DER SPIEGEL Jahrgang 1999 Heft 41

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DER SPIEGEL Jahrgang 1999 Heft 41
DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN
Hausmitteilung
11. Oktober 1999
Betr.: Titel, SPIEGEL-Almanach
W
er kennt Jenny Erpenbeck, Elke Naters und Thomas Lehr? Wem sagen
Karen Duve und Benjamin Lebert etwas? Niemand muss sich grämen, mit
den Namen dieser Nachwuchsautoren – noch – nichts anfangen zu können, die auf
dem SPIEGEL-Titelbild für die junge deutsche Literatur trommeln: Die Schriftsteller
selbst wussten sogar nicht alle voneinander, als sie zum Fototermin nach Hamburg
reisten. Dort drückte ihnen SPIEGEL-Fotografin Monika Zucht nacheinander
eine rot-weiße Trommel in die
Hand und ließ sie das InstruThomas Lehr
Elke
ment rühren. Thomas Brussig
Naters
Thomas
Benjamin
– er ist immerhin vielen durch
Brussig
Lebert
seinen Roman „Helden wie
wir“ bekannt – drosch gleich
so begeistert auf das Gerät
ein, dass die Fotografin um
Mäßigung bat: „Das Ding ist
heilig und hoch versichert.“
Es war schließlich jene OriKaren
ginal-Trommel, die RomanDuve
Held Oskar Matzerath in der
Schlöndorff-Verfilmung von
Günter Grass’ „Blechtrommel“ schlug und die seither
im Deutschen Filmmuseum in
Frankfurt am Main ausgestellt
ist. Die Verbindung zum frisch
gekürten LiteraturnobelpreisJenny Erpenbeck
träger ist gewollt: „Die deutschen Talente sind seine literarischen Enkel“, sagt SPIEGEL-Redakteur Mathias
Schreiber. Die für den Titel ausgewählten sechs Autoren stehen dabei auch für
andere – es gibt noch einige mehr, die zu den Hoffnungsträgern zählen. Aber jene
sechs Literaten sind den SPIEGEL-Kulturredakteuren durch ihre jüngsten Werke
besonders aufgefallen. Schreiber: „Sie missachten literarische Theorien und
Dogmen und erzählen so saftig, unterhaltsam und unbekümmert wie einst der
junge Grass“ (Seite 244).
Zur Frankfurter Buchmesse kommt der SPIEGEL mit einem großen Sonderteil. Darin enthalten sind Tipps und Empfehlungen für Lesehungrige und Wissbegierige. Wer
von zu Hause aus in einer virtuellen Bibliothek stöbern möchte, kann zudem auf
das Oktober-Heft von SPIEGEL Spezial („Die Zukunft des Lesens“) zurückgreifen.
Dem Reportage-Magazin liegt eine CD-Rom mit rund einer Million Buchtiteln und
Hinweisen auf Autoren, Preise und Verlage bei.
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echtzeitig erscheint auch der neue SPIEGEL-Almanach –
ein „Welt-Jahrbuch 2000“ der besonderen Art: einerseits
ein Lexikon mit Zahlen, Daten und Analysen über alle
Länder der Erde; andererseits ein Kompendium mit einer
Chronik der laufenden Ereignisse, den Themen und Personen
des Jahres, Nachrufen, Darstellungen internationaler Organisationen und einem großen Sonderteil mit Rückblicken auf das
20. Jahrhundert. Das alles gibt es auf 640 illustrierten Seiten
und zudem auf einer CD-Rom. Heinz P. Lohfeldt, verantwortlicher Redakteur: „Das Jahrbuch 2000 ist nicht nur ein
zuverlässiges Nachschlagewerk, es lädt auch zur Lektüre ein.“
Im Internet: www.spiegel.de
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Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
In diesem Heft
Frankfurter Buchmesse: Neue Romane
und Erzählungen in der Kritik .......................... 262
Rüstzeug für die Jahrtausendwende –
neue Sachbücher............................................... 284
Gedichte von Schauspieler Manfred Krug ......... 294
Der Friedenspreisträger Fritz Stern über
die zwei deutschen Diktaturen ........................... 296
Die aktuelle Literatur aus Ungarn .................... 304
Deutschland
Panorama: Anklage gegen Fußball-Star
Yeboah / Papst lässt Bischöfe abblitzen............... 17
Regierung: Gerhard Schröder geht auf
seine Partei zu .................................................... 22
Sozialstaat: SPIEGEL-Gespräch mit
Wirtschaftsminister Werner Müller über
notwendige Reformen......................................... 26
SPD: Oskar Lafontaine zwischen
Ehrgeiz und Resignation..................................... 34
CDU: Reserve-Kanzler Helmut Kohl................... 38
Spionage: Handys als Wanzen........................... 42
Minister: Jürgen Trittin gibt den Staatsmann ...... 50
Arzneimittel: Preistricks der Pharmaindustrie .... 56
Gesundheit: Spar-Therapie in Südbaden ........... 57
Grenzverkehr: Sex und Billigbenzin locken
hunderttausende nach Tschechien ...................... 62
Einheit: Wie Honecker ganz Deutschland
regiert hätte........................................................ 69
DDR: Geburtstagsfeiern für die
untergegangene Republik .................................. 112
Sprachenstreit: Muss die EU
Deutsch dolmetschen?....................................... 114
Affären: Verkehrsminister Klimmt im Saar-Filz.. 116
NS-Verbrechen: New Yorker Nazi-Jäger
belastet Bundesverdienstkreuzträger ................ 123
100 Tage im Herbst
Wende und Ende des SED-Staates (3):
„Keine Gewalt!“ – Die DDR am Rande
des Bürgerkriegs ............................................. 77
Porträt: Kurt Masur – Dirigent der Wende ... 100
Analyse: Das Gewaltpotenzial der DDR ...... 105
Habibie: Geld aufs Privatkonto?
Habibie
Saar-Filz belastet Klimmt
N. MASKUS
F
Durch seine egomane Buch-Kampagne gegen Gerhard Schröder
hat es Oskar Lafontaine mit der Mehrheit seiner Genossen
verdorben. Doch mit dem Kaschmir- und Cohiba-Kanzler können
sich altgediente Sozialdemokraten auch
nicht identifizieren. Nun will Schröder das
Herz der Partei für sich gewinnen.
