Boris Wassiljewitsch Snetkow, damals Die bitterarme DDR hinterließ in diversen Waffenkammern Schießgerät und Munition für rund 100 Milliarden Westmark. aus noch als universell verwendungsfähig. Die rund 210 000 Soldaten – davon 42 000 Mann bei den Grenztruppen, 36 000 bei der Luftwaffe, 16 000 Mariner – standen Gewehr bei Fuß. Volle Gefechtsbereitschaft, hundertmal trainiert, war in 42 Minuten zu erreichen. Das galt zu Recht als „Weltniveau“. Viele Soldaten kamen in den Herbstwochen 1989 tagelang nicht aus den Stiefeln. Trotzdem drehte keiner durch. Auf dem Territorium der kleinen DDR drängelten sich mehr als eine Million Bewaffnete. Und es fiel kein einziger Schuss. Dabei waren unter den Soldaten natürlich auch Desperados, Trunkenbolde, Angsthasen und Fanatiker. Weil trotzdem niemand das Feuer eröffnete, blieb der Erde ein immerhin möglicher dritter Weltkrieg erspart. Nur weil kein Blut floss, wurde die friedliche Wiedervereinigung Deutschlands innerhalb eines Jahres erreicht. Hans Halter Im nächsten Heft Palastrevolte gegen Honecker – Moskau ist eingeweiht – Agenten unterwandern alle Oppositionsgruppen – „Visafrei bis Hawaii!“ 109 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Deutschland DDR Schwarzes Kleid und rote Socken Gespaltener Osten: Am 7. Oktober feierte die alte Elite den 50. Gründungstag der DDR, die Oppositionellen erinnerten an die friedliche Revolution von 1989. D MROTZKOWSKI ARIS er Genosse Minister Armeegeneral a. D. hat sich fein gemacht. In grauer Jacke, schwarzer Hose und strahlend weißen Schuhen verlässt er kurz vor elf Uhr seine Zwei-Raum-Wohnung im 15. Stock. 50 Jahre nach Gründung der DDR wird der einst gefürchtetste Mann des Arbeiter-und-Bauern-Staats im Rollstuhl aus dem sanierten Plattenbau im Ost-Berliner Bezirk Hohenschönhausen geschoben. Ein neuer brauner Lederhut schmückt den Kopf des Greises, unter dem silbernen Brillengestell huschen die Augen wie eh und je listig und hellwach hin und her. Die Ex-Stasi-Chef Mielke „Ein Tag wie jeder andere“ dürren Hände, von Altersflecken übersät, weisen dem getreuen Diener, der ihn schiebt, den Weg. Erich Mielke weiß immer noch, wo es langgeht. Am 7. Oktober, genau vor zehn Jahren, stand der Stasi-Chef in Paradeuniform auf der Ehrentribüne, die sozialistischen Untertanen bejubelten den „RepublikGeburtstag“. Gegen am gleichen Tag demonstrierende Jugendliche rund um die Gethsemane-Kirche am Prenzlauer Berg hetzte Mielke seine Schlägertrupps: „Haut sie doch zusammen, die Schweine.“ Heute lässt sich der gebrechliche, bis auf die Knochen abgemagerte Tschekist durch das gleichgültig vorbei eilende Volk schie112 Sein „West-Arzt“ habe ihm erfolgreich von der filterlosen Karo, dem Markenzeichen der DDR-Zigarettenproduktion, abgeraten. Ganz offiziell hält der Parteiführer das Requiem auf die DDR. Er spricht über Bert Brecht, den Kommunisten, der freiwillig in die DDR gekommen war, er lobt den „DDR-Sozialismus“, der „keine himmelschreienden sozialen und geschlechtsspezifischen Kommunistin Wagenknecht, Ehemann: Requiem im Tränenpalast Unterschiede wie im ben, das er mal für sein Eigentum hielt. Westen“ kannte, nennt ihn einen „FrieFragen nach dem DDR-Jubiläum beant- densfaktor“. Nur die Mauertoten sind im wortet nur sein Begleiter, und das wider- Tränenpalast kein Thema. Der Beifall ist willig: „Es ist ein Tag wie jeder andere.“ getragen, selbst Sahra Wagenknecht von Wie immer bei seiner Tour durch den der „Kommunistischen Plattform“ der PDS Kiez kommt Mielke an der Buchhandlung lobt ihren Vorsitzenden ausnahmsweise, „La Chispa“ in der Grevesmühlener Straße ehe sie Autogramme gibt. vorbei. Im Fenster erinnert ein Plakat an Im Willy-Brandt-Haus in Berlin-Kreuzeinen seiner größten Erfolge. Es kündigt berg erinnern große Schautafeln an dafürs Wochenende eine Lesung mit Gabrie- mals, wobei der Anlass erst 10 und nicht le Gast an, der „Kundschafterin des Frie- 50 Jahre her ist. Das „Forum Ostdeutschdens“ (Buchtitel). Gast war Stasi-Quelle land“ der SPD feiert die Gründung seiner „Gisela“. 17 Jahre lang spionierte sie für Vorgängerorganisation im Osten, der Sodie Staatssicherheit in der Zentrale des zialdemokratischen Partei SDP, am 7. OkBundesnachrichtendienstes. tober 1989 im brandenburgischen Dorf Hanno Harnisch, einst inoffiziell mit Schwante. Mielke verbunden, hat sich fein gemacht Neben der mit Schreibmaschine gefür die „50. Wiederkehr des Gründungs- schriebenen Gründungsurkunde hängen tages der DDR“. Zum schwarzen Hemd Fotos von Protagonisten der Wende: Marträgt der Pressesprecher und Conféren- kus Meckel mit langem Bart, Steffen Reicier der PDS eine schwarze Fliege mit che in Parkajacke, Ibrahim Böhme, bereits weißen Punkten. Im Tränenpalast mode- im Anzug. So nebenbei erklärt SPDriert er die „politisch-künstlerische“ Ma- Ministerpräsident Manfred Stolpe, dass tinee unter dem Motto „Vorwärts und Brandenburgs Ex-Sozialministerin Regine nicht vergessen?“. Hildebrandt, die hinwarf, weil sie lieber 200 Menschen sitzen in der zur Show- mit der PDS statt mit der CDU koaliert bühne mutierten alten Grenzkontroll- hätte, ein Büro im Brandt-Haus erhalten stelle am Bahnhof Friedrichstraße, durch wird. „Eine Art Eingabenstelle wie früher die so viele Westler in den Osten, aber im Staatsrat“, raunt ein Genosse. kaum Ostler in den Westen gelangten: Meckel wird am Abend auch im Ostteil Grauhaarige und Kahlköpfige sind darun- in der Gethsemane-Kirche gebraucht. Über ter, Wind- und Bundjacken made in DDR. dem Eingang des Gotteshauses hängt wie Aber auch viele ernst wirkende Jugend- vor zehn Jahren ein Transparent „Die Kirliche hocken zwischen einem Bild des so- che ist geöffnet“. Heute hält keiner mehr zialistischen Kosmonauten Siegmund Jähn Kerzen in der Hand, kein Vopo blockiert und der grellen Leuchtreklame für „origi- den Zutritt. nal american beer“. „Mensch, vor zehn Jahren war es hier Sahra Wagenknecht, die kommunistische drin wärmer“, sagt eine Frau. „Wir waren Sirene der Partei, sitzt auf ihrem Klapp- so viele“, erklärt sie ihrem Begleiter, „da stuhl ganz vorn im Publikum wie auf ei- kamste erst nicht rein und zum Schluss nem Ehrenplatz. Ein schwarzes Kleid hat nicht mehr raus.“ sie angezogen, eine silberne Kette angeAuf dem Podium vor dem Altar rekonlegt, das lange schwarze Haar hoch ge- struieren Zeitzeugen die Ereignisse jener steckt. Ihren Mann, einen westdeutschen Tage und Nächte. Sogar der Mut des HausUnternehmer im Business-Anzug, hat sie meisters wird gelobt. Irgendwann hält es eimitgebracht. Ein Glas Rotwein in der nen Besucher in der letzten Reihe nicht Hand, plaudert Lothar Bisky, PDS-Vorsit- mehr auf der Kirchenbank. Bernd Albani, zender, die Bedeutung des Tages herunter: damals Pfarrer der Gemeinde, eilt ans Mid e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Deutschland Wolfgang Bayer, Stefan Berg, Andreas Wassermann, Steffen Winter, Adrienne Woltersdorf 114 S P R AC H E N S T R E I T Nicht mal flüstern Die Berliner Regierung boykottiert EU-Sitzungen, bei denen nicht auch deutsch gedolmetscht wird – auch wenn die anderen Länder das bizarr finden. S eit fast zwei Jahren treffen sich Finanzstaatssekretäre aus allen EUStaaten regelmäßig im meist trüben, regnerischen Brüssel, um über die Steuerharmonisierung in der Gemeinschaft zu beraten. Mit ihrer Sitzung in dieser Woche soll endlich die entscheidende Phase beginnen – die Staats- und Regierungschefs könnten dann auf dem EU-Gipfel in Helsinki im Dezember einen endgültigen Beschluss fassen. Aus diesem besonderen Anlass boten die Italiener den Steuerharmonisierern an, sich diesmal im angenehmen Kurort Fiuggi zu treffen, 70 Kilometer südöstlich von schaft angezettelt haben. Die Weisung: Kein deutscher Minister darf zu einem der so genannten informellen Ratstreffen anreisen, wenn nicht auch Dolmetscherkabinen für die Sprache der Berliner Republik aufgestellt werden. Auch Parlamentarische Staatssekretäre und hohe Beamte sind an den Bann gebunden. Die sprachverwandten Österreicher schlossen sich der Politik des leeren Stuhls an. Mehrere Konferenzen fanden seither ohne die deutschsprachigen EU-Mitglieder statt. Die Reise nach Fiuggi schien durch das Entgegenkommen der Italiener gerettet zu sein – wenn es nicht den Stolz der Spanier verletzt hätte. Als die von der Zusage hörten, machten sie ihre Teilnahme sogleich davon abhängig, dass auch Spanisch vollgültige Arbeitssprache sein müsse. Eine Beschränkung auf Englisch und Französisch, so Madrid, hätte man gerade noch hingenommen, weil Spanien erst zur EU gestoßen sei, als diese Zweisprachigkeit längst Praxis war. Wenn jetzt eine dritte Sprachmacht auf den Plan trete, könne das Spanische nicht länger zurückstehen. Für die volle Dolmetscher-Besetzung zum simultanen Übertragen von vier Sprachen fehlte es aber an Platz im Kurhotel. Der Ausweg: Barbara Hendricks wurde das Privileg zugestanden, einen persönlichen Flüsterdolmetscher mitzubringen. Dass Deutsch jedoch nur leise durch die Konferenzräume säuselt, entspricht nicht Schröders Direktive. Auf Druck des Kanzleramtes lehnte die Steuerexpertin, die an der entscheidenden Sitzung eigentlich teilnehmen wollte, das Ansinnen ab. Widerwillig unterzeichnete sie einen Absagebrief nach London und Rom. In einer ersten Trotzreaktion wollte sich die Mehrheit der Mitglieder ohne die Deutschen unter Italiens Sonne versammeln. Selbst die Österreicher kündigten Bonn die Gefolgschaft auf. Bei Treffen auf Beamtenebene fühlten sie sich an ihren Spracheid nicht gebunden. Fast sah es so aus, als müssten sich die Staatssekretäre wie gewohnt zu Brüssel im finsteren Büropalast des Rates treffen, wo in alle elf Gemeinschaftssprachen übersetzt werden kann. Denn Dawn Primarolo wollte unbedingt ihr Werk retten und dazu die Deutschen dabei haben. Da entdeckten die Italiener plötzlich im Kurhotel von Fiuggi doch noch Platz für vier Dolmetscherkabinen – für Englisch, Französisch, Spanisch und Deutsch. Die Übersetzer müssen allerdings in einem entfernten Hinterzimmer sitzen, ohne den sonst üblichen Sichtkontakt zu den Rednern. Winfried Didzoleit B. BOSTELMANN / ARGUM krofon und klagt, er vermisse heute das „Feuer jener Tage“. Im sächsischen Plauen brennen wieder hunderte Kerzen vor dem Südportal der mächtigen Lutherkirche. Diesmal ist es eher eine Lichterkette in eigener Sache. „Die herausragende Rolle“ der Stadt, ärgert sich Superintendent Thomas Küttler, „ist heute in Vergessenheit geraten“. Früher als anderswo hatte das Volk hier auf den Straßen demonstriert. Jetzt hat nicht mal des Kanzlers Mann für den Aufbau Ost, Rolf Schwanitz, den Weg in seinen Wahlkreis gefunden. Zwischen kümmerlichen Grünpflanzen und HolzimitatWandverkleidung zitieren Schauspieler des Vogtland-Theaters im Rathaus aus einem Artikel des Zürcher „Tagesanzeigers“: „Plauen“, so attestierte der Schweizer Beobachter in den Oktober-Wendetagen, sei wohl der „rebellischste Kreis in der DDR“. Auch im „Haus am Köllnischen Park“ in Berlin-Mitte schwelgen am Abend Menschen in Erinnerungen – nur in ganz anderen. Hier hat die „Gesellschaft für Bürgerrecht und Menschenwürde“ (GBM) den harten Kern der alten Garde versammelt. Die frühere SED-Parteischule wird zum Panoptikum: Hans Modrow, Egon Krenz, Erich Honeckers Anwalt Friedrich Wolff, der DDR-Maler Walter Womacka, selbst die Tochter des DDR-Bestarbeiters Adolf Hennecke – sie alle wirken wie lebende Wachsfiguren. Wink-Elemente aus Papier mit Hammer und Zirkel im Ährenkranz liegen bereit. Krenz, der in zwei Wochen den letztinstanzlichen Richterspruch über seine Beteiligung an den Mauermorden entgegennimmt, lauscht in der Oberloge andächtig der Rede des GBM-Chefs Wolfgang Richter. Der unerschrockene Kämpfer gegen „Siegerjustiz und Rentenstrafrecht“ hat selbst für den letzten ersten Mann im SEDStaat noch Neues parat: die These vom „Sozialismus unter eschatologischem Vorbehalt“. Vor der amerikanischen Versteigerung einer Fünf-Tage-Reise nach Bayern verlässt Krenz, der einen baldigen Haftantritt fürchten muss, eilig den Saal. In der Realschule Berolinastraße nahe dem Alexanderplatz trifft sich die ziellos linke Künstlerszene nach der Uraufführung des Leander-Haußmann-Films „Sonnenallee“ zur Premierenfeier. Auf dem Schulhof sorgen Grenzbaum, Statisten in VopoUniform und eine Tschaika-Limousine mit DDR-Stander für sozialistisches Flair, das „Teilnehmerheft“ der Gäste enthält Verzehrbons für Broiler und Sättigungsbeilage. Drinnen trinkt die neue, junge, ost-west-gemischte Spaß-Gesellschaft von Berlin-Mitte einen Prosecco auf den „komischsten Film über den Osten“ („BZ“). Ehe der Geburtstag zur Neige geht, ist die DDR zum Witz geworden. EU-Dolmetscher: Kein Platz im Kurhotel? Rom, der bekannt ist für Nierensteine ausschwemmendes Heilwasser und zuverlässige Oktobersonne. Die britische Staatssekretärin Dawn Primarolo, wegen ihrer roten Haarpracht und ihrer linken Vergangenheit „Red Dawn“ (Rote Dämmerung) genannt, war von dem Ausflug höchst angetan. Doch ihre Freude war verfrüht. Zwar vergewisserte sich die Ausschuss-Vorsitzende Primarolo des Einverständnisses ihrer Stellvertreterin Barbara Hendricks. Die Abgesandte von Bundesfinanzminister Hans Eichel stimmte freilich erst zu, als die Italiener eine Simultanübersetzung außer in Englisch und Französisch auch in Deutsch garantierten. Das nämlich ist oberstes Gebot für alle deutschen Amtsträger, seit die Deutschen auf Order des Kanzlers einen Sprachenstreit mit der finnischen Ratspräsidentd e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite ACTION PRESS zige Bundesverkehrsminister Reinhard Klimmt einen seltsamen „Beratungsvertrag“ mit der ctt unterzeichnet. Insgesamt erhielt der Regionalligaverein von der ctt 620 000 Mark. Das Fachpersonal des Kickerclubs sollte im Gegenzug in den ctt-Kliniken laut Vertrag sowohl „beratend als auch praktisch tätig“ werden. Als Gerüchte aufkamen, die SPD von Fußballfan Klimmt habe die Kliniken des Geldgebers ctt beim Bettenabbau geschont, meldete sich Wackernagel-Jacobs zu Wort. Penibel listete die nach dem Regierungswechsel abgetretene Ministerin auf, dass die ctt-Kliniken im Saarland in den letzten Jahren 43 Betten abgebaut hätten. Das war die Wahrheit. Aber nicht die ganze. Die Sozialdemokratin verschwieg in diesem Zusammenhang, wie sich ihr Ministerium für die Gynäkologie stark gemacht hatte – und das bringt nicht nur sie, sondern auch den ehemaligen Regierungschef in Erklärungsnot. Fußballfreund Klimmt*: Pakt zwischen Profi-Sport und Kirchen-Geld Inzwischen ermittelt die Staatsanwaltschaft in Koblenz in der Fußballclub-AffäA F FÄ R E N re wegen des Verdachts der Beihilfe zur Untreue gegen Klimmt. Am Freitag vergangener Woche durchsuchte die Kriminalpolizei Geschäftsräume des Fußballclubs und eine Wahlkampf-Agentur der Saar-SPD. Zuwendungen eines dubiosen Krankenhausunternehmers Wie Wackernagel-Jacobs beteuerte der für den 1. FC Saarbrücken setzen den Verkehrsminister in der vergangenen WoVerkehrsminister Reinhard Klimmt immer stärker unter Druck. che, er habe in seiner Zeit als Ministerpräsident des Saarlandes keinen Einfluss zum er Anruf aus dem Saarbrücker Ge- kologie-Abteilung – mit Erfolg. Weil die Vorteil von ctt-Einrichtungen ausgeübt. Schon seit Jahren wird die Saar-SPD von sundheits- und Sozialministerium SPD-Politikerin den Kassenvertretern eine kam für die Führungskräfte der „bedarfsgerechte Anpassung der Kapa- den Affären ihrer Spitzenpolitiker geKrankenkassen völlig überraschend. Bar- zitäten der Frauenheilkunde“ versprach, schüttelt. Besonders wenn private Leidenbara Wackernagel-Jacobs (SPD) bestellte gaben diese klein bei. Einstweilen bleibt schaften berührt waren, bemühten sich Genossen immer mal wieder um großdie Fachleute per Rundruf zu einem Eil- die Abteilung bestehen. Die verhinderte Schließung bringt die zügige Unterstützung ihrer Hobbys durch termin am 17. November vergangenen Jahderzeit ohnehin schwer gebeutelte SPD solvente Geldgeber – und wenn die Herren res in ihr Ministerium ein. Thema des Sondertreffens war das Akut- des Saarlandes weiter in die Bredouille. den saarländischen Fußball bedroht sahen, Krankenhaus in Lebach, eine Einrichtung Denn Wackernagel-Jacobs hatte in der vor- legte sich der Filz auch schon mal über die der Caritas-Trägergesellschaft Trier (ctt). vergangenen Woche öffentlich behauptet, Parteigrenzen hinweg. Auf diese Weise geriet auch Klimmt in Die Kassen hatten die Verträge mit der es habe „zu keinem Zeitpunkt eine Eingynäkologischen Abteilung des Hospitals flussnahme zu Gunsten des Krankenhaus- den Strudel der Affäre um die ctt. Deren gekündigt. Weil ihnen die 40 Betten in der trägers ctt“ gegeben. Sie war damit ihrem fristlos entlassener Geschäftsführer HansJoachim Doerfert sitzt seit Mitte SeptemFrauenheilkunde und Geburtshilfe nicht ehemaligen Chef zur Seite gesprungen. Als Präsident des 1. FC Saarbrücken hat- ber wegen des Verdachts der Untreue in rentabel erschienen, wollten sie diese bis te der damalige SPD-Fraktionschef und jet- Untersuchungshaft. Er soll unter anderem zum Jahresende 1999 abbauen. Geld der kirchennahen ctt Innerhalb einer Frist aufs eigene Konto gelenkt von drei Monaten musste haben. sich das Ministerium zu Doerfert war bis 1996 diesem Vorgang äußern. Schatzmeister der CDU in Wackernagel-Jacobs ließ Trier – vor allem aber sich lange Zeit. Erst am war der ctt-Manager ein letzten Tag der Frist interglühender Anhänger und venierte sie. Die MinisteSponsor des Regionalligarin, das belegen Akten von vereins Eintracht Trier. Krankenkassen, engagierte Wenn sein Verein gesich massiv für den Erhalt gen Klimmts Saarbrücker der aus Kassensicht kostspielte, zogen sich die beispieligen Lebacher Gynäden Duzfreunde bisweilen in eine Ecke zurück und * Bei einem Prominentenspiel in tuschelten, so ein früheres Saarbrücken im Juli. Manager Doerfert, ctt-Zentrale in Trier: „300 000 Mark – Klimmt, Kabinett“ Intervention am letzten Tag FOTOS: H. TITTEL D 116 d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Deutschland BECKER & BREDEL Beim Wühlen in der Doerfert-Affäre entTrierer Vorstandsmitglied, in trauter Zweideckten die Staatsanwälte eine weitere samkeit. Im Sommer 1997 wurde die gemeinsame Auffälligkeit. Sie fanden eine Notiz, die sie Begeisterung für Fußball in einer großen dem ctt-Manager zuordneten und auf der Koalition besiegelt: Klimmt, Doerfert und zu lesen war: „300 000 Mark – Klimmt, KaKlaus Meiser, CDU-Bürgermeister von binett, Marketing“. Der Bundesverkehrsminister versichert, Quierschied und Vize-Präsident des 1. FC Saarbrücken, kamen sich auch geschäftlich weder er noch die SPD hätten von Doerfert auch nur einen Pfennig erhalten. Das näher. Klimmt und Meiser, der seit zwölf Tagen Geld der ctt, so stellt sich heraus, bekam als Innenminister in Saarbrücken dient, stattdessen die Saarbrücker Werbeagenunterzeichneten als Präsidiumsmitglieder tur Hahn, Dittscheid, Weißmüller (HDW). des einstigen Bundesligavereins den „Be- Diese PR-Fachleute hatten auch den letzratungsvertrag“ mit Doerfert und schufen ten Landtagswahlkampf der SPD gesomit einen eigentümlichen Pakt zwischen managt. Der geschäftsführende HDW-GesellProfi-Sport und Kirchen-Geld. Ob dieser Deal indes koscher war, prüft derzeit die schafter Matthias Hahn räumte vergangeStaatsanwaltschaft, die Ermittler vermu- ne Woche ein, der ehemalige ctt-Chef Doerfert habe sich auf Empfehlung von ten dahinter eine Scheinvereinbarung. Die Fußballfreunde Klimmt und Meiser Klimmt mit ihm in Verbindung gesetzt. Doerfert habe angeboten, die dabetonen, sie hätten ihre Unterschrift lediglich unter einen unveränderten Fortset- mals im alten Völklinger Stahlwerk laufende Ausstellung zungsvertrag gesetzt. Als „prometheus, menschen, er zeichnete, sei er dabilder, visionen“ zu sponvon ausgegangen, sagt sern. Gleichzeitig habe Klimmt, dass der Vertrag ihm der ctt-Mann Werbe„beiderseits ordnungsaufträge für Tochtergemäß abgewickelt wurunternehmen der Caritasde“. Und „zumindest teilGesellschaft gegeben, weise“ habe der 1. FC und zwar für die ÄrztliSaabrücken die zugesagche Abrechnungsstelle ten Leistungen auch erGmbH Trier, das Parkbracht – sprich, das hotel Weiskirchen und die Ganze sei ein ordentliKlinik Rose AG. ches Geschäft gewesen. Jeder dieser Firmen Das wird aber immer stellte die Agentur ein zweifelhafter. Denn der Honorar von 100 000 FC-Manager Günther Mark plus MehrwertsteuHoffmann tut sich bislang er in Rechnung. Begrünschwer, Nachweise dafür det wurden die Forderunzu finden, dass seine Leugen mit „Sponsoring“ te für das ctt-Geld auch und werblichen Leistatsächlich Entsprechen- CDU-Politiker Meiser tungen. des leisteten. Er erinnere Der Name „Prometheus“ taucht jedoch sich, so sagte er dem SPIEGEL, nur an einige „Vorträge“ des Club-Personals. Deut- in keiner Rechnung auf, und die Ausstellicher klingt eine Stellungnahme des jetzi- lungsveranstalter wurden niemals inforgen ctt-Vorstands Fritz Meyer: „Da die ver- miert, um wen es sich bei dem Gönner einbarten Leistungen unseren Kliniken handelt. Die drei ctt-Töchter, sagt der neue offensichtlich nicht bekannt gegeben wur- ctt-Chef Meyer, hätten die Rechnungen den, sind auch keine Leistungen abgerufen zwar bezahlt, und alles sei auch ordnungsgemäß verbucht worden, aber „Gegenleisworden.“ Die ctt war auch noch mit anderen tungen sind nicht bekannt“. Er habe, sagt Hahn, die gesamte ctt-Sumgroßzügigen Fußballfans verbandelt. So engagierte sich der Mannheimer Bau- me, nämlich 348 000 Mark, in die Ausstelunternehmer Wilfried Gaul mit mehreren lung gesteckt. Von den Zahlungen der ctthunderttausend Mark bei Doerferts Ein- Firmen sei „kein Pfennig für den Wahltracht Trier. Gaul bestreitet allerdings, dass kampf verwendet“ worden. Indes: Die Koblenzer Staatsanwaltschaft diese Finanzspritze etwas mit dem Bau einer Klinik der ctt im pfälzischen Dahn zu hat neben Doerfert auch hier Klimmt im tun habe, den sein Unternehmen aus- Visier. Sie ermittelt wegen des Verdachts der Bestechlichkeit und der Anstiftung zur führte. Das ctt-Geschäft mit Klimmt und Mei- Untreue. Und auch dieses Geld gibt die unter Fußser kann nicht nur für die beiden Politiker unangenehme Folgen haben. Auch der ballfan Doerfert so freizügige ctt noch nicht nach wie vor klamme 1. FC Saarbrücken verloren. Die neue Geschäftsführung prüft, wird möglicherweise zur Kasse gebeten. ob sie möglicherweise Ansprüche auf Die ctt prüft derzeit, ob sie die Zuwen- Rückzahlungen hat. Felix Kurz, dungen an den Verein zurückfordern kann. Udo Ludwig, Wilfried Voigt d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 119 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Deutschland Wie im Film Ein alter Professor und ein amerikanischer Nazi-Jäger sorgten dafür, dass ein ehemaliger Waffen-SS-Mann festgenommen werden konnte. D as Verfahren hat Spuren hinterlassen in der Justizgeschichte etlicher Länder: in Österreich, der DDR und der ∏SSR, in Kanada und in der Bundesrepublik. Es wurde eingestellt, wieder aufgenommen, abgegeben, wieder eingestellt. Mal ermittelten Staatsanwälte in Aachen und mal in Köln, mal in Stuttgart, mal in Dortmund. Aber die Grausamkeiten, die nahe des Polizeigefängnisses „Kleine Festung Theresienstadt“ unmittelbar vor Ende des Krieges begangen wurden, konnten nie gesühnt werden. Am Mittwoch vergangener Woche aber, 54 Jahre nach dem Massaker und 35 Jahre nach Beginn der Ermittlungen, griff die Staatsmacht dann zu. Der pensionierte Redakteur Julius Viel, 81, wurde wegen Mordverdachts verhaftet, inmitten seiner wöchentlichen Kegelrunde daheim zu Wangen im Allgäu – ein später Erfolg eines alten Professors aus Kanada und eines Nazi-Jägers aus den USA. Adalbert Lallier, Professor für Wirtschaftswissenschaften im kanadischen Montreal, war als Banatdeutscher mit 17 Jahren „zur SS gezwungen worden“, wie er sagt; er diente in der Truppe von Viel, damals Untersturmführer der Waffen-SS. Vor zwei Jahren hatte sich Lallier, 74, dem New Yorker Privatdetektiv und NaziJäger Steven Rambam, 41, offenbart und seinen früheren Vorgesetzten schwer belastet: Viel habe „willkürlich“ Gefangene getötet – „mindestens fünf, wahrscheinlich sieben“. Der Tatort soll nahe Theresienstadt im so genannten Protektorat Böhmen und Mähren gelegen haben – hier stand das berüchtigte Polizeigefängnis „Kleine Festung“. In der Umgebung waren im Frühjahr 1945 Soldaten einer Nachrichtenschule der Waffen-SS stationiert. Von Osten her nahte die Rote Armee, von Westen die USArmee. In einer Talsenke beim Ort Leitmeritz mussten jüdische Häftlinge und Kriegsgefangene Panzergräben ausheben. Tag für Tag wurden vom 16. März 1945 an, bewacht von Festungspersonal, Kapos und Waffen-SS-Leuten, bis zu 1700 Mann eingesetzt. Weil der Grundwasserspiegel sehr hoch lag, arbeiteten die Häftlinge im tiefen Wasser. Sie gruben mit bloßen Händen. Wenn sie schon fast kraftlos waren, mussten sie mehrfach über die Gräben springen – man- sehener, mehrfach ausgezeichneter Hochschullehrer. Im tschechischen Leitmeritz hatte Ende der vierziger Jahre das dortige Volksgericht die Vorgänge weitgehend aufgeklärt und mehrere SS-Männer in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Die Staatsanwaltschaft im österreichischen Graz ermittelte später auch. Als schließlich Dortmunder Ermittler den Fall in die Hand bekamen, filterten sie die Namen von über 530 Beschuldigten heraus – 168 nur konnten ausfindig gemacht werden. Einer von ihnen hieß Viel. Er wurde schon 1964 in Stuttgart vernommen, hatte aber das Glück, dass ein Belastungszeuge vor der entscheidenden Aussage starb. Julius Viel war damals Redakteur bei einer Zeitung in Stuttgart. Nach seiner Pensionierung 1983 wurde er vom Staat geehrt: Ein enger Mitarbeiter des badenwürttembergischen Ministerpräsidenten Lothar Späth (CDU) überreichte dem ehemaligen Waffen-SS-Mann das Bundesverdienstkreuz. Im Herbst 1997 hörte im fernen Kanada der Wirtschaftswissenschaftler Lallier von der Arbeit des Nazi-Jägers Rambam, der dort bereits mehr als 160 NS-Verbrecher aufgespürt hatte. Rambam befragte Lallier – und der Professor wurde zum ersten brauchbaren Zeugen für Gräueltaten in der Leitmeritzer Talsenke. Zweimal wurde Lallier in Stuttgart vernommen, mit einem Fernsehteam der Mainzer „Report“-Redaktion (Sendetermin: diesen Montag, 21 Uhr) kehrte er an den Ort der Massaker zurück. „Dabei haben sie uns in der Kriegsschule immer gesagt“, erzählte er in zitterndem Deutsch, „die Waffen-SS schießt keinen nieder, der unbewaffnet ist.“ Und er beklagte „die Ignoranz der Alliierten“ damals – deretwegen Viel seinen Ruhestand in Wangen, einem hübschen Städtchen am Alpenrand, habe genießen können. Am vorvergangenen WoViel, Fahnder Rambam (2. v. r.): 160 Nazis aufgespürt chenende stellten Rambam und die „Report“-Leute dort den ehemaligen Waffen-SS-Mann. Wie im schlechten Film beschüttete Viels Frau das Team mit Wasser, um es zu verjagen. Rambam sprach Viel auf die Vergangenheit an, der gedrungene, weißhaarige Mann war sichtlich geschockt. Nein, er sei nicht der, den sie suchten, wehrte er ab: „Es muss sich um eine Verwechslung handeln.“ Daran glaubt der Stuttgarter Oberstaatsanwalt Kurt Schrimm freilich keine Sekunde. che fielen vor Erschöpfung ins Wasser und ertranken. Anderen Gefangenen rissen Bewacher die Mützen vom Kopf und warfen sie weg. Wer sie sich zurückholte, wurde getötet – „auf der Flucht erschossen“, wie das damals hieß. Ein Häftling kniete nieder und betete. Auf Weisung musste ein Dolmetscher übersetzen: „Er bittet Gott, ihn zu sich zu nehmen.“ Ein SS-Mann, in Theresienstadt nur „Schwarzer Hans“ genannt, spaltete dem Betenden mit einem Spaten den Schädel. Wie viele Gefangene bis Ende April 1945 ermordet wurden, ist nicht genau bekannt. Wahrscheinlich waren es mehr als 750. Später stellten Ermittler nüchtern fest, dass die Wächter nicht nur aus „Rassenhass getötet“ hatten – sondern auch „wahllos aus Langeweile“. In der zweiten Aprilwoche 1945 hätten, sagte Lallier, Untersturmführer Viel und er am Einsatz teilgenommen. Er habe schon früh ausgesagt, dass sein Vorgesetzter dort gemordet habe – erst während britischer Gefangenschaft, dann gegenüber einem Mitarbeiter des US-Militärgeheimdienstes CIC. Interessiert habe das aber niemanden. 1951 wanderte Lallier nach Kanada aus, sechs Jahre später wurde er dort eingebürgert. 1960 habilitierte er an der Concordia University; Lallier wurde ein ange- ARD / REPORT MAINZ NS-VERBRECHEN SS-Männer Viel (l.), Lallier (Kreis): Willkürlich getötet? d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Georg Bönisch, Jürgen Teipel 123 Werbeseite Werbeseite Wirtschaft Trends BMW Weniger Subventionen? A. HUB / LAIF D em Autokonzern BMW droht Ärger bei seiner geplanten Zehn-Milliarden-Mark-Investition in seine britische Tochter Rover – die EU-Kommission wird wahrscheinlich die britischen Subventionen in Höhe von knapp 500 Millionen Mark nicht in voller Höhe genehmigen. In Brüssel ist zwar noch kein offizieller Antrag aus London eingegangen. Angesichts der öffentlich genannten Zahlen gehen EU-Wettbewerbsexperten aber davon aus, dass London bis an die gesetzlich mögliche Obergrenze gehen will. Die Experten bezweifeln jedoch, dass dies im Fall BMW zulässig ist. Theoretisch dürften die Briten die Mehrkosten ersetzen, die BMW entstehen, wenn der Autokonzern die 100 Jahre alte Rover-Fabrik in Longbridge in Schuss bringt, statt etwa in Ungarn ein Bertelsmann-Konzernzentrale in Gütersloh R AT I N G - AG E N T U R E N Einstieg von Bertelsmann er Medienkonzern Bertelsmann will den großen amerikanischen Ratingagenturen Moody’s und Standard & Poor’s (S&P) Konkurrenz machen. Geplant ist eine Allianz mit der Nummer drei des Marktes, Fitch IBCA (New York/London). Bertelsmann soll Anteile Richter übernehmen und für das Geschäft in Europa zuständig sein. Die Investitionen liegen bei über einer halben Milliarde Mark. Mit eingebunden ist die Deutsche Börse AG, die im Interesse von börsennotierten Firmen nach Alternativen zu den beiden Marktführern aus New York sucht. Bei Bertelsmann treibt der Chef des Bereichs Fachinformatio- S T E U E R FA H N D U N G Hohe Trefferquote A usgerechnet in Kassel und seinem strukturschwachen Umland kann die Steuerfahndung große Erfolge im so genannten Bankenverfahren vorweisen. In mehr als 13 600 Fällen haben Bankkunden aus Kassel Gelder nach Luxemburg und in die Schweiz geschoben. Zu fast 95 Prozent waren Sparkassen und Genossenschaftsbanken bei der Steuer- nen, Jürgen Richter, das Projekt voran. „Wir sind in einer frühen Überlegungsphase“, bestätigt der Ex-Chef des Axel Springer Verlags. Es hätten in den vergangenen Wochen bereits Gespräche mit Großbanken stattgefunden. Das Projekt stehe, sagt ein Bankmanager, kurz vor dem Abschluss. In dem Geschäft der Rating-Agenturen, die gegen Bezahlung die Bonität von Firmen prüfen, winken Renditen von 25 Prozent. Nach dem Kauf des wissenschaftlichen Springer-Verlags würde Richters Bereich, der derzeit umstrukturiert wird, erneut an Gewicht gewinnen: Er soll 2001 an die Börse. TEUTO PRESS D flucht behilflich – nur wenige hundert Kunden wandten sich an andere Institute. 54 Prozent aller Fälle haben die Behörden inzwischen abgeschlossen. Schon diese brachten dem Fiskus 155 Millionen Mark an zusätzlichen Steuereinnahmen, davon immerhin 13 Millionen Mark an Vermögensteuern. Die Beamten überprüften nicht nur den Abfluss des Geldes nach Luxemburg oder in die Schweiz, sondern auch den Rückweg nach Deutschland. „Auf diese Weise war die Trefferquote sehr viel höd e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Rover-Modell 75 ganz neues Werk zu bauen. Das sind erfahrungsgemäß 13 bis 15 Prozent der Investition. Tatsächlich dürfte dieser Rahmen aber keineswegs ausgeschöpft werden. Nach EU-Recht müssen die Kosten, die BMW in einem solchen Fall in England entstehen würden, etwa für Sozialpläne bei der Werkstilllegung, von der Fördersumme abgerechnet werden: Diese unausweichlichen Ausgaben schmälern schließlich den Vorteil der Alternativinvestition. Der neue Wettbewerbskommissar Mario Monti will in der Tradition seines Vorgängers Karel Van Miert die Subventionshöhe rigide prüfen. her“, sagt der Chef der Kasseler Steuerfahndung Erich Franke. So werden bei elektronischen Transfers zurück ins Inland von den Banken so genannte Swift-Belege angelegt, die die Klarnamen der Kunden enthalten. Zu den in Nordhessen enttarnten Steuersündern gehörten zwei inzwischen ausgeschiedene Landtagsabgeordnete, mehrere Kreistagsmitglieder und einige Finanzbeamte. Auffallend hoch war auch die Zahl von Landwirten – die kassieren hohe Subventionen. 125 Trends T E L E KO M M U N I K AT I O N Angriff auf Europa Hitler, Porsche (M., auf der Berliner Automobilausstellung 1938) M A NAG E R Nazi-Dokumente gestrichen O REUTERS hne Anhang mit historischen Quellen muss die jüngst erschienene „KarriereBiografie“ des VW-Chefs – „Ferdinand Piëch – Der AutoMacher“ – der Autorin Rita Stiens auskommen. Die ursprüngliche Fassung enthielt Material über die Rolle des Piëch-Großvaters Ferdinand Piëch Porsche und seines Vaters und damaligen VW-Chefs Anton Piëch im Nationalsozialismus. Die Dokumente aus dem Münchner Institut für Zeitgeschichte belegen unter anderem, dass Porsche die NS-Machthaber 1944 darum gebeten hatte, ein Werk zum Bau der „Geheimwaffe“, das „3 1/2 Tausend Arbeitskräfte braucht, als Konzentrationslager-Betrieb zu übernehmen“. Hans-Dieter Haenel, Chef des Wiesbadener Gabler-Verlags (Bertelsmann), ließ den Dokumentenanhang kurz vor Drucklegung streichen, da er ihm zu einseitig erschien: „Es hat keinen Sinn, nur eine Facette des Buches mit einem historischen Anhang zu versehen.“ ur wenige Tage nachdem MCIWorldCom-Chef Bernie Ebbers mit rund 235 Milliarden Mark das größte Übernahmeangebot in der Wirtschaftsgeschichte für die US-Telefongesellschaft Sprint platziert hat, schreckt der Selfmade-Manager nun auch die europäischen Telefongesellschaften auf. Schon in kurzer Zeit, so Ebbers, wolle WorldCom in Europa ein ähnlich leistungsstarkes Telefonnetz aufbauen wie in den USA. Die Chancen, Unternehmen wie der Deutschen Telekom oder der spanischen Telefónica Marktanteile abspenstig zu machen, hält er für hervorragend: Das europäische Telefongeschäft sei nach wie vor von schwerfälligen ehemaligen Staatsmonopolisten beherrscht. Die meisten von ihnen, spottet Ebbers, hätten im Falle eines Übernahmeversuches durch eine US-Gesellschaft „kaum eine Überlebenschance“. REUTERS AP N Ebbers MUSIKINDUSTRIE Streit um CD-Brenner ine hohe Sonderabgabe auf CD-Kopiergeräte („CD-Brenner“) wollen die Plattenfirmen, Musikverlage und Künstler in einem Musterverfahren erkämpfen. Setzt sich die Musikbranche durch, müssen die Hersteller der CDBrenner pro verkauftem Gerät rund 20 Mark zahlen. Der Obolus soll pauschal die bislang beim illegalen CDÜberspielen von Musiktiteln und Videosequenzen unbezahlt gebliebenen Urheberrechte ausgleichen – CDs von Popstars wie Britney Spears werden häufig lieber billig kopiert als teuer gekauft. Im ersten Halbjahr war der Umsatz von Musik-CDs in Deutschland immerhin um zehn Prozent (220 Millionen Mark) zurückgegangen. In dem Musterverfahren vor dem Patent- und Markenamt in München verlangt die Zentralstelle für private Überspielungsrechte, eine Inkasso-Firma von Verwertungsgesellschaften wie der Gema, vom Her126 MISSION PICTURES / ACTION PRESS E steller Hewlett-Packard rückwirkend zum 1. Februar 1998 exakt 20,5o Mark für jedes in Deutschland verkaufte Gerät. Hewlett-Packard lehnt solche Pauschalabgaben, wie sie in den sechziger Jahren für Tonbandgeräte eingeführt worden waren, komplett ab. Die Musikindustrie solle lieber selbst die Kontrolle über unliebsame Raubkopien zurückgewinnen, argumentiert die beauftragte Münchner Anwaltskanzlei Poll & Ventroni. Moderne Verschlüsselungstechniken erlaubten es, so die Juristen in einem Schriftsatz, bestimmte „private Vervielfältigungen wirkungsvoll zu kontrollieren und individuell abzurechnen, ohne in die Privatsphäre der Nutzer einzugreifen“. Spears Zocken auf Pump 2,4 Börsenkredite und Dow-Jones-Index 2,2 10 000 Geld 2,0 GOLDMINEN Neuer Glanz 1,8 1,6 1,4 1000 1,2 im unteren Wertbereich gestreckte Skala 1,0 0,8 0,6 100 0,4 Dow-Jones-Index Quelle: The Bank Credit Analyst Research Group jeweils Jahresendwerte 1930 1940 1950 1960 1970 US-Börsenkredite in Prozent des Bruttoinlandsprodukts 1980 1990 D ie Hausse auf dem Goldmarkt kam überraschend und massiv: Vor knapp drei Wochen wurde die Feinunze Gold noch für gut 250 Dollar verkauft, seit Ende September kostet sie deutlich mehr als 300 Dollar. Der Preissprung wurde durch die Entscheidung von 15 europäischen Zentralbanken ausgelöst, in den nächsten fünf Jahren jährlich maximal 400 Tonnen Gold aus ihren Beständen zu verkaufen. Noch drastischer als der Goldpreis stiegen die Aktienkur- 2000 W E LT B Ö R S E N Solide Werte suchen I GAMMA / STUDIO X mmer eindringlicher warnen Ökonomen vor Übertreibungen an den Finanzmärkten. An der Wall Street habe sich eine „klassische Spekulationsblase“ gebildet, glaubt etwa der amerikanische Professor John Kenneth Galbraith, 90, und erinnert an den großen Krach von 1929. Es gibt in der Tat einige Ähnlichkeiten. So kaufen immer mehr Anleger ihre Aktien auf Pump. In den USA liegt die Beleihung von Aktien, gemessen am jeweiligen Bruttoinlandsprodukt, inzwischen so hoch wie zuletzt in den dreißiger Jahren (siehe Grafik). Solche Werte deuten zumindest auf eine „Überspekulation“ hin, meint der Münchner Vermögensverwalter Jens Ehrhardt, vor allem Technologieaktien und Internet-Titel seien „hoffnungslos überbewertet“. Der Börsenwert der Firma Priceline.com etwa, die Flugtickets über das Internet verkauft, sei zeitweise höher gewesen als der Wert der US-Fluglinien Delta, United, USAir, Alaska Air und Continental zusammen. Die Anleger sollten an den Weltbörsen wieder nach soliden Werten suchen, rät der Experte Ehrhardt, nach Aktien mit hoher Substanz, erstklassiger Bilanz und ordentlichen Renditen. Goldpreis und -aktien 130 Januar 1999 = 100 120 Goldpreis 110 GoldminenAktien-Index MSCI Quelle: Datastream Goldwäscher in Brasilien 100 Lateinamerikanische Aktienindizes in tausend 6,5 Mexiko 6,0 IPC 600 5,5 550 5,0 500 4,5 450 4,0 400 3,5 3,0 350 1999 J F M A M J J A S O L AT E I NA M E R I K A Ende der Krise? N 90 650 ach dem Aufschwung an den asiatischen Börsen scheinen auch die Aktien aus lateinamerikanischen Schwellenländern an Attraktivität zu gewinnen. Zwar sind nach dem Höhepunkt im Frühsommer die Kurse an den wichtigsten mittel- und südamerikani- 300 Argentinien Merval Quelle: Datastream in tausend 13 12 Brasilien Bovespa 11 10 9 8 7 6 5 1999 4 J F M A M J J A S O 1999 J F M A M J J A S O schen Börsen gesunken, doch zunehmend mehr Fondsmanager glauben an einen steilen Anstieg der so genannten Emerging Markets. Besonders optimistisch ist Fleming, eine der weltweit größten Fondsgesellschaften. Nach Ansicht des Londoner Emerging-MarketExperten Michael Hughes seien die Kurschancen besser als in den Industriestaaten, die Schwellenländer stünden „erst am Beginn einer lang anhaltenden und markanten Aufwärtsbewegung“. d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 1999 Jan. Febr. März April Mai Juni Juli Aug. Sept. Okt. se der Goldminen: Der MSCI-Goldminen-Index legte seit Mitte Juli um rund 50 Prozent zu. Aber Mine ist nicht gleich Mine: Die Gewinnspanne ist größer, wenn sich eine Minengesellschaft nicht oder nur wenig durch Termingeschäfte gegen Kursschwankungen abgesichert hat. Peter Dupont, MetallAnalyst bei der Commerzbank, empfiehlt südafrikanische Unternehmen. Diese haben einen geringeren Teil der künftigen Produktion zu den alten Niedrigpreisen verkauft als die Konkurrenz. Der südafrikanische Goldproduzent Anglo American etwa schaffte seit Anfang des Jahres einen Kurssprung um mehr als 100 Prozent. Allerdings sieht Dupont nicht mehr viel Spielraum: „Nur wenn der Goldpreis weiterhin oben bleibt, könnte sich ein Einstieg in die Minenbranche noch lohnen.“ 127 Wirtschaft VERMÖGEN Stifter, Spender, Steuersparer Die Koalition will das Stiften erleichtern, nach dem Vorbild der USA. Dort werden Museen, Universitäten und soziale Einrichtungen von gemeinnützigen Stiftungen finanziert. Doch werden Steuererleichterungen die deutschen Reichen dazu bewegen, ihr Geld zu verschenken? AP Staat von allerlei Aufgaben entlasten. Vergangene Woche leiteten die beiden Regierungsfraktionen einen gemeinsamen Gesetzentwurf an das Bundesfinanzministerium zur Prüfung weiter. Bis Weihnachten, so der Plan der Koalitionäre, soll die Novelle des Stiftungsrechts in den Bundestag eingebracht werden. Sie soll die Portemonnaies der Reichen in der Bundesrepublik ein Stückchen weiter öffnen. Wenn sich schon Zwangsmaßnahmen wie eine Vermögensabgabe gegen die Verfassung nicht durchsetzen lassen, soll die wachsende Schar der Millionäre eben freiwillig einen Teil ihres Geldes abgeben. „Trotz ihres erheblichen Wohlstandes“, so der Gesetzentwurf, „bleibt die Stiftungsfreudigkeit der Deutschen weit hinter dem Engagement im angloamerikanischen Raum zurück.“ Nicht simple Spenden sind gefragt, sondern gesellschaftlicher Einsatz in Form von neuen Stiftungen, die sich möglichst dort engagieren sollten, wo der Staat sparen muss: bei Armenhilfe, Kultur und Wissenschaft. Die Grünen wollen deshalb das teilweise noch aus dem vorigen Jahrhundert stammende Stiftungsrecht reformieren. Stiften soll einfacher und billiger werden. Nach dem jüngsten Entwurf π muss eine Stiftung nur noch registriert werden wie ein Verein. Eine staatliche Genehmigung ist nicht mehr nötig; π darf jeder Deutsche bis zu 20 Prozent seines Einkommens unversteuert an eine Stiftung abgeben dürfen statt bisher nur 10, allerdings nur bis zu einer Höhe von 50 000 Mark; π dürfen Stiftungen ein Drittel statt bisher ein Viertel ihrer Erträge einbehalten und damit ihr Kapital aufstocken. Stifter Turner (M.)*: Eine Milliarde Dollar für eine Uno-Stiftung D ie Geschichten klingen wie Märchen: Vor drei Jahren vermachte der Computerunternehmer David Packard seiner Stiftung eine Spende von fünf Milliarden Dollar für Umweltschützer, Ozeanforscher und den Bau von Aquarien. Ein Jahr später versprach der Medienzar Ted Turner, sonst eher für raue Sprüche und hartes Business bekannt, eine Milliarde Dollar für eine neue Uno-Stiftung. Und vor knapp einem Monat trenn* Bei der Bekanntgabe seiner Spende am 18. September 1997 in New York. 128 te sich der Software-König Bill Gates erneut von ein paar Milliarden Dollar und erhöhte damit das Vermögen seiner Stiftung auf 17 Milliarden. Solche amerikanischen Verhältnisse wünschen sich die Koalitionsfraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auch in Deutschland. Ausgerechnet die beiden Parteien, in denen die Staatsgläubigkeit traditionell fest verankert war, trennen sich von alten Glaubenssätzen. Künftig sollen sich Private mehr für Wohlfahrt, Bildung und Sport engagieren können und damit, so auch einer der Hintergedanken, den d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 H. MÜLLER-ELSNER / AGENTUR FOCUS Guggenheim-Museum in New York M. O’NEILL / CORBIS-OUTLINE Schon hofft die Regierung auf einen reichen Spendenboom. Wenn Gewinne und Börse fleißig weitersteigen, so prophezeit Kulturstaatsminister Michael Naumann, würden sich dank des neuen Gesetzes auch die Geschenke an Museen, Theater oder Kunsthallen verdoppeln, auf eine Milliarde Mark.Auch der grüne Finanzpolitiker Klaus Müller erwartet reichen Stiftungssegen: „Wir wollen vermögende Bürger bei ihrem Ehrgeiz, notfalls bei ihrer Eitelkeit packen.“ Wie so etwas funktionieren kann, wollen die Politiker jenseits des Atlantiks ausgemacht haben. Die Zahlen klingen beeindruckend: Während die zehn größten deutschen Stiftungen, an der Spitze die RobertBosch-Stiftung, gerade über ein Vermögen von 19,21 Milliarden Mark verfügen, bringen es die Top Ten Amerikas auf umgerechnet 151 Milliarden Mark. Sie fördern die Krebsforschung oder die Entwicklung von Impfstoffen gegen Aids, bauen Sportstadien oder Bibliotheken. Sie sponsern Forscher oder Aquarien und zahlen Kindern in New Yorks Armenviertel South Bronx Schulausbildung oder zumindest die Basketballsneaker. Etliche Großstädte des mittleren Westen wären kulturelle Wüste, würden sich nicht Stiftungen und Spender um das Sinfonieorchester, Museen oder Konzerthallen kümmern. Die Stiftung des PharmazeutikKonzerns Eli Lilly finanzierte allein in Indianapolis unter anderem das Football-Stadion, den Tierpark, eine Versammlungshalle, die Symphonie, einen Tennispark und ein Kindermuseum. Aber auch New York wäre ohne Stiftergeld beispielsweise um das Guggenheim-Museum ärmer. Über 40 000 Stiftungen gibt es in den USA, mehr als fünfmal so viel wie in der Bundesrepublik. Das größere Land und die kräftigere Wirtschaft eingerechnet, sind die amerikanischen Stiftungen noch immer anderthalb- bis zweimal so finanzstark wie in Deutschland. Ob sich das so schnell aufholen lässt, ist allerdings fraglich. Stiftungsforscher wie der Deutsche Stefan Toepler, der an der Johns Hopkins University in Baltimore forscht, begrüßen die Reform, warnen allerdings vor zu hohen Erwartungen. Schon seit den Gründerjahren gibt es in Amerika AP Viele Städte wären kulturelle Wüste ler, der selbst schon als kleiner Angestellter ein Zehntel seines Einkommens abgab, erklärte: „Jeder, der reich stirbt, stirbt schändlich.“ Viele ihrer Nachahmer indes waren weniger nobel. Sie nutzten ihre Stiftung, um ihr Image aufzubessern oder schlicht Steuern zu sparen. In den USA ist die Erbschaftsteuer weit höher als in Deutschland. Da fällt es leichter, das Vermögen quasi zu verschenken – und die Familie durch hoch dotierte Jobs in der Stiftung zu versorgen. Andere Stiftungen gaben der Stifterfirma gewaltige Darlehen, fast zum Nulltarif. Per Steuerreform beendete die Regierung 1969 den gröbsten Missbrauch. Großzügige Steuergesetze erleichtern noch heute das Geben, aber nicht unbedingt die Schaffung von Stiftungen. Während die Deutschen höchstens 10 Prozent ihres Jahreseinkommens steuerfrei spenden können, dürfen die Amerikaner die Hälfte ihres Verdienstes unversteuert weggeben, allerdings nur 30 Prozent an Stiftungen. Dennoch steht es auch im Musterland der Spender um die Stiftungen nicht gerade zum Besten. Denn Gates, Turner und Packard sind Ausnahmen, die Mehrzahl der neuen Reichen, die vom Börsenund Hightech-Boom der vergangenen Jahre profitiert haben, erweisen sich im Vergleich zu den Rockefellers und Carnegies als Knauser. Den wenigsten der neuen Milliardäre steht der Sinn nach Philanthropie. Immer mehr Stiftungen dienen eher dem Ego des Gründers als wirklich Notleidenden. Sie finanzieren Professuren, Säle oder Gebäude von Business Schools, nicht unbedingt die bedürftigsten Institutionen des Landes. Die University of Columbia etwa bietet das Namensschild ihrer Business School für 60 Millionen Dollar feil. Gemessen an ihren rasch wachsenden Vermögen sinkt der Prozentsatz der Spenden und Stiftungsabgaben von Millionären. Stiftungen haben ohnehin nur einen Anteil von neun Prozent an den Wohltätigkeitsspenden. Auch Universitäten wie die Harvard School bekommen kaum mehr als zehn Prozent ihrer Milliardengeschenke von Stiftungen, den Rest zahlen Ehemalige und Firmen. Den Großteil der Spenden erbringen auch in den USA ganz normale Bürger. Über die Hälfte der Wohltätigkeitsausgaben wird von Leuten mit einem Jahreseinkommen von weniger als 50 000 Dollar finanziert. Mathias Müller von Blumencron, Stifter Rockefeller (1911), Gates (mit Vater) „Jeder, der reich stirbt, stirbt schändlich“ ein anderes Verständnis von zivilem Engagement, gilt Nächstenhilfe eher als Privatsache denn als Staatsaufgabe. Die Stiftungen in Schwung gebracht hatten Anfang dieses Jahrhunderts ausgerechnet die so genannten Räuberbarone und ihre Kumpels. Industrielle und Ölmagnaten wie John D. Rockefeller oder Andrew Carnegie hatten riesige Privatvermögen angehäuft. Sie hatten ihre Arbeiter geknechtet, die Umwelt verwüstet und rücksichtslos ihre Geschäfte betrieben. Nun wollten sie sich als Gutmenschen erweisen. Tatsächlich verschenkten Carnegie und Rockefeller Millionenvermögen. Rockefeld e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Andrea Marx 129 M. EBNER / MELDEPRESS Wirtschaft Rentenreformer Riester (l., beim Kanzlerfest in Berlin): Wie die Haftpflichtversicherung beim Auto RENTEN Drei gegen Schröder Der Plan von Walter Riester, das private Sparen fürs Alter zur Pflicht zu machen, erlebt eine erstaunliche Renaissance. Erwärmt die Regierung sich wieder für die „Zwangsrente“? O hne sonderlichen Schwung, fast ein wenig lustlos, trug Walter Riester am Mittwoch vergangener Woche seine neuesten Ideen zur Rentenreform vor. Hier und da wolle er ein paar Mark verteilen, die Arbeitnehmer mit Zuschüssen zur Altersvorsorge animieren. „Halbherzig“ wirkte der Arbeitsminister auf seine Gäste, die er im SPD-Fraktionsvorstandszimmer des Berliner Reichstages empfing. Dort diskutierte eine Delegation der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, angeführt von Präsident Dieter Hundt, mit der SPD-Fraktionsspitze darüber, wie sich die maroden Rentenkassen sanieren lassen. Riesters Zögerlichkeit hat einen Grund: Der Blüm-Nachfolger weiß nur zu genau, Staat und privat 15 % aus obligatorischer Zusatzversicherung 10 % 85 % Deutschland Quelle: Deutsches Institut für Altersvorsorge Einkommen von Rentnerhaushalten (zwei Personen) 1998 aus gesetzlicher Rente/Grundsicherung 130 dass sein Plan, die private Vorsorge mit bis zu 250 Mark jährlich zu fördern, die Krise der Rentenversicherung nicht wirklich löst. Am liebsten würde er deshalb seinen alten Vorschlag wieder beleben, der zur privaten Vorsorge fürs Alter verpflichtet. Als das Konzept im Juni erstmals an die Öffentlichkeit drang, wurde es schnell als „Zwangsrente“ diffamiert. Doch derzeit erlebt es in vielen Zirkeln der Koalition eine erstaunliche Renaissance, immer mehr grüne und sozialdemokratische Parlamentarier sympathisieren inzwischen damit. Auch im Kabinett steht Riester nach dem ersten Aufschrei in der Öffentlichkeit, der alle zurückschrecken ließ, nicht mehr allein. Als Erster schlug sich Hans Eichel auf die Seite des Arbeitsministers: Der Staat, so forderte der Finanzminister, dürfe „die private Eigenvorsorge nicht allein in das Belieben jedes Einzelnen stellen“. Nun bekundet auch Wirtschaftsminister Werner Müller im SPIEGEL-Gespräch (siehe Seite 26): „Wenn Appelle, fürs Alter vorzusorgen, nichts fruchten, dann müsste die Regierung eben ein bisschen nachhelfen.“ Damit hat sich eine erstaunliche Allianz formiert: Jene drei Minister, die in der Wirtschafts- und Sozialpolitik den Ton angeben, sind sich über den Kern der angekündigten großen Rentenreform einig. „Jetzt müssen wir“, sagt ein Regierungsbeamter, „den Kanzler überzeugen.“ Gerhard Schröder mochte das heikle Thema bislang nicht anpacken. Im Juni gönnte das Kanzleramt dem Riester-Plan ganze zwei Tage der öffentlichen Diskussion. Spätestens als die „Bild“-Zeitung eine „Wutwelle“ auf Bonn zurollen sah, war Schröder klar: Das Konzept verschwindet wieder in der Schublade. Letztlich geht es in der neu entfachten Debatte um eine Grundsatzfrage. Alle Parteien haben erkannt, dass die staatliche Rente allein künftig nicht mehr ausreichen wird. Das Umlageverfahren, das die Beiträge der aktiven Arbeitnehmer direkt an die 25 % aus freiwilliger Vorsorge 10% 65% 40% Großbritannien 50% Niederlande d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 42% 45% 26% 42 % 13% 32% USA Schweiz Werbeseite Werbeseite Wirtschaft VARIO-PRESS derzeitige Rentnergeneration weiterreicht, Am nächsten kommt dem ursprünglibedarf der Ergänzung durch eine kapital- chen Riester-Plan das Modell, das die gedeckte Altersvorsorge, es soll also privat Schweden ab diesem Jahr einführen. Die Geld zurückgelegt werden. Doch wie? Skandinavier müssen 2,5 Prozent ihres Grundsätzlich gibt es zwei Varianten: Lohns in eine private Zusatzabsicherung π Der Staat kann die private Eigenvorsor- abführen; Gleiches strebt der deutsche Arge für alle zur Pflicht erklären. Denn beitsminister an. Dabei haben die Schwenicht jeder sieht die Notwendigkeit, den weitgehend freie Wahl, wo sie Geld selbst für das Alter vorzusorgen; viele anlegen, ob nun in Staatsanleihen, Aktien geben ihr Geld lieber heute als morgen oder in einem Investmentfonds. „Das muss aus. So fallen diejenigen, die nicht aus- jeder selber wissen“, sagt Jens Henriksreichend vorgesorgt haben, wieder der son, der Chefberater des Finanzministers. Staatskasse zur Last, was ja gerade verDamit sich nicht unseriöse Anbieter ins mieden werden soll. Geschäft drängen, denken Riesters Mitarπ Alternativ könnte die beiter bereits über eine Art Regierung auf die EinGütesiegel nach. Nach welsicht der Menschen verchen Kriterien dieses vertrauen. Wer fürs Alter geben wird, ist noch offen. spart, dem hilft der Staat Heikel ist auch die Frage, mit steuerlichen Anreiwer gegebenenfalls konzen oder Zuschüssen. trolliert, ob jeder seiner Sollen später alle eine Sparpflicht nachkommt. Extrarente beziehen, Zwang oder Freiwilligmüssen die Anreize aber keit – der Streit um das sehr attraktiv sein: Jeder richtige Modell zieht sich muss befürchten, etwas inzwischen quer durch alle zu verschenken, wenn er Parteien und Fraktionen. In auf das Angebot nicht der SPD sind vor allem die eingeht. Sozialpolitiker noch skepDoch diese Form der Förtisch. „Den Menschen mit geringem Einkommen könderung kann sehr teuer SPD-Politiker Schwanhold nen wir das nicht zumuwerden. Deshalb plädieren selbst Ökonomen, die als wirtschaftsliberal ten“, meint Ulla Schmidt, die rentenpolitigelten, für die obligatorische Variante. „Ein sche Sprecherin der Bundestagsfraktion. „Das ist der richtige Weg“, glaubt hinsolcher Zwang ist nichts Ungewöhnliches in der Marktwirtschaft“, meint Manfred gegen Ernst Schwanhold, stellvertretenNeumann,Wirtschaftsprofessor an der Uni- der Fraktionsvorsitzender und SPD-Wirtversität Bonn, „bei der Haftpflichtversi- schaftsexperte: „Ich habe etwas gegen den cherung fürs Auto gilt dasselbe Prinzip. Begriff Zwangsrente, nichts aber gegen Wichtig ist nur, dass jeder frei zwischen un- den Inhalt.“ Genauso sehen das die bündnisgrünen terschiedlichen Anbietern wählen kann.“ Schon vor eineinhalb Jahren forderte Parlamentarier Oswald Metzger und MatNeumann zusammen mit rund zwei dut- thias Berninger. Während ihr Fraktionschef zend Kollegen, die dem Wissenschaftlichen Rezzo Schlauch am Beschluss der Fraktion Beirat des Wirtschaftsministeriums an- festhält, der im Juni zur vorläufigen Rückgehören, die Regierung in einer Expertise nahme von Riesters Vorschlag führte, verauf, das bisherige Umlageverfahren durch weisen die beiden Haushaltsexperten auf eine obligatorische Vorsorge zu ergänzen. die Vorteile der Riesterschen Richtung, vor Denn was in Deutschland als verpönt allem aber würden neue Ausnahmen im galt, ist in vielen europäischen Ländern Steuerrecht vermieden. Nicht einmal in der Union sind alle eilängst Standard (siehe Grafik Seite 130). Fast überall, wo sich Regierungen an eine ner Meinung. Während Parteichef WolfRentenreform heranwagten, haben sie das gang Schäuble das hohe Lied auf die freie zusätzliche Sparen zur Pflicht gemacht; Entscheidung singt („Das entspricht unsenur firmiert die „Zwangsrente“ („Bild“) rer Weltsicht“), kann sich Christian Wulff, der Vorsitzende der CDU-Reformkommismeist unter einem attraktiveren Namen. So setzen die Niederländer auf das sion „Sozialstaat 21“, eine Sparpflicht „Cappuccino-Prinzip“. Die staatliche Si- durchaus vorstellen – allerdings nur, wenn cherung entspricht dem Kaffee, die zu- vorher durch niedrigere Abgaben der sätzliche obligatorische Vorsorge, die über Spielraum dafür geschaffen wird. Angesichts der leeren Staatskassen den Arbeitgeber abgeführt wird, der aufgeschäumten Milch, und obendrauf gibt’s glaubt Wirtschaftsprofessor Neumann, dass noch Schokostreusel für jene, die freiwillig den Politikern in Wirklichkeit ohnehin keiprivat vorsorgen. Auch die Schweizer führ- ne Wahl bleibt. „Wenn die Zusatzversorten das Pflichtsparen bereits Mitte der gung keinen Zwangscharakter hat, dann achtziger Jahre ein. Eidgenössische Unter- muss die Politik subventionieren“, sagt er. nehmen gewähren ihren Mitarbeitern da- „Das wäre doch nur wieder Umverteilung, bei für jeden Franken, den diese zurückle- und die kostet Geld.“Christian Reiermann, Ulrich Schäfer gen, einen ebenso hohen Zuschuss. 132 d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Wirtschaft A F FÄ R E N Umweg über Liechtenstein gen. Aus Unterlagen, die dem SPIEGEL vorliegen, ergibt sich der Verdacht, dass Habibie 1993 über den Umweg Liechtenstein 200 000 Mark von Ferrostaal auf sein Privatkonto bei der Deutschen Bank Hamburg überwiesen wurden. Ein weiteres Dokument von 1991 belegt, dass FerrostaalChef Menges 200 000 Mark Rahardi Ramelan zukommen ließ, dem jetzigen Industrie- und Handelsminister Indonesiens. Nach Angaben eines Ferrostaal-Managers steckt hinter den Zahlungen ein Auftrag zum Ausbau des Stahlwerks Krakatau Steel in Indonesien, das Ferrostaal Jahre zuvor zusammen mit Klöckner, Siemens und anderen aufgebaut hatte. Habibie, damals Staatsminister für Forschung und Technologie, wolle mit ehrgeizigen Plänen die Industrie des Landes ausbauen. Er habe, zusammen mit seinem damaligen Vertrauten Ramelan, die Auftragsvergabe an Ferrostaal unterstützt. Spuren führen ins Steuer- und Anlegerparadies Liechtenstein. Ein Buchungsbeleg des Ferrostaal-Konzerns (Beleg Nummer 759781) vom 20. März 1991 weist aus, dass der Essener Konzern 900 000 Mark an Indonesiens Staatspräsident Habibie: Privatkonto bei der Deutschen Bank Hamburg Ferrostaal-Chef Menges Gute Geschäfte mit Indonesien „Eb. Grammont“ im liechtensteinischen Hauptort Vaduz überwies zur „Umbuchung der Prov. Zahlung“. „Eb.“ ist offenbar die Abkürzung für „Etablissement“, und dieser Begriff steht für Anstalt. Die liechtensteinische Anstalt ist ähnlich wie die liechtensteinische Stiftung eine Rechtsform, bei der öffentlich nicht ersichtlich ist, wem die Firma gehört. Sie ist zwar eingetragen in dem jedermann zugänglichen Öffentlichkeitsregister. Doch dort sind nur die Verwaltungsratsmitglieder genannt, meist Vertreter einer Anwaltskanzlei, die für eine ganze Reihe von Stiftungen und Anstalten sprechen. Wem eine Anstalt wie Grammont gehört, von wem das Geld ursprünglich stammt, das sie auf andere Konten überweist, ist üblicherweise nicht nachzuvollziehen. Dem SPIEGEL liegt jedoch eine Aktennotiz vor, nach der Dr. Menges bei der Grammont dem Wechsel des Verwaltungsrats zustimmen musste. Herbert Batliner, der Seniorchef einer liechtensteinischen Anwaltskanzlei, die auf Stiftungen und Anstalten spezialisiert ist, wurde durch Hans Gassner und Mario Simmen ersetzt. Einem solchen Wechsel müssen nur Männer zustimmen, die das Sagen bei der Grammont haben. Zudem gab der FerrostaalChef der Aktennotiz vom AP B acharuddin Jusuf Habibie hat mächtige Gegner. In der Hauptstadt Jakarta demonstrieren oft zehntausende gegen den indonesischen Präsidenten. Der Internationale Währungsfonds und die Weltbank sperrten erst einmal jede Finanzhilfe an das 209-Millionen-Volk, solange der Verbleib von 70 Millionen Dollar der Bank Bali nicht geklärt ist. Und die Oppositionsparteien wollen Habibie bei den bevorstehenden Präsidentenwahlen aus dem Amt heben. Doch Habibie, der in Aachen studierte, bei MBB arbeitete und noch immer Heimweh nach seinem einstigen Wohnort Kakerbeck bei Stade verspürt, hat auch viele Geschäftspartner und Freunde, vor allem in Deutschland, wo er 19 Jahre seines Lebens verbrachte. Der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Hans-Olaf Henkel, zählt dazu und Klaus von Menges, der Habibie seit den Studienzeiten kennt und später als Chef der MAN-Tochter Ferrostaal eine ganze Reihe guter Geschäfte mit Indonesien abschloss. Die Beziehung zu Menges könnte Habibie jetzt aber eine Menge Ärger einbrin- D. HOPPE / NETZHAUT Der Ferrostaal-Konzern hat – darauf weisen dem SPIEGEL vorliegende Belege hin – Bacharuddin Habibie, mittlerweile Präsident von Indonesien, 200 000 Mark zukommen lassen. Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Wirtschaft Zahlungsdokumente „Bitte überweisen Sie DM 200 000,00“ 10. Februar 1993 zufolge in einer „persönlichen Besprechung“ auch Anweisungen für Geldzahlungen der Grammont: „Dr. Menges wünscht, dass wir zu Lasten des DM-Callkontos folgende Vergütungen veranlassen: DM 200 000,-- an B. Hababie, c/o Deutsche Bank Hamburg“. Ein „B. Hababie“ ist in Hamburg unbekannt. Ein Bacharuddin Habibie verfügt jedoch über ein Konto bei der Deutschen Bank in Hamburg (Nummer 12 04 700). Ferrostaal und Dewi Fortuna Anwar, Staatssekretärin und Pressesprecherin von Präsident Habibie, nehmen zu den Vorgängen, mit denen sie konfrontiert wurden, keine Stellung. Der indonesische Präsident hat wegen der bevorstehenden Präsidentenwahl und den Unruhen auf Osttimor größere Sorgen als eine 200 000-Mark-Zahlung von Liechtenstein nach Hamburg. Dennoch könnte die Transaktion höchst unangenehme Folgen haben. Für viele Indonesier ist Habibie wegen seiner Freundschaft zum Vorgänger Suharto ein Repräsentant des alten Systems „und steht damit für Korruption und Vetternwirtschaft“ („Wirtschaftswoche“). Vorwürfe, Habibie habe in seiner Zeit als Minister, in der er für zehn strategisch wichtige Branchen wie Flugzeugbau, Werften und Munitionsfabriken zuständig war, sich selbst und seine acht Geschwister bereichert, gab es immer mal wieder. Die Familie verfügt über ein kleines Firmenreich. Beweise für Korruption fanden sich nicht. Die Zahlung der liechtensteinischen Anstalt auf das Privatkonto Habibies in Hamburg ist heikel, vor allem, weil Habibie wegen seines Einsatzes für deutsche Firmen in Indonesien bereits häufiger kritisiert wurde. „Was wir erleben“, klagt beispielsweise das Wirtschaftsmagazin „Pilar“, „ist eine Art Germanisierung der indonesischen Wirtschaft.“ d e r Deutsche Konzerne sind meist vorneweg dabei, wenn Indonesien Aufträge für den Bau einer eigenen Luftfahrtindustrie, für Schiffe oder Telekommunikationseinrichtungen vergibt. Indonesien wiederum ist der drittgrößte Empfänger deutscher Entwicklungshilfe. Viele Großaufträge werden über die Kreditanstalt für Wiederaufbau finanziert. Die Opposition wird jetzt fragen, ob Habibie seine Rolle als Marktöffner für die deutsche Industrie nicht nur wegen seiner Verbundenheit zum einstigen Gastland gespielt hat, sondern möglicherweise auch wegen persönlicher Vorteile. Die Frage stellt sich auch bei Habibies Industrie- und Handelsminister Ramelan. „Bitte überweisen Sie DM 200000,00 auf das Konto des Herrn Rahardi Ramelan bei der Deutschen Bank Asia in Singapore, Konto-Nr. 2590693-04“, verfügt Ferrostaal-Chef Menges am 23. Januar 1991 in einem Schreiben seines Unternehmens, das dem SPIEGEL vorliegt. Die Überweisung sei „der Order DRAnlage PTKS/Indonesien zu belasten“. DR ist das Kürzel für eine Direkt-Reduktionsanlage, bei der aus Eisenerz Eisen gewonnen wird. Sie sollte bei PT Krakatau Steel ausgebaut werden. Ganz offen erläutert der Ferrostaal-Chef in dem internen Schreiben, dass die Zahlung an Ramelan verschleiert werden soll. „Es ist wichtig, dass Ferrostaal dabei nicht als Auftraggeber in Erscheinung tritt“, deshalb sei die Überweisung „noch über eine andere Bank zu leiten“. Der indonesische Minister Ramelan nimmt dazu ebenso wenig Stellung wie das deutsche Unternehmen Ferrostaal. Vor einiger Zeit war Ferrostaal-Chef Menges noch auskunftsfreudiger, wenn es um Indonesien ging. Im März dieses Jahres zeigte sich Menges auf der Technogerma in Jakarta, der in diesem Jahr nach Eigenwerbung „weltweit größten deutschen Technologie-Ausstellung“ im Ausland, noch voller Optimismus. Über die eigenen Geschäfte mit dem asiatischen Land sagte Menges: „Wir wollen euch jetzt nicht im Stich lassen und hoffen natürlich mittelfristig auch auf Aufträge.“ Und über Habibies Zukunft meinte der Ferrostaal-Chef: „Nach unserer Arithmetik wird Habibie wieder Präsident.“ Menges muss wohl so rechnen. Ein Machtwechsel wäre kaum gut für die Ferrostaal-Geschäfte in Indonesien. Das Essener Unternehmen hat voll auf Habibie gesetzt. Der Konzern hat sogar die jüngere Schwester des Ministerpräsidenten, Sri Rahayu Fatima Mochtar, unter Vertrag genommen – sie ist Ferrostaal-Repräsentantin für Indonesien. Dietmar Hawranek s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 137 Wirtschaft noch für fast die Hälfte des Pharmaumsatzes bei Bayer. Das erhöht den Druck auf die Leverkusener, sich nach Partnern umzusehen. Doch Schneider ist wählerisch. Der Zukauf sollte möglichst, so Punkt eins der Wunschliste, in Amerika Aspirin allein genügt nicht: ansässig sein, einen MarktBayer muss seine Pharmasparte wert haben, der in etwa dem ausbauen, um mit den Großen Gesundheitsteil Bayers mit 25 Milliarden bis 30 Milliarder Branche mithalten zu können. den Euro entspricht, eine ie Bayer AG gehört zu den stillen prall gefüllte Pipeline – also Riesen im Lande. Während sich viele Neuentwicklungen, weltweit die Chemie- und Phardie kurz vor der Marktreife mabranche neu ordnete, arbeiteten die Lestehen – mitbringen und verkusener eher unauffällig vor sich hin. auch noch bereit sein, sich Die 100-Jahr-Feier für ihr Paradeprodukt voll unter die Oberhoheit Aspirin in diesem Frühjahr gehörte schon Schneiders zu begeben. zu den herausragenden Ereignissen der Wenninger: „Wir streben jüngeren Firmengeschichte. keinen Big Bang an, nur um Doch seit einigen Wochen herrscht unspektakulär aufzufallen.“ gewohnte Unruhe. Der Kurs der Bayer-AkLieber heute als morgen tie macht sich mit unüblichen Ausschlägen würden sich die Leverkusebemerkbar, Börsianer und Analysten spener die erfolgreiche Monkulieren über die Zukunft des deutschen santo-Pharmatochter Searle Traditionskonzerns. anlachen – und KonzernGeld regt die Phantasie an. Nach dem chef Schneider glaubt, auch Verkauf der Konzern-Tochtergesellschaft Chancen zu haben. Agfa sitzt Bayer-Chef Manfred Schneider Bayer-Zentrale*: Auf der Suche nach einem Partner Die Muttergesellschaft Monsanto, die sich ganz auf einer gut gefüllten Kasse. „Zweistellige Milliardenbeträge in Mark oder auch ger: „Darum beneiden uns alle.“ Aber auch auf die Biotechnologien in der LandwirtEuro“, so Pharmavorstand Walter Wen- er gesteht ein, dass mit Aspirin allein in schaft konzentriert hat, ist hoch verschulninger, „sind für uns kein Thema“, zumal Zukunft vor allem auf dem wichtigen US- det. Das Geschäft mit genmanipulierten die Verschuldung des Konzerns gering sei Markt nicht zu bestehen ist – zumal Kon- Pflanzen und Saatgut läuft weltweit schlecht, selbst in den USA wächst der und die Eigenkapitalquote bei ungewöhn- kurrenzprodukte Furore machen. Seit Anfang des Jahres verbucht die Widerstand. Da könnte Monsanto-Chef lich hohen fast 50 Prozent liege. Die eigenen Mittel werden dennoch Monsanto-Pharmatochter Searle mit ihrem Robert Shapiro, so die Spekulation bei nicht genügen, Bayer-Chef Schneider hat neuen Schmerzmittel Celebrex einen nie Bayer, Interesse daran haben, Geld in die da gewesenen Verkaufserfolg in den USA. Kasse zu bekommen. weit ehrgeizigere Pläne. Falls Shapiro das wirklich will, wird er Seit Jahren bedrängen die Analysten Bis zu fünf Milliarden Mark Umsatz pro Schneider, dass Bayer auf Dauer im lukra- Jahr allein in Amerika wird dem Super- sich allerdings noch etwas gedulden müstiven Life-Science-Geschäft – im Handel Aspirin zugetraut. Vom altehrwürdigen Ur- sen. Schneider kann sich Searle nur leismit Chemie- und Bioprodukten für Aspirin verkauft Bayer weltweit Pillen im ten, wenn die Monsanto-Tochter und seine Pharmasparte in einem „merger of Mensch, Tier und Pflanze – allein nicht Wert von einer Milliarde Mark. Aus den konzerneige- equals“, einem Zusammenschluss gleichüberlebensfähig sei. Tatnen Forschungslabors ist wertiger Partner, per Aktientausch versächlich ist das traditionsChemie-Giganten wenig Hilfe zu erwarten. schmolzen werden. reiche Pillenunternehmen, Eventuell dann immer noch bestehende noch vor zehn Jahren im Börsenwert in Milliarden Dollar Dort häuften sich in jüngster Zeit die Fehlschläge. So Wertunterschiede, so die Überlegungen in Pharmabereich Nummer wurde die Weiterarbeit am Leverkusen, könnten aus der Kriegskasse sechs in der Welt, auf Top Five Krebsmittel Bay 12-9566, bezahlt werden. den 16. Rang – und damit Merck (USA) 169,2 Der Aktientausch ist aber frühestens im von dem sich Bayer eiins Mittelmaß – zurückgePfizer (USA) 149,7 nen Milliarden-Umsatz ver- nächsten Jahr möglich. Erst dann geht Bayfallen. sprochen hatte, eingestellt. er in New York mit seinem Life-ScienceBayer sei ein SonderBristol-Myers 145,0 Squibb (USA) Der Patentschutz des Herz- Geschäft an die Börse. fall, wehrt sich PharmavorDoch die Zeit bis dahin muss nicht unmittels Adalat ist bereits stand Wenninger. TatsächNovartis (Schweiz) 108,9 1985 ausgelaufen. Das An- genutzt verstreichen. „Sehr aufmerksam“ lich bringen neben dem eiGlaxo Wellcome tibiotikum Cipro verliert (ein Vorstand) haben die Bayer-Leute zur gentlichen Geschäft mit 100,2 (Großbritannien) seinen Schutz im Jahre Kenntnis genommen, dass die Schweizer Pharmaka (Umsatz in die2001. Allein diese beiden Kollegen von Novartis keine rechte Freusem Jahr: rund zehn Mil- Deutsche Konzerne Auslaufprodukte sorgen de mehr an ihrem Landwirtschaftsgeschäft liarden Mark) nichtver- Stand: 29,5 Bayer 10. 99 haben. Der Wert der Novartis-Sparte, weltschreibungspflichtige Pro- 7. Quelle: *Anlässlich des 100. Geburtstags des weit führend im Pflanzenschutz, wird auf dukte wie Aspirin und Alka Datastream 28,9 BASF Arzneimittels Aspirin im März 10 bis 15 Milliarden Euro geschätzt. Seltzer sowie Diagnostika dieses Jahres wurde das VerwalHoechst 26,8 Das könnte Schneider derzeit aus der noch einmal zusammen ohne Rhône-Poulenc tungsgebäude als Aspirin-Packung Portokasse bezahlen. Heiko Martens sechs Milliarden. Wenninverkleidet. CHEMIE-INDUSTRIE Sturz ins Mittelmaß DPA D 138 d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Wirtschaft Bankchef Walter „Ich bin müde“ D. HOPPE / NETZHAUT Walters schwere Last Gescheiterte Kooperationen, Querelen im Vorstand und keine Vorwärtsstrategie: Dresdner-Bank-Chef Bernhard Walter steht gewaltig unter Druck. D er Mann hat es schwer: Bernhard Walter sitzt in einer stickigen Ecke des Washingtoner Flughafens Dulles und saugt an einer HB. Vor ihm liegen acht Stunden Non-Smoking-Flight zurück nach Frankfurt, was für den Kettenraucher jedes Mal ein Horror ist. Schon die Washingtoner Weltbank-Tagung, ein Pflichttermin der internationalen Finanzelite, brachte dem DresdnerBank-Chef Verdruss. Beim Empfang seiner Bank im noblen White-Meyer-Haus klagte er, vor lauter Begrüßungen selbst nicht zum Essen zu kommen. Tags darauf musste Walter eine Pressekonferenz auf Englisch abhalten, was ihm sehr schwer fällt. Außerdem wollten Kunden und Kollegen von dem gestressten Banker ständig wissen, wie weit die Kooperationsgespräche mit der Deutschen Bank gediehen sind. Genervt antwortete Walter, die Unabhängigkeit der Dresdner Bank 142 stehe nicht zur Disposition. Zurück in Frankfurt, trifft Walter eine einsame Entscheidung und erklärt die Verhandlungen über eine gemeinsame Privatkundenbank mit der Deutschen für gescheitert. Prompt sackt der Aktienkurs ab. Nichts will dem Bankmanager, der seit Anfang 1998 das drittgrößte deutsche Kreditinstitut führt, so richtig gelingen. Von vielen großartigen Ankündigungen hat sich bisher keine erfüllt. Die Stimmung in der Bank ist auf dem Tiefpunkt, der Vorstand heillos zerstritten. Und dem Chef wird vorgeworfen, sich in Kreditverträge zu vertiefen, statt Strategien zu entwickeln. Die Führungsschwäche hat ihren Preis: Mittlerweile gilt das 126 Jahre alte Geldhaus als Übernahmekandidat. Sein Glück ist bislang nur, dass der Versicherungsriese Allianz rund 40 Prozent der Anteile kontrolliert – und die Dresdner somit am Markt nicht so einfach zu haben ist. d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 B. BOSTELMANN / ARGUM BANKEN Henning Schulte-Noelle, Allianz-Chef und diskrete Eminenz im bundesdeutschen Finanzgewerbe, erwartet Antworten, wie sich die Bank in Zukunft positionieren will. Vor allem im Privatkundengeschäft des Instituts drohen Verluste. „Wir können es uns nicht leisten, hier nichts zu tun“, gesteht selbst Walter offen ein. Den Zusammenschluss mit der Deutschen Bank (SPIEGEL 34/1999) wollte er – aus Stolz – dann aber doch nicht, obwohl die beiden Banken monatelang sämtliche Details besprochen hatten. Denn Walter wäre dabei der Juniorpartner gewesen. Schließlich hat die Deutsche Bank sechs Millionen Privatkunden, die Dresdner Bank bringt es nur auf gut vier Millionen. Ein Joint Venture mit gleichen Anteilen, wie es Walter vorschwebte, wollte die Deutsche Bank nicht. Sie bot Walter 40 Prozent an einer gemeinsamen Massenkundenbank mit neuem, neutralem Namen. Die zuständigen Manager beider Banken wollten, so einer der Verhandlungsführer, „die Tür nicht ganz zuschlagen“ – und wenigstens eine gemeinsame Produktentwicklung oder eine Zusammenlegung kleiner Bereiche. Doch Walter war selbst das zu viel. Jetzt steht er – wieder einmal – unter Druck, schließlich hatte er versprochen, bis Ende des Jahres eine Lösung zu finden. Die aber ist nicht in Sicht. Schon öfter konnte Walter seine Ankündigungen nicht einhalten. So scheiterten bislang alle Fusions- und Übernahmeverhandlungen mit amerikanischen Investmentbanken: Die Dresdner Bank konnte sich weder mit Donaldson, Lufkin & Jen- Dresdner-Bank-Zentrale in Frankfurt Wird das Institut zerschlagen? Werbeseite Werbeseite Wirtschaft Deutsche Großbanken Bilanzsumme 1998 in Mrd. Mark Deutsche GeschäftsBank Mitarbeiter 76 141 stellen 2310 Hypo Vereinsbank 1226 Stand: Ende 1998 Quelle: BdB 901 Auch bei anderen Vorständen geDresdner 715 riet Einzelgänger Walter in MissBank 48 948 1506 kredit. Seine umstrittene Entscheidung gegen eine KooperaWestLB 693 tion mit der Deutschen Bank 10 602 20 ließ er vergangene Woche in der CommerzVorstandssitzung noch nicht einmal bank 32 446 938 638 diskutieren. Intern lästert ein Vorstandskollege: „Es war Dummheit, sich rette noch mit Paine Webber über ein Zu- durch eigene Äußerungen so unter Druck sammengehen einigen. Selbst die jahre- zu setzen.