Sein künftiger Generalsekretär Franz
Müntefering bereitet mit seinen Wahlkampf-Experten eine Kampagne zum
Parteitag im Dezember vor, die das Image
Schröder
vom Zigarren rauchenden Genossen der
Bosse sozialdemokratisieren soll. Der dritte Rivale in der alten
SPD-Troika, Verteidigungsminister Rudolf Scharping, zeigt
derweil immer ungenierter seinen Führungsanspruch.
Lafontaine
AP
Seite 134
Während Indonesiens Staatspräsident
Bacharuddin Habibie in Jakarta um
seinen Posten kämpft, droht ihm Ärger aus Deutschland: Aus Unterlagen
des Ferrostaal-Konzerns ergibt sich
der Verdacht, dass Habibie von der
Firma 200 000 Mark auf ein Privatkonto überwiesen bekam. FerrostaalChef Klaus von Menges kennt Habibie seit langem und macht gute Geschäfte mit Indonesien. Er soll auch
Geld an den derzeitigen Industrieminister Indonesiens überwiesen haben.
Seite 116
Die Filz-Affäre um Zuwendungen eines Unternehmers für den 1. FC Saarbrücken und
Verkehrsminister Reinhard Klimmt weitet sich aus. Eine Ex-Ministerin intervenierte
im Sinne des Geldgebers, Polizisten durchsuchten eine SPD-Wahlkampfagentur.
Wirtschaft
Trends: Deutsche Konkurrenz für Moody’s /
Weniger Subventionen für BMW?..................... 125
Geld: Blase an der Wall Street? / Erholung
in Lateinamerika ............................................... 127
Vermögen: Die Regierung will Stiftungen
nach US-Vorbild fördern ................................... 128
Renten: Neue Allianz für die Zwangsrente ...... 130
Affären: Schmiergeld für Habibie? ................... 134
Chemie-Industrie: Bayer braucht
einen Partner .................................................... 138
Banken: Dresdner-Bank-Chef unter Druck ...... 142
Standort: Warum DaimlerChrysler
in Deutschland bleibt ........................................ 146
Reformen: Polens Aufstieg ............................... 148
Luftfahrt: Verworrene Allianzen,
verärgerte Kunden ............................................ 155
Medien
Trends: ARD baut Filmhandel aus /
„Bild“ verbannt Pin-up-Girls ............................ 159
Fernsehen: Sinkende Quoten
für Rotlicht-Filme.............................................. 160
Vorschau ........................................................... 161
TV-Konzerne: Kirch ordnet sein Imperium ....... 162
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F. OSSENBRINK
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Seiten 22, 34
FOTOS: M. DARCHINGER
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Der Kampf ums Herz der SPD
K.-B. KARWASZ
Titel
Vorbild Grass: Eine neue deutsche
Dichtergeneration meldet sich zu Wort............. 244
Junge Literaten im Globetrotter-Fieber............. 246
Die Erzählerin Karen Duve
über ihren Debüt-Erfolg „Regenroman“
und das Thema Sexualität ................................. 255
Mobil-Telefonierer Minister Fischer, Scharping, Grünen-Abgeordneter Özdemir
Lauschangriff per Handy
Seite 42
Sicherheitsexperten warnen vor einer neuen Abhörmöglichkeit: Mit dem Handy
habe die Wanze laufen gelernt – eine einfache Manipulation ermögliche einen
Lauschangriff aus sicherer Distanz. Jetzt prüft die Regierung ein Verbot für MobilTelefone im Kabinettssaal und in vertraulichen Sitzungen der Parlamentsgremien.
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Presse: Die deutsche „Financial Times“
übt den Ernstfall ............................................... 165
Fernsehfilm: Die TV-Version von
Victor Klemperers Tagebüchern ........................ 172
Zeitungen: Die Macht des
„Hollywood Reporter“ ..................................... 181
Gesellschaft
K. MÜLLER
Uno-Administrator Koenigs, Polizist in Mitrovica
Sport
Fischers Freund im Kosovo
Seite 228
Als Stadtkämmerer von Frankfurt sorgte der Grüne Tom Koenigs für geordnete
Finanzen. Dann hievte Außenminister Fischer seinen Freund auf den Posten des UnoAdministrators im Kosovo. Dort soll er eine demokratische Verwaltung aufbauen.
Die neue Normalität des David Bowie
Seite 196
Sein neues Album trauert der großen Liebe nach, aber privat ist Rock-Superstar David Bowie, wie er dem SPIEGEL gesteht, „ein Baby, das vor Glück nur so strampelt“.
Er, der einst so „Extreme“, setzt nun auf „vertraute Dinge“ und „normale Songs“.
Trip in die Tiefsee Seite 340
R. B. WHITE
Szene: Comeback des Palästinensertuchs /
Verein für Parkplatzraver.................................. 185
Mode: Wolfgang Joop über Pelz-Pomp
und die neue Pop-Kundschaft ........................... 186
Unternehmen: Sabbaticals für Aufsteiger......... 192
Rockstars: SPIEGEL-Gespräch mit
David Bowie über
Altersweisheit und seinen Börsengang.............. 196
Immobilien: Vertreibung von Sylt .................... 204
Erstmals starteten Urlauber mit einem
U-Boot zu den „Schwarzen Rauchern“ am
Ozeangrund. Jeden Teilnehmer kostete die
abenteuerliche Tauchfahrt 35 000 Mark.
Der amerikanische Reiseveranstalter hat
Schaulustige auch schon zum „Titanic“Wrack kutschiert und plant Reisen ins All.
„Schwarze Raucher“ am Tiefseegrund
Märkte: Amerikas und Europas
Sportwelten wachsen zusammen ...................... 208
Warum ein Milliardär zwei deutsche
Eishockeyclubs kauft......................................... 210
Eiskunstlaufen: Tonya Hardings Comeback ..... 215
Ausland
Panorama: Glücksspielgelder für Washingtons
Wahlkampf / Kirchenkampf zwischen
Christen und Muslimen im Heiligen Land......... 219
Kaukasus: Moskaus zweiter
Eroberungsfeldzug in Tschetschenien................ 222
Banken: Anklage gegen
russische Geldschieber ...................................... 225
Österreich: Haider will an die Macht............... 226
Kosovo: Ein Grüner soll Frieden schaffen ........ 228
Großbritannien: Chaos bei der Bahn ............... 232
Weltbevölkerung: Kampf ums Wasser ............. 234
Zeitgeschichte: Generalprobe für die
Bombardierung Berlins ..................................... 238
Spiegel des 20. Jahrhunderts
Das Jahrhundert der Massenkultur:
Gerd Koenen über die Dichter
und die Macht ............................................... 311
Kultur
Szene: Exzentrische Frauenporträts von
Annie Leibovitz / Peter Herrmann über
Dreh-Erfahrungen in Iran ................................. 325
Musicals: Die Illusionsmaschine
läuft wieder ...................................................... 328
Museen: Christoph Stölzl über seinen Abschied
vom Deutschen Historischen Museum .............. 331
Nobelpreis: Rudolf Augstein – Erinnerungen
an Günter Grass................................................ 332
Bestseller ........................................................ 334
Wissenschaft + Technik
Seite 186
Abendkleider aus Krokodilleder, mit toten
Tieren dekorierte Hüte, Röcke aus Pelz, BHs
aus Federn – für die Haute-Couture- und
Prêt-à-porter-Kollektionen, schreibt der Modedesigner Wolfgang Joop, ist in diesem
Jahr kein Material zu luxuriös. Und Pelz
ist wieder gesellschaftsfähig. Weil der alte
Geldadel aber an pompösen und effektheischenden Entwürfen das Interesse verloren hat, haben die Couturiers eine neue
Kundschaft gesucht und gefunden: die Popstars.
Haute-Couture-Entwurf von Dior
CORBIS SYGMA
Pomp für Popstars
Prisma: Rätselhaftes Lachssterben in
den USA / Neuer Super-Kat für Pkw................ 337
Prisma Computer: Trend zum Sub-Notebook /
Linux-Programmierer Dalheimer
über das Geschäft mit kostenloser Software ..... 338
Tourismus: Tauchfahrten zum Tiefseegrund ...... 340
Medizin: Werden tausende Briten
am Rinderwahn sterben? .................................. 343
Preise: Ehrung für die überflüssigsten
Forschungsarbeiten der Welt............................. 348
Rüstung: Erster Test des amerikanischen
SDI-light-Programms ........................................ 350
Meteorologie: Wolkenmelken mit
Salzkristallen .................................................... 352
Briefe ................................................................... 8
Impressum.................................................. 14, 356
Leserservice .................................................... 356
Chronik ............................................................ 357
Register ........................................................... 358
Personalien...................................................... 360
Hohlspiegel/Rückspiegel ............................... 362
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Briefe
Olaf Plotke aus Kleve (Nrdrh.-Westf.) zum Titel
„Gen-Projekt Übermensch“
SPIEGEL-Titel 39/1999
Gentechnik als Zaubermittel
Nr. 39/1999, Titel: Gen-Projekt Übermensch
Auch wenn Sloterdijk nur vage und bewusst missverständliche Andeutungen
über konkrete Gen-Ethik macht: Die
Diskussion ist notwendig! Die Gentechnik ist entdeckt, und wir müssen einen
Preis dafür zahlen. Nur über die Art und
die Höhe können wir entscheiden oder
uns von denen, die bereits jetzt aus der
Gentechnik Profit schlagen, den Preis vorschreiben lassen.
Köln
Andreas Mühldorfer
Wann also kommt die Talkshow, in der
Herr Sloterdijk, vielfach geklont, als Moderator, Gäste und Publikum in einem,
gänzlich unbelästigt von „völlig naturbelassenen Denunzianten“ (vulgo: lumpigen
Idioten) sich an seinen ebenso abgestandenen wie hinterlistigen Wortdrechseleien
befriedigen kann?
Wackernheim (Rhld.-Pf.)
Wolfgang Adam
Vielen Dank dafür, dass Sie Sloterdijk als
einen profilierungssüchtigen Schwätzer
entlarvt haben. Ich hoffe, dass durch die
Diskussion über seine wirren Thesen klar
wird, dass wir schon seit längerem eine
schleichende Erosion der Menschenwürde
erleben.
Brüssel
Dr. Peter Liese
CDU/MdEP, Vors. d. Arbeitsgruppe Bioethik
Gene allein genügen nicht, eine Persönlichkeit festzulegen.
Schneverdingen (Nieders.)
Dr. Karl Wulff
Seit Urzeiten kämpft der Mensch gegen
die destruktiven Seiten seiner Natur. Auch
Aufklärung und Humanismus änderten seine Destruktivität nur marginal – ein Fiasko der Geistesgeschichte. Aber aussprechen darf man diese kränkende Wahrheit
nicht. Und jede Überlegung, die Natur des
Menschen (gen)technisch zu evolutionieren, ruft Abwehrreflexe hervor, die üblichen Beschwörungen, von Frankenstein bis
Faschismus, wie jetzt gegenüber Sloterdijk. Dabei ist es gerade seine Stärke, dass
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er nicht vorschnell Antworten gibt, sondern nur eine notwendige Diskussion anstößt, die anderswo längst geführt, allein
bei uns in Deutschland tabuisiert wird.
Köln
Ben-Alexander Bohnke
Herr Sloterdijk scheint der festen Überzeugung zu sein, dass wirklich dringend
benötigte menschliche Qualitäten, wie zum
Beispiel Liebesfähigkeit, bei Menschen wie
ihm nur angezüchtet werden können.
Münster (Nrdrh.-Westf.)
Rainer C. Kohnen
Braunschweig
Martin Vogt
Arbeitskreis Bioethik
Mit der Eugenik – sobald sie mal zum
Nutzen der Menschheit gereicht – wird es
wohl so sein wie mit den meisten Errungenschaften der Wissenschaft: Sie wird
ausschließlich der Ersten Welt, die sie
wohl am wenigsten braucht, zur Verfügung
stehen.
Hollywood
Sebastian Zidek
Aus dem „Nutzen“, den manche darin sehen, einen Menschen – den zweifellos
mehr als nur sein Körper ausmacht – zu
klonen, spricht meines Erachtens weniger
wissenschaftliches Interesse als vielmehr
die Unfähigkeit zu akzeptieren, was ebenfalls zur natürlichen Ausstattung eines
Menschen gehört: der Tod beziehungsweise das Sterben.