“ Walter, so scheint es, hat eine schwere lange Kooperation zwischen der Dresdner und der Banque Nationale de Paris (BNP) Last zu tragen. „I’m tired“ („Ich bin müde“), klagte er kürzlich vor den ausländikommt nicht voran. Auch die vollmundigen Erklärungen, die schen Niederlassungsleitern im bankeigeVermögensverwaltungen von Dresdner nen Konferenzzentrum in Königstein. Das Bank und Allianz zusammenzulegen, Mitleid hielt sich allerdings in Grenzen. Stattdessen wunderten sich die Zuhöscheiterten am Widerstand der Banker. Wieder einmal fürchtete der schwächere rer, dass ihr Chef gleich anschließend – erPartner den Ausverkauf seiner Interessen. schöpft und mit Ringen unter den Augen – Nun will die Allianz den US-Vermögens- nach Paris fliegen wollte, um mit dem Chef verwalter Pimco übernehmen und so den der BNP, Michel Pébereau, zu verhandeln. Wohin Walter auch reist, um seine Bank Weltmarkt im Alleingang erobern. Insgeheim freute sich seinerzeit der zu verkuppeln: Die Entscheidung über die zuständige Dresdner-Bank-Vorstand Ger- Zukunft der Dresdner fällt nicht in Paris, hard Eberstadt über seine erfolgreiche London oder New York – sondern in MünBlockade. Inzwischen ist er im Ruhestand, chen, in der Königinstraße. Dort sitzt der doch bei der Pressekonferenz in Washing- mächtige Anteilseigner Allianz. Der Versicherungsriese hat sich gerade ton konnte die Bank nicht auf ihn verzichten. „Ich bin täglich im Büro – und Paul Achleitner in den Vorstand geholt. immer noch für die Vermögensverwaltung Der Ex-Partner der amerikanischen Inzuständig“, so der 65-Jährige, der gerade vestmentbank Goldman Sachs hat alan der Umstrukturierung dieses Ge- lerhand Erfahrung auf dem Gebiet von Firmenhochzeiten – ihm trauen Branschäftszweiges feilt. Damit brüskiert er seinen Zögling Leon- chenkenner auch ungewöhnliche Lösunhard Fischer, mit 36 derzeit der jüngste gen für die ertragsschwache BankbeteiVorstand einer deutschen Großbank. Fi- ligung zu. Die wahrscheinlichste Lösung ist jedoch scher nämlich, so verkündete die Dresdner Bank nach Eberstadts „Ausscheiden“, habe nach wie vor eine Fusion mit der HypoVereinsbank, an der die Allianz ebenfalls dessen Aufgaben übernommen. Walter hat seinen Vorstand schlecht im mit 18 Prozent beteiligt ist. Auch aus der Griff. Als er sich einmal kritisch über das Vorstandsetage der Dresdner ist zu hören: Investmentbanking äußerte, folgte prompt „Schon im nächsten Jahr werden die beidie Zurechtweisung. Der verantwortliche den Institute fusionieren.“ Spekuliert wird sogar über eine ZerVorstandskollege Gerd Häusler habe, so ein Ohrenzeuge, in Walters eigenem Büro schlagung der Dresdner, wobei das Privatgetobt: „Ich lasse mich nicht wie einen kundengeschäft der HypoVereinsbank zuSchuljungen behandeln“ – Häusler be- fiele. Die Vermögensverwaltung ginge an die Allianz, das Investment-Banking meiststreitet diese Auseinandersetzung. Streit gab es auch, als Dresdner-Bank- bietend an einen Wettbewerber. Doch ob Voll- oder Teilfusion: Die AlliVorstand Ernst-Moritz Lipp öffentlich seine Lieblingsidee lancierte, zusammen mit anz hat ein Führungsproblem. Weder Albder BNP eine paneuropäische Investment- recht Schmidt, Chef der HypoVereinsbank, bank zu gründen. Das ließ der dünnhäuti- noch Walter gelten als geeignet für eine ge Walter nicht durchgehen. Er bestand auf solche Aufgabe. Schmidt hat sich im Zuge einer geharnischten Richtigstellung, die der Fusion der beiden bayerischen Banken Lipp öffentlich desavouierte. Doch auch mit der Allianz überworfen.Walter aber, da Lipp teilt aus. So macht er in der Bank kei- sind sich die Manager von Dresdner und nen Hehl daraus, was er von seinem Vor- Allianz einig, ist dem Job nicht gewachsen. standssprecher hält – nämlich nichts. Christoph Pauly, Wolfgang Reuter 144 39 447 1420 d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Wirtschaft S TA N D O R T Heimliche Freude S elten sorgte eine Falschmeldung für so viel Wirbel. Nachdem der „Stern“ am vergangenen Dienstag berichtet hatte, der DaimlerChrysler-Konzern wolle seinen Firmensitz möglicherweise in die USA verlagern, reagierten sie alle wie elektrisiert: Börsianer, die den Kurs der Aktie um 2,5 Prozent nach oben trieben; deutsche DaimlerChrysler-Mitarbeiter, die um ihren Job bangten, und Beobachter, die den drohenden Exodus deutscher Firmenzentralen ins Ausland befürchteten. Die Vorstände und das gesamte Top-Management des Konzerns bekamen von den deutschen Aufgeregtheiten zunächst wenig mit. Sie tagten in Washington, und die Stallwache in Stuttgart reagierte strikt nach dem Handbuch für Dementis: Sie verbreitete, der Konzern nehme zu Spekulationen keine Stellung. Damit aber wurden die Spekulationen nur angeheizt. Wäre es nicht tatsächlich lohnend für DaimlerChrysler, in die USA zu wechseln, dort niedrigere Steuern zu zahlen und zugleich in den wichtigen Aktienindex für US-Firmen, den Standard & Poor’s, aufgenommen zu werden? Und ist in den Zeiten der Globalisierung, in denen Traditionskonzerne wie Hoechst oder Mannesmann einfach zerlegt werden, nicht FOTOS: K. SCHOENE / ZEITENSPIEGEL Wird DaimlerChrysler künftig von Amerika aus geführt? Das Gerücht beflügelte die Börse, doch tatsächlich macht eine Verlagerung der Zentrale keinen Sinn. Konzernchef Schrempp: „Alles Quatsch“ auch ein Umzug des größten Industriekonzerns vorstellbar? Nichts ist unmöglich, fand offenbar auch das Massenblatt „Bild“, das sich wegen des „Hochsteuerlandes Deutschland“ sorgte: „Haut Daimler ab in die USA?“ Bei ruhiger Betrachtung ergibt sich schnell: Der Konzern hat keinen Grund dazu. Bislang ist Deutschland für DaimlerChrysler ein wahres Steuerparadies. Das Unternehmen profitiert von den besonderen Abschreibungsmöglichkeiten und zahlte hier zu Lande jahrelang fast gar keine Ertragsteuern. Wegen hoher Verluste, vor allem bei den einstigen Töchtern AEG und Fokker, kann DaimlerChrysler seit Jahren einen Verlustvortrag, der zeitweise 17 Milliarden Mark betrug, geltend machen. Dieser Verlustvortrag wird den aktuell erzielten Gewinnen gegenübergestellt. Erst wenn sie ihn nach mehreren Jahren übersteigen, werden wieder Ertragsteuern fällig. Doch auch dann ist eine Verlagerung in die USA wenig sinnvoll. Zwar liegt die Besteuerung des Unternehmensgewinns in Konzernzentrale in Stuttgart: Deutschland war für Daimler ein Steuerparadies 146 den USA (35 Prozent plus regionale Abgaben) weit niedriger als in Deutschland (über 50 Prozent), aber setzt die rot-grüne Koalition ihre Pläne um, wird Deutschland zum Niedrigsteuerland. Geplant ist ein Steuersatz von 25 Prozent (plus Gewerbesteuer). Ein Umzug würde schon am Widerstand des größten Aktionärs scheitern. Die Deutsche Bank hält einen Anteil von rund zwölf Prozent an DaimlerChrysler, der derzeit an der Börse mit 15,8 Milliarden Mark bewertet wird. In den eigenen Bilanzen steht das Aktienpaket, das die Bank schon seit Jahrzehnten hält, nur mit einem Buchwert von rund zwei Milliarden. Wenn die deutsche Aktiengesellschaft DaimlerChrysler in eine US-Gesellschaft umgewandelt wird, müsste die Deutsche Bank die Differenz zwischen Buchwert und aktuellem Kurswert, insgesamt 13,8 Milliarden, als Buchgewinn versteuern: Sie müsste fast sieben Milliarden Mark an den Fiskus abführen. Auch auf DaimlerChrysler kämen bei einem Wechsel der Zentrale in die USA hohe Kosten zu. Der Konzern müsste in Deutschland eine Abschlussbilanz erstellen, in der Grundstücke und Gebäude mit den aktuellen Werten berücksichtigt werden. Da diese in den Bilanzen meist nur mit einem viel niedrigeren Wert erfasst sind, wäre die Differenz als Buchgewinn zu versteuern – und damit eine Steuerzahlung von mehreren Milliarden Mark fällig. Für den abgestürzten Börsenkurs würde der Wechsel der Konzernzentrale wenig bringen. Als US-Konzern wäre DaimlerChrysler zwar im Standard & Poor’s-Index vertreten und große Fonds würden die Aktie ordern. Doch dafür würde die Aktie aus den Indizes der größten deutschen und europäischen Unternehmen (Dax und Euro-Stoxx) ausscheiden; Fonds, die in diesen Indizes engagiert sind, würden DaimlerChrysler dann verkaufen. In Deutschland würde die Auswanderung zudem auf massiven Protest der Betriebsräte stoßen, die ihre Mitbestimmungsrechte verlören. Und der Marke Mercedes-Benz drohte Imageschaden: Sie wäre nur noch die Tochter eines US-Konzerns so wie Opel oder Ford. An dem Gerücht der Auswanderung sei absolut nichts dran, sagt Aufsichtsratsvorsitzender Hilmar Kopper von der Deutschen Bank. Und Konzernchef Jürgen Schrempp kommentiert gewohnt deutlich: „Das ist alles Quatsch.“ Andere Führungskräfte bei DaimlerChrysler, die über Aktienoptionen persönlich an Kurssteigerungen profitieren, offenbaren eine klammheimliche Freude an der Aufregung um eine mögliche Verlagerung: „Ist doch toll“, so ein Manager, „wie eine Falschmeldung den Kurs hochtreiben kann.“ Dietmar Hawranek d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite W. JAKUBOWSKI / TRANSPARENT Wirtschaft Stapellauf in der Gdinger Werft: Aufträge für die nächsten drei Jahre REFORMEN Primus Polen Die polnische Wirtschaft, einst Synonym für Schlamperei und Schlendrian, ist heute ein Erfolgsmodell: für den konsequenten Umbau einer Staats- in eine Marktwirtschaft. Z u fröhlichen Rhythmen einer Blaskapelle zerbarst die noble Champagnerflasche am schwarzen Schiffsrumpf. Dann rutschte der „Elbwolf“ langsam die Rampe hinunter in das Werftbecken. Die deutschen Auftraggeber von der Reederei Hermann Wulff aus Kollmar klatschten Beifall. Einen Tag später ging das 2700 Container fassende Schiff auf Jungfernfahrt in die USA. „Elbwolf“ ist das sechste Schiff, das seit Januar die Gdinger Werft verließ. Während der deutsche Schiffbau Not leidet, schaffte Gdingen im vergangenen Jahr bei 650 Millionen Mark Einnahmen rund 55 Millionen Mark Reingewinn. Die Aufträge, darunter viele aus Deutschland, reichen für die nächsten drei Jahre. Gern würde Gdingen deshalb die Warnow-Werft in Rostock kaufen. Was ist bloß in Polen los? Noch vor zehn Jahren war „polnische Wirtschaft“ ein Synonym für Schlamperei und Schlendrian, für Rückständigkeit und Verschwendung. Die Karikaturisten zeichneten einen polnischen Bauern, der seine Kuh verhungern lässt, weil er im Streik ist. Oder ein Boot, das leckt – doch die Menschen weigern sich, das Wasser auszuschöpfen, weil sie einen arbeitsfreien Sonnabend haben. Heute ist das Land östlich der Oder ein Hätschelkind westlicher Wirtschaftsexperten und Finanzorganisationen, Klassenbester der marktwirtschaftlichen Transformation in Mittelosteuropa. Jeffrey Sachs, einer der bekanntesten unter den US-Mo- 148 den Nachbarn? Die Experten sehen die Ursachen in der historischen Erfahrung des Landes und in der Mentalität seiner Menschen. „Marktwirtschaft war für uns 1989 kein leeres Wort“, sagt Karol Szwarc, früher stellvertretender Finanzminister und heute Berater der Zentralbank. Selbst in der finstersten Stalin-Zeit wurde der Boden zu 80 Prozent privat beackert, private Handwerker reparierten Uhren, backten Brot, renovierten Wohnungen. In privaten Treibhäusern wuchsen Gemüse und Blumen. Das gab es in der Tschechoslowakei oder DDR nirgends. In den siebziger Jahren öffnete sich das Land zum Westen: Polnische Doktoranden studierten an westlichen Universitäten, polnische Händler durchstreiften die Welt auf der Suche nach billigen Waren, die sie in der sozialistischen Mangelwirtschaft Gewinn bringend verkauften. „Auf dem viel zitierten Polenmarkt in Berlin haben meine Landsleute Ende der achtziger Jahre praktische Erfahrungen mit der Marktwirtschaft gesammelt“, sagt Zygmunt Solorz, der damals mit Pakettransporten von Deutschland nach Polen sein Geld verdiente. Heute besitzt er den größten Privatsender Polens; sein „Polsat“ erzielte 1998 Werbeeinnahmen von rund 500 Millionen Mark. Das Fundament für die größten Privatvermögen wurde in den achtziger Jahren noch vor der Wende gelegt. Marek Profus vertrieb in Polen die Unterhaltungselektronik von Sony, Panasonic und Blaupunkt. Heute ist er der drittreichste Pole, er beschäftigt in 33 Handelsbüros rund um die Welt 3500 Leute. Zbigniew Niemczycki kehrte nach sechs Jahren aus den USA zurück und begann Farbfernseher aus importierten Teilen zu montieren. Heute baut er in Lizenz des koreanischen Konzerns LG, er besitzt Bürohäuser und Arzneimittelfabriken. Auch wenn der Boden für die Reformen 1989 einigermaßen vorbereitet war, ohne den Runden Tisch wäre deren Erfolg fraglich gewesen. In zähen Verhandlungen haben damals alle politischen Gruppen einen Konsens in den wichtigsten politischen und wirtschaftlichen Fragen erzielt, anders netaristen, spricht gern von der „erfolgreichsten Reform der Neuzeit“, und Michel Camdessus, Direktor des Internationalen Währungsfonds, bescheinigt Warschau das „dynamischste Wachstum“ in Europa. Das Bruttoinlandsprodukt lag 1998 gut 20 Prozent über dem Niveau von 1989, dem letzten Jahr vor der schweren Wirtschaftskrise, in die Osteuropa nach dem Fall des Eisernen Vorhangs stürzte. Die Inflationsrate sank unter sieben Prozent. Die Asien- und Russland-Krisen, die in den vergangenen zwei Jahren die Weltmärkte erschütterten, haben zwar auch in Polen Spuren hinterlassen. Die Wachstumsprognose für das Jahr 1999 musste nach unten korrigiert werden, von den ursprünglichen 5,5 Prozent auf allerdings immer noch stattliche 3,7 Prozent. Der Export nach Russland brach zusammen, das Handelsbilanzdefizit soll dieses Jahr 10,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes ausmachen. Polen wächst Dennoch betragen die Devisenreserven 26 Milliarden Dollar und wachsen. Bruttoinlandsprodukt; Der Westen schöpft langsam Vertrauen Veränderung zum Vorjahr in Prozent in Preisen von 1990 in die polnische Wirtschaftskraft. Die In5,7 vestoren, die nach dem Russland-Krach vor 4,9 einem Jahr etwa 800 Millionen Dollar von der Warschauer Börse –0,6 abgezogen haben, sind bereits zuTschechien seit Polen 1. 1.1993 rückgekehrt. Die polnischen Exeigenständig porteure klagen über die starke Tschechien heimische Währung, die größere Ungarn Ausfuhren verhindert. Quelle: OECD Warum sind die Reformen an 1991 93 95 97 98 der Weichsel erfolgreicher als bei d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 10 5 0 –5 –10 –15 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Wirtschaft M. RUTKIEWICZ/ TRANSPARENT als in Tschechien oder Ungarn. Das hat dem ersten Finanzminister und Architekten des polnischen Wirtschaftswunders, Leszek Balcerowicz, die Arbeit erheblich erleichtert. Balcerowicz versammelte die besten Fachleute des Landes ohne Rücksicht auf ihre politische Zugehörigkeit um sich. Mit eiserner Konsequenz führte er die einzelnen Reformvorhaben durch. „Balcerowicz hat sicher auch viele Fehler gemacht und trieb so die sozialen Kosten der Reformen in die Höhe“, erinnert sich Marek Borowski, der ehemalige Vizepremier und eine der Führungsfiguren der Postkommunisten. „Dennoch: Er legte ein stabiles Fundament für alle weiteren Reformschritte.“ Zentralbankchefin Gronkiewicz-Waltz Lob aus den USA Alle folgenden Regierungen, sowohl aus dem Solidarnośƒ-Lager als auch aus dem postkommunistischen Flügel, haben den von Balcerowicz vor zehn Jahren abgesteckten Kurs fortgeführt. Die Wirtschaftspolitik besaß für alle die absolute Priorität. Vor zwei Jahren kehrte Leszek Balcerowicz in die Regierung zurück: Er ist heute ein Garant und Wegbereiter des EU-Beitritts Polens. Dabei war in Tschechien oder in Ungarn die Ausgangslage für Wirtschaftsreformen 1989 viel besser als in Polen. „Das nährte die Illusion, dass der Übergang ohne tiefe Einschnitte und soziale Härten bewältigt werden kann“, sagt Miroslaw Wrobel, Direktor des Stahlwerks Katowice in Schlesien, das in den siebziger Jahren ein Vorzeigebetrieb der sozialistischen Schwerindustrie war. In Polen war die Situation so schlecht, dass es keine Alternative zu einer Schocktherapie gab. Das Stahlwerk Katowice zum Beispiel entging 1992 nur knapp der Pleite. Dann gliederten die Staatsmanager ganze Produktionszweige aus und entließen die Hälfte der Belegschaft. Heute ist der größte europäische Stahlkonzern Corus an der Übernahme interessiert. Der Schlüssel des Erfolgs lag in der soliden Wirtschaftspolitik. Besonders erfolgreich waren die Polen bei der Reform des Finanzwesens. Die polnische Zentralbank, d e r nach dem deutschen Modell neu aufgebaut und unabhängig, betrieb eine aktive Zinspolitik, um die Inflation zu senken und den Zloty zu stabilisieren. „Die Bank hat einen großen Anteil an dem wirtschaftlichen Erfolg“, meint Ex-Finanzminister Andrzej Olechowski. Ihre Präsidentin, Hanna Gronkiewicz-Waltz, gehört nach Ansicht der US-Fachzeitschrift „Global Finance“ zu den besten Zentralbankchefs der Welt. Zu wünschen übrig lässt jedoch das Tempo der polnischen Privatisierung. Zwar erreicht der Beschäftigungsanteil des Privatsektors bereits 70 Prozent. Bis heute wurde aber noch nicht einmal ein Drittel der Großbetriebe wirklich entstaatlicht. Allerdings gab es auch weit weniger Skandale und Korruptionsaffären als in den anderen Ländern. Anders als beispielsweise die Tschechen setzten die Polen auf den direkten Verkauf von Staatseigentum. 512 Betriebe werden zudem über nationale Investmentfonds privatisiert, die an der Börse gehandelt werden. Die Arbeitnehmer bekommen rund 15 Prozent der Aktien der privatisierten Unternehmen. An der Warschauer Börse werden mittlerweile über 170 polnische Werte notiert. Das Ausland unterstützte die Reformen von Anfang an und erließ Polen nach den ersten Erfolgen die Hälfte der Schulden. Die Investoren entdeckten schnell den viel versprechenden Markt mit fast 40 Millionen Konsumenten. Bis heute haben sie über 35 Milliarden Dollar investiert, davon rund 10 Milliarden im vergangenen Jahr. Sie schufen tausende neue Arbeitsplätze und sorgten für eine ausgeglichene Außenbilanz. Sicher: Polen muss noch Jahrzehnte der Versäumnisse aufholen. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Bevölkerung ist noch immer deutlich niedriger als in Tschechien oder in Ungarn. Die Landwirtschaft muss reformiert, Stahl- und Kohleindustrie müssen saniert werden. Noch immer beherrscht der ehemalige Monopolist die Telekommunikation. Das Straßennetz ist unzulänglich, doch für neue Brücken und Autobahnen hat der Staat kein Geld. Ineffiziente Bürokratie, kompliziertes Steuersystem und hohe Steuersätze lassen viele Unternehmen in die graue Wirtschaft abdriften. Dennoch: Im Vergleich zu den Nachbarn im Osten und Süden ist Polen eine Insel der politischen und wirtschaftlichen Stabilität. „Ich kann den deutschen Geschäftsleuten zu Investitionen in Polen nur zuraten“, meint Thomas Hardieck, der ehemalige Vorsitzende der Deutsch-Polnischen Industrie- und Handelskammer in Warschau. Und Nicolas Stern, Wirtschaftsexperte bei der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, meint: „Im Osten ist nicht alles gleich. Polen ist anders.“ Andrzej Rybak s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 151 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite L U F T FA H R T Wildes Geflecht I hren letzten Lufthansa-Trip am Montag vergangener Woche werden die Passagiere der Frühmaschine von München nach Madrid so schnell nicht vergessen. Viele Fluggäste waren schon um fünf aufgestanden, um den Abflug des CanadairJets um kurz vor sieben nicht zu verpassen. Doch am Airport erwartete die Frühaufsteher eine böse Überraschung. Der Flug in die spanische Metropole war ersatzlos gestrichen. Stattdessen hob die Maschine der Lufthansa-Tochter City-Line in Richtung Birmingham ab. Das hatten die Manager der zentralen Buchungssteuerung am Wochenende beschlossen. Auf der teuren Birmingham-Strecke (Hin- und Rückflug: 2000 Mark) verkehrte im Auftrag der Lufthansa bislang der britische Billigcarrier Debonair. Doch der musste am Freitag zuvor den Betrieb einstellen. Deshalb setzten die Lufthanseaten den Madrid-Jet kurzerhand für die stärker frequentierte Route nach Birmingham ein. Das Nachsehen hatten die Spanien-Kunden. Wer nicht rechtzeitig auf eine andere Airline umgebucht hatte, blieb am Boden oder musste später fliegen. Peinliche Pannen wie mit ihrem Partner Debonair könnten der Lufthansa demnächst noch häufiger passieren. Denn um Kosten zu sparen und ihre zentralen Drehscheiben in Frankfurt und München besser auszulasten, haben Lufthansa-Chef Jürgen DPA Die Bruchlandung des Lufthansa-Partners Debonair zeigt: Die Strategie der deutschen Fluggesellschaft birgt Risiken – vor allem für die Kunden. Debonair-Passagiere (in München): Böse Überraschung für Frühaufsteher J. GIRIBAS Das vorgeschriebene warme Weber und seine Berater ein Abendessen fiel aus, weil in Wirrwarr von Allianzen und den Bonsai-Jet nicht einmal Kooperationen geknüpft, das eine Küche eingebaut war. in Europa seinesgleichen sucht. Auch mit der Pünktlichkeit Selbst die eigenen Fachleute nahmen es die Lohnflieger blicken oft nicht mehr durch, nicht so genau. und die Kunden haben das Die Lufthansa-Manager striNachsehen. chen die Strecke kurzerhand Auf internationaler Ebene aus dem Flugplan und bieten arbeiten die Lufthanseaten mit seither nur noch eine Verbinnamhaften Airlines wie United, dung über Frankfurt an. Ab dem brasilianischen MarktNovember müssen sich Vielführer Varig oder Japans All Nippon Airways zusammen. Lufthansa-Chef Weber flieger erneut umstellen. Dann fliegt Augsburg Airways für die Europäische und innerdeutsche Nebenstrecken lassen Weber und seine Lufthansa über München zum Hauptsitz Mannen zunehmend von kleinen regiona- des Europäischen Parlaments. „So können len Partnern wie Augsburg Airways, Air wir in München noch zusätzliche PassaDolomiti oder dem österreichischen Mini- giere aufnehmen“, wirbt Bereichsvorstand Ralf Teckentrup um Verständnis. Carrier Rheintalflug bedienen. Dem Lufthansa-Manager und seinen Die Kunden erfahren meist erst kurz vor dem Abflug, in welche Maschine sie ver- Kollegen schwante schon im vergangenen frachtet werden, und reagieren entspre- Sommer, dass sie ihre Partner wohl stärker chend sauer. Trotzdem weigern sich Luft- an die Kandare nehmen müssen, um sie hanseaten und Reisebüros häufig, die Pas- zur Einhaltung der Lufthansa-Standards sagiere schon beim Ticketkauf aufzuklären, zu zwingen. Seither wird jeder Bewerber welche Gesellschaft den Flug durchführt. auf Sicherheit, die Servicequalität und seiIn Werbekampagnen feiern die Airline- ne finanzielle Potenz geprüft, bevor er in Manager ihr Allianz-Netz gern als „Ant- den Lufthansa-Club aufgenommen wird. Bei der Debonair hat der Airline-TÜV wort auf Liberalisierung und Globalisierung“. Doch offenbar kläglich versagt. Am Donnerstag Gemeinsam am Start das wild wuchernde Bezie- vorvergangener Woche teilten die Briten Europäische Kooperationspartner hungsgeflecht birgt für die ihrem großen Partner Knall auf Fall mit, der Deutschen Lufthansa Lufthansa-Manager gewalti- dass ihre fünf Maschinen, die für die Lufthansa unter anderem Strecken von Münge Risiken. Beim häufigen Partner- chen nach Toulouse, Birmingham, Manwechsel bleiben Service und chester oder Helsinki bedienten, am Boden Scandinavian in Deutschland: Airlines (SAS) Pünktlichkeit oft auf der bleiben müssen. Dabei war in BranchenBritish Augsburg Airways Schweden Strecke. Das mussten Weber kreisen schon länger gemunkelt worden, Midland Contact Air Großbritannien und seine Mitarbeiter erst dass den Briten finanziell die Luft ausgeht. Cimber Air Dänemark kürzlich bei ihrem französi- „Wir haben so kurzfristig davon erfahren“, schen Partner Regional Air- rechtfertigt sich Teckentrup, „dass wir keiCzech Airlines (CSA) ne Möglichkeit hatten zu reagieren.“ lines erfahren. VLM Tschechien Belgien Der Lufthansa-Aufsteiger will an seinem Die Franzosen verknüpfLuxair Kurs, immer mehr Routen auszulagern, ten für die Lufthansa seit Lauda Air Regional Luxemburg Österreich April die Metropole Ber- trotz solcher Pannen festhalten. In den Air Airlines Adria Rheintalflug lin mit dem elsässischen kommenden Monaten soll allein die Flotte Spanair Frankreich Dolomiti Airways Österreich Straßburg. Doch statt des von „Team Lufthansa“ verdoppelt werden. Spanien Air Littoral Italien Slowenien Frankreich Eines hat der Manager aus dem Deversprochenen größeren Jets setzten die Junior- bonair-Desaster immerhin gelernt. „Die partner auf der Route eine Anforderungen an die Finanzkraft unMaschine mit nur 19 Sit- serer Partner“, gelobt er, „werden überStand: 1. Oktober 1999 prüft.“ zen ein. Dinah Deckstein d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 155 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Medien Trends Filmszene aus „Peacemaker“ (mit George Clooney) ARD 500 Millionen Mark für Filmhandel D ie ARD will die Vormacht von Leo Kirch im Filmhandel brechen. Zum 1. Januar 2000 soll die geplante Firma Telepool International von München und Zürich aus dicke Programmpakete für alle ARD-Sender zentral einkaufen – mit einem mittelfristigen Budget von einer halben Milliarde Mark. Es gehe vor allem um „Mainstream-Produkte“ aus Hollywood, heißt es in ARD-Kreisen. Geplant ist, dass Telepool International überschüssige Ware an Dritte verkauft, etwa anfallende Sponsoring-, Video-, Pay-TV- oder Merchandising-Rechte, und so tüchtig Gewinn macht. Bisher hatten mehrere ARD-Firmen – oft in Konkurrenz zueinander – selbständig Programme erworben. Der eigentlich als Filmzentrale vorgesehenen Degeto war 1984 der letzte Coup gelungen, als sie vom US-Studio MGM über 1300 Filme kaufte, darunter James-Bond-Werke („Dr. No“). Zusehends aber wurde die Firma – etwa beim Ankauf von Filmen wie „Peacemaker“ – im eigenen ARD-Verbund von der Münchner Telepool überholt, an der SWR, MDR und Bayerischer Rundfunk beteiligt sind. Dieses Unternehmen hält an der neuen Telepool International 50 Prozent; daneben geben die privaten Töchter von WDR (25 Prozent) und NDR (20 Prozent) den Ton an. Nach den Planungen, die am 22. November beschlossen werden sollen, übernimmt Telepool International von Köln und Hamburg aus auch den Verkauf aller ARDProgramme ins Ausland. „BILD“-ZEITUNG DEUTSCHE WELLE Weniger Nackte Ü-Wagen als Spielmobil A. BERGLING H albnackte Pin-upGirls wird es auf der Titelseite der BoulevardZeitung „Bild“ nicht mehr geben. In aller Stille befanden Chefredakteur Udo Röbel und Unterhaltungschef Manfred Meier, die Masche mit den freiKessler zügigen Models habe sich überholt. Dabei war Redakteurin Katja Kessler noch zu Jahresanfang als Betexterin der scharfen Fotos („Mi-Ma-Mausesack“) berühmt geworden. Ihr Werk beschloss die „Miezendichterin“ („Die Zeit“), wie gewohnt absurd, am 28. September: Die Beckenreinigungs-Saugpumpe hatte das Bikini-Oberteil einer Badenden verschluckt – und die hatte trotzdem keine Zeit für Bademeister Willi: „Lass ihn stehen, Shanine!“ Kessler soll nun in einer eigenen Kolumne auf der letzten „Bild“-Seite über Prominente tratschen. Und auf Seite eins erscheinen, bei geeigneten News, allenfalls erotische Bilder von Stars wie Verona Feldbusch. W Pin-up-Girl in „Bild“ (Ausriss) d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 ährend Deutsche-Welle-Intendant Dieter Weirich zurzeit Millionen einsparen muss und sich von rund 600 Mitarbeitern trennen soll, zeigt sich sein Fernsehdirektor Wolfgang Krüger von den Sparbeschlüssen der Bundesregierung gänzlich unbeeindruckt. Für ein Fest der katholischen Schulen am 1. Oktober in Berlin entfremdete er kurzerhand einen Ü-Wagen der Deutschen Welle zum Spielmobil für die Kinder. Motto der Veranstaltung: „TV zum Anfassen“. Zwar verkaufte Krüger, dessen Sohn eine der teilnehmenden Schulen besucht, den Ü-Wagen-Einsatz nachträglich als PRAktion, doch deren Sinn erschließt sich im Sender, der deutsches Fernsehen fürs Ausland produziert, niemand. „Der Nutzen für den Sender ist gleich null“, sagt ein leitender Mitarbeiter, die Kosten schätzt er auf nahezu 20 000 Mark. Intendant Weirich will nun die Revision mit der Prüfung beauftragen. Krüger war bereits im vergangenen Jahr aufgefallen, als er die Infrastruktur der Welle für seine Tätigkeit als Pressesprecher der CDU Oberhavel benutzte. 159 Medien Süßes Silvester M it 1500 Mark lassen sich eine Menge sinnvoller Dinge tun: Man kann damit beispielsweise einen Profi bezahlen, der einem die frisch gekaufte Ikea-Küche aufbaut, man kann 30 oder mehr Flaschen Champagner kaufen, kleinere Zahnreparaturen ausführen lassen oder einen Satz edler neuer Winterreifen aufziehen lassen. Man kann sich für 1500 Mark aber auch eine Eintrittskarte für die große Millennium-Silvesterfeier des ZDF in Berlin kaufen – die Frage ist nur, ob das zu den sinnvollen Geldausgaben gehört. Für so viel Geld will man schon was geboten bekommen, da muss das ZDF mindestens Michael Jackson anschleppen – und auf Großbildleinwand dokumentieren, wie Jackson hinter der Bühne den Teletubbies nachstellt. Stattdessen aber bieten die Mainzer nur dieselben Leute auf, die seit Jahrzehnten allabendlich durchs Fernsehprogramm marodieren: Udo Jürgens, Peter Kraus („Sugar Baby – o, o …) und Modern Talking, dazu noch ein paar vergessene Butterfahrtlieblinge wie Graham Bonney oder die Lords – allesamt Oldies, an deren beste Zeiten diese sich nicht einmal selbst erinnern können. Moderiert wird die Kaffeefahrt ins nächste Millennium von Ulla Kock am Brink und Thommy Ohrner. Das ist jener freundliche Mensch, der so aussieht, als sei er nur deshalb beim Fernsehen, weil er für einen anständigen Beruf zu nett ist. Und wie schifft sich die ARD ins Jahr 2000? Mit dem Komödienstadl, was auch nicht gerade nach Gegenwart klingt. Aber wahrscheinlich steckt hinter dieser Programmplanung eine List: Gezeigt wird, was wir im nächsten Jahrtausend bitte nie wieder sehen wollen. Prost Neujahr! 160 „Ruhestörung im Hotel“ Der Dresdner Schauspieler Jan Josef Liefers, 35, der in der TV-Komödie „Jack’s Baby“ (Sonntag, 20.15 Uhr, Sat 1) erstmals Regie führt und einen Rocksänger spielt, über Musik und Gitarren SPIEGEL: Herr Liefers, wann haben Sie angefangen, Musik zu machen? Liefers: In der Schulzeit. Ich hatte Unterricht für Konzertgitarre, wollte aber lieber eine StromGitarre haben, um die Musik spielen zu können, die mir gefiel, BeatlesSongs zum Beispiel. SPIEGEL: Hatten Sie eine Band? Liefers: Nein, ich habe nur mit Freunden zusammen gespielt. Im Osten war es damals nicht so leicht, eine Band zu Liefers gründen. Gerade bei Rockmusik, der eine größere Bedeutung zugeschrieben wurde als Theater oder Film, war die Kontrolle extrem. Man konnte nicht einfach eine E-Gitarre kaufen und auftreten. Heute wünscht man sich zum Geburtstag eine Fender Stratocaster und einen Verstärker und gründet eine Band. SPIEGEL: Haben Sie denn inzwischen eine Fender Stratocaster? Liefers: Ja, eine sehr gute 1954er-Replik. SPIEGEL: Der auf CD erschienene Soundtrack des Kinofilms „Bandits“ war ein Verkaufserfolg. Auch die Songs aus „Jack’s Baby“, die Sie gesungen und mit der Band Fury in the Slaughterhouse komponiert haben, erscheinen auf CD. Wird Musik immer wichtiger, um Filme zu vermarkten? Liefers: Ja, denn Musik ist der direkte Weg in die Herzen. Ich bin vor kurzem als Zugabe bei der Tournee von Fury in the Slaughterhouse aufgetreten und habe den Song „Runaway“ aus „Jack’s Baby“ gesungen. Was einem da von den Zuschauern an Emotionen entgegenschwappt, kann man mit Theater nicht vergleichen. Musiker sind die einzigen Menschen, die ich wirklich beneide. SPIEGEL: Werden Sie eine eigene Platte machen? Liefers: Zumindest möchte ich Songs schreiben und sehen, was ich mit Freunden musikalisch zu Stande bekomme. SPIEGEL: Wann haben Sie Zeit dafür? Liefers: Meine Gitarre und den Verstärker nehme ich fast immer mit. Ich spiele nachts im Hotelzimmer. Die anderen Gäste beschweren sich zwar manchmal wegen der Ruhestörung beim Portier, aber ich kann nicht anders. ACTION PRESS I N T E RV I E W QUOTEN Kaltes Rotlicht H uren, Drogen, Quoten – das Hamburger Rotlichtmilieu garantierte jahrelang hohe Zuschauerzahlen. Sogar die höhnisch verrissene RTL-Komödie „Der Hurenstreik“ erzielte im Februar beispielsweise einen Marktanteil von 16,9 Prozent, 3 Prozentpunkte mehr als der Senderdurchschnitt in dem Monat. Doch inzwischen hat das Publikum offenbar genug von Sex und Sünde in Hamburg. Der hoch gelobte Kinofilm „St. Pauli Nacht“ wurde der Überraschungsflop des Jahres (160 000 Zuschauer). Und die erste der 26 Folgen der neuen Sat-1-Serie „Die Rote Meile“ (Regie: Michel Bielawa) erzielte nur einen Marktanteil von 12,1 Prozent. Das Thema St. Pauli sei „ausgereizt“, erklärt der Regisseur Dieter Wedel, die Reeperbahn habe „keine Wärme mehr, kaum mehr Mythos“. Wedels eigene d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Einschaltquoten von Reeperbahn-Filmen Der König von St. Pauli Erstausstrahlung Januar 1998 Der Hurenstreik Februar 1999 Die Rote Meile 1. Folge vom 1. Oktober 1999 Marktanteile in Prozent 27,9 16,9 12,1 Quelle: Gfk Rotlichtserie, der Sat-1-Sechsteiler „Der König von St. Pauli“ war dagegen im Januar vergangenen Jahres schon mit der ersten Folge auf eine Quote von 28,1 Prozent gekommen. Allein die ARD-Uraltserie „Großstadtrevier“, die im Reeperbahn-Milieu angesiedelt ist, konnte auch in diesem Jahr ihren Marktanteil von rund 16 Prozent behaupten. Fernsehen Vo r s c h a u Einschalten Doppeltes Dreieck Montag, 20.15 Uhr, ZDF Ein rotes Auto stürzt eine Steilküste an der Ostsee hinunter. Schwer verletzt wird Susanne Marquardt (Barbara Rudnik) geborgen. Sie kann sich nur schemenhaft an einige Details erinnern. Hat sie einen Selbstmordversuch unternommen, weil sie an einem inoperablen Hirntumor leidet? Sie selbst glaubt nicht an diese Theorie, schließlich hatte sie ihren Job als Staatsanwältin aufgegeben, um die letzten Monate gemeinsam mit ihrem Mann (Helmut Berger) zu genießen. Verwirrt und trotzdem entschlossen macht sie sich auf die Suche nach der Wahrheit, die, so muss es in einem guten Thriller sein, unangenehmer ist, als sie sich vorstellen kann. Ruhig und, welche Entspannung fürs Auge, ohne jede pompöse Werbeästhetik hat Regisseur Torsten Fischer diesen Krimi inszeniert. Zu Recht verlässt er sich dabei auf die exzellenten Schauspieler, darunter auch Max Tidof als der undurchsichtige Rudnik, Tidof in „Doppeltes Dreieck“ Mann in Schwarz, und auf ein ausgefeiltes, dialogstarkes Drehbuch (Johannes W. Betz). tag der Pilotfilm (100 Minuten), Donnerstag die Folge 2 (50 Minuten). Siehe Seite 172. Klemperer – Ein Leben in Deutschland Die Buchmesse Dienstag, Donnerstag, 20.15 Uhr, ARD Donnerstag, 23.45 Uhr, ARD; Freitag, 22.00 Uhr, Hessen Zwölf Filme nach den Tagebuchaufzeichnungen des Dresdner RomanistikProfessors Victor Klemperer über seine Qualen während der NS-Zeit – mit den überragenden Darstellern Matthias Habich und Dagmar Manzel. Am Diens- Die 51. Buchmesse in Frankfurt hat den Schwerpunkt Ungarn, trotzdem werden alle über Günter Grass sprechen. In der „Großen Buchnacht“ des Hessischen Rundfunks am Freitag redet der designierte Nobelpreisträger live mit. Ausschalten Die Singlefalle – Liebesspiele bis zum Tod end lächerliche Inszenierung von Männerphantasien, für die junge Schauspieler-Models ihre makellosen Gesichter und Körper hinhalten müssen. Mittwoch, 20.15 Uhr, RTL Beim Wettbewerb um den schlechtesten Film des Jahres gehört dieser „Erotik-Thriller“, wie der Sender das Machwerk nennt, zu den Favoriten. Superreiche, superschlanke, superblonde Frauen suchen bei der Agentur „Good Company“ passende Lebenspartner, werden aber dann beim Sex ermordet – ein echtes Imageproblem für das Unternehmen. Die Agentur wird geleitet von der herrischen lesbischen (nomen est omen) Emma, ihrer verstörten bisexuellen Tochter Julia und der tückischen lesbischen Helena, und natürlich sind auch die supererfolgreichen Kundinnen heimlich lesbisch. Den Fall lösen soll die schöne, blonde Kommissarin Katherin, die ihr Büro in einem Schwimmbad hat, und die, was für ein glücklicher Zufall, auch bisexuell ist und sich auf lesbische Liebesspiele mit der Hauptverdächtigen einlässt. Abends geht es dann in den lesbischen Geheimclub, wo wenig bekleidete Lackleder-Frauen sich offensiv lustvoll aneinander betätigen. Vermutlich hat bei RTL ein Verantwortlicher Ein Mann wie eine Waffe Freitag, 20.15 Uhr, Pro Sieben Doreen Jacobi in „Die Singlefalle“ die Devise ausgegeben, Frauenfilme zu produzieren, weil Frauen doch die neue Zielgruppe sind. Daraufhin hat sich ein Mann das Drehbuch ausgedacht, ein Mann hat es in der Redaktion betreut, ein Mann hat den Film produziert, und ein Mann hat Regie geführt. Herausgekommen ist eine schreid e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Klaus Löwitsch spielt den Kriminalpsychologen David Bornett. Eine Kostprobe seines Scharfsinns gibt dieser, als er in der Eingangsszene vor Publikum ein totes Schwein zermetzeln lässt und im Auditorium einen Frauenmörder entlarvt. Eigentlich könnte der Film da zu Ende sein, und das wäre auch für alle Seiten das Beste gewesen, aber dann beginnt eine Serie von Frauenmorden, die, zu Bornetts Leidwesen, stümperhaft ausgeführt werden. Keine in die Haut geritzten Runen, keine zu Buchstaben gelegten Eingeweide, nur ein Kugelschreiber im Ohr. Schade. Tatverdächtig sind Bornett und seine Kollegen, deren Defekte, typisch, von der multiplen Persönlichkeit bis zum frühkindlichen Trauma reichen. Übrigens: Eine Studie über deutsche Serienkiller (SPIEGEL 40/1999) ergab, dass diese oft aus Habgier töten und insgesamt das Gegenteil dessen sind, wonach Bornett jagt. 161 Medien T V- K O N Z E R N E Alles unter einem Dach Der Medienunternehmer Leo Kirch ordnet sein Imperium: Der Sender Pro Sieben wird eingegliedert und arbeitet künftig eng mit dem bisherigen Konkurrenten Sat 1 zusammen. Der neue Verbund ist der mächtigste Fernsehkonzern des Landes. 162 d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 S. BRAUER E inmal im Jahr ist der Unternehmersohn Thomas Kirch, 42, öffentlich zu sehen. Dann präsidiert der schlaksige Münchner auf der Hauptversammlung seiner Pro Sieben Media AG im Kreis der Aufsichtsräte. Unaufhörlich mahlt er mit dem Kiefer, kommentiert halblaut den Vortrag des Vorstands, lächelt kurz süßsauer auf, als ein Aktionär über den schwächelnden Börsenkurs klagt und dabei kritisch anmerkt, sein Vater Leo Kirch, 72, mache die besten Geschäfte offenbar lieber mit einem anderen Münchner Unternehmen, dem Börsenliebling EM-TV. Nach Schluss der Veranstaltung flüchtet der zurückhaltende Betriebswirtschaftler und TechnikFreak schnell aus dem Saal. Künftig kann der scheue Unternehmer, der ohnehin bei vielen Experten als Strohmann seines Vaters gilt, die Öffentlichkeit wieder meiden: Leo Kirch übernimmt die Anteile seines Sohnes an Pro Sieben (58,4 Prozent) und gliedert den Sen- TV-Unternehmer Leo und Thomas Kirch: „Es wächst zusammen, was zusammengehört“ der in sein Medienimperium ein. „Es wächst zusammen, was zusammen- jeder Vierte schaut Kirch. 3,85 Milliarden Anfang Oktober gestartete Nachfolgeprogehört“, kommentiert ein Spitzenmanager Mark, fast die Hälfte aller Werbegelder, gramm Premiere World reichlich TV-Abondie Fusion, die Leo Kirch mit einem Schlag flossen 1998 seinen Sendern zu. Und nach nenten und Gewinn bringen, zunächst je– nun für alle sichtbar – zum Marktführer der Pro-Sieben-Übernahme beträgt der doch muss weiter investiert werden. Zu allem Unglück platzte eine geplante im deutschen TV-Gewerbe macht. Der Ju- konsolidierte Umsatz der Kirch-Gruppe nior erhält als Ausgleich einen Anteil an ei- über 10 Milliarden Mark jährlich, sie steigt Anleihe auf dem internationalen Kapitalner Dachgesellschaft des Konzerns und damit in die Riege der weltweit 15 größten markt in Höhe von zwei Milliarden Mark, Medienkonzerne auf. Kirch hätte hohe Zinsen von 15 Prozent für wirkt dort seit kurzem als Aufsichtsrat. „Vor dem Hintergrund eines sich konso- das riskante Pay-TV-Projekt bezahlen müsDie Verschmelzung der offiziell bisher strikt getrennten Firmenreiche bringt dem lidierenden TV-Markts“, sagt der Kirch- sen. Nun sorgen das Investmenthaus MorSenior einen erheblichen Machtzuwachs. Stellvertreter Dieter Hahn, 38, „wollen wir gan Stanley Dean Witter und, so Manager Künftig steuern Leo Kirch und sein Ma- zum Wohl der Gesellschafter und Aktionä- Hahn, ein Konsortium unter Führung der nagement gleich sechs Sender zentral: re enger zusammenrücken.“ Das steigere Bayerischen Landesbank mit je 1,5 MilDie frei empfangbaren Sat 1, Pro Sieben, die Erträge aller betroffenen Sender enorm. liarden Mark für die Zwischenfinanzierung. Den eindrucksvollen Zahlen und PerIn dieser Situation kann Kirch gute Kabel 1, Deutsches Sport-Fernsehen und N 24, einen für Januar 2000 geplanten spektiven stehen freilich ein paar Proble- Nachrichten gut gebrauchen – sie kommen Nachrichtenkanal, sowie den Pay-TV- me gegenüber. Die Bankschulden des aus dem werbefinanzierten Fernsehen und Kirch-Imperiums belaufen sich schät- der eigenen Dynastie. Monopolisten Premiere World. Über die Familienzusammenführung à la Damit ist fast alles unter einem Dach, zungsweise auf rund sechs Milliarden was das Leben von TV-Junkies angenehm Mark, bedingt durch teure Programm- Kirch ist das Bundeskartellamt seit dem macht: Talkshows mit Arabella und Sonja, einkäufe in Hollywood und kostspielige 24. September informiert. Die Münchner fragten bei der Berliner Behörde an, ob die Fußball-Bundesliga („ran“), die erfolg- Investitionen in das digitale Pay-TV. Das Bezahlfernsehen rund um Premiere Bedenken gegen eine Eingliederung der reichsten Comedy-Serien („Die Wochenshow“ und „TV Total“), dazu reichlich und DF 1 erwies sich in der Vergangenheit Pro Sieben Media AG in die Kirch-Gruppe Nachrichten und Hollywood-Filme. Nie- als größte Geldvernichtungsmaschine der bestünden. Die Antwort, die Ende verganmand erreicht in Deutschland mehr Leute, deutschen Fernsehgeschichte. Jetzt soll das gener Woche einging: nein, es sei ja eine Kirch-Sendung „Die Harald Schmidt Show“: Aufstieg in die Eliteliga der weltweit größten Medienunternehmen konzerninterne Transaktion und damit kein anmeldepflichtiger Zusammenschluss. Medienrechtlich durfte ein Unternehmen in Deutschland ursprünglich, bis 1996, nur an einem TV-Sender die Mehrheit halten. Und so kam es, dass Thomas und nicht Leo Kirch sich an Pro Sieben beteiligte. Dass er der wirkliche Eigentümer und der Sohn nur vorgeschoben sei, hat Kirch senior immer vehement bestritten. Das Gegenteil war nie zu beweisen, dennoch rechnen die Wettbewerbshüter und die Medienwächter bei ihren Analysen und Entscheidungen die Unternehmen von Vater und Sohn seit einiger Zeit zusammen und behandeln den bayerischen Bund als „Gleichordnungskonzern“. Fernseh-Spiel Eine 1997 gegründete spezielle Kartellkommission der Bundesländer zur Beurteilung der Medienkonzentration sah Thomas und Leo Kirch von Anfang an als Einheit und genehmigte dennoch alle Anträge auf Anteilsverschiebungen und Neugründungen. Grund: Der Marktanteil liegt zusammengenommen bei rund 27 Prozent, inzwischen aber hat der Gesetzgeber die Höchstgrenze auf großzügige 30 Prozent festgelegt. Nach dem Okay der Kontrolleure wird KirchMedia schon bald komplett den Mehrheitsanteil von Thomas Kirch an den allein stimmberechtigten Stammaktien der Pro Sieben Media AG (Firmenwert: 2,8 Milliarden Mark) übernehmen. Mit dem Paket von 58,4 Prozent lässt sich das ganze Un- TV-Aktivitäten der Kirch-Familie TEILHABER 83,4% neu Leo Kirch 8,0% Thomas Kirch 2,9% Prinz Walid 2,9% Silvio Berlusconi 2,9% Lehman Brothers FERNSEH-BETEILIGUNGEN 33,0% HOT 40,0% TV München 100% TV Berlin neu * mit Berlusconi, ** Anteil an den allein stimmberechtigten Stammaktien KIRCH PAY-TV 95,0% Premiere World 40,0% Teleclub, Zürich FERNSEH-BETEILIGUNGEN 59,0 % Sat 1* 58,4% Pro Sieben Media AG** Pro Sieben, Kabel 1, N 24 100% Deutsches Sport-Fernsehen 39,5% Telecinco, Madrid 1,3% Mediaset, Mailand Italia 1, Rete 4, Canale 5 d e r s p i e g e l P R O SIEBEN 4 1 / 1 9 9 9 ACTION PRESS ternehmen kontrollieren. Als Ausgleich bekommt der scheidende Eigentümer Thomas Kirch, im Zuge einer Kapitalerhöhung, einen Anteil von rund 8 Prozent an KirchMedia. In dieser Holdinggesellschaft bündelt Leo Kirch sein Lizenzhandelsgeschäft für Sportund Filmrechte, die Produktionen für Film und Fernsehen sowie die Anteile an den Free-TV-Sendern. Künftig ist der Sohn nach dem Vater zweitgrößter Gesellschafter. Noch im Oktober soll der Anteils-Transfer abgeschlossen sein. Dann beginnt bis zum Jahresende die Detailarbeit. Überall sehen die Kirch-Manager Einsparpotenziale und Größenvorteile: π So können künftig Produktionen nach der Erstausstrahlung zwischen Sat 1, Pro Sieben und Kabel 1 besser getauscht und weiterverwertet werden. Bislang funktionierte das Wechselsystem nur vereinzelt, etwa beim Sat-1-Klassiker „Glücksrad“, das sich jetzt bei Kabel 1 dreht. π Im Filmhandel bietet Pro Sieben künftig nicht mehr separat um Ware, das macht alles Taurus, die Stammfirma Kirchs. Die gestiegene Einkaufsmacht soll die Preise für Filmlizenzen niedrig halten. π In der Vermarktung werden die Programme der Kirch-Sender den Werbekunden harmonisch zum Buchen von Spots angeboten: Pro Sieben als flotter Serien- und Filmkanal für Teens und Twens, Sat 1 als Familiensender für die 29- bis 49-Jährigen, Kabel 1 als Film- und Showspezialist für Zuschauer ab 40. Ein Plan sieht vor, dass die Vermarktungsorganisationen Media 1 (Sat 1) und 163 Medien KRUG / CAT / ACTION PRESS Stratege, „das ist der Ankerplatz fürs Publikum.“ Der Start von N 24 wird wohl die letzte Tat von Pro-Sieben-Vorstandschef Georg Kofler, 42. In dem Sender wollte er „eine neue Journalistengeneration für das audiovisuelle Zeitalter heranziehen“, für ein „gesellschaftlich erwünschtes Programm, wo garantiert nicht Kirch drin ist“. Der Südtiroler, ehemals Büroleiter bei Leo Kirch, hatte den Sender Pro Sieben Anfang 1989 als Kleingesellschafter TV-Chefs Kogel, Kofler*: Wechselsystem für Programme und Geschäftsführer geMediaGruppe München (Pro Sieben) fu- startet und ihn mit Top-Filmen zur Marke sionieren – für Werbe-Auftraggeber eine gemacht. Jahrelang setzte er auf UnabHorrorvorstellung. Ein „privatwirtschaft- hängigkeit und bestellte etwa beim Kirchliches Duopol“ aus je einem Vermarkter Rivalen Bertelsmann die teure, aber quofür das Bertelsmann-RTL-Fernsehen sowie tenarme Daily Soap „Mallorca“: „Jeder für Kirch könne „nicht in unserem Inter- Sender“, doziert der Ex-Skilehrer, „muss esse sein“, sagt Wolf Lange, Mediamanager abends seinen eigenen Slalom fahren.“ Öffentlich erklärte Kofler gern, zwischen bei Unilever. Und Nestlé-Chef Hans GülThomas und Leo Kirch gebe es höchstens denberg fürchtet ein „Preisdiktat“. Entschieden ist freilich noch nichts. „Es „chromosomentechnische Verbindungen“ gibt keine konkreten Vorgaben“, sagt – auch wenn Kirch senior seit der AnKirch-Mann Hahn, „die Chefs der betei- fangszeit der größte Filmlieferant der ligten Sender sollen sich Gedanken über Gruppe und Vermieter der Pro-Sieben-Firdie beste Struktur machen und diese den mengebäude im Münchner Norden war. Zeitweise wurde KofGesellschaftern vorschlagen.“ Es winken etliche Rationalisierungsef- ler sogar als Kirchs Kron- IP Deutschland fekte, glauben die Kirch-Planer. Vom Pres- prinz gehandelt: Er hatte RTL, RTL 2, Super RTL sesprecher bis zur Finanzbuchhaltung – mit dem geglückten Bör- Gesamtvieles existiert derzeit doppelt im Fa- sengang von Pro Sieben umsatz 2881 in milienbetrieb Kirch. Vieles wird es künftig im Juli 1997 über eine Millionen Milliarde Mark in die nur noch einmal geben. Mark 1998 Zum zentralen Nachrichtenlieferanten chronisch leere Familienbeispielsweise steigt der neue Kanal N 24 kasse gespielt. Markt- 36,2 Doch die dominierenauf, dem die Agentur ADN/ddp gehört. anteil Über diese Infrastruktur sollen alle Kirch- de Rolle bei Kirch über- in Prozent erstes Sender versorgt werden. „Wir brauchen nahm zusehends der ro- Halbjahr mehr News-Kompetenz“, sagt ein Kirch- buste Manager Hahn, 1999 dessen Bruder Wolfgang zugleich im Filmeinkauf * Mit Entertainer Thomas Gottschalk (l.) bei der Verleiin Los Angeles eine weihung der „Goldenen Kamera“ am 9. Februar in Berlin. tere Machtposition besetzte. So musste Kofler mit dem Plan scheitern, bei Sat 1 einzusteigen und in Eigenregie einen großen Senderverbund zu konstruieren. Zeitgleich mit dem Beschluss von Leo und Thomas Kirch, ihre TV-Aktivitäten bei KirchMedia zu bündeln, entschloss sich Kofler schließlich im Mai für einen Abgang in Ehren. Als Wochen später erste Gerüchte über seine Entmachtung durchsickerten, sah er sich gemobbt – und wetterte gegen „Heckenschützen“ bei Kirch. In wenigen Wochen wird er durch den ruhigen Schweizer Urs Rohner, 39, ersetzt, einen erfahrenen Juristen, der auf Firmenzusammenschlüsse spezialisiert ist. Der Fusion von Pro Sieben und Sat 1 sollen weitere Bereinigungen folgen. Das Ziel: Ein starker Kirch-Konzern, der von der Produktion von Filmen bis zum Abspielen in eigenen Kanälen alle TVAktivitäten vereinigt. Und der für Investoren und Aktionäre transparent ist: Spätestens im Jahr 2001 soll die Holding KirchMedia an die Börse gehen und mehrere Milliarden Mark erlösen. Kirch habe im TV-Markt stets als erster „wichtige einzelne Puzzlestücke“ entdeckt, sagt sein Stellvertreter Hahn, „und nun sieht man besser als früher das Gesamtbild“. Banken gegenüber nannten Kirch-Manager bereits eine Summe für den neuen Gesamtwert des Konzerns: mehr als 25 Milliarden Mark. Hans-Jürgen Jakobs Kirch-Familie MGM Media 1 Pro Sieben, Kabel 1, Bloomberg TV, H.O.T. Sat 1, TV.B (Berlin), tv-m (München), RNF plus, B.TV (ab 2000) 1935 Vermarkter von TV-Werbung in Deutschland 1850* Fusion 26,2 Geballte Werbemacht 22,6 *geschätzt ARD S&S ZDF Das Erste, Hamburg 1, B.TV (bis 1999) 3,8 380* 3,2 312 R. FROMMANN / LAIF Chefredakteur Gowers: „Leser haben noch Wichtigeres zu tun, als Zeitung zu lesen“ PRESSE Rosa Mission Die „Financial Times Deutschland“ will den deutschen Zeitungsmarkt aufmischen. Unter großer Geheimhaltung hat in Hamburg die Endphase der Vorbereitungen begonnen. D a liegt er, der streng geheime Masterplan. Unscheinbar und rosa, neben Zuckerkrümeln und Kaffeetassen auf dem Rauchglastisch des Chefredakteurs. Was würden die Jungs vom Düsseldorfer „Handelsblatt“ nicht alles dafür geben, um an dieses Dokument heranzukommen. Gierig könnten sie sich dann auf das „Stilbuch“ stürzen und die Blaupause der Konkurrenz Blatt für Blatt inhalieren. Auf Seite 59 würden sie alles über die „Sieben Sünden des Satzbaus“ erfahren, auf Seite 64 brisante Details über „Schwabbelfett und Stilschludereien“ und auf Seite 71, dass sich „unsere Zeitung im Lauftext Financial Times Deutschland oder FTD“ nennt. Doch dazu wird es nicht kommen. Andrew Gowers, 41, der englische Chefredakteur der neuen bundesweiten Tages- zeitung, hat vorgesorgt. Das „Stilbuch“ darf nur von Mitarbeitern ausgeliehen werden – für kurze Zeit und gegen Unterschrift. Die Redakteure sind streng ermahnt worden. Wenn „unsere Coca-ColaFormel“ dem „Handelsblatt“ in die Hände fällt, so die Botschaft, dann ist „alles aus“. Denn dann wüsste die Konkurrenz aus Düsseldorf alles über das Konzept der neuen Zeitung, die der Hamburger Großverlag Gruner + Jahr (G+J) zusammen mit dem britischen Medienkonzern Pearson Anfang nächsten Jahres auf den Markt bringen will. Seit Gründung der links-alternativen „taz“ vor zwei Jahrzehnten hat sich niemand mehr getraut, in Deutschland eine bundesweite Tageszeitung neu einzuführen – erst recht nicht ein Wirtschaftsblatt, das gegen die starke Konkurrenz von „Handelsblatt“ und „Frankfurter Allge- meine“ bestehen muss. Doch der Boom der Wirtschaftspresse hat Engländer und Deutsche mutig gemacht – wenn sie auch inzwischen fast „erschrocken sind ob der Monstrosität dieser Aufgabe“, wie ein G+J-Insider berichtet. Die Idee für das ehrgeizige Projekt hatten Pearson-Vorstand David Bell und G+JChef Gerd Schulte-Hillen am Morgen des 4. Oktober 1997 beim gemeinsamen Frühstück im Hotel Nafsika in Vouliagmeni bei Athen eher beiläufig entwickelt. Der Brite hatte sich bei Schulte-Hillen beklagt, er habe keinen deutschen Verlag finden können, der mit ihm eine deutsche Ausgabe der „Financial Times“ herausbringen wolle. Der Deutsche zeigte sich interessiert. Anfang 1998 schlug Schulte-Hillen seinem Zeitungsvorstand Bernd Kundrun vor: „Lass uns mit den Pearsons reden.“ Die beiden flogen nach London und waren sich mit Pearson-Chefin Marjorie Scardino im Grundsatz schnell einig. Während Teams beider Seiten erste Konzepte entwickelten, entwarfen die Juristen die Verträge für ein Joint Venture, an dem beide Partner gleich große Anteile halten. Fast 200 Millionen Mark wolle man in das Projekt investieren, heißt es offiziell in der Hamburger Konzernzentrale. Doch intern werden sehr viel höhere Zahlen genannt: Von bis zu 300 Millionen ist die Rede und einem geplanten Erscheinungstermin in der dritten Januarwoche. In einer Hausmitteilung an die „lieben Kolleginnen und Kollegen“ schreibt Gowers: „Unser Ziel war es schon immer, so früh wie möglich im ersten Quartal 2000 zu erscheinen.“ Bis dahin herrscht strengste Geheimhaltung. Noch nicht einmal der Name der Zeitung sollte der Konkurrenz bekannt werden. Per E-Mail wurden die Mitarbeiter angewiesen, sich gegenüber Fremden als Angehörige der „deutschen Financial Times“ zu melden – „deutsch mit kleinem d“. Und ein Handzettel der Öffentlichkeitsarbeit gab einen „Überblick über den gegenwärtigen Stand der Kommunikation“ („Was über uns in der Presse stand / Was wir sagen“). Offizielle Sprachregelung: „Fi- DPA Medien Gruner + Jahr-Zentrale in Hamburg: „Die Führung wird nervös“ 166 d e r Sein Blatt (rosa Titelschriftzug auf dunkelblauem Grund) ist wie das englische Vorbild auf rosa Papier gedruckt – nur in dem kleinen Format der meisten deutschen Regionalzeitungen. Gowers will „Mehrwert durch Standpunkt und Selektion“ bieten. Die „FTD“ müsse zum „Navigationsmedium durch die Infoflut“ werden. In einer Rede vor den Mitarbeitern gab Gowers die Parole aus: „Lieber Leser, Sie haben noch Wichtigeres zu tun, als Zeitung zu lesen.“ Der Chefredakteur hat den Ehrgeiz, den Lesern eine völlig neue Art des Tageszeitungsjournalismus zu bieten – nach angelsächsischem Vorbild. Das Blatt müsse einen klaren Standpunkt beziehen und „Organisationen als Bündel menschlicher Interessen“ begreifen. T. MEYER / ACTION PRESS nancial Times wird Bestandteil des Namens sein.“ Erst vor wenigen Tagen hat Gowers das Theater beendet: In einem Interview mit dem Branchenblatt „Werben & Verkaufen“ verkündete er, was ohnehin schon jeder wusste: Die beiden Gesellschafter hätten sich auf den Namen „Financial Times Deutschland“ („FTD“) geeinigt. Anfang Oktober durften die meisten Redakteure zum ersten Mal bei einer Tagung im „Salon on Top“ im teuren Hamburger Inter-Conti-Hotel einen Blick auf die ersten Testexemplare („Dummies“) werfen, von denen 500 Stück unter strengen Sicherheitsvorkehrungen in der Berliner G+JDruckerei hergestellt worden waren. Kaum einer war zufrieden. „Sehr viel ordentliches Handwerk“, beschreibt einer der Anwesenden den allgemeinen Eindruck, „aber noch weit von dem eigentlichen Anspruch entfernt.“ Nach einer Stunde wurden die durchnummerierten Dummies (aufgedruckter Verkaufspreis: zwei Mark) wieder eingesammelt. Doch Gowers macht sich und seinen Leuten Mut. „Wir haben noch reichlich zu tun und bleiben für alle Anregungen offen“, so der Chefredakteur in einem Brief an seine Mitarbeiter, aber: „Besser konnte das Marktforschungsergebnis nicht ausfallen: Es bestätigt, dass die Leser großen Bedarf an unserem Produkt haben.“ Der Engländer arbeitet bereits seit Oktober vergangenen Jahres an dem Blatt. 15 Monate lang führte er in London die Geschäfte der angesehenen „Financial Times“, während sich sein Chefredakteur in New York um die US-Expansion des Blattes kümmerte. Doch als der zurückkam, musste für Gowers ein neuer Job gesucht werden. Der fließend deutsch sprechende Journalist, der seine Karriere 1980 bei der Nachrichtenagentur Reuters begann, wurde zum Gründungschefredakteur des deutsch-englischen Projekts berufen. G+J-Manager Kundrun, Schulte-Hillen „Lass uns mit den Pearsons reden“ In einem „Mission Statement“ für das geheime „Stilbuch“ der „FTD“ kritisiert Gowers die gängige Berichterstattung: „Bisher wurde Wirtschaft in der deutschen Presse häufig behandelt, als interessiere sich nur ein kleiner Zirkel von Insidern wirklich dafür.“ Und: „Der Markt ist reif für neue Wettbewerber und Ideen.“ Fraglich ist, ob Gowers den hohen Anspruch mit seiner Mannschaft erfüllen kann. Etliche seiner Redakteure hat er ge- s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite BULLS PRESS 168 d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 T. HUMPHRIES / FINANCIAL TIMES nau bei den Medien abgeworben, die er selbst kritisiert. 15 der neuen Mitarbeiter sollen in einem zweiwöchigen Crash-Kurs an der Gruner + Jahr-Journalistenschule die Grundregeln des Handwerks lernen – oder noch einmal auffrischen. Der Rest hat sich bereits in „Traditionalisten“ und „Modernisierer“ aufgeteilt, die – zunächst noch freundlich – über die künftige Richtung des Blattes streiten. Bisher liegen die Traditionalisten vorne. Die geplante Sportseite wurde ihnen bereits geopfert. Auch Kultur wird nach dem jetzigen Stand allenfalls noch rudimentär vorkommen – auf der letzten Seite („Agenda“), einer Mischung aus Lifestyle, Kunst und neuen Produkten und in der Wochenendbeilage, die jeden Freitag erscheinen wird. „Man merkt schon, dass „FT“-Redaktion in London die Führung zunehmend nerVorschlag beim Frühstück vös wird“, sagt ein Redakteur, „ein Teil davon ist norschaftswoche“ fünf Redakteumale Nervosität, ein anderer re abgeworben. Die VerlagsTeil aber extra Nervosität.“ gruppe „Handelsblatt“ plant Kurz vor dem Start wolle ein ähnliches Magazin („New man sich offenbar auf keine York, New York“), und auch Experimente mehr einlassen Pearson-Chefin Scardino der Hamburger Milchstraßenund gehe lieber auf Nummer verlag will demnächst ein 14Sicher, bedauert er, der sich selbst den täglich erscheinendes Internet-Wirtschafts„Modernisten“ zurechnet. magazin („Net Business“) herausgeben. Gowers residiert mit seiner Redaktion In seiner Not soll G+J-Zeitschriftenvornicht im G+J-Gebäude, sondern nebenan stand Rolf Wickmann bereits etlichen Rein zwei schmucklosen Büroetagen am dakteuren seines Anlegermagazins „Börse Hamburger Hafen. „Wir schreiben für die Online“ Gehaltszuschläge versprochen haElite“, lästert ein Mitarbeiter, „aber wir ben – wenn sie sich auf eine verlängerte sitzen auf Möbeln von Randständigen.“ Kündigungsfrist einließen. Offiziell demenNoch sind die Großraumbüros mit den tiert der Hamburger Verlag den Vorgang. hellgrauen Kunststoffschreibtischen weitGowers wird es mit seinem Blatt nicht gehend verwaist. Die meisten der bisher leicht haben, wenn er Anfang des Jahres etwa 80 Redakteure haben erst Anfang Ok- auf den Markt kommt. Der Düsseldorfer tober ihren neuen Job angetreten und müs- Mediaplaner Thomas Koch hat für einen sen zahlreiche Schulungen über sich er- Kunden zwar bereits „blind“ eine Anzeigehen lassen, bevor Mitte November die ge in der ersten Ausgabe der „FTD“ resertägliche Testproduktion aufgenommen viert, aber dann will er „erst einmal abwerden soll. Weitere 30 Redakteure werden warten“ und sehen, ob die neue Zeitung in in den nächsten Wochen dazustoßen. der zweiten Woche eine Auflage von 75 000 Monatelang hatte Gowers mit Hilfe der Exemplaren schafft: „Erst dann sind wir Personalberatungsfirma Russell Reynolds gezwungen, den Erfolg ernst zu nehmen.“ Journalisten bei der Konkurrenz abgeworDoch das „Handelsblatt“, der Angstben. Nur einen Stellvertreter fand er nicht. gegner aus Düsseldorf, wird bereits im OkInzwischen hat er die Suche aufgegeben. tober in die Offensive gehen. In dieser WoDie Offensive des bulligen Engländers hin- che wird der Verlag einen so genannten terließ ihre Spuren. Kaum ein Verlag kam Relaunch bekannt geben. Mit einer neuen ohne kräftige Gehaltserhöhungen aus, um optischen und inhaltlichen Aufmachung die heftig umworbenen Wirtschaftsredak- und einer größeren Mannschaft will er der teure zu halten. rosa Offensive begegnen. „Forget it“, sagt der Engländer, „inzwiBereits vor Monaten trafen sich die Spitschen hätten Sie keine Chance mehr, ein zen von Verlag und Redaktion auf einer solches Team zusammenzubekommen.“ Hel- zweitägigen Klausurtagung zum Planspiel. mut Markwort, Chefredakteur des Münch- In gemischten Teams versetzte man sich in ner „Focus“, hat angekündigt,Anfang nächs- die Rolle des Angreifers aus Hamburg. Das ten Jahres ein neues Anlegermagazin (Ar- Spiel ging unentschieden aus. Keiner beitstitel: „Zett“) auf den Markt zu bringen, konnte den anderen vom Markt verdränund allein bei der Düsseldorfer „Wirt- gen. Konstantin von Hammerstein Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Medien FERNSEHFILM Die Geschichte wahrer Treue ARD Die Tagebücher des jüdischen Professors Victor Klemperer über seine Verfolgung durch die Nazis hat die ARD überzeugend in die Sprache des modernen Fernsehens übersetzt. TV-Darsteller Manzel, Habich als Ehepaar Klemperer: „Märchenhafte Grässlichkeit“ 172 AUFBAU VERLAG D ie Barbaren fühlten sich sicher: Bei einer Hausdurchsuchung schlug ein Brutalo der Gestapo dem Mann mit dem gelben Stern Alfred Rosenbergs NS-Propaganda-Bibel „Der Mythus des 20. Jahrhunderts“ auf den Schädel: Keine Lektüre für einen minderwertigen Juden, hieß das – die Herrenrasse diskutiert nicht. Hitlers Knechte wähnten sich in heroischen Zeiten, kaum etwas erschien ihnen verachtenswerter als ein jüdischer Professor, ein Philologe zumal, ein Textausleger und Bücherwurm. Doch es war Victor Klemperer, dieser knorrige Mann mit der Brille und dem steifen Habit eines deutschen Gelehrten, der unter Lebensgefahr ihre Untaten aufschrieb. Am Anfang war das Wort, am Ende siegte das Wort. Ein später, aber ein totaler Triumph. 1995 erschienen Klemperers mehr als 1500 Seiten starke Tagebuchaufzeichnungen über die Zeit von 1933 bis 1945 und wurden gefeiert. Unbestechlich und unerbittlich, auch gegen die eigenen Schwächen, hatte hier ein scharfer Beobachter das Schuldbuch der Deutschen geführt. „Ich kenne keine Mitteilungsart, die uns die Wirklichkeit der NS-Diktatur fassbarer machen kann, als es die Prosa Klemperers tut“, schrieb Martin Walser im Eva und Victor Klemperer (um 1940) „Irgendwo mit Engelsflügeln“ SPIEGEL. Und reservierte die Tagebücher als unveräußerlichen Besitz der Literatur: „Es ist zwar kein Trost, aber eine Art Ermutigung, dass das Medium, in dem dieses Zeugnis erscheinen kann, die Sprache ist.“ Nun bemächtigt sich das Fernsehen der einzigartigen historischen Quelle. Von dieser Woche an – bis in den November – sendet die ARD unter dem Titel „Klemperer – Ein Leben in Deutschland“ an zwei Tagen pro Woche zwölf Filme, die von der d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Erniedrigung, den Qualen und der ans Wunderbare grenzenden Rettung des Dresdner Romanisten und seiner nichtjüdischen Frau Eva erzählen*. Die TV-Unternehmung erscheint auf den ersten Blick riskant: Der Ausstrahlungstermin zur besten Sendezeit bedeutet, dass dort keine hoch artifizielle Darbietung für Eingeweihte veranstaltet werden kann, sondern ein Massenpublikum gewonnen werden muss. Und schon schrillen die Alarmglocken, der Verdacht der Trivialisierung meldet sich, die Furcht, die Klemperer-Filme könnten die tränendrüsenbewusste Gefühligkeit der „Holocaust“-Serie bloß wiederholen, die Ende der siebziger Jahre immerhin eine gewisse Berechtigung hatte, weil sie das Thema der Judenverfolgung dem engen Kreis der intellektuellen Vergangenheitsbewältiger entriss. Um es gleich zu sagen: Die Furcht ist unberechtigt. Die zwölf Klemperer-Filme gehören zu den Sternstunden des Fernsehens – ebenbürtig mit der Erwin-Strittmatter-Verfilmung „Der Laden“ oder Edgar Reitz’ erster „Heimat“. Drehbuchautor Peter Steinbach, 60, mit einer langen Liste hervorragender Produktionen ein ausgewiesener Kenner der Gesetze erzählenden Fernsehens, beging nicht den Fehler, die Tagebücher mit antiquarischer Akribie zu bebildern. Er hat den genialen Beobachter Klemperer seinerseits beobachtet und dies mit den Augen des TV-Mediums. Diese Augen sehen anders als die Wahrnehmung eines Tagebuchschreibers, manches weniger deutlich, manches aber auch genauer. Die Dauerreflexion des Gelehrten, seine immer wieder eingestreuten Aperçus über den Irrsinn der NS-Sprache („Lingua Tertii Imperii“), vor allem aber Klemperers innere und den heutigen Leser anrührenden Kämpfe um sein geliebtes Deutschtum, das ihm von Jugend an mehr gilt als seine jüdische Abstammung und an dem er mit zunehmender Verfolgung verzweifelt – dies kann Fernsehen höchstens andeuten. An die literarische Form gebunden bleiben muss auch der jähe, innerhalb nur weniger Sätze erfolgende Wechsel zwischen Angst und Galgenhumor, äußerer Drangsal und innerer Gedankenarbeit, Liebesbekenntnissen Eva gegenüber und egozentrisch wirkenden Auslassungen eines Mannes, der sich, das Opfer, nie zum Helden stilisiert. So gibt es Eintragungen zu lesen wie die vom 18. März 1945, schlechterdings unverfilmbar in ihrer Ambivalenz zwischen Verzweiflung und Ironie: Die Klemperers sind durch die Bombardierung Dresdens fürs Erste den Häschern der Gestapo entronnen, aber noch nicht in Sicherheit. Victor schreibt: „Wenn ich diese Flücht* Dienstag und Donnerstag, 20.15 Uhr. Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Medien hentlich und zugleich zuversichtlich, heften sich seine Augen, wie die eines Kindes, hinter der Gelehrtenbrille auf Eva, die „Arierin“, die ihn nach den Bestimmungen der Nazis vor dem Abtransport ins KZ bewahrt. Selbstbewusst hat Autor Steinbach nicht nur Seitensprünge für Eva und Victor – er begegnet einer ehemaligen Studentin (Lisa Martinek) während der Olympischen Spiele in Berlin – erfunden. Der Autor komponierte auch die Geschichte einer Liebe hinein, die – wie ein Kontrapunkt zur Klemperer-Ehe – von den Zeitläufen zerstört wird: Es geht um das jüdische Mädchen Lore Libeskind (Kathrin Angerer), die sich – die Nürnberger Gesetze „zum Schutz des deutschen Blutes“ sind gerade in Kraft – in den arischen Volksschullehrer Eberhard Klingler (Anian Zollner) verliebt und bald von ihm ein Kind erwartet. Lore gelingt die Ausreise aus Deutschland. Einmal noch, 1938 auf der Reise von England nach Palästina, kommt die junge Frau mit ihrem kleinen Sohn für einen Tag nach Dresden. Sie trifft sich mit Klingler in einer Kirche auf dem Land. Dem Paar ist klar, dass es sich nie wieder sehen wird. Klingler meldet sich zur Front, wird alsbald blind geschossen und für kurze Zeit Eva Klemperers Geliebter. Bitternis und Hoffnungslosigkeit prägen diese tragische Geschichte des jungen LehSchauspieler Habich*: Seitensprung erfunden rers. Sie ist zugleich ein Beispiel, Autor Steinbach hat vor solcher Sprach- wie das Fernsehen erzählen muss, um ankunst nicht resigniert. Seine Fernsehaugen schaulich zu machen, wie durch Historie haben dafür in den Tagebucheintragungen Liebe zerstört wird. Der Hamburger Regisseur Kai Wessel, etwas gelesen, das der Rationalist Klemperer eher zudeckt: die Geschichte einer 38, der die ersten sechs Folgen inszeniert wahrhaftigen, weit über sexuellem Besitz- hat, vertraut wie sein beinahe gleichaldenken erhabenen ehelichen Treue. Was triger Ost-Kollege Andreas Kleinert (Foldie Klemperers zusammengefügt haben, gen sieben bis zwölf) ganz auf seine Dardas konnten auch die Nazis nicht trennen. steller. In diesen Filmen herrscht ein klarer ReAlle zwölf Filme zeigen diese – darf man es so nennen? – Liebe. Sie ist das A und das giestil: Alles hat ein Gesicht, die Opfer und O, die Klammer und am Ende der Sieg. die Täter, das Gute und das Böse. Auf gleisHinreißend spielt das die Eva-Darstellerin nerischen, vom Geschehen abgekoppelten Dagmar Manzel. Im härtesten Ehestreit, Firlefanz verzichten Wessel, Kleinert und selbst in den Anfechtungen der Untreue ihr gemeinsamer Kameramann Rudolf Blamit einem blinden Kriegsinvaliden macht hacek aus Prag, aus der Stadt, wo die Filsie mal mit verträumten, mal mit besorgten me entstanden. Das heißt nicht, dass es in diesen Filmen Blicken den Wert sichtbar, den dieser Mann keine optischen Metaphern gäbe. Wo sie für sie hat. Und Matthias Habich, nicht minder sou- eingesetzt werden, überzeugen sie: Klemverän in der Klemperer-Rolle, erwidert die- perers Verlust des Hochschulamts an der se Liebe auf seine Weise: Er verbirgt sie oft TU Dresden erinnert an das Lonesomehinter Egozentrik, Larmoyanz und Ironie. Cowboy-Pathos von „High Noon“ – wir Doch manchmal, besonders in den schreck- sehen den armen Helden durch unwirtliche lichen Momenten der Bedrückung im Ju- Räume wandern, an Randalierern vorbei, denhaus, zerbricht der Panzer: Hilflos, fle- an feigen Kollegen. Die Szene, in der Klemperer auf dem * Mit Lisa Martinek. Schreibtisch seines Dienstzimmers den ARD lingswochen erlebt habe – warum soll ich nicht ebenso gut erleben (oder eben: ersterben), dass wir, Eva und ich, irgendwo uns mit Engelsflügeln oder in sonst einer schnurrigen Form wiederfinden? Nicht nur das Wort ,unmöglich‘ ist außer Kurs geraten, auch ,unvorstellbar‘ hat keine Gültigkeit mehr.“ d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 175 Werbeseite Werbeseite Medien mann), ein kompromissloser Schläger, der auch vor Mord nicht zurückschreckt, und Müller (Michael Kind). Der steht für den ewigen Opportunisten: Zunächst hilft er den Klemperers beim Hausbau, macht sich mit deren geliehenem Geld als Fahrlehrer selbständig, tritt in die SS ein und, als die Nazis vertrieben sind, hat er schnell einen Job bei den Russen. Auch dieser Müller ist eine Figur, wie sie serielles Fernsehen braucht. An ihr lässt sich Schritt für Schritt die Anpassung von Mittätern im Fernsehen begreifbar machen. Dann verdichten sich die Szenen zum Kammerspiel. Die Klemperers sind mit anderen Leidensgenossen in das Judenhaus eingewiesen worden – ein Leben in bedrängten Verhältnissen. Der Druck der Verfolger wächst, es kommt zu Selbstmorden. Folge neun zeigt Klemperers Gänge mit dem Judenstern in die Stadt. Die Szenen vermitteln eine Atmosphäre „märchenhafter Grässlichkeit“ (Klemperer): Da sind Menschen, die Juden bewusst grüßen, ihnen sogar etwas zustecken, andere dagegen demonstrieren ihre Verachtung – eine irreale und zugleich brutal reale Welt. Schließlich legt sich Auschwitz Hochschullehrer Klemperer (1955): Bittere Hoffnung als Schrecken auf die Szenen. Erst Monument deutscher Feigheit und folgen- erscheint der Holocaust als eine bedrückende Metapher: Rauch steigt aus einer loser Scham. Verlust und Abschied sind neben der gewaltigen tiefschwarzen Lokomotive. Liebe die weiteren Fäden im „magischen Dann wird die Judenvernichtung zur GeGeflecht“ (Steinbach), das die zwölf Fil- wissheit. Klemperer findet beim Reinigen me zusammenhält. Dem Verlust des Amtes von Güterwagen eine Postkarte. Ein Uhrfolgt der Verlust aller Arbeitsmöglich- machermeister aus Meißen hat sie 1942 keiten, der meisten Freunde. Dann verliert während des Transports in das Ghetto von Klemperer sein Auto, das er liebevoll „den Riga heimlich verfasst und später verBock“ getauft hat. Schließlich entreißen steckt. „Ich schreibe diese Zeilen unter Postengebrüll, Schüssen und Schreien und ihm die Nazis sein Haus. Regie, Kamera und Buch setzen diese Flehen um Gnade der Mütter, die um ihNackenschläge klug ins Bild. Sie zeigen re Kinder bangen.