Bonn
Jens Krischker
Da wird das „Jahrhundert der
Biologie“ mit seinen grundlegenden ethischen, sozialen und
rechtlichen Fragestellungen
verkündet, deren Beantwortung die Zukunft des Menschen
bestimmen wird. Dabei wird
leider übersehen, dass die
Züchtung und Verbesserung
einer abstrakten Spezies
„Mensch“, die (wenn auch erst
nur gedankliche) Eliminierung
der Individualität und Kultur
zur Voraussetzung haben. Trotz
dieses zerstörerischen Eingriffspotenzials in den indivi- Geklonte Kälber: Erfolg durch Unvollkommenheit
duellen Lebensbereich sowie in
unser Kulturgefüge werden die zukünfti- Über Sloterdijks provokante und fragwürgen als auch schon praktizierten techni- dige Wortwahl und seine ,,menschlich-allschen Anwendungsmöglichkeiten in der zumenschliche“ Reaktion auf die aufflamÖffentlichkeit nicht diskutiert. Dies ver- mende Kritik lässt sich sicherlich streiten.
wundert auch nicht, lässt sich die in der Neben der durch seinen Vortrag angeBioethik-Konvention des Europarates ver- stoßenen oder neu belebten Diskussion
ordnete „public education“ doch am ehes- über konkrete Fragen der Bioethik macht
ten als „durchorganisierte Desinformati- sein Text aber vor allem auch darauf aufon“ zur Durchsetzung wirtschaftlicher, merksam, dass es bei grundsätzlichen Pro-
Vor 50 Jahren der spiegel vom 13. Oktober 1949
Licht im Frankfurter Zoo-Skandal Vergiftete Tiere sollten Direktor Grzimeks Ruf ruinieren. Regierungskrise in Paris Henri Queuille, der achte
Ministerpräsident nach dem Krieg, tritt zurück. Prag im Kampf gegen
die katholische Kirche Dirnen gegen Dorfpfarrer. Dritter russischer
Atombombenversuch Robert Tellmann gibt Aufschluss über die sowjetische Rüstungsforschung. Handelsabkommen zwischen West- und OstDeutschland Unterzeichnung nach fünf zähen Verhandlungsmonaten.
Be-Bop erobert die Welt Benny Goodman geht auf Europatournee.
Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter http://www.spiegel.de
Titel: Otto Grotewohl wird Ministerpräsident der DDR
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„Ich glaube nicht, dass Nietzsches
,Übermensch‘ züchtbar ist. Er
hat ihn als moralisch höherwertiges
Wesen erklärt. Und Moral
wird sich auch in 1000 Jahren
nicht genetisch züchten lassen.“
medizinischer und politischer Interessen
beschreiben: Sie reicht von der Lüge über
das Vorenthalten von Informationen bis
hin zur medialen Propagierung eines Lebens ohne Leiden, Schmerz und Not, also
eines alten Menschheitstraums, zu dessen
Erfüllung die Gentechnik als Zaubermittel
dienen soll.
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
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Meiningen (Thüringen)
Andreas Woyke
Das ganze Lebensprinzip basiert auf dem
grässlichen Mechanismus der Selektion.
Am Ende stehen Opfer und Ungerechtigkeiten: Intelligenz, Aussehen, Begabung
sind in mancher Hinsicht diskriminierend
verteilt. Dazu kommen Krankheiten, die
den Menschen quälen. Gäbe es einen Gott,
müsste man ihm unterlassene Hilfeleistung
vorwerfen.Wie desillusionierend muss diese Erkenntnis für Christen sein. An einen
allmächtigen guten Gott glaubend, müssen
sie sich mit dem Gedanken plagen, einen
Genforscher die nicht gemachten Hausaufgaben ihres Gottes erledigen zu sehen.
Köln
Leopold Janosch
Liegt nicht der Erfolg unserer Spezies in
unserer „Unvollkommenheit“ und der damit verbundenen Vielfalt? Ich glaube, Sloterdijk ist mit seinen provokanten Thesen
über das Ziel hinausgeschossen. Gleichwohl hat er damit (freiwillig oder unfreiwillig) auf einen echten Mangel hingewiesen: Die Entwicklung der menschlichen
Ethik hat in keiner Weise Schritt gehalten
mit dem technischen Fortschritt.
Grebenstein (Hessen)
Rainer Degethoff
Wer manipuliertes Leben aussetzt oder
auch unbeabsichtigt entkommen lässt, hat
keine Gewissheit, was das langfristig bedeutet.
Salzburg
Gerald Lehner
Eine hohle Nuss
Nr. 39/1999, Regierung: Grüne in Untergangsstimmung
Ein Everybody’s Darling macht, als heimlicher oder offizieller Vorsitzender, die Partei, die sich als Avantgarde betrachtet, nur
für Schizophrene wählbar.
Hannover
Dietrich Jahn
Die Grünen haben das gleiche Problem wie
die FDP in der Koalition mit den Unionsparteien bis 1998: Sie haben als kleinerer
Koalitionspartner nicht die Macht, sich im
großen Maße in ihren Vorstellungen gegen
die Sozialdemokraten durchzusetzen, und
verlieren dadurch an Profil. Das Problem
ist zudem, dass die SPD nicht ökologisch ist
– immer noch das Hauptattribut der Grünen –, genauso wie die Unionsparteien
nicht liberal waren und sind.
Uttenreuth (Bayern)
Claus Carl Jakob
Das Problem der Grünen besteht darin,
dass sie mit ihrer Technophobie und Gutmensch-Idylle eigentlich ein konservatives
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K.-B. KARWASZ
blemen des allgemeinen Bewusstseinszustands nicht mehr ausreicht, auf die abgegriffenen Schablonen von „links“ und
„rechts“ zurückzugreifen. Weder ist die
Kritische Theorie tot, noch gehört Heideggers Philosophie in ein vermeintlich „rechtes“ und antidemokratisches „Eck“.
Farbbeutel-Opfer Fischer (in Bielefeld)
Berechtigte Endzeit-Angst
Theaterstück aufführen, welches auf der
Heidi-Wiese weit rechts von der CDU
spielt. Wenn es den Grünen nicht gelingt,
diesen Gegensatz aufzulösen, wird die Entwicklung hin zu zwei grünen Parteien unaufhaltsam sein: die eine grün mit roten
Tupfen und die andere – ja, was für Farbe
kriegt Grünzeug denn, wenn es alt wird?
Leinburg (Bayern)
Albert Loohuis
Ohne echte Galionsfigur geht es einfach
nicht, der Partei kann nicht oberste Leitungsbefugnis zuerkannt werden – es bedarf eines einzelnen Leiters wie Fischer.
Bochum
Markus Pietraszek
Was ist noch übrig von der Vision, für die
die Grünen einst standen? Eine Potemkinsche Fassade, eine hohle Nuss.