“ Als Klemperer diese ausgiebig, was später den Klemperers ge- Zeilen seiner Frau vorliest, tut er, was nommen wurde: ihre Treffen mit den die Filme sonst nie zeigen: Er bricht in Freunden, den unter großen Mühen erfüll- Tränen aus. Fernsehen oder Tagebuch? Letztlich gilt, ten Traum vom Haus im Grünen, die Fahrten mit dem „Bock“. Was Entrechtung was der Professor in seinem Tagebuch heißt, wird so anschaulich in die Sprache schreibt: „Der Geist entscheidet.“ Und die Filme sind aus Klemperers Geist. des Fernsehens übersetzt. Die Schlussszene liefert ein großartiAuch das Böse ist in „Klemperer – Ein Leben in Deutschland“ keine abstrakte Größe. ges Bild bitterer Hoffnung: Klemperer Da gibt es Mitläufer in Gestalt von Polizis- sitzt stumm, mit ernstem Gesicht – in die ten. Der Film zeigt ihre wachsende Willfäh- von Kriegsschäden gezeichnete Dresdner rigkeit gegenüber dem Regime: Zunächst Hochschule als Professor zurückgekehrt – führen sie sich in ihren Amtshandlungen am Lehrpult. Die Kamera fährt an den Tigegen die Klemperers einigermaßen gesit- schen der Studenten vorbei, auf denen sich tet auf. In der Pogromnacht 1938 aber fun- zögernd die Hände zum beifälligen Klopgieren sie nur noch als Erfüllungsgehilfen – fen regen. Am Ende der Fahrt erscheint vergeblich fordert Eva einen von ihnen auf, Eva im Bild, strahlend, stolz. Walser schrieb, ihn habe die „moralidie allen Vorstellungen von bürgerlicher Gesittung widersprechende Drangsalierung sche Schönheit dieses Victor Klemperer eivon Juden zu beenden. Die Meute johlen- nigermaßen ergriffen“. Dank des glänzenden TV-Ereignisses können sich jetzt Zuder SA-Leute tut sowieso, was sie will. Das Lager der Täter repräsentieren der schauer ein Bild von dieser Schönheit SS-Scherge Malachowski (Franz Vieh- machen. Nikolaus von Festenberg ARD Brief vorfindet, mit dem er nach den Bestimmungen „zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ aus dem Dienst entfernt wird, spiegelt sich im Gesicht seiner den Nazis nicht abgeneigten Sekretärin: Sie bricht in Tränen aus, als ihr Klemperer erklärt, er würde sie wieder einstellen, wenn der Nazi-Spuk vorbei wäre. Die Kamera verweilt auf der weinenden Frau – ein d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 177 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Medien ZEITUNGEN Darling Anita Journalistenwettkampf in der Filmstadt: Der „Hollywood Reporter“ und „Variety“ berichten von Produzenten und Stars – möglichst indiskret. M. MONTFORT D Herausgeber Dowling: „Teil unserer Stadt“ nen sicher.“ Und das soll in dieser von Paranoia gezeichneten Stadt schon was heißen: Denn die Agenten und „publicists“ schirmen ihre Stars normalerweise gegen Journalisten ab. Interviews gewähren manche Schauspieler nur, wenn die Zeitung oder das Magazin zuvor Verträge unterschreibt, in denen zugesichert wird, dass unbequeme Fragen nicht gestellt und Fotos vor dem Abdruck selbst ausgewählt werden können. Hollywood sei stets „von einer gewissen Angst geprägt“, so Chefredakteurin Anita Busch. Selbst Pressesprecher von Filmstudios würden darauf beharren, ohne Namensnennung zitiert zu werden, obwohl sie selbst die Redaktionen über diesen oder jenen „Deal“ informiert hätten. Oft seien die News, die Agenten oder PR-Manager verbreiteten, „allenfalls ein Versuchsballon“, heiße Luft also, mit der Tatsachen vorgetäuscht würden, damit der Name eines Schauspielers oder Regisseurs endlich mal wieder in einer Meldung erscheine. Anita Busch und ihre Redakteure versuchen täglich, „die Wirklichkeit von den Phantasien“ zu trennen. Der Druck, so die Blattmacherin, sei „erheblich“, denn in Los Angeles, der Hauptstadt der globalen Entertainment-Industrie, muss der „Hollywood Reporter“ sich zu allem Überfluss auch noch mit einem Rivalen auseinander setzen, der dieselben Leser anspricht und um dieselben Anzeigenkunden wirbt – „Variety“, ebenfalls ein so genanntes „trade paper“, ein Fachblatt also, Auflage 30 000 Exemplare. Die Rivalität mit „Variety“, so Anita Busch, die drei Jahre Filmexpertin bei dem Konkurrenzblatt war und den „Reporter“ seit Januar dieses Jahres * Mit Richard Gere in dem Film „Die Braut, die sich nicht traut“. d e r s p i e g e l CINETEXT ie Schönen und Mächtigen in Hollywood finden diese Frau „erstaunlich“ und „fabelhaft“. Schon kurz nach dem Kennenlernen wird sie meist „Darling“ genannt, beim nächsten Gast heißt es gleich: „Das ist meine beste Freundin.“ Anita Busch weiß genau, warum Gäste bei Cocktails und Dinner um ihre Nähe buhlen – sie ist schließlich die Chefredakteurin des „Hollywood Reporter“, einer Tageszeitung wie kaum eine andere in der Welt. Täglich News über Hollywood, doch kaum Klatsch und Glamour, sondern Entertainment als Industrie. Der „Hollywood Reporter“, so Herausgeber Robert Dowling, „ist Teil dieser Stadt“ und damit der hier verbreiteten Sucht, reich und berühmt werden zu wollen. Wer nicht in seiner Zeitung steht, hat hier nie existiert. Wer keine Schlagzeilen liefert, kann auch kein Star sein. Die Auflage des Insider-Blattes ist eher bescheiden, 24 000 Exemplare werden täglich verkauft. Und dennoch, so die „New York Times“, ist die Zeitung aus Hollywood „nahezu Pflichtlektüre“. Über den „Hollywood Reporter“ nämlich, der in Magazin-Format erscheint, kommuniziert die Filmstadt „mit- und übereinander“. Die Schauspieler etwa können nachlesen, welche Produktionen geplant sind, die Produzenten erfahren, welche Gesetze im US-Kongress in Vorbereitung sind, die Hollywoods Phantasien, etwa in der Darstellung von Gewalt, beschränken könnten. Exklusiv meldete das Blatt, dass sich nur noch 4 von 38 neuen US-Fernsehserien in diesem Jahr auf das Leben des schwarzen Amerika konzentrieren, Julia Roberts für ihren nächsten Film 20 Millionen Dollar Gage erhält und Martin Scorsese, Leonardo DiCaprio und Robert De Niro gemeinsam an einem Filmprojekt arbeiten wollen, „Gangs of New York“ soll es heißen. Eine Zeile mit Namensnennung auf der ersten Seite des „Hollywood Reporter“, ein Foto sogar, suggeriert dem Leser: „Diese Person hat Bedeutung.“ Und Agenten, Regisseure, Produzenten, PR-Manager notieren den Namen womöglich in ihrer Computerkartei – für die Einladung zur nächsten Cocktailparty oder besser noch für einen Termin zum Casting. „Wen auch immer unsere 67 Redakteure anrufen“, sagt Dowling, „ein Rückruf ist ih- führt, „ist unerbittlich“ und nichts anderes als ein täglicher Existenzkampf. „Variety“, vor 94 Jahren in New York gegründet, erscheint seit 1933 täglich in Los Angeles, den „Hollywood Reporter“ gibt es seit 1930. Beide Blätter sind in den Besitz von MedienKonglomeraten übergegangen, der „Hollywood Reporter“ wird von der niederländischen Verlagsgruppe VNU kontrolliert, „Variety“ von dem Medienkonzern Reed Elsevier. 6700 Anzeigenseiten schalteten die Werber im letzten Jahr im „Reporter“, 2000 mehr, behauptet Dowling, als die Konkurrenten von „Variety“ vorweisen können. Seit Frau Busch das Blatt führe, sagt der Herausgeber, „hat die Konkurrenz nichts mehr zu lachen“. Schon als Reporterin war Anita Busch in „Hollywood gefürchtet und bei vielen unbeliebt“(„New York Times“), eben weil sie Konflikte mit den Mächtigen der Entertainment-Industrie nicht scheut. „Einschüchtern, manipulieren lass ich mich von niemandem“, sagt sie. Die Rivalen von „Variety“ will sie durch ein Dauerfeuer von Exklusivmeldungen „mürbe machen“, die Konkurrenz „schreckt mich nicht, die stimuliert“. Auch global will sich der „Reporter“ unter ihrer Führung stärker engagieren. Zwei Korrespondenten hat das Blatt inzwischen in Deutschland stationiert, gelegentlich reist der Auslandschef aus Hollywood persönlich an und recherchiert. Ein Objekt seiner Neugierde: die Kirch-Gruppe in München. Helmut Sorge Filmstar Roberts*: Der Rückruf ist sicher 4 1 / 1 9 9 9 181 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Gesellschaft Szene AC C E S S O I R E S Bäuchlein verdecken N icht bloß im ersten Roman der früheren Klatschkolumnistin Beate Wedekind spielt eine Handtasche die heimliche Hauptrolle, auch im wirklichen Leben modebewusster Frauen geht es nicht ohne sie. Für Designer ist sie die wahre Talentprobe, denn wird sie Kult, bringt sie Millionengewinn. Welche Handtaschen diesen Status erreichten und welche auf der Strecke blieben, verrät das Buch „Die Handtasche“ der „Tatler“-Redakteurin und Handtaschen-Fetischistin Designer-Taschen, Trägerin Carmel Allen, 32. Gut funktionierender Instinkt und feines Gespür für den Zeitgeist, so lernt man hier, sind für den Designer unerlässlich: Will Worte scheinen auch in Sachen Handtasche ein Erdie Trägerin Laptop, Handy, Filofax und Aktenordner unterbringen, oder folgsrezept zu sein: Leute mit zu kleinem Ego sollten soll das Täschchen bloß Lippenstift, Puder und ein paar Visitenkarten besser auf sein Label verzichten, fand etwa Lebeverstecken? Legt sie Wert auf Selbständigkeit, oder begleitet sie einen be- mann Versace, die Stars Courtney Love und Demi deutenden Mann? Will sie als Schauspielerin mit ihrer eleganten Tasche Moore hängten sich prompt seine Modelle über die ein Bäuchlein verdecken wie einst Grace Kelly, oder soll die praktische Arme. Kleineren Egos bleiben zum Glück immer Handbag Willenskraft symbolisieren wie bei Maggie Thatcher? Markige noch an die hundert andere Markennamen. Palästinensertuch-Mode H AU P T S TA D T Comeback des Troddelfetzens F ür die Elterngeneration dürfte es ein heiliges oder auch verhasstes Stück Stoff sein: das Palästinensertuch. Einst diente es bei d e r FREIZEIT Astra im Capri I n den Achtzigern war es vor allem die Dorfjugend, die vor ländlichen Großraumdiscotheken parkte und es vorzog, im Auto sitzen zu bleiben, als sich auf der Tanzfläche abzustrampeln. Jetzt hat der Freizeitsport großstädtische Anhänger und einen modernen Namen bekommen: Parkplatzraven. Ein in Hamburg gegründeter Verein will dem neuen Hobby Anerkennung verschaffen. Es gehe nicht bloß darum, im Auto Astra zu kippen, erklärt Vereinsmitglied Helge Thomsen, 32, man wolle vor allem „Superschlitten aus den Sechzigern und Siebzigern präsentieren“. Besonders erwünscht ist das Aufkreuzen in Modellen wie Consul, Taunus, Capri, Granada oder Admiral. Bei ausgelassener Stimmung treffe man sich an der Tankstelle und bleibe, solange es geht, will heißen: bis die Tankwarte bemerken, „dass wir den Rüssel gar nicht im Tank haben“. Hamburger Parkplatzraver s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 185 P. GLASER O. JACKEL Friedensmärschen und Anti-AtomkraftDemos als Erkennungsmerkmal antifaschistischer Grundhaltung, später mussten sich die Träger gefallen lassen, als Alt-68er abgekanzelt zu werden. Der Berliner Designer Hugo Schneider, 28, inszenierte – in der neuen Kollektion des Labels „3mulgator“ – dem in Rente gegangenen Troddelfetzen jetzt ein Comeback, und zwar als Anzugstoff für Berliner Night-Clubber. Geradezu ideal für Tanzbegeisterte sei der Stoff, schwärmt Schneider: „Er ist federleicht, man kommt kaum ins Schwitzen und ist dennoch interessant angezogen.“ Gesellschaft MODE „Ich kaufe alles!“ Die Haute-Couture-Schneider hofieren extravagante Popstars als neue Kunden – weil die traditionelle Klientel für schrille Entwürfe aus Pelz und Pomp ihnen davonläuft. Von Wolfgang Joop A 186 lassen sich, auch zum Leidwesen der Boulevard-Presse, kaum noch bei den Couture-Schauen sehen. Dafür gibt es zwei sich wechselseitig verstärkende Ursachen: Es bieten sich immer weniger Anlässe, für die Haute-CoutureKreationen angemessen wären. Also werden die Entwürfe immer absurder – damit sie wegen ihres Sensationspotenzials doch noch gekauft werden oder, wenn es keine Kundin gibt, wenigstens ein marktschreierisches Statement ihres Schöpfers abgeben. „Was Sie hier sehen, ist Unterhaltung“, kommentiert Bernard Arnault, der Dompteur der jungen Couture-Avantgardisten John Galliano und Alexander McQueen. Und er erwartet für das Honorar, das er den Jungs zahlt, immer neue Tricks fürs Medienspektakel. Dieses Jahr kann der Modeschöpfer keine Rücksicht nehmen auf empfindliche Tierschützer-Seelen. Das Trend-Magazin „Dutch“ widmet seine aktuelle Ausgabe ganz dem Pelz – unter dem doppeldeutigen Titel „fur-ious“, für fur (Pelz), furious (wütend). „In Zukunft wird es der echte Luxus sein, unkontaminierte Lebensmittel zu essen, und nicht, Pelz zu tragen“, meint das Blatt. „Königin für einen Tag“ war eine Frau im Pelz noch in den Fünfzigern und Sechzigern. Heute sind so viele Könige und Königinnen in Pelzen auf Laufstegen und in FOTOS: CORBIS SYGMA (li.); SIPA PRESS (re.) bgezogen, ausgeweidet, gegerbt und präpariert hatten Reptilien, Vögel, Füchse und Nerze ihren letzten Auftritt auf den Laufstegen der HauteCouture-Schauen in Paris. Aus Glasaugen blickten Kaninchen und Fuchs, im Tode friedlich vereint, als absurde Hut-Mutationen von den Köpfen der Models das Modevolk an, das sich zur Dior-Haute-Couture-Show in Versailles eingefunden hatte. „Jagen und Sammeln“ war das Motto der Kollektion. Kein Mitleid und auch kein politisch korrekter Protest regte sich bei den Zuschauern. Dass es moralisch kein Unterschied sei, einen Tierkadaver zu verdauen oder ihn mit sich rumzuschleppen, scheint am Ende des Jahrtausends die gesellschaftsfähige hedonistische Haltung zu sein. Wer früher noch lieber nackt als mit Pelz ging, der fühlt sich heute ohne Pelz nackt. Die neue Lust auf Pomp nach den Jahren minimalistischer Ödnis schließt den Appetit auf Fetisch und Trophäe mit ein. Egal, oder eigentlich umso besser, wenn die Kreation grotesk aussieht, denn moderne Couturiers entwerfen Objekte, keine Kleider. Kleider schneidern sie für den Mainstream, den weniger exklusiven Kundenkreis, von dem man erwartet, dass er die gerade in New York, London und Paris gezeigten Prêt-à-porter-Kollektionen tragen und bezahlen kann. Doch auch dort findet sich modisch Unbrauchbares wie der Feder-BH, den der ehemalige LagerfeldAssistent Gilles Dufour für Balmains Sommermode 2000 entwarf. Mouna Ayoub, eine der letzten PowerShopperinnen von Haute Couture, erklärt ihre Leidenschaft für Stillleben aus Federn, Pelz und Pailletten so: „Ich habe Angst, dass diese Kunst stirbt. Schon als Kind, als meine Mutter mich zu den Couture-Schauen nach Paris mitnahm, hörte ich, Haute Couture sei eine sterbende Kunst. Solange ich lebe, wird Haute Couture nicht sterben.“ Mouna Ayoub ist mehr Sammlerin als Trägerin der Kreationen. Mehr als 1200 Teile hat sie zusammengekauft. Der Anschaffungspreis pro Stück beträgt zwischen 25 000 Mark für ein einfaches Kostüm bis 225 000 Mark für ein besticktes Abendkleid. Deshalb umwerben die Modedesigner die Libanesin mit dem hohen Shopping-Budget wie eine Königin. Die echten Königinnen der Länder und der Nächte Dior-, Versace-Entwürfe: Keine Rücksicht auf Tierschützer d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 SIPA PRESS Rapper Puff Daddy Zu viel neues Geld, um Stil zu haben boten – wenn es denn nur die Bedeutung eines anachronistischen Handwerks betonte. Erleichtert berichten Modejournalisten, dass die jungen Couture-Createure (nur noch 16 Modehäuser produzieren Haute Couture) sich nicht futuristisch-praktischen Experimenten, sondern ganz der Rettung der aussterbenden Zunft des extremen Luxus verschrieben haben. Die Idee, dass L’art pour l’art, die Kunst für die Kunst da zu sein hat und nicht etwa die Schneiderkunst für den Kunden, scheint die Jungs in CargoPants und T-Shirt zu beflügeln. Wie gut, dass es für die neue Modekunst eine neue Kundschaft gibt. Bei den HauteCouture-Spektakeln hat der alte Geldadel, enttäuscht, empört oder verarmt, die ersten Reihen frei gemacht für den Entertainment-Adel – die Unterhaltungs- und Lebenskünstler, vorzugsweise aus der PopSzene, für die Extravaganz und Skandale zur Arbeitsplatzbeschreibung gehören. Die Rapperin Lauryn Hill versorgt John Galliano mit Ideen aus der Street-Culture, seit er sie für ihre Grammy-Verleihung ausstattete. Anna Wintour, Chefredakteurin der amerikanischen „Vogue“, hatte sich als Begleiter und Model den New Yorker Rap-Produzenten Puff Daddy (SPIEGEL 34/1999) nach Paris mitgenommen. Der FOTOS: REUTERS ( li. u. re.); CORBIS SYGMA (M.) Modejournalen zu sehen wie in den Fünfzigern und Sechzigern zusammen. Auch unter Modejournalisten finden Anti-Pelz-Aktivisten keine Verbündeten mehr. Trotz größter Sensibilität gegenüber diesem Thema noch in jüngster Vergangenheit wird nun Tierhaut wie Stoff vom Meter behandelt. Der Sinneswandel hat viele Gründe. Zum Beispiel hat sich der moralische Bezugsrahmen erweitert. So klingt, angesichts der Massenmorde im Kosovo und in Osttimor, die Äußerung des Tierlobbyisten Robin Webb deplatziert: „Ich könnte jeden verstehen, der so wütend und verzweifelt war über den Missbrauch von Tieren, dass er getrieben war, auch zu töten.“ Die Diskussion „ob Pelz oder nicht“ hat die Brisanz des Themas „Achselhaare ja oder nein“ bekommen. Die Models, die noch vor ein paar Jahren nackt auf Postern gegen das Tragen von Pelzen protestierten und posierten, haben sich, auch aus Altersgründen, anderen Aufgaben zugewandt. Das neue Alibi für jene, die überhaupt noch eines brauchen, lautet: „Informiere dich, wie das Tier gehalten und getötet wurde, und entscheide dann selbst.“ Die neue Generation von Models, die unbekümmert nackt unterm Pelz über die Laufstege schreitet, hat sich diese Gewissensfrage bestimmt nicht gestellt – Fragen könnten die Ausübung des Mode-Kunsthandwerks behindern. Die Modewelt ist, von innen betrachtet, eine Welt mit eigenen Werten. Wer in ihr lebt, wird vielleicht nicht einmal bemerken, dass die dort gerade gültigen Werte im Widerspruch stehen zum Moralsystem der sie umgebenden Welt. In der letzten Couture-Schau dieses Jahrtausends war keine Verschwendung üppig genug, kein Material zu teuer oder zu ver- Modelle von Ungaro, Dior, Balmain: „Was Sie hier sehen, ist Unterhaltung“ d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 187 Werbeseite Werbeseite CORBIS SYGMA Gesellschaft Autor Joop Träume von Ethik wirken irrelevant schwarze Ghetto-Liberace, gern in TotalWhite-Trash gekleidet, kam mit kompletter Entourage. „Puffy takes Paris“, überschreibt „Vogue“ den Couture-Report in ihrer Oktober-Ausgabe, unterschlagend, dass sie ihn selbst dort hingeschleift hatte. Reporterin Plum Sykes erzählt vom Sturmangriff des RapSuperstars auf die Pariser Festung hochgezüchteter Exzentrik, in der mondscheinblasse, unschuldig junge Models auf Stilettoabsätzen mühevoll arrangierte Stillleben über die Laufstege balancierten. Die Zuschauer wollten so gar nicht dem präsentierten Schönheitsideal gleichen: nicht blasse, sondern dunkle Haut, von Geburt an oder von allzu viel Urlaubssonne, zu viel echtes oder künstliches Kraushaar, zu viel Collagen in den Lippen, zu viel neues Geld, um Stil haben zu können. Aber für welche Kunden, wenn nicht für diese, sollte die Couture in Zukunft überhaupt noch schneidern? Wenn nur die NeuReichen aus der Ich-Ich-Ich-Kultur übrig bleiben, erübrigt sich die Frage nach Noblesse. Ob es moralisch zulässig ist, sich ein totes Tier auf den Kopf zu setzen, ist eine aus der Mode gekommene Überlegung. Schauen alle hin, regen sich alle auf? – das sind die Leitprinzipien der neuen Haute-Couture-Kunden. Leidenschaft und Träume von Ethik und Gerechtigkeit wirken am Ende des Millenniums naiv und irrelevant. Understatement ist abgelöst durch Overstatement: Es geht nicht darum, ob man einen Pelzmantel kauft oder nicht, sondern darum, ob man einen Pelzmantel kauft oder mehrere. Puff Daddy buchte als Protagonist der neuen Luxus-Szene ein ganzes Hotelzimmer als Garderobe und brachte 18 Überseekoffer mit Klamotten mit, obwohl er doch in Paris einkaufen wollte. Dazu zwei Stylisten (Anzieh-Gehilfen), einen Friseur und einen Visagisten. Außerdem eine Kiste mit Platin- und Brillantschmuck, 45 Paar d e r Schuhe, 26 Hüte, noch zwei Assistenten, vier Bodyguards, zwei PR-Manager, Platten-Manager, „Road-Manager“. „Aber noch weiß Puff Daddy nicht, was er anziehen soll“, berichtet „Vogue“. Mit schläfrigen Augen unter schweren Lidern verfolgte der Rapper die VersaceShow, klatschte und verkündete: „Ich kaufe alles!“ Für wen wohl? Den Damen-Glitz für sich selbst, für eine Fummel-Party auf Long Island, für seinen Harem oder für seine 15 Begleiter etwa, die alle zusammen immer knapp eine halbe Stunde brauchten, um den Hotelausgang zu verlassen? Donatella Versace, Karl Lagerfeld, JeanPaul Gaultier und John Galliano konnten die Truppe um Puffy kaum erwarten, Tom Ford von Gucci schwärmte von dessen Glitzersteinen: „Er ist halt so: Ich liebe Diamanten, also trage ich sie. Sein Stil ist, was er aus sich selber macht. Und für Gucci zahlt er den vollen Preis.“ Warum auch nicht! Die Star-Fotografin Annie Leibovitz ließ Puff Daddy halbnackt, mit Schmuck oder Weißfuchsmantel behängt, im Set des Hotel Raphael mit Kate Moss für die „Vogue“ posieren, als Stil-Statement einer neuen Culture-Couture-Epoche: Mehr ist mehr! Auf den Partys am Abend sah man kaum eine der Kreationen, um die es tagsüber ging. Es reicht, über sie zu reden, um sich mit ihnen zu schmücken, denn wie soll man sich auch bewegen können in einem bodenlangen Krokodillederkleid von Gaultier, an dem noch die leeren Fußlappen des Opfertieres hängen? Wie soll man den Hitzschlag vermeiden in igluförmigen Pelzröcken? Wie soll man einen Martini, die Kaviar-Blini zu sich nehmen, wenn Kinn und Mund versperrt sind von einer JuteKristall-Kreation, geschaffen vom CoutureNewcomer-Duo Viktor & Rolf? Der alte Geldadel ging nicht zu den Partys. Die Damen der Aristokratie sind zu Hause geblieben bei den stilleren HauteCouture-Entwürfen vergangener Saisons, die sie auf Feiern im engsten erlesenen Zirkel auftragen können. Auf den After-ShowPartys posierte stattdessen die neue Kundschaft im Blitzlichtfeuer der Eitelkeiten, den jeweiligen Haute-Couture-Schneider im Arm, und das sichtlich gern, schließlich entwickeln sich die Einnahmen der PopSociety parallel zu ihrer Medienpräsenz. Und nächstes Jahr? Was bleibt, wenn man nur noch mit schamloser ästhetischer Tabuverletzung von sich reden machen kann? „In einer Welt der Eitelkeit und Hybris“, erklärt das britische Magazin „Scene“, werde es immer Gründe geben, „ein Kleid für 20 000 Pfund aus perlmuttfarbenen Jungfernhäutchen zu nähen“. Anfang der achtziger Jahre warnte die Künstlerin Jenny Holzer in Riesenbuchstaben über dem New Yorker Times Square: „Protect me from what I want“ (schütze mich vor dem, was ich mir wünsche). Aber das ist schon lange her. ™ s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 189 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Langzeit-Urlauberin Völker (auf den Fidschi-Inseln): Bambushütte statt Luxushotel Ausflug in die Freiheit Immer mehr junge Führungskräfte gönnen sich eine Auszeit vom Berufsleben – und ihre Firmen profitieren davon auch noch. Ü ber Jahre hinweg hatte der junge Unternehmensberater Karriere auf der Überholspur gemacht und war dabei ständig unterwegs – von einem Team-Meeting zur nächsten Konferenz, zur übernächsten Sitzung, immer weltweit im Einsatz. Dann hatte der Münchner PeterMarcus Viersik, 30, genug und bat bei seiner Firma Roland Berger um eine Auszeit. Drei Monate lang blieb er einfach zu Hause, saß im Garten, kümmerte sich um seine Tochter und dachte meist nicht weiter als bis zum nächsten Picknick. Er wollte noch einmal dieses „Gefühl wie in den Sommerferien erleben“, das sich in den kurzen Urlauben einfach nicht mehr einstellen wollte. „Irgendwann reichte es nicht mehr als Ausgleich, die Hand vom Vorstand geschüttelt zu kriegen: Haste toll gemacht.“ Seit drei Wochen arbeitet Viersik nun wieder, mit neuer Kraft, wie er sagt. 192 ruhen lassen“, heißt es im Zweiten Buch Mose. „Noch bieten weniger als zehn Prozent aller Unternehmen Sabbaticals an, aber ihre Zahl wächst deutlich“, sagt Lars Herrmann von der Berliner Arbeitszeitberatung Dr. Hoff, Weidinger & Partner. Vom ersten deutschen Ratgeberbuch „Aussteigen auf Zeit“ ist ein halbes Jahr nach Erscheinen bereits die zweite Auflage vergriffen*. Seit Beginn des SabbaticalProgramms bei Siemens 1997 Unternehmensberaterin Völker: Große Pause nahmen sich 120 Mitarbeiter Immer mehr aufstrebende Angestellte eine Auszeit. Bei Veba rechnet die Persowie Viersik verabschieden sich für mehre- nalabteilung mit mehreren hundert Kanre Monate oder gar ein ganzes Sabbatjahr didaten. Größere Pausen, etwa zum Provon ihrem Arbeitsplatz. Und das Verlangen movieren, sind bei McKinsey längst gänginach Freiheit auf Zeit gilt auch in den obe- ge Praxis. Die Münchner McKinsey-Beraterin Antren Etagen der Wirtschaft nicht mehr überall als anrüchig. Nikolaus Held, Personal- je Völker, 33, packte vor zwei Jahren ihren leiter bei Roland Berger, fand gerade Rucksack und reiste mit ihrem Freund – „unter den Top-Performern eine neue ebenfalls McKinsey-Berater – drei Monate Erwartungshaltung. Wünsche nach mehr durch Burma, Kambodscha, Sumatra, auf Lebensqualität werden immer wichtiger“ – die Fidschi-Inseln und nach Australien. und davon würden die Arbeitgeber gar Statt im Luxushotel übernachtete sie in Bambushütten und half, einen entlaufenen profitieren. Auch Großunternehmen wie Siemens Orang-Utan einzufangen, den sie auf eioder BMW beginnen inzwischen damit, nem Floß aus Lkw-Schläuchen zurück in ihren Mitarbeitern Sabbaticals zu offerie- sein Reservat brachte („Ich weiß nicht, wer ren – meist freilich kürzere Varianten des Ur-Modells: „Sechs Jahre sollst du dein * Anke Richter: „Aussteigen auf Zeit: das SabbaticalLand besäen und seine Früchte einsam- Handbuch“. VGS-Verlagsgesellschaft, Köln; 160 Seiten; meln. Aber im siebenten Jahr sollst du es 19,80 Mark. W. M. WEBER UNTERNEHMEN d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Gesellschaft Universität annehmen.Allerdings geht der Forscher wie die meisten Langzeit-Urlauber auch ein Risiko ein: Welchen Posten er nach der Rückkehr bekommen soll, steht noch nicht fest. Dass sich das Sabbatical noch nicht stärker durchgesetzt hat, sei vor allem psychologisch begründet, glaubt Arbeitszeitberater Herrmann. „Noch immer läuft es in vielen Firmen ab wie beim Golden-Goal: Wer punkten will, muss in der Verlängerung dabei gewesen sein.“ Ein Berater Olbrich: „Heiß auf das nächste Projekt“ Chef, der sich mit 14-Stundendann die vorgeleisteten Stunden en bloc Tagen hochgearbeitet habe, erwarte oft abfeiern, und das Gehalt läuft weiter. Iris dasselbe von Untergebenen. Bei Heiner Olbrich, 34, der mit der Köhler, 32, Sekretärin bei der US-Firma Hewlett-Packard in Böblingen, sparte so Selbstdiagnose „temporäre Arbeitsunlust“ über Jahre hinweg sechs Monate auf ihrem seinen Chef aufsuchte, lief das Sabbatical Zeitkonto an. In zwei Wochen will sie nun ohne solche Vorbehalte ab: Der Unternehfür ein halbes Jahr nach Asien reisen, um mensberater bei Roland Berger machte in einem Waisenhaus bei Katmandu zu drei Monate Pause, um an seinem Geländemotorrad zu schrauben und durch Itaarbeiten. Albert Gilg, promovierter Mathematiker lien zu tingeln. Zum Schluss heuerte der und Leiter eines Teams von 40 Forschern bei Fachmann für Konsumgüter-Unternehmen Siemens, ist noch nicht so weit. Er arbeitet als Roadie auf einem Rock-Festival an. Schließlich kehrte Olbrich „ganz heiß Vollzeit, bekommt aber seit 1997 20 Prozent weniger Gehalt. Ab dem nächsten auf das nächste Projekt“ an seinen ArFrühjahr wird Gilg bei weiterlaufenden beitsplatz zurück. Mit Erfolg – bald darauf Überweisungen ein halbes Jahr frei haben. wurde er zum Mitglied der GeschäftsleiDann will er einen Lehrauftrag an einer US- tung befördert. Cordula Meyer W. M. WEBER aufgeregter war, der Affe oder ich“). Von diesen Erlebnissen zehrt die Businessfrau noch heute: „Da macht es einem weniger aus, bis spätabends am Schreibtisch zu sitzen.“ Betty Zucker, Leiterin der Abteilung Unternehmensentwicklung des Gottlieb Duttweiler Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft in Rüschlikon bei Zürich, glaubt, dass Sabbaticals in vielen Branchen bald zum Manageralltag gehören werden: „Wer über Jahre Hochleistungen bringt, ist irgendwann ausgepowert und liefert nur noch Innovationsplacebos ab.“ Hätten Vorgesetzte erst einmal erkannt, dass Mitarbeiter meist hoch motiviert aus der großen Pause zurückkehren, gäben sie oft sogar selbst den Anstoß dazu. „Wer bei uns gefragt wird, ob er ein Sabbatical nehmen will, darf das als Auszeichnung verstehen“, so Personalleiter Held, der mit Aussteigern „rundum positive“ Erfahrungen gemacht hat. Von rund 800 Beratern bei Roland Berger nehmen sich 30 pro Jahr eine Auszeit – Tendenz steigend. „Für uns ist das auch ein Mittel, Spitzenleute zu halten“, sagt Held. Damit das Girokonto der Aussteiger beim Ausflug in die Freiheit nicht übermäßig in die Miesen rutscht, wird bei den meisten Unternehmen das Gehalt schon reduziert, während die Angestellten noch voll weiterarbeiten. Später können sie Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Gesellschaft S P I E G E L - G E S P R ÄC H „Ich bin ein Baby, das strampelt“ Rockstar David Bowie über Altersweisheit, seinen Börsengang und Tony Blair SPIEGEL: Mr. Bowie, wann waren Sie zu- letzt beim Friseur? Bowie: Letzten Dezember. Danach habe ich das Haareschneiden vergessen. SPIEGEL: Zu viele Partys? Bowie: Im Gegenteil, ich kann Partys nicht leiden. SPIEGEL: Ihr Publikum hält Sie doch für das extrovertierte, „glitzernde Chamäleon des Rock’n’Roll“. Bowie: Ein Missverständnis. Ich bin außer für ein paar Monate in den siebziger Jah- P. GREGORY / CORBIS SYGMA Bowie, 52, gehört zu den Legenden des Rock’n’Roll. Anfang der siebziger Jahre erfand er die androgyne, glamourösfuturistische Kunstfigur „Ziggy Stardust“, mit der er auf der Bühne zum Symbol des „Glamrock“ wurde. Als ruheloser Erneuerer hat der Brite Bowie seither versucht, Gattungsgrenzen der Popkultur einzureißen – nicht nur als Musiker, sondern auch als Schauspieler, bildender Künstler und Journalist. Bowie, Ehefrau Iman: „Den brennenden Ehrgeiz der Jugend hinter mir gelassen“ 196 d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 ren nie gerne ausgegangen. Große Aufläufe sind mir unangenehm. Auf einer Modenschau zum Beispiel war ich noch nie. SPIEGEL: Interessieren Sie sich nicht für die Arbeit Ihrer Frau? Iman ist schließlich eines der bekanntesten Models des 20. Jahrhunderts. Bowie: Doch, aber wenn wir uns etwas ansehen, dann sind das Museen, Kunstsammlungen und Buchläden. Zweimal die Woche gehen wir ins Restaurant. Ansonsten essen wir bei Freunden oder bleiben zu Hause. SPIEGEL: Das klingt sehr seriös. Haben Sie Schwierigkeiten mit dem Älterwerden? Bowie: Ich bin froh, die Unsicherheit, die Frustrationen und den brennenden Ehrgeiz der Jugend hinter mir gelassen zu haben. Ich schreibe und arbeite heute viel konzentrierter. Man könnte also sagen, dass ich das Älterwerden begrüße und umarme. SPIEGEL: Diese Euphorie der Altersweisheit merkt man Ihrem neuen Album „hours …“ nicht gerade an. Dort hört man Klagen, vieles verpasst zu haben: die große Liebe zum Beispiel. Bowie: Der Charakter, den ich dort geschaffen habe, ist ein Mann Mitte 50, der Rückschau hält und merkt, dass vieles in seinem Leben nicht geklappt hat. Nur mit mir selber hat das wenig zu tun. Schauen Sie mich an: Ich bin doch eher ein Baby, das vor Glück, Geld und Gesundheit nur so strampelt. Aber stellen Sie sich diesen Gefühlszustand einmal als Popalbum vor. „Mir geht es so glänzend und spitze, und alles in meinem neuen Leben ist super.“ Schrecklich. Niemals würde ich mir eine solche Platte kaufen. SPIEGEL: Taugt Glück nicht für die große Kunst? Bowie: Die Arbeit am Melodramatischen scheint mir wesentlich interessanter. SPIEGEL: Die Melodramatik in „hours …“ strukturieren Sie wieder in der traditionellen Songform. Wollten Sie nach Ihren Experimenten mit Techno und Drum’n’Bass wieder einmal einen sicheren Hit haben? Bowie: Ehrlich gesagt war es für mich erstaunlich festzustellen, dass ich überhaupt noch in der Lage bin, einen ganz normalen Song zu schreiben. SPIEGEL: Und damit endlich wieder einmal vorne in der Hitparade zu stehen? Bowie: Ich verkaufe ungefähr eine Million Alben pro Jahr. Das ist seit den siebziger Das Gespräch führte Redakteur Thomas Hüetlin. Werbeseite Werbeseite Jahren so. Eine experimentelle Platte wie „Outside“ geht so oft weg wie die bekanntesten meiner Werke, wie „Station to Station“ oder „Heroes“. Ich habe eine sehr treue Fangemeinde, und daran ändert sich nur etwas, wenn ich ein richtig schlechtes Album rausbringe. Dann verkaufe ich auf einmal richtig viel. Werke wie „Tonight“ und „Never Let Me Down“ haben mich reich gemacht und trotzdem fast meine Karriere zerstört. SPIEGEL: Warum haben Sie diese Platten überhaupt erst aufgenommen? Bowie: Das werde ich selbst nie verstehen. Ich kann diese Alben nicht aushalten. Man merkt ihnen an, dass ich zu dem Zeitpunkt, als ich sie aufnahm, jedes Interesse an der Musik verloren hatte. Ich war nur noch ein Segment des Mainstreams, das seine Arbeit abzuliefern hatte. Bowie (M.) mit Bowie-Puppen*: „Ich wollte stets der Erste sein“ SPIEGEL: Wo stehen Sie heute? Bowie: Ich bin unberechenbar. Erst in den nicht gelingen. Mir kommt das Publikum SPIEGEL: Sind Ihnen bei Ihrer Arbeit öfter neunziger Jahren hat sich meine Karriere sofort auf die Schliche.Wenn ich mich lang- künstlerische Einfälle in die Quere geso entwickelt, wie es mir gefällt. weile, sehe ich gelangweilt aus. „Ground kommen? SPIEGEL: Sie wollen dem Publikum nicht Control to Major Tom“ singe ich bestenfalls Bowie: Natürlich. Der vielleicht schwernach dem Maul singen, sondern es in Auf- noch für meine Frau in einer Privatvorstel- wiegendste war, dass ich viele Jahre alregung versetzen … les, was vertraut war, ablehnte, weil ich lung – damit sie etwas zu lachen hat. Bowie: … zuerst einmal möchte ich selbst SPIEGEL: Der Einzige, den Sie noch von den es für zutiefst mittelmäßig hielt. Heute aufgeregt sein. Wenn dies der Fall ist, ent- ehemaligen Superstars Ihrer Generation hat sich mein Horizont da etwas erweitert. Ich glaube heute, dass versteht Erfolg. akzeptieren, ist Bob Dylan. Der traute Dinge durchaus in der SPIEGEL: Traditionell anerkannte Erfolge im ist dafür bekannt, dass er seine Musikbusiness lehnen Sie ab. Als Sie in die Hits von früher heute vor dem „Ich kenne viele Lage sind, wahr zu sein. Künstler, die SPIEGEL: Sind solche Einsichten „Rock and Roll Hall of Fame“ aufgenom- Publikum massakriert. Besteht men wurden, sind Sie nicht einmal zur Auf- darin jetzt die Kunst der radika- sich öffentlich nur gut getarnte Ratlosigkeit, nahmegala erschienen. Müssen Sie so et- len alten Herren – wenn man als Sozialisten oder zeigt sich hier bereits das, was verweigern, um nur ja nicht in den schon nicht mehr die Kultur der verkaufen und was man früher unter der WeisVerdacht zu geraten, bloß ein weiteres vergangenen Generationen für heit des Alters verstand? privat das Geld Bowie: hinfällig erklären kann, dann Stück Mainstream zu sein? Es ist auf jeden Fall nicht anbeten“ mehr der große Vorteil des Bowie: Das alles interessiert mich nicht. Ich zerstört man wenigstens die Jungseins, der darin besteht, alhabe über die Jahre nie groß den Umgang eigene? mit Leuten der Musikindustrie gepflegt, Bowie: Jeder Künstler, der seine Arbeit ernst les, aber auch alles, was vor einem kam, als vollkommen wertlos abzutun. Ich kann das und ich habe absolut keine Lust, jetzt noch nimmt, sollte das von Zeit zu Zeit tun. damit anzufangen. Diese Form der Orga- SPIEGEL: Verwunderlich, dass Sie das Wort beurteilen, denn ich wusste alles. Alles, Künstler wieder mit so viel Ehrfurcht aus- was wichtig war, zumindest. Und ich wussnisiertheit lehne ich ab. SPIEGEL: Sie scheinen ein Problem mit Ih- sprechen. Als Sie den französischen Maler te über alles Bescheid. Bis mir jemand etrer Vergangenheit und Ihrem Gesamtwerk Balthus vor ein paar Jahren interviewten, was Neues erzählte – und ich es als wertzu haben. Wenn die Rolling Stones oder erzählte der Ihnen doch, wie ekelhaft und los abtat. Bis ich loszog und es selbst herausfinden konnte. Ich wollte stets der ErsTina Turner auf Tournee gehen, liefern sie prätentiös dieser Begriff klänge. eine Art „Greatest Hits“-Veranstaltung ab. Bowie: Ich mag das Wort Künstler. Und te sein. Warum verweigern Sie Ihrem Publikum was Balthus damit meinte, war eher so eine SPIEGEL: Betrachten Sie heutzutage die Art Insider-Snobismus. Nur wenn einer ab- Rastlosigkeit, mit der Sie die siebziger Jahdiese Art Wohltat? Bowie: Ich habe absolut kein Problem mit solut über allem steht in der Kunstwelt wie re verbrachten – zugeschüttet unter einer meiner Legende – aber ich habe nun mal Balthus, der eines der großen Genies die- Unmenge Kokain, fortwährend auf der Sukeine Lust, 300-mal im Jahr „Ground Con- ses Jahrhunderts ist, kann er sich eine sol- che nach einer neuen Identität –, als Flucht trol to Major Tom“ zu singen und das 30 che Abwertung leisten. Natürlich ist so et- oder als Aufbruch in ein finster-glamouröJahre lang. Da wird man wahnsinnig. Es gibt was lustig – nur glauben sollte man es ses Abenteuer? wohl Leute wie die Rolling Stones, die die- nicht. Bowie: Auf jeden Fall beides. Ich war immer se Art Programm mit großem Enthusiasmus offen für das Extreme, und vier, fünf Jahzelebrieren oder diesen Enthusiasmus we- * Bei den Dreharbeiten zu seinem Musikvideo „The re lang ging in meinem Leben während der nigstens vortäuschen können. Mir will das Pretty Things Are Going to Hell“ im Juni 1999. siebziger Jahre alles so drunter und drüber, 198 d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 UMAZ / LFI Gesellschaft Werbeseite Werbeseite Gesellschaft MTV dass dieser permanente WechBowie: Wir reden über alles – sel von Persönlichkeiten geranur nicht über Politik. dezu zwangsläufig war. Ich hatSPIEGEL: Liegt das daran, dass te ernsthafte psychische Proder Premierminister einmal in bleme damals. einer Band spielte, die Ugly Rumours hieß, und dass er heuSPIEGEL: Nahmen Sie noch von te noch einer Karriere im Rockder Außenwelt Notiz? Business nachtrauert? Bowie: Ich war verwirrt, aber nicht blind. Jeder Mensch, Bowie: Wie die meisten Mitder seine Dinge vor mehr als glieder seiner Generation hat zwei Leuten präsentiert, weiß, Blair eine ganz enge Beziehung dass er sich in einer Art Theazur Rockmusik gehabt und ter befindet. Und solche Sikennt sich darin wirklich gut tuationen haben stets etwas aus. Nur selbst Geld verdient Künstliches – selbst wenn Sie hat er damit nie. Die Verbinals Lagerfeuer-Sänger in verdung zwischen Pop und Politik waschenen Jeans auftreten und ist also nicht so fließend wie so tun, als zelebrierten Sie bei Ronald Reagan, der aus mit dieser Schmucklosigkeit zwei Berufen einen machte. Integrität, Simplizität und SPIEGEL: Wie steht es mit Ihrem Echtheit. Wenn Sie so was vor eigenen Verantwortungsgefühl? 10 000 Leuten mit riesigen Spüren Sie eine Verpflichtung Verstärkern tun – das ist doch gegenüber Leuten, die Davidmehr als bizarr. Bowie-Aktien kaufen? SPIEGEL: Kennen Sie eigentlich Bowie: Das sind sehr kluge Leuirgendeinen in Ihrem Gewerbe, te, sie werden nicht enttäuscht der ganz dicht ist? werden. Bowie: Nein, die meisten von SPIEGEL: Klingt die neue Platte uns haben einen Schaden. Es „hours …“ deshalb wie eine sigenügt ihnen nicht, wenn zwei chere Sache, wie „Classic Booder drei Leute über ihre Gewie“? fühle Bescheid wissen. Es müsBowie: Hätte ich dieses Ziel gesen stets mindestens eine halbe habt, hätte ich mich mehr an Million Menschen sein. dem orientieren sollen, was zur Zeit im Radio läuft. Dort spieSPIEGEL: Leiden Sie und Ihre len sie harten Rock. Meine Kollegen unter zu großen Egos? Platte ist so ziemlich das GeBowie: Zu kleinen. Erst die riegenteil davon. Ich bin in die sige Menge an Menschen gibt entgegengesetzte Richtung geden Verunsicherten eine Dagangen. seinsberechtigung. SPIEGEL: Sie haben das Problem SPIEGEL: Das klingt ein wenig der Verunsicherung vor zwei- Musiker Bowie*: „Mit geradezu enzyklopädischem Wissen geschädigt“ nach Nonkonformismus. Haeinhalb Jahren dadurch gelöst, ben Sie nicht stets Einzigartigdass Sie als erster Rockstar Ihr Werk an die für Geld so weit ging, dass er gelegentlich keit als die meist überschätzte KünstlertuBörse gebracht haben und über Nacht 55 drin schlief? gend geschmäht? Millionen Dollar reicher wurden. Sahen Sie Bowie: Guter Gott. Ich arbeite und mache Bowie: Dabei bleibe ich. Das Streben nach diesen viel kritisierten Schritt außerdem Geld. Was ich nicht tue, ist: arbeiten, um Einzigartigkeit produziert in den meisten als eine Art Kunst an, die den Rock’n’Roll Geld zu machen. Das ist ein riesengro- Fällen nur Müll. Das Beste, was ein Künstentmythologisiert? ßer Unterschied. Ich kenne jede Menge ler heute leisten kann, ist die gekonnte ReBowie: Natürlich heißt das große Motto Künstler, die sich öffentlich als Sozialis- organisation von Dingen, die wir längst meiner Karriere „Was wäre eigentlich, ten verkaufen und privat das Geld an- kennen. wenn …?“, und das hat mir die Möglich- beten. SPIEGEL: Was ist einzigartig an Ihrem neukeit gegeben, die Persönlichkeiten ebenso SPIEGEL: Welcher Künstler kniet vor diesem en Album? schnell zu wechseln wie die kulturellen Altar? Bowie: Der Zeitpunkt des Erscheinens. Es Genres. Aber bei meinem Börsengang han- Bowie: Sag ich Ihnen nicht. wird kein weiteres solches Werk in diesem delte es sich um höchst einfachen Materia- SPIEGEL: Tony Blair? Jahr geben. lismus: Ich wollte meine Zukunft und die Bowie: Großer Künstler. Kaum einer be- SPIEGEL: Wir meinten nicht das Marketing, meiner Familie absichern, so gut es geht. herrscht den großen Maschinenraum der wir meinten die Musik. SPIEGEL: Sie gehören also nicht zu den PR-Kunst besser als er. Bowie: Dummerweise bin ich, was Musik schwerreichen Rock’n’Roll-Stars, die nur SPIEGEL: Sie besuchen den britischen Pre- angeht, mit einem geradezu enzyklopädiim Privatjet reisen und dann erklären, sie mierminister ja auch gerne zum Abendes- schen Wissen geschädigt. Ich weiß stets, lehnten Geld eigentlich ab? sen. Erzählt er Ihnen da auch, dass in sei- wo etwas herkommt. Bowie: Ich bin nicht Bruce Springsteen. Das nem schicken neuen Nationalbild eines SPIEGEL: Und woher kommt „hours …“? ist nicht mein Job. Ich laufe nicht herum „Cool Britannia“ Rockstars und Köche für Bowie: Aus meinem früheren Werk. Teil der und halte eine Fahne in der Hand, auf der das britische Bruttosozialprodukt wichtiger Übung war dieses Mal, dass ich mich über geschrieben steht: „Zerstört den Kapita- seien als Stahlwerke und die Autoindustrie? acht Monate nur mit mir selbst beschäftigt lismus“. habe. SPIEGEL: Sie schlagen also eher in die Rich- * In einer Anzeigenkampagne für die MTV Video SPIEGEL: Mr. Bowie, wir danken Ihnen für tung von Andy Warhol, dessen Verehrung Music Awards, 1999. dieses Gespräch. 200 d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Gesellschaft FOTO PRESS FPI aus sie nun täglich auf die Insel pendeln müssen. „Da bekommen Sie ja schon für 250 000 Mark einen ganzen Bauernhof“, weiß Makler Karbig. In Kampen hingegen baut er gerade ein paar Doppelhäuser, die je Haushälfte 2,5 Millionen Mark kosten sollen – für 130 Quadratmeter. Den Kommunalpolitikern stößt die Inselflucht aber sauer auf. „Die Orte sterben aus“, fürchtet Kampens Bürgermeisterin Ruth Sönksen, 65, die seit einem Vierteljahrhundert für die Kampener Wählervereinigung Politik macht. Zum Problem würden vor allem Erbschaften. Wer etwa in Kampen 1000 Quadratmeter erbt, muss im ungünstigsten Fall mit 275 500 Mark Erbschaftsteuer Nobelort Kampen: „Wer in Deutschland zu Geld kommt, ist nächste Woche hier“ rechnen: „Da bleibt vielen Denn mit Quadratmeterpreisen von bis nichts anderes übrig, als zu verkaufen“, so IMMOBILIEN zu 20 000 Mark in Kampener Spitzenlagen Sönksen. Die resolute Bürgermeisterin will der liegen die Sylter Preise noch über denen in München oder Hamburg. Auch Bauland Abwanderung jetzt gegensteuern: Nach kostet auf dem Sandhaufen in der Nordsee fast dreijähriger Planungszeit soll Anfang überdurchschnittlich viel: So liegt der Preis kommenden Jahres der Bau von zehn pro Quadratmeter in Kampen bei 1200 Mietwohnungen beginnen, die ausschließMark. „Die Wertsteigerung ist hier unver- lich von Sylter Jungfamilien bezogen wergleichbar“, freut sich der Kampener Im- den können. Auf einem gemeindeeigenen Die Invasion der Reichen mobilienmakler Karl-Hermann Karbig, 75, Grundstück sollen so genannte Hausscheivertreibt ärmere Sylter von ben entstehen: Wohnungen über jeweils „dagegen können Sie Aktien vergessen.“ ihrer Insel. Mit günstigen drei Ebenen, inklusive Dachgeschoss und Keller, etwa 90 Wohnungen will die Gemeinde Quadratmeter groß, für 13,60 Kampen nun gegensteuern. Mark Miete pro Quadratmeter. „Tatsächlich sind das eher u Hause auf der Insel wollten sie ihre 24 Mark“, sagt Hans-Joachim Existenz aufbauen. Kaum hatten die Obal, 62, Vorstandssprecher beiden Verlobten ihre Ausbildung auf der Schleswiger Baugenossendem Festland beendet, kehrten Jutta Henschaft Gewoba Nord, die als ningsen, 24, und Ronald Glauth, 30, dorthin Bauträger ausgewählt wurde. zurück, wo sie geboren und groß geDer Immobilienprofi verweist worden sind: nach Sylt. Auch die einjähriauf das so genannte Sylter ge Tochter Jaenna soll von der „enormen Maß, nach dem etwa KellerLebensqualität“ auf dem Nobel-Eiland räume voll in die Wohnfläche profitieren: „Wir wollten zurück, weil wir hineingerechnet oder Dachdie Insel lieben“, schwärmt die Postangeschrägen nicht abgezogen werstellte. Familie Henningsen-Glauth*: „Wir lieben die Insel“ den. Doch billiger gehe es Doch, bei aller Liebe, ein Zuhause hat das heimgekehrte Paar auch nach einem Karbig ist seit fast 40 Jahren auf der In- nicht, sagt Obal: „Es sind halt Sylter Verhalben Jahr noch nicht gefunden. Zur Zeit sel. In den sechziger Jahren kaufte er ein hältnisse.“ Die Kosten treibt vor allem die Kampelebt die Jungfamilie in zwei 16 Quadrat- Grundstück am Kampener Heideweg für meter großen Kinderzimmern bei Hen- 220 000 Mark. Heute schätzt er den Markt- ner „Ortsgestaltungssatzung“ hoch, die ningsens Eltern in Westerland. „Wir suchen wert auf 3,5 Millionen. „Wer in Deutsch- „Einheitlichkeit des bestehenden Ortsbileine Drei-Zimmer-Wohnung für maximal land zu Geld kommt, der ist nächste Wo- des“ verlangt und unter anderem in Para1500 Mark Warmmiete. Aber das sieht ganz che hier“, erklärt er den ungebrochenen graf vier („Dächer“) vorschreibt: „Es ist nur Reetdacheindeckung zulässig.“ schlecht aus“, sagt Glauth. Boom der Insel-Immobilien. Da das noble Ambiente Kampens geDie Immobilienpreise auf Sylt gelten als Die Kehrseite: Vor allem junge einheidie höchsten der Republik. Die Dauer- mische Familien sind nicht mehr in der wahrt bleibt, gibt es keinen nennenswerten nachfrage von Deutschlands Reichen, die Lage, auf Sylt eine Wohnung, geschweige Widerstand gegen das Vorhaben. Karbig auf der Insel Watt erleben wollen, treibt die denn ein Haus zu kaufen. „Das ist hier beispielsweise freut sich auf die verKaufsummen in Höhen, in denen Normal- nicht drin“, sagt der junge Vater Glauth. gleichsweise armen Familien, „die müssen verdiener passen müssen. Um die Abwan- Aus seinem Bekanntenkreis hat es bereits wir anpflanzen wie junge Bäumchen“. derung junger Familien zu bremsen, will viele aufs Festland verschlagen, von wo Denn eines ist dem Makler von MillionenObjekten klar: „Ein Ort nur mit reichen das Schickeria-Dorf Kampen nun BilligLeuten ist ja widerlich.“ wohnungen auf kommunales Land setzen. * In Westerland. Florian Gless Wie junge Bäumchen G. SCHLÄGER Z 204 d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Fußballspiel MetroStars gegen Los Angeles Galaxy in New Jersey (1998): „Dann wollen alle nicht mehr nach Italien“ MÄRKTE „Ein schlafender Riese“ Europas Fußballclubs kaufen amerikanische Spieler, US-Milliardäre investieren in Eishockeyvereine auf dem alten Kontinent. Zwei ehedem getrennte Sportwelten wachsen zusammen. Jüngstes Beispiel: Bayer Leverkusens Partnerschaft mit dem Soccer-Team des Texaners Lamar Hunt. 208 ten der zwölf MLS-Teams: Ständig sitzen Gutachter aus fernen Ländern auf der Tribüne – und noch so ausgefeilte Versteckspiele werden den Exodus ihrer besten Spieler nicht aufhalten. Elf US-Boys – von Greg Berhalter (Cambuur, Niederlande) über Claudio Reyna (Glasgow Rangers) bis Tony Sanneh (Hertha BSC Berlin) – heuerten für die Saison bei europäischen Erstligavereinen an. Die Siege der Nationalmannschaft gegen Deutschland und Argentinien haben die Aufkäufer verstärkt ins Land gelockt; künstlich niedrig gehaltene Gagen im zentral gesteuerten Franchise-System der MLS fördern die Bereitschaft der Talente zum Wechsel nach Übersee. Soccer – ein Exportschlager? Es hat sich viel verändert, seit es Franz Beckenbauer 1977 zu Cosmos New York zog. Der Fußball kam zu früh in die Neue Welt: Er war künstlich aufgepfropft, wurde vom amerikanischen Publikum nicht wirklich angenommen. In den neunziger Jahren hingegen spielen die Kids Fußball, deren Eltern haben die Regeln begriffen, und die Frauen-Nationalelf ist Weltmeister. Einen „schlafenden Riesen“ sieht Bayer Leverkusens Sport-Geschäftsführer Reiner d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Calmund deshalb im Fußballmarkt Nordamerika. Im rheinischen Bundesligateam stürmt schon der US-Nationalspieler Frank Hejduk mit, und seit April verstärkt der 17-jährige Landon Donovan, von Experten als größtes Talent seit Brasiliens Ronaldo gepriesen, den Bayer-Nachwuchs. SVEN SIMON D ie Besucher aus Europa sahen sich um ihre Reisekosten geprellt. Eigens war eine Abordnung des englischen Fußballclubs Nottingham Forest für eine 90-minütige Inspektion über den Atlantik gejettet. Der Blick auf den Aufstellungsbogen enttäuschte die Interessenten: Das Objekt ihrer Begierde wurde nicht zur Besichtigung vorgeführt. Stern John, 22, Torschützenkönig der vergangenen Spielzeit in der amerikanischen Major League Soccer (MLS), befand sich in Sicherheitsgewahrsam. Sein Trainer hatte auf Johns Dienste im Spiel bei Chicago Fire überraschend verzichtet. Offiziell, „um ihn zu schonen“ – aber Insidern war sofort klar: Der talentierte Stürmer des MLS-Clubs Columbus Crew sollte den Blicken der angereisten Häscher entzogen werden. Mehr Glück hatten die Gesandten von Chelsea London, denen es die Künste des jungen Columbus-Stars Jeff Cunningham, 23, angetan haben: Der Jamaikaner war zur Musterung freigegeben. Verkehrte Welt. Ausgerechnet Manager aus dem Mutterland des Fußballs sind in der viel geschmähten und lange belächelten US-Liga auf Personalsuche. Wie dem Club aus Ohio ergeht es derzeit den meis- Footballspiel Düsseldorf Rhein Fire gegen die Sport Barcelona Dragons: Duft von Popcorn Stadion war immer nur lokal, Sport in den Medien ist global – da bekommt plötzlich auch der Austausch über Weltmeere hinweg einen Sinn. Die Formel ist simpel: US-Nationalspieler in der Bundesliga machen den deutschen Fußball in Amerika interessant, Lothar Matthäus in New York macht den US-Fußball in Deutschland interessant. Wie der Münchner Rekordnationalspieler plant auch sein Leverkusener Kollege Ulf Kirsten nach der Bundesligakarriere einen Wechsel in die MLS – gleichsam als Aktivund Bildungsurlaub. Das ist ganz im Sinn seines Arbeitgebers Bayer, der ihn im Anschluss, mit erweitertem Horizont und Englisch-Sprachschatz ausgestattet, gern in sein Management aufnehmen würde, wahlweise auch in den Trainerstab. Ihr Interesse an einer Fortbildung in der USLiga bekundeten auch schon die Bundesligaprofis Martin Wagner (Kaiserslautern), Anthony Yeboah (Hamburg) und Christian Wörns (Dortmund). Wenn die Werbewirtschaft in den Vereinigten Staaten erst mal die Attraktivität des Soccer erkannt hat, „dann wollen alle nicht mehr nach Italien“, glaubt Calmund, „dann wechseln die Stars nach Amerika“. Und sobald auf Bayer-Import Donovan: Exodus der Besten einem solchen Wachstumsmarkt Doch seit kurzem legt sich der Duft von US-Fußball erst gutes Geld zu verdienen Popcorn über die Stadien auf dem eu- sei, könne die Nationalelf der Staaten nieropäischen Kontinent. Regelmäßig spielen mand mehr stoppen: „Die Amis putzen Auswahlteams der Basketball-Profiliga uns alle dann von der Bildfläche weg.“ NBA in deutschen Hallen vor, Stars wie Noch verhindern Geburtsfehler die vorKobe Bryant dribbeln publikumsnah in hergesagte Prosperität. Zwar sind schon 18 Einkaufszonen, NBA-Chef David Stern er- Millionen Fußballspieler im Land regiswägt zum Zweck der Expansion die Anglie- triert, und unter den Sechs- bis Elfjähriderung europäischer Ligen. gen avancierte Soccer hinter Basketball Die National Football League (NFL) hat zum zweitbeliebtesten Sport. Doch setzten einen Ableger mit sechs Teams in Europa die Bosse der Profiliga, um kurzfristig zu installiert – darunter in Berlin, Frankfurt ordentlichen Zuschauerzahlen zu komund Düsseldorf. Und jüngst fiel mit Philip men, bei der Kundensuche auf lateinameAnschutz der erste amerikanische Investor rikanische Einwanderer. in der Deutschen Eishockey-Liga ein (sieDrittklassige Importe aus Venezuela, he Kasten Seite 210). Costa Rica oder El Salvador halfen weder Dass deutsche Arenen heute weit mehr dem Spielniveau noch dem Geschäftsgang sind als Zufluchtsorte für abgetakelte US- auf die Sprünge. Das Image des ImmiBasketballer oder Eishockey-Cracks, liegt grantensports hält das umworbene Mittelan der Amerikanisierung des europäischen standspublikum von den Stadien noch fern. Sports: Die Werbewirtschaft hat ihn verSo verhalten sich die MLS-Darbietuneinnahmt, Medienhäuser nutzen ihn als gen vorläufig „zum richtigen Fußball wie Teil der Entertainment-Branche. Sport im die Harlem Globetrotters zur NBA“, spöttelt der Spielermakler Michael Basketballstar Bryant in Berlin: Simple Formel Becker, der vorzugsweise US-Profis nach Europa vermittelt. Viele inländische Spieler stören sich auch daran, dass die Funktionäre im New Yorker Liga-Büro bestimmen, welche Profis sich welchem Team anschließen und wie viel sie im Einzelnen verdienen. „Ein bisschen seltsam“ findet das Nationalspieler Joe-Max Moore von New England RevoluBONGARTS Die Verantwortlichen unterm BayerKreuz sind überzeugt, dass die Zukunft im Westen liegt. Deutschstämmige Späher sondieren die Rasenplätze von New York bis L. A., und sie organisieren Begegnungen mit dem neuen Markt: Auf Bayer-Einladung bereitete sich letzte Woche die U-17-Juniorenauswahl der USA in Leverkusen auf die Weltmeisterschaft in Neuseeland vor. Demnächst sollen die guten Beziehungen sogar in einen Kooperationsvertrag mit Columbus Crew gegossen werden. Und dann wird es nicht mehr nur darum gehen, wer den Torjäger Stern John verpflichten darf oder welcher Trainer ausgeliehen wird – dann geht es um richtiges Business, um internationale Fernsehrechte, um Merchandising und Stadionprojekte. Denn Eigentümer von Columbus Crew ist Lamar Hunt, vermögender Erbe des legendären Öl-Magnaten Haroldson Lafayette Hunt aus Dallas. Der texanische K. BRENNEKEN / TRIASS C. TROTMAN / DUOMO Sportfreak zählt zu den vier Hauptinvestoren der Major League Soccer. Über Hunt, dem auch der Soccer-Club Kansas City Wizards sowie das American-FootballTeam Kansas City Chiefs und ein Anteil an den Basketball-Bulls aus Chicago gehören, will Bayer Leverkusen ein strategisches Bein auf den amerikanischen Markt setzen. Der transatlantische Modellversuch, der sich derzeit im Stadium eines „letter of intent“ befindet, belegt den Trend zur Verzahnung amerikanischer und europäischer Geschäftsinteressen. Jahrzehnte waren der Profisport der Alten und der Neuen Welt nahezu isoliert, zu unterschiedlich ihre Strukturen: zwei Systeme, so wenig kompatibel wie der kommunistische Staatssport und das westliche Vereinswesen. 209 Sport tion, der deshalb in die Bundesliga zurückkehren möchte. Gehaltsobergrenzen von 1,7 Millionen Dollar pro Team und 250 000 Dollar pro Spieler fördern den Ausverkauf. Der frühere Bundesligaprofi Eric Wynalda dechiffrierte das Kürzel MLS spitz als „many lousy salaries“, viele schlechte Gehälter. Zweifel an der Gerechtigkeit des Systems sorgen überdies für neuen Unmut. Die Nachricht, dass der betagte Neuzugang Matthäus dank Zuwendungen der MetroStars-Eigner John Kluge und Stuart Subotnick (Metromedia Company) ein Saison-Salär von 1,5 Millionen Dollar erwarten darf, „verärgert die jungen Spieler“, sagt der ehemalige Bundesligaprofi Tom Dooley. Dass eine Abkehr vom sozialistisch anmutenden System nötig ist, haben als Erste die Eigentümer der Teams erkannt. Sie sorgten zuletzt für ein umfängliches Revirement in der MLS-Führung. Auf den wichtigen Posten des Commissioners setz- ten sie mit Don Garber einen Mann ihres Vertrauens. Angesichts der neuen Machtverhältnisse lag Bayer-Manager Calmund richtig, als er die Fäden nach Amerika nicht mit dem nationalen Verband, sondern mit einem der Teambesitzer gesponnen hat. In der Kooperation mit Lamar Hunt sieht er eine gute Grundlage, um bei künftigen Vermarktungsgeschäften im Vorteil zu sein. Wenn mit den Unterhändlern von Kirch und Bertelsmann bald um noch mehr LiveSpiele im frei empfangbaren Fernsehen, in Pay-TV und Pay-per-View gerungen wird, könnte ein amerikanischer Mitbieter – „zum Beispiel Disney“ – als Faust- SNAPS und Methoden nacheifern würden, war abzusehen. Dass deutsche Vereine von ihren unerreichbaren Vorbildern der NHL freundlich übernommen werden, ist eher eine Überraschung. Denn Anschutz, 59, gilt nicht als geltungssüchtiger Multi, der mit seinen Stars protzt, Trainer und Manager wie Marionetten zappeln lässt und sich am liebsten im Fernsehen sieht. Der Konzernherr ist vom Fach: Er besitzt die Kufencracks der Los Angeles Kings, die Basketballer der Los Angeles Lakers sowie drei Fußballteams. Voriges Jahr wagte seine Gesellschaft Anschutz Properties den Sprung über den großen Teich, gründete das Eishockeyteam London Knights und stieg bei Sparta Prag ein. Der in Kansas geborene Unternehmer Berliner Eishockeyteam Eisbären (dunkles Trikot): Freundliche Übernahme ist extrem medienscheu. Da er Interviews und Fototermine ablehnt, kann er unerkannt an Marathonläufen teilnehmen. Das US-Magazin „Fortune“ annonciert ihn als den „reichsten Amerikaner, von dem Sie noch nie etwas gehört haben“. Die erste Million machte der BetriebsEin amerikanischer Milliardär erwarb wirt mit Öl. Über die Jahre weitete zwei deutsche Eishockeyclubs. Für die sportlichen der Kunstfreund seine Geschäftsfelder Resultate interessiert er sich nur mäßig. immer weiter aus – Hauptsache, sie bringen Profit. So besitzt er den Telekommunikationsn einem grauen Montag im No- und einem US-Milliardär, der riesen Qwest, ist zweitgrößter vember hielt die National Hockey seinem Imperium eine kleine Aktionär der Union Pacific League (NHL) Einzug im Ost-Ber- deutsche Dependance hinzuRailroad, und so investiert er liner Bezirk Hohenschönhausen. In Wind- fügt. Anschutz, mit einem gein Sportmannschaften. jacke und mit Baseballkappe – Ehefrau schätzten Vermögen von elf Die europäischen Filialen Nancy, zwei Töchter und einen Schwie- Milliarden Dollar die Numweiß der wohlhabendste gersohn im Schlepp – marschierte Philip mer 13 im „Forbes“-Ranking Mann Colorados in guten F. Anschutz über das Gelände des Eis- der reichsten Amerikaner, erHänden. Sein Schwiegersohn hockeyclubs Eisbären Berlin. Der Ameri- warb die Eisbären für einen Chris Hunt, 31, ein redekaner musterte erst Büroräume, Eis- Millionenbetrag, aus dem die gewandter Leutefänger mit sporthalle und medizinische Abteilung, Vertragspartner ein Staatsmesserscharfen Bügelfalten dann schlenderte er in die Umkleideka- geheimnis machen. In Mün- Investor Anschutz und kontrolliertem Lächeln, chen, das zuletzt ohne Profibine, „to have a look at the players“. Der Visite folgten monatelange Ver- Eishockey auskommen musste, gründete fungiert als Statthalter. „Deutschland“, handlungen – und am Ende stand die un- der reiche Onkel aus Übersee gleich ein erklärt Hunt die Expansion, sei „sehr bevölkerungsreich und einer der größten gewöhnliche Liaison zwischen einem Ost- komplett neues Team, die Barons. Dass deutsche Eishockeyclubs in den Märkte in Europa“. Und in Berlin gibt es verein, der vor Jahren mehr als ein Dutzend Konkursanträge abfangen musste, neunziger Jahren amerikanischen Moden eine Fankultur, die in Amerika an Be- Reicher Onkel aus Übersee AP A 210 d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 pfand hilfreich sein, meint Manager Calmund. Auch für seine Vision von einer Bundesliga-eigenen Fernsehproduktionsgesellschaft mache sich „Geld und Knowhow“ aus den befreundeten Staaten sicher nicht schlecht. Der Partner konnte aus dem Pakt bereits Nutzen ziehen. In Columbus hat Hunt das erste reine Soccer-Stadion der USA gebaut, das Leverkusens BayArena in Kapazität und Ausstattung verblüffend ähnelt. Als Columbus-Manager Jamey Rootes bei einer Stippvisite die Sportstätten des Clubs im Rheinland begutachtete, hatten ihm die Bayer-Chefs Kopien der Bauzeichnungen mitgegeben. Jörg Kramer deutung einbüßt: Sportverrückte auf den Tribünen statt gestylter Geschäftsleute in den VIP-Lounges. Denn langfristig soll das EishockeyPublikum die Basis bilden für ein anderes Geschäft: Die Anschutz Corporation sammelt nicht nur Sportclubs, sondern auch Veranstaltungshallen. Am nächsten Sonntag öffnet in Los Angeles das Staples Center, eine 375 Millionen Dollar teure Arena mit viel technischem Schnickschnack, darunter 1200 Bildschirmen. Anschutz ist neben Rupert Murdoch Mitbesitzer der 20 000 Zuschauer fassenden neuen Heimstatt der Kings und der Lakers; in der englischen Hauptstadt hat er voriges Jahr die London Arena total renoviert. Auch in Berlin sieht der Businessplan der Eisbären mittelfristig den Bau einer modernen Multifunktionshalle vor. Dass Anschutz, der 1996 seinen Freund Bob Dole bei dessen Präsidentschaftswahlkampf unterstützte, sich kurzatmig von sportlichen Niederlagen beeinflussen lässt, müssen seine mäßig in die Saison gestarteten Clubs aus Berlin und München nicht befürchten. Neulich erhielten die Eisbären den Wink, den amerikanischen Geldgeber nicht mit ausführlichen Spielberichten und Statistiken zu langweilen – eine knappe E-Mail reiche. Weggefährten gilt Anschutz als ausdauernder Typ mit einem Gespür für die versteckten Werte einer Investition. Seine Telekommunikationsfirma führte über Jahre ein unscheinbares Dasein, der Internet-Boom hat Qwest jedoch zum Juwel gemacht. Derzeit überzieht der Konzern Europa mit einem Glasfasernetz, um riesige Datenmengen mit Höchstgeschwindigkeit verschicken zu können. Synergieeffekte mit dem EishockeyInvestment sind kaum zufällig. Denn in nicht ferner Zeit sollen die Spiele der Anschutz-Teams in Anschutz-Hallen via Anschutz-Kabel an den Computer daheim übermittelt werden. Helen Ruwald d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Sport Fortsetzung einer Soap-Opera: Tonya Harding, die Hexe on Ice, versucht ein Comeback – die Frau fürs Grobe gibt sich geläutert. K aum war die Sensation öffentlich, bildeten sich lange Schlangen vor dem Kartenschalter der EislaufArena in Huntington im US-Bundesstaat West Virginia. Schließlich hatten die Fans jahrelang auf den finalen Akt der saftigsten Soap-Opera gewartet, welche die Eiskunstlaufwelt je erlebt hat: Tonya Harding, die „Eis-Hexe“, kehrt zurück. „Ich musste weinen, als ich davon erfahren habe“, kommentiert die Blonde aus Portland ihre Einladung, am 18. Oktober an der Meisterschaft der Profis teilzunehmen, „ich habe immer davon geträumt, dass es passiert.“ Das Comeback ist die letzte Chance für die 28-jährige Skandalnudel, ihre Sprunggewalt – sie war die erste Amerikanerin, die den dreifachen Axel stand – doch noch in Dollar umzuwandeln. Monatelang bekniete ihr Manager Michael Rosenberg die Veranstalter, bis endlich das Angebot kam. Der Preis ist artige Bescheidenheit. Harding, gesegnet mit einem Mundwerk so scharf wie Kufen, sagt jetzt Sätze, so rosarot wie ihre Bonbonkostüme: „Ich liebe das Schlittschuhlaufen. Ich will für all die Leute laufen, die über die ganze Zeit an mich geglaubt haben.“ Natürlich sei sie nervös, doch Verständnis habe sie für jeden: „Wenn mich jemand nicht mag, ist das okay.“ Ja, sie sei dankbar. Jedem und für alles. Was nur ist aus jener Tonya Harding geworden, die einst einen Motorradfahrer beim Streit um die Vorfahrt mit dem Baseballschläger bedrohte? 1994 ging die Karriere der ehemaligen US-Meisterin mit einem gezielten Schlag zu Ende, ausgeführt von ihrem damaligen Bodyguard auf das Knie ihrer schärfsten Konkurrentin: Nancy Kerrigan war unmittelbar nach dem Training in Detroit von einem Mann mit einem Eisenstock malträtiert worden. Schreiend brach sie zusammen, der Täter flüchtete. Doch der Hieb war so erbärmlich wie das gesamte Komplott. Nancy Kerrigan kam mit einer Prellung davon. Tage später wurden Hardings Bodyguard und dessen Helfershelfer, darunter ihr Ex-Ehemann, festgenommen. Sie gestanden – und beschuldigten Tonya der Anstiftung. Der US-Verband wollte Harding aus dem Olympiateam werfen. Doch die bestritt jede Mittäterschaft und drohte mit einer 25-Millionen-Dollar-Klage. So kam es bei den Winterspielen in Lillehammer zum großen Showdown: die elegante L & G LEWIS Flucht aufs Eis strafe und 500 Stunden Sozialdienst in der Gemeinde. Während Kerrigan Werbeverträge abschloss, pflanzte Harding wütend Primeln in Parkanlagen. Doch der Traum vom großen Geld und vom Rampenlicht ließ die Frau, die im Armenviertel von Portland aufwuchs und mit 19 an einen prügelnden Ehemann geriet, nicht los. „O. J. Simpson hat sein Leben zurückbekommen, ich will meines auch zurück“, forderte sie nach zwei Jahren. „Ich habe alles getan, was man von mir verlangt hat. Ich will eine Chance, wieder aufs Eis zu gehen.“ Doch die öffentliche Vergebung, die der beißende Vergewaltiger Mike Tyson erfuhr, blieb dem Eisluder versagt. Keiner wagte es, Harding zu verpflichten. Vergebens versuchte sie sich als Blues-Sängerin. Sie rauchte, trotz ihres Asthmas. Sie setzte ihren Wagen an einen Baum und erzählte, sie sei gekidnappt worden und habe sich heldenhaft befreit. Chronisch in Geldnot, strich sie Häuser, catchte und mimte in einem Low-Budget-Film eine Kellnerin. Im Dezember 1995 heiratete sie und ließ sich nach dreieinhalb Monaten wieder scheiden. Grund: ihr Comeback als Tonya II. Sie verstärkte das Training und die Einlagen in ihren Silikonbrüsten. 1997 bekam die neue Tonya den bislang einzigen Auftritt seit der Verbannung – als Vorprogramm eines unterklassigen Eishockeyspiels in Reno. Graziös wich die Eisprinzessin den Bierflaschen und Eisenstöcken aus, die von der Tribüne geflogen kamen. Unbeeindruckt erschien sie danach zum Hintergrundgespräch – wer 10 000 Dollar zahlte, durfte alles fragen. Für das Zehnfache traf sie 1998 ihre Rivalin Kerrigan in einer Talkshow. Doch zur tränenreichen Versöhnung kam es nicht: Harding wich einer Entschuldigung aus, Kerrigan war eisig. Seit März trainiert sie, ohne Eiskunstläuferin Harding: „Ich will eine Chance“ Trainer, zwei Stunden täglich, auch die übrige Zeit verbringt sie meist auf dem Eis, als PrivatTrainerin. „Das Eis ist meine Zuflucht.“ Kommende Woche trifft sie auf die nächste Generation der Eissternchen, auf Surya Bonaly, Tonia Kwiatkowski und Pasha Grischuk. Nach fünf Jahren, die sie zeitweise „abgeschottet wie in einer Muschel verbracht“ habe, will sie wieder eine große Show bieten: „Ich kann immer noch alle Sprünge dreifach.“ Rivalinnen Harding, Kerrigan (1994): Gut gegen Böse Michaela Schießl Kerrigan gegen die skrupellose Harding, das Gute gegen das Böse, Uptown gegen Redneck. Das Duell verschaffte dem US-Fernsehen die vierthöchste Einschaltquote in der Geschichte – 48,1 Prozent der US-Haushalte folgten dem Drama. Harding kam mit Verspätung aufs Eis, kurvte 30 Sekunden hilflos herum und rutschte unter Tränen an die Bande. Wer weint, kann nicht schlecht sein. Ihr Schnürsenkel, so jammerte sie, sei gerissen. Sie durfte noch mal starten, doch es half nichts. Kerrigan holte Silber, Harding landete auf Platz acht. Kurz darauf wurde die Schlägerbraut vom US-Amateur-Eiskunstlaufverband auf Lebenszeit gesperrt. Ein Gericht verurteilte sie wegen Beihilfe zur Vertuschung einer Straftat zu insgesamt 160 000 Dollar Geld- GAMMA / STUDIO X E I S K U N S T L AU F E N d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 215 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Ausland Panorama ISRAEL Der Papst kommt nur bis Betlehem er Streit um den Bau einer Moschee neben der Verkündigungskirche von Nazaret eskaliert zum Machtkampf zwischen Christen und Muslimen im Heiligen Land. Nachdem der Vatikan das Vorhaben wiederholt als Provokation geißelte, versammelten sich vergangenen Freitag mehrere hundert Muslime in Nazaret zum Massengebet auf dem besetzten Platz. Die Christen fürchten wiederum, im Heiligen Land immer weiter zurückgedrängt zu werden. Der deutsche Propst Karl Heinz Ronecker warnt vor einer „Scheibchentaktik“ der Islam-Anhänger. Die israelische Regierung, die notgedrungen eine Vermittlerrolle übernehmen muss, sieht sich in einer Klemme, da das Baugrundstück dem Staat gehört. Die Muslime behaupten, schon Ex-Premier Benjamin Netanjahu habe ihnen das Gotteshaus über dem Grab eines verehrten Scheichs zugesagt. Ein Kabinettsausschuss von Regierungschef Ehud Barak regte an, vielleicht eine kleinere Moschee zu bauen. Ganz verbieten möchten die Israelis den Bau nicht, weil sie keine neuen Unruhen riskieren wollen wie im vergangenen Frühjahr. Andererseits könnte der Papst seinen geplanten Millennium-Besuch überdenken, wie katholische Kirchenvertreter in Jerusalem streuen. Dann fehlte Israel die Hauptattraktion für das Pilgergeschäft im Heiligen Jahr. Ein Sprecher der Katholischen Kirche erschreckte die Israelis bereits mit einem Horrorszenario: Der Papst kommt, aber nur bis Betlehem – dem Hoheitsgebiet von Palästinenser-Präsident Jassir Arafat. REUTERS D Gebets-Protest von Muslimen vor der Verkündigungskirche in Nazaret USA Zocker-Millionen für Washington abakindustrie, Spirituosenproduzenten und Glücksspielkonzerne gehören zu den größten Parteispendern der amerikanischen Wirtschaft im anlaufenden Wahlkampf für die Kongress- und Präsidentschaftswahlen des nächsten Jahres. Von der Sucht-Industrie erhielten die Zentralen der Demokraten und Republikaner in den vergangenen zwei Jahren mehr als 16 Millionen Dollar allein an „weichen Geldern“ – besonders beliebten Spenden, deren Verwendung nicht leicht kontrollierbar ist. Hinzu kommen noch die Einzelgaben an Präsidentschaftsbewerber und INTER TOPICS T hat sich das Engagement der Casino-Könige seit 1992 auf zuletzt 5,7 Millionen Dollar vervierfacht. Die Glücksspielbranche, die jährlich 50 Milliarden Dollar mit ihren Casinos in 21 Bundesstaaten umsetzt und in den Indianerreservaten der meisten Bundesstaaten weitere 260 Spielhöllen betreibt, fürchtet strengere Auflagen. Einer der bekanntesten Betreiber, der New Yorker Immobilienspekulant Donald Trump, 53, will jetzt sogar selber Präsident werden. Vorigen Donnerstag gründete der Miteigentümer mehrerer Hotelcasinos in Atlantic City eine Wahlkampforganisation, mit welcher der Milliardär ausgerechnet die Kandidatur der populistischen Reform-Partei von Ross Perot, 69, gewinnen will. Casino-Betreiber Trump die Kandidaten für die Sitze im Senat und im Repräsentantenhaus. Während die Tabakindustrie traditionell zu den freigebigsten Politik-Ausstattern gehört, d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 219 Panorama S PA N I E N Neue Jobs für Ausländer E WHITE STAR ine Million Arbeiter aus Afrika, Lateinamerika und Osteuropa will die spanische Regierung in den nächsten drei Jahren ins Land holen. Zwar beklagt Spanien noch immer eine im EUVergleich hohe Arbeitslosenquote von 15,7 Prozent, doch auf Baustellen sowie Jeder Erntehelfer, der 35 Tage gearbeitet hat, erhält Beihilfen für den Rest des Jahres. Viele spanische Landarbeiter wollen nur bis zum Bezug dieser Hilfe schuften. Deshalb werden nach Schätzungen der Arbeitgeberverbände jährlich 300 000 zusätzliche Arbeitskräfte benötigt. In den vergangenen 15 Jahren heuerten Bauern und Unternehmer hunderttausende von illegalen Einwanderern meist aus Nordafrika an. Weil die Ausländer häufig für Hungerlöhne bis zu 14 Stunden täglich arbeiten mussten, befürworten sogar die spanischen Gewerkschaften die neuen Saisonarbeiter. Künftig sollen Unternehmer zunächst ihren Bedarf an Arbeitskräften anmelden. In den Ursprungsländern erhalten Bewerber dann ein Visum für neun Monate und müssen nach Ablauf ihrer Arbeitszeit Spanien wieder verlassen. Die ausländischen Arbeitnehmer haben Anrecht auf den gleichen Lohn wie Einheimische. Das neue Gesetz soll die Zuwanderung legalisieren. Derzeit halten sich etwa 300 000 ohne Papiere in Spanien auf. Jedes Jahr riskieren tausende Flüchtlinge die Überfahrt von Nordafrika in flachen, „pateras“ genannten Holzbooten und müssen ihre Ersparnisse an Schlepperbanden abliefern. Seit 1996 ertranken an die 400 Zuwanderer. „Wir wollen die Patera gegen die Fähre tauschen“, sagt der Präsident eines Agrarunternehmerverbands. „Wir haben es satt, Illegale einzustellen.“ Saisonarbeiter bei der Obsternte für die Ernte von Obst, Gemüse und Tabak finden sich zu wenige arbeitswillige Spanier. Sogar in den ärmsten Landesteilen, in Andalusien und der Extremadura, wo etwa 30 Prozent arbeitslos sind, melden sich nur wenige für die verachteten Jobs auf dem Bau oder im Feld. Warum auch? Für diese strukturschwachen Regionen hatte die sozialistische Regierung unter dem Sevillaner Felipe González 1983 ein staatliches Unterstützungsprogramm eingeführt. UKRAINE Ein Präsident sieht rot M assive Einschüchterungen und wachsende Gewalt belasten den Präsidentschaftswahlkampf in der Ukraine. Die linksradikale Kandidatin Natalja Witrenko wurde bereits durch eine Granate verletzt. Im Lager des bedrängten Präsidenten Leonid Kutschma verdächtigen Mitarbeiter dessen schärfsten Rivalen, den Kandidatin Witrenko Sozialisten Alexander AP Moros, von dem Attentat auf die Rivalin gewusst zu haben. Ex-Kommunist Kutschma, der zum zweiten Mal ins höchste Staatsamt gewählt werden möchte, geht immer rücksichtsloser gegen Kritiker vor. Vier lokale Fernsehsender mussten bereits den Sendebetrieb einstellen. Unbotmäßigen Tageszeitungen drohen hohe Geldstrafen. 220 d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 IRAK Beton-Bomben gegen Saddam M it einer neuen Wunderwaffe will Washington Saddam Hussein in die Knie zwingen und den neu entbrannten Propagandakrieg mit dem Despoten gewinnen. Nachdem der irakische Staatspräsident im vergangenen Dezember die Rüstungskontrolleure der Uno aus dem Land geworfen hatte, versucht er, das von den USA und ihren Verbündeten über den Norden und Süden seines Reiches verhängte Flugverbot abzuschütteln. Die über dem irakischen Staatsgebiet patrouillierenden Jets der Alliierten lässt er immer wieder von seiner Flugabwehr ins Fadenkreuz nehmen, für einen Abschuss hat er eine hohe Belohnung OSTTIMOR Flucht in den Dschungel D rei Wochen nach der Ankunft der Uno-Friedensstreitmacht Interfet in Osttimor fehlt von hunderttausenden Einwohnern noch immer jede Spur. Vor dem Unabhängigkeitsreferendum vom 30. August lebten etwa 850 000 Melanesier und Mestizen auf der bisher von Indonesien besetzten Inselhälfte. Australische Uno-Soldaten, die seither Städte und Dörfer von den proindonesischen Milizen zurückerobern, finden jetzt nur noch menschenleere Ruinen vor. Im Grenzort Balibo, wo einst 15 000 Menschen lebten, traf die Interfet-Streitmacht vorige Woche nur eine einzige alte Frau an. Von den 120 000 Einwohnern der Hauptstadt haben sich erst 45 000 wieder zurückgemeldet. Eine intensive Suche nach Flüchtlingen in den umliegenden Bergen blieb erfolglos. Noch immer werden weit über 100 000 osttimoresische Flüchtlinge im indonesischen Westteil der Insel in Lagern festgehalten; erst letzte Woche begann die Uno mit ihrer Rückführung. Weil die australischen Soldaten häufig auf verlassene Gefangenenlager und Folterzentren stießen, befürchten sie, dass die marodierenden Milizen tausende Unabhängigkeitsbefürworter umgebracht haben könnten. Uno und Hilfsorganisationen hoffen nun, dass sich die übrigen Vermissten, etwa eine halbe Million Osttimoresen, noch immer im Dschungel verstecken. Amerikanischer Kampfjet im Einsatz am Golf Zerstörtes Wohnhaus im Irak ausgesetzt. Bisher antworteten die Amerikaner und Briten auf die Bedrohung mit lasergelenkten Bomben, die zahlreiche Opfer unter der irakischen Zivilbevölkerung forderten – und damit Washington moralisch unter Druck setzten. Weil Saddam seine Abwehrstellungen häufig in Wohngebieten versteckt, haben die Bomben nach Angaben Bagdads allein in den vergangenen Monaten 200 Menschen getötet. Die neu entwickelten Beton-Bom- Ministerpräsident Milo∆ Zeman, 55, über die Hürden auf dem Weg zum EU-Beitritt und die Probleme mit den Roma Zeman SPIEGEL: Kann sich Ihr Land in jener Gruppe der mitteleuropäischen Staaten halten, die als erste der EU beitreten werden? Zeman: Unser großes Problem ist die steigende Arbeitslosigkeit. Dennoch, unsere jüngste Zahlungsbilanz ist die beste der letzten sechs Jahre, die Inflation sank von zehn auf drei Prozent. Ich glaube, wir werden den Beitritt im Jahr 2003 geschafft haben. SPIEGEL: Als einziger der ersten Beitrittskandidaten wies Tschechien vergangenes Jahr beim Wachstum ein kräftiges Minus von über zwei Prozent aus. Zeman: Im ersten Vierteljahr 1999 ging es sogar noch weiter bergab. Im zweiten Quartal allerdings betrug der Zuwachs bereits 3,6 Prozent. Der Druck aus Brüssel kann uns nur helfen. SPIEGEL: In Brüssel wird der Vorwurf erhoben, Prag kümmere sich nicht hinreichend um den Schutz von Minderheiten. Es gibt sogar Pläne, eine Art Ghetto für Roma einzurichten. * Kinder sitzen in Sockellöchern, die zur Vorbereitung des Mauerbaus ausgehoben wurden. Zeman: Gegen ein Ghetto bin ich ganz entschieden. Meine Regierung hat ein umfangreiches Hilfsprogramm für die Roma verabschiedet. Ein gemeinsames Roma-tschechisches Dorf in Nordmähren wird zum Pilotprojekt. SPIEGEL: Dennoch entsteht im nordböhmischen Aussig eine Mauer, hinter der Roma vom Rest der Bevölkerung abgeriegelt werden sollen. Zeman: Meine Regierung hat den Leiter des Bezirksamts angewiesen, den Bau einzustellen. Noch im Oktober soll das SIPA PRESS „Druck aus Brüssel hilft uns“ ben des Pentagon sollen nun die Zahl der Zivilopfer drastisch senken. Die 900 Kilo schweren Waffen sind nicht mit explosiven Sprengsätzen, sondern mit Zement aufgefüllt. So könnten die Bomben die Flakstellungen der Iraker zertrümmern, glaubt das US-Verteidigungsministerium, ohne dass durch die Streuwirkung herkömmlicher Sprengsätze Zivilisten in anliegenden Wohngebieten getroffen würden. DPA TSCHECHIEN AFP / DPA US NAVY / REUTERS Ausland Roma-Protest in Aussig* d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Parlament darüber endgültig entscheiden. Ich gehe von einem eindeutigen Votum gegen den Bau der Mauer aus. SPIEGEL: Brüssel verlangt auch, Tschechien müsse vor dem Beitritt die Zollunion mit der Slowakei beenden. Zeman: Dazu sind wir schweren Herzens bereit. Ich hoffe sehr, dass die Slowakei ihre demokratischen Reformen stark beschleunigt, damit sie möglichst schnell Mitglied der EU werden kann. SPIEGEL: Soll das heißen, dass Prag bereit wäre, mit dem EU-Beitritt zu warten, bis auch Bratislava so weit ist? Zeman: Eindeutig nein. Ich wäre allerdings froh, wenn die Slowakei schon bald Teil des Schengen-Systems werden könnte, also die Kontrolle zum Schutz der EU vor unerwünschtem Zuzug an ihren Außengrenzen vornehmen würde. Dann brauchten wir keine Visa-Pflicht zwischen unseren Ländern einzuführen. SPIEGEL: Brüssel zwingt die Beitrittsstaaten zur Übernahme der EU-Regeln, erlaubt aber Übergangsfristen. Was bereitet Ihnen besondere Sorgen? Zeman: Die Freigabe des Bodenerwerbs, bei der Fristen von bis zu 15 Jahren in Rede stehen – da wird es auf die Höhe der Bodenpreise ankommen. Ein allmähliches Angleichen der Preise an das EU-Niveau ist für die Freigabe des Handels mit Grund und Boden unerlässlich. SPIEGEL: Befürchten Sie, dass sich sonst zu viele Deutsche wieder im früheren Sudetenland ansiedeln könnten? Zeman: Wenn wir EU-Mitglied sind, kann sich bei uns jeder Grundstücke kaufen. Es geht nur darum, zu welchem Preis. 221 Ausland Russische Panzer auf der Straße nach Grosny: „Die Freundschaft der Völker ist unzerstörbar“ REUTERS K AU K A S U S „Wir schießen auf alles“ Die russische Regierung stürzt sich in einen Feldzug, den sie schon einmal verlor – gegen die Rebellenrepublik Tschetschenien. Der neue Krieg könnte ein Jahr dauern, anderthalb Milliarden Dollar und viele Menschenleben kosten. 80 000 Tote forderte der vorige Waffengang. A lles für die Front“, brüllte die Schlagzeile der „Iswestija“: Russlands Wirtschaft werde auf die „Mobilmachung“ vorbereitet. Ein Foto zeigte emsige Rüstungsarbeiterinnen. Die Unterstützung aus der Heimat galt jenen mehr als 60 000 Soldaten, welche die Rebellenrepublik Tschetschenien seit drei Wochen mit Panzern, Geschützen und raketenbestückten Flugzeugen zu Bundestreue und Botmäßigkeit à la russe zwingen wollen. Und an einem raschen Sieg ist der 222 Regierung von Ministerpräsident Wladimir Putin nicht einmal gelegen. Denn der Krieg liefert den Kreml-Herren die Argumente für die allmähliche Errichtung eines Notstandsregimes, das möglichst lange erhalten bleiben soll: Im Herbst werden 205 000 Rekruten einberufen, weit mehr als im Vorjahr. Nach sechs Monaten Grundausbildung gelten sie als frontreif. Auf ein Jahr veranschlagen Experten die Dauer des Feldzugs und die Kosten auf d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 mutmaßlich mehr als 1,5 Milliarden Dollar – rund eine Monatsrate des russischen Budgets, ein Drittel des nächsten Kredits des Weltwährungsfonds oder ein gutes Fünftel jenes Batzen, den russische Abzocker binnen kurzer Zeit über die Bank of New York beiseite geschafft haben (siehe Seite 225). Und der vorige Tschetschenien-Krieg kostete 80 000 Menschenleben. In der Hauptstadt des einstigen Gegners USA brandmarkten Parlamentarier des Repräsentantenhauses inzwischen REUTERS Arg un AFP / DPA Schagrows Terek-Kosaken patrouillieren deshalb mit ihren Jagdgewehren in Trupps zu fünf Mann ums Dorf. Andere Waffen mag ihnen die Regierung bisher nicht zugestehen. Aber Ataman Schagrow hat sich zwecks Aufrüstung bereits einen Termin bei Innenminister Wladimir Ruschailo geben lassen, als der vorige Woche den Kaukasus besuchte. An vier offenen Gräbern von Kameraden, die beim Grenzschutz fielen, hat Schagrow schon gestanden. Den Moskauer Verheißungen steht der Kosaken-Hauptmann deshalb skeptisch gegenüber. „Wir sind von allen enttäuscht“, sagt er verbittert. Denn „früher haben wir besser gelebt, friedlich“. Früher heißt: als der jetzt parteilose Bürgermeister noch der KPdSU angehörte und deren Stawropoler Gebietsorganisation vom jungen Michail Gorbatschow geleitet wurde. Kindergärtnerin Natalja Filipowana, 30, teilt die Sowjetnostalgie ihres Dorfvorstehers. Die Gegenwart sei furchtbar: „StänTschetschenische Flüchtlinge: „Panikstimmung, Depression, Hysterie“ dig schlaflose Nächte und Schießereien.“ Scharfschütze Alexej, 20, sucht mit dem Ihre Stimme bei den nächsten Wahlen, das eroberte Zone Zielfernrohr seines Gewehrs das Gebüsch hat sie schon entschieden, bekommen die im Tal jenseits des Wassers ab. „Wenn sich Kommunisten. Vielleicht, so hofft sie, veretwas bewegt“, sagt der junge Soldat, mögen die das kollektive Gefühl vieler Tere k Schelkowskaja „dann schießen wir auf alles.“ Russen im Kaukasus zu korrigieren, „dass Alexej gehört zu einer Truppe, der Mos- uns niemand mehr braucht“. RUSSLAND Grosny kau übertragen hat, um das aufsässige Jene Enttäuschten, die auch von der Tschetschenenland „einen sanitären Kor- KP nichts mehr erwarten, möchte die midon“ (Putin) zu ziehen. Wenn es Nacht litante „Russische Nationale Einheit“ TSCHETSCHENIEN wird am Ufer des Terek, feuern Alexej und (RNE) sammeln. Die Kameraden organiÖlpipeline seine Kameraden auf einen unsichtbaren sieren im Stawropoler Gebiet SchießFeind. „Hier gibt es keine Sicherheitszo- übungen und versprechen eine „russische D A G E S TA N ne“, kommentiert er den Auftrag seiner Ordnung“. Doch mit den uniformierten K a u k a s u s Moskauer Oberen, „hier sind einfach wir.“ Kämpfern, die den rechten Arm zum Gruß GEORGIEN Bis Freitag voriger Woche hatten die rus- „Heil Russland“ recken, will Bürgermeister 100 Kilometer sischen Truppen Schelkowskaja erreicht, Schagrow nicht zusammenarbeiten, obaber noch nicht die begehrte Erdölleitung wohl er weiß, dass „viele Bürger mit ihnen Russland als gesetzlosen Staat, regiert von quer durchs Land. Auch den Terek, die sympathisieren“. Die Offensive gegen Tschetschenien, bei „Kleptomanen“. Wenn der Ruf schon so historische Grenze zwischen dem russinachhaltig ruiniert ist, glaubt der Kreml schen Siedlungsgebiet und den kauka- der die russische Armee innerhalb einer auch beim jüngsten Kreuzzug keine be- sischen Bergvölkern, haben Putins Soldaten Woche fast ein Drittel der Rebellenrepusonderen Rücksichten mehr nehmen zu noch nicht überschritten. Mit Feuerüberfäl- blik besetzt hat, zeigt an der Heimatfront müssen: Ausländische Vermittlung sei len von tschetschenischem Gebiet aus müs- jedenfalls Wirkung. Der Kindergärtnerin nicht erwünscht, beschied Außenminister sen die Bewohner von Galjugajewskaja Filipowana imponiert der ehemalige GeIgor Iwanow knapp eine besorgte EU- ständig rechnen. Die scheinbare Idylle mit heimdienst-Chef Putin, 47, „weil er im UnGänsen und Hühnern zwischen blau gestri- terschied zu seinen Vorgängern etwas tut“. Delegation. Der militärische Vorstoß, Derweil bestellte Präsident Boris Jelzin chenen einstöckigen Häusern den die Regierung als eine Art zu seinem Quisling-Regenten im abtrün- liegt in einer Unsicherheitszoerweiterter Polizeiaktion gegen nigen Bergland den zwielichtigen tsche- ne, und das nicht erst seit BeTerroristen zu maskieren vertschenischen Geschäftsmann Malik Sai- ginn der jüngsten Strafaktion. 21 Polizisten seien seit Ansucht, hat tschetschenischen dullajew, 35, der seine staatsmännischen Desperados wie dem inzwiErfahrungen beim Betreiben von Restau- fang des Jahres in der Nähe des schen von Interpol gesuchten rants, Schönheitssalons und einträglichen Dorfes von Heckenschützen Schamil Bassajew bislang Lotterien sammelte und zwischendurch getötet worden, berichtet Anakaum geschadet, im Gegenteil. schon Zeit fand, an „mein Volk“ zu appel- tolij Schagrow, 53, Bürgermeister von Galjugajewskaja Der seit langem verhandlungslieren. bereite Tschetschenen-PräsiDie Realität des Krieges, von der russi- und nebenher Kosaken-Atadent Aslan Maschadow wurde schen Armee daheim gern verschleiert, be- man. Die seit 400 Jahren bodurch Moskaus Attacke geginnt am linken Ufer des Flusses Terek – denständigen und wehrhaften zwungen, Bassajew die Verteidort, wo bei der 3500-Seelen-Gemeinde Bauern, unter der Sowjetmacht digung der Ostfront zu überGaljugajewskaja das Stawropoler Gebiet zur Operettentruppe degratragen. der Russischen Föderation endet und auf diert, möchten nun wieder zu Während Panzerkolonnen der anderen Seite die tschetschenische Re- Wächtern an Russlands Südgrenze aufgewertet werden. durch staubige Straßen der publik beginnt. Regierungschef Putin d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 223 Ausland nordkaukasischen Stadt Mosdok auf Tschetschenien zurollen, vorbei an der verblassenden Propagandaparole „Die Freundschaft der Völker ist unzerstörbar“, sammeln sich die zivilen Opfer des Kriegs am Posten 14, wenige Kilometer vor der Grenzstadt. Die tschetschenischen Wachen haben ihren Kontrollpunkt jenseits des Dorfes Bratskoje schon geräumt, die russische Armee ist noch nicht vorgerückt. Durch das Niemandsland flutet ein wachsender Strom von Müttern mit Säuglingen, Familien mit Kindern, Alten. Marchet, 30, kommt aus Gudermes. Mit ihrem Mann brach sie zur Grenze auf, als sich in den Straßen ihrer Stadt Bewaffnete zum Endkampf gegen die Russen rüsteten. Hilflos hockt sie auf zwei Koffern, wartet auf ihre Registrierung durch russische Uniformierte. Sie will „nicht noch einen Krieg erleben, der erste war schon furchtbar genug“. Die Russin Jelena Gritschina hat Grosny verlassen, wo sie 30 Jahre gelebt und auch den letzten Krieg von 1994 bis 1996 überstanden hat. In der tschetschenischen Hauptstadt, sagt die Lehrerin, machten sich „Panikstimmung, Depression und Hysterie“ breit. Gerissene Händler hätten die Lebensmittelpreise in wenigen Tagen um das Anderthalbfache erhöht, Fanatiker seien zu allem entschlossen und wollten Grosny um keinen Preis kampflos räumen. Geflohen ist sie vor der antirussischen Stimmung, die nach den Bombenangriffen nicht verwunderlich ist. Gleichwohl lobt sie ihre tschetschenischen Nachbarn, die mit ihr während des Krieges „das letzte Stück Brot geteilt“ hätten. Scharfmacher, so ihr nüchternes Fazit, gebe es auf beiden Seiten. Ähnlich urteilt auch Mowla, 41, tschetschenischer Flüchtling aus Grosny. Die islamistischen Terrortrupps Bassajews sind ihm genauso zuwider wie die russischen Luftangriffe. Die Russen seien „normale Leute“, sagt der Ingenieur, doch in Moskau gebe es „offensichtlich Kreise, die am Krieg ein Interesse haben und daran verdienen“. Im kaukasischen Hinterland fahndet der Geheimdienstler Anatolij, 43, nach „Terroristen“. Über die Behauptung, die Armee kontrolliere bereits „befreite Gebiete“, kann er nur lachen. Wo russische Panzer über herbstliche Felder rollen, sind die Russen noch keineswegs Herren der Lage, wenngleich sie vereinzelt schon frohgemut Ortskommandanturen gebildet haben. Doch damit im Kaukasus der Feind weiter unter Ausschluss der Öffentlichkeit „massakriert“ (Putin) werden kann, will Moskau die entscheidende Schlacht erst mal an der Propagandafront gewinnen: „Wer die Information kontrolliert“, freut sich Innenminister Ruschailo, „der kontrolliert die Welt.“ Uwe Klussmann d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 BANKEN Tatjanas Garderobe Anklage in New York wegen illegaler Transfers russischer Gelder: Die Staatsanwaltschaft beschuldigt drei Verdächtige. Führt auch eine Spur in den Kreml? SENSOV / MOSCOOP / ROPI AFP / DPA E ntwirrt wurde das Knäuel an zwei Enden. Als die US-Bundespolizei FBI in einem Fall von Kidnapping ermittelte, stieß sie auf ein verdächtiges Konto bei der Bank of New York, auf dem das Lösegeld gelandet war. Erst da erfuhren die Beamten, dass die Staatsanwaltschaft von New York dasselbe Finanzinstitut auch schon im Visier hatte. Auf dem Konto Nr. 6300813206 trafen jeden Tag hunderte Einzahlungen aus Russland ein. Wenige Tage darauf gingen hunderte Überweisungen auf viele Konten in der ganzen Welt hinaus. Der Umsatz betrug seit 1996 fast fünf Milliarden Dollar. Über das Konto verfügte eine internationale Handelsgesellschaft namens Benex, und die hatte nicht minder auffällige Partner, zum Beispiel die Firma Becs International, die zwei Milliarden bewegte. Eine dritte Gesellschaft, Torfinix, lieferte Benex und Becs das Geld zu. Da schloss sich für die Fahnder der Kreis: Die für den Osthandel zuständige Vizepräsidentin der Bank of New York, Lucy Edwards, geborene Ludmilla Pritzker, 41, besaß Bankvollmacht für das Konto von Torfinix, und Frau Edwards ist verheiratet mit Peter Berlin, 44, dem Geschäftsführer der Benex. Frau Edwards wurde von ihrer Bank gefeuert, vorigen Dienstag erhob die Staatsanwaltschaft vor dem Bundesgericht öffentlich Anklage gegen das Ehepaar und dessen russischen Geschäftsfreund Alexej Wolkow sowie gegen die Firmen Benex, Becs und Torfinix. Denn für Geldtransfers, als Geschäft betrieben, bedarf es einer Lizenz der Aufsichtsbehörde, die der US-Bürger und gebürtige Russe Berlin beantragt, aber nicht bekommen hatte. Ohne diese Genehmigung macht man sich in den USA strafbar, was 15 Jahre hinter Gitter führen kann. Das Paar befindet sich derzeit in London, Partner Wolkow hält sich in Russland auf. Die Ankläger rechnen dennoch mit ihrem Erscheinen und hof- Frisch gewaschen, taugt das Geld zum Einkauf neuer Ware. Doch wie kam das Geld nach New York? Das FBI erkundigte sich bei russischen Kollegen nach Geschäftspartnern der Bank of New York, etwa der Moskauer Sobin-Bank, welche die Zolleinnahmen verwaltet und Staatsdomänen finanziert. Maskierte Polizisten besetzten vorigen Dienstag die Sobin, durchsuchten die Tresore und beschlagnahmten Akten. Russlands Steuerminister Alexander Potschinok war nicht überrascht: „Alle unsere Banken arbeiten mit der Bank of New York.“ Das tun auch andere Firmen: Der Ölkonzern Sibneft, an dem der Tycoon Boris Beresowski beteiligt ist, schleuste im Ausland fällige Verkaufserlöse und gesparte Steuern zur Bank of New York und von dort in die Schweiz. In diese Transaktionen soll auch die Sibneft-Tochter East Coast Petroleum verwickelt sein, welche der Russe Alexej Djatschenko leitet, sowie die ihm verbundene BelkaHandelsgesellschaft. Djatschenko verfügt über zwei Konten bei der Bankfiliale auf den Cayman-Inseln, so hat der Direktor der Bank of New York, Thomas Renyi, in einem Hearing des USRepräsentantenhauses ausgesagt. Die Konten weisen ein Guthaben von 2,7 Millionen Dollar aus. Pikant: Djatschenko ist der Schwiegersohn des Präsidenten Boris Jelzin. Seine Ehefrau Tatjana, amtlicher „Imetschmaker“ Jelzins, weiß nicht genau, womit ihr Mann sein Geld macht: „Irgendetwas mit Holzverarbeitung.“ Russlands suspendierter Generalstaatsanwalt Jurij Skuratow verdächtigt Tatjana Djatschenko schon länger, mit einer vom Schweizer Bauunternehmer Behgjet Pacolli finanzierten Kreditkarte Garderobe en gros eingekauft zu haben – möglicherweise Pacollis Dank für Staatsaufträge aus dem Kreml. Der Vater, dessen Name auch eine American-Express-Karte ziert, habe aber „persönlich nichts damit zu tun“, sagt Skuratow. Ihn bekümmern größere Deals: Vorigen Sommer, kurz vor der RubelAbwertung, hätten 18 Privatbanken sich 3,9 Milliarden Dollar bei der Zentralbank beschafft, im Tausch gegen bald darauf entwertete Rubel. Die Greenbacks, sagt Skuratow, stammten vom Weltwährungsfonds und seien gleich auf Konten bei der Bank of New York geflossen. Fritjof Meyer Bank of New York: Milliarden aus Moskau fen, dass sie als Zeugen aussagen – mit strafmildernder Wirkung: „Diese Untersuchung steht erst am Anfang, und es bleibt noch viel zu tun“, so die Staatsanwaltschaft. Es bleibt etwa zu prüfen, wem die Benex gehört – wohl einem Semjon Mogiljewitsch, der sich in Ungarn mit Mädchen- und Waffenhandel abgeben soll und alles bestreitet. Einige Empfänger der Überweisungen entpuppten sich als polizeibekannte Dunkelmänner. So gingen über die New Yorker Bank 5,5 Millionen Dollar von der Benex auf ein italienisches Konto des Ukrainers Boris Rizner, 34, der per Haftbefehl wegen Erpressung gesucht wird. Rizner gilt als Kumpel des Paten der OstMafia in Nordostitalien, Jossif Roizis, 52, der seit Februar in U-Haft sitzt. In der Gegend um Rimini kaufen russische Handelsleute seit langem Kleider und Möbel für den Export in die Heimat auf. Russische Mafiosi pressen ihnen die Rechnungen ab, um sich die Mehrwertsteuer erstatten zu lassen, und erzwingen Provisionen durch Prügel und Geiselnahme. Rizner empfing von der Bank of New York weitere 700 000 Dollar auf sein Konto bei der Credito Cooperativo Ospedaletto. Jelzin, Tochter Tatjana d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 225 Ausland ÖSTERREICH Backhendl und Wildreis der Wähler haben immerhin für die noch amtierende SPÖ/ÖVP-Koalition gestimmt. Zwar legen Untersuchungen nahe, dass beinahe jeder zweite Österreicher ausländerfeindlich ist; sie zeigen aber auch, dass bei FPÖ-Wählern dieses Thema nur auf Rang vier der Prioritätenliste lag. Vordringlich wurde der Wunsch geäußert, Haider möge gegen Korruption und Parteibuchwirtschaft im Dunstkreis der Koalition vorgehen. So sind es die Regierungsparteien selbst, die Haider zu einer weltweit misstrauisch beäugten politischen Größe gemacht haben. Angststarr im Angesicht des strahlenden Populisten, verharrten Klima und Schüssel bis zuletzt in der Deckung. Sie haben die Themen diktiert bekommen, statt sie zu setzen. Elf Milliarden Mark jährlich leistet sich Österreich an Familienhilfen, was in Relation zur Bevölkerung weltrekordverdächtig ist. Doch Haider fordert 800 Mark im Monat für das Erstgeborene jeder Inländerin und macht damit Punkte. Die geringste Zuwanderungsrate in der EU und die niedrige Arbeitslosigkeit hinderten ihn nicht daran, „Österreich zuerst“ zu plakatieren. Sicher, es grummelt vernehmlich im Land. Aber bei genauem Hinhören klingt das nicht nach Hungerknurren, sondern nach Völlegefühl. Als die FPÖ am Wahlabend feiert, drängt wenig einfaches Volk ans Büffet. Mit modischem Wildreis und klassischem Backhendl wird Haiders allseitig anschwellender Sammlungsbewegung Rechnung getragen – Lodenhut trifft auf Business-Suit. Eine Koalition mit der FPÖ wäre für die ÖVP ein gefährlicher Salto rückwärts, schreibt der Schriftsteller und Alfred-Döblin-Preisträger Gerhard Roth im Magazin „Format“: Schon „mit Waldheim erhielt die Casa d’Austria in den achtziger Jahren einen diskreten Hausmeister, der von nichts wusste und sich an nichts erinnern konnte“. Kurt Waldheim, wegen seiner Rolle im Nationalsozialismus angefeindeter ÖVPPolitiker, war von 1986 bis 1992 Bundespräsident. Er hat die Zweite Republik erstmals in die internationale Isolation geführt. ÖVP-Chef Schüssel steht nun vor der Wahl, mit der SPÖ weiterzumachen wie bisher oder sich mit Haiders Hilfe zum Kanzler wählen zu lassen, um den eventuellen Preis erneuter Ächtung seines Landes. Klimas Sozialdemokraten unterstellen bang, dass es so kommen wird. David Mock, Sprecher des Bundeskanzlers, zeichnet ein volksnahes Bild der Annäherung zwischen Konservativen und Freiheitlichen: „Des is’ wia ins Wossa einibieseln – ma mocht’s, aber ma redt net drüba.“ Walter Mayr VIENNAREPORT Nach ihrem Wahlerfolg ist Jörg Haiders FPÖ auf dem Sprung in die Regierung. Der Wunschpartner ÖVP zögert, die Warnsignale aus dem Ausland klingen schrill. ger. Wer mit ihm regieren wolle, dürfe sich melden, hat er als Parole für die Koalitionsverhandlungen ausgegeben. In seinen 13 Jahren an der Spitze hat Haider den Stimmenanteil der FPÖ verfünffachen können. Inzwischen ist seine aggressiv fremdenfeindlich auftretende Partei stärkste Kraft in den Landeshauptstädten Salzburg, Innsbruck, Graz, Bregenz und Klagenfurt, aber auch in Kitzbühel, Kufstein, Radstadt und am Wörthersee – wo Österreich am schönsten und der Fremde für gewöhnlich ein geschätzter Goldesel ist. Wahlsieger Haider: Unheil für die Tourismusnation? I m Revier rund um den Wiener Erlachplatz ist alles wie gewohnt – kleine Leute, große Mietshäuser, buntes Völkergemisch. Es gibt weiterhin Surhaxe im Gasthaus Hes und scharfe Paprikaschoten beim Anatolier nebenan. Die Plakate, auf denen „Stop der Überfremdung“ stand, sind schnell wieder verschwunden. Kein Hinweis findet sich dafür, dass im Arbeiterbezirk Favoriten die Dinge aus der Balance geraten wären. Und doch wurde hier am vorvergangenen Sonntag in drei Wahllokalen ein Beben registriert – erstmals seit Menschengedenken lag die Sozialdemokratische Partei (SPÖ) bei Nationalratswahlen nicht in Front. Jörg Haiders Freiheitliche Partei (FPÖ) hatte gewonnen. Mehr als 27 Prozent der Stimmen bundesweit und Platz zwei hinter Kanzler Viktor Klimas SPÖ hat der Kärntner Volkstribun eingefahren. Selbst wenn am Dienstag, nach Auszählung der Briefwahlstimmen, die konservative Österreichische Volkspartei (ÖVP) unter Wolfgang Schüssel noch um Haaresbreite vorbeizöge – Haider bliebe als Dritter mit einem Stimmengewinn von fünf Prozent der eigentliche Wahlsie226 Die FPÖ erwies sich als Partei der Jugend. Bei den unter 30-Jährigen errang sie fast so viele Stimmen wie die Dauer-Koalitionäre SPÖ und ÖVP zusammen. Sie liegt auch vorn in der Gunst der Arbeiter, und sogar bei Unternehmern schneidet sie besser ab als die SPÖ. Die Tourismus- und Exportnation Österreich befürchtet nun Unheil. Denn Haider, im Ausland vor allem bekannt für seine öffentliche Verbeugung vor SS-Veteranen und für das Lob der Beschäftigungspolitik im Dritten Reich, rechtfertigt mit seinem Aufstieg im internationalen Urteil einen simplen Dreisatz: Wenn Haider die Nazis verteidigt und mehr als ein Viertel der Wähler Haider vertraut, muss sein Land ewiggestrig sein. „Ein neuer Hitler in Österreich?“, fragt rhetorisch die römische „Repubblica“. Widerstand gegen die „Ausbreitung der neonazistischen und faschistischen Seuche“ fordert Israels Premier Ehud Barak. Sein Außenminister David Levy droht gar mit diplomatischen Konsequenzen. In und um Wien wird die internationale Aufregung erschreckt bis erbost zur Kenntnis genommen. 60 Prozent (bisher: 66,4) d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Ausland KO S OVO Revolutionär im Alptraumland Der Grüne Tom Koenigs will mit der Uno im Kosovo Frieden stiften. Nach ein paar Wochen fragt sich der ehemalige Frankfurter Stadtkämmerer, ob er auf der „richtigen Seite“ steht. Anschlag, die hübschen jungen Mädchen, die kichernd die Straße auf und ab laufen, oder die finsteren Jungs an der Ecke mit ihrem Beuteblick – Szenen wie aus einem Roman; all das hat er irgendwo schon mal gelesen. Sogar den jüngsten Buchtitel seines Lieblingsschriftstellers Gabriel García Márquez, dessen Werke er vor 20 Jahren für Frankfurter Raubdruckausgaben übersetzt hat, könnte er sich als Tagesnotiz über den Schreibtisch hängen. Schon dreimal hat Koenigs die „Nachricht von einer Entführung“ auf den Schreibtisch bekommen. Einige Uno-Mitarbeiter wurden von Serben festgehalten, zuvor waren Serben von Albanern entführt worden, noch immer fristen mehr als tausend Kosovaren ihr Leben in serbischer Geiselhaft. Und in Kosovo Polje, am Amselfeld, haben Terroristen eine Gewehrgranate auf den serbischen Markt abgefeuert. Sie zerfetzte 3 Menschen, 30 wurden verletzt. Solche Verbrechen sind im Kosovo so alltäglich wie der Feierabendstau in Koenigs’ Heimatstadt Frankfurt am Main. Dort hat der Sohn eines Kölner Bankiers als grüner Stadtkämmerer jahrelang auf geordnete Finanzen geachtet, als Umwelt- Fischer, Koenigs (1992), Koenigs, Uno-Polizist in Mitrovica: Um den Job gerissen FOTOS: S. HUSCH (li.); K. MÜLLER (re.) E in bisschen verloren steht der schmale Mann vor der Kukri-Bar in Pri∆tina. Schüchtern prüft er, ob jemand ihn erkennt. In dem mit den Fahnen der Nato-Staaten geschmückten Café macht die westliche Wertegemeinschaft gerade Feierabend: Uno-Polizisten trinken mazedonisches Dosenbier, Diplomaten sortieren ihre Papierstapel, Hilfsorganisatoren schreien in ihre Handys. Alle sind sehr beschäftigt, niemand beachtet Tom Koenigs, den Neuen. „Guten Tag, ich bin Ihr Chef“, sagt er schließlich beherzt zu einem deutschen Bundesgrenzschutzbeamten, der zufällig vorbeiläuft. Wenn ihn niemand einführt in die Geschichte, muss er es eben selbst tun; schließlich ist er nun eine der Hauptfiguren. Das Leben in Pri∆tina erinnert ihn an lebendig gewordene Literatur: Die britischen Soldaten mit den Maschinenpistolen im dezernent Sonnenkollektoren gefördert und Hundehaufen auf den Straßen bekämpft. Nun soll er als Chef der Uno-Zivilverwaltung für das Kosovo Minderheiten beschützen, Straßen in Stand setzen, Schulsysteme einrichten, eine demokratische Verwaltung aufbauen, die Guerrillakämpfer der UÇK zunächst entwaffnen und sie dann in nützliche Mitglieder einer freien, zivilen Gesellschaft verwandeln. Um diesen unmöglichen Job hat er sich auch noch geradezu gerissen. Seit vier Wochen lebt er nun in Pri∆tina als Untermieter eines kosovarischen Pädagogikprofessors in „albanischem Plüsch“. Nachts hört er Gewehrschüsse, die Telefongespräche nach Deutschland gehen langsam ins Geld, und die Frage, ob er hier überhaupt „auf der richtigen Seite“ stehe, hat er sich auch schon gestellt. Doch eigentlich steht Koenigs auf gar keiner Seite, er ist eine. Der ehemalige linksradikale Agitator der Berliner Gruppe „Rote Zelle Ökonomie“ amtiert jetzt als leitender Beamter des Weltstaatsapparats. Den Posten hat er seinem Freund Joschka Fischer zu verdanken, den er noch aus Frankfurter Sponti-Zeiten kennt. Die Amigo-Connection gereicht ihm nicht zum Nachteil, Fischers Freunde genießen in der Betonburg der Uno in Pri∆tina einen guten Ruf. Koenigs residiert in einem 16 Quadratmeter kleinen Zimmer mit widerstandsfähigen Büropflanzen, abgeschirmt von einer resoluten spanischen Sekretärin. Seinen Besuchern weiß er von Exotischem zu berichten, etwa vom Uno-Klo, das aussehe „wie die Latrine in einer chinesischen Kaserne“. Noch findet er die neue Welt pit- Werbeseite Werbeseite AP toresk, noch sammelt er die neuen Bilder zur Wiedervorlage in seinem Kopf. Auf dem Weg nach Mitrovica beispielsweise, einer Dienstreise von der Etappe an die Front, sieht er, wie das Kohlekraftwerk Obeliƒ gelbe Abgasschwaden in den Himmel schickt. Irgendwann, nimmt Koenigs sich vor, wird er diese Schwefel spuckende Dreckschleuder abstellen. „Such doch mal einen örtlichen Nachrichtensender und übersetz dann für mich“, bittet er seinen jungen serbischen Fahrer. Der dreht gehorsam am Knöpfchen, hört ein paar Worte aus dem Äther, ruft dann „toll“ und hebt den Daumen. In Belgrad haben wieder tausende Menschen gegen Milo∆eviƒ demonstriert. Das freut den Chauffeur. Doch dann erzählt er plötzlich von seinem Leben in Pri∆tina. Als Serbe kann er in seiner Heimatstadt nicht einmal ungefährdet einkaufen. Seine albanischen Freunde, die er während des Krieges zu Hause versteckt hat, kennen ihn plötzlich nicht mehr. „Ich will weg hier. Ich hab die Schnauze voll. Ich kann das nicht länger hören: Serben hier, Albaner da.“ Der Uno-Fahrer schluckt und entschuldigt sich bei seinem Boss für den Gefühlsausbruch. „Ist schon in Ordnung“, murmelt Koenigs in seine Richtung. Das war wieder so ein Moment, in dem er sich fragt, ob der Einsatz sich überhaupt lohnt. In seiner Partei verteidigte er die Trauerfeier für ermordeten Serben in Kosovo Polje: Alltäglich wie der Feierabendstau Bombardierung von Belgrad, um die Unterdrückung der Albaner im Kosovo zu beenden. Und was machen die Unterdrückten jetzt, mit denen er sich so solidarisch zeigte? Sie vertreiben ihre Nachbarn, genauso wie die Serben zuvor. Ob die Friedensmission im Kosovo gelingt, „ist keineswegs sicher“, sagt Koenigs. Ob er hier Erfolg haben wird, „hängt sehr von der Großwetterlage auf dem Balkan“ ab. Er will andererseits auch nicht den hilflosen Funktionär vom Technischen Hilfswerk mimen, sondern versteht seine Arbeit als „politischen Job, in dem man kämpfen muss“. Natürlich sähe er es am liebsten, wenn in einigen Jahren eine demokratische Regierung in Pri∆tina residieren würde, die geflohenen Serben aus Belgrad zurückkehren und die Erzfeinde fröhliche Feste miteinander feiern würden. Doch die multikulturelle Gesellschaft, die nicht zuletzt von Frankfurter Intellektuellen immer wieder als Ideal debattiert wurde, ist im Kosovo nicht in Sicht. Ausland Für Koenigs wäre das Scheitern der Uno-Mission auch eine persönliche Niederlage. Sein Millionenerbe hatte er einst an den Vietcong und den chilenischen Widerstand gegen Pinochet verschenkt, unter dem Druck politischer Realität wandelte er sich dann von einem Linksradikalen zum liberalen Grünen, den Glauben an Toleranz und Menschenrechte hat er stets bewahrt. Diese Grundüberzeugungen geraten im Kosovo ständig auf den Prüfstand, selbst bei seiner Lieblingseinrichtung, der Feuerwehr. Den Brandbekämpfern galt schon in Frankfurt seine Liebe, auch in Pri∆tina hat er die Truppe sofort besucht und bei einem Einsatz begleitet. In Kosovo Polje brannte im albanischen Viertel das Haus eines Serben. Die 15 Feuerwehrmänner, alles Albaner, riskierten buchstäblich ihr Leben, um das Haus eines Feindes zu retten. Die Löschmannschaft von Pri∆tina ist nur noch halb so groß wie vor dem Krieg. Die 15 serbischen Kollegen fehlen. Was würde geschehen, wenn sie wieder zum Dienst kämen, hat Koenigs die verbliebenen Albaner gefragt. „Dann werden wir uns vor Freude besaufen“, lautete die Antwort. Doch die Fete wird ausfallen. Die Serben trauen sich nicht länger an ihren Arbeitsplatz. In Mitrovica, der geteilten Stadt am Ibar im nördlichen Kosovo, trifft Koenigs bei einem Arbeitsessen die Funktionäre des ihre Leute im jeweils anderen Teil der guten Willens. Über 30 Uno-Mitarbeiter Stadt. Keiner ist in der Lage, sie abzugeben, aus aller Welt sitzen im ehemaligen Bank- denn die Zahl der Feuerköpfe, die nur dargebäude der Stadt bei Pizza aus Papp- auf warten, herumzuballern und Handgraschachteln und Amselfelder Rotwein zu- naten zu werfen, ist auf beiden Seiten viel sammen, um dem neuen Boss aus Deutsch- zu groß. Die Zukunft des Kosovo, diktiert land Bericht zu erstatten. Die Nachrichten Koenigs einem albanischen Reporter anschließend auf englisch in den Block, sind nicht immer schlecht. Überall dort, wo Serben und Albaner „wird sich in Mitrovica entscheiden“. Dann fährt er zurück in das Uno-Hauptganz unter sich leben, bleibe es ruhig, berichten die Uno-Pioniere aus den zerstör- quartier nach Pri∆tina, durch eine sternenten Dörfern. Die Häuser würden winterfest klare Nacht. Links und rechts zieht die in gemacht, die Strom- und Wasserversorgung Tintenblau getauchte Landschaft an ihm bessere sich, die Kinder gingen wieder zur vorbei wie ein surreales Irrbild. Am Straßenrand liegen tote Schule – lauter kleine Siege für Hunde, auf den Wiesen lodern die Uno. Ungleich schwerer wiegen al- Koenigs’ Ideale, Flammen. Bauern verbrennen Toleranz Unkraut neben den Minenlerdings die ständigen Niederlagen. Die albanischen Ärzte, und Menschen- feldern. Die Feuer beleuchten die im serbischen Stadtteil von rechte, geraten das Amselfeld, wo vor 600 Jahren die Türken die Serben beMitrovica im Hospital gearbeiin Pri∆tina und Milo∆eviƒ vor zehn tet haben, verlassen das Kranständig auf den siegten Jahren hunderttausende natiokenhaus und nehmen ihre albaPrüfstand nalbesoffener Landsleute vernischen Patienten gleich mit. sammelte. Wochenlang sind sie auf ihrem Autofahrt durch Alptraumland? „Ab Weg zur Arbeit bedroht worden, und der serbische Chefarzt hat die Zusammenar- sofort werden hier Kfz-Nummernschilbeit torpediert, wo er nur konnte. Jetzt der ausgegeben“, sagt der Intellektuelle plötzlich unvermittelt in die Dunkelheit kehrt wieder Apartheid ein – und Ruhe. Unter vier Augen bespricht sich Koenigs hinein. Und demonstriert Entschlossenerst mit dem „Bürgermeister“ der Albaner, heit: „Wer bis zum Jahresende kein gültidann mit dem der Serben. Beide wollen ges Schild hat, wird verhaftet.“ dasselbe, nämlich Sicherheitsgarantien für Claus Christian Malzahn Ausland G R O S S B R I TA N N I E N Tödliche Lachnummer Der Schock über die Katastrophe von London zwingt Betreiber und Regierung zur überfälligen Modernisierung des maroden Bahnsystems. U nter der Rubrik „Signal-Ausfälle“ unterhält das Satiremagazin „Private Eye“ die Briten seit Jahren mit gruseligen, aber realen Geschichten über die Eisenbahn, einst der Stolz des Landes und ein Motor des Aufstiegs zur industriellen Weltmacht. Mal muss, berichtet das Blatt beispielsweise, ein 2100 Seiten starker FahrPaddington plan durch zwei dicke Er- Zwar wird wohl erst ein Untersuchungsausschuss in monatelanger Arbeit klären können, wer die Verantwortung für die Katastrophe trägt, doch eine der Ursachen, da sind die Experten schon heute einig, liegt in genau jenem Chaos, das „Private Eye“ den Stoff für seine ärgerlichen Lachnummern liefert. Seit der Privatisierung der Staatsgesellschaft British Rail vor fünf Jahren verfügt das Inselland über ein einmalig zersplittertes Eisenbahnsystem: Gleise, Bahnhöfe und Signalanlagen gehören der Gesellschaft Railtrack; Lokomotiven und Wagen verleihen 3 Betriebe an insgesamt 25 Unternehmen, die auf ihren Strecken häufig Monopolrechte haben. Hinzu kommen 5 Frachtunternehmen und 19 Wartungsbetriebe. Viele dieser Firmen nutzen zudem noch die Dienste von Subunternehmen. „Diese Fragmentierung“, so der ehemalige Operationschef der aufgelösten Staatsbahngesellschaft, Peter Rayner, mache die „Einhaltung hoher Sicherheitsstandards fast unmöglich“. Bei den meisten Ent- vertrauten die Privaten bislang auf ein weitaus billigeres akustisches Warnsystem, das aber bei einem ähnlich verlaufenden Unfall an fast gleicher Stelle vor zwei Jahren versagte. Die Schreckensbilanz damals: 7 Tote, 150 Verletzte. Hatte der Staat Schienennetz und Züge einst in der Hoffnung verkauft, dass die neuen Eigner endlich jene Investitionen nachholen würden, die er selber versäumt hatte, sah er sich enttäuscht. Vor allem durch Personalabbau sorgten die neuen Besitzer zunächst einmal für Gewinne. Von den beiden an der Kollision beteiligten Gesellschaften erwirtschaftete Thames Trains, die Eignerin des Regionalzugs, voriges Jahr 41 Millionen Pfund. Great Western Trains, verantwortlich für den Expresszug, schloss mit 92 Millionen Pfund Gewinn ab. Bei solchen Summen ist denn auch die Strafe zu verschmerzen, die das Schnellzug-Unternehmen für den Unfall vor zwei Jahren zahlen muss – 1,5 Millionen Pfund. Der Betrag ist nur halb so hoch wie die Summe, die der damalige Firmenchef LONDON Harrow Road Unglücksstelle Hyde Park gänzungsbände korrigiert werden, weil etliche der ausgewiesenen Züge nicht wie angegeben starten können – sie wären unweigerlich zusammengestoßen. Andererseits fallen fahrplanmäßige Züge in Großbritannien immer wieder aus. „Sorry, wir haben keinen Lokführer“, müssen wartende Passagiere nicht selten als Erklärung hinnehmen. Die chronischen Verspätungen holen britische Bahner dann zuweilen mit schlichter Schummelei auf: Am „Tag der 100-prozentigen Pünktlichkeit“ rauschten viele Züge durch kleinere Bahnhöfe einfach hindurch, um rechtzeitig ihr Ziel zu erreichen. Doch nun ist den Briten das Lachen über ihr Eisenbahnunwesen vergangen, das Magazin wird eine andere Rubriküberschrift auswählen müssen, seit sich am vorigen Dienstag, gut drei Kilometer vor dem berühmten Westlondoner Bahnhof Paddington, das schwerste Eisenbahnunglück der britischen Nachkriegsgeschichte ereignete. Wohl weil der 31-jährige, gerade ausgebildete Lokführer Michael Hodder übersehen hatte, dass Signal 109 auf Rot stand, starben beim Zusammenstoß eines Express- und eines Regionalzugs vermutlich 80 Menschen. Bergungstrupps suchten noch Freitagnacht in dem völlig ausgebrannten Wagen an der Spitze des Schnellzugs nach Spuren von Leichen. 232 REX FEATURES / ACTION PRESS d Roa ello rove G tob Por broke Lad 500 m Paddington Bergungsarbeiten am Londoner Unfallort: Zusammenprall bei Signal 109 scheidungen über notwendige Investitionen würden sich heute „die verschiedenen Organisationen erst einmal über Verantwortlichkeiten streiten“. Der Zusammenprall bei Signal 109 ist ein trauriger Beleg für den Zuständigkeitswirrwarr. Mindestens achtmal haben Zugführer seit 1993 das durch Masten und Drähte leicht zu übersehende Signal nicht beachtet. Spätestens nach einer BeinaheKatastrophe im Februar 1998 wurde SN 109 in den Railtrack-Unterlagen als gefährliches Sicherheitsrisiko geführt. Ein automatisches Bremssystem, das – wie etwa bei der Deutschen Bahn – die Züge zum Stillstand bringt, wenn sie ein Stopplicht überfahren, haben die britischen Eisenbahngesellschaften nur vereinzelt eingeführt. Mit Zustimmung der Regierung d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Richard George im vergangenen Jahr beim Verkauf von Unternehmensaktien verdiente. Sogar der wirtschaftsfreundliche Londoner „Economist“ kennzeichnet die „Kluft zwischen dem Reichtum der Bahnbetreiber und der Missachtung ihrer Passagiere“ als „Skandal“ und bewertet die Privatisierung von British Rail als „katastrophalen Misserfolg“. Unter dem Eindruck des Unglücks von Paddington rufen nun die Briten wieder nach mehr Staat – und finden Gehör. Vizepremier und Verkehrsminister John Prescott kündigte die verspätete Einführung des modernen Bremssystems an. Die Kosten in Höhe von einer Milliarde Pfund wollen sich Regierung und die Eisenbahngesellschaften teilen. Hans Hielscher Werbeseite Werbeseite W E LT B E V Ö L K E R U N G Alarm an der nassen Front Die Schlüsselrolle bei der Versorgung der wachsenden Weltbevölkerung spielt das Wasser. Experten sagen voraus: 2025 leidet ein Drittel aller Menschen unter akutem Mangel. * Klaus M. Leisinger: „Die sechste Milliarde, Bevölkerungswachstum und nachhaltige Entwicklung“. Verlag C. H. Beck, München; 368 Seiten; 24 Mark. 234 Wasserschwund Jährlich verfügbares Süßwasser pro Kopf in Kubikmeter 3000 2500 Somalia 2000 China 1700 Indien Äthiopien 1000 Ägypten FOTO S : I M AG I N E , BAVA R I A S tellen Sie sich vor“, heißt es auf der Internet-Seite der „NetAid Foundation“, „täglich stürzen 300 JumboJets ab. Und es gibt keine Überlebenden. Würde Sie das beeindrucken, würde das Ihre Wut anstacheln?“ Mit derart drastischen Vergleichen wirbt die neu gegründete Stiftung für den Kampf gegen Hunger und tödliche Armut. Prominente Menschenfreunde wie Bill Clinton, Nelson Mandela und Tony Blair unterstützen die Kampagne. Kurz bevor nach UnoBerechnungen am 12. Oktober irgendwo in Afrika, in Indien oder auch im GazaStreifen der sechsmilliardste Erdenbürger geboren wird, klingen die Warnungen von Entwicklungshelfern, Wissenschaftlern und Politikern immer schriller. Bis vor kurzem hatte noch das Prinzip Hoffnung überwogen; mit dem technischen Wissen und den finanziellen Mitteln der Moderne, so schien es, müssten Mängel und Krisen langfristig zu bewältigen sein. So dachte auch der Entwicklungssoziologe Klaus Leisinger. Aber nun, da er das statistische Material zum Bevölkerungswachstum und zu den Folgen erneut zusammengetragen hat, erfüllt ihn „immense Alarmiertheit“*. Der in Basel lehrende Professor, der stolz darauf ist, sich von den Beschwörern der Apokalypse immer fern- Kenia Algerien Somalia Israel Jordanien 0 1955 d e r 1998 s p i e g e l 2025 4 1 / 1 9 9 9 akuter Mangel Durstende Flüchtlinge in Äthiopien: Kampf um Wasser am Blauen Nil gehalten zu haben, sieht die letzten Chancen schwinden: „Begreift denn niemand, was hier läuft?“ Seinen Sinneswandel hat in erster Linie die gefährliche Kombination von Wassermangel, Knappheit an landwirtschaftlich nutzbaren Böden und Zerstörung der Tropenwälder bewirkt. Das Wasser spielt dabei die Schlüsselrolle für die Ernährung der Weltbevölkerung – es ist die Voraussetzung, dass Getreide und Gemüse gedeihen, aber auch Gras fürs Vieh. Dabei ist auf Regen allein kein Verlass: Schon heute werden weltweit auf den bewässerten 17 Prozent der Anbaufläche fast 40 Prozent der Nahrungsmittel erzeugt. Wasser ist kostbar, obwohl es 70 Prozent der Erde bedeckt. Aber nur 2,5 Prozent aller Vorkommen sind Süßwasser, und davon steht nur etwa ein Prozent in Flüssen, Seen und als Grundwasser zur Verfügung. Von den jährlich 110 000 Kubikkilometer Niederschlägen sind gerade mal 9000 Kubikkilometer nutzbar, wie Leisinger berechnet hat, dazu kommen etwa 3500 Kubikkilometer in Stauseen und Reservoirs. Wasser ist nicht nur Mangelware, es ist auch ungleich verteilt. Auf den 40 Prozent der Landfläche, die trocken oder halb trocken ist, gibt es nur zwei Prozent des globalen Fließwassers. Aber auch dort, wo im Durchschnitt genug Regen fällt, wechseln sich Monate starken Regens und extremer Trockenheit ab. Üppig, wie für Amerikaner und Europäer (Tagesverbrauch: bis 700 Liter), sprudelt der Wasserhahn nur ausnahmsweise. Senegalesen müssen mit weniger als 30 Litern auskommen. Pro Jahr verbringen die 771 Millionen Afrikaner etwa 40 Milliarden Stunden beim Wasserholen. Wo Wasser rar ist, ist auch seine Qualität schlecht. In den Entwicklungsländern haben 1,2 Milliarden Menschen keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser, 2,9 Milliarden verfügen nicht über sanitäre Einrichtungen. Etwa die Hälfte der Menschen in diesen Ländern plagt sich mit Krankheiten, die auf die prekäre Wasserversorgung zurückzuführen sind. Für das Jahr 2025 erwarten Fachleute in 52 Ländern Wasserknappheit (weniger als 1700 Kubikmeter pro Kopf und Jahr) oder akuten Mangel (weniger als 1000 Kubikmeter). Betroffen sind dann bis zu 3,2 Milliarden Menschen, 37 Prozent der Weltbevölkerung. Die Zusammenhänge zwischen Bevölkerungswachstum, Entwicklung und Wasserbedarf sind in China besonders augenfällig. 1980 lebten dort etwa eine Milliarde Menschen, die Industrialisierung war relativ gering und der Wohlstand der Städter bescheiden. Die vorhandenen Ressourcen an Frischwasser, immerhin die viertgrößten der Welt, reichten für alle. Heute ist die Bevölkerung um 250 Millionen Menschen angewachsen, die Mangel BOCCON-GIBOD / DAS FOTOARCHIV Ausland Werbeseite Werbeseite Ausland 236 d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 schon begonnen. Wo hohe Preise die Verschwendung verhindern, haben die Armen das Nachsehen; wo der Markt nicht greift, herrschen Willkür und Korruption. So wächst um die prekäre Versorgung ein gewaltiges soziales Konfliktpotenzial. Noch gefährlichere Auseinandersetzungen zeichnen sich zwischen rivalisierenden Staaten ab. Große Teile Ostafrikas leben vom Wasser des 6700 Kilometer langen Nil. Die Verträge zwischen den Anrainerstaaten stammen aus dem Jahr 1959. Sie müssten längst neu ausgehandelt werden. Doch die größten Länder, Ägypten und Sudan, sind uneins. Zudem verlangt Äthiopien einen größeren Anteil, da 80 Prozent des Wassers, das durch Kairo fließt, aus seinem ergiebigen Blauen Nil stammen. 2050 wird eine Milliarde Menschen von der gerechten Verteilung des Nilwassers abhängen, viermal mehr als heute. Eine lange Tradition hat der Wasserstreit auch im Nahen Osten, einer der trockensten Regionen der Erde. Vor allem Israel wird von arabischen Staaten beschuldigt, den Wasserhahn im Machtpoker einzusetzen. Im März erschreckte Jerusalem die jordanischen Nachbarn mit der Ankündigung, wegen Trockenheit die zugesicherte Wassermenge um die Hälfte zu kürzen. „Die Kriege des nächsten Jahrhunderts werden um Wasser geführt“, prophezeit Ismail Serageldin, Vizepräsident der Weltbank. Der Mangel und die Verteilung werden politisch gemanagt werden müssen – sicher ist aber auch, dass dies nur gelingt, wenn die Weltbevölkerung nicht unkontrolliert weiter wächst. Spektakuläre Internet-Auftritte und Mega-Konzerte, wie sie NetAid für den 9. Oktober gegen die Armut angekündigt hatte, ergeben nur Sinn, wenn die Regierungen ihre Verpflichtungen einhalten. 1994 versprachen sie in Kairo auf der Weltbevölkerungskonferenz, die Mittel zur Propagierung der Familienplanung, zur Förderung der Frauenausbildung und zur Verteilung von Verhütungsmitteln bis zum Jahr 2000 auf 17 Milliarden Dollar zu verdreifachen. Leeres Gerede: Die Industrieländer, schätzt die Uno-Organisation für Entwicklungshilfe, werden ihre finanziellen Verpflichtungen nur zu einem Drittel erfüllen. „Das wesentliche Merkmal des 20. Jahrhunderts“, resümiert der britische Professor Ernst Gombrich, „ist die schreckliche Vermehrung der Weltbevölkerung. Es ist eine Katastrophe, ein Desaster.Wir wissen nicht, was wir dagegen tun können.“ Jürg Bürgi M. HORACEK / BILDERBERG Industrialisierung wird kräftig vorangetrieben, die Metropolen wuchern, der Wohlstand nimmt zu. Die Folge ist eine „ungeheure Wasserknappheit“, so Leisinger: 2030 werden sich 1,5 Milliarden Menschen die vorhandenen Vorräte teilen müssen. Noch düsterer präsentieren sich die Aussichten in Ägypten. Schon letztes Jahr standen dort pro Kopf nur noch 899 Kubikmeter Süßwasser zur Verfügung. Wächst die Bevölkerung wie bisher um mehr als eine Million Menschen pro Jahr, bleiben im Jahr 2025 gerade noch 615 Kubikmeter. Dass große Teile der Menschheit in den letzten Jahrzehnten nicht verhungerten, ist in erster Linie der künstlichen Bewässerung zu verdanken. Nur so lassen sich mit modernem Saatgut und Mehrfachernten hohe Erträge erzielen. In Pakistan wachsen 80 Prozent der Nah- Badeluxus in Deutschland*: Düstere Prognosen rungsmittel auf bewässerten Böden, in China 70, in Indien und IndoneLester Brown, Gründer des renommiersien über 50 Prozent. ten Worldwatch Institute, rechnet vor, dass Aber erst zehn Prozent der Nahrungs- zur Produktion einer Tonne Weizen im mittel in Afrika kommen aus künstlich be- Marktwert von 200 Dollar 1000 Tonnen wässertem Land. Uno-Experten schätzen, Wasser nötig sind. Wird dieselbe Menge dass künftig weitere 110 Millionen Hektar Wasser in der Industrie eingesetzt, können bewässert werden können. Das darauf er- damit Waren im Wert von 14 000 Dollar zeugte Getreide würde bis zu zwei Milli- hergestellt werden. China, das jährlich arden Menschen ernähren. zehn Millionen Menschen neu in Lohn und Die Prognose lässt allerdings die be- Brot bringen muss, wird wohl kaum zöträchtlichen Schäden außer Acht, die durch gern, die Industrieproduktion der Selbstdie Bewässerung entstehen. Weil auf be- versorgung mit Nahrungsmitteln vorzuwässertem Land nur Hochertragssorten ziehen. Folge: Die Nachfrage nach Getreiverwendet werden, geht die Artenvielfalt de auf dem Weltmarkt steigt beträchtlich, verloren. Zudem versalzen die Böden – in und mit ihr die Preise. Pakistan war schon vor zehn Jahren ein Leidtragende sind zuerst jene armen Viertel der bewässerten Regionen geschä- Länder, besonders in Nordafrika und im digt, in China und Indien je ein Sechstel, Nahen Osten, deren Ernährung wegen weltweit sind es heute 21 Prozent. Wassermangels – Jordanien verfügt pro Leisinger und andere Fachleute behar- Kopf und Jahr über klägliche 285 Kubikren darauf, dass der Nutzen richtiger Be- meter – vom Import abhängt. Spätestens wässerung „bei weitem deren Kosten 2030 geriete nach Browns Berechnungen übersteigt“. Zweifel hegt der Professor das ganze Ernährungssystem der Erde aus aber, ob der ehrgeizige Plan zur Ausdeh- den Fugen, wenn die Chinesen 200 Millionung der Anbaufläche realistisch ist. Bis nen Tonnen Getreide einführen müssen – 2025 wäre dafür eine Verdreifachung der so viel, wie vor fünf Jahren insgesamt geWassermenge nötig, und so viel steht für handelt wurde. die Landwirtschaft auf keinen Fall zur Das Internationale WassermanagementVerfügung. Institut in Colombo schätzt die Zunahme Gleichzeitig steigt der Wasserverbrauch des Wasserbedarfs privater Haushalte zwisowohl in den Großstädten der Entwick- schen 1990 und 2025 auf 45 bis 335 Prozent. lungsländer als auch in den Industriebe- Jede sechste der 640 größten Städte Chinas trieben. Bedeutende Mengen von Wasser, kämpft mit Wassermangel. Pekings Stadtdie heute noch in die Landwirtschaft verwaltung lässt das Nass aus mehrefließen, werden zu höheren Preisen für den ren hundert Kilometer Entfernung herindustriellen und privaten Konsum abge- anführen. Die Verteilungskämpfe haben zweigt – mit weit reichenden Folgen für * Taunus Therme in Bad Homburg. die Weltwirtschaft. Werbeseite Werbeseite T. GIVENS Berliner Wohnhäuser auf dem „Dugway Proving Ground“: „Dem Industriearbeiter das Dach über dem Kopf nehmen“ ZEITGESCHICHTE Angriff auf „German Village“ In der Wüste von Utah probten die Amerikaner während des Zweiten Weltkriegs die Bombardierung Berlins. Detailgetreu ließen sie Mietskasernen nachbauen. Architekt war der renommierte deutsche Jude Erich Mendelsohn. Von Mike Davis 238 japanischer Ziele stand in Dugway auf dem Programm. Mendelsohns Leistung bestand in der Anonymität des Ergebnisses: sechs Versionen der typischen Mietskasernen, die Berlins Arbeitergebiete zu den am dichtesten besiedelten Arme-LeuteVierteln Europas machten. Die Nachbauten waren zwar nicht so hoch wie ihre siebenstöckigen Vorbilder im Wedding oder in Kreuzberg, ansonsten aber handelte es sich um verblüffend genaue Duplikate. Der deutsche Stararchitekt beschaffte den Amerikanern ausführliche Informationen über die Dachkonstruktionen in den Zielgebieten, da sie einen kritischen Faktor für den Erfolg der Brandbomben darstellten. „Erweitert und bestätigt“ wurden die Daten laut Standard Oil „von einem Angehörigen des Lehrkörpers der Harvard Architecture School, bei dem es sich um einen Experten für die Bombardierung Berlins durch B-17-Bomber (1945) deutsche Holzrahmenbauweise“ Strafe für den Hort des Bösen handelte. Die Baufirmen stellten sicher, dass die in griffe, die deutsche Städte in Flammenmeere verwandelten, wuchs auf Seiten der Dugway verwendeten Rahmen in Alterung Alliierten die Frustration, weil es ihnen und spezifischer Dichte den deutschen mögnicht gelingen wollte, auch in der Reichs- lichst genau entsprachen. Die Hölzer wurhauptstadt einen Feuersturm zu entfachen. den teilweise sogar aus Murmansk imporIhre wissenschaftlichen Berater forder- tiert.Weil Brandexperten einwandten, Dugten deshalb ein Sofortprogramm, bei dem ways Klima sei zu trocken, sorgte Standard die Brandeigenschaften von Arbeiterwohn- Oil für die richtige Feuchtigkeit: GIs musshäusern anhand exakter Abbilder getestet ten die Ziele ständig mit Wasser begießen, werden sollten. Planung und Bau wurden um den Berliner Regen nachzuahmen. Mit der Inneneinrichtung wurden vermit geheimen Forschungen über die Entflammbarkeit japanischer Häuser koordi- sierte Hollywood-Dekorateure der RKOniert, denn auch die simulierte Vernichtung Studios beauftragt; sie hatten sich als AusBPK B erlins entlegenster, unbekanntester Vorort liegt verwaist in der Strauchwüste des US-Bundesstaats Utah, rund hundert Kilometer südwestlich von Salt Lake City. Er trägt den Namen „German Village“ und ist Teil des Armeegeländes „Dugway Proving Ground“. Dugway ist knapp halb so groß wie das Saarland und stärker mit Giftstoffen verseucht als das atomare Testgelände in Utahs westlichem Nachbarstaat Nevada. Drei Generationen chemischer und biologischer Waffen der amerikanischen Streitkräfte wurden hier erprobt; das Areal unterlag stets höchster Geheimhaltung und war während des Kalten Krieges von Legenden umwoben. Das „deutsche Dorf“ ist der Überrest eines größeren Gebäudekomplexes: Nachbauten Berliner Mietskasernen, an denen die Einäscherung von deutschen Städten geübt wurde. Ein ganz Großer der modernen Architektur hat sie erschaffen – der deutsch-jüdische Architekt Erich Mendelsohn. Im Jahr 1943 heuerte das US-Korps für chemische Kriegführung Mendelsohn heimlich an und gewann ihn dafür, gemeinsam mit Technikern von Standard Oil in der Wüste von Utah ein Berliner Arbeiterviertel im Miniaturformat zu errichten. Eine Mietskaserne mit der Bezeichnung „Building 8100“ steht heute noch – das Bauwerk lässt nicht ahnen, dass hier derselbe Mann am Werk war, der zur Weimarer Zeit für solche Berliner Wahrzeichen wie das Mosse-Haus, das Columbus-Haus, das Wohnhaus Sternefeld in Charlottenburg oder das Observatorium Einsteinturm in Potsdam verantwortlich zeichnete. Absolute Ähnlichkeit in jeder Hinsicht, lautete die Vorgabe. Seine Auftraggeber hatten es eilig. Trotz erfolgreicher Luftan- d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Ausland DEUTSCHE FOTOTHEK DRESDEN heute wurden „zivile Nebenschäden“ vornehm unter den Teppich gekehrt, um das nationale Gewissen nicht zu belasten. Doch wie die Errichtung von German Village zeigt, hat die Wirklichkeit weitaus dunklere Seiten. Die Berliner Mietskasernen wurden im Mai 1943 auf dem Dugway Proving Ground errichtet, kurz bevor Winston Churchill im Zentrum Hamburgs orkanartige Feuerstürme entfachen ließ. Ihr Zweck bestand darin, Möglichkeiten zu erproben und Probleme zu lösen, die ganz eindeutig jenseits der moralischen Grenzen einer Punktzielbombardierung lagen. Die Bauten wurden zu einer Fachmesse für die wachsende Lobby des Feuerkriegs. Die Planer des heraufziehenden Luftkriegs gegen Japan waren hoch interessiert daran, welche Wirkung neue Brandstoffe, darunter Napalm und sogar eine „Fledermausbombe“, die hunderte lebender, mit winzigen Brandsätzen präparierter Fledermäuse enthielt, beim Einsatz gegen japanische Häuser haben würden. Berlin jedoch würde „sich schwieriger gestalten als die meisten anderen deutschen Städte“, urteilte der leitende Brandbombenexperte Horatio Bond vor dem nationalen Ausschuss für Rüstungsforschung der USA. „Die Bauqualität ist höher, und die einzelnen Blocks sind besser voneinander getrennt.“ Wie die Tests auf dem Dugway Proving Ground zeigten, war „kaum zu erwarten, dass die Flammen ungehindert von einem Gebäude auf das nächste übergreifen“. Armageddon fand somit in zwei Akten statt: Der erste war die „Luftschlacht um Berlin“ der Royal Air Force (RAF) vom November 1943 bis März 1944, der zweite die „Operation Donnerschlag“ im Februar 1945. Luftmarschall Arthur Harris, der den Briten versprochen hatte, Berlin „so lange zu bombardieren, bis das Herz von Nazi-Deutschland aufgehört hat zu schlagen“, schickte die schweren Bomber der RAF am 18. November 1943 Richtung deutsche Hauptstadt. Die Lancaster flogen in gefährlich dichten Formationen und konzentrierten ihre Ladungen auf kleine, dicht besiedelte Gebiete. Den Brandbomben folgten Sprengkörper, deren erklärter Zweck es war, Feuerwehrleute und Rettungskräfte zu töten. Gemäß der Doktrin der Royal Air Force, Berlins rote Industriearbeitergürtel anzugreifen, um möglichst großen Unmut zu säen, wurde der Wedding, Hochburg der KPD, fast vollständig in Schutt und Asche gelegt. Obgleich es Harris nicht gelang, einen Feuersturm nach dem Vorbild Hamburgs Zerstörtes Dresden (1945): „Wir müssen hart mit Deutschland umgehen“ statter des Films „Citizen Kane“ Lorbeeren verdient. Unterstützt von Handwerkern, die ihr Metier in Deutschland gelernt hatten, schufen sie jene billige, aber schwere Möblierung, die in den meisten Berliner Arbeiterhaushalten zur Aussteuer gehörte. Sogar deutsche Textilien wurden beschafft, um etwaige typische Eigenschaften von Bettdecken und Vorhängen bei Bränden sorgsam zu studieren. Insassen des Staatsgefängnisses von Utah, die in großer Zahl als Arbeitskräfte verpflichtet wurden, brauchten nur 44 Tage, um German Village und das japanische Pendant (zwölf Doppel-Apartments, komplett eingerichtet mit Hinoki-Holz und Tatami-Strohmatten) fertig zu stellen. Der gesamte Komplex wurde anschließend mit Brandbomben beworfen und zwischen Mai und September 1943 mindestens dreimal vollständig wieder aufgebaut. Mendelsohns Verantwortung für das Berliner Bauprojekt im Wilden Westen steckt voll bitterer Ironie. Der Architekt hatte ein starkes Interesse an Reformen im Wohnungsbau und an einer neuen Wohnkultur. Dennoch beteiligte er sich nie an den großen Ausschreibungen, die Ende der zwanziger Jahre von den Sozialdemokraten organisiert wurden. Besonders rätselhaft war Mendelsohns Fehlen 1927 bei der Planung der Weißenhofsiedlung in Stuttgart, eines von Ludwig Mies van der Rohe geleiteten Vorzeigeobjekts, das der amerikanische Architekt Philip Johnson als „wichtigste Gruppe von Gebäuden in der Geschichte der modernen Architektur“ bezeichnet hat. MendelsohnBiograf Bruno Zevi vermutet, der Baumeister sei aus antisemitischen Gründen ausgeschlossen worden. Wenn das stimmt, war Dugway seine Rache. Die Mietskasernen wurden nach240 gebaut, um „dem deutschen Industriearbeiter sein Dach über dem Kopf zu nehmen“, wie es die Engländer unverblümt formulierten – auch wenn die USA kurz nach ihrem Kriegseintritt immer wieder versicherten, ihre Air Force werde niemals absichtlich den „kleinen Mann auf der Straße“ zum Ziel von Angriffen machen, sie sei der „sauberen“ Zerstörung rein militärischer oder militärisch-industrieller Ziele verpflichtet. Die 8. US-Luftflotte flog bei Tageslicht „Präzisionsschläge“ – ganz im Gegensatz 150 km Großer Große Gr oßerr Salzsee Salt Lake City German Village Dugway Proving Ground VERE I N I G T E S TA T E N A UTAH zu ihren britischen Verbündeten, die, verbittert über die Bombardierung Londons, deutsche Städte nachts mit Bombenteppichen belegten und hofften, dass die Bewohner entmutigt und sich gegen das NaziRegime erheben würden. Die neuartige technische Ausstattung der B-17 („Fliegende Festungen“) und die hoch entwickelten Norden-Abwurfzielgeräte ermöglichten den USA einen Bombenkrieg „mit demokratischen Werten“. Damals wie d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Ausland zu entfesseln, machten die Lancaster doch immerhin fast ein Viertel der zentralen Stadtteile dem Erdboden gleich. Bis zu 1,5 Millionen Berliner wurden obdachlos, etwa 10 000 verloren ihr Leben. Als Hitler nach der Landung der Alliierten in der Normandie Vergeltung mit V1- und später V2-Angriffen auf London übte, war Churchills erste Reaktion die Forderung nach weiteren Angriffen auf Berlin – selbst den Einsatz von Giftgas ließ er prüfen, und auch Biowaffen waren nicht tabu: „Es ist absurd, in dieser Frage Moral ins Spiel zu bringen.“ Er bat Roosevelt um die beschleunigte Lieferung von 500 000 streng geheimen „N-Bomben“. Sie enthielten tödliche Milzbrand-Erreger, die Wissenschaftler in Dugway gezüchtet hatten. Giftgas und Milzbrand waren für das Weiße Haus zu viel, aber Roosevelt wollte den Briten unbedingt entgegenkommen. Im August 1944 erklärte er gegenüber seinem Finanzminister Henry Morgenthau Jr. wutentbrannt: „Wir müssen hart mit Deutschland umgehen, und ich meine die Deutschen, nicht nur die Nazis. Entweder müssen wir das deutsche Volk kastrieren oder ihm so eine Behandlung verpassen, dass es nicht weiter Nachwuchs zeugen kann, der dann immer so weitermachen will wie in der Vergangenheit.“ Im gleichen Monat unterbreitete Churchill dem amerikanischen Präsidenten den Plan für die „Operation Donnerschlag“, der auch vorsah, dass 220 000 Berliner in einem einzigen Großangriff von 2000 Bombern verwundet oder getötet würden. Roosevelt stimmte im Grundsatz zu, obwohl einige hohe Air-Force-Kommandeure Anstoß nahmen an den zu erwartenden Auswirkungen. Der US-Kriegsheld Jimmy Doolittle, Kommandeur der 8. Luftflotte, reagierte ebenfalls erbittert, als ihn General Dwight D. Eisenhower anwies, sich für den „wahllosen“ Abwurf von Bomben auf Berlin bereitzuhalten. Am Ende wurde der Befehl für die Aktion Donnerschlag, die nun auch Dresden und Leipzig als Zielorte umfasste, aus Gründen erteilt, die ebenso viel mit der Beendigung des Zweiten Weltkriegs zu tun hatten wie mit dem späteren Kalten Krieg. „Die völlige Verwüstung der Innenstadt einer so großen Metropole wie Berlin“, hatte die RAF vorausschauend in einer Besprechung verkündet, „würde unsere russischen Verbündeten und die neutralen Staaten von der Schlagkraft der anglo-amerikanischen Luftstreitkräfte überzeugen.“ Als der bleigraue Winterhimmel über Berlin am 3. Februar 1945 endlich aufklarte, hielt Doolittle seine verwundbaren B-24-Bomber hartnäckig zurück und schickte stattdessen mehr als 900 B-17, eskortiert von hunderten von Jägern. Es 242 d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 P. LANGROCK / ZENIT SÜDD. VERLAG A. RIVAL Architekt Mendelsohn, Mendelsohn-Observatorium in Potsdam, -Wohnblock in Berlin-Wilmersdorf: Starkes Interesse an Reformen war nicht der große K.-o.-Schlag, wie ihn sich die Engländer vorgestellt hatten, trotzdem starben 3000 Berliner. Dresden kam zehn Tage später der ursprünglichen apokalyptischen Vision der „Operation Donnerschlag“ näher. Strategische Bedeutung hatte die mit schlesischen Flüchtlingen, Zwangsarbeitern und alliierten Kriegsgefangenen überfüllte Kulturmetropole lediglich als temporärer Verkehrsknotenpunkt für die zusammenbrechende Ostfront. Amerikanische Bomber konzentrierten sich auf die Bahnhöfe und Gleisanlagen, die Briten nahmen alles andere aufs Korn. Das Ergebnis war der größte Feuersturm seit Hamburg. Die geschätzte Zahl der Toten betrug 35 000 bis 40 000. Im gleichen Jahr fielen hunderttausende Japaner den Feuersbrünsten zum Opfer, die B-29-Bomber in ihren Städten entfachten. Diese Erinnerungen an die dunkelste Seite des „guten Krieges“ hängen noch immer schwer über den giftigen Hinterlassenschaften rings um German Village – auch heute noch, da der Potsdamer Platz und die anderen offenen Wunden Berlins sich in prunkvolle Zeugen des Wohlstands im wiedervereinigten Deutschland verwandeln. Mendelsohns einsame Mietskaserne erscheint als Mahnmal für eine allzu selbstgerechte Bestrafung der Horte des Bösen. German Village, Berlins heimlicher Ort der Trauer, liegt unbeachtet inmitten der Wüste von Utah. Davis, 53, ist Kulturhistoriker, war Professor für Urbanistik am Southern California Institute of Architecture und ist Autor des soeben auf deutsch erschienenen Buches „Ökologie der Angst. Los Angeles und das Leben mit der Katastrophe“. Eine erweiterte Fassung dieses Berichts erscheint in der New Yorker Zeitschrift „Grand Street“. Titel Die Enkel kommen Aufbruchstimmung bei deutschen Schriftstellern und ihren Verlegern: Der Nobelpreis für Günter Grass weckt hohe Erwartungen – auch bei jenen Autoren, die dem Weltberühmten nachfolgen. Und wirklich: Es gibt eine neue Generation, die lustvoll erzählt. A m Mittwoch dieser Woche wird die letzte Frankfurter Buchmesse in diesem Jahrhundert ihre Tore öffnen. Der Gewinner steht schon vorher fest. Und zusammen mit ihm, Günter Grass, der dort den zugesprochenen Nobelpreis und seinen 72. Geburtstag feiern will, rückt auch die deutsche Literatur neu ins Zentrum internationaler Aufmerksamkeit. 244 Der Augenblick ist günstig wie selten zuvor: Nachdem nahezu 20 Jahre lang in der erzählenden deutschen Literatur wenig Bewegung, wenig Schwung war – mit einer Hand voll Ausnahmen wie Patrick Süskind und Bernhard Schlink –, zeigt sich bei einer Reihe jüngerer deutscher Autoren aus Ost und West, männlichen wie weiblichen Geschlechts, ein vitales Interesse am Erd e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 zählen, an guten Geschichten und wacher Weltwahrnehmung. Sie heißen Karen Duve und Judith Hermann, Thomas Brussig und Ingo Schulze, Jenny Erpenbeck und Elke Naters, Thomas Lehr und Michael Kleeberg, Julia Franck und Silvia Szymanski – lauter neue Namen. Doch während früher deutsche Autoren, wenn sie nicht gerade Heinrich Gruppenbild mit jungen Erzählern SVEN SIMON Thomas Brussig, Karen Duve, Thomas Lehr, Elke Naters, Jenny Erpenbeck (o.), Benjamin Lebert (u.) vor der Kulisse der Hamburger Speicherstadt Abstand zwischen der Veröffentlichung der ‚Blechtrommel‘ 1959 und dem Nobelpreis 1999, so kann ja jetzt jeder Autor hoffen, dass in ihm ein Nobelpreisträger schlummert, der in 40 Jahren erweckt werden wird.“ Für die Verlagshäuser, die ganz oder überwiegend von Belletristik leben, wäre ein größeres, vor allem auch internationales Interesse an den heimischen Produkten ein Segen. Immer noch stammen fast 40 Prozent der neu erscheinenden Romane und Erzählungen aus dem Ausland: weitaus mehr, als umgekehrt an deutscher Literatur dorthin zu verkaufen war und ist. „Die Flut angelsächsischer Bestseller wird auf die Dauer erstens monoton und zweitens unerschwinglich“ – mit dieser Meinung steht Simon nicht allein da. Die zunehmende Konzentration auf dem deutschen Buchmarkt und der damit wachsende Konkurrenzdruck erlauben es den ausländischen Agenten, immer höhere Vorauszahlungen zu fordern. Der Berliner Verleger konnte sich schon vor dem Grass-Triumph freuen: Mit Thomas Brussig hat Simon einen jungen, in der DDR aufgewachsenen, aber erst nach der Wende in Erscheinung getretenen Autor unter Vertrag, der den bisher originellsten literarischen Nachruf auf die DDR geschrieben hat. Dieser Roman – „Helden wie wir“ (1995) – hat sich mit 200 000 Exemplaren hervorragend verkauft und ist gerade verfilmt worden, Kinostart: Anfang November. Brussigs neues Buch „Am kürzeren Ende der Sonnenallee“, von dem eine Filmvariante schon in den deutschen Kinos läuft, findet beim Publikum ebenfalls großen Anklang (SPIEGEL 36/1999). Brussig, 33, steht mit seiner Erfolgsstory nicht allein da. Eine neue Lust am Erzählen ist spürbar, ein Scharren um die besten Plätze vernehmbar – noch gedämpft vom kollegialen Gefühl des gemeinsamen Aufbruchs. Doch die Verlage locken, literarische Agenten mischen mit und pokern für ihre jungen Autoren um Vorschüsse – schon werden für Taschenbuchrechte deutscher Debütromane Summen von mehreren hunderttausend Mark geboten. Verfilmungen sind keine Ausnahme mehr: „Der große Bagarozy“, nach einem Roman von M. BRINKMANN Heinrich Böll (1982) Böll, Siegfried Lenz oder Christa Wolf hießen, mit Auflagen von wenigen 1000 Exemplaren zufrieden waren, erreichen heute selbst Debütwerke Auflagen von 100 000 Stück – der Erstling des Jüngsten, „Crazy“ von Benjamin Lebert, 17, verkaufte sich binnen kurzem 180 000-mal. Die Enkel der Nachkriegsliteratur treten an, befreit von mancher Beschwernis der vom Zweiten Weltkrieg geprägten Vorgänger-Generation. Auch das Ausland, der deutschen Literatur lange Zeit überdrüssig, beginnt sich seit einiger Zeit wieder für Romane und Novellen aus Deutschland zu interessieren. „Die Situation hat sich plötzlich verändert“, stellt das Londoner Literaturblatt „The Times Literary Supplement“ in seiner neuesten Ausgabe fest: mit einer „ungewöhnlich großen Anzahl perfekter Erstlingsromane“ jüngerer deutscher Autoren. Der Nobelpreis für Grass ist da eine willkommene Ermutigung. REUTERS M. ZUCHT / DER SPIEGEL Siegfried Lenz Günter Grass Die deutschen Verleger atmen hörbar auf, und sie stimmen, wie Michael Krüger vom Münchner Hanser-Verlag, froh in den Jubel ein. „Ich glaube ganz sicher“, sagt Krüger, 55, auch selbst Autor, „dass diese Preisverleihung an Grass einen Schub für die deutsche Literatur bringen wird. Schon in den Jahren zuvor hat sie im Ausland mehr Aufmerksamkeit gefunden als in früheren Jahren.“ Auch Dietrich Simon, 60, Chef des Ex-DDR-Verlags Volk & Welt in Berlin, ist überzeugt, dass die Nobel-Würde des Blechtrommlers allgemein die Aufmerksamkeit für deutsche Literatur erhöhen und den jungen Schriftstellern Auftrieb geben wird: „Bedenkt man den zeitlichen „Die Flut angelsächsischer Bestseller wird auf die Dauer monoton“ d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 245 Titel K önnte jetzt bitte mal Schluss sein und natürlich das Zweistromland zwimit lustig, mit dem ganzen Pop-Irr- schen Euphrat und Tigris, genannt Mesosinn, mit hip und Hype und allem potamien. Das Allerwichtigste aber: Alle coolen Gelalle? 