Essen
Jürgen Törber
Die Endzeit-Angst der Grünen ist berechtigt, ihr Absturz wird gnadenlos weitergehen. Wer seine Wählerschaft missbraucht
(Nato-Krieg gegen Jugoslawien, Atomkraftausstieg am Sankt Nimmerleinstag,
kein wirkungsvoller Einstieg in den Abbau
der Arbeitslosigkeit, Sparen bei den Rentnern), wer meint, ein Einzelner wie Joschka könne irgendetwas zum Guten wenden,
was dann mit der Geschichte der Grünen
absolut nichts mehr zu tun hat, der hat seine Chance eindeutig verspielt. Unsere Zeit
ist überreif für ein neues Parteienprojekt.
Berlin
Christoph Schlüter
Die Grünen sollten sich damit abfinden,
dass sie nicht in die Regierung gehören,
ihr Status bedient nun mal – noch – eine
Randgruppe, also stabile fünf Prozent.
Belgern (Sachsen)
Michael Schmidt
Grob fahrlässig und lieblos
Nr. 39/1999, Senioren:
Elektronische Fußfesseln für Heimbewohner
Natürlich geht meine Großmutter gern
spazieren. Raus aus dem Heim, rechts
runter in den Ort – irgendjemand bringt
sie dann zurück. Aber wehe, die Oma
verlässt das Heim und wendet sich nach
links. Vergangenes Jahr ist eine der Damen aus dem Heim dort spazieren gegangen. Sie stürzte in einem Maisfeld. Man
fand sie Monate später beim Mähen. Ich
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Briefe
bin froh, dass meine Oma den „Chip am
Kleid“ hat.
Waldsassen (Bayern)
Kathrin Frowein
Pfarrerin
Wenn man als Angehöriger einer Freiwilligen Feuerwehr mit hundert oder mehr
ehrenamtlichen Kräften öfter, auch nachts,
stundenlang in unwegsamem Gelände
vermisste Personen gesucht und gelegentlich nicht mehr rechtzeitig vor deren Ableben gefunden hat, eben weil sie keinen
„Chip am Kleid“ trugen, steht man der kritischen Diskussion um die technische
Überwachung von Patienten mit Altersdemenz verständnislos gegenüber.
Jesteburg (Nieders.)
Michael Bruhn
Wir legen Wert auf die Feststellung, dass unsere Systeme zur Desorientiertensicherung
diskret sind. Die akustischen oder optischen
Alarmmeldungen werden dezent direkt an
das Pflegepersonal weitergeleitet. Die betroffene Person sowie andere Bewohner erfahren keinesfalls „schrilles Piepen“. Sich
darauf zu verlassen, dass alte Menschen
„immer irgendwie“ zurückkommen, halten wir für grob fahrlässig und lieblos.
Buchholz (Nieders.)
Silke Wiechers
Witec Elektronik GmbH
Reine Propaganda
Nr. 39/1999, Taiwan:
Tigerstaat mit wackligem Fundament
Natürlich ist die Bevölkerung in Taiwan sehr
dankbar für die Hilfe, die von vielen Ländern, darunter auch Deutschland, angeboten und geleistet wurde. Was jedoch das
„Hilfsangebot“ aus Peking und seine Ablehnung durch Taiwan betrifft, sollte man
unbedingt Folgendes wissen: Peking hat es
beispielsweise nicht erlaubt, dass das russische Rettungsteam über das Territorium der
VR China nach Taiwan fliegt. Das Resultat:
eine um zehn Stunden verspätete Ankunft,
die vermutlich Menschenleben gekostet hat.
Angesichts dessen ist es sehr verständlich,
dass die Taiwaner Pekings Angebot abgelehnt haben. Die Intention ist nämlich nicht
„Hilfe“, sondern „Bevormundung“.
Si-Ping Ou
SIPA PRESS
Hagen (Nrdrh.-Westf.)
Erdbebenschäden in Taiwan
Statt Hilfe Bevormundung
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Das Geschwafel von „wir sind alle ein
Fleisch und Blut“ hat sich als reine Propaganda herausgestellt. Die Uno musste
sich die Genehmigung Pekings einholen,
um Hilfsaktionen einleiten zu können.
Während die „Brüder und Schwestern in
Taiwan“ noch ihre Toten bergen, feiert man
mit großem Pomp den 50. Jahrestag der
VR China. Taiwaner haben bei Naturkatastrophen in China in den letzten Jahren
über 50 Millionen US-Dollar gespendet
und ohne politisches Ballyhoo an die Betroffenen gebracht.
Helmut Bolt
Ho Taikuang
The Taiwanese Student Association
Neuer Mut und Hoffnung
Nr. 39/1999, Partnerschaft:
Wie Fernbeziehungen aufs Liebesleben wirken
Marinesoldat beim Abschied (in Kiel)
Platz für individuelle Freiräume
In Ihrem Beitrag fehlt der Hinweis, dass
die steuerliche Absetzbarkeit der durch
doppelte Haushaltsführung entstehenden
Mehrkosten nur für zwei Jahre möglich
ist und dass das selbstverständlich nur für
richtige Ehepaare (mit Stempel und Unterschrift) gilt.
Lörrach
Meine Erfahrungen sind eher gut, da die
gemeinsame Zeit intensiver erlebt wird,
die getrennte Zeit Platz für individuelle
Freiräume bietet. Und das hat unserer
zehnjährigen Ehe nicht geschadet.
Kassel
Köln
Mark Steinhäuser
Anstrengend ist das Fehlen einer Lebensmitte. Dieses Manko können auch Job und
Freunde nicht mehr auffangen. Nachwuchs
hat da kaum eine Chance. Es sei denn, einer von beiden gibt auf. Solange werden
DB, Telekom und Mineralölgesellschaften
fleißig weiter von uns subventioniert. Das
ist gut für den Wirtschaftsstandort. Und
wir können weiter das moderne und aufregende Leben der Menschen probieren,
die immer unterwegs sind. Wir sind jung,
dynamisch, flexibel und belastbar. Ganz
so, wie gewünscht. Tolle Zeit, echt.
Aus eigener Erfahrung möchte ich den zu
Hause gebliebenen Frauen und Männern
mit ihren Kindern Mut machen, mit der
neuen Lebenssituation nicht wie mit einem rohen Ei umzugehen, die verbleibende Zeit nicht grundsätzlich anders zu verbringen als vorher und Konflikte, die oft
ganz anders aussehen als in einer „normalen“ Partnerschaft, auf keinen Fall von
Treffpunkt zu Treffpunkt zu verschieben.