41 Jahre nach Bill Haleys Geschichten dieses Buches handeln, ohne Krawallkonzert in Berlin und 12 Jahre nach dass es dauernd ausgesprochen wird, vom Andy Warhols Tod ist das so genannte Pop- Alleinsein, von der Einsamkeit – und die Bewusstsein von Spaß und verwegener ist logisch immer eine ernste Sache. Lebensart derart gründlich in Deutschland Nun fühlt, wie alle Literatur-Schlauangekommen, dass heutzutage schon Ron meier wissen, seit jeher jedes SchreiberSommer, Ulrich Wickert und Inge Meysel Ich sich irgendwie allein, auch wecken unbeanstandet unter der Bezeichnung exotische Orte wie Colombo, Malta oder „Popstar“ firmieren – braucht es da nicht Bamberg in jedem Nicht-Eingeborenen auf der Stelle eine Anti-Pop-, AntiSpaß- und Anti-Hipster-Guerrilla? Schon passiert, hier kommen die schreibenden Boten der neuen Ernsthaftigkeit: „Irony is over. Bye Bye.“ haben sie auf die Rückseite des BuchEinbandes geschrieben, ein Zitat des – nun ja – Popsängers Jarvis Cocker; „Ernste Geschichten am Ende des Jahrtausends“ verspricht der Untertitel der Story-Sammlung „Mesopotamia“*; und Antworten auf allerletzte Fragen verheißt schon der Klappentext: „Wie wird es weitergehen?“ etwa oder „Wird die Luft dünner und das Atmen leichter?“ Siebzehn Leute haben etwas beigesteuert zu „Mesopotamia“, allesamt „junge Autoren“, wie es einmal heißt, obwohl ein paar schon ziemlich weit jenseits der 35 sind – egal. Sechzehn haben einfach eine Geschichte abgeliefert, darunter Christian Kracht, 32, der Herausgeber des Buchs, Elke Naters, 36, und Benjamin von StuckradBarre, 24, um die Bekannteren zu nennen. Und Rainald Goetz hat eine Schwarzweiß-Fotoserie geliefert, die heißt „Samstag, 5. Juni 1999, Hotel Europa“ und zeigt Zeitungsausschnitte, Blicke aus dem Fenster, eine Gedichtseite und feiernde Menschen. Worum aber geht es in den Ge- Goetz-Fotos aus „Mesopotamia“ schichten von „Mesopotamia“? Viel um Musik beispielsweise, dabei weniger Fremdheitsempfindungen. Aber auch die um Elton John und die Disco-Klassiker Storys selbst erzählen vom Verlorensein: von Chic (die beide auch vorkommen), davon, wie einer mit einem turtelnden mehr aber um Bruckner und Purcell, E- Pärchen im Skiurlaub herumsitzt oder Musik wie „ernste Musik“ eben. Wichtig wie eine auf einer Insel unter der Spaßin den Geschichten ist die Beschwörung tyrannei ihrer Gefährten verkümmert; magischer Orte: Bamberg, Las Vegas, davon, wie ein Mädchen mit ihrem Davos, Buchmessen-Frankfurt, Colombo Freund auf eine Party geht und der dann mit einer anderen herummacht; oder davon, wie ein alter Mann einem jun* Christian Kracht (Hrsg.): „Mesopotamia. Ernste Geschichten am Ende des Jahrtausends“. Deutsche Ver- gen Besucher aus seinen wilden Jahren erzählt. lags-Anstalt, Stuttgart; 336 Seiten, 39,80 Mark. 246 d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 H. SHERONAS Im Sammelband „Mesopotamia“ schildern junge Autoren den Ernst des Globetrotter- und Literatenlebens. R. GOETZ Ist ja gar nicht alles supergut Tatsächlich (und allen Ernstes) schreiben sich die „Mesopotamia“Autoren also allesamt irgendetwas Seriöses von der Seele: Offenbar ist die Welt gar nicht immer so supergut und superlustig, wie sie der popKracht hysterische GuteLaune-Mensch gern sieht. Wer mag, kann in vielen Geschichten des Bandes Anzeichen dafür finden, dass es einen (von den Schreib’s-auf-und-speicher’s-ab-Möglichkeiten des Internet begünstigten) neuen Hang zur Bekenntnisliteratur gibt: eine Erzähl-Naivität, die sich nicht viel um gerade Sätze schert und noch weniger um einen schulmäßig aufgespannten Handlungsbogen. Anders und ein bisschen deutlicher gesagt: Einige der in „Mesopotamia“ versammelten Geschichten sind Schrott. Schlecht ausgedacht und sauschlecht aufgeschrieben oder aber, was noch wahrscheinlicher ist, hilflos erlebt und noch hilfloser hingetippt. Wer blöde Sätze sammelt, der kann in diesem Buch ein dutzend Mal Hurra brüllen: „Manche Augenblicke erinnern mich an Zeiten, die ich nie erlebt habe“ ergibt einen Rekordwert auf der nach oben offenen Schwurbelpoesie-Skala; an anderer Stelle ist „das erste, was auffällt, die Luft. Sie ist so schwer und so süß, dass man fürchtet, schon vom Atmen Durchfall zu bekommen“. Womit eine der Fragen des Klappentexts beantwortet wäre: Die Luft wird dicker. Dem Unternehmen „Mesopotamia“ braucht man mit derlei DetailGemaule nicht zu kommen, schon weil ein paar Ausfälle zum Wesen nahezu jeder Anthologie gehören. Erstaunlich an diesem Buch ist in erster Linie das Selbstbewusstsein, mit dem die Autoren erzählen, man kann ruhig sagen: die Unverschämtheit, mit der sie lostexten und darauf vertrauen, dass es jede Menge Leser gibt, die sich für ihre Geschichten interessieren. Und offenbar haben sie Recht. Sammelbände mit „neuer deutscher Literatur“ gibt es seit Jahr und Tag; früher hießen sie „Von nun an“ (1980), „Rawums.“ (1984), „Feindschaft“ (1989) oder „Wenn der Kater kommt“ (1996), erschienen als Paperback und versendeten sich fast ohne Resonanz. „Mesopotamia“ kommt in schönem Hardcover und bedient einen Markt, auf dem jüngere M. JEHNICHEN / TRANSIT Deutsches Literaturinstitut Leipzig: „Menschen, die sich gegenseitig nichts schenken“ C. GIESE deutschsprachige Autoren plötzlich für Aufruhr sorgen. Kracht, Stuckrad-Barre und Naters haben mit „Faserland“ (1995), „Soloalbum“ (1998) und „Königinnen“ (1998) Bücher geschrieben, die allesamt verblüffende Auflagen schafften – und auf sehr direkte Art und Weise aus dem Leben gegenwärtiger junger Menschen erzählten. Natürlich gab es Kritiker, die an der literarischen Qualität dieser Bücher herummäkelten (was zumal bei StuckradBarres Erstling auch schwer berechtigt war); aber schon die Tatsache, dass es sich derzeit über deutsche Gegenwartserzähler wieder zu streiten lohnt, kann als mittlere Sensation durchgehen. Na gut, es gab Rolf Dieter Brinkmanns Texte aus der ersten Hälfte der Siebziger und Rainald Goetz’ Roman „Irre“ (1983); ansonsten aber hielten sich deutschsprachige Schriftsteller statt an die Abenteuer des Alltags lieber an Themen wie zeitlose Liebeshändel und Deutschlands Einheit oder aber an sauber ausgedachte Fabeln, die (wie Helmut Kraussers „Melodien“ oder, viel bräsiger, Robert Schneiders „Schlafes Bruder“) in längst vergangenen Zeiten spielten. Der Mut, von Party-Abstürzen und banalen Alltagskatastrophen zu erzählen, hat vermutlich mit US-Vorbildern wie Bret Easton Ellis zu tun, der ein brillanter Beschreiber von Äußerlichkeiten und Milieus ist und ein miserabler Erzähler – der Mann ist mittlerweile so weit kanonisiert, dass im „Zeit“-Feuilleton ungestraft behauptet werden darf, er habe mit „American Psycho“ das „vielleicht beste Buch der zweiten Jahrhunderthälfte“ geschrieben: Sonst noch Wünsche? Für die Verschwörungstheoretiker des Literaturbetriebs ist der Erfolg der Erzähler Kracht und Stuckrad-Barre aber viel einfacher zu erklären: Beide sind im Hauptberuf Journalisten; der Wirbel um ihre Bücher sei das Werk von befreundeten Medienmachern. Solchen Komplott-Theorien gibt „Mesopotamia“ reichlich Nahrung: Mehr als die Hälfte der Autoren kommen aus dem Journalistenmetier. In Wahrheit ist vermutlich mal wieder der Münchner Kolumnist und Schriftsteller Maxim Biller, 39, an allem schuld. Der nämlich erzählt seit etwa zehn Jahren jedem, ob der’s nun hören will oder nicht, dass in unserer Zeit jeder junge Mensch, der sich als Schriftsteller bezeichne, schon der falsche sei: Wer wirklich das Zeug zum Schriftsteller habe, der würde heutzutage lieber Journalist. Sollte Biller Recht haben, dann stünde es wirklich ernst um die deutsche Gegenwartsliteratur. Wolfgang Höbel Autorenpaar Stelling, Dannenberg Ein deutscher Gemeinschaftsroman Helmut Krausser, ist ein weiteres Beispiel. Auch die Zeitungen und Magazine werden aufmerksam, vor allem aber: Das Publikum ist neugierig – oder wie es die KinoEigenwerbung für die Dolby-Tonanlage zu Beginn des Filmabends verheißt: „The audience is listening.“ Und jenes „literarische Fräuleinwunder“ (SPIEGEL 12/1999), das mittlerweile schon fast sprichwörtlich ist, setzt sich munter fort. Neben Judith Hermann („Sommerhaus, später“) zählt immer noch die Schweizerin Zoë Jenny („Das Blütenstaubzimmer“) zu den literarischen Spitzenreitern – beide haben von ihren Büchern mehr als 100 000 Stück verkauft, für Jennys d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 kleinen Debütroman sind mittlerweile 21 Auslandslizenzen vergeben worden. Das neue Buch von Birgit Vanderbeke („Ich sehe was, was Du nicht siehst“) hat sogar den Sprung auf die Bestsellerliste geschafft. Karen Duves Debüt („Regenroman“) findet lebhaftes Interesse und wurde bisher 30 000-mal verkauft. Das neueste Buch der Autorin, das in diesem Herbst erscheint, erfüllt die Erwartungen, die das erste geweckt hat: der Erzählungsband „Keine Ahnung“ (siehe Gespräch Seite 255). Duve, Jahrgang 1961, gehört auf dem Ball der Debütanten beinahe schon zu den Älteren – ebenso wie Silvia Szymanski, Jahrgang 1959, die im vergangenen Jahr ihren flotten Romanerstling „Chemische Reinigung“ veröffentlichte und nun ebenfalls einen Erzählungsband nachgelegt hat: bizarre „erotische Geschichten“ unter dem paradoxen Titel „Kein Sex mit Mike“. Auch Elke Naters, 36, und Julia Franck, 29, präsentieren in diesem Herbst mit „Lügen“ (siehe Seite 264) und „Liebediener“ – einem feinen, äußerst melancholischen Roman aus dem heutigen Berlin – jeweils schon zweite Bücher. Neue beachtliche Debüts kommen hinzu: die „Geschichte vom alten Kind“, das Buch der 1967 geborenen Jenny Erpenbeck (siehe Seite 262), der Erzählungsband „Seltsame Materie“ von Terézia Mora, Jahrgang 1971, und der Roman „Gisela“ – eine gemeinsame Arbeit der 1971 in Ulm geborenen Anke Stelling und des aus Leipzig stammenden Robby Dannenberg, Jahrgang 1974. „Gisela“, ein deutscher Gemeinschaftsroman: verblüffend die vom Ergebnis her nahtlose literarische Zusammenarbeit zwi- Eine verblüffende Zusammenarbeit zwischen den Geschlechtern 247 FOTOS: M. JANSEN (li.); R. WALTER (M.); I. OHLBAUM (re.) Titel Autorinnen Szymanski, Franck, Mora: Melancholisches aus dem heutigen Berlin Und ich wart einfach auf das, was kommen wird, und wenn nichts kommt, dann nehm ich halt das, was jetzt da ist, und das ist, im Ganzen besehn, genug, dass man leben kann. Und wenn man dazu noch regelmäßig einen geblasen kriegt, denkt man sowieso nicht mehr viel nach über alles, und das ist ziemlich gut. „Ein Wunder, dass die deutsche Dichtung nach dem Krieg nicht verstummt ist“ lass zu Anklage und Selbstanklage. Die Das Autorenduo, so unbefangen wie Auseinandersetzung mit den Nazi-Eltern frech der Alltagssprache zugewandt, stu- scheint kein Thema mehr zu sein. dierte gemeinsam am Deutschen LiteDie Geschichten spielen in Deutschland, raturinstitut Leipzig, das 1995 aus dem aber Deutschland spielt nicht mehr die ehemaligen Johannes-R.-Becher-Institut Hauptrolle wie – nahezu unausweichlich – hervorgegangen und der Universität ange- in der Nachkriegsliteratur. „Sprechen“, gliedert ist. Auch das ist neu: Ohne falsche schrieb Jean-Paul Sartre 1947 in seinem Scheu, frei von Geniekult erforschen jun- berühmten Essay „Was ist Literatur?“, ge Autoren, im kritischen Austausch, die „heißt handeln: jedes Ding, das man behandwerkliche Seite des Schreibens – und nennt … hat seine Unschuld verloren.“ dabei könnte langfristig sogar so etwas wie ein Gemeinschaftsgefühl entstehen. Der österreichische Schriftsteller Josef Haslinger („Opernball“), der seit 1996 am Institut als Lehrmeister tätig ist, staunt, wie ernsthaft seine Studenten sich gegenseitig kritisieren: „Das sind Menschen, die jahrelang zusammen sind und sich gegenseitig nichts schenken.“ Man könne zwar keine Autoren heranzüchten, aber viele Anfängerfehler vermeiden helfen. Zuneh- Roman-Verfilmung „Der große Bagarozy“*: Publikum lauscht 248 Übermächtige Schuldgefühle waren es vor allem, welche die deutschen Autoren nach 1945 immer wieder hinderten, literarisch zu handeln, mit Worten vital nach der Welt zu greifen und so einen neuen Blick auf die Dinge zu eröffnen. Ein zuweilen reizvoll rätselhaftes, meist aber bloß anstrengend in sich gekehrtes Schreiben war die deutsche Regel, die immerhin einige gute Gedichte entstehen ließ, aber kaum einen großen Roman. Die Nachkriegsliteratur hatte sich von der ersten Stunde an mit dem Schatten der mend, so Haslinger, werde auch die Form des Romans angestrebt. „Die ewige Frage: Lässt sich noch erzählen? spielt kaum noch eine Rolle. Da gibt es eine neue Unbekümmertheit.“ Anders als die Großväter von der „Gruppe 47“ gehen die jungen Erzähler auch recht unbefangen mit der Vergangenheit um: Erstmals seit nahezu einem halben Jahrhundert scheint die Erinnerung an die deutschen Verbrechen nicht mehr die Zungen zu lähmen – denn weder die Autoren selbst noch ihre Väter haben An- d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 CINETEXT schen den Geschlechtern, zudem aus Deutschland-West und -Ost, verblüffend auch der freizügige und weitgehend überzeugende Umgang mit einer von sexueller Protzerei durchsetzten, multiperspektivischen Rollenprosa. Auch in diesem Roman versteckt sich unter der mit obszönen Details gesättigten Oberfläche die elegische Story uneingelöster Liebe und vergeblicher Hoffnung auf Nähe – wie hier am Schluss (aus männlicher Sicht): Nazi-Verbrechen, den Folgen des verlorenen Krieges und der Frage der deutschen Schuld auseinander zu setzen. Das war nicht nur ein moralisches, es war auch ein ästhetisches Problem: Wie ließ sich angemessen auf den Horror reagieren, der vergangen, aber nicht vergessen, ja noch nicht einmal richtig erinnert worden war? „Die Literatur war nicht vorbereitet auf und hat keine Mittel entwickelt für solche Vorgänge“, notierte bald nach dem Krieg Bertolt Brecht mit Blick auf die deutschen KZ: Die Vorgänge dort würden „keine Beschreibung in literarischer Form“ vertragen. Noch Jahrzehnte später sah der damalige Verleger und heutige Staatsminister für Kultur Michael Naumann deutsche Schriftsteller in einer Notlage: Keiner von ihnen könne „bei hellem Verstand“ eine Geschichte erzählen, als wäre nichts geschehen. Das „wahre Wunder“ sei, dass die deutsche Dichtung nach dem Krieg nicht gänzlich verstummt sei. Forderungen und Empfehlungen in dieser Richtung gab es genug, besonders von Theodor W. Adorno, der nicht nur das Gedichteschreiben nach Auschwitz für „barbarisch“ hielt, sondern 1954 kategorisch erklärte: „Es lässt sich nicht mehr erzäh* Mit Corinna Harfouch, Til Schweiger. Werbeseite Werbeseite T. RICHTER Titel „Gruppe 47“-Autoren Lenz, Richter (1967): „Sprechen heißt Handeln“ T. RICHTER ULLSTEIN BILDERDIENST rimentelle Autoren wie Jürgen Becker, immerhin einer der Preisträger der einflussreichen Gruppe 47. Der junge Österreicher Peter Handke schloss sich an: Die „Methode der Geschichte“, schrieb er 1967, sei für ihn nur noch anwendbar „als reflektierte Verneinung ihrer selbst: eine Geschichte zur Verhöhnung der Geschichte“. „Gruppe 47“-Autoren Walser, Böll, Bachmann (1955): In sich gekehrt Dieses selbstzerstörerische Endzeit-Lied wurde 1968/69, len.“ Er meinte, in der Folge des Krieges terne Kampf geals die junge Linke gegen sei die „Identität der Erfahrung“ und gen das Erzählen Konventionen jedweder Art damit „die Haltung des Erzählers“ für im- erst richtig. In den revoltierte, zum intellektuelsechziger Jahren mer verloren. len Gassenhauer: „Die GeErst vor diesem Hintergrund lässt sich wurde eine regel- „Gruppe 47“-Autor Grass (1961) schichten machen keinen die Leistung des Verfassers der „Blech- rechte Antihaltung Überdruss am eigenen Metier Spaß mehr“ (Wolf Wondratrommel“, lässt sich die Wirkung dieses von Autoren und vor 40 Jahren veröffentlichten Romans Literaturtheoretikern kultiviert, die sich tschek), „Literatur in jeder Form ist unnütz“ (Peter O. Chotjewitz) – und als würdigen: Gegen alle verordneten Skrupel als Statthalter der Moderne verstanden. Die literarischen Gattungen wurden für Gebot der Stunde wurde ernsthaft ausgeschrieb Grass Ende der fünfziger Jahre in seinem Pariser Kellerzimmer an – be- überholt, der Roman und schließlich – im geben: „Holen wir die geschriebenen stärkt und beraten nicht zuletzt von sei- Verbund mit der Studentenrevolte – die Träume von den brechenden Bücherbornem Gesprächspartner Paul Celan, dem ganze „bürgerliche Literatur“ für tot er- den der Bibliotheken herunter und melancholischen Holocaust-Überlebenden klärt. Einer der einflussreichsten Vorspre- drücken wir ihnen einen Stein in die und rätselvollen Lyriker („Todesfuge“). cher damals: Hans Magnus Enzensberger. Hand“ (Peter Schneider). Wer nicht gleich auf die Straße ging und Wild entschlossen trommelten der damals Seine rhetorische Brillanz wirkte fatal, weil dennoch auf der Höhe der Zeit sein woll31-jährige Autor und sein Held, der Winz- sie viele Talente entmutigte. Im Rückblick erscheint das damalige Li- te, duckte sich, lieferte brav gattungslose ling Oskar Matzerath, gegen das Erzählverbot. Der Bericht aus Zwergensicht er- teraturklima nahezu suizidär: Ausgerech- „Texte“ ab, experimentierte mit Zitatmöglichte das ungezwungene Fabulieren net den Schriftstellern galten plötzlich das montagen und dokumentarischem „Mateund dabei auch die Darstellung von Gräu- Erfinden von Geschichten, „Einbildungs- rial“ – und ödete damit nicht nur das Pueltaten und Schrecken, ohne die Form des kraft“ und „Phantasie“ als verdächtig und blikum an, sondern am Ende wahrscheinverächtlich. Die Voraussetzungen für den lich auch sich selbst. Romans zu sprengen. Doch kaum waren 1959 und im Jahr dar- Roman seien zusammen mit dem BürgerDer ausgestellte Überdruss am eigeauf die ambitionierten Werke von Grass, tum verschwunden, spannende Fabeln mit nen Metier, das Misstrauen den „eigenen von Heinrich Böll („Billard um halb- auffälligen Helden seien vorindustriell, Kunststücken“ (Grass) gegenüber, alles im zehn“), Uwe Johnson („Mutmassungen mithin bloß noch trivial, ja auf das Fabu- Namen eines dubiosen Fortschritts und geüber Jakob“) und Martin Walser („Halb- lieren überhaupt müsse verzichtet werden, richtet gegen das angeblich naive und zeit“) erschienen, begann der literaturin- erklärten Mitte der sechziger Jahre expe- traditionelle Geschichten-Erzählen, verschreckte zahlreiche Nachwuchstalente – zumal ein Großteil der deutschen Literaturkritik sich die Argumente zu Eigen machte. Da half es zunächst auch wenig, wenn einige der Autoren bald schon die voreilige Enzensbergers rhetorische Brillanz wirkte sich fatal auf junge Talente aus 250 d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Preisgabe elementarer Bereiche des Literarischen wie Fabel und Fiktion bereuten und zur Umkehr mahnten. Handke erkannte zu Beginn der siebziger Jahre, „dass eine Fiktion nötig ist, eine reflektierte Fiktion, damit die Lesenden sich wirklich identifizieren können“. Doch den Lesenden war die Lust auf deutsche Literatur vorerst vergangen: Es gab genug andere europäische Erzähler, von jenen aus Nord- und Südamerika ganz zu schweigen. Allenfalls konnte noch der Märchenerzähler Michael Ende überzeugen, der sich als Jugendbuchautor frei von Erzähltabus fühlen durfte – und mit den beiden für Kinder geschriebenen Romanen „Momo“ (1973) und „Die unendliche Geschichte“ (1979) überraschend ein Millionenpublikum erreichte. Die zwei Bücher belegten demonstrativ die ersten beiden Plätze der SPIEGEL-Jahresbestsellerliste 1981 und gaben die Richtung für die achtziger Jahre vor: Wenn die Phantasie schon nicht im Straßenkampf an die Macht zu bringen war, so sollte sie doch in der Literatur wieder zu ihrem angestammten Recht kommen. Mit dem Roman „Das Parfum“ (1985), der ebenfalls märchenhafte Züge trägt, gelang dem 1949 geborenen Patrick Süskind als erstem deutschen Autor der Nachkriegsgeneration ein großer internationaler Bucherfolg, der nicht nur an den der „Blechtrommel“ heranreicht, sondern ihn inzwischen glatt überrundet hat: Während der Roman des Nobelpreisträgers eine Weltauflage von rund vier Millionen aufweisen kann, verkaufte sich „Das Parfum“ bis heute – in weniger Jahren – weltweit gut zehn Millionen Mal. Bezeichnend für das Zeitklima: „Das Parfum“ erschien bei Diogenes in Zürich, nachdem mehrere etablierte Literaturverlage in Deutschland das Manuskript abgelehnt hatten. Dass dieser Longseller ungleich erfolgreicher ist als Grass’ Roman, ist nur wenig bekannt: Süskind tritt als Person nicht in Erscheinung, öffentliche Auftritte oder gar FOTOS: D. OTFINOWSKI (li.); R. WALZ (re.) Titel Autoren Schlink, Strauß: Literatur lebt von Gedankenschönheit die Teilnahme an politischen Diskussionsveranstaltungen sind ihm ein Gräuel – ebenso wie anderen erfolgreichen Schriftstellern deutscher Sprache, die in den achtziger Jahren und danach als Erzähler Furore gemacht haben, etwa Sten Nadolny („Die Entdeckung der Langsamkeit“), Christoph Ransmayr („Die letzte Welt“) oder Bernhard Schlink („Der Vorleser“). Inbegriff solcher Zurückgezogenheit ist der – wie Schlink – 1944 geborene Botho Strauß, der spätestens seit „Paare, Passanten“ (1981) eine Form von Gedankenprosa ins Spiel bringt, die von der neuen Fabulierlust gleich weit entfernt ist wie vom gestrengen Avantgardedenken und Sprachexperiment. Strauß ist heute einer der wenigen, die ihr Schreiben auch theoretisch begleiten. Er sieht die „nachschöpferische Unbefangenheit“ der jüngeren Romanproduktion mit Skepsis. Für ihn bleibt die deutsche Literatur von ihrer Herkunft her ideell: „Sie lebt von Gedankenschönheit.“ Joachim Lottmann: Tatsächlich wirken geDeutsche Einheit rade die jungen Wilden Haffmans Verlag, Zürich; der Erzählkunst wie von 384 Seiten; 39 Mark jeglichem Ballast befreit: Die Mehrzahl von ihnen Benjamin von schert sich nicht um ErStuckrad-Barre: zähl-Traditionen, scheint Livealbum kaum noch etwas von den Verlag Kiepenheuer & Skrupeln zu ahnen, die Witsch, Köln; 256 Seiten; die deutsche Literatur ein 16,90 Mark halbes Jahrhundert lang Die Bücher der neuen Erzähler Robby Dannenberg, Anke Stelling: Gisela Ammann Verlag, Zürich; 160 Seiten; 24,80 Mark Julia Franck: Liebediener DuMont Buchverlag, Köln; 240 Seiten; 36 Mark Thomas Lehr: Nabokovs Katze Aufbau-Verlag, Berlin; 512 Seiten; 49 Mark 252 Silvia Szymanski: Kein Sex mit Mike Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg; 192 Seiten; 24 Mark d e r begleitet haben. Die demonstrative Unbekümmertheit überdeckt auch manche Unsicherheit und Unkenntnis. Die neue Autorengeneration hat zwar keinerlei Ambitionen, als Gewissen der Nation in Erscheinung zu treten oder gar in die politische Arena zu steigen – öffentlichkeitsscheu allerdings sind nur die wenigsten. Es gehört heute zum Geschäft, dass man sich zu verkaufen weiß und dies auch mehr oder weniger ungeniert tut. Das treibt zum Teil groteske Blüten. Worüber schreibt ein literarischer Jungstar, der sein erstes Buch „Soloalbum“ nennt, danach? Über seine Lesetour: einen Bericht mit dem Titel „Livealbum“. Benjamin von Stuckrad-Barre, 24, beschreibt seine Agentin, sein Publikum und den Hotelalltag („Wer Klopapier wie Servietten faltet, um dessen Erstbenutzung zu belegen, kann auch gerne Faxe in Briefumschläge falten, voll ok“) – und verkennt dabei, dass 250 Seiten darüber den Leser schneller ermüden als den Autor die ganze Reiserei. Natürlich kann das seinen Witz haben, wie bei Joachim Lottmann, 45, der mit seinem zweiten Roman „Deutsche Einheit“ einen spöttischen Reigen aus der Berliner Literatenwelt der neunziger Jahre („Ganz Berlin war voller Literaturhäuser“) präsentiert. Vom Literarischen Colloquium am Wannsee („Die deutsche Subventionsliteratur hatte in dieser Villa ihr geistiges Zentrum“) bis zu Marcel ReichRanicki („der einzige echte Kenner der Literatur“) wird alles, unverschlüsselt, Deutsche Verlage lehnten „Das Parfum“ ab s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite DELPHI tigen Studenten deflorieren ließ. Trotz der oft unkomplizierten Eroberungen anderer Mädchen und Frauen lässt den Helden der Gedanke an Camille nie los. Die beiden schreiben sich Briefe, es gibt auch gelegentlich Treffen – ohne dass er seinem Ziel näher kommt. Selten ist in der deutschen Literatur so drastisch und zugleich dezent und liebevoll über Sexualität geschrieben worden wie in diesem Buch. Anders als der Regisseur Georg, der mit einem seiner Filme namens „Nabokovs Katze“, einem „rein autobiografischen Fall“, kläglich scheitert, beweist Lehr mit seinem gleichnamigen Roman, dass es möglich ist, das Private zu erzählen, dass die Biografie immer noch fesseln kann. Über Jahre hin erstreckt sich diese „Komödie des verweigerten Coitus“, eine wunderbare Liebesgeschichte, denn: „Mit keiner Frau war es so aufregend, nicht miteinander zu schlafen.“ Wie real Camille für Georg wirklich ist, ob sie nicht nur ein Hirngespinst, ein Sehnsuchtsbild darstellt und wie schließlich das Märchen der Einlösung aller Hoff- Brussig-Verfilmung „Sonnenallee“*: Origineller Nachruf auf die DDR gediegenen Bildungs- und Künstlerroman geschrieben, zugleich eine Education érotique – mit einer Ernsthaftigkeit und Könnerschaft, die das Buch über die meisten Literaturtitel dieses Herbstes hinaushebt. Lehr begleitet seinen Protagonisten Georg von Anfang der siebziger bis in die A. SMAILOVIC (li.); Q. LEPPERT; W. BELLWINKEL (re.) zum Thema. Am Ende ist das kaum mehr als eine auf Buchlänge gezogene, mitunter sogar gelungene Reportage über den Betrieb: Literatur, die wieder einmal keine sein will (auch wenn „Roman“ auf dem Titelblatt steht) – und die im eigenen Saft schmort. Autoren Lottmann, Stuckrad-Barre, Lehr: „Komödie des verweigerten Coitus“ So erfrischend das bisweilen daherkommt, es gaukelt einen selbstreflexiven Gestus nur vor. Der „Merkur“-Herausgeber Karl Heinz Bohrer, einer der schärfsten Kritiker der von vielen begrüßten „Rückkehr des Epischen“ (Martin Hielscher), bemängelt das Fehlen einer Literatur, die die eigenen erzählerischen Mittel und Methoden im Auge behält. Er hält es geradezu für das Wesen des modernen Erzählens, dass es „die erzählte Gegenständlichkeit der weit fortgeschrittenen Reflexion aussetzte“. Bohrer urteilte unlängst über die neuen deutschen Dichter: „Die literarischen Standards sind auf dem tiefsten Niveau der Nachkriegszeit angelangt.“ Vielleicht könnte den grimmigen Kritiker der neue Roman von Thomas Lehr versöhnlicher stimmen. Lehr, 41, hat mit „Nabokovs Katze“ einen ganz altmodisch- Mitte der neunziger Jahre: Schülerzeit in der Kleinstadt S. (deutlich Speyer, dem Geburtsort des Autors, nachempfunden), Lektüre von Sartre, Freud und Henry Miller, abgebrochenes Studium der Mathematik in Berlin, Beginn einer Karriere als Filmregisseur, Schaffens- und Ehekrise, Flucht nach Mexiko und längerer Aufenthalt in New York. Stationen eines Deutschen aus der Provinz, der mit Politik nicht viel am Hut hat, der um seine Kunst kreist – und von sexueller Besessenheit getrieben wird. Die lebensbegleitende Sehnsucht freilich gilt der einen, der ersten Schülerliebe, Camille, die Georg nicht rangelassen hat („Du willst mit mir schlafen, obwohl ich erst vierzehn bin“) – sich dann aber von einem bär- Selten wurde Sexualität so drastisch und zugleich liebevoll dargestellt * Mit Teresa Weißbach, Alexander Scheer. 254 nungen in Heidelberg einzuschätzen ist – das offen zu halten und in einem kunstvollen Erzählrahmen zur Sprache zu bringen zeigt den versierten, mit den Mitteln der Perspektivbrechung jonglierenden Erzähler. Und wer weiß, vielleicht sitzt irgendwo in Süddeutschland ein unbekannter Autor und schreibt derzeit an einer umfangreichen Generationensaga, die 2001 erscheinen wird? Vor genau 100 Jahren schrieb ein junger Dichter namens Thomas Mann in München an seinem ersten Roman, den er im Juli 1900 abschloss und der im Oktober 1901 herauskam – 28 Jahre später erhielt er für die „Buddenbrooks“ den Nobelpreis. Volker Hage d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 AUTOREN „Ich stehe gern im Regen“ SPIEGEL: Frau Duve, Ihr „Regenroman“ erschien im Eichborn Verlag, mit dem neuen Erzählband „Keine Ahnung“ sind Sie ins Allerheiligste der Konsumkritik, in den Suhrkamp Verlag, eingedrungen – für derartig unterhaltsame Prosa ein erstaunlicher Triumph. Zu welchem Verlag gehören Sie denn nun? Duve: Zu Eichborn, wo ja auch mein „Lexikon der berühmten Tiere“ verlegt wurde. SPIEGEL: Wie kam es zu dem ungewöhnlichen Doppelschlag? Duve: Der „Regenroman“ und die erste Version der Erzählungen waren fast gleichzeitig fertig. Ich hatte schon zehn Jahre vorher geschrieben und nichts davon verkaufen können. Während meines Stipendiatenaufenthalts im Stuttgarter Schloss Solitude kamen plötzlich die Angebote – da habe ich beidhändig zugegriffen. SPIEGEL: Stimmt es, dass das Eichborn-Lektorat in den „Regenroman“ stark eingegriffen hat? Duve: Ja, eine Figur musste ganz abtreten: der Waldschrat, der jetzt nur noch kurz im Sumpfloch neben der fetten Frau als tierhaftes Mondgesicht auftaucht. Er sollte ein „Sekundär-Zwerg“ sein – so haben DDRWissenschaftler eine bestimmte Art von Kleinwüchsigen bezeichnet. Diese Figur hatte ich ausgeführt als den ursprünglichen Besitzer des Hauses im Ost-Moor, der dann von seinen geldgierigen Verwandten nach der Wende entmündigt wird, weil sie das Haus verkaufen wollen, und der, statt in dem ihm zugedachten Pflegeheim, in einer Das Gespräch führten die Redakteure Volker Hage und Mathias Schreiber. M. WITT Die Erzählerin Karen Duve, 38, hatte mit ihrem Debütwerk „Regenroman“ – ein junges Paar kauft sich ein morsches Haus in ostdeutscher Moorlandschaft, verliert sich im Dauerregen, in erotischen Wirrungen und Gewalt – einen sensationellen Erfolg. Soeben erschien ihr neuer Erzählband „Keine Ahnung“. Sie lebt in Schöppingen und in Hamburg. Autorin Duve: „Sechs Wochen schreiend und weinend im Bett gelegen“ Schilfhütte haust. In Ina Seidels „Regenballade“ gibt es eine solche märchenhafte Figur, den „Schnatermann“ – ich wollte sie zitieren. Wie überhaupt der ganze Roman anfangs viel märchenhafter angelegt war. SPIEGEL: Dass Sie so deutlich ändern mussten, fanden Sie nicht demütigend? Duve: Doch, das fand ich furchtbar, ich hatte schließlich fünf Jahre an dem Roman gearbeitet. d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 SPIEGEL: Wie viele Manuskriptseiten muss- ten Sie insgesamt opfern? Duve: Der Verlag verlangte fünfzig, aber wo ich schon mal dabei war, habe ich gleich hundert gestrichen. SPIEGEL: Liegen die jetzt in einer Schublade – für eine künftige textkritische Edition der Erstfassung, die man eines Tages viel besser finden wird als die heutige? Duve: Nein, die sind zerschreddert – wie meine ersten beiden Romanversuche. Heu255 SPIEGEL: Ihr, sagen wir einmal: sehr realistisches Männer- und Menschenbild … Duve: … ich komme selbst ja auch nicht so gut weg, wenn ich über mich schreibe … SPIEGEL: … wird gewiss von konkreten Erfahrungen grundiert. Welche waren das vor allem? Duve: Ich bin 13 Jahre lang in Hamburg Taxi gefahren, ich habe auch einmal im Finanzamt gearbeitet. SPIEGEL: Glaubt man Martin Scorseses Film „Taxi Driver“, so ist Taxifahren ein extrem harter Beruf. Was war Ihr schlimmstes Erlebnis? A. KIRCHHOF / ACTION PRESS te bin ich mit den Kürzungen sehr einverstanden. Dem Sekundär-Waldschrat trauere ich allerdings ein bisschen nach. SPIEGEL: Die zuweilen lexikalische Genauigkeit, die hart am Leben entlang erzählte Episode ist Ihre Stärke; zugleich aber neigen Sie, etwa in der Erzählung „Im tiefen Schnee ein stilles Heim“ – der Fiktion einer nicht enden wollenden Schnee-Katastrophe –, zur phantastischen Parabel. Duve: Zwischen diese beiden Pole bin ich tatsächlich gespannt. SPIEGEL: Aber welcher Richtung neigen Sie mehr zu? Duve: Dem Phantastischen, glaube ich. Duve-Thema St. Pauli: „Sexualität, besonders ihr dämonischer Teil, ist zentral“ SPIEGEL: Im „Regenroman“ wie in „Keine Duve: Schwer zu sagen. Ich bin nachts ge- Ahnung“ gibt es recht drastische erotische Passagen. Andererseits freut sich die von der Außenwelt abgeschnittene Ich-Erzählerin der Schnee-Geschichte: „Johann Köpfli kann nicht zu mir herein … alles ist gut.“ Der Leser gewinnt den Eindruck, das Beste am Sexualakt ist doch, dass er irgendwann überstanden ist. Duve: Schade. Vielleicht haben Sie mich bei irgendetwas ertappt. Aber im Ernst: Sexualität, besonders ihr dämonischer Teil, wird in meinen Büchern immer ein zentraler Punkt bleiben. Ich bin ein bisschen auf das Thema fixiert. Wie viele andere Menschen auch. SPIEGEL: Sind die zum Teil frustrierenden Erfahrungen der Ich-Erzählerin mit Männern auch Ihre eigenen? Duve: Die Erzählungen sind schon autobiografischer als der „Regenroman“. Irgendwo muss man es ja hernehmen. Aber ich bedien mich nur so weit in meinem Leben, wie es für eine Geschichte taugt. Außerdem verfälsche und dramatisiere ich meine Erfahrungen skrupellos. SPIEGEL: Was ist denn am „Regenroman“ autobiografisch? Haben Sie selbst im Osten ein Sumpf-Haus renoviert? Duve: Nein. Aber die Rückenschmerzen des Schriftstellers Leon – das waren meine eigenen. Mit so etwas habe ich einmal sechs Wochen schreiend und weinend im Bett gelegen. Danach habe ich mir ein Pferd gekauft – das Reiten hat mir geholfen. fahren, da befördert man fürchterliche, stinkende Leute. Einmal hat mir ein Mann – ich lief hinter ihm her, weil er die Fahrt nicht bezahlen wollte – eine Bierflasche ins Gesicht geworfen. Taxifahren ist ein Beruf, in dem sich die Liebe zum Mitmenschen ziemlich verschleißt. SPIEGEL: Als erfolgreiche Autorin sind Sie jetzt häufig auf Lesetour. Fliegt da auch mal eine Bierflasche in Ihre Richtung? Duve: Nein, das Schlimmste, was mir da passieren kann, ist, dass sich jemand mit mir über seine Schreiberfahrungen unterhalten will. Aber im Großen und Ganzen ist das Lesungspublikum einfach nett, nett, nett! Die hauen einem nicht mit der Faust aufs Bein, die kotzen einem nicht ins Auto und die beschweren sich nicht, dass man den falschen Weg gefahren ist. Die sind nett! SPIEGEL: Haben Sie als Taxifahrerin schon geschrieben? Duve: Ich habe es versucht, es war unheimlich schwer. Einige Jahre konnte ich überhaupt nichts schreiben. Ich habe allerhöchstens eine Manuskriptseite in zwei Wochen geschafft. Und für alles, was ich zu Papier brachte, habe ich mich geschämt. SPIEGEL: Der große Erfolg Ihres „Regenromans“ wurde immer wieder im Zusammenhang mit dem so genannten Fräulein- 256 d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite 258 d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 CINETEXT wunder der deutschsprachigen Gegen- Duve: Ich glaube das nicht. Walter Kemwartsliteratur diskutiert. Die Zeitschrift powski erinnert sich doch intensiv und er„Emma“ hat daran Anstoß genommen und zählt dennoch eingängig. Wichtiger war für in einer Typologie der schreibenden Er- mich, dass ich mich von dem Schulmeisterfolgsfrauen Sie unter „Domina“ abgehakt. Diktum lösen konnte, alles sei schon geDuve: Darüber war ich stinksauer. Ich habe schrieben worden. sogar Alice Schwarzer einen Beschwerde- SPIEGEL: Gibt es noch andere Vorbilder als brief geschrieben. Sie hat genau das getan, Kempowski? was sie anprangern wollte – mich mit ei- Duve: Kempowski ist kein Vorbild, ich benem idiotischen Begriff etikettiert und se- wundere ihn bloß. Außerdem bewundere xualisiert. Einfach dumm. ich Diedrich Diederichsen und Alice Schwarzer für die Fähigkeit, komplizierte SPIEGEL: Hat Frau Schwarzer reagiert? Duve: Bisher nicht. Aber letzten Endes Zusammenhänge in unübertroffen schöperlt das alles an mir ab wie Wasser an der ner und einleuchtender Klarheit darzustellen. Ente. SPIEGEL: Verstehen Sie sich als feministische Autorin? Duve: Wie jede vernünftige Frau verstehe ich mich als Feministin. Ich weiß, es gibt da auch peinliche Figuren wie in jeder politischen Gruppierung. Was ich dazu denke, lässt sich gelegentlich auch in dem, was ich schreibe, nachlesen. Literarische Maßstäbe haben aber immer Vorrang. SPIEGEL: Wie erklären Sie sich die gegenwärtige Blüte deutschspra- Filmszene aus „Taxi Driver“: „Fürchterliche, stinkende Leute“ chiger Erzählfreude, an der nun einmal etliche Frauen beteiligt SPIEGEL: Entwickeln sich manche Gesind? schichten bei Ihnen ganz anders, als sie geDuve: Das ist wohl der Pendelschlag. Nach- plant waren? dem lange genug verkündet wurde, direk- Duve: Sehr oft. Der „Regenroman“ sollte tes, geradliniges, munteres Erzählen eige- keineswegs so untergangsdüster, er sollte ner Erlebnisse sei naiv oder gar „unmög- viel leichter und charmanter enden. lich“ – noch in den achtziger Jahren galt SPIEGEL: Stehen Sie gern im Regen? unterhaltsame Prosa nicht als Literatur –, Duve: Ja. Ich mag extremes Wetter, Sturm, kommt jetzt eben die Gegenbewegung, und Regen, Schneegestöber – da renne ich soman zieht mit dem gleichen Eifer und der fort nach draußen. gleichen Ungerechtigkeit über experimen- SPIEGEL: Was ist schwierig am Erfolg? telle Schriftsteller her. Ich habe irgendwann Duve: Man wird dauernd fotografiert und beschlossen, mich nicht mehr in Texträtsel muss damit fertig werden: So siehst du also zu hüllen, die zwar einigen Kritikern ge- inzwischen aus! In einem Fernsehfeature fielen, mir selbst aber schon bald keinen habe ich mich neulich auf meinem Pferd Spaß mehr machten. Stattdessen erinner- gesehen, und mir wurde zum ersten Mal te ich mich an Geschichten, wie ich sie klar, wie unglaublich schlecht ich reite. schon mit zwölf Jahren schreiben wollte. SPIEGEL: Haben Sie Angst vor dem nächsSPIEGEL: Hat den jüngeren Autoren auch ten Buch? Glauben Sie, Ihnen fällt wieder das Verblassen der Erinnerung an die etwas Gutes ein? Schrecken der deutschen Vergangenheit Duve: Ideen sind nicht das Problem. Ich hadie Zunge gelöst? be noch sechs Bücher im Kopf. Die Ausführung ist das Problem. Ich arbeite sehr langsam. Karin Duve: SPIEGEL: Was man Ihrer schwungvollen Keine Ahnung Prosa nicht anmerkt. Ist unter den Plänen Suhrkamp Taschenbuch auch eine richtig nette Liebesgeschichte, Verlag, mit einem Mann, der fast so sympathisch Frankfurt am Main; wirkt wie ein Pferd? 168 Seiten; Duve: Ich verspreche es. 13,80 Mark. SPIEGEL: Frau Duve, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite BELLETRISTIK Vom Herztod der Helden Die SPIEGEL-Redaktion empfiehlt neue Romane und Erzählungen: Intime Berichte vom fernen Kontinent der Leidenschaften, von Liebeswirren, Hassausbrüchen und psychischen Kampfsportübungen. Auffällig: Im Krieg der Gefühle führen immer mehr Frauen das Wort. Autorin Erpenbeck Die verlorene Tochter Jungsein als Maske Jenny Erpenbeck debütiert mit einer Parabel über die ewige Kindheit Jenny Erpenbeck: Geschichte vom alten Kind Eichborn Verlag, Berlin/Frankfurt am Main; 106 Seiten; 29,80 Mark. 262 C. JUNGWIRTH / BIG SHOT Ein Mädchen, „ganz und gar Waise“, steht nachts allein auf der Straße. Der Eimer, den es in der Hand hält, ist seine einzige Habe – er ist leer wie jene Stelle im Kopf, „wo bei den anderen eine Meinung sitzt“. Die Polizei fragt aus dem dicken, mondgesichtigen Wesen mit dem klobigen, schrankförmigen Körper nur das Alter heraus: Es ist vierzehn, aber an Name und Herkunft kann es sich nicht erinnern. So kommt es in ein Kinderheim mit Internatsschule, Sporthalle, Werkstätten, eine kleine Stadt am Waldrand, umzäunt und bewacht wie ein Lager. So beginnt die „Geschichte vom alten Kind“, der Romanerstling der Berliner Opernregisseurin Jenny Erpenbeck, 32. Die Debütantin, die heute bei Graz lebt, stammt aus einer Schriftstellerfamilie – ihre Großeltern, Hedda Zinner und Fritz Erpenbeck, waren in der DDR der fünfziger, sechziger Jahre bekannte Autoren. So wirkt die Fabel vom wortkargen Findling ohne Erinnerung wie der Versuch einer jungen Autorin, sich mit einer Art Nullpunkt-Figur zu identifizieren, um von Grund auf, der wortmächtigen Familientradition zum Trotz, eine eigene SprachWelt bauen zu können. Die Erzählerin d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 selbst möchte als namenloses „Mädchen“ wie „vom Mond gefallen“ sein. Und die Dinge neu erfinden. Vielleicht rührt daher die seltsame Euphorie, mit der die Heldin die eigenen Defizite bejaht: den ungeschlachten Körper mit Rotznase, das Versagen im Englischunterricht, die tölpelhaften Bewegungen beim Ballspiel, die linkischen Seitenblicke auf alles Erotische, das ewige Kränkeln und Nicht-Mitkommen. Das „Mädchen“ ist unter allen Heimkindern „das schwächste“, und diese Schwäche, nicht „verwendbar“ zu sein, macht es in Wahrheit stark. Statt die literaturüblichen Zöglingsverwirrungen auf dem Schulhof und im Schlafraum bloß zu erleiden, genießt es geradezu die „Gnade, aufgegeben worden zu sein“. Warum bloß? Der unterste Platz in der Hierarchie der Anstalt ist unangefochten – gesichert durch „Unfähigkeit“, nicht, wie die höheren Ränge, durch irgendeine „Tauglichkeit“, die jederzeit in Frage gestellt werden kann. Das Mädchen „beneidet keinen von denen, die das Gelände“ am Wochenende verlassen dürfen, „denn es weiß ja, wie es draußen zugeht: Man den, originellen Szenen und mit einer erstaunlichen Sprachdisziplin. Für die ein wenig zu konstruiert wirkende Rahmenhandlung wird der Leser reichlich entschädigt durch die lebendige und glaubwürdige Schilderung der alterstypischen Kämpfe und Krämpfe unter Internatskindern. Jenny Erpenbeck hat sich offenbar gut auf ihre Story vorbereitet: Im Alter von 27 Jahren spielte sie selbst ein „altes Kind“, indem sie in einer Gymnasialklasse vier Wochen lang erfolgreich die 17 Jahre junge Mitschülerin mimte. M AT H IAS S CH RE I BE R Sonderteil Frankfurter Buchmesse 1999 Neue Belletristik: Kindheitsgeschichten, Liebesgeständnisse, Kämpfe um Kunstwerke: Autorinnen geben in Romanen und Erzählungen den Ton an Seite 262 Neue Sachbücher: Bildungskanon trotz Beliebigkeit? Wie viel Gedächtnis braucht Kultur? Essays, Biografien, Bildbände zur Jahrtausendwende Seite 284 Messe-Navigator: Was läuft wo, wer liest wann? Lageplan und ausgewählte Veranstaltungen Seite 292 Friedenspreis: Gespräch mit dem amerikanischen Historiker Fritz Stern über seine Kindheit in Breslau, deutsche Diktaturen und die Wiedervereinigung Seite 296 Thema Ungarn: Zsuzsanna Gahse über die Erzähler ihrer Heimat, den schwachen Part der schreibenden Frauen und Pferde als literarisches Thema Seite 304 ASTROFOTO Supernova: Vergangen wäre nicht vergangen steht mit einem leeren Eimer auf einer Geschäftsstraße und wartet“. Noch sicherer als der Aufenthalt im Kinderheim ist das Ausharren im Krankenbett. Wo das Mädchen denn auch landet – in einem dramatischen Finale. Die Parabel vom Kind, das sich nicht nur der Welt und ihren Erfolgsmaßstäben entziehen will, sondern auch der Zeit – dem Älterwerden – , endet mit einer Überraschung, von der nur so viel verraten sei: Was trauriges, noch vom letzten Weltkriegsbrand grundiertes Schicksal zu sein schien, erweist sich als grandiose „Maskerade“ einer verlorenen Tochter. Gewiss liegt es bei dieser Autorin nahe, das Kinderheim als Bild für die geschlossene Gesellschaft der DDR zu deuten. Und die trotzige Weltflucht des Mädchens als typisch ostdeutsches Verhaltensmuster nach der Wende. Wichtiger ist: Das Buch greift auf ein klassisches Verweigerungsmotiv zurück – von Kaspar Hauser, dem geheimnisvollen Naturkind, bis zu Peter Pan, der aus dem märchenhaften „Niemalsland“ stammt und nicht erwachsen werden will. Doch diesen Rückgriff entfaltet Erpenbeck in bildlich prägnanten, anrührend e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Große Sonne Der Wiener Daniel Kehlmann bietet die literarische Erschütterung physikalischer Gewissheiten Die Helden der neueren deutschen Literatur sind gerne seltsam. Patrick Süskinds Monsieur Grenouille („Das Parfum“) erschnüffelt den Sinn der Welt – ein olfaktorisches Faktotum. Der skurrile Nordpol-Erkunder John Franklin macht bei Sten Nadolny „Die Entdeckung der Langsamkeit“. Und der anachronistische Lesewurm-Knabe Bastian rettet in Michael Endes „Unendlicher Geschichte“ das Abendland vor dem vernichtenden Nichts massenmedialer Verblödung. Alle diese sonderbaren Figuren stehen für die poetische Erkenntnis, dass die Welt mehr ist, als sich die kulturgängige Weisheit vom Vorherrschen der Gut-, Schön- und Starkmenschen träumen lässt. Auch der Physiker David Mahler, Held des zweiten Romans, den der in Wien lebende Jungschriftsteller Daniel Kehlmann, 24, in diesem Bücherherbst vor263 Bestgehasste Freundin M. KLIMEK Elke Naters durchschaut das Beziehungsspiel und ist ihm trotzdem ausgeliefert Autor Kehlmann: Die Welt ist aus den Fugen legt, ist aus dem Geschlecht der Unzeitgemäßen – und dies im wörtlichen Sinne. Denn diesem David, einer, wie die Psychiater leichtfertig sagen würden, „Border-Line“-Persönlichkeit an der Grenze zum Psychotiker, widerfährt eine Entdeckung, die Raum und Zeit durcheinanderrüttelt: Der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik stimmt nicht. Das hätte gewaltige Konsequenzen: Denn wenn Daniel Recht hätte, würde sich das All nicht ständig weiter ausdehnen und würden alle Sonnen letztlich verglühen. Die Materie hätte ein anderes Ende, als unter dem Diktat der fortfließenden Zeit dermaleinst in differenzloser Verteilung im dunklen Raum zu wabern. „Mahlers Zeit“, so der Romantitel, dieser Einspruch gegen die Thermodynamik, kommt dem Außerkraftsetzen der Vergänglichkeit gleich: Vergangen wäre nicht vergangen, morgen war gestern, was gewesen ist, kommt erst noch, die Zeit ist nicht mehr linear, sondern zyklisch. Geschickt und mit einer kräftigen, unprätentiösen Sprache lässt der Autor seinen Helden nicht nur diese Entdeckung machen. Der Gang der Erzählung, die Beschreibungen der Orte revolutionieren sich gleichsam physikalisch: Für einen Moment erstarrt ein Tanklaster bewegungslos, ehe er zerschellt und eine Katastrophe auslöst. Im Gewittersturm drehen sich Straßen um sich selbst. Schon erzählte Beschreibungen drängen plötzlich wieder ins Geschehen, nur dass es nun andere Personen sind, die sie bemerken. Die Welt ist aus den Fugen. 264 Und in dieser aus allen chronologischen Gewissheiten gefallenen Erzählung wird die Tragödie eines Hochbegabten sichtbar: Dieser David Mahler war ein zu dickes Kind mit einer enormen mathematischen Begabung, bestimmt für lebenslange und selbstgewählte Einsamkeit. Der Fußballtrainer sortiert den Knaben aus der Mannschaft, die Eltern können mit David so wenig anfangen wie die Schule oder später die Universität oder seine Freundin – der Mann ist zu seltsam. Die Schwester wurde von einer Kehrmaschine erfasst und zerstückelt – eigentlich eine traumatische Erfahrung, die David mit Trauerarbeit zu überwinden hätte, um den Verlust zu besiegeln. Doch in der (thermo-)dynamisch gewendeten Seele geht es anders herum: Die Schwester wird zum Symbol für Zukunft, die Toten stehen auf. David sehnt sich nicht nach psychologischem Verständnis, er ist von seiner physikalischen Theorie besessen. Sie bestimmt sein Leben, und nur ein Nobelpreisträger kann seine Entdeckung würdigen. Wie hier der geniale und dem Herztod entgegentreibende Held den geheimnisvollen Meister verfehlt, gehört zum furiosen Finale des Romans: Da wird die Sonne immer größer und die Landschaft um den Sterbenden immer irrealer – die Physik spielt erbarmungslos Ball mit den Menschen. Unter den vielen merkwürdigen Helden der neueren deutschen Literaturgeschichte ist David Mahler einer der sonderbarsten. Nikolaus von Festenberg d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 „Königinnen“, „Lügen“, „Mau Mau“ – das sind gute Titel. Und so klar, minimalistisch, selbstbewusst wie ihre Titel sind auch Elke Naters’ Geschichten. Extrem schlicht erzählt, weshalb man beim Lesen manchmal stutzt: Ist das jetzt banal oder genial? „Lügen“, ihr neuer, zweiter Roman, liest sich wieder, als hätte Naters, 36, ihn beim Friseur diktiert, aber vermutlich war es harte Arbeit, bis jedes Wort saß. Wie bei einem guten Haarschnitt: Man darf ihm nicht ansehen, wie lange man dafür stillgesessen hat. Wie schon in ihrem äußerst erfolgreichen Debüt „Königinnen“ erzählt die Autorin die Geschichte von zwei Freundinnen um die Dreißig in Berlin, diesmal aber nur aus einer Perspektive: der von Augusta. Augustas Gedanken kreisen, aus Mangel an eigenem Leben, um das Leben ihrer bestgehassten Freundin Be. Die hat scheinbar alles, was Augus- Autorin Naters: Guten Sätzen darf man nicht Daniel Kehlmann: Mahlers Zeit Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main; 160 Seiten; 29,80 Mark. selbstironischen und, genau, lustigen Sätze rücken Naters weit weg von der sogenannten Frauenliteratur – und in die Nähe von sogenannten Jungliteraten wie Christian Kracht und Benjamin von Stuckrad-Barre, mit denen sie auch eifrig paktiert. So ist sie in dem von Kracht herausgegebenen, bei DVA erschienenen Sammelband „Mesopotamia“ mit „Mau Mau“, einem Kapitel aus ihrem noch nicht fertigen dritten Roman, vertreten; und in der Internet-Schreibstube berichtet sie unter der Adresse www. ampool.de neben Kracht und Konsorten von Familienquerelen und mehr oder weniger erschütternden Banalitäten des Alltags. Doch wo bei den Jungs alles beherrscht ist von Hysterie und Hipness, ist bei Naters auch Platz für Melancholie – etwa wenn sie ein Wochenende auf dem Land beschreibt, bei dem die Freundinnen eingeschneit werden und sich Gedanken und Erinnerungen wie eine Schneedecke auf die Seele Autor Grøndahl: Fremdheit unter der Oberfläche legen. Das Buch liest sich so weg wie die „Bunte“ beim Friseur. Der Untugal – es ist genau die Route, die er mit terschied ist das Gefühl danach: Der ihr sieben Jahre zuvor gefahren war, Kopf ist nicht hohl. Es ist eher ein Gefühl nachdem er seine heimliche Affäre mit wie nach einem guten Abend mit Freuneiner Malerin in New York beendet hatte. den. Wie man unter Jungliteraten sagt: Der Ehemann, ein 44-jähriger Kunsthistomehr so angenehm. riker, ist der Ich-Erzähler des Romans Anke Dürr „Schweigen im Oktober“ von Jens Christian Grøndahl: In der Einsamkeit des leeren Hauses, denn die Kinder Simon und Rosa sind erwachsen, und später, bei einem Kurzbesuch in New York, lässt er das gemeinsame Leben an sich vorbeiziehen, reflektiert, analysiert, interpretiert die Ehejahre, die sich unter der Oberfläche der Gewohnheit verbergende tiefe Jens Christian Grøndahl Fremdheit. schildert die Krise eines Historikers „War ich glücklich geworden? Oder war An einem Morgen im Oktober hat Astrid es nur ein hoffnungsvoller Ersatz, dieses Alltagsglück?“ – ist die zentrale Frage es zum ersten Mal erwähnt, beiläufig, seiner Überlegungen. Ruhig und ganz während sie sich im Badezimmer unspektakulär lässt Grøndahl, 40, der schminkte: Sie wolle eine Reise machen. in Dänemark schon mehrere Romane Und tatsächlich bricht sie wenig später auf. Wie sie im Türrahmen des Schlafzim- veröffentlicht hat, den Erzähler sich immer tiefer in den Zweifel hineingrübeln: mers steht und ihn, der fast noch schläft, Entsteht der Mensch erst aus dem Blick ruhig betrachtet, ist das letzte Bild, das des anderen, oder ist, genau umgekehrt, ihr Mann von ihr sieht. Aus den Kreditder andere grundsätzlich unerreichbar kartenabrechnungen liest er den Verlauf und unverständlich? Was bleibt am Ende ihrer Reise ab: von Dänemark nach Porals Antwort auf die Frage nach der eigenen Identität? Mit großer sprachlicher Jens Christian Grøndahl: Präzision und psychologischem ScharfSchweigen im Oktober sinn hat Grøndahl sich eines Themas Aus dem Dänischen von angenommen, das in den siebziger Peter Urban-Halle. Jahren Stoff erst für Dramen und dann Paul Zsolnay Verlag, Wien; für Small Talk war, inzwischen fast 328 Seiten; 39,80 Mark. vergessen wurde und trotzdem so faszinierend ist wie eh und je: die MidlifeCrisis. Marianne Wellershoff W. BELLWINKEL In der Einsamkeit des leeren Hauses ansehen, wie lange man dafür stillgesessen hat Elke Naters: Lügen Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln; 192 Seiten; 29,90 Mark. d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 265 K. BOSSE ta fehlt: Mann, Kinder, Spaß, Verve. Und die Definitionsmacht darüber, was man trägt, wen man mag, wie man lebt. Es gibt solche Leute, und dann gibt es die Augustas, die das Spiel durchschauen, sich ihm aber nicht entziehen können. So verfolgt die Ich-Erzählerin, wie Be Freund und Kinder verlässt und eine lesbische Beziehung beginnt, und übersieht dabei fast, wie sie selbst auf ein Happy End zusteuert. Doch vielleicht ist es nicht unbedingt die Geschichte, die Elke Naters’ Roman so besonders macht. Es ist ihr Stilbewusstsein, ihre Fähigkeit, detailliert, aber knapp Menschen und Vorgänge zu beschreiben. Etwa wenn sie nachdenkt, wie sie dem Ex-Freund ihrer Freundin helfen kann: „Ich überlege, ob ich zu Karl hinuntergehe, um ihn zu fragen, ob er etwas braucht. Das geht natürlich nicht. Das würde so aussehen, als ob ich herumspionieren würde. Wie meine Mutter. Die immer hereinkam, wenn ich Besuch hatte. Na, Kinder, wollt ihr etwas essen? Immer den guten Grund vorgeschoben. Das werde ich nicht tun.“ Das ist Prosa von oft provozierender Einfachheit. Solche vermeintlich naiven, Die Kerls auf den Bäumen Wie die Affen in die Literatur gekommen sind: eine Anthologie D. HIGGS / TEPA Spiegelbild des Menschen, tierischer Partner und biologischer Vorgänger – seit Urzeiten hat der Homo sapiens den Affen bestaunt und begrübelt. Viele Geschichten und Gedichte handeln von den der „ein ganz originaler Affe“ gewesen sei. E. T. A. Hoffmann ließ die Nachäfferei ins Gruselige umschlagen: Sein gelehrter Milo preist das Menschendasein in solchen Tönen, dass der äffischen Adressatin seines Briefes angst und bange vor so viel Selbstverleugnung wird – ähnlich wie den Lesern von Kafkas „Ein Bericht für eine Akademie“. Bei Edgar Allan Poe aber darf ein Orang-Utan im „Doppelmord in der Rue Morgue“ die Bestie rauslassen, und Robert Musil schil- Afrikanischer Schimpanse: Spiegelbild oder bloß biologischer Vorgänger? haarigen Gestalten auf den Bäumen – die Berliner Lektorin Margit Knapp, 39, musste sich auf die letzten drei Jahrhunderte beschränken, als sie den literarischen Spuren der Gorillas, Schimpansen und tierisch-menschlichen Zwischenwesen nachging: „Affenmensch und Menschenaff“ heißt ihre originelle Anthologie. Erzaufklärer Lessing schrieb ein hintersinniges Trauer-Epigramm auf Mimulus, dert die „Affeninsel“ als Gleichnis der Diktatur. Affen sind offensichtlich aber auch genussvolle, äußerst erotische Liebhaber junger, unschuldiger Mädchen. Da darf eine Affenhand einen Menschenbusen begrapschen, eine Prinzessin aus „Tausendundeiner Nacht“ wird durch einen äffischen Lover zum sexbesessenen Lustmädchen, oder zwei Fräulein trauern ihren tierisch Margit Knapp: Affenmensch und Menschenaff Klaus Wagenbach Verlag, Berlin; 144 Seiten; 24,80 Mark. guten Amouren nach, in echter Affenliebe: So erzählen es Voltaire, Peter Goldsworthy und Peter Høeg. Und wenn die Lust Folgen hat? Entsteht ein Schimpanse ohne Haare oder ein Mensch mit Gorillagesicht? Die Affenforscherin Nelly Pritschke mag nur unter der Bedingung heiraten, dass der Bräutigam sich für ihre soziologischen Studien zur Verfügung stellt und ein Gorillaweibchen begattet. Der Versuch gelingt. In seiner Groteske „Die Affenschande“ hat Anarchist Erich Mühsam durchgespielt, was dabei alles passieren könnte. Christina Berr Schicksal tritt durch die Tür Der Ungar Sándor Márai beschwört eine untergegangene Lebensweise Zwei alte Männer im Zwiegespräch: 41 Jahre lang haben sich der General und der Hauptmann nicht gesehen. Damals ist Konrád, der Hauptmann, überstürzt abgereist, hat seinen Freund seit Kindertagen und dessen schöne Frau verlassen – ohne ein Wort, ohne spätere Nachricht. Auch ohne Grund? 41 Jahre lang hat Henrik, der General, einsam in seinem Schloss in Sándor Márai: Die Glut Aus dem Ungarischen von Christina Viragh. Piper Verlag, München/Zürich; 224 Seiten; 36 Mark. PIPER VERLAG den ungarischen Wäldern gegrübelt, hat seine Frau begraben und die Hoffnung, den Freund wieder zu sehen. Doch dann kommt ein Brief: Konrád meldet sich zum Diner an. Noch einmal werden die Gesellschaftsräume gelüftet und beheizt, alles soll so sein wie 41 Jahre zuvor. Und dann beginnt das Abendessen, und die Konversation hebt wieder an, und langsam wird ein Verhör daraus mit ungeheuren Vorhaltungen. Unnachgiebig, aber mit besten Manieren befragt Márai der General seinen Freund, treibt ihn in die Enge und seziert in einem stundenlangen, packenden Monolog das Wesen ihrer Freundschaft und die Unausweichlichkeit ihres Verrats durch Konrád: „Es stimmt nicht, dass das Schicksal heimlich in unser Leben tritt. Nein, das Schicksal tritt durch die Tür herein, die wir ihm öffnen, und wir bitten es, doch näher zu treten.“ Seltsam anachronistisch mutet auf den ersten Blick „Die Glut“ an, dieser wunderbare, wieder entdeckte Roman des ungarischen Erzählers Sándor Márai (1900 bis 1989). In schnörkellos-altmodischer – hervorragend übersetzter – Sprache versprüht Márai das faulig-üppige Parfum einer untergegangenen Lebensform. Doch der bedeutende europäische Schriftsteller beschreibt hier nicht nur kunstvoll die Anatomie einer Dreiecksgeschichte aus der untergegangenen Donaumonarchie, Márai beschwört gleichzeitig das Pandämonium menschlicher Beziehungen: Menschen, in denen eine Glut der Gefühle glimmt, sei es aus Gier, Liebe, Rache oder Hass. Márais elegantes Meisterwerk von 1942 wird hoffentlich nun nicht noch ein zweites Mal vergessen werden. Joachim Kronsbein d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 267 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Straßenkehrer in Tel Aviv Leon de Winter über russische und „richtige“ Juden In Russland explodiert eine Rakete beim Start, in Tel Aviv wird ein Mann auf der Straße erschossen. Die Explosion ist kein Unfall und der Mord kein Verbrechen aus Leidenschaft. Zwischen dem einen und Autor de Winter: Interesse an der jüdischen dem anderen Ereignis passiert eine Menge: Das sowjetische Imperium geht unter, hunderttausende sowjetische Juden wandern nach Israel aus, der Irak riskiert eine Kraftprobe mit dem Rest der Welt. Es kracht an allen Ecken und Enden, und Leon de Winter schreibt einen Roman, der die Geschichte von Sascha Sokolow und Lew Lesjawa erzählt, zwei jüdischen Raketentechnikern, die beide ihren Job verloren haben und nach Israel ausgewandert sind. Sascha kehrt die Straßen in einem Tel Aviver Armenviertel und betäubt sich mit Unmengen von Wodka; Lew wird mit seltsamen Geschäften reich und mächtig. Eines Tages treffen sich ihre Wege wieder, und der schlaue Lew macht den tumben Sascha zu seinem Partner. Leon de Winter: Sokolows Universum Diogenes Verlag, Zürich; 434 Seiten; 39,90 Mark. 270 d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 A. SAHIHI Am Ende gewinnt der arme Schlucker, und der gewiefte Strippenzieher stirbt einen ungemütlichen Tod. Leon de Winter, 45, erzählt eine Geschichte voller Geschichten: Es geht um das sowjetische Raumfahrtprogramm, das Ende der glorreichen Sowjetunion, das schwierige Leben in Israel, organisierte Kriminalität, um die Bemühungen russischer Juden, „richtige“ Juden zu werden. Und natürlich um die Liebe, die Wunden heilt und Wunder möglich macht. Er packt viel Identität, Sex und Essen Stoff zwischen zwei Buchdeckel, weil er aber wunderbar erzählen kann und sein Material klug organisiert, kommt die Quantität der Qualität zugute. Der Mann hat sich wie immer den Plot ausgedacht, alles übrige solide recherchiert – ein Handwerker der Literatur. De Winters Art zu schreiben hebt sich wohltuend von den komatösen Zustandsbetrachtungen und Einblicken in das Innere leerer Räume ab, mit denen uns andere Dichter strapazieren. Auch ein langer de Winter ist kurzweilig, sogar nach 400 Seiten möchte man gerne wissen, wie die Geschichte weitergeht, sie ist zwar zu Ende erzählt, aber nicht beendet. Was wird aus Sokolow, der in seinem Universum herumgestoßen wird? Ist Lesjawa wirklich tot? Oder hat er seinen Abgang nur inszeniert, um Sokolow reinzulegen? Drei Elemente sind es, sagt de Winter, die ihn um- und antreiben: Die Frage nach der jüdischen Identität, Sex und Essen. In Sokolows Universum dreht sich alles um Jüdischsein unter absurden Bedingungen. Sex gibt es auch. Nur das Essen kommt diesmal ein wenig zu kurz. Henryk M. Broder d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 271 Kein Held, nirgends In ihrem Debüt gelingen Inka Parei bissige Hauptstadt-Bilder US-Autor T. Coraghessan Boyle verteidigt Großwildjäger und andere Verlierer Hell heißt die eine Eigenbrötlerin, Dunkel die andere. Sie sind, abgesehen von ein paar Ratten, die einzigen Bewohner einer abbruchreifen Mietsruine im Osten Berlins. Beide gehen dem Leben aus dem Weg, und auch voneinander wollen sie nicht viel wissen. Gleichwohl wird Hell nervös, als ihre „Außenklo-Partnerin“ spurlos ver- Als der große weiße Jäger mit ihm fertig war, hatte Claude keinen Kopf mehr und sah aus „wie ein zusammengeknüllter Teppich, über den jemand einen Eimer voll Hackfleisch geschüttet hatte“. Mike Bender musste bei diesem Anblick einen Traum begraben: den Traum, Claude auszustopfen und als Trophäe in den Empfangsraum seines Immobilienmakler-Büros in Beverly Hills zu stellen. So blutig, so böse beginnt der US-Erfolgsautor T. Coraghessan Boyle, 50, seine neueste Kurzgeschichtensammlung, in der er 15 Geschichten präsentiert – ein wüstes Bestiarium des amerikanischen Alltags. „Without a Hero“ heißt die amerikanische Ausgabe – und in der Tat: Bei Boyle gibt es keinen Helden, nirgends. Dabei ist der Erzähler weniger tiefgründelnder Psychologe als vielmehr ein brillanter Unterhalter: Mit flottem Witz zieht er seine Figuren in den Abgrund, aber er zieht nicht über sie her. Gelegentlich lei- W. BELLWINKEL Frau Rambo aus Berlin schwindet. Sie wittert, zu Recht, Bedrohliches. Prompt legt ein Brandstifter in Dunkels Wohnung ein Feuer; fast gleichzeitig taucht dieser hilflose Bankräuber auf, der ihre Nachbarin offenbar als Letzter gesehen hat und mit dem Hell eine völlig unromantische Affäre beginnt. Zufällig spürt sie auch noch den Mann auf, der sie einst vergewaltigt hat – es sind nicht gerade die üblichen Alltagsprobleme, mit denen die Ich-Erzählerin Hell zurechtkommen muss. Immerhin: Dank täglicher Kampfsportübungen hat sie, fast schon ein weiblicher Rambo, für jede Lebenslage einen passenden Faustschlag oder Fußtritt parat. Die junge Autorin Inka Parei, 32, hat mit ihrem Erstlingsroman „Die Schattenboxerin“ einen wunderbar herben Hauptstadtroman geschrieben. Immun gegen die aktuelle Berlin-Euphorie, outet sie die Stadt als Trash-Moloch mit müllverstopften Hinterhöfen, streunenden Hunden und zwielichtigen Gestalten. Ulrike Knöfel A. WEISE Parei Boyle stet sich der begnadete Zyniker Boyle sogar Anfälle von leiser Melancholie. Denn er kennt sie gut, die Verlierertypen, und so gewinnen seine vom Leben überforderten Schwächlinge und Schwachköpfe am Ende doch, irgendwie, meistens – und sei es die Sympathie des Lesers. Manchmal, im Falle von übermütigen Großwildjägern etwa, gewinnt am Ende allerdings auch ein Elefant. Martin Wolf Inka Parei: Die Schattenboxerin Schöffling Verlag, Frankfurt am Main; 184 Seiten; 34 Mark. 272 d e r T. Coraghessan Boyle: Fleischeslust Aus dem Amerikanischen von Werner Richter. Carl Hanser Verlag, München; 296 Seiten; 36 Mark. s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Die ernsten Spiele der Liebe Iselin C. Hermann debütiert mit einer spannenden Liebesgeschichte J. SPERLING Die Dänin Delphine Hav hat sich in der Pariser Galerie Y in das Gemälde „Sans titre“ des Malers Jean Luc Foreur verguckt. „Obwohl ich das Bild nicht besitze, gehört es mir“, teilt sie dem Künstler auf einer Postkarte mit, „danke.“ Scheinbar nicht mehr als der geschriebene Knicks einer Verehrerin; Fanpost; nett. Gut gemacht: Schon auf Seite 21 ihres literarischen Erstlings gelingt der Kopenhagener Regisseurin, Lektorin und Journalistin Iselin C. Hermann, 40, der Kick vom tastenden Who’s who zur (auch erotisch knisternden) Romanze. Bis diese Liebesgeschichte im Nachwort ihr ebenso knappes wie verblüffendes Ende findet, entwickelt sich auf dem Postwege ein – durch raffinierte Warteschleifen gelängtes und durch schrillen Kick-down belebtes – Crescendo an Spannung und Lesespaß. Was da in privater Ehrerbietung einsetzt, mit intimer Anmut Gestalt annimmt und endlich in handfester Sinnlichkeit Autorin Hermann: Korrespondenz als literarische Komposition Umgehend kommt, überraschend, eine Antwort. Nein, „normalerweise“ reagiere er „auf enthusiastische Briefe nicht“. Aber es habe ihn doch „berührt, wenn ein Mensch, den ich nicht kenne, dieses Erlebnis mit einem meiner Bilder hat“. So verspüre er einfach „Lust“ zu reagieren. Scheinbar nicht mehr als ein artiger Bückling in Worten; Fanpost angekommen; nett. Doch Delphine hat Feuer gefangen. Sie lässt nicht locker, geht zur ausführlichen Briefform über, tänzelt der Frage nach ihrem Alter kokett aus dem Wege, gesteht erst „eine kleine, zittrige Unruhe in den Nervenenden“ und bald schon die „Wahrheit“: „Ich sehne mich danach, dass Du mir schreibst.“ Und er schreibt. Er hat als erster das Du gewagt; nun schickt er ihr, ungefragt, einen seiner Ausstellungskataloge mit Foto und Lebenslauf und malt sich aus, wie seine Briefpartnerin wohl aussehen mag, „dass Deine Lippen sich wölben“ und „dass Du lange Beine hast“: „Du bist hübsch, das kann ich aus Deinen Briefen herauslesen.“ 274 d e r kulminiert, ist nichts anderes als eine zeitgemäße Spielart des herrlich altmodischen Briefromans: Korrespondenz als literarische Komposition. In der Ära der E-Mails wird hier noch einmal der Briefkasten zur Beziehungskiste. Das ideale Buch für einen griesen Sonntagmorgen: Kaffee schlürfen, Croissants knabbern und unterm kuscheligen Plumeau mit Herzklopfen daran glauben, was Delphine ihrem „lieben JL“ ins Gewissen schreibt: „Unser Spiel ist das ernsthafteste, das ich je gespielt habe.“ Und er? Die kalte Dusche am Sonntagmittag kann der Leser sich sparen. Die verpasst Klaus Umbach ihm die Hermann. s p i e g e l Iselin C. Hermann: Liebe Delphine … Lieber Jean Luc … Roman. Aus dem Dänischen von Regine Elsässer. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart; 176 Seiten; 34 Mark. 4 1 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Herzen auf Raupenfüßen Die Australierin Delia Falconer debütiert mit einem Roman über Liebesverrat Ach die Liebe, ach die Wolken. Veränderlich und unaufhaltsam ziehen sie dahin. „Man konnte unsere Liebe wie Dampf von den Berggipfeln aufsteigen spüren“, erinnert sich die Ich-Erzählerin im Roman-Erstling der Australierin Delia Falconer, 33. Wie aber sollte Leidenschaft je an ihr Ziel kommen, wenn sie einem Mann gilt, der – nach Worten des romantischen Ästheten John Ruskin – „den Wolken dient“? Erschienen ist dieser Harry Kitchings dem Mädchen Eureka wie ein Himmelsbote: Im Korb einer Lastenseilbahn über Abgründe herangeschwebt; seine verkrüppelte Hand presst eine Kamera an die Brust. Denn er ist aufgebrochen, um Landschaftsdarstellung, Ausflüge ins Gebirge, Visionen in der Dunkelkammer. Harry kopiert den Namen der Freundin in das Bild einer Kumuluswolke. Noch unter Katastrophenahnung, in die der scheinbar ferne Weltkrieg hereinspielt, genießt Eureka den „kleinen Luxus, seinen Ellbogen an meinen gepreßt zu fühlen“. Kein Kuss, kein Heiratsantrag. Abrupt folgt der „Verrat“: Harry ist dieser Liebe nicht gewachsen, er heiratet eine demütige, geldgierige Kriegerwitwe mit Baby, wohl weil „die Wolken sich nicht in ihren Rocksäumen verfingen“. Die Erzählerin, als Krankenschwester auf einen nebligen Zauberberg entrückt, findet fieberhafte Trieberfüllung bei einem Todgeweihten – der schwächere Teil des stimmungsmächtigen Buchs. Schließlich spült Eureka die Silberschicht von Harrys nachgelassenen Fotoplatten durch das Waschbecken einer Schiffskabine in die stürmische See, um die Bilder zu entgrenzen. Es ist, als würden sie vom Sog der Sprache mitgerissen. Jürgen Hohmeyer Krimi-Tipps Anne Holt: „Im Zeichen des Löwen“. Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs. Piper Verlag, München; 416 Seiten; 39,80 Mark. So ruhig war es lange nicht mehr im Büro von Brigitte Volter, der Ministerpräsidentin von Norwegen. Als sich die Sekretärin endlich traut nachzuschauen, findet sie die Regierungschefin erschossen am Schreibtisch. Autorin Anne Holt weiß, wovon sie schreibt: Sie war kurzzeitig Justizministerin in Oslo. Gemeinsam mit ihrer damaligen Staatssekretärin Berit Reiss-Andersen hat sie eine faszinierende Innenansicht der norwegischen Gesellschaft und ihrer politischen Kaste geschrieben. Dean Koontz: „Geschöpfe der Nacht“. Aus dem Amerikanischen von Uwe Anton. Heyne Verlag, München; 512 Seiten; 36 Mark. D. SATTMANN Chris Snow leidet an einer seltenen Erbkrankheit: Sonnenlicht ist für ihn tödlich. So streift er nur bei Nacht durch seinen Wohnort, ein amerikanisches Küstenkaff. Bei einer dieser Touren beobachtet er, wie eine Leiche beiseite geschafft wird. Als dann noch eine Zeugin ermordet wird, ist Chris klar, dass auch er auf der Todesliste steht. David Baldacci: „Die Wahrheit“. Aus dem Amerikanischen von Uwe Anton. Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach; 512 Seiten; 44 Mark. Falconer Ein Häftling in einem Gefängnis der USA macht eine Eingabe beim Obersten Gerichtshof – und setzt damit eine Kettenreaktion von Bedrohung, Mord und Verleumdung in Gang. Mühsam schälen zwei junge Wahrheitsfanatiker aus alten Akten und Zeugenaussagen heraus, was wirklich vor 25 Jahren bei einer Spezialeinheit des Militärs geschah und wer dafür verantwortlich ist. Die Jagd führt in die höchsten Kreise Washingtons. in den Blue Mountains bei Sydney „Gott zu photographieren“. Als ein verhängnisvolles Familienerbe liegt ihm Lichtbildner-Alchimie im Blut, aber erst nach einem Unfall, der ihn fürs erlernte Druckhandwerk untauglich macht, hat Harry sich zu seiner Berufung durchgerungen. Delia Falconer erzählt, durch die Maske Eurekas, ihre Geschichte aus dem ersten Jahrhundertviertel in hohem Sprachton, bildkräftig und anspielungsreich, mit Scharfblick auch für die Phantastik kleinstädtischer Familien- und Gesellschaftsgrotesken. Anrührend im Zentrum jedoch: das diskrete Einverständnis der Liebenden über Jahre – „Unsere Herzen bewegen sich aufeinander zu, langsam, auf Raupenfüßen.“ Gespräche über Michael Connelly: „Das zweite Herz“. Aus dem Amerikanischen von Sepp Leeb. Heyne Verlag, München; 448 Seiten; 39,80 Mark. Terry McCaleb hat einst beim FBI Serienkiller gejagt, bis ein Koronarleiden ihn außer Gefecht setzte und ihm sogar ein neues Herz eingepflanzt werden musste. Eines Tages bekommt Terry Besuch von einer Frau, die behauptet, die Schwester von Gloria Torres zu sein, der Spenderin, deren Herz er nun in der Brust trage. Gloria sei, erzählt die Besucherin, damals ermordet worden. Jetzt bittet sie Terry, den Mörder ihrer Schwester zu finden. Zögernd willigt er ein und verstrickt sich in ein mörderisches Komplott. Andrea Camilleri: „Der Hund aus Terracotta“. Aus dem Italienischen von Christiane von Bechtolsheim. Edition Lübbe, Bergisch Gladbach; 352 Seiten; 36 Mark. Delia Falconer: Die Liebe zu den Wolken Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main; 320 Seiten; 39,80 Mark. 276 Camilleri hat mit Commissario Montalbano eine Art von sizilianischem Maigret geschaffen, einen Polizisten, dessen Fälle sich für doppelbödige Studien einer verkommenen Gesellschaft anbieten. Diesmal geht es um ein aktuelles und um ein vergangenes Verbrechen. In einer Höhle findet Montalbano zwei skelettierte Leichen, die von einem Schäferhund aus Terracotta bewacht werden. d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite und komische Raserei zu versetzen: Martin und Kate sind ein junges Ehepaar aus London, das mit seinem Baby für ein paar Monate aufs Land zieht. In idyllischer Einsamkeit wollen beide an Büchern Michael Frayn schickt einen Heimlichtuer schreiben und sich an den Schock des auf erotische und kunsthistorische Irrfahrt Eltern-Seins gewöhnen. Kate ist KunsthisMalerei ist eine Stillstandskunst: Nicht torikerin, Martin ist Philosoph mit kunstohne Grund sagt man von den Gemälden historischen Neigungen, vor allem aber großer Meister, sie hielten die Welt an; voller Angst, in der Rolle des Familiendie Zeit erscheine wie gefroren im Bild Ernährers eine Null zu sein. einer schönen Frau, einer Schlacht oder Da trifft es sich gut, dass ein offenbar einer netten Landschaft, in der sich Men- rustikal vertrottelter Nachbar die beiden schen wie Spielzeugfiguren verlieren. zu sich nach Hause bittet, um ein paar Schreiben ist eine Beschleunigungskunst, alte Gemälde zu begutachten – und Martin eine, wie er sich sofort sicher ist, sensationelle Entdeckung macht: Die Kamin-Abdeckung im Frühstückszimmer des Nachbarn ist ein verschollenes Bild aus dem Jahr 1565, ein fehlendes Puzzlestück aus dem Jahreszeiten-Zyklus von Pieter Bruegel (der sich, wie Kunst-Amateure aus diesem Buch lernen, im Gegensatz zu seinen Nachfahren ohne h nach dem g schrieb). Für Martin ist der Anblick des Bildes ein Erweckungserlebnis: Er will, er muß diesen Schatz in seinen Besitz bringen. Und weil er seine jähe Erkenntnis zunächst sogar vor Kate geheim hält, verstrickt er sich mehr und mehr in kleine Lügen und verwegene Tricksereien – dass ihn die junge, schöne Frau des Bildbesitzers in eine fatale Liebesaffäre hineinzerren will, ist noch eine der milderen Folgen seiner Jagd auf das vermeintliche Meisterwerk. Staunenswert leicht und oft zum Tränenlachen komisch ist der Ton, in dem Frayn seinen Erzähler Martin von erotischen Wirrungen und immer neuen Tiefschlägen beAutor Frayn: Komische Jagd auf ein Meisterwerk richten lässt – und von immer neuen Zweifeln, die es zu entkräften gilt: zumindest im Fall des britischen Dramati- So macht jeder gelehrsame Ausflug in die Kunstgeschichte den fortschreitenden kers und Romanautors Michael Frayn. In Irrsinn des Helden noch ein wenig seinen besten Werken bringt Frayn, 66, plausibler. Am Ende aber müssen alle die Welt auf Touren, läßt seine Figuren in Mitspieler erkennen, dass sie kaum mehr immer wilderem Tempo durchs Lebenssind als die Menschen in den MeisterwerLaufrad hetzen, bis es sie aus der Bahn ken des ältesten Bruegel: niedliche Spielwirft und sie japsend auf der Erde liegen – wobei nicht ganz klar ist, ob sie nun vor zeugfiguren, bei deren Freudentänzen Erschöpfung japsen oder vor Lachen über und Plackereien, Grausamkeiten und Liebesspielen eine unbekannte, rätselhafihr eigenes Schicksal. te Schicksalmacht die Fäden zieht. In Deutschland ist Frayn vor allem beWolfgang Höbel kannt geworden durch sein Theaterstück „Der nackte Wahnsinn“, eine irre Farce über ein paar Schauspieler am Rande des Michael Frayn: Nervenzusammenbruchs; die Komödie Das verschollene Bild aus dem Jahr 1982 ist bis heute ein StadtAus dem Englischen theater-Hit. In seinem jüngsten Roman von Matthias Fienbork. „Das verschollene Bild“ erzählt Frayn Hanser Verlag, Münnun in epischer Breite und mit verblüffenchen; 360 Seiten; der Sachkenntnis von der Malerei des 16. 39,80 Mark. Jahrhunderts – und schafft es dennoch, seine Helden in maximale Turbulenzen K. BOSSE Erweckung im Frühstückszimmer 278 d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Der Blick des Blinden Es ist schwindelerregend, als Leser einen Text vor Augen zu haben, bei dem man dennoch immer nur Zuhörer ist: Gilbert Adairs verspielt-vertrackter neuer Roman mit dem vielsinnigen Titel „Blindband“ besteht, von ein paar kurzen Passagen abgesehen, ausschließlich aus Dialogen, und deren Zentralthema ist das Nicht-Sehen. Ein Erblindeter, dem eine Explosion nicht nur das Sehvermögen, sondern die Augen selbst geraubt hat, reflektiert über den unentrinnbaren „atavistischen Sehreflex“, der ihn nach wie vor beherrscht wie der Phantomschmerz einen Amputierten. „Erblindeter Autor sucht Amanuensis“, steht über der Anzeige in der Londoner „Times“: Ein berühmter alternder Schriftsteller, seit einem Autounfall vor vier Jahren weltabgewandt auf seinem Landsitz hausend, sucht Beistand, um ein EPOCA Der britische Schöngeist Gilbert Adair brilliert mit einem eleganten Kunst-Thriller Gilbert Adair, 55, geistreicher Romancier, Essayist, Filmpublizist, unter Londoner Intellektuellen als lästerlustiger Dandy bekannt, findet für seine schmalen, mit Scharfsinn und snobistischer Ironie polierten Kunstkrimis langsam auch hier zu Lande Liebhaber: „Blindband“ ist gleichzeitig mit der englischen Ausgabe auf Deutsch erschienen. Und ein paar Druckfehler, die nur ein Blinder übersehen könnte, werden dem detektivisch gewitzten Leser auf der vorvorletzten Seite ihr Geheimnis verraten. URS JENNY Autor Adair: Lästerlustiger Dandy Buch über seine Blindheitserfahrung zu Papier zu bringen. Der junge Mann, der den bizarren Schreib-Job übernimmt, erweist sich als flink und erstaunlich einfühlsam. Dem Leser allerdings, exklusivem Ohrenzeugen der Arbeitsgespräche zwischen den beiden, entgeht nicht lange, dass der Sehende den Blinden auf eine tückisch subtile, geradezu thrillermäßig spannende Weise irrezuführen beginnt, und ahnt bald im Unsichtbaren die Umrisse eines dunklen Verbrechens, bei dem die Augen von Rembrandts letztem Selbstporträt (in der Londoner National Gallery) eine Schlüsselrolle spielen. Gilbert Adair: Blindband Deutsch von Thomas Schlachter. Edition Epoca, Zürich; 224 Seiten; 39,50 Mark. Belletristik-Tipps Malachy McCourt: „Der Junge aus Limerick“. Argon Verlag, Berlin; 332 Seiten; 38 Mark. Auch er will die Asche seiner Mutter besingen: Zeitgleich mit Frank McCourts Fortsetzung seiner Memoiren kommt die etwas flaue brüderliche Konkurrenz. Uwe Johnson / Siegfried Unseld: „Der Briefwechsel“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main; 1220 Seiten; 68 Mark. Literarische Korrespondenz von seltener Kontinuität: 769 Briefe und Telegramme aus den Jahren 1959 bis 1984 – fast ein (doppelter) Lebensroman. Julien Green: „Tagebücher 1990 bis 1996“. List Verlag, München; 772 Seiten; 98 Mark. Den sechsten Band der 1926 begonnenen Tagebücher konnte Green noch selbst redigieren, bevor er 1998 mit 97 Jahren starb – würdiger Schlussstein der Edition. Jacob und Wilhelm Grimm: „Deutsches Wörterbuch“. Deutscher Taschenbuch Verlag, München; 33 Bände. Zus. 33 812 Seiten; 999 Mark. Unübertroffen und nun, nach 15 Jahren, noch einmal im Taschenbuch-Nachdruck – unser Wortschatz in Kassette. Gert Ledig: „Vergeltung“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main; 212 Seiten; 32 Mark. Wiederentdeckung nach mehr als 40 Jahren: Ledig, der im Frühjahr starb, schrieb einen der seltenen deutschen Romane über den Luftkrieg (SPIEGEL 1/1999) – auch literarisch bemerkenswert. 280 Anne Stevenson: „Sylvia Plath“. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main; 656 Seiten; 39,80 Mark. Erschöpfend und – bisweilen allzu – detailreich dargestellt: Leben und Sterben der Kultautorin, die sich 1963 das Leben nahm. d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 André Gide: „Lyrische und szenische Dichtungen“. Werke XI. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart; 496 Seiten; 78 Mark. Der vorletzte Band einer verlegerischen Großtat: die gesammelten Werke des Franzosen in mustergültiger Edition. Michel Leiris: „Die Spielregel. Band 4: Wehlaut“. Matthes & Seitz Verlag, München; 456 Seiten; 58 Mark. Abschluss der umfangreichen Autobiografie: teils Tagebuch, teils Poesie, teils Werk der Erinnerung – gewollt fragmentarisch. Dieter Forte: „Das Haus auf meinen Schultern“. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main; 864 Seiten; 68 Mark. Drei autobiografische Romane, zwischen 1992 und 1998 publiziert, getragen von einem einzigen großen Erzählbogen, wie der dritte Teil „In der Erinnerung“ (SPIEGEL 45/1998) erwies: nun in einem Band. Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite SACHBÜCHER Rüstzeug fürs Millennium Welches Wissen ist nötig im kommenden Jahrtausend? Und wo bleibt in der Überfülle weltweit vernetzter Informationen die geistige Heimat des Menschen? Zukunftsentwürfe und Bilanzen prägen den Sachbuch-Herbst – hier einige Empfehlungen der SPIEGEL-Redaktion. Schwanitz-Idol Shakespeare (im Film „Shakespeare in Love“) L. SPARHAM / UIP Mutter aller Massaker Dietrich Schwanitz spielt mit dem Bildungskanon Was dieser Zeus so alles trieb: In jungen Jahren mischte er dem Vater Kronos „ein Brechmittel in seinen Ouzo“, seine erste Amtshandlung als Obergott bestand „in der sexuellen Belästigung der Titanin Metis“, und alle Vorwürfe von Gattin Hera, dass er „zu einer tiefen Beziehung“ unfähig sei, trieben den Olympier nur in immer neue Eskapaden. Ein richtig krasser Typ, offenbar – zumindest wenn alles so stimmt, wie Dietrich Schwanitz es zusammenfasst. Und das muss es ja wohl: Ein Professor und Talkshow-Star, der sein Buch „Bildung – Alles, was man wissen muss“ nennt, darf seine Leser nicht zum Narren halten. 284 Oder doch? Vielleicht ist der pfiffige Anglist, dem seine Hamburger Kollegen noch immer nicht verzeihen, dass er sich vor gut zwei Jahren per Frühpensionierung aus der öden Universität ins Schriftstellerleben absetzte, ja ein Schalk. Vielleicht hat Schwanitz, 59, den Leuten einen Streich spielen wollen, die zu wissen glauben, was Bildung ist. Vielleicht wollte er sie ködern mit seinem Anspruch, dieses gar nicht so dicke Buch enthalte tatsächlich alles „Marschgepäck“, das nötig sei, um „die Geschichte seiner eigenen Gesellschaft zu verstehen“. Hamburgs Uni-Präsident Jürgen Lüthje zumindest ist schon in die Falle gerannt. d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Gleich bei Erscheinen monierte er stirnrunzelnd, Schwanitz gebe mit seinem angeblichen Bildungskanon „subjektive Sichtweisen als verbindliche Wahrheiten“ aus. Das meiste in dem Buch, das tatsächlich eine Blitztour durch Geschichte, Literatur, Kunst und Weltbilder anbietet, sei platt und falsch und natürlich viel zu knapp geraten. Kunststück, könnte Schwanitz erwidern. Denn für ihn ist das lustvoll bis flapsig eingedampfte Wissen ein großes Spiel, ein fröhlicher Kassensturz unserer Traditionsbedürfnisse. Oberlehrer mögen nun fragen: War Palestrina tatsächlich der „Erfinder“ des musikalischen Kontrapunkts? Darf jemand behaupten, der Apostel Paulus sei ein „christlicher Trotzki“ gewesen? Wurde mit Luther „das Christentum wieder jüdischer“? War für die alten Griechen wirklich „nur das Konstante wirklich“? Hat Bismarck „die Deutschen in die Dietrich Schwanitz: Bildung – Alles, was man wissen muss Eichborn Verlag, Frankfurt am Main; 544 Seiten; 49,80 Mark. Das gelingt ihm immer wieder. Einprägsam erklärt er den Trojanischen Krieg zur „Mutter aller Massaker“, die römischen Volkstribunen umschreibt er als „so etwas Daniel L. Schacter bereist das Ähnliches wie heutige Betriebsräte“, die menschliche Gedächtnis Klöster des Mittelalters nennt er „Trainingslager für den Himmel“. Den KarrieDie Erinnerung sei, schrieb Jean Paul, restart von Zarin Katharina I. würdigt er „das einzige Paradies, woraus wir nicht so: „Katharina … war als Magd des luthe- vertrieben werden können“. Für andere rischen Pastors Glück in Marienburg aufdagegen ist der Speicher im Hirn die Hölgewachsen. Bei der Belagerung der Stadt le, der sie nicht entfliehen können. Pascal wurde auch sie erobert und ergriff den resümierte kühl: „Das Gedächtnis ist für Beruf der Konkubine.“ alle Tätigkeiten der Vernunft notwendig.“ Manchmal verbergen die Scherze KluDer Gefühle dito. ges. Hegels „Phänomenologie des GeisGedächtnis ist nicht alles, aber ohne Getes“ etwa, an der Generationen von dächtnis ist alles nichts. Erlerntes und ErPhilosophen gekaut haben, tritt als lebtes, Erkenntnisse und Erfahrungen, „Weltgeschichte in Form eines BildungsSeligkeiten und Scheußlichkeiten, Meloromans“ auf. „Held des Romans war der dien, Momente, Düfte, Bilder: Das Depot Geist“ – muss ja ein spannendes Buch im Kopf, das Meisterstück der Evolution, sein. Und in Sachen Christentum wird macht den Menschen zum Menschen. Schwanitz geradezu weise: Die biblische Wie es das tut, weiß bislang allerdings Geschichte „wurde von Gott geschrieniemand genau. Daniel L. Schacter, Harben, einem Gott, den die Europäer als vard-Professor für Psychologie und Neueinzigen anerkannten. Deshalb wurde rowissenschaft, ist auch nach 20 Jahren sie Wort für Wort geglaubt … Um geGedächtnisforschung und Experimenten ringfügiger Unterschiede in der Deutung am Objekt so fasziniert von seinem Thedieser Geschichte willen wurden Länder ma, dass er es als spannende Labyrinthverwüstet und Städte in Schutt und wanderung aufbereitet hat. Asche gelegt“. „Mit Hilfe des Gedächtnisses“, schreibt Das ist doch Klippschule, könnten Zweif- Schacter, „versucht das Gehirn, der Umler meckern. Aber auch sie sollten die welt Ordnung aufzuerlegen.“ Aber das Bravourstellen im Spiel nicht verpassen: Gedächtnis, „dieser komplexe und geFünf moderne Bühnenautoren lässt wöhnlich so zuverlässige Faktor, kann Schwanitz in einem kuriosen Dramolett auftreten, und Shakespeare stellt er gar, wie es dem Anglisten ziemt, in einem Glaubensbekenntnis vor. Wer ihn, den „Dichter aller Dichter“, den „Meister der sprachlichen Kernfusion“, genießen kann – Schwanitz gibt eine kleine Kostprobe –, „der erlebt den Urknall als einen poetischen Orgasmus der Kreativität. Es gibt kein besseres Gefühl auf dieNeurologe Schacter: Auswahl aus dem Ereignis-Strom ser Erde als dieses. Es befreit aus Depression und schlechter uns gelegentlich gründlich hinters Licht Laune und macht dankbar dafür, dass führen“. Denn es sei eben auch eine „anman lebt“. fällige Macht“. Alle Achtung, Herr Professor. Ihr Spiel Eine multiple dazu. Klinische Studien an ist offenbar doch ein bisschen ernst geAmnesie-Patienten und anderen Hirnvermeint. letzten bekräftigten die These, dass das Johannes Saltzwedel Gedächtnis nicht als Solist, sondern in weit vernetzten Systemen arbeitet. KurzManfred Fuhrmann: zeit- und Langzeitgedächtnis sind beDer europäische kannt, doch mit ihnen fängt das Knäuel Bildungskanon des der Memorier-Möglichkeiten erst an. bürgerlichen Zeitalters Komplizierter als früher angenommen ist Insel Verlag, auch der Vorgang des Speicherns. Nicht Frankfurt am Main; „wertfreie Schnappschüsse“ oder „wort224 Seiten; 39,80 Mark. wörtliche Aufzeichnungen der Wirklichkeit“ werden kodiert, sondern zugleich Anfällige Macht d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 285 K. SNIBBE AKG Scheiße geführt“? Reicht es, Hitler als „Führer aller Knallköpfe“ abzufertigen? Doch das sind nur die einfachsten Spielzüge. Fortgeschrittene könnten mit Professor Schwanitz darSchwanitz um feilschen, wie viel Platz denn ein historisches Kapitel verdient. Da werden die Wiedertäufer oder gar die Ursachen des SchleswigHolsteinischen Krieges von 1864 ausführlicher vorgestellt als alle Kreuzzüge zusammen. Afrikas und erst recht Asiens Geschichte fallen fast völlig unter den Tisch – keine Spur von Weltkultur. Naturwissenschaft findet kaum statt; auf ökonomischem Gebiet gleichen die Lücken einem Vakuum. Aber sogar die Mankos haben Methode. Denn was Schwanitz da frech und flott zusammenschreibt, unterscheidet sich nur wenig vom Stoff, den einst das humanistische Gymnasium lehrte. In einem eleganten Büchlein hat gerade der Konstanzer Altphilologe Manfred Fuhrmann, selbst Zögling solcher Anstalt, den „Bildungskanon des bürgerlichen Zeitalters“, seine Entstehung und seine Entsorgung, resümiert: Buddha und die Dampfmaschine wurden darin übergangen, denn wer im abendländischen Kunstgenuss geschult war, würde mit solchem Nebenkram schon zurechtkommen. Entsprechend lässt der Schwanitz-Kanon sich durchaus als intellektueller Striptease eines alternden deutschen Akademikers lesen, der das, was ihm für das Verstehen der großen Zusammenhänge genügt, auch anderen empfiehlt. Ähnlich wie Immanuel Kant, der im 18. Jahrhundert vom Katheder „Weltweisheit“ lehrte, also ein Faktengerüst fürs geistige Leben, glaubt der Literaturwissenschaftler felsenfest an den sprachlichen Zusammenhang der Welt, und ähnlich wie Kants Vorlesungen heute wirken viele Schwanitz-Passagen komisch. Allerdings mit einem Unterschied. Der akademische Entertainer weiß, dass niemand sein Werk als Prüfungsstoff braucht – also muss die Sache Spaß machen. Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite die Bedeutungen und Gefühle des Augenblicks; und das so komplex Gespeicherte entscheidet dann darüber, „was wir aus dem Strom der täglichen Ereignisse herausgreifen und behalten“. Barbara Leaming entzaubert Zuweilen können sich Gedächtnisinhalte die Verschwörungstheorien sogar ganz „ohne Erinnerungsbewusstsein“ manifestieren, Menschen von einem Eine Biografie über Marilyn früheren Erlebnis beeinflusst werden, an Monroe, wirklich, schon das sie sich nicht erinnern: Dieses „impli- wieder? Aber sicher doch. zierte“ (unbewusste) Gedächtnis, ein Dieser Mythos, dieses LeFund jüngster Forschung, hat laut Schacben hat immer Saison. Oriter die Ansicht vom Wesen des Gedächtginell an Barbara Leamings, nisses „grundlegend verändert“. 55, Monroe-Biografie ist das Noch liegt freilich im Halbdunkel, wie verstörend Unspektakuläre. die Speicherung chemisch-physikalisch Anders als etwa die Verfasabläuft, wie im Gehirngewebe Gedächtser des im gleichen Verlag nis-„Engramme“ abgelegt und abgerufen erschienenen Buchs „Der werden, mit anderen verschmelzen oder Fall Marilyn Monroe“ sich verflüchtigen. Eins ist sicher: Der (1996) mauschelt sie nicht Kosmos von Persönlichkeit und Bewusstum den mysteriösen Tod sein hängt an ein paar Nervenfäden. des Stars herum. Weit und Manchmal hängt sie schief, die Persönbreit keine vom Monroelichkeit, auch ohne Hirnverletzungen. Im Liebhaber John F. Kennedy Russland der zwanziger Jahre schickte ausgesandten Killerkomeine Zeitung einen ihrer Reporter zum mandos. Arzt: Er machte sich nie Notizen, konnte sich alles merken, lange Listen mit Worten, Namen, Zahlen auswendig hersagen, vorwärts, rückwärts, auch Nonsens-Silben. Der russische Neuropsychologe Alexander Luria hat den Fall beschrieben; der Reporter wechselte schließlich den Beruf und ging ins Showbusiness, als Gedächtniskünstler. Ohnehin ist das Gedächtnis, so Schacter, „prinzipiell die Grundlage aller Kunst“, jedes Kunstwerk lebe „direkt oder indirekt von der persönlichen Erfahrung des Künstlers“. Biografin Leaming, Monroe (1954): Untergang durch Selbstüberlistung? Ein Künstler muss sein eigener Archäologe werden. So begab sich Marcel stellen wolle, aber jedes Mal machte sie Stattdessen liefert Film-Expertin LeaProust auf die „Suche nach der verloreausgerechnet dann Nacktaufnahmen ming (Veröffentlichungen über Rita nen Zeit“, und die stieg ihm, berühmtes oder trat nahezu unbekleidet öffentlich Hayworth, Katherine Hepburn, Orson Beispiel, in die Nase, als er „petites maauf, wenn ihre Chefs gerade dabei waren, Welles) die penible Bestandsaufnahme deleines“, ein Gebäck, in Tee tunkte. ihrem Anliegen entgegenzukommen. eines Berufs- und Liebeslebens. Sie hat Als „kapriziöses und launiges Wesen“ Gleicher Mechanismus auch in der Liebe: Akten von der Twentieth Century-Fox, empfand der alte Arthur Schopenhauer Monroes wichtigstem Arbeitgeber, durch- Monroe wünschte sich ein Zuhause, eine das Gedächtnis, „einem jungen MädFamilie und Kinder, doch immer wenn gearbeitet, gibt akribisch Gespräche chen zu vergleichen“: Bisweilen nämgeeignete Kerle auftauchten, der Baseunter Studiobossen wieder und wertet lich verweigere es ganz unerwartet, ball-Spieler Joe DiMaggio etwa oder der unbekannte Drehberichte aus. was es hundertmal geliefert habe, und Schriftsteller Arthur Miller, schlug sie sie Abenteuerlich, wie sich zwischen Studio „bringt es dann später, wenn man nicht nach allen Regeln der Kunst in die und Star Missverständnis an Missvermehr daran denkt, ganz von selbst entFlucht. ständnis, Drama an Drama reihte. Ungegen“. Für Überraschung bleibt also entwegt beharrte Monroe darauf, dass sie War die Monroe also selbst die größte gesorgt. Schurkin in ihrem Leben? Es dürfte die nicht nur das sexwütige Dummchen darFritz Rumler D. PARKER LIAISON / GAMMA / STUDIO X Marilyn pur Barbara Leaming: Marilyn Monroe. Die Biographie jenseits des Mythos Herbig Verlag, München; 480 Seiten; 58 Mark. Daniel L. Schacter: Wir sind Erinnerung. Gedächtnis und Persönlichkeit Deutsch von Hainer Kober. Rowohlt Verlag, Reinbek; 656 Seiten; 49,80 Mark. 288 d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Alan Sokal, Jean Bricmont: Eleganter Unsinn. Wie die Denker der Postmoderne die Wissenschaften mißbrauchen Deutsch von Johannes Schwab und Dietmar Zimmer. Verlag C. H. Beck, München; 352 Seiten; 39,80 Mark. gewitzteste aller bisherigen Verschwörungstheorien sein: Untergang durch Selbstüberlistung. Leaming hat solide recherchiert, voll protokollarischen Eifers; manchmal schreibt sie etwas spröde. Aber bei einem so oft be- und verurteilten Leben lohnt es allemal, pure Fakten sprechen zu lassen: Manche mögen’s leis. Susanne Beyer Gewitzte Aufklärung Zwei Physiker entlarven die intellektuelle Hochstapelei vermeintlicher Meisterdenker Wer behauptet, dass die äußere Welt unabhängig vom Individuum existiert und verlässlichen physikalischen Gesetzen gehorcht, hängt einem längst überholten Dogma an. Die postmodernen Wissenschaften haben derlei naive Überzeugungen umfassend widerlegt. Sie haben gezeigt, dass die so genannte physische Realität nichts als ein soziales und sprachliches Konstrukt ist, das Herrschaftsinteressen verbirgt und keine objektive Bedeutung beanspruchen kann. Fanfarengleich begann mit diesen Thesen ein Beitrag des New Yorker Physik-Professors Alan Sokal, den die angesehene amerikanische Kulturzeitschrift „Social Text“ vor gut drei Jahren veröffentlichte. Schon der Titel schien einen fulminanten geistigen Gipfelsturm zu verheißen, indem er komplizierte Begriffe aus den Natur- und Geisteswissenschaften wie selbstverständlich verband: „Die Grenzen überschreiten: Auf dem Weg zu einer transformativen Hermeneutik der Quantengravitation“. Einschüchternde Universalkompetenz suggerierte ein Fußnotenapparat, der an die 200 Kronzeugen anführte, von Albert Einstein Autoren Sokal, Bricmont FOLEY / OPALE Parodie löste Wissenschaftskrieg aus d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 nen Diskursen den Anstrich der Exaktheit zu geben“. Als Vorbild nennen die Autoren das Kind in Andersens Märchen „Des Kaisers neue Kleider“, das unbefangen die Nacktheit des Herrschers ausspricht. Die Klarheit der Autoren verbindet sich auch mit subversivem Humor – seit jeher eine der wirkungsvollsten Waffen der Aufklärung. So zitieren sie Passagen des für seine Unverständlichkeit berühmten Psychoanalytikers Jacques Lacan. Allen Ernstes identifiziert der das „erektionsfähige Organ“ mit dem mathematischen Symbol 앀옽-1. Sokal/Bricmont kommentieren: „Wir gestehen, dass es uns bedrückt, wenn unser Märchenillustration: Herrscher des Denkens entblößt erektionsfähiges Organ mit 앀옽 -1 gleichgesetzt wird. Dies erinnert von unbegriffenen naturwissenschaftliuns an Woody Allen, der sich in ‚Der chen Konzepten auf soziale ZusammenSchläfer‘ gegen die Umprogrammierung hänge: „Intellektuelle Hochstapelei“ beseines Gehirns wehrt: ,Sie dürfen mein trieben die, die „das Prestige der NaturGehirn nicht anrühren, das ist mein wissenschaften benutzen, um ihren eigezweitliebstes Organ!‘“ Rainer Traub AKG / KUNSTSAMMLUNG GERA über Jacques Derrida und Niels Bohr bis Paul Virilio. Gleich nach der Veröffentlichung freilich enthüllte der Autor selbst, dass er der internationalen Kultgemeinde der so genannten Postmoderne eine Parodie untergejubelt hatte: eine listige Mischung aus humanwissenschaftlichen Floskeln und naturwissenschaftlichen Begriffen, reinen Absurditäten und sachlichen Fehlern, Halbwahrheiten, Nullsätzen und höherem Blödsinn. Die Parodie traf ins Schwarze. Sie löste eine Art Wissenschaftskrieg aus, in dessen Verlauf Sokal zusammen mit seinem belgischen Kollegen Jean Bricmont das jetzt auf Deutsch vorliegende Buch schrieb; ein Anhang präsentiert den Text, der den Streit auslöste. Sokal und Bricmont verteidigen die rationale Tradition der Aufklärung gegen den Irrationalismus und Relativismus der Postmoderne. Sie wenden sich gegen die „Zurschaustellung von Halbbildung“; viele Texte postmoderner Gurus erschienen schwierig „einzig und allein deshalb, weil sie absolut nichts aussagen“. Bestenfalls sinnlos ist, so zeigen sie, die Anwendung Sachbücher-Tipps Martin Burckhardt: „Vom Geist der Maschine“. Campus Verlag, Frankfurt am Main; 412 Seiten; 68 Mark. Eine „Geschichte kultureller Umbrüche“ im menschlichen Selbstbild. Der Groß-Essay animiert – anders als Sloterdijks Wortblasen – zum Weiterdenken. 290 Jörg Lau: „Hans Magnus Enzensberger“. Alexander Fest Verlag, Berlin; 400 Seiten; 39,80 Mark. Fast fünf Jahrzehnte als literarischer Intellektueller: das Lebensbild eines widersprüchlichen Zeitgenossen, der stets auf der Höhe und dennoch seinen Interessen treu blieb. Benita Eisler: „Byron – Der Held im Kostüm“. Blessing Verlag, München; 864 Seiten; 68 Mark. Draufgängerei, betörende Lyrik und Sex in fast jeder Spielart (wenn’s denn stimmt): Goethe hat den Dichter-Lord sogar im „Faust“ verewigt. Hans-Joachim Gehrke: „Kleine Geschichte der Antike“. C. H. Beck Verlag, München; 244 Seiten; 38 Mark. Wie tyrannisch waren griechische Tyrannen? Warum musste Cäsar sterben? Forschungsfakten, schnörkellos erzählt, dazu sachkundig und reichhaltig bebildert. Tadeusz A. Zieliński: „Chopin“. Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach; 912 Seiten; 78 Mark. Ein minutiöses Porträt vom Landsmann zum Lesen und Nachschlagen; Biografie und Musikführer in einem. Christopher Badcock: „Psychodarwinismus“. Hanser Verlag, München; 320 Seiten; 49,80 Mark. Freud scheint passé. Und doch könnte er mit seinen Theorien Recht gehabt haben. Der britische Soziologe will das mit Evolutionstrends bestätigen. d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Monika Faber: „Anton Josef Tr‡ka“. Brandstätter Verlag, Wien; 128 Seiten; 68 Mark. Seine Porträts von Wiener Jugendstil-Größen wie Klimt und Schiele sind kongenial; außerdem war der rätselhafte Fotograf selbst Maler. Eine Entdeckung. Daniel Arasse: „Leonardo da Vinci“. DuMont Verlag, Köln; 546 Seiten; 168 Mark. Auf jüngstem Wissensstand „erfindet“ dieser Kunstgeschichts-Essay Leonardo neu – als Genie in ständiger Wandlung. Der Band ist üppig und nobel illustriert. Robert Maschka: „Wagners Ring“. Piper Verlag, München; 128 Seiten; 14,90 Mark. Handlung, Hintergründe und Wirkung des wohl vertracktesten MythenGebräus der Opernwelt sind kaum zu überschauen. Der Musikfachmann schafft es: knapp, kundig, pointiert. Werbeseite Werbeseite MESSE-NAVIGATOR Messegelände Frankfurt Die wichtigsten Orte und Termine Mit frischem Lorbeer aus Stockholm bekränzt, wird er – ob er will oder nicht – unwillkürlich werben für die hohen Aufgaben der Dichter und Denker auf diesem Planeten. Denn niemand nimmt den Mund selbstsicherer voll für die Sache der schönen Literatur als der Trommler aus Behlendorf mit seinem sonoren Bariton, dessen Literatur nicht schön sein will, sondern lieber schief, und der schnörkelfrei Widersprüche benennt, Widerwärtiges nicht meidet und mit harter Pranke auf den moralischen Busch klopft. Doch – ewiger Clinch von Geist und Geld – die Präsenz wortmächtiger Intellektueller in den Medien deckt sich nicht immer mit ihrer Bedeutung für die Bilanzen der Buchkonzerne. Denn nicht Grass und die Seinen sorgen hauptsächlich für den – von Experten auf bis zu zwei Prozent geschätzten – Zuwachs im Handel. Das Plus kommt nicht von Romanen, Lyrikbändchen oder Erzählungen, die Profitbringer der Branche waren zuletzt Fachzeitschriften: Vierteljahres-Organe, Almanache und Expertenpostillen für Genforscher, Literaturwissenschaftler oder Raumsondenbastler. Unspektakulär, präzise und seriös bescherten die grauen Blätter dem Handel in den vergangenen Jahren einen bescheidenen Wachstumsschub, die schöne Literatur lahmt hinterher. Schon das blanke Zahlenmaterial spricht Bände. Im Vergleich zum Vorjahr werden dieses Mal in Frankfurt auf der Buchmesse mal wieder mehr Einzeltitel ausgestellt als je zuvor: 385 000 statt 365 517 im Jahr 1998. Gleichzeitig aber geht die Zahl der Einzelaussteller leicht, aber stetig zurück: von 6 793 im Vorjahr auf jetzt rund 6 600. Die Konzentrationsbewegung in einer schwierigen Branche setzt sich also fort. Andere Länder sind dabei schon weiter als Deutschland. Ungarn zum Beispiel – Gastland der diesjährigen Messe. 292 -Allee Hauptgüterbahnhof Dort teilen sich nur sechs Verlage 60 Prozent des gesamten Marktes. Doch die verdienen ihre Forints lange nicht mehr mit Schöngeistigem – erstaunlich für das einst sozialistische Land mit der vielfach gerühmten „Lesekultur“. Belletristik bringt es auf nur noch drei Prozent vom Gesamtumsatz der Branche. In der Bundesrepublik Deutschland wurden 1997 immerhin noch elf Umsatz-Prozent fürs Schöngeistige veranschlagt. Weiter trommeln, Günter Grass! Messegelände er inz Ma e aß str d Lan Hauptbahnhof in Ma Eingang Galleria Galleria 9.2 9.1 9.T 51. BUCHMESSE FRANKFURT Dauer: Mittwoch, 13. bis Montag, 18. Oktober Publikumsverkehr: Samstag und Sonntag, 9.00 – 18.30 Uhr Eintrittspreis: 12 Mark (Sa./So.) Einzelaussteller: ca. 6600 Verlage Nationalausstellungen: 86 Ausstellungen Termine am Wochenende 9.00 – 18.30 Uhr; Halle 3.0: „Das Ungarnbild in der deutschen Literatur“ 9.00 – 18.30 Uhr; Halle 3.1 (C 561): „Die schönsten deutschen Bücher 1998“ 10.00 – 13.00 Uhr; Stadtbücherei Frankfurt (Zeil 17 – 23): „Buchmesse 1999 – Schwerpunktthema Ungarn“ 10.00 – 17.00 Uhr; Deutsche Bibliothek (Adickesallee 1): „100 Jahre Inselverlag 1899 – 1999“ Samstag, 16.00 Uhr (Eröffnung); Büchergilde (Großer Hirschgraben 20 – 26): „Günter Grass – Originalgrafik“, in Anwesenheit des Künstlers Samstag, 20.00 Uhr (Eröffnung); Metall Galerie, IG-Metall (Lyoner Strasse 32): „Günter Grass – Aquarelle ‚Mein Jahrhundert‘“ Günter Grass d e r s p i e g e l 9.0 4 1 / 1 9 9 9 FREITAG, 15.10. 19.30 Uhr; Stadtbücherei Frankfurt (Zeil 17 – 23): „Portugiesische Schriftsteller in Frankfurt“, Lesung (zweisprachig) mit Mário de Carvalho, Teolinda Gersão, Rui Zink u.a. 20.00 Uhr; Sendesaal des Hessischen Rundfunks (Bertramstraße 8): „Lange Büchernacht“, Gespräche mit Péter Esterházy, György Dalos, Péter Nádas, Imre Kertész, Lásló Krasznahorkai u.a. 20.00 Uhr; Römerhalle (Römerberg 23): „Literatur im Römer“, Lesungen und Gespräche mit Robert Gernhardt, Hans Joachim Schädlich, Birgit Vanderbeke u.a. 20.30 Uhr; Romanfabrik (Hanauer Landstraße 186): Lesung mit Bret Bret Easton Ellis Easton Ellis („Glamorama“) 21.00 Uhr; Künstlerhaus Mousonturm (Waldschmidtstraße 4): „Literaturnacht – Budapester Szenen“, szenische Lesungen mit jungen ungarischen Autoren PICTURE PRESS Stagnation auf hohem Niveau – die 51. Buchmesse F R A N K F U R T r-Heuss M. FRÜHLING Trommeln! Theodo Congress Center 7.0 ShuttleBus 6.3 5.1 Eingang Torhaus Service-Center (S-Bahn-Station „Messe“) Eingang City Festhalle 6.2 5.0 6.1 2.0 Lesezelt 1.1 1.0 6.0 8.0 5.1 Literatur/ 6.0 Sachbuch 6.1 3.0 4.1 Pressezentrum, Literaturagenturen Gastland Ungarn 3.1 4.2 4.0 10.1 10.0 5.0 Sachbuch 8.0 9.0 Internationale 9.1 Verlage 9.2 Forum Management 6.3 für Sortiment und Verlag 6.2 Kinder- und Jugendbuch 4.1 Literatur/ 9.2 Bücherei Forum 6.2 Religion 3.1 Bildkunst 3.0 Gastland Ungarn 5.0 Touristik 4.0 Elektronische Kunstbuch 4.2 Wissenschaft Technik Medien 10.00 Uhr; Halle 3.0 (Café Pest-Buda): „Ungarische Literatur unbegrenzt – Wojvodina“, Gespräche mit Gyözö Bordás, Ottó Tolnai u.a. 10.00 bis 18.00 Uhr; Halle 6.1 (A 104): Klaus Teuber, Deutschlands erfolgreichster Spieleautor („Die Siedler von Catalan“) präsentiert seine Spiele 11.00 Uhr; Halle 6.1 (E 131): Lesung mit György Dalos 11.00 Uhr; Halle 6.0 (A 107/110): Franz Alt diskutiert und signiert 11.00 Uhr; Messegelände (vor der Halle 3): Die Budapest Tanzgruppe lässt die Bücher vergessen 13.00 Uhr; Halle 4.1 (D 115): Geburtstagsempfang für den Nobelpreisträger Günter Grass (siehe auch Ausstellungen) 14.00 Uhr; Halle 9.1 (D 901): „Live & in Farbe“, Radiogespräch mit Imre Kertész, Marlene Streeruwitz und Peter Gay 11.00 Uhr; Paulskirche (nur auf Einladung): Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Fritz Stern 15.00 Uhr; Halle 9.1 (D 901): „Nach dem Ende – Friedenslesung für den Balkan“, mit Ivan Lovrenovic, Ali Podrimja u.a. (Diskussionsleitung Freimut Duve) 17.00 Uhr; Deutsche Bibliothek (Adickesallee 1): Lesung von Cees Nooteboom (Einführung Siegfried Unseld) 19.00 Uhr; Union International Club (Am Leonhardsbrunn 12): Lesung von Péter Esterházy Marlene Streeruwitz M. WITT Mahmud Doulatabadi 15.00 Uhr; Halle 9.1 (D 901): „Iran: Die Ästhetik des Widerstands“, Diskussion mit Mahmud Doulatabadi u.a. 15.00 Uhr; Halle 6.0 (A 107/110): Signierstunde mit Rafael Seligmann 15.00/16.30 Uhr; Halle 6.1 (A 104): Ephraim Kishon im Gespräch mit Jörg Kachelmann und Klaus Teuber 16.00 Uhr; Halle 6.1 (D 126): „Kreuzverhör“, der Krimiautor Peter Zeindler sagt aus 20.30 Uhr; Romanfabrik (Hanauer Landstraße 186): Lesung mit Sibylle Berg, Silvia Szymanski u.a. 22.00 Uhr; Kino „Orfeos Erben“ (Hamburger Allee 45): „Der Vulkan“, Preview der Verfilmung von Klaus Manns gleichnamigem Roman (Regie: Ottokar Runze) d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 AC T I O N P R E S S N . S C H M I D - B U R G K / P H OTO S E L E C T I O N György Dalos S T I L LS /S T U D I O X SONNTAG, 17.10. B. FRIEDRICH SAMSTAG, 16.10. Sibylle Berg Cees Nooteboom 293 DICHTER Marmoriert wie das Leben Der Schauspieler Manfred Krug kann auch anders: In einem Bilder-Buch stellt er sich jetzt als Dichter vor. W er fährt da „durch den arschkalten Novemberpark von Windsor in der Königskutsch mit den Knien ganz nah an den Knien der Kwien“? Es ist der Herzog, als er noch Bundespräsident war, neben ihm seine Frau, und „die heißt meinetwegen Mukobrutz“. Und: Wie hätte Herzogs Pendant Jacques Chirac geheißen, „wenn die Eltern Deutsche gewesen wären“? Klar doch: „Jens Gespens oder Lutz Verputz“. Ja: „Faques Chirac“! So verzinkt Respektloses findet sich in den wohl rhythmisierten Texten von Manfred Krug, dem TV-Kommissar und Telekom-Promoter, die diese Woche in Buchform erscheinen. Bei Roman Herzog „haben mich auch die unentwegten Staatsbesuche und die TV-Kochlektionen seiner Gattin inspiriert“, sagt Krug. „Beim Franzosen-Chef war es die kalte Wut“, als der seine Atombombenversuche im Südpazifik veranstaltete. Dass der Schauspieler schreiben kann, hat er mit seinem Bestseller „Abgehauen“ (1996) so gut unter Beweis gestellt, dass damals nicht wenige (fälschlich) annahmen, sein Freund, der Schriftsteller Jurek Becker, sei der wahre Autor gewesen. Über ihn, der 1997 verstarb, schreibt er hier: „der fehlendste aller Menschen mir“. Krug, ein exzellenter Musiker, hat, das zeigen auch diese Gedichte, einen eigenen, unverwechselbaren Wort-Sound – mal synkopisch, mal so glatt, dass es sich auf platt reimt. Oft sind es collagenartige Rollentexte, angeregt von Zapper-Früchten aus dem Fernseh-Allerlei. Morgenstern, Schwitters und Ernst Jandl grüßen „laut und luise“ von fern. Viele der Gedichte lesen sich, als habe er sie sich mundgerecht gefeilt. Ein Eindruck, der sich verstärkt, wenn er sie selbst vorträgt. Viele kreisen um die Liebe. Da wird’s schnoddrig und machistisch, auch ganz sanft, marmoriert eben wie das Leben. Das Personal, dessen er sich annimmt, rekrutiert sich nur ausnahmsweise aus Präsidenten, meist stammt es aus dem Parterre der Gesellschaft. So etwa sein Onkel Erich, der „fümm’vierzich / sexnvierzich“ seinem kleinen Neffen in Duisburg Kriegsgeschichten erzählt. Oder ein armer StasiTropf, ein durchgeknallter Drehbuchschreiber oder ein vereinsamter Voyeur, der sein Ding träumt: „Ich kann dich anknipsen und ausknipsen.“ Er selbst sieht tiefstapelnd seine verdichteten Stücke, von denen hier eine kleine Auswahl zum ersten Mal vorgestellt wird, als „Blähbeulen im Kopf“ oder „Gedichte in Anführungszeichen“. Der Maler Moritz Götze aus Halle sei schuld daran, so Krug, dass er seine Schublade geleert habe.Wenn dem so ist, sei er bedankt, wie sowieso für seine Buntstiftzeichnungen, die Krugs Texte adäquat bebildern. Rolf Rietzler Vier Gedichte von Manfred Krug Wenn ich falle, kleine Frau, fall ich auf die Knie. Ach, ich kenne dich genau, du wohnst drunt in der Wachau und heißt Melanie. Manfred Krug: 66 Gedichte, was soll das? Bilder von Moritz Götze; mit einer CD, gesprochen von Manfred Krug. Econ Verlag, München; 160 Seiten; 48 Mark. Flugratten in den Kopf rein. Zum einen Ohr rein, zum andern nicht raus. Für immer nicht. Ich kann dich anknipsen wie eine Birne. Und ausknipsen. Du bist mir bequem, ich erschaffe dich selbst. Aus dem Nichts. Ich brauche dich nicht. Wärst du denn leidenschaftlich? Wärst du verludert und geistreich? Brauchst du einen? Bist du bereit zur Sünde? Sehnst du dich nach ihr? Liest du meine Briefe, in Angst und Gier geschrieben? Hast du dir schon ans Herz gegriffen oder zwischen die Haxen? Wenn ich will, greifst du dir hin. An kann ich dich knipsen wie Licht. Und aus. Ich stelle mir vor, du leuchtest. 294 d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Pilotfilm: Schwanzroboter jagt Formel für Reißverschluß für V-2-A-Tanga für Telefonmuschimaus, was unter Brücke steht, auf Hirnroboter wartet. 2. Folge Hirnroboter in kugelsicherem Auto zündet fern Deinämeit im Pfeiler der Brücke, über die er selbst soeben. Wahnsinn. Straßenfeger. Werbeseite Werbeseite FRIEDENSPREIS „Die Vereinigung erfordert Takt“ Historiker Fritz Stern über seine Begegnung mit Einstein, über den Widerstand gegen NS- und DDR-Diktatur und über die Trivialisierung des Holocaust K. BOSSE Fritz Stern ist einer der bedeutendsten Historiker der jüngeren deutschen und europäischen Geschichte. Geboren 1926 in Breslau, war er zwölf Jahre alt, als er vor den Nazis mit seiner Familie in die USA floh. Beiderseits des Atlantiks wurde der US-Bürger vor allem mit seinem Hauptwerk „Gold und Eisen“ bekannt, einer bahnbrechenden Doppelbiografie über Bismarck und dessen jüdischen Bankier Bleichröder. Vor der deutschen Vereinigung entschärfte Deutschlandkenner Stern als historischer Berater Margaret Thatchers die britischen Bedenken gegenüber einem neuen Großdeutschland. Am Sonntag dieser Woche erhält Fritz Stern den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Die diesjährige Wahl des Börsenvereins wurde vielfach verstanden als „nachträglicher Kommentar“ („Tageszeitung“) und „Akt der Wiedergutmachung“ („Süddeutsche Zeitung“) nach der umstrittenen Rede des Vorjahres-Preisträgers Martin Walser. SPIEGEL: Herr Professor Stern, Ihre Vertreibung aus Deutschland liegt 61 Jahre zurück, seit mehr als 50 Jahren sind Sie amerikanischer Staatsbürger. Und doch haben Sie auf die Frage, was Ihnen zum Wort „Heimat“ einfalle, einmal geantwortet: „Heimatlos“. Stern: Das war ganz spontan gesagt. Wahrscheinlich meinte ich damit, dass ich mich im Sinne des deutschen Wortes Heimat eher heimatlos fühle. Wenn ich aber auf ULLSTEIN BILDERDIENST Das Gespräch führte Redakteur Rainer Traub. Englisch Auskunft geben sollte, würde ich sagen: Hier in Amerika bin ich zu Hause, „I feel at home“. Das ist ein Unterschied. SPIEGEL: Der Titel Ihres jüngsten, gerade in den USA erschienenen Buches lautet „Einstein’s German World“. Haben Sie selbst Einstein noch kennen gelernt? Stern: Ja, das muss 1944 gewesen sein. Ich begleitete meine Mutter zu ihm nach Princeton, wo sie ihn um ein Urteil über ihre Erfindung bat, wie man Kindern Arithmetik beibringen konnte. Einstein ging damals auch auf mich zu und fragte nach Hitler-Konvoi in Breslau (1936): Das feine Schweigen vor dem Grauen 296 d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite meinen Berufsplänen. Ich schwankte, ob ich Arzt werden wollte wie mein Vater, zwei Großväter und vier Urgroßväter – oder ob mir Geschichte und Literatur noch mehr im Blut lägen als dieses Erbe. SPIEGEL: Wozu riet er Ihnen? Stern: Er sagte: „Medizin ist eine Wissenschaft, Geschichte nicht. Also musst du Medizin studieren.“ Das habe ich natürlich doch nicht getan, und als ich dann anfing, als Historiker über Einstein zu schreiben, haben einige Witzbolde gesagt, das sei meine Rache an Einstein. SPIEGEL: Wurden Sie jüdisch erzogen? nem Vater das Extrablatt mit der Schlagzeile: „Hitler zum Reichskanzler ernannt“. Ich wusste genau: Das ist schlimm. Ich erinnere mich auch an gefolterte Patienten und Freunde meines Vaters. SPIEGEL: Stand er einer politischen Partei nahe? Stern: Er hatte sich 1914 als Kriegsfreiwilliger gemeldet und wurde mit zwei Eisernen Kreuzen dekoriert, aber nach der Erfahrung des Ersten Weltkriegs war er Pazifist und Republikaner. Übrigens bewahre ich einen handschriftlichen Brief auf, den mein Vater nach Hitlers Machtergrei- die Weimarer Republik keineswegs als nationale „Schmach“ empfunden, sondern sympathisierte – was den deutschnationalen Hauptmann bestimmt schockiert hätte – ausgerechnet mit den Sozialisten. SPIEGEL: Und war den Nazis wohl auch deshalb verhasst? Stern: Als Historiker kann ich nicht oft genug betonen, dass die ersten Opfer des Regimes Sozialisten und Kommunisten waren. Wenn sie außerdem noch Juden waren – umso schlimmer. Ein Freund und Patient meines Vaters war Ernst Eckstein, der Führer der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) Stern: Nein. Meine Eltern waren schon bei ihrer Geburt getauft. Ich selbst auch, und meine Schwester wurde noch 1935 in Breslau von einem Pastor der Bekennenden Kirche konfirmiert. Wir sind mit allen christlichen Gebräuchen aufgewachsen. Aber dann wurden wir durch die Rassengesetze zu Nichtariern gestempelt. Und wer als Jude verfolgt wird, der ist in einem gewissen Sinn zweifellos Jude. So habe ich mich auch aufgefasst. SPIEGEL: Haben Sie die Machtergreifung der Nazis als Kind bewusst erlebt? Stern: O ja. Ich kam am 30. Januar 1933 von der Schule nach Hause und brachte mei- fung 1933 von seinem ehemaligen Hauptmann bekam. Darin steht der Satz: „Wenn alle so treu und tapfer gekämpft hätten wie der Leutnant der Reserve Stern, dann wäre uns die Schmach der letzten 14 Jahre erspart geblieben.“ Das wurde bei uns zu Hause zum geflügelten Wort, denn in dieser kleinen Geschichte verknoten sich die Widersprüche der großen Geschichte auf ironische und paradoxe Weise: Einerseits meinte es der einstige Vorgesetzte offensichtlich gut mit meinem Vater, den die neuen Herren gerade als „Nichtarier“ stigmatisierten. Andererseits war mein Vater längst Demokrat geworden. Er hatte darum in Breslau, ein Jude. Er wurde als Erster verhaftet und nach wenigen Tagen tot in seiner Zelle gefunden. Zur SAP gehörte bekanntlich auch der junge Willy Brandt. Später, da war er schon Kanzler geworden, fragte ich ihn einmal nach seinem erschlagenen Parteifreund. Er erinnerte sich genau an Eckstein, der wohl eine herausragende Rolle in der SAP gespielt hatte. Ein anderer Patient meines Vaters war Hermann Lüdemann, seinerzeit Oberpräsident von Niederschlesien, der auf dem Weg ins Konzentrationslager auf einem Karren durch die Stadt geschleppt wurde. Er kam wieder frei, gehörte zu den Widerständlern des 20. Juli 298 d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 1944, überlebte das KZ mit viel Glück ein zweites Mal und war nach dem Krieg Ministerpräsident von Schleswig-Holstein. Ich habe ihn 1954 wieder gesehen, als ich während eines Forschungsaufenthalts in Berlin die Feier zum zehnten Jahrestag des misslungenen Hitler-Attentats beobachtete, bei der er als Redner auftrat. Kanzler Adenauer, Präsident Heuss und andere Gründerväter der Bundesrepublik waren dabei. SPIEGEL: Was haben Sie da empfunden? Stern: Das Miterleben dieser Feier hat etwas in meinem Leben geändert. Es war tief bewegend, in die Gesichter der Witwen Leben. Er konnte – wenn auch auf sozialistisch-ruppige Art – die schöne Wohnung meiner Großmutter genießen. Denn er hatte erleben müssen und überleben können, was uns erspart geblieben ist – und was wir wahrscheinlich nicht überlebt hätten. SPIEGEL: Ihre gerade im Beck-Verlag auf Deutsch erschienene Essay-Sammlung heißt „Das feine Schweigen“. Im Titelstück des Bandes beziehen Sie, ohne Martin Walser zu erwähnen, eine Gegenposition zur Rede des Friedenspreisträgers vom vergangenen Jahr, die vielfach als Plädoyer für einen Schlussstrich unter die Nazi-Ver- und der Kinder von Deutschen zu sehen, die ihr Leben gegen Hitler riskiert hatten und gescheitert waren. SPIEGEL: Haben Sie Ihre Heimatstadt Breslau je wieder besucht? Stern: Ja, vor Jahren. In der ehemaligen Villa meiner Großmutter wohnte ein älterer Herr, ein polnischer Ex-Offizier, mit dem ich mich französisch verständigen konnte. Er hatte Auschwitz überlebt, im Wohnzimmer hingen Kinderzeichnungen aus diesem Lager, er zeigte mir seine eintätowierte Häftlingsnummer. Auch diese Erfahrung hat mich bewegt, weil ich das Gefühl hatte: Irgendetwas stimmt doch im gangenheit gedeutet wurde und sehr umstritten war. Stern: Zunächst einmal geht der Ausdruck „das feine Schweigen“ auf Friedrich Nietzsche zurück, der ihn ironisch auf Goethes Attitüde gegenüber dem deutschen Charakter gemünzt hat. Mein Münchner Vortrag unter diesem Titel hatte nichts mit Walser zu tun. Sein Anlass war der 60. Jahrestag der Reichspogromnacht von 1938. Ich habe nur versucht zu zeigen, dass das „feine Schweigen“ in der deutschen Geschichte oft belastend gewirkt hat. SPIEGEL: Aber als Historiker haben Sie doch eine Haltung zur Walser-Debatte? d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Stern: Ich habe die heftige Diskussion, die da entbrannt ist, mit Interesse verfolgt, weil sie zweifellos ein kulturell-politisches Ereignis war. Mehr können Sie im Augenblick dazu von mir nicht erwarten. SPIEGEL: Sowohl die Tagebücher von Victor Klemperer als auch die Autobiografie von Marcel Reich-Ranicki sind deutsche Bestseller geworden. Wie erklären Sie sich das starke Interesse, welches das Publikum gerade in jüngster Zeit solchen Erinnerungen von jüdischen Überlebenden des Holocaust entgegenbringt? Stern: Ich glaube, dass sich viele auf das be- sinnen, was Deutschland verloren ging. Und natürlich beeindruckt und bewegt die Erinnerung an das Menschliche in einer unmenschlichen Zeit. SPIEGEL: Im Sog des weltweiten Filmerfolgs von „Schindlers Liste“ entstehen auch in Deutschland immer mehr Spielfilme über den Holocaust. Die Verbindung von Entertainment und geschichtlichem Grauen ist nicht mehr tabu. Stört Sie das? Stern: Zunächst gehöre ich zu den wenigen, die „Schindlers Liste“ sehr kritisch gegenüberstehen. SPIEGEL: Warum? 299 ARCHIVE PHOTOS Stern: Weil er zwar den Zuschauern ein Stück des Grauens eindrucksvoll vermittelt. Aber die Leute gehen aus dem Kino, ohne in irgendeiner Weise über den historischen Zusammenhang belehrt zu sein. Es gibt so etwas wie die Trivialisierung des Holocaust, und die meisten Produkte dieser Art fördern das historische Verständnis nicht. Das Grauen soll nicht ausgenutzt werden. Einstein mit Studenten in Princeton (1946) SPIEGEL: Zwei Jahre vor dem Fall der Mauer haben Sie aus Anlass des 17. Juni 1953 vor dem Bundestag geredet und dabei emigrierte Dichter und Denker wie Heinrich Heine und Karl Marx als Wortführer beim Kampf um Menschenwürde in der deutschen Geschichte gewürdigt. Nun sind die Intellektuellen in Ost und West in den letzten Jahren sehr kleinlaut geworden … Stern: … das ist auch ein Verlust und vielleicht eine Reaktion auf die Tatsache, dass zu viele Intellektuelle den beiden großen Versuchungen unseres Jahrhunderts, dem Nationalsozialismus und dem Kommunismus, erlegen sind. Auf der anderen Seite muss aber gerade der Historiker an den großen Beitrag erinnern, den Literaten und Intellektuelle zur Unterminierung des Kommunismus geleistet haben. SPIEGEL: Die Anhänger der so genannten Postmoderne erklären nicht nur das klassische Modell des Intellektuellen, sondern das gesamte Wahrheitsideal der Aufklärung für erledigt. Stern: In meinem Fach, der Geschichte, bezweifeln die Vertreter der „Postmoderne“ sogar die Möglichkeit des Versuchs, objektiv zu sein. Diese Denkmode finde ich sehr gefährlich. Der Historiker versucht zu erforschen, wie es einmal gewesen ist – im Bewusstsein, dass wir es nie genau treffen können, weil es eine andere Welt war. Aber wir können uns zumindest an diese Welt annähern. Wenn das nicht einmal mehr 300 d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 SIPA PRESS als Ziel angestrebt wird, verlieren wir ein Stück Wissenschaft, ein Stück Erziehung, ein Stück Wahrheit. SPIEGEL: Was ist Ihre Bilanz der deutschen Einheit zehn Jahre nach dem Mauerfall? Stern: Ich war und bin voller Bewunderung sowohl für die Anführer der ostdeutschen Bürgerrechtsbewegung wie für die hunderttausende Bürger der DDR, die in Leipzig und anderswo auf die Straße gegangen sind. Dieses Beispiel einer erfolgreichen Revolution ist ein Novum der deutschen Geschichte, das meines Erachtens in der alten Bundesrepublik nicht ausreichend anerkannt worden ist. Man vergisst auch leicht, dass die geglückte Revolution von 1989 eine Vorgeschichte hatte. Es gab ja schon in früheren Jahren Elemente und Ansätze einer Opposition in der DDR, für die ich mich damals – oft zum Befremden westdeutscher Freunde – interessiert habe. SPIEGEL: Der Liberalismus, haben Sie geschrieben, sei im Idealfall nichts anderes als „die Institutionalisierung des Anstands“. Warum spielen Begriffe wie Takt und Einfühlungsvermögen in Ihren Schriften eine so auffallende Rolle? Stern: Weil das Psychisch-Kulturelle in der Geschichte so wichtig ist. Beispiel Wiedervereinigung: Da müssen Historiker, Politi- Filmszene aus „Schindlers Liste“ ker und der gewöhnliche Bürger mit Takt und dem Versuch des Einfühlens auf den anderen zugehen. Nach dem schrecklichen Jahrhundert, das wir durchgemacht haben, sollten wir uns darüber klar sein, dass die Erniedrigung eines anderen Menschen zum Schlimmsten gehört, was passieren kann. Ich meine nicht nur die brutalen Formen, sondern schon die elementare und unspektakuläre Form der Erniedrigung: dass man sich gar nicht darum bemüht, den anderen zu verstehen. SPIEGEL: Herr Professor Stern, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 301 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite UNGARISCHE LITERATUR Suche nach den Frauen I. OHLBAUM J. J. HÄNEL / ROWOHLT trotzigen Ernst dieser Geschichte wieder zu begegnen. Es gibt nicht sehr viele einprägsame, klar konturierte Frauengestalten in der ungarischen Literatur von heute. Die Damen des Péter Esterházy etwa sind äußerst unruhig, und kaum hat man ein Bild von ihnen, verwackelt es schon wieder: Eine Frau wird durch eine andere verdeckt. Die 97 Frauen, die er einmal in dem Buch „Eine Frau“ (1996) porträtierte, wird niemand recht auseinander halten können. Sie sind dick und mager, zartfühlend und herrisch, treu und durchtrieben zugleich – und am Ende sind möglicherweise alle diese Frauen niemand anderes als Esterházy selbst. In seinem neuen Buch „Thomas Mann mampft Kebab am Fuße des Holstentors“, einer Sammlung von Erzählungen und Aufsätzen (im Salzburger Residenz Verlag), Autor Kertész: „So schritt sie siegreich und doch zaghaft auf mich zu“ schreibt er dann ja auch: Zsuzsanna Gahse über den „Madame Bovary bin ich.“ Es war dieser Roman, mit Dabei ist die Flaubert-Heldem der Ungar Kertész, 69, Themenschwerpunkt der din Bovary eine Französin, erstmals in Deutschland BeBuchmesse: die aktuelle Liteund (auch) das zeigt, dass achtung fand – später folgte ratur aus Ungarn – weltoffen, dann sein „Roman eines die Literatur aus Ungarn, voller Witz und von Männern diese – wie manche sagen – Schicksallosen“ und mit ihm osteuropäische, in Wirklichder große Erfolg. Durch dieverfasst. keit mitteleuropäische LiteGahse, 53, wurde in Budapest sen ungewohnten, geradezu ratur, sich ganz selbstverunerhörten Blick auf Auschgeboren, wuchs in Wien auf ständlich im Westen bewegt witz war „Kaddisch“ in Verund lebt heute als Schriftstel- gessenheit geraten. und aufhält. lerin und Übersetzerin in MüllAuf der Suche nach FrauJetzt ist auch das bisher Autorin Gahse engestalten gerät man in fehlende Mittelstück zur Triheim (Schweiz); soeben erlogie in deutscher Sprache erschienen: der neueren ungarischen Prosa schnell an schien von ihr der Roman „Fiasko“. In diesem – schon 1988 in Un- die Mütter – wie jetzt wieder bei László „Nichts ist wie oder Rosa garn veröffentlichten – Roman erzählt Garaczi, 43, in einem neuen Buch mit kehrt nicht zurück“ (EuropäiKertész vom trostlosen Misserfolg eines dem Titel „Die wunderbare Busfahrt“: Schriftstellers, und er erzählt in der drit- Der Erzähler kann, als Schüler, der Mutsche Verlagsanstalt). ten Person, als hätte er sich selbst über ter unters Nachthemd gucken und weiß die Schultern geschaut. Um die drei Ro- schon, dass sie weiß, dass er sie einmal n seinem Roman „Kaddisch für ein mane im richtigen Zusammenhang zu für ein Mädchen stehen lassen wird. Ohnicht geborenes Kind“, 1990 in Un- sehen, muss man den „Kaddisch“, das nehin vergnügt er sich bereits, wenn auch garn erschienen, schreibt Imre Kertész Schlussstück, unbedingt wieder aufschla- ängstlich, mit drei Klassenkameradinnen. über die erste Begegnung mit einer gen – nicht nur wegen der Frau, die über Das Buch ist ein verschmitzter, kluger Frau: „Als sie … sich auf einmal aus der den blaugrünen Teppich schreitet, sondern Rückblick auf die sechziger und siebzischwatzenden Runde löste … gleichsam vor allem, um dem großen Nein, dem ger Jahre – und auf eine damals junge Mutda herausriss und über den blaugrünen Teppich watete, als käme sie über das György Dalos: László Garaczi: Meer, so schritt sie … siegreich und doch Olga. Die wunderbare Busfahrt. zaghaft auf mich zu.“ Pasternaks letzte Liebe Bekenntnisse eines Lemuren Die Herankommende wirkt schon desDeutsche Bearbeitung von Aus dem Ungarischen von halb unvergesslich, weil die Szene in dem Elsbeth Zylla. Europäische Andrea Seidler und Pál Deréky. Buch gleich mehrfach beschworen wird. Verlagsanstalt, Hamburg; Literaturverlag Droschl, Graz; Eine Frau kommt auf blaugrünem Grund 180 Seiten; 36 Mark. 248 Seiten; 37 Mark. dem Erzähler entgegen, dann geht sie wieder an ihm vorbei. I 304 d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite ter, geschildert aus der Perspektive des maßen bekannt sein. Sie stammt aus Siebenbürgen, lebt seit 1983 in Budapest, und Sohnes. György Dalos, 56, der einst in seinem hervorzuheben sind ihre politisch inspiRoman „Die Beschneidung“ (1990) eine rierten Gedichte. Einzig die Vierte im Bunäußerst eindrucksvolle Mutter vorgestellt de, Virág Erdös, schreibt neben Gedichten hat, bietet nun mit „Olga“ die sachliche manchmal auch Erzählungen. Da ich das hoffnungsvolle Klagelied so Biografie der Geliebten Pasternaks: „Fast laut vorgetragen habe, gebe ich auch gern ein Roman“, wie der Untertitel sagt. Aber es hilft alles nichts: Eine große zu, dass vor einigen Jahren eine bemerFrauenfigur, eine moderne, ungarische An- kenswerte junge Prosaistin angetreten ist – na Karenina, ist nicht dabei. Eine unange- mit einem autobiografischen Roman. Die messene Forderung? Natürlich könnte man Geschichte handelte von einer tollkühnen, die Novellen, Romane und Gedichte ungarischer Autoren auch unter ganz anderen Gesichtspunkten durchforsten. Etwa: Welche Rolle spielen Pferde in der Literatur von heute? Immerhin ist das ungarische Wort für Pferd uralt, die Ungarn und die Pferde gehören seit jeher zusammen, und von Pferden wäre in der Tat einiges zu berichten – auch wenn der ewig vernachlässigte Dezsö Tandori (eine Vaterfigur für die jüngere Dichtergeneration) einmal geschrieben hat: „Ich bin vom Pech verfolgt: Mein jeweiliges Thema wird zur gegebenen Zeit nie für bedeutend gehalten: Bären, Spatzen, Pferde …“ Und nun ein Roman von Sándor Tar, 58: „Ein Bier für mein Pferd“. Schön sind die darin enthaltenen Geschichten Autor Esterházy: „Madame Bovary bin ich“ aus dem Osten Ungarns – auch wenn es am Ende doch mehr um die Men- unglücklichen Liebe, und über diese Liebe schen als um die Pferde geht, etwa um eine schrieb die junge Frau in einem herrlich baTochter, die das Verbotene liebt: „Wie die rock durchsetzten Ungarisch. Der Name Jungen aussahen, interessierte sie nicht, für der Autorin: Lili Csokonal. Die Begeistesie waren alle gleich, wenn einer anfing, sie rung war groß, einige Wochen nach dem Erzu streicheln, schloss sie sowieso die Augen, scheinen des Romans stellte sich dann freilich heraus, dass die Csokonal eine Erfinebenso, wenn sie ihn streichelte.“ Womit wir wieder bei den Frauen wären dung war – der wirkliche Verfasser des ein– geschildert von einem männlichen Autor. fallsreichen Romans war Péter Esterházy. Lägen in Frankfurt auch die ungarischen Wo bleibt der weibliche Blick? Irgendwo muss es doch in Ungarn Frauen geben, die Zeitschriften auf Deutsch vor, wäre ein Romane oder Erzählungen schreiben, etwas anderer Blick auf die Landschaft Bücher, die so eigenwillig und sprachbe- der Schreibenden möglich. Dann wären wusst sind wie die ihrer männlichen Kol- Essayistinnen dabei, die die Literatur inlegen. Noch sind sie nicht recht ausfindig tensiv begleiten und einen unverwechselbaren Ton anschlagen. gemacht worden. Der Blick in diese Zeitschriften wäre ohLyrikerinnen hat Ungarn zu bieten: Zsuzsa Rakovszky etwa oder Orsolya nehin eine notwendige Ergänzung zu der Kalász. Der Name Zsófia Balla mag Flut von Romanen und Gedichten, die jetzt für deutschsprachige Leser sogar einiger- nach Frankfurt hinüberschwappen. Zudem Imre Kertész: Fiasko Aus dem Ungarischen von György Buda und Agnes Relle. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin; 444 Seiten; 45 Mark. László Krasznahorkai: Krieg und Krieg Aus dem Ungarischen von Hans Skirecki. Ammann Verlag, Zürich; 320 Seiten; 42 Mark. d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 M. KLIMEK sind diese Zeitschriften ein Forum für aktuelle (oder aktualisierte) Themen. Ungarn kommt nicht als ein exotisches Literaturland zur Buchmesse. Eher wird es in Frankfurt um eine Wiedersehensfreude mit den ungarischen Autoren gehen. Man wird György Konrád, Péter Esterházy, Imre Kertész, István Eörsi, György Dalos, László Földényi begegnen. Von ihnen werden Neuerscheinungen präsentiert. Die gegenwärtige Literatur Ungarns ist in Deutschland gut bekannt, der Einblick vielfältig, mehr noch: Der Zauber, der Nádas, Esterházy und Kertész umgibt, kommt wohl daher, dass sie nicht vorrangig als ungarische Autoren, sondern als Schriftsteller schlechthin wahrgenommen werden. Etwas Besseres für die ungarische Literatur kann sich niemand wünschen. Vor vielen Jahren, als die Romane und Erzählungen von Miklós Mészöly erschienen, gab es noch nicht so eine natürliche Nähe zu den schreibenden Ungarn. Mészöly, heute 78, wird immer noch zu wenig beachtet. Jetzt erscheint sein 1976 in Ungarn veröffentlichtes Hauptwerk „Rückblenden“ wieder als SuhrkampTaschenbuch. Der große Alte der ungarischen Literatur könnte der heimliche Star in Frankfurt sein. Immerhin hat seine erzählerische Haltung bei nicht wenigen Autoren Spuren hinterlassen. Das Zuschauen als Grundhaltung, die Logik, die sich aus genauen Beobachtungen ergibt, sind Grundelemente seiner Erzählweise. Interessant ist schließlich, dass die Ungarn, ursprünglich Nomaden, wieder unentwegt unterwegs sind, in Berlin ebenso wie in New York. Die Autoren reisen, und die Stoffe ihrer Romane suchen ebenfalls die Ferne, wie das jüngste Beispiel zeigt, der brandneue Roman „Krieg und Krieg“ von László Krasznahorkai, 45. Darin zieht es den Helden in einer teils imaginierten, teils realen Reise von Budapest über Kreta, Venedig, Rom bis nach New York – er will sein Ende nicht daheim erleben. „In die Ferne gehen, um zu sterben“, heißt nicht umsonst das uralte Motto der ungarischen Literatur. Die Suche nach Abstand von der Heimat ist vielleicht nur eine neue Variante Sándor Tar: der alten Weisheit. Und der Ein Bier für Witz (darüber müsste man almein Pferd lerdings lange reden), der in so Aus dem Ungarivielen ungarischen Werken aufschen von Hans blitzt, hängt am Ende ebenfalls Skirecki. Verlag Volk mit jenem historischen Satz zuund Welt, Berlin; sammen. Es geht um ein gut ge232 Seiten; 32 Mark. launtes Trotzdem. ™ 307 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite FOTOS: AFP / DPA ( li. o.); G. FREUND ( li. u.); STEFAN MOSES (re. o.); ULLSTEIN BILDERDIENST (re. u.) XIII. DAS JAHRHUNDERT DER MASSENKULTUR: 1. Traumfabrik Hollywood (39 /1999); 2. Die Malerei der Moderne (40/1999); 3. Die Dichter und die Macht (41/1999); 4. Pop in Musik und Mode (42/1999) Václav Havel auf dem Prager Wenzelsplatz (1989); Ernst Jünger (1994); Simone de Beauvoir (1949); Josef Stalin, Maxim Gorki (1931) Das Jahrhundert der Massenkultur Die Dichter und die Macht Revolutionen und Kriege trieben viele Schriftsteller aus ihrer künstlerischen Isolation. Vor allem seit dem Ersten Weltkrieg ergriffen sie Partei, nahmen teil an der Politik, mitunter auch an der Macht. Bedeutsam wollten sie sein, auch in der Gesellschaft, aber der Erfolg war nur mäßig. d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 311 Das Jahrhundert der Massenkultur: Die Dichter und die Macht Flucht aus der Banalität Von Gerd Koenen R. VIOLET / GAMMA / STUDIO X AKG Spiegel des 20. Jahrhunderts D ie jahrhundertelange Vorherrschaft publikums und Büchermarktes, die im ehemalige Häftling Solschenizyn erfasste der geschriebenen Literatur sei 18./19. Jahrhundert die Entstehung des au- mit unbeirrbarer Intuition die Schwäche längst zur historischen Episode ge- tonomen Schriftstellers ermöglicht hatte, eines Regimes, das eine atomare Superworden, schrieb Hans Magnus Enzensber- der die Formen und Inhalte seiner Dich- macht kommandierte und doch nur noch in ger 1970. Als ein rein monologisches Me- tungen und Erzählungen kraft seiner Sub- der dünnen Luft seiner eigenen Lügen und dium isoliere das Buch Produzenten wie jektivität frei bestimmen konnte – bis hin Fiktionen existieren konnte. In den kurzen Jahren seiner legalen Leser, im Gegensatz zu den elektronischen zur völligen Negation der Gesellschaft. Aber die Geschichte der Literatur des Schriftstellerexistenz (von 1962 bis 1967) Medien, „die ihrer Tendenz nach einen jeden zum Sprechen bringen“. Der an- 20. Jahrhunderts ist über weite Strecken schrieb Solschenizyn nicht nur die beitiquierte Akt des Schreibens werde bald bestimmt von der Flucht ihrer Autoren aus den großen, autobiografischen Romane schon durch Lesegeräte, Schreibautoma- der angeblichen Isoliertheit, Künstlichkeit, „Der erste Kreis der Hölle“ und „Krebsstation“, sondern auch ten, Licht- und Schnellnoch die drei Bände des drucker zu einem ge„Archipel Gulag“, den wöhnlichen Akt der Pro„Versuch einer künstleriduktion werden. Der Auschen Bewältigung“ (so der tor habe nur noch die AufUntertitel), worin er eine gabe, sich selbst überflüsFülle konspirativ gesamsig zu machen, indem er melter biografischer Er„als Agent der Massen“ zählungen mit psychologiarbeite. „Gänzlich verschen Analysen und dokuschwinden kann er erst mentarischen Enthüllungen dann in ihnen, wenn sie zu einem Anklagedossier [die Massen] selbst zu Auvon erschütternder Wucht toren, den Autoren der Gezusammengefasst hatte. In schichte geworden sind.“ allen Weltsprachen verMit diesen vom kulturbreitet, hat dieses Buch wie revolutionären Geist der kein anderes dem historiZeit inspirierten Überleschen Umbruch von 1989 gungen zu einer „Theorie vorgearbeitet. der Medien“ trieb EnzensÜberhaupt ist vielleicht berger die Diskussionen niemals so angespannt und über die fehlende „gesellbedeutungsvoll geschrieschaftliche Funktion“ und ben und gelesen worden das absehbare „Ende der wie in diesen Jahrzehnten, Literatur“ auf die Spitze, als der geschlossene Kosdie seit den frühen sechzimos des „realen Sozialisger Jahren in der BundesAutor Zola, Dreyfus-Degradierung (1895): Komplott gegen die Republik mus“ immer mehr Risse republik geführt wurden und in der Selbstauflösung der „Gruppe Banalität ihrer Existenz in die Sphäre von bekam. Ingo Schulze hat das „Leseland 47“ unter dem Druck der Jugendrevolte Macht und Politik, in der sie Echtheit, Be- DDR“ als ein einziges Löschblatt beschrievon 1967/68 sinnfälligen Ausdruck fanden. deutsamkeit, Gemeinschaft zu finden hof- ben: „In der Provinz geschahen die WunIm Gegenzug hat Dieter Wellershoff da- fen. Und gerade eine totalitäre Politik der: Plötzlich konnte man vor einem graumals „romantische und elitäre Sehnsüchte“ musste auf viele Künstler anziehend wir- en Buch mit der schwarzen Aufschrift ‚Dubanalysiert, die hinter diesem Gestus vor- ken, besonders in den Jahren der großen liners‘ stehen. Oder auf einem schwarzen geblicher Selbstabdankung steckten: „Of- historischen Umbrüche – anziehender als Spektrumband fügten sich die weißen fenbar will man die arbeitsteilige Gesell- die scheinbar banale, uninspirierte, zu kei- Buchstaben zu Sensationen zusammen schaft, in der Produzent und Verbraucher ner wirklichen Lösung fähige Demokratie. wie: Malamud, Frisch, Pynchon … Woher Zwei Welten, zwei Kulturen. Im selben man die Namen kannte? Man wusste sie nur indirekt miteinander verkehren, wieder durch die Gemeinschaft ersetzen.“ Es Jahr 1970, in dem das krisenhafte Selbst- halt – von Freunden, aus Nachworten, man sei das alte Unbehagen an der Anonymität bewusstsein vieler westlicher Literaten in stieß den anderen mit dem Ellbogen an – des Marktes, das im Hohn und Hass auf die kulturrevolutionären Ausbruchsphantasi- da liegt noch ein Exemplar, willst du angeblich folgenlose Literatur zum Aus- en Halt suchte, wurde der Nobelpreis für denn nicht? – Oh! Danke! Natürlich! Wer druck komme – „und zwar umso bitterer, Literatur an Alexander Solschenizyn ver- ist das?“ Kein Zufall wohl auch, dass im Moment, je offener der Markt für oppositionelle, liehen, dessen kunstvoll schlichte Lagervermeintlich tabuverletzende oder formal novelle „Ein Tag im Leben des Alexander als der Vorhang zerriss und die Mauer fiel, Denissowitsch“, als sie 1962 zur Veröffent- Schriftsteller, Künstler, Intellektuelle in die ungewohnte Produkte geworden ist“. Ein seltsames Paradox: War es doch ge- lichung freigegeben wurde, bereits ein un- vorderste Linie der gesellschaftlichen Berade die Entstehung eines anonymen Lese- terirdisches Beben ausgelöst hatte. Der wegung rückten. Auch das waren Stern312 d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 BLANCHE / GAMMA / STUDIO X Nobelpreisträger Solschenizyn bei der Rückkehr nach Russland (1994): Anklagedossier von erschütternder Wucht stunden des späten Gutenberg-Zeitalters: Wie die Leitautoren einer halb legalen oder illegalen Publizistik um Mazowiecki und Michnik am Runden Tisch in Warschau der uniformierten Riege der Parteigeneräle die ersten halb freien Wahlen abhandelten; wie Heym, Hein, Hermlin und Christa Wolf auf dem Alexanderplatz in letzter Stunde noch eine neue Deutsche Demokratische Republik ausrufen wollten; wie der Lyriker Mircea Dinescu, als rezitierte er eines seiner absurden Gedichte, im besetzten Bukarester Fernsehstudio den Sturz des vampirischen „Conducator“ verkündete; oder wie der Dramatiker Václav Havel auf dem Wenzelsplatz zu den hunderttausenden sprach, als wäre er schon der Bürgerpräsident, als der er kurz darauf dann tatsächlich die Prager Burg in Besitz nahm. Havels Maxime „In der Wahrheit leben“ kann als ein fernes Echo jenes dramatischen „J’accuse“ Emile Zolas gelten, mit dem die Schriftsteller zu Beginn dieses Jahrhunderts als Protago- nisten der Demokratie und der universellen Menschenrechte erstmals die Bühne der großen Politik betreten hatten. Allerdings zeigte gerade die Affäre um den zu Unrecht der Spionage angeklagten jüdischen Hauptmann Dreyfus, in der Emile Zola die Spitzen der eigenen Armee und Justiz öffentlich der Rechtsbeugung und eines Komplotts gegen die Republik bezichtigte, auch schon die Keime der ideologischen Bürgerkriege, die die europäischen und später auch die außereuropäischen Nationen zerrissen haben. Zola sprach nicht einfach als prominenter und besorgter Staatsbürger, sondern als der Autor des 20-bändigen Romanzyklus der „Rougon-Macquart“, der die Gesellschaft Frankreichs, fast wie in einem zweiten Schöpfungsakt, in ein Gesamtgemälde gebannt hatte. Nicht nur in den „Kulturnationen“ Mittel- und Osteuropas, von Deutschland bis Russland, waren die Dichter und Denker im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts ideelle Mittelpunkte der Nation und verehrte Objekte einer eigentümlichen Kunstreligion geworden. Auch in den Staatsnationen des Westens – und gerade in Frankreich – waren sie in eine ähnlich überhöhte Position als Seher, Mahner, Ankläger, Aufklärer und Propheten gerückt, die die Rolle eines „Gewissens der Gesellschaft“ oder „Ersatzparlaments“ einnahmen. Aber Zolas Gegenspieler Maurice Barrès war ebenfalls Schriftsteller und Intellektueller. Wo Zola auf Recht und Vernunft pochte, da betonte Barrès die Macht der Gefühle und die Bande des „Blutes“. Soviel sympathischer und moderner die Position Zolas und seiner Anhänger war, so nüchtern lässt sich von heute aus auch die Problematik ihrer universalistischen Geltungsansprüche bezeichnen, die sich gerade in der neu aufgekommenen Bezeichnung als „Intellektuelle“ zeigte. Anatole France übersetzte diesen Begriff als „Ge- „Drama schreibt sich besser vor dem Hintergrund von Diktatur als von Demokratie, wie auch immer die beschaffen ist.“ Heiner Müller, 1991 d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 313 bildete mit Urteilskraft“, die in besonderer Weise geeignet seien, „in Angelegenheiten der allgemeinen Ordnung und des öffentlichen Interesses das Wahre vom Falschen zu unterscheiden“. Sie alle, die Produzenten rechter wie linker Weltanschauungen, reagierten auf den unaufhaltsamen Eintritt der Massen in das politische Leben – und gleichzeitig auf die von Heils- und Unheilserwartungen begleiteten Schübe der Säkularisierung und Individualisierung, die wohl die eigentliche Weltrevolution dieses Jahrhunderts ausgemacht haben. Aus der historischen Distanz wird deutlich, dass zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs eben nicht allein die „Torheit der Regierenden“ und die imperiale Konkurrenz der Mächte, sondern auch die überspannten Erwartungen und panischen Ängste der beteiligten Gesellschaften wesentlich beigetragen haben. Dieser Krieg, der, je Gemälde „Apokalyptische Landschaft“ (1912)*: Der Krieg wurde zur Stunde der Literaten länger, desto mehr, die Züge eines totalen europäischen Bürger- tualisierung, Radikalisierung“ und damit die Material dient und dessen Ziel es ist … krieges annahm, wurde, wie kaum ein an- Demokratisierung Deutschlands zu betrei- ihm jede gewünschte Form zu geben“? So deres historisches Ereignis, zur Stunde der ben, um es seiner angestammten, friedli- der Kunstwissenschaftler Boris Groys, der Dichter. „O dass doch ein Brand unsere chen Lebensform einer „machtgeschützten die Parteinahme der russischen AvantgarHäupte bewölb! / Es rascheln gewitternd Innerlichkeit“ zu berauben. Freilich ermisst disten für das bolschewistische Regime aus Horizonte fahlgelb. / (…) Die Nerven ge- man die Erbitterung des jüngeren gegen den ihrem Wunsch erklärt hat, durch das Bündpeitschet! Die Welt wird zu enge. / Lasst älteren Bruder erst richtig, wenn man in nis von Kunst und Macht auf den Trümschlagen uns durch Gestrüpp und Gedrän- Heinrich Manns Essay „Geist und Tat“ den mern der niedergebrochenen alten eine ge!“ So hatte in klirrend expressionisti- neidvollen Satz liest: „Sie haben es leicht ge- neue Welt als „Gesamtkunstwerk“ zu scher Diktion der verhinderte königlich habt, die Literaten Frankreichs, die, von schaffen, in der das Leben nach einem verbayerische Fahnenjunker Johannes R. Be- Rousseau bis Zola, der bestehenden Macht bindlichen Willen und Plan zweckmäßig cher im Mai 1914 „einen großen Weltkrieg“ entgegentraten: Sie hatten ein Volk.“ Darin lag der höchst zeitgemäße Geherbeigesehnt – um sich, wie viele Enthusiasten der ersten Stunde, später unter Re- danke, dass, wenn man für große Entwürfe und Prospekte kein Volk „hatte“, sich volutionären wiederzufinden. Die Motive und die Sprache mussten eben eines zurechtschneiden müsse. Gesich dabei gar nicht so sehr ändern. Denn nau das strebten die totalitären Parteien auch die Kriegsdichtung erschöpfte sich und Bewegungen an, die in den Staaten keineswegs in plumper Propaganda gegen Mittel- und Osteuropas alle frustrierten Erden Feind, sondern schwelgte in höchsten wartungen und Ängste des Weltkrieges in menschheitlichen Berufungen und Selbst- ein Programm der autoritären Mobilmachung der Massen ummünzten. berufungen – und das auf allen Seiten. Getragen wurden sie nicht zuletzt von Als eine „Wiederholung der DreyfusAffäre in kolossalisch vergrößertem Maß- den Faszinationen, und mehr noch, von stabe“ stellte sich Thomas Mann dieser den verwandtschaftlichen Gefühlen, die ganze Weltkrieg dar. In seinen „Betrach- ein gut Teil der Intellektuellen und Künsttungen eines Unpolitischen“ klagte er die ler des Zeitalters ihnen entgegenbrachte. Parteigänger der Entente in der Gestalt War der totalitäre Staatsmann nicht auch des „Zivilisationsliteraten“ (worin alle „eine Art Künstler, dem die ganze Welt als Welt seinen Bruder Heinrich erkannte) an, Autor Brecht (1927) die „Politisierung, Literarisierung, Intellek- * Von Ludwig Meidner. Radikale ideologische Parteinahme FOTOS: AKG Spiegel des 20. Jahrhunderts Das Jahrhundert der Massenkultur: Die Dichter und die Macht 314 d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 FOTOS: ULLSTEIN BILDERDIENST Sinne nennt, ist ja hauptund ästhetisch eingerichsächlich nichts als die Betet wäre. Aus entsprelastung des einzelnen mit chenden Motiven hatten Fragen, von denen er die Futuristen Italiens das kaum die Worte kennt, Bündnis mit dem Faschisweshalb es ganz natürlich mus gesucht und hatte Fiist, dass er in einer volllippo Tommaso Marinetti kommen pathologischen schon 1915 Mussolini als Weise darauf reagiert.