Eine Beziehung, die bis dahin liebevoll, offen und konstruktiv war, hat gute Chancen,
es zu bleiben.
Osnabrück
Bad Homburg
Dirk Jansen
VERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe für Panorama,
Spionage, Grenzverkehr, Einheit, Affären (S. 116), DDR, NSVerbrechen, Unternehmen, Immobilien: Clemens Höges; für
Regierung, SPD, CDU, Minister, Gesundheit, Sprachenstreit:
Michael Schmidt-Klingenberg; für Sozialstaat, Trends, Geld, Vermögen, Renten, Affären (S. 134), Chemie-Industrie, Banken,
Standort, Reformen, Luftfahrt, TV-Konzerne, Presse, Zeitungen:
Armin Mahler; für Arzneimittel, Prisma, Tourismus,
Medizin, Preise, Rüstung, Meteorologie: Johann Grolle; für 100
Tage im Herbst: Jochen Bölsche; für Fernsehen, Fernsehfilm,
Szene, Mode, Rockstars, Titel, Musicals, Museen, Bestseller:
Dr. Mathias Schreiber; für Märkte, Eiskunstlaufen, Chronik:
Alfred Weinzierl; für Panorama Ausland, Kaukasus, Banken,
Österreich, Kosovo, Grossbritannien, Weltbevölkerung, Zeitgeschichte: Hans Hoyng; für Titel (S. 294): Dr. Rolf Rietzler; für
Spiegel des 20. Jahrhunderts: Dr. Dieter Wild; für die übrigen
Beiträge: die Verfasser; für Briefe, Register, Personalien, Hohlspiegel, Rückspiegel: Dr. Manfred Weber; für Titelbild: Stefan
Kiefer; für Layout: Rainer Sennewald; für Hausmitteilung: HansUlrich Stoldt; Chef vom Dienst: Holger Wolters (sämtlich
Brandstwiete 19, 20457 Hamburg)
TITELFOTO: Monika Zucht
Christiane Maerten
Ich finde es Klasse, dass Frau Beyer und
Frau Knöfel sich mit „Liebe in vollen Zügen“ dem Problem der Fernbeziehungen
so kritisch angenommen haben. Allerdings
habe ich die meiner Ansicht nach größte
Gefahr der Fernbeziehungen in dem Artikel vermisst: Der hohe Stellenwert der
Karriere verursacht ein familien- und somit
auch gesellschaftsfeindliches Klima. Im Extremfall lassen sich Paare gar nicht erst auf
Kinder ein. Gerade im Zusammenhang mit
der „Baby-Lücke“ kann die bei uns vorherrschende karrierebezogene Einstellung
noch zu einem großen Problem für die
Zukunft werden.
Hamburg
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Wangerland (Nieders.) Joachim Gramberger
Bürgermeister der Gemeinde
Blinder Wächter
Nr. 39/1999, Strafjustiz: Der Fall Jenny
Hans-Georg Stoll
Danke für Ihren Artikel „Liebe in vollen
Zügen“. Dieser macht mir, der auch eine
Fernbeziehung führt, neuen Mut und Hoffnung, indem er die Probleme einer solchen
Beziehung realistisch beschreibt, aber auch
einen positiven Schluss lässt: dass solche
Beziehungen doch eine Chance haben.
Ina Laschinski
Allein in den drei Kurhäusern des Ortes
werden jährlich über 4500 Kinder mit Erfolg therapiert, die an Atemwegs- und
Hauterkrankungen leiden. Es handelt sich
hierbei um Kinder aus dem gesamten Bereich der Bundesrepublik. Die Gemeinde
Wangerland, zu der Horumersiel-Schillig
gehört, versucht als erste Gemeinde im
Weser-Ems-Gebiet, die bindenden Regelungen des Paragrafen 35 Baugesetzbuch
durch die Änderung des Flächennutzungsplans einzuschränken, um durch die Schaffung von „Schutzzonen“ gerade an der direkten Küstenlinie Bereiche festzulegen,
in denen eine derartige Expansion der
Landwirtschaft nicht mehr möglich ist.
Katrin Klöpping
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Die Prognostizierbarkeit menschlichen
Handelns hat Grenzen, wie wir aus den
Rückfallquoten vorzeitig entlassener Straftäter wissen. Aus meiner Tätigkeit sind mir
Fälle bekannt, in denen das Gericht entgegen den fachlichen Erkenntnissen und
Empfehlungen des Jugendamtes die Rückführung von Kindern zu den leiblichen Eltern angeordnet hat, wo diese Kinder dann
zu Schaden gekommen sind. Kein Staatsanwalt hat diese Richter angeklagt. Steht
im Unterschied zu Medizinern und Sozialarbeitern das Richteramt außerhalb des
Strafrechts?
Berlin
K.-H. Struzyna
Jugendamtsleiter
Das relativ junge Kinder- und Jugendhilferecht ist die Fortsetzung konservativer
CDU-Politik und versagt nicht selten, wenn
es um den Schutz von
gefährdeten Kindern
geht. Hier sind in erster Linie Politiker ge- Opfer Jenny
fordert, neben diesem
„Elternantragsgesetz“ ein „Kinderschutzgesetz“ zu erlassen. Sonst wird oder bleibt
der Staat ein blinder Wächter.
BILD ZEITUNG
Das unmenschliche und unverschämte Verhalten Chinas sind die Gründe dafür, dass
die Taiwaner die Hilfe aus Peking abgelehnt haben. Wir erwarten nicht, dass eine
Regierung wie die chinesische, die seit Jahren eine Politik betreibt, die sich zum Teil
gegen die Menschenwürde richtet, uns wie
einen Partner gleichberechtigt behandelt.
Bonn
Nr. 39/1999, Umwelt:
Allergien durch Geflügelfabriken?
DPA
Taipeh
Mit Erfolg therapiert
Mohrkirch (Schlesw.-Holst.) Christoph Malter
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit Anschrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen.
Einer Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe ist ein Prospekt der Deutschen Bank, Frankfurt am Main, beigeklebt. Einer Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe liegen
Beilagen der Firmen Günther Lotterie, Bamberg, Giordana, D’Alba und Cepiprint, Zürich, bei.