“ einen „Mann von wahrAm Ende sind es die haft futuristischen Aspiragroßen Einzelgänger wie tionen“ gerühmt. Musil, Proust, Joyce oder Es griffe allerdings zu Kafka gewesen, die ihr kurz, darin nichts als Zeitalter in „große Erzähkünstlerische SelbstaufgaAutor Becher (1927) lungen“ gefasst haben, debe oder „Verrat der Intellektuellen“ zu sehen, wie ihn Julien Ben- ren Wirkung immer stärker geworden ist, da 1927 so leidenschaftlich angeprangert gerade weil sie die neue Welterfahrung eihat. Die Wahrheit ist schwieriger. Denn die ner völlig offenen, aber heillosen Geradikale ideologische Parteinahme hat kei- schichte zum Ausdruck gebracht haben. Dass die Nationalsozialisten ihre unneswegs verhindert, dass ein Teil der großen Literatur des Jahrhunderts gerade beschränkte Herrschaft im Mai 1933 mit so entstanden ist. Der Hass oder die Ver- einem spektakulären Autodafé aller für blendung des Autors sind in ihren Text als „volksfremd“, „seelenzerfasernd“ oder Signum der Zeit eingelagert und lassen sich „materialistisch“ erklärten Bücher eröffnur um den Preis der Banalisierung philo- neten, war eine gewaltsame Reaktion gegen diesen „relativistischen Zeitgeist“. Hitler logisch wieder herausfiltern. Weder ein Außenseiter wie der wahn- räsonierte bei späterer Gelegenheit einmal, hafte Antisemit Louis-Ferdinand Céline mit die Entwicklung des einst „tatkräftigen“ seiner „Reise ans Ende der Nacht“ noch ein Volkes der Deutschen zu einem „Volk der Ezra Pound, der sein halbes Künstlerleben Dichter und Denker“ sei an sich schon eine und etliche seiner „Cantos“ auf die Vereh- Degenerationserscheinung gewesen. So rung Mussolinis verwendet hat, geschweige rangierten die Schriftsteller in der Hierarein Ernst Jünger als Mythologe der „Stahl- chie der Künste weit hinten. Albert Speer bezeugte, er habe Hitler gewitter“ und des „Arbeiters“ lassen sich aus der Weltliteratur des Jahrhunderts weg- „tatsächlich nicht ein einziges Mal über eidenken. Auf der Seite der radikalen Linken nen der repräsentativen Dichter des Dritten sind die Namen noch ungleich zahlreicher, Reiches“ sprechen hören. Gerade umgeund weder im Falle von Bertolt Brecht noch kehrt Stalin, der ein System repräsentierte, von Louis Aragon oder Pablo Neruda lässt das im Gegensatz zu den neuheidnischen sich ein politisch ungenießbarer von einem Riten des Nationalsozialismus viele Züge künstlerisch genießbaren Teil ihres Werkes einer säkularen Schriftreligion trug. Einer der genialen Schachzüge Stalins war es, säuberlich abtrennen. Aber das Dilemma reicht tiefer: Wie geht parallel zur Entmachtung der parteiinterman zum Beispiel mit der Tatsache um, nen Opposition den heimwehkranken Madass wir in Michail Scholochows „Der stil- xim Gorki aus dem Exil zurückzuholen und le Don“ ein mit dem Nobelpreis gekröntes, als den Hohen Priester der neuen Union ebenso großartiges wie affirmatives Epos der Sozialistischen Sowjetrepubliken zu ineiner der großen politischen Vernichtungs- thronisieren. Stalin und Gorki verkörperten nun in aktionen des Zeitalters besitzen und in der Figur des Kommunisten Ilja Buntschuk ei- plakativer Weise das Bündnis von Macht nen positiven Helden des Massenterrors? und Geist. Gemeinsam formulierten sie die Vielleicht nur, indem man zugibt, dass Kriterien eines „Sozialistischen Realisdie Künstler dieses Zeitalters der Welt- mus“, der mit allen Avantgardismen endkriege stärker als andere das panische und gültig Schluss machte und eine volkstümillusionäre Verlangen nach einer mit sich liche, in traditionell russisch-realistischem versöhnten, vom Stachel ihrer treibenden Stil gehaltene Literatur und Kunst mit Widersprüche und schreienden Ungerech- positiven Helden und aufbauendem Optitigkeiten ein für alle Mal „befreiten“ mismus einforderte. Mit dieser umfassenden Sorge Stalins menschlichen Gesellschaft zum Ausdruck für die geistige Kultur hing es auch zugebracht haben. Fast niemand sah sich damals in der Lage, sammen, dass unter seinem Regime mehr die ironische Gelassenheit eines Robert Mu- Schriftsteller und Künstler – loyale und dissil aufzubringen, wenn er in einem Essay sidente, berühmte und unbekannte, alte „Das hilflose Europa“ 1922 nüchtern fest- und junge – verhaftet, gefoltert, ermordet stellte: „Was man Zivilisation im üblichen oder deportiert worden sind als je in der Geschichte irgendeines anderen Landes. Hellsichtig sagte Ossip Mandelstam, als sein Todesweg begann, seiner Frau Nadeschda: „Weshalb beklagst du dich? Nur bei uns schätzt man die Literatur so, dass man Menschen dafür umbringt.“ Die Ermordung Mandelstams, Babels, Pilnjaks, Meyerholds und anderer weltbekannter Künstler als „Spione“ und „Volksfeinde“ vollzog sich in tödlicher Stille, in einer Art luftleerem Raum, zu dem neben der Indifferenz der westlichen Öffentlichkeit auch das Schweigen oder die offene Apologetik berühmter bürgerlicher Kollegen wie Lion Feuchtwanger, Romain Rolland oder Heinrich Mann beitrugen. Diese bewunderten gerade die zeremoniöse Stellung und staatliche Alimentierung der Kunst im Sozialismus. Entscheidend war jedoch, dass die Aufmerksamkeit der meisten Intellektuellen Autor Thomas Mann (1906) Erbitterung gegen den Älteren von dem okkupiert wurde, was sich in und um die „faschistischen“ Mächte, besonders Nazi-Deutschland, zusammenbraute. Während der Erste Weltkrieg aus heiterem Himmel hereinbrach, konnte man den Zweiten von weitem kommen sehen. Der Exodus der jüdischen und oppositionellen Intelligenz aus einem Deutschland, das seinen eben noch umschwärmten Künstlern und Wissenschaftlern keine Träne nachweinte, tat ein Übriges. Hier kündigte sich ein Weltumsturz an, für den es keinen Maßstab gab. Bis heute sind wir nicht fertig geworden mit dem, was damals passierte. Diejenigen, die sich dem mit „Auschwitz“ bezeichneten Zentrum des Schreckens literarisch genähert und ihre Erfahrungen verarbeitet ha- „Jeder starken Revolution zuvor kommt eine unerbittliche Literatur.“ Heinrich Mann, 1943/44 d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 315 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite STEFAN MOSES Sozialdemokraten, Künstler*: Teil des Establishments und veraltete Moralapostel ben, wie Paul Celan, Tadeusz Borowski oder Primo Levi, taten es unter Lebensgefahr. Als der Exkommunist Arthur Koestler im Frühjahr 1940 – in der Zeit des HitlerStalin-Paktes also – in London seinen Schlüsselroman „Sonnenfinsternis“ herausbrachte, der die brutalen Mechanismen der Moskauer Schauprozesse und der absurden „Geständnisse“ der Altbolschewiken aufdeckte, wurde das Buch in Linkskreisen heftig diskutiert, in der bürgerlichen Öffentlichkeit jedoch völlig ignoriert. Ganz anders 1946, als in Paris eine französische Übersetzung herauskam und gerade angesichts wüster Drohungen der Kommunisten ein breites Publikum erreichte. Aber auch für einen Großteil der nichtkommunistischen Intellektuellen hatte Koestlers Buch den Ruch des Verrats. Simone de Beauvoir ließ damals in ihrem Roman „Die Mandarins von Paris“ ihren Helden Dubreuilh (Sartre) mit dem Renegaten Scriassine * Vorn: Agnes Fink, Ingeborg Bachmann, Rut Brandt; hinten: Fritz Kortner, Hans Werner Henze, Günter Grass, Willy Brandt, Karl Schiller, Hans Clarin 1965. Mutlangen-Blockierer Böll (l., 1983) Die Öffentlichkeit produktiv-anstößig genutzt LITERATUR Karl Corino (Hrsg.): „Intellektuelle im Bann des Nationalsozialismus“. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 1980; 252 Seiten – Eines der wenigen Bücher, die auf dieses Thema ernsthaft eingehen. Wolfgang Kuttenkeuler (Hrsg.): „Poesie und Politik. Zur Situation der Literatur in Deutschland“. Verlag Kohlhammer, Stuttgart 1973; 410 Seiten – Sammelband zu den Diskussionen über das „Ende der Literatur“ nach 1967/68, mit Beiträgen von Enzensberger, Walser, Wellershoff und anderen. Wolfgang J. Mommsen (Hrsg.): „Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller 318 (Koestler) wie folgt abrechnen: „Gewiss, im Vergleich zur Idee ist die Wirklichkeit immer im Unrecht; sowie die Idee zu Fleisch und Blut wird, wird sie entstellt. Die einzige Überlegenheit der UdSSR über sämtliche möglichen Sozialismen liegt darin, dass sie existiert.“ Und als sich sein Freund Perron (Camus) von den Informationen über die stalinistischen Lager tief verunsichert zeigt, erklärt Dubreuilh (Sartre) kategorisch: „Allein wichtig ist die Entscheidung, ob man durch die Denunziation der Lager für die Menschheit oder gegen die Menschheit arbeitet.“ Das existenzialistische Credo, die Freiheit der „Wahl“ des Individuums, war damit im Zeichen des neuen West-Ost-Konflikts unter den kategorischen Imperativ einer Parteinahme für oder gegen die Sowjetunion gestellt. Der Charakter dieser Parteinahme war allerdings ein ganz anderer als eine Generation zuvor. Nicht um enthusiastische Vorstellungen einer zu entwerfenden und zu erschaffenden „neuen Welt“ ging es mehr, sondern um eine existenzielle Entscheidung für oder gegen den „real existierenden“ Sozialismus, weil er die einzige Gegenmacht zum globalen Imperialismus und Kapitalismus der USA darstellte. Das „Engagement“, das Sartre vertrat, war also in erster Linie negativ bestimmt, als radikale Kritik der bürgerlichen Gesellschaft und Absage an die von Amerika aus vordringende Weltkultur. Auch die westdeutsche Nachkriegsliteratur hat sich überwiegend als eine „engagierte Literatur“ verstanden, wenn auch nicht mit vergleichbarer Radikalität. Im Bann der eigenen deutschen Geschichte kreiste sie um das Phantom einer vermeintlich allgegenwärtigen Tendenz der „Restauration“. Aus dieser schiefen Perspektive hat sie ihr eigentliches Sujet, die chaotischen und amoralischen Sozial- und Bewusstseinsformen, in denen sich die Gesellschaft der Bundesrepublik nach 1945 neu zusammengemendelt hat, zu einem gut Teil verfehlt. Und während ihre Autoren, wie sie auf den Klassenfotos der „Gruppe 47“ zu sehen sind, sich noch in ihrer Rolle als ewige Außenseiter, Kritikaster und „Pinscher“ sonnten, war ihnen entgangen, dass sie längst zu Repräsentanten ihrer tonangebend gewordenen Generation geworden waren. Kein Wunder, dass die radikalen Studenten 1967/68 die „engagierten Schriftsteller“, die sich eben noch als Speerspitze der Opposition gegen eine „formierte Gesellschaft“ gefühlt hatten, plötzlich als Teil des Establishments und antiquierte Moralapostel verhöhnten. Aber alles an dieser „Kulturrevolution“ von 1968 war ja doppeldeuELLERBROCK & SCHAFFT / BILDERBERG / XXP / DER SPIEGEL Spiegel des 20. Jahrhunderts Das Jahrhundert der Massenkultur: Die Dichter und die Macht im Ersten Weltkrieg“. Verlag Oldenbourg, München 1996; 282 Seiten – Geistes- und Mentalitätengeschichte des Ersten Weltkriegs, nicht nur aus deutscher Perspektive. Michael Rohrwasser: „Der Stalinismus und die Renegaten. Die Literatur der Exkommunisten“. Verlag Metzler, Stuttgart 1991; 412 Seiten – Subtile Betrachtungen über die Schwierigkeiten von Schriftstellern, sich vom Kommunismus zu lösen. Jürgen Rühle: „Literatur und Revolution. Die Schriftsteller und der Kommunismus“. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1988; 648 Seiten – Bis heute unübertroffen – „ein analytischer Bericht über verführte d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Verführer, botmäßige Revolutionäre und treue Ketzer“ (Manès Sperber). Günther Rüther (Hrsg.): „Literatur in der Diktatur. Schreiben im Nationalsozialismus und DDR-Sozialismus“. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 1997; 508 Seiten – Sammlung von Einzelstudien über die Strategien der Anpassung und Selbstbehauptung in der Diktatur. Hans Dieter Zimmermann: „Der Wahnsinn des Jahrhunderts. Die Verantwortung der Schriftsteller in der Politik“. Verlag Kohlhammer, Stuttgart 1992; 176 Seiten – Polemik gegen die „Verantwortungslosigkeit der Ästheten“. Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite DIE THEMENBLÖCKE IN DER ÜBERSICHT: I. DAS JAHRHUNDERT DER IMPERIEN; II. … DER ENTDECKUNGEN; III. … DER KRIEGE; IV. … DER BEFREIUNG; V. … DER MEDIZIN; VI. … DER ELEKTRONIK UND DER KOMMUNIKATION; VII. … DES GETEILTEN DEUTSCHLAND: 50 JAHRE BUNDESREPUBLIK; VIII. … DES SOZIALEN WANDELS; IX. … DES KAPITALISMUS; X. … DES KOMMUNISMUS; XI. … DES FASCHISMUS; XII. … DES GETEILTEN DEUTSCHLAND: 40 JAHRE DDR; XIII. DAS JAHRHUNDERT DER MASSENKULTUR d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 321 B. BOSTELMANN / ARGUM AFP / DPA trät jenes Chomeini, der im tig: Die StudentenbeweFebruar 1989 seine „Fatgung, die sich Adornos und wa“, das Todesurteil, gegen Marcuses Thesen vom toden Autor der „Satanitalen Verblendungszusamschen Verse“ schleuderte. menhang und der univerDass es ein Roman war, sellen Manipulation als ein Stück „schöne Literadem zeitgemäßen Herrtur“ also, und nicht etwa schaftsmittel des Spätkapiein Hollywood-Film, ist talismus zu Eigen gemacht kein Zufall. Nur ein litehatte, war vielleicht das errarisches Kunstwerk war ste große, vom Fernsehen und ist in der Lage, einen so voll „gecoverte“ Medienkomplexen metaphorischen ereignis. Raum zu eröffnen, dass Dieter Wellershoff hat darin auch die „Großen Erschon 1969 diagnostiziert, zählungen“ der alten Weltwelche Form das demonreligionen in einen neuen, strative Engagement des Zeiten, Räume und KultuSchriftstellers alsbald anren übergreifenden Handnehmen würde: „Ein neues lungszusammenhang einZeitalter hat Mikrofone fließen können. und Kameras an ihn heranRushdie spricht im geschoben, und das GewisÜbrigen nicht als Brite sen ist schon die verinneroder Westler, sondern als lichte Dauerpräsenz dieser Abkömmling des alten neuen Öffentlichkeit, die Schmelztiegels Indien und ihm wie allen interessanzugleich als Mensch in der ten Personen das Angebot globalen Diaspora, als ramacht, dauernd in ihr andikaler Einzelner, der sich wesend zu sein.“ (wie seine Helden) der tiefsWenige haben das so ten aller Gotteslästerungen produktiv-anstößig genutzt schuldig gemacht hat: „sich wie Heinrich Böll, der sich selbst zu erfinden“. noch 1972 in Moskau mit Dass er endlich sein Solschenizyn, Lew KopeVersteck verlassen konnte, lew und anderen Verfemdass man dieses Stück ten traf, während er in der Weltliteratur, das ihrem Bundesrepublik „Gnade Begriff nahe kommt, in oder wenigstens freies Geden meisten Ländern der leit“ für Ulrike Meinhof Islamische Fundamentalisten (1989): „Zeitlosigkeit Gottes“ Welt kaufen und lesen forderte (SPIEGEL 3/1972). Als Böll im selben Jahr den Nobelpreis „Unser Auschwitz“ (1965) bis zur Friedens- kann, kurzum: dass der zehnjährige Krieg erhielt, war ihm Günter Grass, der Nobel- preisrede 1998 über die angebliche Funk- um die „Satanischen Verse“ mit einem preisträger von 1999, fast schon voraus, was tionalisierung ebendieses Themas als „Mo- Sieg geendet hat – das darf wohl auch die Dauerpräsenz in der Öffentlichkeit be- ralkeule“. Die biografische Quelle bleibt als ein Beweis für die fortdauernde traf. Seit seinen Auftritten als Wahltromm- in beiden Fällen die gleiche: der Versuch, stille Macht der Schriftsteller verstanden ler für die „EsPeDe“ Willy Brandts hatte die Prägungen und Stigmatisierungen einer werden. Grass seinen Ruhm als Autor der „Blech- Kindheit im Nationalsozialismus künstletrommel“ (1959) bewusst in den Dienst risch und intellektuell zu bewältigen. Die Prognosen vom „Ende der Literaeiner politischen Pädagogik gestellt, die Der Autor auch sein literarisches Werk zunehmend tur“ haben sich alles in allem nicht beGerd Koenen, 54, Hisgeprägt hat. Seine höchst anfechtbaren wahrheitet. Vielleicht ist die Literatur erst toriker und freier PuWeltbetrachtungen, in denen der arg- heute dabei, in einem neuen Sinne zu blizist, veröffentlichte wöhnisch-poetische Blick des Danziger werden, was Goethe als „Welt-Literatur“ 1991 „Die großen GeKriegskindes immer zu spüren war, haben voraussah. sänge“ über den lite„Verbrennt die Bücher und vertraut der Macht des Zeitgeistes jedenfalls rarischen Personennie gehuldigt: nicht dem „radical chic“ von dem Buch“, lässt Salman Rushdie in seikult um Lenin, Stalin 1968, nicht der nationalen Saturiertheit nem Roman „Die Satanischen Verse“ den und Mao. Von 1993 bis emigrierten Imam sagen, der eine totavon 1989. 1996 beteiligte er sich Ähnliches ließe sich allerdings auch von litäre Theokratie anstrebt, mittels deren an dem von Lew Koden provokativen Interventionen seines die rasende Geschichte der Menschen wiepelew geleiteten Forschungsprojekt „Westfrüheren Mit- und heutigen Gegenspielers der in die „Zeitlosigkeit Gottes“ überführt östliche Spiegelungen“. Martin Walser sagen: von seinem Essay werden könnte. Das war ein genaues Por- Spiegel des 20. Jahrhunderts Das Jahrhundert der Massenkultur: Die Dichter und die Macht Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Kultur Szene L I T E R AT U R FOTOGRAFIE Rückenwind für Deprimierte u zweit machen Frauen „einander Geständnisse und sind bedrückt“, denkt die verkaterte Lola, „zu dritt machen sie einander Mut; zu viert hacken drei auf die Vierte ein, bis sie in Depressionen verfällt“. In diesem Roman sind die Frauen zu viert. Am Morgen nach einem „Feminine Studies“-Kongress trifft sich ein Quartett erfolgreicher Frauen in ihren späten Vierzigern, die es in das US-Städtchen mit dem vielsagenden Namen Middleway verschlagen hat. Lola stammt aus Skandinavien, ist Alkoholikerin und war einst ein Filmstar der Nouvelle Vague; Aurore wurde als Weiße in Afrika geboren, wuchs in Frankreich auf und ist inzwischen eine anerkannte Schriftstellerin; Babette kam als Jugendliche aus Algerien nach Bordeaux und hat es zur StarAkademikerin in den USA gebracht; und Gloria, die Enkelin einer Bettlerin aus der Karibik, leitet seit Jahren ihren Uni-Fachbereich in Middleway. Mit viel Rückenwind steuert dieser Frauenroman der Autorin Paule Constant, 55, den deutschen Markt an: „Vertrauen gegen Vertrauen“ hat vergangenes Jahr den wichtigsten Literaturpreis Frankreichs gewonnen und sich wochenlang auf Platz eins der Bestsellerlisten gehalten. Doch was Constant am besten gelingt, ist nicht der Emanzen-Blues, sondern das Porträt einer unglücklichen, zutiefst verunsicherten Frau: der Schriftstellerin Aurore. Leider gerät die immer wieder aus dem Blick, denn Constant reißt vieles an, vermengt Themen, Tonlagen und Schauplätze, vermischt Feminismus-Kritik und Campus-Satire, feinfühlige Betrachtung und literarische Selbstbespiegelung – und verwischt dabei die Konturen ihres Romans. Die Lebensgeschichten der Frauen hätten weit mehr Raum gebraucht, als ihnen zugestanden wird. Diese verletzten und von den Männern abgestreiften Frauen quetschen sich dicht an dicht auf den Seiten – und finden als Romankollektiv trotz diverser Tricks der Verfasserin nicht zusammen. Und so brauchen sie gar nicht aufeinander einzuhacken: Deprimiert ist jede für sich allein. Paule Constant: „Vertrauen gegen Vertrauen“. Aus dem Französischen von Michael Kleeberg. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M.; 272 Seiten; 39,80 Mark. W hoopi Goldberg stieg für sie in eine Badewanne voller Milch, und Arnold Schwarzenegger posierte auf einem weißen Hengst. Die US-Fotografin Annie Leibovitz versteht es, die Erfolgreichen dieser Welt so in Szene zu setzen, dass sie nicht nur ihrem Publikum, sondern auch sich selbst gefallen. Nun überrascht die berühmte Künstlerin mit einem Bildband, der nicht nur den schönen Schein zelebriert: „Women“ (Schirmer/Mosel, München; 240 Seiten; 148 Mark) heißt das Werk, und es zeigt viele verschiedene Gesichter – verträumte und verletzte, amüsierte, stolze und beherrschte. Manche hat man schon andernorts gesehen, etwa die stillende Jerry Hall und die milde lächelnde Hillary Clinton. Die beeindruckendsten Fotos zeigen unbekannte Frauen, denen die Kamera direkt ins Gesicht schauen kann, weil sie keine Masken tragen. „Women“ ist Leibovitz’ Liebeserklärung an ein starkes Geschlecht. Leibovitz-Porträts: Nicole Kidman (o.), „Model“ Tammy Kelly (u. l.) FOTOS: A. LEIBOWITZ / CONTACT / AGENTUR FOCUS Z Die Frauen dieser Welt „Model“ Rebecca Demison 325 Szene AU S S T E L L U N G E N Krabbelnde Leidenschaft V T. FEUERSTEIN / COURTESY OF KUNSTRAUM H. WIDAUER / JRP GENF / J. LOPEZ erderben viele Köche wirklich den Brei? Und was passiert, wenn es sich nicht um exzentrische Küchenchefs, sondern um zwei phantasiesüchtige Künstler handelt, die zusammen ein einzigartiges Kunstwerk schaffen sollen? Bringen sie sich um, oder beflügeln sie sich gegenseitig? Sie verkleiden sich, wenn sie zufällig beide eine Leidenschaft für Insekten pflegen, als Fliege und Käfer, treffen sich auf dem Dach eines New Yorker Hochhauses, tratschen ein wenig und drehen darüber einen Film. Wie der belgische Künstler und Dramatiker Jan Fabre (Käfer) und der russische Konzeptkünstler und Kinderbuchillustrator Ilja Kabakow (Fliege). Und weil sie wollen, dass auch das Publikum die Welt durch die Augen ihres geliebten, krabbelnden und fleuchenden Kleingetiers wahrnimmt – nämlich mit 200 statt mit 24 Bildern pro Sekunde –, spielen sie ihren Film besonders schnell ab. „Get Together. Kunst als Teamwork“ heißt die witzig irritierende Ausstellung in der Kunsthalle Wien, in der das Resultat einer ungewöhnlichen Wahlverwandtschaft zu sehen ist (bis 9. Januar). Und nicht nur dieses: Über 60 Künstler von Carsten Höller bis zu Rirkrit Tiravanija haben sich kreativ gepaart und dabei überraschende Gemeinsamkeiten entdeckt. Richard Hoecks und John Millers Foto-Serie „Hard Hat“ lässt ahnen, dass beide keine Folge des TV-Klassikers „Bonanza“ verpasst haben. Sie zeigen zwar nicht nur die Serien-Cowboys, sondern auch brünette Schönheiten – alle aber mit einem lächerlich hohen Filzhut. Fotoarbeit „Hard Hat“ von Hoeck und Miller Kino in Kürze äußerer Mittel rührt er an tiefe Gefühle, mit Behutsamkeit macht er das Ernste leicht. Szene aus „Sonja. Rote Korallen“ T H E AT E R Sonja und die Liebe I n der Generation der jungen deutschen Autorinnen war sie vergangenen Herbst eine der lichtvollsten Debütantinnen. Jetzt schreibt Judith Hermann, 29, auch fürs Theater. In Bielefeld hat am Freitag ihr Text „Sonja. Rote Korallen“ im Theater am Alten Markt Premiere – die Dramatisierung von Motiven aus ihrem Debütband „Sommerhaus, später“. Das Zwei-Personen-Stück handelt von einem Maler und der jungen Sonja, die einander im ICE kennen lernen. Doch die luftige Liaison entwickelt sich keineswegs zügig, die Frau entzieht sich. So geheimnisvoll wie Sonja scheint auch ihr Armband zu sein, das von ihrer Urgroßmutter stammt. Die Uraufführung der Schienen-Romanze inszeniert Titus Georgi. 326 ge des Gruselfilms „Bis das Blut gefriert“ scheucht „Speed“-Regisseur Jan De Bont seine Helden durch ein Höllengemäuer, das Hill House in Neuengland, wo einst ein Finsterling mordete und jetzt sein Geist spukt. Es pfeift das Grauen aber auch durch die Löcher der Geschichte – die sind groß genug, um Lili Taylor, Liam Neeson und Catherine Zeta-Jones fast unrettbar verschwinden zu lassen. „Austin Powers – Spion in geheimer Missionarsstellung“. In dieser aberwit- zigen James-Bond-Parodie entstammt der forcierte Humor vorzugsweise untersten Schichten: Scherze aus der Fäkal- und Genitalsphäre, dazu Anspielungen auf 007-Klassiker. Austin (Mike Myers in drei Rollen) jagt den glatzköpfigen Weltzerstörer Dr. Evil, der mit einer Laserkanone auf Washington zielt. Ein Film (Regie: Jay Roach) mit Starbesetzung (Liz Hurley, Robert Wagner, Rob Lowe) für belastbare Naturen, die sich unterhalb der Gürtellinie nicht in Feindesland wähnen. „Ende August, Anfang September“. Nicht ein paar Tage sind gemeint, sondern ein ganzes Jahr: das Hin und Her innerhalb einer Hand voll befreundeter junger Leute aus der Pariser Szene. Der Älteste wird 40, hatte als Schriftsteller noch keinen überzeugenden Erfolg und sieht nun schon den nahen Tod vor sich; sein Bewunderer ergattert einen lukrativen Verlagsjob, wofür er sich in seiner Künstlerseele verachtet; und die Frauen suchen sich aus der Anhänglichkeit so schwacher Männer zu lösen, auch wenn es weh tut. Ein paar Abschiede, ein paar Anfänge. Der französische Regisseur Olivier Assayas hat längst treue Bewunderer, und auch sein neuer Film gibt ihnen Recht: Aus impressionistischer Beiläufigkeit entwickelt er eine komplexe Erzählung, mit einem Minimum d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 KINOWELT K. STUKE „Das Geisterschloss“. In der Neuaufla- Szene aus „Austin Powers“ Kultur KINO „Die Kurden fanden es wunderbar“ Der Produzent Peter Herrmann, 44, über die Dreharbeiten zu dem Film „Eine Hand voll Gras“, die in Iran stattfanden SPIEGEL: Zum ersten Mal seit 20 Jahren erhielt ein westliches Team eine Drehgenehmigung für einen Spielfilm in Iran. Hätte man nicht auch einen anderen Drehort finden können – zum Beispiel in den kurdischen Siedlungsgebieten der Türkei? Herrmann: Dort war das Risiko zu groß – wir mussten uns zu einer Zeit festlegen, als gerade der Kurdenführer Abdullah Öcalan verhaftet wurde. SPIEGEL: Die Handlung des Films basiert auf einer SPIEGEL-Reportage. Herrmann: Ja, es ist eine FicHerrmann tion-Story, aber nach einer wahren Geschichte: Ein kleiner Junge aus der kurdischen Türkei wird nach Hamburg geholt und dort als Drogendealer eingesetzt, weil er noch strafunmündig ist. SPIEGEL: Hatten Sie Schwierigkeiten beim Dreh? Herrmann: Der Drehort war ein Dorf nahe der irakischen Grenze. Kommunikation und Versorgung waren fürchterlich anstrengend. Es gab kein Telefon, tagsüber hatte es 30 Grad, nachts war es unter null. Aber von staatlicher Seite waren alle sehr hilfsbereit. SPIEGEL: Keine Aufregung? Herrmann: Natürlich war eine gewisse Spannung da, weil in diesem Gebiet noch vor wenigen Jahren gekämpft worden ist. Außerdem lebt die Region vom Schmuggel. SPIEGEL: Wie haben die Einheimischen Ihre Arbeit aufgenommen? Herrmann: Die Kurden fanden es wunderbar, dass wir dort gedreht haben. Sie wollen der Welt zeigen, dass sie nicht nur Meuchelmörder sind. Sie haben uns extrem geholfen. SPIEGEL: Wurden Sie beim Filmen von der Regierung beobachtet? Herrmann: Die Regierung hatte uns zum Schutz sechs Soldaten mitgegeben, die vor Angst schlotterten, als wir in unserem Drehort ankamen. Die Dorfbewohner haben denen erst mal die Gewehre weggenommen. Als wir intervenierten, hat man sich darauf geeinigt, dass die Soldaten bei Nacht unser Zeltlagercamp bewachten. K U LT U R G E S C H I C H T E Zauberlehrlings Nöte M anuskript abliefern, drucken lassen und den Platz auf der Bestsellerliste abwarten: Schön wär’s, wenn Bücher so ihren Weg machten. Eine Menge kann dazwischenkommen. Stattlich und spannend ist darum die Ausstellung, die jetzt im Weimarer Goethe-Nationalmuseum (und vom 7. November an in Marbach) vorführt, „Was mit den Büchern geschieht“, wenn sie ins Leben treten. Schon vor Fertigstellung lauern Foltern; so wurde Thomas Manns noch unveröffentlichter Großroman „Der Zauberberg“ auf einem Lesungsplakat 1919 als „Der Zauberlehrling“ angekündigt. Ist ein Opus da, machen sich Nachdrucker, Plagiatoren Busch-Zeichnung und Exlibris-Narren darüber her. Oder die Zensur schreitet ein. Wilhelm Buschs Bildergeschichte vom „Heiligen Antonius von Padua“ zum Beispiel galt in Österreich als gotteslästerlich, bis ein paar listige Abgeordnete 1902 das gesamte Werk im Parlament verlasen, um den Vorwurf zu prüfen – die Buchfassung konnte dann als „Nachdruck des Sitzungsprotokolls“ erscheinen. Anekdoten überall: Zur legendären Widmung „Wem sonst als Dir“, die Hölderlin der Geliebten Susette Gontard versteckt in seinen „Hyperion“ schrieb, haben die KatalogAutoren, darunter Altmeister Reinhard Tgahrt aus Marbach, eine ganze Kollektion Parallel-Funde zu bieten. Und was echte Exklusivität heißt, zeigen sie an einem Wort des Dichters Stefan George: „Mein nächstes Buch drucke ich in zwölf Exemplaren, elf für meine Freunde, eines für die breitere Öffentlichkeit.“ d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Am Rande Noble Nachricht N ahezu ein Jahrhundert lang galt der Ratschluss der Stockholmer Nobelpreisjury als unerforschlich wie die Wege des Herrn. Warum wurde Thomas Mann erst 28 Jahre nach der Veröffentlichung der „Buddenbrooks“ nobilitiert und Günter Grass nun erst 40 Jahre nach der „Blechtrommel“? Warum haben es weder Bertolt Brecht noch Vladimir Nabokov, weder James Joyce noch Marcel Proust, weder Franz Kafka noch Jorge Luis Borges zum Nobelpreis gebracht? Letzte Woche lüftete der Schwede Jerry Bergström das Geheimnis: Versagt haben die nationalen Tourismus- und Public-Relations-Branchen der jeweiligen Kandidaten. Bergströms Werbeagentur dagegen hat den letztjährigen Preisträger José Saramago gemacht: mit einer professionellen Kampagne, binnen eines Jahres, im Auftrag und auf Rechnung des portugiesischen Handels- und Tourismusbüros. Er hat unter anderem Interview-Serien arrangiert und die romanistischen Fakultäten schwedischer Universitäten infiltriert. Zufrieden bilanzierte Profi Bergström im Branchenblatt „PR View“: „Nichts unterscheidet einen Nobelpreis von einer Präsidentenwahl oder der Auszeichnung eines Autos.“ Im Licht dieser Nachricht wird der nebulöse Hintergrund des Nobelpreises von 1997 für Dario Fo sonnenklar: Im globalisierten Wettbewerb hat Italien nicht geschlafen. Adria und Riviera sind ebenso wie die Algarve auf Attraktionen angewiesen, ob sie nun Alfa Fo oder Dario Romeo heißen. Rechtzeitig vor dem Millennium erkannte offenbar die deutsche Reisebranche die Zeichen der Zeit. Im Fall des derzeitigen Laureaten halten sich seine PR-Macher bisher zwar bedeckt. Aber zu Unrecht, denn mit der Marke Grass haben sie Schaden vom Wirtschaftsstandort Deutschland gewendet. 327 G. KRAUTBAUER / SNF PRODUKTION Kultur Musical „Saturday Night Fever“ in Köln: Mit Schmachtlocken und Schlaghosen wirbeln die Boys ins bonbonbunte Delirium MUSICALS Amadeus in Aspik Die marode Musicalszene wittert Morgenluft, mit dem Start in die neue Saison häufen sich die Premieren. Nun sollen der Drache Tabaluga, der Komponist Mozart, ein transsexueller Outsider und flotte Tanzcorps der angeschlagenen Gattung wieder auf die Beine helfen. W ar nicht längst alles aus? Die Boa beim Trödel, der Putz im Eimer? Die deutsche Musicalszene floppte. Noch vor kurzem war der Geier der Star der Saison. „Rent“ lahmt vor sich hin. Für „Joseph“, „Miss Saigon“ und „Les Misérables“ läutet das Sterbeglöckchen. „Sunset Boulevard“ ist bereits am Ende, auch „Der Herr der Ringe“ hat das Zeitliche gesegnet, genau wie „Gambler“ und „Gaudí“. Katzenjammer im „Cats“-Revier. In vielen Flimmerkästen erloschen die Spots. Die Stella AG, jahrelang der Überflieger des Gewerbes, landete nach „steilem Sturzflug“ („FAZ“) im Minus. Der Musical-König Rolf Deyle musste abdanken, selbst Komponist Andrew Lloyd Webber, in der Zunft der Dukatenscheißer, schöpft nicht mehr aus dem Vollen. 328 Prompt druckten Deutschlands Feuilletons schadenfrohe Nachrufe. „Musicals waren wie eine Lizenz zum Gelddrucken“, kommentierte „Die Welt“ die Agonie der Singspiele, „es war ein Goldrausch.“ Der „kommerziellen Spaßkultur“ gehe die Puste aus, beklatschte die „Frankfurter Rundschau“ noch Anfang des Jahres die „Stunde der Ausnüchterung“: „Staatstheater und E-Musik-Lobby können aufatmen.“ Zu früh gefreut: Die Szene berappelt sich, durch die Spielstätten weht Morgenluft. Mit dem Start in die Herbstsaison wird wieder kräftig getingelt. Im brandneuen „TeatrO CentrO Oberhausen“ versucht jetzt der kleine Drache Tabaluga, nicht nur seine in Eis erstarrte Prinzessin Lilli, sondern auch den Typ des kidstauglichen Musicals zu neuem Leben zu erwecken und so in fünf Jahren die Vord e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 laufkosten von 62 Millionen Mark wieder einzuspielen. Nicht auszuschließen, dass das klappt: Mit „Tabaluga & Lilli“ öffnet sich ein netter, familienfreundlicher Sesam. Zwar labern die Dialoge durch manch hirnrissige Untiefe, und die Musiktitel klingen alle hartnäckig nach dem bejahrten Rocky-Boy Peter Maffay, dem Stammvater des Märchens und 28,5-prozentigem Teilhaber an dessen Rechten. Doch wer guckt, kommt auf seine Kosten: Die Illusionsmaschinerie läuft wie geschmiert. Es pufft, zischt, dampft abendfüllend; auf 60 Meter Leinwand tricksen Computer ihre glänzenden Animationen, und ganze Batterien von Lasern verzaubern, auf die Sekunde perfekt, den Oberhausener Zweckbau in eine Augsburger Puppenkiste voll Hightech-Schick. DPA VIENNAREPORT Musical „Tabaluga“ in Oberhausen: Es pufft, zischt, dampft gegriffen wie in Wien, der Stadt auf klassischer TonErde. Dort, im historischen Theater an der Wien, fand am vorletzten Wochenende die Welturaufführung von „Mozart!“ statt, wohlgemerkt: Titel und Thema mit Ausrufezeichen. Nun war das Wolfgangerl schon immer für manchen Mumpitz gut. An der Biografie ist ja auch alles dran: Wunderbub mit Triezpapa, goldiges Schwesterherz, miese Neider und, natürlich, der anonyme Unhold, der ein Requiem bestellt und damit den Genius selbst aufs Sterbebett streckt. Furchtbar das Ganze und mehr Dichtung als Wahrheit. Und wenn schon: Kein Komponist ist schließlich von seinen Fledderern so oft verkindscht und verblödet worden. Da sind die Musical „Mozart!“ in Wien: Mit Terzen und Totenkopf in den Orkus Derweil wird unter der Plane des Kölner „Musical Dome“ ein 47-Mann-Ensemble zum Revival der Disco-Mode gestriegelt: Rund vier Wochen vor der Premiere am Broadway brach am Rhein bereits das „Saturday Night Fever“ aus und soll nun wenigstens drei Jahre lang dem musicalmüden Publikum in die Beine fahren. In der vom Kölner Schauspiel eingerichteten Halle Kalk, einer ausgemusterten Fabrik, probiert gleichzeitig das städtische Theater mit dem Girlie-Boy „Hedwig“ ein deftig-duftes Kontrastprogramm zum kommerziellen Event-Zirkus. Doch nirgends haben die Musicalmacher wieder mal so tief geschürft und so hoch neuen Wiener Musicalisten durchaus in unfeiner Gesellschaft. Nun ist der Librettist Michael Kunze nicht zwingend als Poet der Hochkultur ausgewiesen. Immerhin, als Texter von Udo Jürgens („Griechischer Wein“) weiß er, wie das Leben und wo die Musik spielt: Schmus macht Moos. Und so lässt er denn für den Salzburger Genius aus dem „unendlichen Universum der Musik“ das „Gold von den Sternen“ regnen, erteilt auch mal dem weinerlichen Filius das Wort („Mein Gott Papa, wieso kannst du mich nicht lieben, wie ich bin?“) und macht sich ansonsten mit der Komponistenschwester Nannerl seinen Reim auf den Lauf der d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Dinge: „Der Prinz ist fort, das Schloss ist leer, und die Prinzessin lacht nicht mehr.“ Gemeinhin können sich Librettisten derart groben Unfug leisten – der Zweck heiligt die Knittel. Aber der Komponist Sylvester Levay kitscht und knatscht leider genau nach Textvorlage und kugelt Mozart vollends zum kandierten Früchtchen. Mal leiert er lauter eintönige Kürzel runter, mal glaubt er sich mit ein paar rockigen Rülpsern am Puls der Zeit. Aber am liebsten dickt er seine reinen Terzen ein und schleimt mit ganzen Seilschaften aufgelöster Dreiklänge durch den Orchestergraben – Amadeus in Aspik. Den Rest besorgen die Herren Dekorateure. Regisseur Harry Kupfer und Bühnenbildner Hans Schavernoch setzen wieder ihre schwenkfreudige Hebebühne in Gang, kramen die gewohnt wackligen Spiegelwände hervor und begnügen sich mit einer einzigen Überraschung: Plötzlich, unter unheilschwangerem Dröhnen, fährt ein schwarzer Totenkopf auf die Bretter und kurvt nun, motorisch betrieben, bis zum Schluss über die Bühne. Leider ein Regiefehler: Der Coup kommt zu spät. Denn wenn der Schädel Gas gibt, ist der Schmäh längst im Orkus. Wow, wie geht es dagegen im Schatten des Kölner Doms zur Sache: grelle Show, heiße Party, bühnenbreit Highlife. Da drehen sich die gestylten Boys mit der Schmachtlocke und den Schlaghosen ins geschickt choreografierte Delirium. Zwischen glitzernden Spiegelwänden buhlen sie um ihre Darlings, und die Girls wirbeln hochhackig mit. „Saturday Night Fever“, jene schon legendäre Schlagerparade der Bee Gees, die der weiß betuchte John Travolta im Kino salonfähig gemacht hat, soll nun am Rhein der Disco-Mode neuen Schwung verpassen. Oder umgekehrt: Ein Revival der Disco-Ära soll dem müden Musical auf die Sprünge helfen. Mag ja hinhauen. Die Songs schmalzen nur halbfett, also bekömmlich; gymnastisch ist die Truppe auf Zack; und das Design verstrahlt genau die bonbonbunte Kälte der damaligen Tanzpaläste. Doch auch dieser Glamour hat seine Grauzone. Deutsch gequatscht und englisch gesungen bleibt die Story ärgerlich halber Kram, und im Ruckzuck der Ensemble-Nummern geht auch der noch unter. Denn den Kern des Plots – junge Verlierer aus Brooklyn tanzen sich ihren Frust aus dem Leibe – treten in Köln 94 Beine platt. Also doch kaum mehr als Wellness fürs Auge. Aber es geht, wie sich zeigt, auch anders: weg vom gewichsten Amüsement und hin zum ruppigen Denkzettel, raus aus den Glamourpalästen und rein in Thespis’ Hinterhof. Da macht ein Mann aus Kleinkunst die große Nummer. Ein armes Schwein, fast solo auf der plüschigen Bühne; war mal ein Kerl und hieß 329 LEFEBVRE / BÜHNEN DER STADT KÖLN Köster im Kölner Musical „Hedwig“ Fetzig durch die Schmuddelecken Hansel, wollte aus Ost-Berlin weg, rüber ins KaDeWe; ging nicht; die Mauer. Da fängt ein GI namens „Sugardaddy“ Feuer und will den Boy heiraten. Hansel lässt sich operieren, der Eingriff misslingt: 2,54 Zentimeter Mannesfleisch, genau ein Inch, bleiben zwischen seinen Beinen stehen. Nun heißt er Hedwig, ist „zurechtgenäht“ und bald von Daddy verlassen. Aus der Traum. Europäische Erstaufführung des US-Musicals „Hedwig and the Angry Inch“ in OffKöln, im rechtsrheinischen Abseits, wo so eine krude Mixtur aus Zeitgeschichte, Geschlechtsumwandlung und Rockabend nicht groß auffällt. Ein Jammer. Denn diese kleine, laute Travestie über das Crossover der Geschlechter ist ein Melodram voll schrägem Drive und vulgärem Charme, mit all den Fummeln und falschen Locken herrlich schmierig und trotz der banalen Botschaft seltsam anrührend. Da nervt kein klebriges Ohrgewürm wie in „Mozart!“, da ist der Tanzboden nicht wie in „Saturday Night Fever“ keimfrei gewienert. Dafür ist Leben in der Drecksbude und Gefühl in den Songs, und der famose Gerd Köster – Stimme mit Schnauze – fegt fetzig durch die Schmuddelecken. Zum Kick für einen neuen MusicalBoom reicht das kaum: Die raue „Hedwig“ bleibt eher was für stille Liebhaber, ein Minderheitenprogramm. Aber Tabaluga, diesem schnuckligen Drachen aus dem Kohlenpott, und Kölns glitzerndem DiscoRemake werden die Massen zulaufen; Schaden nehmen sie nicht, ihren Spaß werden sie haben. Nur Wien, weit weg, lohnt keinen müden Schilling. Klaus Umbach d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Kultur MUSEEN „Wieder bei Null anfangen“ Christoph Stölzl, Generaldirektor des Deutschen Historischen Museums, über seinen geplanten Wechsel auf den Chefposten im Feuilleton der Springer-Zeitung „Die Welt“ SPIEGEL: Herr Stölzl, ist alles klar für den Absprung? Stölzl: Wie der Übergang aus einer Beamtenexistenz mit Pensionsberechtigung in die freie Wirtschaft zu regeln ist, wird noch ausgerechnet. Ich erwarte eine positive Entscheidung in den nächsten 14 Tagen. SPIEGEL: Welcher Teufel reitet Sie, aus dem Olymp der Museumswelt in die Niederungen des Journalismus herabzusteigen? Stölzl: So sehe ich das nicht. Als politisch handelnder Kulturmensch habe ich immer gefunden, dass die öffentliche Meinung ein gleichrangiger Dialogpartner ist. SPIEGEL: Wie kam es zu dem Plan? Stölzl: Mt dem jetzigen „Welt“-Chefredakteur Mathias Döpfner hatte ich schon oft über meine Lieblingsthemen Typografie, Layout und Illustration gesprochen. Im Sommer hat er mich gefragt, ob ich mir einen Berufswechsel vorstellen könnte. SPIEGEL: Was vertreibt Sie aus Ihrem jetzigen Amt? Man spricht von Streit mit dem Kultur-Staatsminister Michael Naumann und seinem Referenten Knut Nevermann. Stölzl: Völliger Unsinn. Versuche, auf das Programm des Museums einzuwirken, gibt es jetzt so wenig wie unter der vorigen Regierung. Dazu ist es als GmbH auch viel zu unabhängig konstruiert. Dass Nevermann den Vorsitz im Aufsichtsrat übernommen hat, ändert daran nichts. SPIEGEL: Sie waren Favorit der Regierung Kohl für das Präsidentenamt der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Die Vertreter der Länder haben aber Ihre Berufung verhindert. Wie tief sitzt die Kränkung? Stölzl: Das ist das falsche Wort. Natürlich bin ich über die Politisierung einer Sache, die wahrlich nichts mit Parteipolitik zu tun hat, unglücklich gewesen. Aber schon damals musste ich mich fragen, ob ich vom Deutschen Historischen Museum weggehen kann. Ich bin zu dem Schluss gekommen: Die Weichen sind gestellt, ich brauche kein schlechtes Gewissen zu haben. SPIEGEL: Überdruss am gewohnten Job? Stölzl: Nein. Unsere Planungen gehen mit schönen, interessanten Dingen weiter. Nur ist ein Generalist wie ich eben von der d e r P. MEISSNER / ACTION PRESS Historiker Stölzl, 55, leitete von 1980 bis 1987 das Münchner Stadtmuseum und übernahm dann den Aufbau des Deutschen Historischen Museums in Berlin, das 1990 mit dem DDR-Museum für Deutsche Geschichte vereinigt wurde. Museumsmann Stölzl „Vom Kulturmachen zur Kulturkritik“ Idee verlockt, noch einmal bei Null anzufangen. Sonderbar, dass eine Gesellschaft, die dauernd Veränderungen predigt, ungläubig reagiert, wenn mal einer nicht seine Privilegien aussitzen will, und dass man sich versteift, es müsse ein Knatsch dahinter stecken. Solch ein Geheimnis kann ich nicht bieten. Zugegeben: Das ist in hohem Maße irrational. SPIEGEL: Tatsache ist: Das Museum muss künftig mit weniger Geld auskommen. Stölzl: Das stimmt und schlägt schon sehr zu Buche, spielt aber für meinen Entschluss keine Rolle. Bei uns wird genauso gekürzt wie bei allen anderen. Hätte ich Sorge, dem Haus drohe Gefahr von der rot-grünen Koalition, dann hätte ich gesagt: Das wollen wir doch mal sehen. Nein, jede Bundesregierung wird dieses HauptstadtMuseum nach Kräften fördern. SPIEGEL: Was reizt Sie am Rollenwechsel? Stölzl: Ich spüre große Lust, vom Kulturmachen zur Kulturkritik überzugehen und auch dort mitzureden, wo ich bisher nicht zuständig war. SPIEGEL: Sehen Sie sich vorwiegend als Autor? Stölzl: Nein, eher als Zirkusdirektor. Ich habe einige Erfahrung darin, Menschen und Ideen zusammenzubringen. SPIEGEL: Was soll das Team leisten? Stölzl: Themen finden, die über abgesteckte Spartengrenzen hinausgehen. Ein großes demokratisches Publikum muss witzig und unterhaltend gebildet werden. Außerdem bin ich ein sinnlicher Mensch und finde, Zeitungen sollten auch wunderschön sein. SPIEGEL: Das klingt nach gründlichen Veränderungen bei der „Welt“. Stölzl: Wären die zufrieden mit sich, würden sie kaum nach Seiteneinsteigern Ausschau halten. Interview: Jürgen Hohmeyer s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 331 Kultur NOBELPREIS „Von Shakespeare bis zu mir“ KÖRBER STIFTUNG Ein alter Mann erinnert sich an die Freundschaft zweier junger Männer*. Grass (M.), Reisegefährten**: „Komme soeben aus Weimar“ A ndere Länder haben auch große Dichter. Der Schöpfer des „Ulysses“, James Joyce, wollte mit der Politik nichts zu schaffen haben. Der unpolitische Dichter Knut Hamsun, der unpolitische Dichter Günter Grass, beide Unglückssprecher ihres Landes, wo werden sie heute am meisten gelesen, was wird mit ihrem Nachruhm geschehen? Hier möchte ich eine Anleihe bei dem großen Lyriker Bert Brecht machen: „Wir wissen, dass wir Vorläufige sind und nach uns wird kommen: nichts Nennenswertes.“ * Rudolf Augstein wünscht Günter Grass den geruhsamen, ja glücklichen Höhepunkt des Lebens, um dessen Fortdauer er nur beten kann. ** Rudolf Augstein, Marion Gräfin Dönhoff, Kurt A. Körber bei ihrer Leningrad-Reise 1970. *** Golo Mann („Wallenstein“) hielt sich mit seiner Erzählkunst an die Wirklichkeit – aber auch wieder nicht: Er überhöhte seine Heldenverehrung. 332 Ob der große G. G. eines solchen Gedankens wohl auch nur fähig wäre? „O vanitas vanitatum“, der Prediger Salomo spricht, „alles auf dieser Welt ist eitel.“ Der Günter Grass, den ich kennen lernte, war ein ganz anderer als heute. Bartlos wirkte er irgendwie komisch. Dann sah ich bald die Notwendigkeit eines Schnauzers ein. Keine Oberlippe, Zahngewirr. Damals konnte man mit ihm noch reden. Zufällig hatte ich als Einziges sein Buch „Katz und Maus“ gelesen. Mit ihm im Auto sitzend sagte ich: „Die ,Blechtrommel‘ ist dir gut gelungen. Aber ein Drittel hätte es auch getan.“ Er blieb ganz ruhig und stellte mir eine andere für mich etwas peinliche Frage. Es freut mich, zu zwei Dritteln Recht behalten zu haben, wenn ich mir die Nobel-Artikel anlässlich seines sehnsuchtsvoll erwarteten Preises vorlesen lasse. Man muss nicht zum Kreise der Auserwählten d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 gehören, um sofort zu durchschauen, welche Einschränkung in der Begründung der Nobel-Verleiher steckt. Grass wurde gewählt, weil das größere Deutschland nun einmal wieder dran war. Grass ist ein Pazifist, und hätte man mich aus dem Schlaf gerüttelt und gefragt, wem von allen Deutschen man den Literatur-Nobelpreis zuerkennen sollte, so hätte ich noch halb blind die drei Silben hervorgestammelt: „Günter Grass“. 1966 nannte ich ihn einen „verdienten Sänger des Volkes“. Er sang damals für die gottlose SPD. Aber wie kam ich dazu? Werde ich über irgendein Grasssches Gesamtwerk ein irgend vertretbares Urteil abgeben können? Da ich ja kaum wert gewesen wäre, ihm die Schnürsenkel zu lösen, wie sollte ich ein Urteil über sein Werkchen „Das Treffen in Telgte“ abgeben? Es wurden, so sagte mir Grass damals, im französischen Sprachbereich 28 Exemplare verkauft. Ich hingegen hielt „Telgte“ für ein lebloses Glasperlenspiel in der Art von Hermann Hesse. Das uns heute bekannte Alleswisser-Großmaul samt zugehörigen Wichtigkeitsorden war Grass damals noch nicht. Er schrieb zu Adenauers Tod 1967 einen Zweizeiler, der da lautet: „Welchen Hering wird man nach ihm benennen?“ Das gefiel mir damals. Nur stellte sich heraus, dass er das zehnmal längere Gedicht seinem und meinem engsten Freund Uwe Johnson zur Bearbeitung überlassen hatte. Der strich alles weg, und nur der Hering blieb stehen. (Bert Brechts „Puntila“: „Hering, du Hund“!) Aber ich gerate selbst ins Erzählen, der ich meine wenigen wichtigen Artikel nie im Erzählton formulieren konnte***. Im Nachschlagewerk fand ich den Schlüssel. Ich selbst hatte ja über Grass geschrieben. Er hatte ein Lehrstück über das Volksaufbegehren von 1953 geschrieben, das unter dem Titel „Die Plebejer proben den Aufstand“ 1966 herauskam. Meine Überschrift „William Shakespeare, Bertolt Brecht, Günter Grass“ macht deutlich, dass ich das Schreiben von Theaterstücken nicht für seine größte Stärke hielt. Fazit: Das Stück wollte nicht geschrieben werden. Dabei hätte man einem Vortrag unseres Dichters 1964 entnehmen können, dass große Ereignisse ihre Schatten vorauswarfen. Grass wörtlich: „Von Livius und Plu- LEBECK / STERN / PICTURE PRESS tarch über Shakespeare bis zu Brecht und mir.“ Immerhin er war noch Mensch. In den Weißen Nächten von Leningrad saßen wir 1970 zu dritt und tranken Rotwein, im Angesicht des majestätischen Winterpalais, das zwar 1917, anders als die Legende will, von den Roten nicht gestürmt wurde, dafür aber auf sicherem Grund stand, sagen wir auf 10 000 Totenköpfen. Grass, so fand ich, war Mensch. Grass war immer für die Mühseligen und Beladenen. In Indien und in noch ferneren Regionen. Die ganze Reise verdankten wir einem Ehrenbürger Hamburgs, dem kinderlosen und etwas eitlen Kurt Adolf Körber. Er entwickelte von 1939 bis 1945 Maschinen zur automatischen Zigarettenherstellung. Ich hätte damals in meiner Eigenschaft als Augstein nicht nach Leningrad fahren dürfen, Grass nicht, weil er Berliner war. Wie immer kittete Marion Dönhoff alles. Sie ließ die Gegenseite wissen, entweder keiner käme oder alle. Wir kamen in Moskau an und stellten einen Unterschied zum Westen fest. Nur Verheiratete durften sich ein Zimmer teilen. So streng waren dort die Bräuche, dass man der Nachtwächterin (Deschurnaja) ein zu hohes Trinkgeld hätte hinblättern müssen. Stattdessen gab es viel Geschleiche auf den Gängen. In der Moskauer Metro konnten Günter Grass und ich so viele Menschen zur Übernachtung sehen, dass uns die Zahl von einer Million Schlafgängern nicht übertrieben erschien. Dann im Prachtexpress, wohl noch aus Zarenzeiten, erreichten wir das Venedig des Nordens, eben Leningrad. Hier gab es viel zu sehen und zu staunen, lautes Dröhnen aus den in den Ästen hängenden Laut- Grass mit Ehefrau Ute „Der größte Tänzer ist er allemal“ d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Kultur sprechern erleichterte uns den obligaten Sündermarsch durch den riesengroßen Krieger-Friedhof, wo es dann Erfrischungsgetränke gab. Die zweitägige Sitzung erbrachte einen jener nutzlosen Dialoge, wie die Sowjetmenschen sie damals anscheinend nicht entbehren konnten. Das Kommuniqué lautete: „Friedensfreunde aus der Sowjetunion und der Bundesrepublik trafen sich in Leningrad. Beide Seiten stimmten darin überein, dass der Frieden zu erhalten sei.“ Mir wurde das zu langweilig, ich wanderte zum nächsten Kiosk, wo ich deutsche und englische Zeitungen nicht finden konnte. Nur das „Lützelburger Wort“ fiel mir in die Hände, vermutlich das Zentralorgan der russischen Untergrundarmee in Luxemburg. Ich kehrte an den Konferenztisch zurück, wo Grass und Gräfin Dönhoff mit Hilfe eines Freundes von mir, Professor Jurij Rubinski, heftig stritten. Ein von mir dem „Lützelburger Wort“ entnommenes Zitat aus dem Munde Walter Ulbrichts fruchtete da nicht mehr. Geleitet wurde die Sitzung von einem gebürtigen Wiener Juden, dem spät berufenen Berliner Nikolai Poljanow. „Jelernt is jelernt“, sagte der Sowjetmensch, als ich ihm zur hervorragenden Leitung der Sitzung gratulierte. Die Sehnsucht aller aber richtete sich auf das neue Stadthaus der Leningrader. Hier tanzte der Industrielle Körber mit der stellvertretenden Bürgermeisterin Anna Boikowa, alles in Ordnung also, auch nicht-eheliche Paare durften in einem Zimmer schlafen und, wie uns die Gräfin bedeutete, sich das Frühstück ans Bett bestellen. Ein Mensch bekam gar nichts, aber eine Dreiergruppe war ja eine Delegazija, eine Delegation also, und unsere Stückzahl lag bei elf. Russen wie Nicht-Russinnen schütteten das kostbare Nass in sich hinein, da hieß es: „Der berühmte deutsche Dichter Günter Grass wünscht, an die Versammelten ein Wort zu richten.“ Alle erstarrten. Der neben mir stehende Chefredakteur der satirischen Zeitung „Krokodil“, der vorgab, kein Wort Deutsch zu verstehen, sprach es aber wohl recht gut. Er sagte zu mir: „Ich sehe, die Deutschen sterben nicht aus.“ Grass mit seinem sonoren Bariton nahm die Ohren fast aller Anwesenden in Beschlag. Wenn ich mich nicht sehr irre, begann er mit den Worten: „Komme soeben aus Weimar.“ Wie? Mein Günter ein Wichtigtuer? Das war nun nicht mehr zu leugnen. Durch lautes Klatschen beendete man den wohltuenden Klang seiner Rede. Am nächsten Tag ging es per Luftkissenboot nach Schloss Peterhof. Alles bis ins Kleinste wieder hergezaubert. Den Papagei im Käfig, die Singvögel sangen ein bärenhaft grunzendes Liedchen. Irgendetwas gefiel mir an dem Schloss nicht. Keiner hatte bedacht, dass vor allem die Polen, 334 d e r aber auch die Russen Meister in der Kunst waren, zerstörte Stadtteile wieder aufzubauen (Warschau), und das ganze naturgetreu nachgebaute Schloss Peterhof galt als ein Meisterstück dieser Bausparte. Nach Hause flogen wir über das vor Anker eingepflockte Panzerschiffchen s p i e g e l Bestseller Belletristik 1 (1) Isabel Allende Fortunas Tochter Suhrkamp; 49,80 Mark 2 (3) Elizabeth George Undank ist der Väter Lohn Blanvalet; 49,90 Mark 3 (2) Donna Leon Nobiltà Diogenes; 39,90 Mark 4 (4) John Irving Witwe für ein Jahr Diogenes; 49,90 Mark 5 (5) Henning Mankell Die falsche Fährte Zsolnay; 45 Mark 6 (–) Noah Gordon Der Medicus von Saragossa Blessing; 48 Mark Das erste Mal auf der Liste: die Geschichte eines heimlichen Juden, der im Spanien des Spätmittelalters vor der Inquisition flieht 7 (7) Henning Mankell Die fünfte Frau Zsolnay; 39,80 Mark 8 (6) Günter Grass Mein Jahrhundert Steidl; 48 Mark 9 (10) Nicholas Sparks Zeit im Wind Heyne; 32 Mark 10 (–) Marianne Fredriksson Maria Magdalena W. Krüger; 39,80 Mark 11 (9) Walter Moers Die 131/2 Leben des Käpt’n Blaubär Eichborn; 49,80 Mark 12 (11) Martha Grimes Die Frau im Pelzmantel Goldmann; 44 Mark 13 (8) Johannes Mario Simmel Liebe ist die letzte Brücke Droemer; 44,90 Mark 14 (15) Siegfried Lenz Arnes Nachlass Hoffmann und Campe; 29,90 Mark 15 (–) Stephen King Atlantis Heyne; 44 Mark 4 1 / 1 9 9 9 „Aurora“, das der Legende nach die Revolution einleitete. Der dritte Mann am Rotweintisch neben Grass und mir war Peter Bender gewesen, ein humoriger Russlandkenner. Ich hoffe, er lebt noch. Von Professor Rubinski weiß ich nur, dass er seine große Heimat verriet Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin „Buchreport“ Sachbücher 1 (2) Marcel Reich-Ranicki Mein Leben DVA; 49,80 Mark Das erste Mal auf Platz eins: die ergreifende Autobiografie des Star-Kritikers 2 (1) Sigrid Damm Christiane und Goethe Insel; 49,80 Mark 3 (3) Waris Dirie Wüstenblume Schneekluth; 39,80 Mark 4 (4) Corinne Hofmann Die weiße Massai A1; 39,80 Mark 5 (5) Dale Carnegie Sorge dich nicht, lebe! Scherz; 46 Mark 6 (7) Ruth Picardie Es wird mir fehlen, das Leben Wunderlich; 29,80 Mark 7 (6) Tahar Ben Jelloun Papa, was ist ein Fremder? Rowohlt Berlin; 29,80 Mark 8 (8) Klaus Bednarz Ballade vom Baikalsee Europa; 39,80 Mark 9 (9) Bodo Schäfer Der Weg zur finanziellen Freiheit Campus; 39,80 Mark 10 (10) Daniel Goeudevert Mit Träumen beginnt die Realität Rowohlt Berlin; 39,80 Mark 11 (11) Jon Krakauer In eisige Höhen Malik; 39,80 Mark 12 (15) Peter Kelder Die Fünf „Tibeter“ Integral; 22 Mark 13 (14) Ulrich Wickert Vom Glück, Franzose zu sein Hoffmann und Campe; 36 Mark 14 (12) Günter Ogger Macher im Machtrausch Droemer; 39,90 Mark 15 (13) Guido Knopp Kanzler – Die Mächtigen der Republik C. Bertelsmann; 46,90 Mark d e r und lange Zeit in Paris lebte. Selbst die Gräfin konnte ihn nicht nach Hamburg schaffen, die strengen Devisengesetze standen dem entgegen. Freilich, wenn ich an die Zeit denke, da der heutige Tischtuchdurchschneider Günter Grass noch mein junger Freund war, habe ich nur noch in Erinnerung, dass der Dichter Grass meinen geliebten Tango hervorragend tanzte, besser als alle anderen, von mir ganz zu schweigen, der ich ein Stümper auf dem Parkett war. Das schmerzte. Ein Teilnehmer tröstete mich: „Ob er ein großer Dichter werden wird, kann niemand wissen, aber der größte Tänzer unter uns ist er allemal.“ Das übertrug sich auch auf seine Stimme. Grass verstand es, jeden Mist so vorzutragen, dass er aller Zuhörer Ohren in seinen Bann schlug. Und das mir, der ja noch heute besser singen kann als Grass. Meine Frau und ich waren einmal in sein Haus nach Wewelsfleth eingeladen. Er kochte besser als all unsere Fernsehköche von Clemens Wilmenrod bis Alfred Biolek. Er gab uns fünf Radierungen mit auf den Heimweg, nach zwei Tagen tauchte eine Rechnung über 15 000 Mark auf. Wir schickten zwei davon zurück, bezahlten aber für die drei anderen die gebührenden 9000 Mark. Ersprießlich war das nicht. Früher war ich bei einem Dentisten, der mir vorhielt, er leiste 40 Jahre Dienst am deutschen Zahn. Solches Lob merkt man sich. Ich erblindete nicht durch die Lektüre der in 16 Bänden versammelten Gesamtwerke meines stimmlichen Konkurrenten. Teils konnte, teils wollte ich sie nicht mehr lesen. Da ich aber regelmäßiger „Bild“-Leser bin, weiß ich auch kein Schlusswort für meine heiteren Erlebnisse mit G. G.. Ich muss betrübt zur Kenntnis nehmen, dass er mich im Schimpfen nun gewaltig überragt. Wo ich, der einen derberen Beruf hat, gelegentlich einem Störenfried (Horst Tomayer) zurief: „Halt’s Maul, du Arsch“, da gibt es unser Großmeister dem wendigen Lafontaine sogar schriftlich: „Halt’s Maul! Trink deinen Rotwein!“ Wie weiland drei junge Leute in den Weißen Nächten von St. Petersburg. So kommt man in die Hundejahre. Aus dem Innensenator Helmut Schmidt, der die zu Gunsten des Gefangenen Augstein zum Untersuchungsgefängnis strebenden Massen abfing und vorsichtig umleitete, wurde, so meint jedenfalls Klaus Podak in der „Süddeutschen Zeitung“, einer der beiden zuverlässigsten Besserwisser der Nation. Schmidt steht hier nicht in Rede. Ohne ihn hätte der Praeceptor Germaniae die Krone des größten Besserwissers ohne weitere Konkurrenz in Anspruch nehmen können. Wer ist nun Günter Grass? Ein großartiger Erzähler in einem immer breiter aufgeblasenen Großmaul. ™ s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 335 Werbeseite Werbeseite Wissenschaft Prisma MEDIZIN Falsche Therapie von Magengeschwüren V U M W E LT Rätselhaftes Lachssterben D ie Zahl der atlantischen Wildlachse, die zum Laichen in die Flüsse und Ströme Nordamerikas zurückkehren, ist in den letzten Jahren dramatisch gesunken. Wanderten Mitte der siebziger Jahre noch 800 000 Wildlachse jährlich von ihren Fressgründen im Nordatlantik stromaufwärts zu den Laichplätzen etwa des Miramichi River in New Brunswick, so war diese Zahl im letzten Jahr auf etwa 80 000 gesunken. Die Ursachen für das Verschwinden der Wildlachse sind weithin rätselhaft. Der kommerzielle Lachsfang vor Grönland und den Küsten Nordamerikas wurde schon vor Jahren nach einem internationalen Abkommen eingestellt; der Rückgang der Lachse hält trotzdem unvermindert an. Nun vermuten Experten, die Erwärmung des Nordatlantiks im Zuge der weltweit steigenden Durchschnittstemperaturen könne die Edelfische dezimieren. Doch auch natürliche Räuber setzen ihnen möglicherweise zu: Tierschützer hegen mit besonderer Hingabe Kegelrobben, ihre Zahl nimmt deshalb jährlich um etwa acht Prozent zu. Für den LachsSchützer Bill Taylor, Präsident der Atlantic Salmon Federation, steht nur eines fest: „Irgendetwas Schreckliches passiert da.“ Einsatz der Elektrode AU T O M O B I L E Strom gegen Schadstoffe Abgase vom Motor Katalysator Motor E Auspuff Katalysator ine neue Technik zur Elektrode noch wirkungsvolleren Auspuffrohr Entgiftung von Autoabgasen entwickelte der Elektronikhersteller Litex Schalldämpfer in Westlake Village, Kalifornien. Eine vor dem Katalysator ins Auspuffrohr geschraubte Elektrode baut im Abgasstrom ein elektrisches Feld auf. Die dadurch angeregten Schadstoffteile verhalten sich im Kat deutlich reaktionsfreudiger und lassen sich deshalb besser in ungiftiges Kohlendioxid umwandeln. Litex verspricht eine Reduktion von Stickoxiden um 50 Prozent und von Kohlenmonoxid um 80 Prozent gegenüber derzeitigen Kat-Systemen. Das Bauteil, das derzeit von verschiedenen Automobilherstellern erprobt wird, soll im nächsten Jahr serienreif sein. Die Kosten pro Fahrzeug schätzt Litex auf 190 Mark. d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 AP SPL / AGENTUR FOCUS or 16 Jahren erkannten australische Ärzte, dass Bakterien vom Typ Helicobacter pylori für die meisten Magen- und Zwölffingerdarmgeschwüre verantwortlich sind. Seit knapp einem Jahrzehnt gilt die Bekämpfung dieser Erreger mit Hilfe von Antibiotika als anerkannte, auf Dauer wirksame und kostengünstige Therapie dieser Leiden. Deutschlands Allgemeinärzte und Internisten jedoch, so eine Studie des Frankfurter Instituts für medizinische Statistik, wenden diese Therapie nur bei jedem vierten bis sechsten in Frage kommenden Patienten an. Rund zwei Drittel der Ärzte halten sich nicht an die Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten, die eine nur eine Woche dauernde Behandlung mit drei unterschiedlichen Medikamenten vorschlägt. Die Mediziner scheinen überholte Behandlungsformen vorzuziehen: Diese garantieren ihnen, dass die Patienten mit ihren Magenbeschwerden immer wieder kommen. Helicobacter pylori Werbeträger Rakete (Fotomontage) R AU M FA H R T Auftrieb mit Pizza N eun Meter hoch wird das Emblem der amerikanischen Fastfood-Kette „Pizza Hut“ auf der Proton-Trägerrakete prangen, die ein Kernstück der Internationalen Raumstation in die Umlaufbahn hieven soll. Die Auftraggeber lassen sich die kurzlebige Werbung etwa 2,5 Millionen Dollar kosten, willkommener Auftrieb für Russlands Not leidende Raumfahrtindustrie. Nicht zuletzt aus Geldmangel hat sich der ursprünglich für April 1999 geplante und zuletzt für Mitte November vorgesehene Start erneut verzögert. Jetzt soll die Proton mit der PizzaReklame nicht vor Weihnachten abheben. Die Pizza-Manager erhoffen sich ausreichende Werbewirksamkeit von den Minuten auf der Rampe vor dem Start und der ersten Flugphase. Denn der Raketenteil mit dem Symbol wird vor dem Erreichen der Umlaufbahn abgetrennt und verglüht dann in der Atmosphäre. 337 Computer R. FROMMANN / LAIF Prisma Linux-Fachmann Dalheimer S O F T WA R E Lebenszweck Spaß Matthias Kalle Dalheimer, 29, ist einer der Programmierer, die das kostenlose Betriebssystem Linux entwickeln. Während er und seine Kollegen kaum daran verdienen, wurden die Teilhaber des Linux-Händlers „Red Hat“ zu Millionären. SPIEGEL: Ärgern Sie sich darüber, dass andere aus Ihren Ideen Kapital schlagen? Dalheimer: Für manche ist das Anhäufen von Reichtümern eben der einzige Lebenszweck. Für mich ist viel interessanter, dass ich Spaß an der Arbeit habe. Wenn ich mir überlege, was die Distributoren machen: Das Ganze in Schachteln packen und verschicken – das ist doch sterbenslangweilig. SPIEGEL: Und wovon leben Sie jetzt? Dalheimer: Ich programmiere nicht nur unentgeltlich, sondern auch im Auftrag von Firmen. SPIEGEL: Warum programmieren Sie dann auch noch ohne Bezahlung? Dalheimer: Ich bin Zeit meines Lebens linker Sozialdemokrat gewesen. Ich war schon immer der Meinung, dass man der Gesellschaft so viel wie möglich zurückgeben sollte. SPIEGEL: Fürchten Sie nicht, dass der Kommerz die Idee von Linux und freier Software untergräbt? Dalheimer: Der Spaß hört natürlich auf, wenn sich jemand meine Software nimmt und mir mit meinen eigenen Programmen Konkurrenz macht. Aber wir in der Linux-Szene gehen davon aus, dass uns die Lizenzen davor schützen. Bis jetzt sind diese allerdings noch von keinem Gericht geprüft worden. Was mich mehr stört als ein paar Leute, die bei „Red Hat“ reich geworden sind, ist ein gewisser Schlag Anwender. Die stellen immer nur Forderungen und geben nichts zurück. SPIEGEL: Sie programmieren in der Freizeit und für Ihren Lebensunterhalt. Gehen Sie auch mal nach draußen? Dalheimer: Ich arbeite um die 90 Stunden die Woche. Aber seitdem ich vor sechs Wochen nach Schweden ausgewandert bin, brauche ich nur den Kopf vom Monitor um 30 Grad nach links zu drehen, sehe den Wald, und abends kommen sogar Elche vorbei. RECHNER Superflache Mini-PC D er Trend zum Mini-PC hält an. Während Apple mit dem iBook kürzlich noch einen 3-Kilo-Laptop vorstellte, setzen andere Hersteller auf superflache Sub-Notebooks. PC aus Sonys Vaio-Reihe beispielsweise wiegen nur noch rund 1,5 Kilo. Mit dem „ThinkPad 240“ legt jetzt auch IBM ein Sub-Notebook vor: 25 Millimeter dünn, 1300 Gramm leicht und von einem 300 Megahertz Celeron-Prozessor angetrieben. Integriert sind ein leuchtstarker AktivMatrix-Bildschirm (Auflösung 800 mal 600 Punkte), eine vollwertige Tastatur und ein schnelles Modem. Nur der Preis ist bleiern: Das Modell erleichtert den Käufer um 5200 Mark. Szene aus der Lernsoftware „Physikus“ LERNPROGRAMME Abenteuer Stromkreis K. BERNSTEIN / DER SPIEGEL W Sub-Notebook „ThinkPad 240“ 338 as tun, wenn ein Meteor die rotierende Erde zum Stillstand bringt? Wenn auf der einen Erdseite fortan ständig die Sonne brennt und auf der anderen Dauerfrost herrscht? Wo fade Schulbücher und laue Versuche versagten, versucht jetzt der Schulbuchverlag Klett mit dem Lernabenteuer „Physikus“ (CD-Rom für Windows und Mac) das Interesse am Fach Physik zu wecken. Als Retter der Welt müssen d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Schüler so lange Linsen fokussieren, elektrische Widerstände berechnen und Gewichte austarieren, bis drei Transformatoren die erforderliche Spannung für eine Impulskanone bereitstellen. Denn nur die Kanone kann die Erde wieder in Schwung bringen. Für besonders knifflige Fälle steht in „Physikus“ eine liebevoll animierte Lehrbuchhilfe zur Verfügung. Und wem die Rätsel zu schwer sind, der wird sich über die exzellenten 3-D-Landschaften im Stil des Abenteuer-Klassikers „Myst“ freuen. www.physikus.de Werbeseite Werbeseite Wissenschaft TOURISMUS Urlauber im Höllenpfuhl Eine US-Firma bietet Exklusiv-Trips zu den letzten unerschlossenen Winkeln der Erde. Vergangene Woche brachte sie erstmals 16 Touristen zu den „Schwarzen Rauchern“ am Tiefseegrund. Für 19 000 Dollar durften sie sechs Stunden lang Krebse, Steine und Qualm bestaunen. „Schwarzer Raucher“ auf dem Grund des Atlantiks: Auch wer überall schon war, war hier noch nie L ichtfinger geistern durch die Finsternis auf dem Grund des Atlantiks. In ihrem schwachen Schein ragen hie und da steinerne Kamine auf, aus denen schwarzer Qualm pufft: brühheißer, stinkender Schwefelwasserstoff, der im eisigen Meerwasser sofort ausflockt und als schwarzer Schnee ringsum niedersinkt. In dieser Unterwelt würde der Teufel weniger auffallen als die zwei kleinen UBoote, die zwischen den Schloten herumschweben und mit ihren Scheinwerfern die Szene ausleuchten. Aus den Bullaugen lugen begeisterte Gesichter, es wird eifrig geknipst: Der Tourismus hat den Höllenpfuhl erreicht. Die Passagiere in den Kapseln erleben den exklusivsten Trip, der heute für Geld zu haben ist. Knapp 35 000 Mark kostet die Tauchfahrt zu den Heißwasserschlünden, den „Schwarzen Rauchern“, in der Nähe der Azoren. Fast zweieinhalb Kilometer geht es hinab unter den Meeresspiegel. Auch wer überall schon war, war hier noch nie. 340 Die US-Firma Zegrahm in Seattle hat das Spektakel veranstaltet. Sie ist spezialisiert auf Pauschaltouren in extremes Gelände. In diesem Geschäft heißt es findig sein. Die Kundschaft ruft stets nach neuen Attraktionen. Die höchsten Berge, die Wüsten und die Pole sind schon von gestern. Jetzt ist die Tiefsee fällig. Vergangene Woche schifften sich erstmals 16 Urlauber ein – acht Männer, acht Frauen. Sie kommen aus den USA, den Niederlanden, aus Großbritannien und Australien. Es sind großteils Geschäftsleute im Ruhestand, aber auch Unternehmer wie der Texaner Richard Garriott, 39, der mit der Computerspielefirma Origin zu Reichtum gekommen ist. Die Reise buchte er zusammen mit seinem Vater, einem pensionierten Skylab-Astronauten. Das russische Forschungsschiff „Akademik Keldysch“ brachte die Gesellschaft von der Azoreninsel São Miguel aufs offene Meer. An Bord: die zwei kleinen UBoote Mir 1 und Mir 2, jedes bietet Platz für zwei Passagiere und einen Piloten. d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 WOODS HOLE Vor den Tauchgängen bereitet der Schiffskoch den Reisenden eine spezielle Diät, arm an Flüssigkeit und Ballaststoffen, denn in den Kapseln ist kein Platz für Toiletten. Im äußersten Notfall müssen Pinkelflaschen und ein verschließbares Eimerchen reichen. Sobald sie an der Reihe sind, packen die Touristen tapfer ihre Kameras ein, dazu Wollmützen und Handschuhe gegen die Kälte, und ab geht es in die Tiefe. Zwei Stunden dauert der Sinkflug, vier bis sechs Stunden bleiben dann für die Erkundung der ewigen Finsternis. Der Tiefseeboden freilich ist ein touristisch denkbar unattraktiver Ort. Kilometerweit dehnt sich leblose Ödnis aus. Deshalb steuern die Untersee-Shuttles die Oasen in dieser Wüste an. Sie liegen entlang den Mittelozeanischen Rücken, gewaltigen Gebirgszügen, die sich durch die Weltmeere ziehen. Es sind die Nähte, an denen die Platten der Erdkruste auseinander streben; im Mittelatlantik etwa so langsam, wie ein Fingernagel wächst. ZEGRAHM Ozeanograf Walsh Weltrekord im Tieftauchen das ausgerechnet im Umkreis der heißen Schlünde gedeiht: Muscheln und Seesterne, rosa Krebse ohne Augen und schneeweiße Aale. Mehr als 300 Arten sind mit bloßem Auge zu erkennen. Trotzdem könnte sich manch einer fragen, ob sechs Stunden Blick auf Krebse, Steine und Qualm den Preis eines Mittelklassewagens rechtfertigen. Die Veranstalter haben die Reisenden auf der „Akademik Keldysch“ deshalb behutsam darauf vorbereitet, dass das Spektakulärste das ist, was sie nicht sehen können. Tiefseeforscher, die während der Reise ihrer Arbeit nachgehen, unterrichten zwischen den Tauchgängen die Gäste. Einer von ihnen ist der Ozeanograf Don Walsh, der seit 1960 den Weltrekord im Tieftauchen hält. Damals hatte er mit dem Tauchboot „Trieste“ im Marianengraben eine Tiefe von 10 916 Metern erreicht. Die Fortbildung weiht die U-Boot vom Typ Mir: Sinkflug in die Unterwelt Globetrotter ein in ein Naturschauspiel, das, wenngleich unsichtbar, gab, aber reichlich Schwefelwasserstoff, doch kosmische Tragweite habe. könnten in einem solchen Milieu die ersten Zu Abermillionen hausen nämlich Mi- Organismen entstanden sein. kroben wie Methanopyrus („MethanfeuÄhnliche Bedingungen, so wird den Tiefer“) und Pyrococcus furiosus („Rasendes see-Touristen versichert, herrschen auch Feuerkorn“) im porösen Gestein der Schlo- anderswo im All. Der Jupitermond Europa te. Sie ertragen Temperaturen von mehr birgt unter seinem Eispanzer wahrscheinals 100 Grad Celsius, und ihr Stoffwechsel lich einen Ozean. Auch Schwefel dürfte benötigt weder Sauerstoff noch Son- auf diesem Himmelskörper in großen Mennenlicht. Sie leben von den Schwefelver- gen vorkommen; darauf lassen jüngste Aufbindungen im heißen Wasser, die für an- nahmen der Raumsonde Galileo schließen. dere Lebewesen hochgiftig sind. Einige Und wo Schwefel ist, sind vielleicht auch zählen zu den Bakterien, die meisten Schwefelfresser zur Stelle. aber zu den Archäen, jenem noch rätselDie Belehrungen, gepaart mit mancherhaften Reich von Einzellern, auf das die lei Annehmlichkeiten, steigern das Erlebnis Forscher erst vor rund 20 Jahren aufmerk- beträchtlich. Neben 17 Labors und einer sam wurden. Bibliothek beherbergt das Schiff des MosDie winzigen Schwefelfresser bilden die kauer Schirschow-Instituts für OzeanograGrundlage der reichen Fauna. Von ihnen fie auch noch ein Schwimmbad und eine profitieren zum Beispiel die unzähligen, Sauna. Die Abenteurer, die hier einquaroft meterlangen Röhrenwürmer, die in wal- tiert sind, wissen es zu schätzen, dass Zeglenden Büscheln auf dem Gestein siedeln. rahm bei allem Pionierwesen den Komfort Die Würmer haben weder Maul noch Ma- nicht vergisst. gen; in ihren Körpern hausen Schwefel„Einige Reisende waren schon mehrmals bakterien, die mit Hilfe des Giftes aus den mit uns auf Tour“, sagt Scott Fitzsimmons, Schloten Nährstoffe gewinnen. ein Sprecher der Firma. Kaum eine UnterWie die Einzeller mit der Hitze fertig nehmung dauert länger als eine Woche; werden, ist noch weitgehend unbekannt. auch die Tauchfahrt ist in elf Tagen geGesichert ist nur, dass sie bei Temperatu- schafft. Das kommt der Ungeduld einer ren unter 80 Grad ihr Wachstum einstellen, wachsenden Anzahl von Kunden entgegen. bis es wieder gemütlich brodelt. „Die sammeln neue Erfahrungen wie Viele Experten vermuten in solchen Trophäen.“ Geysiren der Tiefsee den Ursprung des LeZegrahm erweitert deshalb zügig das bens. Vor Milliarden von Jahren, als es in Angebot. Mitte September erst hat eine der Atmosphäre noch keinen Sauerstoff Reisegruppe die versunkene „Titanic“ in P. P. SHIRSHOV INSTITUTE Unablässig quillt dort Lava aus dem Erdinneren nach und erstarrt zu neuer Kruste. Meerwasser versickert in tiefen Spalten und Rissen, wird von der Glut des Magmas erhitzt bis auf 400 Grad und schießt wieder empor. Dabei reißt das Wasser allerhand Metallsalze und andere Minerale aus dem Gestein mit sich. Wo das kochende Gemisch aus dem Meeresgrund brodelt, wachsen Erzschlote heran, die oft die Höhe eines dreistöckigen Hauses erreichen. Die Tauchboote fahren bis auf zwei, drei Meter an die Kamine heran. Im Licht der Scheinwerfer zeigt sich, dass die Erde nicht nur schwarzen Auswurf speit. Vielfarbene Steingärten gleiten vorüber. Glitzernder Schwefelkies, auch Katzengold genannt, ist zu sehen, Zinkblende, Manganoxide, bunte Kupfersulfide, Eisenglanz und andere Erze aus der Tiefe der Erdkruste. In den letzten 20 Jahren wurden immer neue Ansammlungen von „Schwarzen Rauchern“ in der Tiefsee entdeckt. Es gibt Regionen, in denen sie Millionen Tonnen von Erzen abgelagert haben; manche Schlote fördern einen Zentner pro Sekunde. Mehr noch bezaubert die Touristen in den Tauchkapseln das wimmelnde Leben, d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 341 Wissenschaft PLANET EARTH erste, bei der die Touristen gleich mit von der Partie sind. „Unsere Kunden fordern uns“, sagt Fitzsimmons. Manche plage schon die Sorge, „dass ihnen auf Erden bald die Orte ausgehen, wo sie noch hinkönnten“. Der Software-Unternehmer Richard Garriott zum Beispiel war schon am Südpol und nun auch in der Tiefsee: „Jetzt bleibt mir nur noch der Weg nach oben.