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Deutschland
Panorama
H. RAUCHENSTEINER
Die Staatsanwaltschaft wirft den
Angeklagten vor, dem Fiskus mehr
als eine Million Mark an Steuern
vorenthalten zu haben (SPIEGEL
40/1999). So sollen sie ein illegales
„Steuersparmodell“ entwickelt haben, damit sich die Eintracht 1993
den teuren Star aus Ghana weiterhin leisten konnte. Die Bezahlung
Yeboahs sei deshalb in zwei Teile
zerlegt worden. Gegenüber dem zuständigen Finanzamt Hanau sei für
den Kicker nur ein monatliches
Bruttogehalt von 20 000 Mark angegeben worden. An eine Firma Aya
Management Company Ltd. in
Accra (Ghana) flossen – so die Ermittler – weitere 2,3 Millionen Mark
für drei Jahre. Diese seien als Entschädigung der Eintracht für den Erwerb der Werberechte an Yeboah
getarnt gewesen. Dadurch sollen der
Verein Lohn- und Umsatzsteuer in
Höhe von über einer Million Mark
und Yeboah Einkommensteuer hinterzogen haben. Die Firma
in Ghana war nach Erkenntnissen der Staatsanwaltschaft
zunächst von dem Yeboah-Entdecker Attah Kyei und dem Spielerberater van Berk, der 200 000 Mark kassierte, gegründet
worden. 1996 wurde der Fußballer Alleingesellschafter.
Yeboah beglich seine Steuerschulden, rund 950 000 Mark plus
Zinsen, nachdem er vor zwei Jahren vom englischen Fußballclub Leeds United wieder nach Hamburg wechselte.
Angesichts der hohen Hinterziehungssumme drohen den Angeklagten Freiheitsstrafen. Während der Fußballer die Tricksereien einräumte, haben van Berk, der 40-malige deutsche Nationalspieler Hölzenbein und Steuerberater Knispel, der inzwischen auch als lizenzierter Spielervermittler tätig ist, zu
den Vorwürfen bisher geschwiegen.
Eintracht-Frankfurt-Spieler Yeboah (1993)
STEUERHINTERZIEHUNG
Firma in Ghana
D
ie Staatsanwaltschaft Frankfurt hat gegen den StürmerStar des Fußball-Erstligisten Hamburger Sport-Verein
(HSV) Anthony Yeboah vor dem Landgericht Anklage wegen
des Verdachts der Steuerhinterziehung erhoben. Auch der
ehemalige Manager Bernd Hölzenbein und Schatzmeister
Wolfgang Knispel des Liga-Konkurrenten Eintracht Frankfurt
sollen vor Gericht. Der Spielerberater Johannes van Berk wurde wegen des Verdachts der Beihilfe zur Steuerhinterziehung
angeklagt (AZ: 94 Js 37644.3/98).
KIRCHE
Klare Weisung
E
schickt. Der Bischof von Münster, Reinhard Lettmann, erklärte in einem gesonderten Brief an Johannes Paul, er
halte den Verbleib in der staatlichen Beratung „für moraltheologisch vertretbar“. Alle 13 Dissidenten beteuern, sie
würden sich dem Papst beugen, wenn er
klar und eindeutig die Verantwortung
für den Ausstieg übernehme.
d e r
Runde macht
Parteikarriere
H
DPA
rneut brüskiert der Heilige Vater die
deutschen Bischöfe: 13 Oberhirten,
die sich in Briefen nochmals an den
Papst gewandt haben, um ihre Bedenken gegen den Ausstieg der Kirche aus
der Schwangerenkonfliktberatung vorzutragen, erhalten von
Johannes Paul II. keine Antwort. Stattdessen wird der
Chef der vatikanischen Glaubenskongregation, der deutsche Kardinal Joseph Ratzinger, sich „eindeutig“ zu den
Episteln äußern. Die Bischöfe
von Aachen, Trier, Essen, Limburg, Erfurt, Freiburg, Regensburg, Hildesheim, Magdeburg,
Osnabrück, Hamburg und Passau haben ihre vom Papst abweichende Meinung in einem
Schreiben nach Rom gePapst, deutsche Bischöfe
SPD
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amburgs Erster Bürgermeister
steigt auf: Er soll finanzpolitischer
Sprecher der Sozialdemokraten auf
Bundesebene werden und damit in den
engeren Führungskreis der Partei einrücken. Ortwin Runde, 55, Chef des rotgrünen Senats der Hansestadt, zuvor
langjähriger Finanzsenator in Hamburg,
ist bereits finanzpolitischer Koordinator
der SPD-geführten Länder im Bundesrat und Vorsitzender des Vermittlungsausschusses von Länderkammer und
Bundestag.
Trotz dieser Ämter war der Parteilinke
Runde bislang nie bundespolitisch aufgefallen. In der SPD wird seine Berufung
daher als Geste des Parteivorsitzenden
und Kanzlers Gerhard Schröder an den
traditionellen Parteiflügel gewertet.
17
Panorama
VERKEHR
Staatliche Schiene
N
T. RAUPACH / ARGUS
ordrhein-Westfalen will sich bei der Verkehrsministerkonferenz im November dafür einsetzen, dass die Schienenwege der zu privatisierenden
Bahn öffentlich kontrolliert bleiben. „Es ist ein Fehler, die Trassen nicht in staatlicher Hand zu halten,
das muss korrigiert werden“, fordert Jörg Hennerkes, Staatssekretär im Düsseldorfer Verkehrsministerium. Eine Regulierungsbehörde soll dann wie im
Bereich der Telekommunikation, Wettbewerb und
Sicherheitsstandards gewährleisten. Nur so sei das
Ziel erreichbar, mehr Güter per Bahn zu transportieren. Bei der Bahn-Tochter DB Netz, so Hennerkes, sei nach der Umstrukturierung „unternehmerisches Denken noch nicht ausreichend eingezogen“. Fremden Anbietern werde der Zugang zur
Schiene oft zu schwer und zu teuer gemacht.
Güterverkehr der Bahn (in Maschen bei Hamburg)
SPIONE
FUSSBALL
PDS-Fraktion soll Spitzel entlassen
Sparwassers Geschäfte
D
er Präsident des Deutschen Bundestags, Wolfgang Thierse (SPD), hat
die PDS-Bundestagsfraktion aufgefordert, „unverzüglich“ zwei Mitarbeiter
der Fraktionspressestelle zu entlassen.