“ Ist damit der Weltraum das nächste große Ziel? Zegrahm verkauft schon die Tickets. Die nötigen Verkehrsmittel gibt es noch nicht, aber etliche Unternehmen arbeiten daran, darunter die US-Firma Vela. Sie hat einen Raumgleiter entwickelt, der von einem Flugzeug aus starten und dann in einer Höhe von 100 Kilometern die Erde umkreisen soll. Wenn nichts dazwischenkommt, könnten gegen Ende des Jahres 2002 die ersten Touristen ins All geschossen werden. Experten sind skeptisch, die Kundschaft nicht. 30 Unentwegte, meldet Zegrahm, haben schon den vollen Fahrpreis von 178 000 Mark hinterlegt. Röhrenwürmer in der Nähe eines „Schwarzen Rauchers“: Oasen auf dem Meeresboden 3775 Meter Tiefe beäugt. Im kommenden Frühjahr geht es hinab zum tadellos erhaltenen Wrack des britischen Schiffes „Breadalbane“, das Mitte des vergangenen Jahrhunderts in der arktischen See vor Kanada unterging. Und 2001 will Zegrahm womöglich die erste Tauchfahrt zum Nord- pol wagen. Seit Jahrzehnten, so beteuert Fitzsimmons, hätten die Pioniere diesen magischen Punkt verfehlt. Denn genau genommen liege er nicht im ewigen Eis, sondern vier Kilometer tiefer: auf dem Grund des Nordpolarmeers. Und da war noch nie wer. Diese Eroberung wäre nebenbei die Manfred Dworschak MEDIZIN Warten und hoffen Bisher starben 48 Menschen am Rinderwahn: der Beginn einer Epidemie? Auf einer Tagung in Tübingen diskutierten Forscher darüber. Noch wagen sie keine Prognosen. Doch die Befürchtung wächst, dass Großbritannien eine Katastrophe bevorstehen könnte. W SZENARIO 1 Wellen des Todes BSE-Epidemie und menschliche Opfer insgesamt 80 000 36 682 35 000 Todesfälle bei pessimistischer Schätzung diagnostizierte 30 000 BSE-Fälle CreutzfeldtJakobTodesfälle 16 25 000 20 000 15 000 10 000 5000 2184 Der Londoner Epidemiologe Simon Cousens versuchte, die zu erwartende Zahl menschlicher Opfer vorherzusagen. Doch abhängig von den Annahmen vor allem über die Inkubationszeit der Krankheit kommt es zu extrem unterschiedlichen Szenarien. SZENARIO 2 Hirn-Präparierung in Edinburgh, Tomogramm von nvCJK-Patient: Löcher im Nervengewebe d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 100 Todesfälle bei optimistischer Schätzung 10 10 3 * 7 Todesfälle und 7 Erkrankte bis 21. September 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 werden sterben? Die jüngsten Zahlen der Opfer, die der britische Experte Robert Will aus Edinburgh kürzlich auf einer Tagung in Tübingen verkündete, geben keine Auskunft darüber (siehe Grafik). Warten und hoffen heißt die Devise. „Was die Zahl der zu erwartenden Toten betrifft, tappen wir immer noch ziemlich im Dunkeln“, so der Londoner Epidemiologe Simon Cousens, der mehrfach ver- insgesamt ?* 0 FOTOS: SPL enn das keine Epidemie gibt, haben wir einfach Glück gehabt.“ Und wenn das Glück ausbleibt? Was das bedeuten würde, mag sich Hans Kretzschmar, Neuropathologe an der Universität Göttingen, lieber nicht ausmalen. Glück – das hieße immer noch, dass rund hundert Menschen am Rinderwahn sterben werden. Doch es könnte weit schlimmer kommen: „Es kann durchaus sein, dass hunderttausende oder sogar Millionen Rindfleischesser krank werden“, gestand der Chefmediziner der britischen Regierung, Liam Donaldson, vor kurzem. Das ist Glasnost auf der Insel der wahnsinnigen Weidetiere. Zwar werden zur öffentlichen Beruhigung Rinderkadaver in Öfen geschoben, ansonsten aber wiegelte man bisher ab. Ein hoher britischer Politiker ließ seine Tochter sogar vor laufenden Fernsehkameras Hamburger futtern – als Beweis dafür, wie unbedenklich British Beef sei. Noch immer wagen die Experten keine Prognosen darüber, was die Menschheit erwartet. Nur so viel ist sicher: Eine neue unheilbare und tödliche Krankheit hat den Menschen befallen. Auch der Infektionsweg ist unstrittig: der Verzehr von Rind. Doch in wie vielen Menschen mögen die unheilvollen Erreger stecken? Wie viele Quelle: MAFF; Department of Health sucht hat, das bevorstehende Szenario mit Hilfe statistischer Methoden zu errechnen. Unsicher macht ihn vor allem, dass derzeit niemand weiß, wie lange der Erreger des Rinderwahns im Menschen schlummert, bevor er sein Zerstörungswerk beginnt – wie lang also die Inkubationszeit der neuen Krankheit ist. Sie ist entscheidend dafür, ob die bisherigen Todesfälle bereits das gesamte Ausmaß der Epidemie unter den Menschen erkennen lassen – oder ob sie nur Vorboten einer Katastrophe sind. „Das wird frühestens im Jahr 2002 sicher feststehen“, vermutet der BSE-Experte Charles Weissmann. Gut zehn Jahre nachdem die ersten Rinder daran zu Grunde gegangen waren, dass Prionen, bestimmte Eiweiße, ihr Gehirn in einen Schwamm verwandelten, starb 1995 der erste Mensch an der gleichen Krankheit. Den Eltern von Stephen Churchill war aufgefallen, dass ihr Sohn extrem müde und abwesend wirkte. Seine Konzentration und sein Gedächtnis verschlechterten sich Woche um Woche. Knapp ein Jahr später war der 19-Jährige tot. Der Befund der Pathologen: Stephens Hirn war durchlöchert wie das einer an BSE verendeten Kuh. Zwar sterben Menschen seit langem an durchlöcherten Gehirnen. Die Neurologen 343 SOUTH WEST NEWS SERVICE BULLS PRESS / EXPRESS NEWSPAPER ACTION PRESS lässt es sich schließlich in feine Scheibchen schneiden. Farbstoffe wie Hämatoxylin und Eosin offenbaren letztlich, ob hier eine neurodegenerative Erkrankung ihr dämonisches Werk verrichtet hat; Antikörper entlarven die Krankheitserreger. Inzwischen, meint die Neurologin Zerr, erlauben es moderne Methoden, die Anzeichen von nvCJK auch beim Lebenden schon recht zuverlässig zu erkennen. Gelänge es, auf diese Weise die Zahl der Erkrankten zu ermitteln, so würde dies den Epidemiologen einen weiteren Blick in die Zukunft des Verbrennung eines Rinderkadavers in Großbritannien: Wie lange schlummert der Erreger? Seuchenzugs ermöglichen. Bisher allerdings scheuten sich die BriHans-Gerhard Creutzfeldt und Alfons Ja- ben, sei es durchaus wahrscheinlich, dass kob haben in den zwanziger Jahren dieses die Zahlen in den kommenden Jahren ten, die Zahl der Kranken zu publizieren. Jahrhunderts erstmals solche schwamm- „dramatisch steigen“. „Auch bei BSE gab „Wahrscheinlich will man die Pferde nicht artigen Veränderungen an Menschenhirnen es in den ersten Jahren nur einzelne Fälle, scheu machen“, vermutet Zerr. So wurde beschrieben. Doch die tödliche und bis heu- und dann sind die Zahlen plötzlich hoch- es von ihr und ihren Kollegen als Zeichen te unheilbare Creutzfeldt-Jakob-Krankheit gegangen“, unterstreicht Inga Zerr, Neu- größerer Offenheit gewertet, dass Will, der Leiter der Edinburgher CJK-Überwa(CJK) hat immer nur alte Leute getroffen. rologin an der Universität Göttingen. Von 1995 bis 1998 stieg die Zahl der jähr- chungsstelle, ihnen in Tübingen erstmals Und sie ist schmerzlos wie kurz: Binnen fünf Monaten rafft sie ihre Opfer dahin. lichen Opfer von 3 auf 16. In diesem Jahr einen Blick in die bislang verdeckten KarAus agilen, gesunden Menschen werden gibt es erstmals zaghafte Anzeichen für ten erlaubte: Derzeit sei die Krankheit bei körperliche und geistige Wracks; sie zittern eine Stagnation: Bis Ende September fielen sieben weiteren Menschen ausgebrochen. Sorgsam von der Öffentlichkeit abgeund zucken und erkennen schließlich nicht sieben Menschen dem Rinderwahn zum Opfer. Hoffnungsbotschaft oder nur kurze schirmt, bemühen sich britische Fachleute einmal mehr ihre engsten Vertrauten. schon seit Jahren eifrig darum, die Zahl Noch böser aber ist der Rinderwahn, Erholungspause? Eine Prognose für die nächsten Jahre der Kranken genau ins Visier zu bekomwenn er den Menschen befällt. Er greift sich vor allem die Jungen, und er quält sie fällt schwer, auch deshalb, weil eine zwei- men: Beim kleinsten Verdacht im entlelänger: 14 Monate dauert es im Durch- felsfreie Diagnose zu Lebzeiten bis heute gensten Zipfel der Britischen Inseln rücken schnitt, bis der Tod den Leidenden erlöst. nicht möglich ist. Erst der Blick in den Experten von der staatlichen CJK-ÜberDass es sich bei der neuen Krankheit Schädel der Toten offenbart die letzte Ge- wachungsstelle an, um den Fall in Augenschein zu nehmen. um die Rinderseuche BSE handelt und wissheit: Rinderwahn. Die Diagnose erfordert eine Monate Als verdächtig gilt jeder, der sich plötznicht etwa um eine „neue Variante der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit“, wie ihr währende Prozedur. „Den Toten wird lich nicht mehr in seiner Umgebung zuName nvCJK glauben machen will, gilt in zunächst das ganze Gehirn entnommen“, rechtfindet und der sein Gedächtnis binnen Fachkreisen inzwischen als sicher. „Die Er- erzählt Kretzschmar. „Dann liegt es zwei weniger Wochen verliert. „Alzheimer und reger von BSE und nvCJK sind allen Tests bis drei Wochen lang in Formalin. So ein Parkinson verlaufen sehr viel schleichenGehirn wiegt ja etwa 1500 Gramm. Bis es der“, erläutert Zerr. zufolge identisch“, sagt Cousens. Die Spezialisten aus Edinburgh untersuWie bei einem am Wahnsinn verendeten vollständig fixiert ist, das dauert.“ Modrig-grau verfärbt, wird das Denk- chen erst die Rückenmarkflüssigkeit desRind ist das Gehirn eines nvCJK-Toten voll von krankhaften Prion-Proteinen. Sie wu- organ schließlich in eine gallertartige Mas- jenigen, der von Prionen befallen scheint. chern als blütenförmige Gebilde zwischen se eingelegt, in Blöckchen zerteilt und in Dort finden sich bei CJK-Opfern Eiweiße, seinen Denkzellen; Löcher klaffen im Ner- Alkohol gebadet. Eingebettet in Paraffin, die von sterbenden Nervenzellen freigesetzt werden. Weil bei keiner anderen vengewebe. Schon auf den ersten Erkrankung des Hirns ein ähnlich Blick wird selbst einem Laien klar: massiver Zellschwund einsetzt, gelten So ein Hirn kann nicht mehr richtig diese Eiweiße als untrügliches Indiz. funktionieren. Elektroenzephalogramm und KernViele Opfer hat diese Variante des spintomogramm liefern weitere InHirnschwamms bislang nicht geforformationen: Die Hirnstromwellen dert: genau 48, allesamt binnen der und das Lochmuster im Nervengeweletzten fünf Jahre. 46 von ihnen starbe sind bei CJK und nvCJK unterben im Vaterland des Rumpsteaks, ein schiedlich. Deshalb lassen sich beide Opfer stammt aus Frankreich, eines Krankheitsbilder recht gut voneinanaus Irland. der abgrenzen. Zerr: „Alles zusamEs sei aber ein gefährlicher Irrtum, men liefert das eine ziemlich sichere aus der bisher relativ geringen Zahl Diagnose.“ an nvCJK-Fällen zu schließen, die GeTrotzdem zählt die CJK-Überwafahr sei gebannt, warnt Donaldson. Sollten sich die Opfer bereits in den Eltern des nvCJK-Opfers Churchill, nvCJK-Opfer Tomkins chungsstelle aus Edinburgh offiziell bislang nur die Toten – „weil wissenfrühen achtziger Jahren infiziert ha- Der Rinderwahn greift sich vor allem die Jungen 344 d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite schaftliche Ergebnisse erst veröffentlicht und 1996 mehrere Monate in Großbritanwerden, wenn sie wirklich wasserdicht nien aufgehalten hatten, Blut zu spenden. sind“, so Cousens. In Deutschland werden entsprechende Auch zwei britische Forscherteams, die Weisungen bislang nur diskutiert. Seit Jahsich anhand von Blinddarm- und Mandel- ren wird aber schon kein britisches Blutgewebe einen Überblick über die Zahl der plasma mehr für deutsche Gerinnungsfakbevorstehenden nvCJK-Tode verschaffen toren und Impfstoffe verwendet. wollen, fürchten öffentliches Gerede. Sie Bei diesen Verboten handelt es sich um prüfen derzeit etwa 4000 solche Organe reine Vorsichtsmaßnahmen. Denn die Framit Hilfe von Antikörpern auf Prionen. ge, ob nvCJK durch Blut übertragen wird, Dass sich die nvCJK-Erreger auch vor ist bis heute ebenso wenig beantwortet wie Ausbruch der Krankheit ausmachen las- die Frage nach Art und Menge der Rindersen, hatten Wissenschaftler im letzten Jahr produkte, die ein Mensch zu sich nehmen entdeckt. In Südwestengland war ein Mann darf, ohne sich mit nvCJK zu infizieren: an nvCJK gestorben, dem acht Monate vor Waren die Opfer des menschlichen Rindem Ausbruch der Krankheit der Wurm- derwahns vornehmlich Liebhaber von Infortsatz herausoperiert worden war. nereien und Kalbshirn – oder haben sie Weil Teile solcher entnommenen Orga- sich die Prionen durch edles Filet zugezone in Großbritannien wie auch in Deutsch- gen? „Schon ein normaler Mensch kann land mitunter lange aufbewahrt werden, sich nicht erinnern, was er vor zehn Jahren konnte sich der Pathologe David Hilton gegessen hat“, erklärt Weissmann. „Jeden Appendix dieses Toten besorgen und in ihm nach dem nvCJK-Erreger suchen. Tatsächlich fand er das Eiweiß mit Hilfe markierter Antikörper. Der Blinddarm eines nvCJK-Infizierten kann also bereits mindestens acht Monate bevor die ersten Symptome auftreten und somit etwa zwei Jahre vor seinem Tod verheißen, welcher Leidensweg ihm bevorsteht. Nun suchen die britischen CJK-Forscher fieberhaft in tausenden eingelegter Blinddärme und Mandeln nach Prionen. Wem die Organe einmal gehörten, wissen sie nicht. Andernfalls müssten sie schwere ethische Proble- BSE-Experte Kretzschmar: Hirne in Paraffin me fürchten: Was ist, wenn sie etwas entdecken? Zu helfen wäre den Betroffe- mand mit geistigen Behinderungen kann nen nicht. „Man könnte ihnen nur mittei- das erst recht nicht.“ len, dass sie einen grässlichen Tod sterben Doch je mehr Wissen über die Übertrawerden“, sagt James Ironside von der CJK- gungswege von nvCJK-Erregern angehäuft Überwachungsstelle. wird, desto düsterer wird das Bild. So verOhnehin hat Ironsides Job nach Ansicht öffentlichten französische Forscher vor von Statistikern nur geringe Aussicht auf kurzem, dass sich Lemuren – die wie der erfreuliche Ergebnisse: „Selbst wenn alle Mensch zu den Primaten zählen – viel 4000 Proben negativ sind, würde das nicht leichter durch Nahrung mit BSE infizieren heißen, dass wir mit wenigen nvCJK-Fällen als bislang angenommen. rechnen können“, unterstreicht Cousens. Nicht einmal Vegetarier scheinen vor der Erwiese sich umgekehrt auch nur eine ein- bösartigen Krankheit gefeit. Denn unter zige Probe als infiziert, so könnte dies sta- den 48 nvCJK-Opfern findet sich auch tistisch den Tod von zehntausenden von Clare Tomkins, die vor ihrer Erkrankung Menschen bedeuten. zwölf Jahre lang völligen Fleischverzicht Dass sich die krankhaften Prionen aus- übte. Demnach hat sie sich entweder durch gerechnet in Mandeln und Blinddärmen Rinderprodukte im Essen, wie zum Beifinden, ist kein Zufall. Denn wie die spiel Gelatine, infiziert – oder die InkubaLymphknoten und die Milz beherbergen tionszeit von nvCJK ist doch länger als beide Organe Teile des Immunsystems. bislang gehofft. Und schon vor zwei Jahren fanden SchweiDie bisherigen Opfer hätten sich dann zer Wissenschaftler Hinweise darauf, dass möglicherweise schon Anfang der achtImmunzellen, bestimmte weiße Blutkör- ziger Jahre angesteckt, als die Rinder perchen, die gefährlichen Eiweiße beför- auf britischen Weiden noch gar nicht taudern können. Diese tragen die Krankheit melten. Die größte Gefahr einer Infektion aber, darin sind sich die Experten offenbar erst ins Gehirn. Das Wissen um den Lebenssaft als po- einig, bestand Mitte bis Ende der achttenziellen Prionenträger stellt die Frage in ziger Jahre. Diese Opfer würden erst den Raum, ob auch Blutkonserven an- in fünf bis zehn Jahren plötzlich über steckend sind. Die USA und Kanada un- Konzentrations- und Gedächtnisschwäche tersagten Menschen, die sich zwischen 1980 klagen. Christina Berndt 346 d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 T. RAUPACH / ARGUS Wissenschaft Werbeseite Werbeseite FOTOS: PICTURENET AFRICA Preisgekrönte Autodiebstahlssicherung, Ig-Nobel-Friedenspreisträger Fourie: Scharfes Anbraten von Übeltätern Das neogotische Gewölbe erzitterte schier unter dem Jubel der 1200 Gäste, die mit Papierfliegern um sich warfen, indes der greise Chemie-Nobelpreisträger William Lipscomb mit seiner Klarinette fuchtelnd um Silentium bat – zu Recht, denn Sich selbst parfümierende Anzüge, Zentrifugen für Gebärende Dr. Vatles Studie gibt endlich Antwort auf die uralte Rätselfrage nach dem Gefäß, in und ein Flammenwerfer gegen Autodiebe – wieder das der Norweger bevorzugt pinkelt, wenn einmal wurden in Harvard die Ig-Nobel-Preise verliehen. ihm der Doktor für die Urinprobe kein Behältnis mit nach Hause gibt. Als Depot für den goldenen Strahl präamenswitze sind nicht statthaft, den am pachydermen Anus forschenden auch dann nicht, wenn ein Mensch US-Zoologen Ray Grossloch bei den An- feriert er, so das Fazit der im Journal der Grossloch heißt und im Dienste der nals (von deren Witz ein unlängst auch auf Norwegian Medical Association publizierWissenschaft jenes Organ der Elefanten Deutsch erschienener Auswahlband kün- ten Studie, ein Heringsglas der Marke „Devermisst, das bei diesen Tieren (Bruttofä- det**) als „hochpotenten Ig-Nobel-Kan- likat Apetittsild“, gefolgt von diversen Spirituosen-Flaschen und Deo-Rollern, aus kalprodukt: 150 Kilo am Tag) besonders didaten“ verpetzt hatte. Immerhin aber teilte die Jury dessen denen der norwegische Patient vorher aber strapaziert wird. Leider aber gibt es allerorten unreife Vorliebe für konsequent auf ausschei- schlauerweise die Rollkugel herauspopelt. Naturen, auch an der Harvard University, dungsspezifische Vorgänge zentrierte For- Auf die Aussagekraft der Urinanalyse habe jenem Pantheon der Großgeister, wo jetzt schungsvorhaben. Gleich zwei einschlägi- die Wahl der Gläser aber keine Auswireine Auszeichnung verliehen wurde, der ge Kandidaten wurden prämiert – für Ar- kungen gehabt, versicherte Vatle, da diese die Forscher-Elite der Welt alljährlich ent- beiten in den Disziplinen Sperma und Urin vor Gebrauch stets hinreichend gesäubert gegenbangt: der so genannte Ig-Nobel- gab es die Preise für Chemie und Medizin. worden seien. Scheu wie ein Klopfgeist, der Gestalt Tumultuöse Szenen folgten bei der VerPreis. Ihn vergeben die in den USA erscheinenden „Annals of Improbable Re- angenommen hat, mutete Dr. Arvid Vatle leihung des Chemie-Preises an Herrn Tasearch“ für besonders schräge („ignoble“) an, als er das Podium der Sanders-Aula keshi Makino aus Japan, der für seine ErForschungsarbeiten, die „nicht wiederholt von Harvard erklomm, deren einzigartiger findung eines so genannten Treue-Sprays Architekturstil zwischen spätem Hoch- ausgezeichnet wurde: Auf die Unterhose werden können oder sollen“. Da es sich bei den Annals um ein satiri- zeitskuchen und frühem Wasserklosett gesprüht, macht „S-Check“ Spermaflecken sichtbar – eine Erfindung, die Männern unsches Wissenschaftsjournal und bei der Ig- changiert. gefähr so willkommen ist wie Nobel-Jury um ein Gremium aus acht Frauen ein Piranha im Bidet, tatsächlichen Nobelpreisträgern mit starweshalb einige versuchten, kem Hang zum Altersjux handelt, war die den kleinen gelben MenGefahr billigen semiotischen Amüsements schen von der Bühne zu nicht von der Hand zu weisen. buhen. Doch gottlob widerstand das Ig-NoÄhnlicher Missmut wäre bel-Komitee, satzungskonform kompletwohl auch George und Chartiert durch „zwei willkürlich von der lotte Blonsky entgegengeStraße aufgelesene Passanten“, der Verschlagen, hätte es ihnen ihr suchung – was allenfalls jenen HamburZustand erlaubt, den Ig-Noger Kindskopf verwundern dürfte, der bel-Preis persönlich entge* Robert Wilson (Physik-Nobelpreis 1978), Sheldon Glagenzunehmen. show (Physik 1979), William Lipscomb (Chemie 1976). Das Ehepaar bekam ihn ** Marc Abrahams: „Der Einfluß von Erdnußbutter auf postum für die Erfindung eidie Erdrotation“. Birkhäuser Verlag, Basel; 164 Seiten; Nobelpreisgekrönte Jury-Mitglieder*: Hang zum Altersjux ner Geburtszentrifuge (US39,80 Mark. PREISE Kreisel im Kreißsaal J. CLASE N 348 d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Wissenschaft SOUTH WEST NEWS SERVICE Patent: 3.216.423), deren Wirkweise darauf basiert, dass die Gebärende auf eine Drehscheibe geschnallt und dann so lange im Kreis herumgewirbelt wird, bis der Säugling herausflutscht – ein durchaus segensreiches Instrument, das Vätern die oft enervierende Warterei sowie das damit verbundene Wehgeschrei zu ersparen vermag. Geradezu erwünscht dagegen sind Schmerzensbekundungen bei jenem Geistesblitz, den der gleichfalls von Hamburg aus ins ignoble Kandidatenspiel gebrachte Charles Fourie der Welt bescherte (SPIEGEL 14/1999): Für seine Autodiebstahlssicherung mittels Flammenwerfer, die Übeltäter scharf anbrät, erhielt der Südafrikaner den Friedenspreis. Nicht minder wiegen die Verdienste des Umweltpreisträgers Hyuk-ho Kwon, der einen Anzug erfunden hat, der sich durch Reiben am Textil selbst parfümiert. „Klarer Fall, zweimal Pfefferminz“, befanden die sich berubbelnden Nobel-Laureaten Ig-Nobel-Physikpreisträger Fisher Beglückung der Kukident-Brigade Dudley Herschbach (Chemie) und Robert Wilson (Physik), die Ig-Nobel-Kollege Kwon gratis mit seiner Aroma-Kollektion ausgestattet hatte. Offenbar von Herrn Kwons BonbonDüften berauscht, bestieg in sichtlich labiler Seitenlage Ig-Nobel-Physikpreisträger Len Fisher das Podium – jener Mann, der die Kukident-Brigade mit der Berechnungsformel für den idealen Eintunkverlauf von Keksen in Tee beglückte. Sie lautet: L2=γDt/4η. „Ladies and Gentlemen“, hob schließlich Annals’ Chefredakteur und Zeremonienmeister Marc Abrahams zu den traditionellen Abschiedsworten an. „Wenn Sie keinen Preis erhalten haben, vor allem aber, wenn Sie einen bekommen haben – mehr Glück im nächsten Jahr.“ Bis dahin liegt Kandidat Grossloch in Hamburg auf Wiedervorlage. Henry Glass d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Schild gegen böse Mächte US-Militärs erprobten eine neue Raketenabwehr. Technisch sagt der Test wenig aus. Doch er schürt Star-Wars-Euphorie in Amerika und verärgert die Russen. A ziemlich erfolglos an einer Raketenabwehr. Fehlschläge, Verzögerungen und Nachbesserungen haben bisher rund 60 Milliarden Dollar verschlungen. Auch politisch konnten sich die Befürworter einer solchen Verteidigungsstrategie in den letzten Jahren nicht mehr recht durchsetzen – Bill Clinton hatte zunächst nicht viel übrig für das „National Missile Defense“-Programm (NMD). So hat das, was vom „Star Wars“-Programm der achtziger Jahre unter Clinton übrig geblieben ist, nicht mehr viel zu tun mit Reagans Visionen: Höchstens 200 Kill Vehicles sollen nach Plänen des Pentagon gebaut und in Alaska und in North Dakota stationiert werden – Krieg der Sterne light. Dennoch würde auch dieses abgespeckte Raketenabwehrsystem die Beziehungen zu Russland schwer belasten. Es liefe nämlich dem ABM-Abkommen (Anti Ballistic Missile) zuwider, auf das sich die USA 1972 mit der Sowjetunion geeinigt haben. Das Vertragswerk verbietet die Stationierung eines solchen landesweiten Schutzschildes. Denn das Prinzip der Raketenabwehrtest*: Zu Elektronikstaub zerschmettert Abschreckung würde außer Bezeichnung „Kill Vehicle“, 20 Minuten Kraft gesetzt, wenn eine Nation sich unnach dem Minuteman-Start von den Mar- angreifbar macht. Geschützt durch einen shall-Inseln aus in die Lüfte geschleudert, undurchdringlichen Schild, könnten die suchte den Gefechtskopf, fand und zer- USA in der Welt schalten und walten, wie schmetterte ihn mit einer Aufprallwucht es ihnen gefällt – bisher müssen sie, trotz von fast 26 000 Stundenkilometern zu fei- strategischer Überlegenheit, Vergeltungsnem Elektronikstaub. „Hit-to-Kill“ heißt schläge fürchten. Nicht nur Boris Jelzin hat ein Problem die Technik im Jargon der Militärs. Die Erfolgsmeldung kommt dem Vertei- mit den US-Verteidigungsplänen. Auch digungsministerium sehr gelegen. Seit 1983, China befürchtet, dass Taiwan sich unter als Ronald Reagan seine von Science-Fic- den amerikanischen Schutzschild flüchtet. tion-Autoren inspirierte Idee eines raum- Und das verarmte Nordkorea stünde plötzgestützten Laserwaffen-Schutzschilds über lich mit völlig leeren Händen da – bisher Amerika propagierte, basteln die Techniker haben die Politiker in Pjöngjang gerne ihre Waffenarsenale als Verhandlungsmasse genutzt, um Lockerungen des amerikanischen Wirtschaftsembargos zu erzielen. Trotz der zu erwartenden internationalen Auseinandersetzungen haben US-Regierung und -Kongress die Gelder für das NMD-Programm in diesem Jahr deutlich aufgestockt: 10,5 Milliarden Dollar stehen dem Pentagon nun zur Verfügung. Und Ende Juli gab der Präsident endgültig seine ablehnende Haltung auf, indem er das Missile-Defense-Gesetz unterschrieb. merika rüstet wieder für einen Atomkrieg. Während sich die Filmemacher in Hollywood die Zeit seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion vertrieben, indem sie den bösen Russen ersetzten durch Darth Vader (Star Wars), Killermeteore (Armageddon) und fiese Aliens (Men in Black), mussten die Entscheidungsträger in Washington auf echte Spionageaufklärung warten, um neue Vaterlandsfeinde ins Auge zu fassen. Inzwischen sind genügend CIA-Berichte und andere Schreckensnachrichten durchgesickert. „Die Bedrohung ist real“, warnte Verteidigungsminister William Cohen die Öffentlichkeit, „und sie wird in den nächsten Jahren immer stärker werden.“ Erstmals seit Ende des Kalten Krieges stünden Ziele in den Vereinigten Staaten wieder im Visier böser Mächte, davon sind die Politiker überzeugt. Nur hätten inzwischen nicht mehr die Russen die Hand am roten Knopf, sondern „Schurkenstaaten“ wie der Irak, Iran und Nordkorea. Nicht zu vergessen: Terroristen könnten das Land erpressen. Zwar ist bisher von keinem dieser Feinde bekannt, dass er auch nur eine einzige funktionsfähige Langstreckenrakete in seinem Arsenal hätte. Trotzdem ist die nationale Sicherheit inzwischen zum Politikum geworden – der Kampf um die Präsidentschaft 2000 hat begonnen. Zu ihrem Lieblingsprojekt haben die republikanischen Wahlkämpfer die alte Idee von einem Raketenabwehrschild erkoren, das die US-Bürger vor den Saddams dieser Welt retten könne: Schnelle, präzise Hightech-Geschosse sollen feindliche Atomsprengköpfe auf ihrem Todeskurs etwa in Richtung Los Angeles hoch in den Lüften abfangen und zerstören. Die Technik, die das können soll, ist keine Science-Fiction mehr. Am Samstag vorletzter Woche ist den Waffenexperten der erste Test gelungen. Von der kalifornischen Küste aus starteten sie eine Langstreckenrakete vom Typ „Minuteman“ – das war der Feind. Er kam 6400 Kilometer weit. Ein Abfanggeschoss mit der schlichten, aber eindeutigen US-Präsident Clinton*: 200 „Kill Vehicles“ bestellt 350 d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 FOTOS: AP RÜSTUNG * Oben: Kondensstreifen einer „Minuteman“-Rakete über Kalifornien am 2. Oktober, sie wurde später über dem Pazifik von einem „Kill Vehicle“ zerstört; unten: Anfang Oktober im Pentagon. Technik Darin heißt es, die Abfangraketen würden aufgestellt, „sobald es technisch möglich ist“. Einzige Einschränkung: Der Kongress muss noch über die nötigen Mittel für die Stationierung beschließen. Das soll im nächsten Sommer geschehen, nachdem das Pentagon nach zwei weiteren Abfangtests im Juni seinen Bericht über die technische Qualität des Systems vorlegen wird. Im Sommer 2000, kurz vor den Präsidentschaftswahlen, ist eine Wende der USPolitik unwahrscheinlich. Selbst wenn Clinton oder der demokratische Kandidat Al Gore wollten – nun, da die nationale Sicherheit zum Top-Wahlkampfthema avanciert ist, können sie es sich kaum leisten, das Pentagon-Projekt fallen zu lassen. Schon jetzt überbieten sich die Kandidaten der Republikaner darin, erst Paranoia unter den Wählern zu schüren, um dann zu versichern, dass bei ihnen der Schutz des Vaterlandes an erster Stelle stehe. „Die Welt bleibt ein gefährlicher Ort“, verkündete kürzlich Elizabeth Dole auf Wahlkampftour, „und wir Amerikaner sind heute sogar verletzlicher für Raketenangriffe als vor sieben Jahren.“ Das Schmieden des Raketenschilds habe für sie absolute Priorität. Und den ABM-Vertrag, so die Position vieler Republikaner, habe man damals mit der Sowjetunion und nicht mit Russland abgeschlossen und könne ihn daher jetzt unbedenklich kündigen. In der Debatte geht völlig unter, ob das NMD-Programm überhaupt technisch dazu in der Lage sein wird, seinen Zweck zu erfüllen. „Die Entscheidung wird absolut nichts mit der Wirksamkeit des Systems zu tun haben“, sagt Lisbeth Gronlund, Physikerin am Massachusetts Institute of Technology und Mitglied der „Union of Concerned Scientists“. Gronlund hat die Test-Designs untersucht. Ihr Fazit: Bis Juni werden keinesfalls ausreichend Daten vorliegen, um Reife und Verlässlichkeit des Systems beurteilen zu können. Auch ob Russland oder China nicht bis zum Jahr 2005, wenn die Stationierung abgeschlossen sein soll, längst Gegenmaßnahmen entwickelt haben, sei völlig unklar. „Das Thema wird immer so diskutiert“, wundert sich Gronlund, „als hätten Länder wie der Irak, Iran oder Nordkorea zwar das technische Knowhow, um Raketen einzusetzen, aber nicht genug Know-how, um Gegenstrategien zu entwickeln.“ Der erste Test am Samstag über dem Pazifik jedenfalls hatte mit dem Ernstfall so wenig zu tun wie Hollywood mit dem wirklichen Leben: Die „feindliche“ Rakete trug einen GPS-Sender mit sich und funkte ihre Positionsdaten ständig ans Kill Vehicle – der Zerstörer wusste also stets haargenau, wo sein Ziel gerade war. „So hilfsbereit wird ein echter Gefechtskopf kaum sein“, meint Lisbeth Gronlund. Rafaela von Bredow, Stefan Simons d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 NC AR Wissenschaft Flugzeug mit Gerät zum Melken von Wolken: Gerichtsverfahren wegen „Regenraub“ METEOROLOGIE Schüttgut vom Himmel Regenmacher haben Konjunktur; doch bringt die Technik wirklich mehr Niederschlag? Ein Langzeitexperiment in Mexiko gibt erste Antworten auf die seit Jahrzehnten strittige Frage. D arauf hat Dan Breed seit Tagen gewartet: Der Wind frischt auf, dunkle Wolken ballen sich am Himmel zusammen und werfen zerfranste Schatten auf das kahle Hochplateau. Nach einem letzten Blick auf den Bildschirm des Wetterradars hastet der amerikanische Meteorologe mit dem Piloten Vic Weightman zum kleinen Flugzeug vom Typ Piper Cheyenne, wenige Minuten darauf steuern sie mitten in die Gewitterfront hinein. Unter dem wolligen Bauch einer regenträchtigen Wolke legt Weightman einen Schalter im Cockpit um, auf den Tragflächen zünden Geräte, die aussehen wie kleine Raketenwerfer. Rauchigen Nebel verbreiten die Brandsätze, der von Auf352 winden rasch ins Innere der Wolke gewirbelt wird – wenig später rauscht heftiger Regen auf die dürre Landschaft nieder. Breed ist Regenmacher. Seit drei Jahren impft er im Auftrag des amerikanischen National Center for Atmospheric Research im Norden Mexikos Wolken mit Kaliumund Natriumchlorid, um ihnen Regen zu entlocken. Das groß angelegte Forschungsprojekt soll endgültig klären, ob die künstliche Besamung am Himmel wirklich mehr Niederschläge produziert oder, wie Skeptiker seit jeher behaupten, nur Hightech-Schamanentum ohne bewiesenen Nutzen ist. Wolken mit Chemikalien auf die Sprünge zu helfen ist ein großes Geschäft, die Nachfrage steigt weltweit: Der gewonnene Regen soll Ackerflächen fruchtbar halten oder Wasserspeicher auffüllen. Manche Skigebiete versuchen, ihre Hänge mit zusätzlichen Flocken bestäuben zu lassen. In Kanada schwärmen um Calgary regelmäßig Wolkenmelker der US-Firma „Weather Modification Inc.“ aus, die potenzielle Hagelwolken zum Wasserlassen bewegen, bevor sich eine Katastrophe wie der große Hagelsturm von 1991 wiederholt. Tennisballgroße Eisbomben richteten damals innerhalb von 30 Minuten einen Schaden von rund 275 Millionen Dollar an. „Seit wir die Wetterflieger beauftragt haben, hat sich die durchschnittliche Schadensmenge in den letzten vier Jahren von 275 auf 155 Millionen Dollar reduziert“, berichtet Jim Renick, Vertreter der Versicherungen in Calgary. Die Investition von rund einer Million Dollar pro Jahr scheint sich zu rentieren. Über 40 Länder versuchen, den natürlichen Niederschlag in geordnete Bahnen zu lenken – Griechenland etwa, Guatemala und die Vereinigten Arabischen Emirate. In Rosenheim ist „Hagelpilot“ Georg Vogl berühmt, der durch Wolken-Impfung zu verhindern weiß, dass eisiges Schüttgut vom Himmel die Felder seines Landkreises platt macht. Vor wichtigen Feiertagen pflegen Moskauer Spezialisten die „Operation Zarenwetter“ in Marsch zu setzen, die das Gewölk vor den Toren Moskaus zur Die Wettermacher Künstlicher Regen 1 Ein Flugzeug „impft“ die Wolken mit Salzpartikeln. Wassermolekül 4 Erreichen die Wassertropfen eine bestimmte Größe, fallen sie als Regen aus der Wolke. Salzpartikel 2 Um die künstlichen Kondensationskeime lagern sich Wassermoleküle an. d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 3 Die Kondensationswärme gibt den Wassertröpfchen Auftrieb in kältere Schichten der Wolke, durch weitere Kondensation wachsen die Tropfen. Werbeseite Werbeseite FOTOS: AP Hagelschäden in Texas Hagel in South Dakota Hightech-Schamanentum ohne Wirkung? Tennisballgroße Eisbomben Ader lässt, damit planwidriger Niederschlag die staatstragenden Aufmärsche nicht verdirbt. In den USA jagen Profis erntereifen Wolken in 29 Bundesstaaten hinterher, mit Wetterradaren am Boden, übers Land verstreuten Beobachtern und ständig einsatzbereiten Flugzeugen. Amerikanische Gerichte mussten sogar schon über den Vorwurf des „Regenraubs“ verhandeln, wenn Staaten sich um himmlisches Nass betrogen sahen, weil ihre Nachbarn die Wasserspender per Impfung entleert hatten. Doch bislang konnte niemand stichhaltig nachweisen, dass Wolkenbesamung tatsächlich fruchtet. Viele Wissenschaftler nennen die Methode Humbug, Steuerzahler fürchten die Verschwendung öffentlicher Gelder, denn die Meteorologen wissen nicht, ob es weniger geregnet oder mehr gehagelt hätte, wären keine Chemikalien versprüht worden. Der Vergleich langjähriger Niederschlagsmittelwerte nützt wenig, denn auch natürliche Klimaschwankungen, Treibhauseffekt oder schlicht der Zufall könnten für die erhöhte Regenmenge verantwortlich sein. Doch nun, da die Forschungsarbeit im trockenen Norden Mexikos kurz vor dem Abschluss steht, geben die Meteorologen erste Ergebnisse bekannt, und die sprechen eindeutig für das Herumdoktern an den Wolken. Die Amerikaner versuchten schon um die Jahrhundertwende erstmals, Wolken mit an Ballons oder Drachen in die Höhe getragenen Dynamitstangen platzen zu lassen, doch diese Experimente scheiterten kläglich. In den vierziger Jahren entwickelten dann Wissenschaftler des Elektrokonzerns General Electric die noch heute praktizierten Methoden der Wolken-Impfung: Regenkeime in Form von Silberjodid oder Trockeneis beschleunigen die Kondensation des Wasserdampfes zu Tropfen (siehe Grafik Seite 352). Die erste kommerzielle Regenmacherfirma gründete ein Farmer in den fünfziger Jahren in North Dakota. Auf dem mexikanischen Hochplateau in Coahuila testen die Forscher die bislang modernste Variante der Wolken-Impfung: neuartige Fackeln an den Tragflächen der haltspunkt für ihre Entscheidung geben. Im Kontrollzentrum lesen Wissenschaftler an den Echos auf ihren Radarschirmen ab, wie viele Regentropfen sich in den Wolken bilden. Haben sie genügend Daten gesammelt, vergleichen die Meteorologen Wolken gleichen Typs und stellen fest, ob geimpfte Wolken mehr Regen entwickeln. „Mit bloßem Auge“, sagt Breed, „ließe sich nicht erkennen, dass eine Wolke mehr abregnet, als gemeinhin zu erwarten wäre.“ Doch die bisher akribisch ermittelten Daten sind eindeutig: Um 30 bis 40 Prozent erhöht sich die Regenmenge, wenn eine Wolke mit der neuen Technik geimpft wird – weit mehr als die alten Methoden abwarfen, deren Regensegen auf ein Plus von 10 Prozent geschätzt wurde. Zwar warnen die Meteorologen des National Center for Atmospheric Research vor voreiligen Schlüssen. Sie wollen erst noch mehr Versuche durchführen und genauer erforschen, was in den besäten Wolken vorgeht. Doch bestätigen die Zahlen, was auch die Meteorologen in Südafrika beobachtet hatten. Und mancher kommerzielle Regenmacher setzt das neue Verfahren bereits erfolgreich ein. Trotzdem bleibt das Regenmachen ein kniffliges Geschäft, Bewässerung auf Befehl klappt auch mit der neuen Technik nicht. Gibt es keine Wolken am Himmel, zerrt kein Flugzeug eine herbei. Deshalb werden die Wettermanager Wüsten nie begrünen. Sie können Wolken nur dazu bewegen, mehr von ihrer nassen Last abzuladen. Trockengebiete wie die Region Coahuila werden so landwirtschaftlich nutzbar. Dürregebiete ohne Wolken müssen jedoch weiterhin auf althergebrachten Regenzauber vertrauen. Im Amazonasgebiet etwa regnete es im letzten Jahr sechs Monate lang nicht. Die Buschbrände gerieten außer Kontrolle. In ihrer Verzweiflung rief die brasilianische Regierung nicht nur die Brandspezialisten der Vereinten Nationen an, sondern auch Schamanen der einheimischen Caiapó-Indianer. Einen Tag nach dem Regentanz der Eingeborenen schüttete es vier Stunden lang aus Kübeln – die meisten Feuer erloschen. Hubertus Breuer 354 Regenflieger, die aus Magnesium, Wasser absorbierenden Salzen und Bindemitteln bestehen und nach ihrer Zündung kleine Salzpartikel mit nur einem halben Mikrometer Durchmesser ausstoßen. Die wichtige Rolle der Salzpartikel entdeckten südafrikanische Meteorologen schon Ende der achtziger Jahre, als sie bemerkten, dass sich regenschwangeres Gewölk bevorzugt im Windschatten des Schornsteins einer Papiermühle blicken ließ. Sie durchflogen den Himmelsdunst, entnahmen Proben und stellten fest, dass die Wolke vom Rauch der Mühle viele Salze enthielt – Kalium- und Natriumchlorid, an denen die Luftfeuchtigkeit kondensierte und so eine Wolke bildete. Die Salze dienen nicht nur als Kristallisationskerne, sondern ziehen Feuchtigkeit regelrecht an. Die Meteorologen entwickelten Fackeln mit Salzbeimischung, deren Rauch der Wind rasch in den Wolken verteilte. Bereits die ersten Radarmessungen zeigten spektakuläre Mengen an Regentropfen in besäten Wolken an. Trotz der verheißungsvollen Ergebnisse strich die südafrikanische Regierung dem Projekt bald die Mittel. Da hatten die Amerikaner aber längst von der neuen Technik Wind bekommen. In Mexiko begannen sie mit Fördermitteln der einheimischen Industrie ihre eigene Versuchsreihe. Das Experiment ist ähnlich wie eine Arzneimittelstudie angelegt: Damit die Kontrolleure vorurteilsfrei ans Werk gehen, wissen sie nicht, ob die Wolke wirklich geimpft oder nur von wirkungslosen Placebos durchflogen wurde. Die Piloten steigen mit einem verschlossenen Umschlag ins Cockpit, den sie erst öffnen, wenn sie sich der Wetterfront nähern. Darin finden sie Anweisungen, die Wolke zu besäen oder ohne das Zünden der Salzfackeln zu passieren. Vom Boden aus, so die Order, darf die Flugbahn keinen And e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite SERVICE Leserbriefe SPIEGEL-Verlag, Brandstwiete 19, 20457 Hamburg Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: leserbriefe@spiegel.de Fragen zu SPIEGEL-Artikeln Telefon: (040) 3007-2687 Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: artikel@spiegel.de Nachbestellung von SPIEGEL-Ausgaben Telefon: (040) 3007-2948 Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: nachbestellung@spiegel.de Nachdruckgenehmigungen für Texte und Grafiken: Deutschland, Österreich, Schweiz: Telefon: (040) 3007-2869 Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: nachdrucke@spiegel.de übriges Ausland: New York Times Syndication Sales, Paris Telefon: (00331) 47421711 Fax: (00331) 47428044 für Fotos: Telefon: (040) 3007-2869 Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: nachdrucke@spiegel.de DER SPIEGEL auf CD-Rom / SPIEGEL TV-Videos Telefon: (040) 3007-2485 Fax: (040) 3007-2826 E-Mail: service@spiegel.de Abonnenten-Service SPIEGEL-Verlag, Postfach 10 58 40, 20039 Hamburg Reise/Umzug/Ersatzheft Telefon: (040) 411488 Auskunft zum Abonnement Telefon: (040) 3007-2700 Fax: (040) 3007-2898 E-Mail: aboservice@spiegel.de Abonnenten-Service Schweiz: DER SPIEGEL, Postfach, 6002 Luzern, Telefon: (041) 3173399 Fax: (041) 3173389 E-Mail: leserservice@dcl.ch Abonnement für Blinde Deutsche Blindenstudienanstalt e. V. Telefon: (06421) 606267 Fax: (06421) 606269 Abonnementspreise Inland: Zwölf Monate DM 260,– Studenten Inland: Zwölf Monate DM 182,– Schweiz: Zwölf Monate sfr 260,– Europa: Zwölf Monate DM 369,20 Außerhalb Europas: Zwölf Monate DM 520,– Halbjahresaufträge und befristete Abonnements werden anteilig berechnet. Abonnementsaufträge können innerhalb einer Woche ab Bestellung mit einer schriftlichen Mitteilung an den SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, Postfach 10 58 40, 20039 Hamburg, widerrufen werden. Zur Fristwahrung genügt die rechtzeitige Absendung. ✂ Abonnementsbestellung bitte ausschneiden und im Briefumschlag senden an SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, Postfach 10 58 40, 20039 Hamburg. Oder per Fax: (040) 3007-2898. Ich bestelle den SPIEGEL frei Haus für DM 5,– pro Ausgabe mit dem Recht, jederzeit zu kündigen. Zusätzlich erhalte ich den kulturSPIEGEL, das monatliche Programm-Magazin. Das Geld für bezahlte, aber noch nicht gelieferte Hefte bekomme ich zurück. Bitte liefern Sie den SPIEGEL ab _____________ an: Name, Vorname des neuen Abonnenten Straße, Hausnummer PLZ, Ort Ich möchte wie folgt bezahlen: Brandstwiete 19, 20457 Hamburg, Telefon (040) 3007-0 · Fax-2246 (Verlag), -2247 (Redaktion) E-Mail spiegel@spiegel.de · SPIEGEL ONLINE www.spiegel.de · T-Online *SPIEGEL# H E R A U S G E B E R Rudolf Augstein S C H W E R I N Florian Gless, Spieltordamm 9, 19055 Schwerin, C H E F R E D A K T E U R Stefan Aust S T E L LV. C H E F R E D A K T E U R E Dr. Martin Doerry, Joachim Preuß D E U T S C H E P O L I T I K Leitung: Dr. Gerhard Spörl, Michael SchmidtKlingenberg (stellv.). Redaktion: Karen Andresen, Dietmar Hipp, Bernd Kühnl, Joachim Mohr, Hans-Ulrich Stoldt, Klaus Wiegrefe. Autoren, Reporter: Dr. Thomas Darnstädt, Matthias Matussek, Hans-Joachim Noack, Hartmut Palmer, Dr. Dieter Wild; Berliner Büro Leitung: Jürgen Leinemann, Hajo Schumacher (stellv.). Redaktion: Petra Bornhöft, Susanne Fischer, Martina Hildebrandt, Jürgen Hogrefe, Horand Knaup, Dr. Paul Lersch, Alexander Neubacher, Dr. Gerd Rosenkranz, Harald Schumann, Alexander Szandar D E U T S C H L A N D Leitung: Clemens Höges, Ulrich Schwarz. Redaktion: Klaus Brinkbäumer, Annette Bruhns, Doja Hacker, Carsten Holm, Ulrich Jaeger, Sebastian Knauer, Ansbert Kneip, Udo Ludwig, Thilo Thielke, Andreas Ulrich. Autoren, Reporter: Jochen Bölsche, Henryk M. Broder, Gisela Friedrichsen, Gerhard Mauz, Norbert F. Pötzl, Bruno Schrep; Berliner Büro Leitung: Heiner Schimmöller, Georg Mascolo (stellv.). Redaktion: Wolfgang Bayer, Stefan Berg, Carolin Emcke, Susanne Koelbl, Irina Repke, Peter Wensierski WIRTSCHAFT Leitung: Armin Mahler, Gabor Steingart. Redaktion: Dr. Hermann Bott, Konstantin von Hammerstein, Dietmar Hawranek, Frank Hornig, Hans-Jürgen Jakobs, Alexander Jung, Klaus-Peter Kerbusk, Thomas Tuma. Autor: Peter Bölke; Berliner Büro Leitung: Jan Fleischhauer (stellv.). Redaktion: Markus Dettmer, Oliver Gehrs, Elisabeth Niejahr, Christian Reiermann, Ulrich Schäfer A U S L A N D Leitung: Dr. Olaf Ihlau, Fritjof Meyer, Hans Hoyng (stellv.). Redaktion: Dieter Bednarz, Adel S. Elias, Manfred Ertel, Rüdiger Falksohn, Hans Hielscher, Joachim Hoelzgen, Siegesmund von Ilsemann, Claus Christian Malzahn, Dr. Christian Neef, Roland Schleicher, Helene Zuber. Autoren, Reporter: Dr. Erich Follath, Carlos Widmann, Erich Wiedemann W I S S E N S C H A F T U N D T E C H N I K Leitung: Johann Grolle, Olaf Stampf (stellv.); Jürgen Petermann. Redaktion: Dr. Harro Albrecht, Philip Bethge, Marco Evers, Dr. Renate Nimtz-Köster, Rainer Paul, Matthias Schulz, Dr. Jürgen Scriba, Christian Wüst. Autoren, Reporter: Henry Glass, Dr. Hans Halter, Werner Harenberg K U L T U R U N D G E S E L L S C H A F T Leitung: Wolfgang Höbel, Dr. Mathias Schreiber. Redaktion: Susanne Beyer, Anke Dürr, Nikolaus von Festenberg, Angela Gatterburg, Lothar Gorris, Dr. Volker Hage, Dr. Jürgen Hohmeyer, Ulrike Knöfel, Dr. Joachim Kronsbein, Reinhard Mohr, Anuschka Roshani, Dr. Johannes Saltzwedel, Peter Stolle, Dr. Rainer Traub, Klaus Umbach, Claudia Voigt, Susanne Weingarten, Marianne Wellershoff, Martin Wolf. Autoren, Reporter: Ariane Barth, Uwe Buse, Urs Jenny, Dr. Jürgen Neffe, Cordt Schnibben, Alexander Smoltczyk, Barbara Supp S P O R T Leitung: Alfred Weinzierl. Redaktion: Matthias Geyer, Jörg Kramer, Gerhard Pfeil, Michael Wulzinger S O N D E R T H E M E N Dr. Rolf Rietzler; Christian Habbe, Heinz Höfl, Hans Michael Kloth, Dr. Walter Knips, Reinhard Krumm, Gudrun Patricia Pott S O N D E R T H E M E N G E S T A L T U N G Manfred Schniedenharn P E R S O N A L I E N Dr. Manfred Weber; Petra Kleinau C H E F V O M D I E N S T Horst Beckmann, Thomas Schäfer, Karl-Heinz Körner (stellv.), Holger Wolters (stellv.) S C H L U S S R E D A K T I O N Rudolf Austenfeld, Reinhold Bussmann, Dieter Gellrich, Hermann Harms, Bianca Hunekuhl, Rolf Jochum, Katharina Lüken, Reimer Nagel, Dr. Karen Ortiz, Gero RichterRethwisch, Hans-Eckhard Segner, Tapio Sirkka B I L D R E D A K T I O N Michael Rabanus (verantwortlich für Innere Heft- gestaltung), Josef Csallos, Christiane Gehner; Werner Bartels, Manuela Cramer, Rüdiger Heinrich, Peter Hendricks, Maria Hoffmann, Antje Klein, Matthias Krug, Claudia Menzel, Peer Peters, Dilia Regnier, Monika Rick, Karin Weinberg, Anke Wellnitz. E-Mail: bildred@spiegel.de G R A F I K Martin Brinker, Ludger Bollen; Cornelia Baumermann, Renata Biendarra, Tiina Hurme, Cornelia Pfauter, Julia Saur, Michael Walter, Stefan Wolff L AYO U T Rainer Sennewald, Wolfgang Busching, Sebastian Raulf; Christel Basilon-Pooch, Katrin Bollmann, Regine Braun, Volker Fensky, Ralf Geilhufe, Petra Gronau, Ria Henning, Barbara Rödiger, Doris Wilhelm, Reinhilde Wurst P R O D U K T I O N Wolfgang Küster, Sabine Bodenhagen, Frank Schumann, Christiane Stauder, Petra Thormann, Michael Weiland T I T E L B I L D Thomas Bonnie; Stefan Kiefer, Ursula Morschhäuser, Oliver Peschke, Monika Zucht REDAKTIONSVERTRETUNGEN DEUTSCHLAND B E R L I N Friedrichstraße 79, 10117 Berlin; Deutsche Politik, ^ Zahlung nach Erhalt der Jahresrechnung ^ Ermächtigung zum Bankeinzug von 1/4jährlich DM 65,– Wirtschaft Tel. (030) 203875-00, Fax 203875-23; Deutschland, Kultur und Gesellschaft Tel. (030)203874-00, Fax 203874-12 B O N N Fritz-Erler-Str. 11, 53113 Bonn, Tel. (0228) 26703-0, Fax 26703-20 D R E S D E N Andreas Wassermann, Königsbrücker Straße 17, 01099 Bankleitzahl Konto-Nr. Geldinstitut Datum, Unterschrift des neuen Abonnenten Widerrufsrecht Diesen Auftrag kann ich innerhalb einer Woche ab Bestellung schriftlich beim SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, Postfach 10 58 40, 20039 Hamburg, widerrufen. Zur Fristwahrung genügt die rechtzeitige Absendung. 2. Unterschrift des neuen Abonnenten 356 SP99-003 Dresden, Tel. (0351) 8020271, Fax 8020275 D Ü S S E L D O R F Georg Bönisch, Frank Dohmen, Barbara SchmidSchalenbach, Andrea Stuppe, Karlplatz 14/15, 40213 Düsseldorf, Tel. (0211) 86679-01, Fax 86679-11 E R F U R T Almut Hielscher, Löberwallgraben 8, 99096 Erfurt, Tel. (0361) 37470-0, Fax 37470-20 F R A N K F U R T A . M . Dietmar Pieper; Wolfgang Bittner, Felix Kurz, Christoph Pauly, Wolfgang Johannes Reuter, Wilfried Voigt, Oberlindau 80, 60323 Frankfurt a. M., Tel.(069) 9712680, Fax 97126820 H A N N O V E R Hans-Jörg Vehlewald, Rathenaustraße 12, 30159 Hannover, Tel. (0511) 36726-0, Fax 3672620 K A R L S R U H E Postfach 5669, 76038 Karlsruhe, Tel. (0721) 22737 M Ü N C H E N Dinah Deckstein, Wolfgang Krach, Heiko Martens, Bettina Musall, Stuntzstraße 16, 81677 München, Tel. (089) 4180040, Fax 41800425 Tel. (0385) 5574442, Fax 569919 S T U T T G A R T Jürgen Dahlkamp, Katharinenstraße 63a, 73728 Esslingen, Tel. (0711) 3509343, Fax 3509341 REDAKTIONSVERTRETUNGEN AUSLAND BAS E L Jürg Bürgi, Spalenring 69, 4055 Basel, Tel. (004161) 2830474, Fax 2830475 B E L G R A D Renate Flottau, Teodora Drajzera 36, 11000 Belgrad, Tel. (0038111) 669987, Fax 3670356 B R Ü S S E L Dirk Koch; Winfried Didzoleit, Sylvia Schreiber, Bd. Charlemagne 45, 1000 Brüssel, Tel. (00322) 2306108, Fax 2311436 I S T A N B U L Bernhard Zand, Be≠aret Sokak No. 19/4, Ayazpa≠a, 80040 Istanbul, Tel. (0090212) 2455185, Fax 2455211 J E R U S A L E M Annette Großbongardt, 16 Mevo Hamatmid, Jerusalem Heights, Apt. 8, Jerusalem 94593, Tel. (009722) 6224538-9, Fax 6224540 J O H A N N E S B U R G Birgit Schwarz, P. O. Box 2585, Parklands, SA-Johannesburg 2121, Tel. (002711) 8806429, Fax 8806484 K A I R O Volkhard Windfuhr, 18, Shari’ Al Fawakih, Muhandisin, Kairo, Tel. (00202) 3604944, Fax 3607655 L O N D O N Michael Sontheimer, 6 Henrietta Street, London WC2E 8PS, Tel. (0044207) 3798550, Fax 3798599 M O S K A U Jörg R. Mettke, Uwe Klußmann, 3. Choroschewskij Projesd 3 W, Haus 1, 123007 Moskau, Tel. (007095) 9400502-04, Fax 9400506 N E W D E L H I Padma Rao, 91, Golf Links (I & II Floor), New Delhi 110003, Tel. (009111) 4652118, Fax 4652739 N E W YO R K Thomas Hüetlin, Mathias Müller von Blumencron, 516 Fifth Avenue, Penthouse, New York, N Y 10036, Tel. (001212) 2217583, Fax 3026258 PA R I S Dr. Romain Leick, Lutz Krusche, Helmut Sorge, 1, rue de Berri, 75008 Paris, Tel. (00331) 42561211, Fax 42561972 P E K I N G Andreas Lorenz, Ta Yuan Wai Jiao Ren Yuan Gong Yu 2-2-92, Peking 100600, Tel. (008610) 65323541, Fax 65325453 P R A G Jilská 8, 11000 Prag, Tel. (004202) 24220138, Fax 24220138 R I O D E J A N E I R O Jens Glüsing, Avenida São Sebastião 157, Urca, 22291-070 Rio de Janeiro (RJ), Tel. (005521) 2751204, Fax 5426583 R O M Hans-Jürgen Schlamp, Largo Chigi 9, 00187 Rom, Tel. (003906) 6797522, Fax 6797768 S A N F R A N C I S C O Rafaela von Bredow, 3782 Cesar Chavez Street, San Francisco, CA 94110, Tel. (001415) 6437550, Fax 6437530 S I N G A P U R Jürgen Kremb, 15, Fifth Avenue, Singapur 268779, Tel. (0065) 4677120, Fax 4675012 T O K I O Dr. Wieland Wagner, Chigasaki-Minami 1-3-5, Tsuzuki-ku, Yokohama 224, Tel. (008145) 941-7200, Fax 941-8957 WA R S C H A U Andrzej Rybak, Krzywickiego 4/1, 02-078 Warschau, Tel. (004822) 8251045, Fax 8258474 WA S H I N G T O N Dr. Stefan Simons, Michaela Schießl, 1202 National Press Building, Washington, D.C. 20 045, Tel. (001202) 3475222, Fax 3473194 W I E N Walter Mayr, Herrengasse 6-8/81, 1010 Wien, Tel. (00431) 5331732, Fax 5331732-10 D O K U M E N T A T I O N Dr. Dieter Gessner, Dr. Hauke Janssen; JörgHinrich Ahrens, Sigrid Behrend, Dr. Helmut Bott, Lisa Busch, Heiko Buschke, Heinz Egleder, Dr. Herbert Enger, Johannes Erasmus, Cordelia Freiwald, Silke Geister, Dr. Sabine Giehle, Thorsten Hapke, Hartmut Heidler, Gesa Höppner, Stephanie Hoffmann, Christa von Holtzapfel, Bertolt Hunger, Joachim Immisch, Michael Jürgens, Ulrich Klötzer, Angela Köllisch, Anna Kovac, Sonny Krauspe, Peter Kühn, Peter Lakemeier, Hannes Lamp, Marie-Odile Jonot-Langheim, Michael Lindner, Dr. Petra LudwigSidow, Rainer Lübbert, Sigrid Lüttich, Rainer Mehl, Ulrich Meier, Gerhard Minich, Wolfhart Müller, Bernd Musa, Werner Nielsen, Margret Nitsche, Thorsten Oltmer, Anna Petersen, Peter Philipp, Katja Ploch, Axel Pult, Ulrich Rambow, Thomas Riedel, Constanze Sanders, Petra Santos, Maximilian Schäfer, Rolf G. Schierhorn, Ekkehard Schmidt, Thomas Schmidt, Andrea Schumann-Eckert, Margret Spohn, Rainer Staudhammer, Anja Stehmann, Dr. Claudia Stodte, Stefan Storz, Rainer Szimm, Dr. Wilhelm Tappe, Dr. Eckart Teichert, Dr. Iris Timpke-Hamel, Heiner Ulrich, Hans-Jürgen Vogt, Carsten Voigt, Peter Wahle, Ursula Wamser, Peter Wetter, Andrea Wilkens, Holger Wilkop, Karl-Henning Windelbandt B Ü R O D E S H E R A U S G E B E R S Irma Nelles I N F O R M A T I O N Heinz P. Lohfeldt; Andreas M. Peets, Kirsten Wiedner, Peter Zobel K O O R D I N A T I O N Katrin Klocke L E S E R - S E R V I C E Catherine Stockinger S P I E G E L O N L I N E (im Auftrag des SPIEGEL: a + i art and information GmbH & Co.) Redaktion: Hans-Dieter Degler, Ulrich Booms N A C H R I C H T E N D I E N S T E AP, dpa, Los Angeles Times / Washington Post, New York Times, Reuters, sid, Time Nachdruck und Angebot in Lesezirkeln nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages. Das gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken und Mailboxes sowie für Vervielfältigungen auf CD-Rom. SPIEGEL-VERLAG RUDOLF AUGSTEIN GMBH & CO. KG Verantwortlich für Vertrieb: Ove Saffe Verantwortlich für Anzeigen: Christian Schlottau Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 53 vom 1. Januar 1999 Postbank AG Hamburg Nr. 7137-200 BLZ 200 100 20 Druck: Gruner Druck, Itzehoe V E R L A G S L E I T U N G Fried von Bismarck M Ä R K T E U N D E R L Ö S E Werner E. Klatten G E S C H Ä F T S F Ü H R U N G Rudolf Augstein, Karl Dietrich Seikel DER SPIEGEL (USPS No. 0154-520) is published weekly. The subscription price for the USA is $310 per annum. K.O.P.: German Language Publications, Inc., 153 South Dean Street, Englewood, NJ 07631. Telephone: 1-800-457-4443. e-mail: info @ glpnews.com. Periodicals postage is paid at Englewood, NJ 07631, and at additional mailing offices. Postmaster: Send address changes to: DER SPIEGEL, German Language Publications, Inc., 153 South Dean Street, Englewood, NJ 07631. d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 Chronik SAMSTAG, 2. 10. SPARKURS Als „jetzt nicht finanzierbar“ weist Bundeskanzler Gerhard Schröder die Pläne von IG-Metall-Chef Klaus Zwickel zur Reduzierung der Arbeitslosigkeit („Rente ab 60“) zurück. SONNTAG, 3. 10. RECHTSRUTSCH Der große Gewinner der Parlamentswahlen in Österreich ist mit vorläufig 27,2 Prozent die Freiheitliche Partei des Rechtspopulisten Jörg Haider. Die Sozialdemokratische Partei des Bundeskanzlers Viktor Klima schneidet mit 33,4 Prozent so schlecht ab wie nie zuvor in der Nachkriegszeit. NACHTRETEN Die „Welt am Sonntag“ druckt erste Auszüge aus „Das Herz schlägt links“ – der Generalabrechnung von Ex-SPD-Chef Oskar Lafontaine mit der Politik der Regierung Schröder. MONTAG, 4. 10. NS-VERBRECHER Ein Gericht in Kroatien verurteilt den 77-jährigen ehemaligen KZ-Kommandanten des Lagers Jasenovac, Dinko akiƒ, zu 20 Jahren Haft. JURISTENTREFFEN In seiner Eröffnungsrede zum 17. Deutschen Richtertag übt der Vorsitzende Rainer Voss ungewöhnlich harsche Kritik: Politiker versuchten, „die Rechtsprechung zu beeinflussen“. DIENSTAG, 5. 10. 2. bis 8. Oktober zern Sprint – der größte Firmenzusammenschluß aller Zeiten. Ihren 10-ProzentAnteil an Sprint will die Deutsche Telekom für 18 Milliarden Mark verkaufen. MITTWOCH, 6. 10. SPIEGEL TV REPORTAGE Traumschiff mit kleinen Fehlern Unterwegs mit der MS „Europa“ meisterschaft im Einzelzeitfahren im italienischen Treviso. ABFUHR Auf breiten Widerstand stößt EUKommissar Günter Verheugen beim Europa-Parlament mit dem Vorschlag, die Türkei beim Gipfel im Dezember in den Kreis der Beitrittsanwärter aufzunehmen. DONNERSTAG, 7. 10. NS-OPFER Sechs Milliarden Mark bieten die deutsche Industrie und die Bundesregierung den überlebenden NS-Zwangsarbeitern als Entschädigung an. Die Anwälte der Opfer wie der Münchner Michael Witti reagieren ablehnend: „unakzeptabel, eine Riesenenttäuschung“. AUSLANDSEINSATZ Mit klarer Mehrheit billigt der Bundestag die Entsendung deutscher Sanitätssoldaten nach Osttimor. FREITAG, 8. 10. MENSCHENRECHTE Ein Londoner Gericht entscheidet: General Pinochet, der frühere chilenische Präsident, kann wegen der Verbrechen unter seiner Militärdiktatur an Spanien ausgeliefert werden. Pinochets Anwälte wollen Berufung einlegen. BEFEHLSÜBERGABE General Klaus Rein- zug kollidieren nahe Paddington Station im Westen Londons. Dabei geraten vier Waggons in Brand. Vermutlich 80 Menschen werden getötet. hardt wird als erster Deutscher Kommandeur der Kosovo-Friedenstruppe Kfor. übernimmt das US-TelekommunikationsUnternehmen MCI-WorldCom den Kon- MONTAG 23.00 – 23.30 UHR SAT 1 RADSPORT Jan Ullrich gewinnt die Welt- ZUGUNGLÜCK Ein Intercity und ein Vorort- GLOBAL PLAYER Für 129 Milliarden Dollar SPIEGEL TV LAUTSPRECHER Die CSU eröffnet ihren Parteitag in Nürnberg. Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber geißelt die „mutlose Steuerpolitik“ der Regierung in Berlin. MS „Europa“ SPIEGEL TV Mitte September startete das Flaggschiff der Reederei Hapag-Lloyd zu seiner ersten Kreuzfahrt. Ein schwimmendes Luxushotel für mehr als 400 Gäste. Doch die Werft in Helsinki hat den Fünf-Sterne-Dampfer zu spät abgeliefert. Als die ersten Passagiere an Bord gingen, wurde noch gehämmert und gebohrt. DONNERSTAG 22.05 – 23.00 UHR VOX SPIEGEL TV EXTRA Mit Vollgas durch die „Grüne Hölle“ – die Bleifuß-Freaks vom Nürburgring Geschwindigkeit ist ihre Leidenschaft. Jedes Wochenende rasen hunderte von Amateur-Rennfahrern mit tiefergelegten Alltagsautos und getunten Motorrädern über den Nürburgring, die gefährlichste Rennstrecke der Welt. Offiziell gilt hier die Straßenverkehrsordnung, doch kaum einer hält sich daran. SAMSTAG 22.40 – 23.45 UHR VOX SPIEGEL TV SPECIAL People’s Century – Das Jahrhundert Teil I: Jahre der Hoffnung Die Unterprivilegierten wachen auf; das proletarische Bewusstsein entwickelt sich. Beginn der zehnteiligen Dokumentationsreihe über Naturkatastrophen und Krieg, Fortschritt und Wohlstand des ausgehenden Jahrhunderts. SONNTAG 22.15 – 23.00 UHR RTL REUTERS SPIEGEL TV Zweirad-Akrobaten: Malaysische Soldaten proben ihren Auftritt zur Einweihung der Formel-1-Rennstrecke in Sepang bei Kuala Lumpur. d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 MAGAZIN (K)ein Oskar für Lafontaine – der ExSPD-Vorsitzende liest aus seinen Werken; Die Schule der Gewalt – Bericht aus einem Jugendgefängnis in MecklenburgVorpommern; Operation Donnerschlag – wie die US-Armee die Bombardierung Berlins probte. 357 Register Rüstungsfabrik geschickt. Nach Kriegsende dann der wütende Neuanfang: Rasch entwickelte er sich mit seinen energiegeladenen, abstrakten Farbbildern zu einem weltweit bewunderten Protagonisten des europäischen Informel. Emil Schumacher, der in Spanien, der Schweiz und seiner Heimatstadt Hagen lebte, starb am vergangenen Montag auf Ibiza. Gestorben Bernard Buffet, 71. Von Kunstkritikern wurde er als Kitschmaler belächelt, auf dem Kunstmarkt war der Franzose den- CORBIS SYGMA Akio Morita, 78. Eigentlich hätte er die GAMMA / STUDIO X noch begehrt: Seine melancholischen Menschen- und Clownfiguren, ausgemergelte Gestalten mit harten Konturen, schienen vor allem in die skeptischen Jahre des Existenzialismus zu passen – und machten ihn zum Multimillionär. Unerträglich wurde dem besessenen Leinwand-Arbeiter das Leben, als ihm die Parkinsonsche Krankheit das Malen unmöglich machte. Am vergangenen Montag beging Bernard Buffet in seiner Villa im südfranzösischen Tourtour Selbstmord. F. NEUMAYER / RIRO-PRESS Heinz G. Konsalik, 78. Der BestsellerAutor aus Köln, bis kurz vor seinem Tode mit einer 44 Jahre jüngeren Chinesin liiert, fürchtete weder Kitsch noch Klischee. Er hackte Romane im Akkord (155 in 43 Jahren), nannte sich „Volksschriftsteller“ und hatte volkswagenmäßig Erfolg (83 Millionen Weltauflage). Er war Student der Medizin und Landser in Russland, folglich hieß sein Erst-Erfolg „Der Arzt von Stalingrad“, und die Freuden des Landsers, Gewalt, Sex und andere Trivialitäten, behielt er auch an anderen RomanFronten bei. 1939 trat er eine Tätigkeit bei der Gestapo an und wie sein Dienstherr pilgerte er nach Bayreuth. Heinz G. Konsalik starb am 2. Oktober nach einem Schlaganfall in Salzburg. Sake-Brauerei seines Vaters übernehmen sollen. Doch er folgte seinem Hang zur Technik. Als Ingenieur der japanischen Kriegsmarine tüftelte er im Zweiten Weltkrieg zunächst im Dienste des Kaisers. Die erhoffte Wunderwaffe gegen die Amerikaner erfand er zwar nicht, dafür aber lernte er seinen künftigen Geschäftspartner Masaru Ibuka kennen. Nach dem Krieg gründeten die Ex-Offiziere im zerbombten Tokio die Firma „Tokyo Tsushin Kogyo“ – den späteren Elektronikkonzern Sony. Berühmt wurde er vor allem durch seine Erfindung des Walkman. Nach einem schweren Schlaganfall zog sich der Sony-Chef 1993 aus dem aktiven Geschäft zurück. Akio Morita starb am 3. Oktober in Tokio. Amália Rodrigues, 79. In ihrer Heimat Portugal war sie schon lange ein Nationaldenkmal, verehrt als die Verkörperung des traurig-trotzigen Fado. Keine andere Sängerin konnte den Weltschmerz, die Melancholie und die Schicksalergebenheit dieser traditionellen, arabisch beeinflussten Armeleute-Gesänge authentischer interpretieren als die Lissabonner ArbeiterTochter. Welttourneen und TV-Auftritte machten die Sängerin mit der unverwechselbaren klagend-rauen Stimme auch im Ausland berühmt. Amália Rodrigues starb am vergangenen Mittwoch in ihrer Heimatstadt an den Folgen eines langjährigen Lungenleidens. Emil Schumacher, 87. Weil er sich nicht 358 d e r s p i e g e l SIPA PRESS von Nazi-Professoren unterrichten lassen wollte, brach er 1935 sein Kunststudium ab. Doch entziehen konnte er sich dem NS-System damit nicht. Vier Jahre später wurde der junge Westfale, 1912 in Hagen geboren, als technischer Zeichner in eine 4 1 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite F. OSSENBRINK Personalien SIPA PRESS Müller, 39, heiraten. Der erste Termin war geplatzt, weil Dreßlers Ex-Frau Leocardia, 58, die Scheidung anfocht. Die künftige Frau Dreßler wird von ihr in Interviews als „Ehebrecherin“ beschimpft, dabei war Leocardia selbst Grund für Dreßlers erste Scheidung. Gefeiert wird am 23. Oktober mit vielen Freunden und wenig Gästen aus der Politik. Kanzler Schröder ist nicht eingeladen, dafür Oskar Lafontaine, Norbert Blüm und Guido Westerwelle. Chirac, Anelka, Aznar Nicolas Anelka, 20, französischer Fußball-Nationalspieler und mit der zweithöchsten Ablöse der Fußballgeschichte – 64 Millionen Mark – von Arsenal London zu Real Madrid gewechselt, rächte sich symbolisch an der Grande Nation für vermeintliches Unrecht: Der Kicker verweigerte – zunächst – die Teilnahme an einem Gala-Schmaus, zu dem der spanische Premierminister José María Aznar, 46, zu Ehren des auf Staatsbesuch weilenden Pariser Präsidenten Jacques Chirac, 66, gebeten hatte. Begründung des in einem der berüchtigsten französischen Vororte aufgewachsenen Eigenbrötlers: Bruder Didier, Guru und Manager, sei nicht mit eingeladen. Während die verlegenen Spanier eilig streuten, der Star der „größten TransferPosse der Fußball-Neuzeit“ („Neue Zürcher Zeitung“) sei wegen seiner dürftigen Leistungen bei Real lieber in Deckung geblieben, gaben Pariser Insider eine andere Version: Der stolze Sohn von Emigranten aus Martinique war letztes Jahr drei Wochen vor der Fußball-WM aus der siegreichen Tricolore-Equipe ausgeschlossen worden. Somit war er auch von den Freudenfeiern ausgesperrt, die Chirac am Nationalfeiertag im Elysée-Park zum eigenen Ruhm um „les Bleus“ entfesselt hatte. Chirac nahm das Madrider Foul-Spiel des Stürmers mit Humor: „Ich will mich nicht in die Familienangelegenheiten des Monsieur Anelka einmischen.“ Der schwierige Nicolas spielte daraufhin auf Unentschieden: Er erschien zum Tafeln – ohne Bruder, dafür aber mit Real-Trikots für Chirac und für Aznar. Clement Wolfgang Clement, 59, nordrhein-westfälischer Ministerpräsident (SPD), hält nicht viel von der Farbkombination RotGrün. Bei einem Besuch des Thomy-Werks in Neuss stellte die Werksleitung dem hohen Gast Bestseller-Produkte vor. So etwa den Verkaufsschlager „Thomy Rot-Weiß“. Das Gemisch aus Mayonnaise und Ketchup sei der Hit, sogar über das Ruhrgebiet hinaus. Auch die Mischung Ketchup und Senf („Thomy Rot-Gelb“) ward dem Ministerpräsidenten zum Geschmackstest angeboten. Bei den vielen Farben fiel dann dem Werksleiter auch noch der Scherz ein: „Und jetzt denken wir noch über Rot-Grün nach.“ Da erschrak Clement, der Mann mit dem Modernisiererimage: „Das lassen Sie mal lieber. Damit kann man, glaube ich, nicht so viel Geld verdienen. Passt außerdem nicht in die Tube.“ Rudolf Dreßler, 58, SPD-Sozialexperte, kann jetzt doch im zweiten Anlauf die RTL-Journalistin Doris Claudia Schiffer, 29, deutsches Fräuleinwunder, das nach einem Durchhänger im vergangenen Jahr jetzt wieder auf den Pariser Laufstegen zu sehen war, forciert gezielt das Filmgeschäft. In dem Kinostück „Black and White“, das im New Yorker HipHop-Milieu angesiedelt ist, spielt sie – zusammen mit Ben Stiller und Brooke Shields – eine schwierige Studentin. „Ich suche mir Rollen ohne viel Glamour aus“, sagt die Jung-Schauspielerin, die ihre letzten Model-Auftritte zum Freundschaftspreis von 1500 Dollar absolvierte. Da könne sie sich „ganz auf den darzustellenden Charakter konzentrieren“ und müsse sich nicht um ihr „Aussehen kümmern“. Friedhelm Julius Beucher, 53, SPD-Bun- AP Schiffer 360 destagsabgeordneter und Vorsitzender des Sportausschusses, vermisste bei Kollegen aus dem Osten wahlkämpferischen Einsatz. Der Fraktionsvorsitzende Peter Struck hatte Listen herumgereicht, in die sich die Abgeordneten für Wahlkampfeinsätze vor allem in Ost-Berlin an S- und U-Bahnhöfen eintragen sollten. Das Ergebnis empörte den unter anderem auch in Arbeitslosen-Initiativen engagierten Sozi. Von 69 Ost-Abgeordneten der SPD hatten sich gerade mal 23 zum Termin am vergangenen Donnerstag gemeldet. „Können mir mal die anderen sagen, welche Termine ihr für Donnerstag zwischen 6.30 Uhr und 7.30 Uhr habt?“, blaffte Beucher die Anwesenden an, „vielleicht verpasse ich ja ganz wichtige Dinge der Öffentlichkeits- NYT Margaret MacGregor, 36, Gärtnerin und Faust- sowie Kickboxerin, bestand auf ihren für den vergangenen Samstag in Seattle anberaumten Boxkampf gegen das männliche Leichtgewicht Loi Chow, 34, beide 57 Kilo schwer. Zwar gibt es in den USA aus Gründen der Gleichberechtigung keine rechtliche Handhabe gegen einen Faustkampf Frau gegen Mann, aber den Machos aus der Boxszene war das bevorstehende Sportereignis nicht geheuer. „Wir meinen“, so der Di- „September“-Blatt, Nicholson rektor der Athletic Commisssion des US-Staates Nevada, Marc Ratner, „dass te Kalender für sechs Männer gegen Männer und Frauen gegen Pfund (rund 18 Mark) Frauen kämpfen sollten.“ MacGregor indes zum Verkauf. Mrs. Ione wollte erst dann auf den Fight verzichten, Ashcroft, 59, Vorsitzen„wenn jemand ein wirklich plausibles Ge- de der Winchester Congenargument“ vorbrächte. Sie jedenfalls servative Association habe die kriegerische Kunst gelernt, nach- und „Januar“-Kalenderblatt, zu dem Tun dem sie sich bei Ehekrächen ihrem prü- der Ladys: „Manche glauben, die konsergelnden Ex-Mann absolut „hilflos“ ausge- vativen Frauen sind ein graues Krampfsetzt sah: „Ich habe mir dann gesagt: Kein aderngeschwader.“ Vielmehr, so die Mann wird das mit mir noch einmal tun, es Dame, die sich eine Toga übergeworfen hat und neckisch den nackten Oberschenkel sei denn, ich lass ihn.“ vorstreckt, seien alle Altersgruppen vertreten; und die Bilder seien weder „unfein noch vulgär“. „August“-Model Caroline Dineage, 27, zeigt sich im Ballkleid, umrahmt von zwei Herren mit nacktem Oberkörper. Sie gesteht, sie habe es als Jüngste in ihrem Wahlkreis „schwer, ernst genommen zu werden“. Diesmal habe sie die Sache umgedreht „und die Kerle dazu gebracht, die Kleider abzulegen“. Und „September“-Darstellerin Nicholson, die sich hinter einem Strohballen versteckt, sagt: Es sei eine „tolle Gelegenheit“ gewesen, das richtige Image der Partei zu zeigen: „Die Leute halten einen immer noch für sonderbar, wenn man unter 40 und Mitglied der Konservativen ist.“ Natürlich sind die Damen, sofern verheiratet, mit Zustimmung der Ehemänner fotografiert worden. MacGregor, Chow d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9 361 FOTOS: BULLS PRESS (li.); R. RILEY (re.) Sheena Nicholson, 34, Tory-Mitglied und Landwirtin, und elf weitere konservative Damen posierten spärlich bekleidet für Kalender-Fotos und einen guten Zweck: Geld für die Parteikasse. Auf dem Parteitag der Torys vergangene Woche kam der gewag- arbeit.“ Beuchers Strafpredigt zeigte Wirkung. Die Liste sei dann „ganz schön angeschwollen“. Anderntags traten 150 Mitglieder der Fraktion, darunter auch Struck und Verteidigungsminister Rudolf Scharping, frühmorgens bei U-Bahnhöfen und Schulen an, um die Berliner Genossen zu unterstützen. Die allerdings begleiteten die Aktion ohne große Begeisterung, manche ließen die Bundestagsabgeordneten ganz allein agieren. Verena Wohlleben wartete am Alexanderplatz eine dreiviertel Stunde auf Material und Vertreter der Ortspartei. Die Parlamentarische Geschäftsführerin der Bundestags-SPD, Susanne Kastner, wollte rote Äpfel verteilen („damit die Leut in der Früh eine Freud haben“), erhielt aber nur Broschüren. Ihr Fazit: „So gewinnt man keine Wahlen.“ Hohlspiegel Rückspiegel Aus dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ über Brigitte Bardot: „Vielmehr hat ihr gerade dieses Engagement viele Feinde eingebracht, sie bekam Morddrohungen von Pferdemetzgern und handelte sich sogar eine Geldbuße dafür ein, dass sie das rituelle Schlachten der Moslems in Frankreich als ,islamische Zügellosigkeit‘ bezeichnete.“ Zitate Aus der „Badischen Zeitung“: „Bei der Kommunalwahl am 24. Oktober kandidieren zum ersten Mal auch Frauen und Männer für den Gemeinderat.“ Aus der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung“ Aus der „Westdeutschen Zeitung“ Aus einem Urteil des Bundesfinanzhofs: „Die künstliche Befruchtung der (gesunden) Ehefrau mit Fremdsamen bezweckt aber nicht die Beseitigung oder Linderung des Ehemannes, sondern die Erfüllung des Wunsches nach einem Kind.“ Aus dem Landespressespiegel Hessen: „Davon müsse das Land noch 50 000 Mark nachlassen, damit der neue Eigentümer die Frau des bisherigen Betreiberehepaares übernehme.“ Aus der „Welt am Sonntag“ Aus der „Badischen Zeitung“: „Ein großer Unterschied besteht noch in der Einstellung zu Ausländern: Gut die Hälfte der südwestdeutschen Jugendlichen glaubt, dass das Zusammenleben funktioniert; jeder zweite Sachse sieht es skeptisch.“ Aus dem „Mühlacker Tagblatt“: „Bezüglich der Todesursache gibt es keine Hinweise auf eine Fremdeinwirkung. Die Zahl der Drogentoten bei der Polizeidirektion Pforzheim hat sich 1999 somit auf drei erhöht.“ 362 Günter Grass in einem Interview mit der „Woche“ zum SPIEGEL-Gespräch mit Marcel Reich-Ranicki über dessen schwieriges Verhältnis zum diesjährigen Literaturnobelpreisträger „Autoren – ,Ich bedaure nichts‘“ (Nr. 40/1999): Die Woche: Ihr Erzfeind Marcel ReichRanicki hat im SPIEGEL die Frage aufgeworfen, ob es nun nicht an der Zeit sei, sich zusammenzusetzen. Haben Sie dazu Neigung? Grass: Als der SPIEGEL-Titel erschien, auf dem Reich-Ranicki meinen Roman „Ein weites Feld“ zerriss, hat er auch das Tischtuch zwischen uns beiden zerrissen. Er behauptet, die Fotomontage sei ohne sein Wissen entstanden, aber er hätte dieses Bild verhindern können. Er hatte zudem die Möglichkeit, den SPIEGEL wegen Missbrauchs zu verklagen. Er kann das nicht wie einen Lapsus behandeln. Das hat mich tief verletzt. So einfach ist das nicht zu begradigen. Die Woche: Aber wenn Sie ihm nächste Woche auf der Frankfurter Buchmesse begegnen würden, dann gäben Sie ihm die Hand? Grass: Dann würde ich ihm das sagen. Es ist ja nicht so, dass ich ihm aus dem Weg gehen oder um die Ecke schleichen würde. Das ganz gewiss nicht. Ich habe Jahrzehnte unter ihm leiden müssen und hatte trotzdem immer ein vergnügliches Verhältnis zu ihm, weil ich ihn auch nicht überschätzt habe, wie viele das tun. Die „Tageszeitung“ zum selben Thema: Ein Glückwunsch. Marcel Reich-Ranicki, der lauteste Verreißer heimischer Prosa und Lyrik, hütet seine Zunge. Persönlich will er nicht dem Autor der Blechtrommel zum Literaturnobelpreis gratulieren. Gleichwohl stimmte er im SPIEGEL versöhnliche Töne an: „Mein lieber Günter Grass, Sie sind es, Sie sind doch der Größte!“ Ein Tischtuch. Doch Grass fühlt sich nicht genug von Reich-Ranicki umworben, lässt er in der „Woche“ verlauten. Mit dem SPIEGEL-Titel aus dem Jahr 1995, auf dem Reich-Ranicki in einer Fotomontage Grass’ Roman „Ein weites Feld“ zerfetzt, habe der Kritiker das Tischtuch zwischen ihnen beiden zerrissen. Wenn es gegen dessen Willen entstanden sei, hätte er es verhindern müssen. Und darauf ein Butt. So können die beiden Männer nicht zusammenkommen. Günter sieht Marcel von Stichwortgebern umstellt, Marcel unterstellt Günter gekränkten Narzissmus: „Sein Verhältnis zu mir hängt immer nur davon ab, wie ich sein letztes Buch beurteilt habe. Das ist das Übliche bei allen Autoren.“ Den letzten und einzigen Butt bekam Marcel von Günter in den Fünfzigern serviert. d e r s p i e g e l 4 1 / 1 9 9 9