Außerdem dürfen die beiden ab sofort
nur noch die Räume der Pressestelle im
Bereich der PDS-Fraktion betreten. Die
Sanktionen des Parlamentschefs richten
sich gegen das frühere Agentenehepaar
Doris und George Pumphrey. Sie waren
1998 wegen „Geheimdienstlicher Agententätigkeit für eine fremde Macht“
vom Oberlandesgericht Düsseldorf zu je
sieben Monaten Haft, ausgesetzt auf
drei Jahre Bewährung, und zu je 3000
Mark Geldstrafe verurteilt worden, weil
sie Ende der achtziger Jahre als Mitarbeiter von grünen Bundestagsabgeordneten für die Hauptabteilung Aufklärung des DDR-Geheimdienstes gearbeitet hatten. „Wir wollten“, rechtfertigte Doris Pumphrey ihre Spitzeltätigkeit
vor Gericht, „dass die DDR besser verstehen konnte, mit welchen Entwicklungen sie in der Friedensfrage und vor allem auch in der Deutschlandpolitik der
Grünen rechnen musste.“ Sie und ihr
Ehemann hätten sich um ein „besseres
Verhältnis“ zwischen DDR und Grünen
bemüht. Bereits in der vergangenen Legislaturperiode arbeiteten die beiden für
die PDS-Bundestagsgruppe – angeblich
mit Wissen führender Grünen-Politiker.
eine Neugestaltung der Verfahren vor
dem Gericht einsetzen wird. Ursprünglich hatten SPD, CDU und Grüne die
Absicht, die Nachfolger für alle drei Verfassungsrichter, die in diesem Jahr auseuer Richter am Bundesverfasscheiden sollen, zusammen zu benensungsgericht soll der Hamburger
nen. Wer für Paul Kirchhof und
Rechtsprofessor Wolfgang HoffJürgen Kühling nachrücken darf,
mann-Riem, 59, werden. Der
ist aber zwischen den Parteien
parteilose Experte für Rundnoch umstritten. Für die Kirchfunkrecht und ehemalige Hamhof-Nachfolge hat die Union das
burger Justizsenator wurde auf
Vorschlagsrecht, für die von
Vorschlag der SPD nominiert. Er
Kühling eigentlich die SPD, die
wird Nachfolger Dieter Grimms.
nach den bisherigen GepflogenVon dem als Befürworter durchheiten die Nominierung aber
greifender Justizreformen bedem grünen Koalitionspartner
kannten Hoffmann-Riem wird
überlassen müsste.
erwartet, dass er sich auch für
Hoffmann-Riem
V E R FA S S U N G S G E R I C H T
Reformer für Karlsruhe
W
eil er an Sponsorengeschäften
mitverdienen wollte, ist Jürgen
Sparwasser, 51, als Geschäftsführer der
Wirtschaftsdienste GmbH der Vereinigung der Vertragsfußballspieler (VdV)
abgesetzt worden. Der Torschütze beim
legendären 1:0-Sieg der DDR über die
bundesdeutsche Elf bei der Weltmeisterschaft 1974 hatte der VdV die Frankfurter Telekommunikationsfirma ACN
als Sponsor vorgeschlagen. Bundesligaprofis sollten für den Neuling auf dem
deutschen Telefonmarkt werben und die
VdV dafür 0,25 Prozent der ACN-Einnahmen erhalten. Von diesen Erträgen
wollte Sparwasser allerdings ein Fünftel
selbst einstreichen. Außerdem soll Sparwasser der Spielergewerkschaft eröffnet
haben, er wolle als Repräsentant im
ACN-Direktvertrieb tätig werden. „Das
könnte im Gespräch so gefallen sein“,
räumt Sparwasser ein. Bei Borussia
Dortmund hat er bereits „als Privatmann“ ACN-Serviceangebote offeriert.
DPA
N
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Zitat
»Die Gleichstellung der
Geschlechter muss
als horizontale Aufgabe
begriffen werden.«
Die grüne EU-Kommissarin Michaele Schreyer
Deutschland
DDR
Biermanns Tatwerkzeuge
M
M. JENNICHEN
it einem neuen Museum wird seit
dem vergangenen Wochenende in
Leipzig an „Diktatur und Widerstand in
der DDR“ erinnert. Das „Zeitgeschichtliche Forum“, sagt sein Leiter Rainer
Eckert, 49, sei „keine Nostalgie-Show,
kein Haus der DDR“. In Leipzig soll
„unser Beitrag zur deutschen Demokratiegeschichte“ festgehalten werden,
Stiftung „Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“. Bürger der
ehemaligen DDR werden vieles wieder
finden, an das sie sich erinnern können,
Besucher aus der alten BRD einiges
entdecken, das sie noch nie gesehen haben. Belege der Diktatur sind unter anderem die erste handgestickte SED-Fahne aus dem Jahre 1946, eine Originaltür
aus dem Zuchthaus „Bautzen 2“, ein
echter Gefangenen-Transportwagen der
Marke Barkas B 1000, einige Hohlbausteine, die zum Bau der Mauer verwendet wurden, ein bunter
Wandteppich mit dem
Konterfei von Wilhelm
Pieck. Den Widerstand
symbolisieren der Bücherschrank von Robert Havemann samt Inhalt (Engels:
„Dialektik der Natur“),
das Bandoneon von Stephan Krawczyk, „Zwei
Tatwerkzeuge von Biermann“ (eine Gitarre und
eine mechanische Schreibmaschine Marke „Erika“),
das Originalschwert der
Bewegung „Schwerter zu
Pflugscharen“, die Vervielfältigungsmaschine Roto aus der OstBerliner Zionskirche.
Die Eröffnung im umgebauten „Zentralmessepalast“ ist auch ein Beitrag
zum Aufbau Ost: Bis jetzt wurden 30
Millionen Mark ausgegeben, das Jahresbudget beträgt über 10 Millionen, beschäftigt werden 120 Mitarbeiter.
Biermann-Gitarre, Schreibmaschine
„die friedliche Revolution von 1989“.
So werden auf rund 2000 Quadratmeter
Fläche etwa 2500 Objekte ausgestellt,
eingeteilt in zwölf Abschnitte von der
Nachkriegszeit in der „Zone“ bis zur
Gegenwart: Der vorläufig letzte Abschnitt heißt: „Baustelle Deutschland“.
Das Museum wird getragen von der
ERNÄHRUNG
Faule Beeren
B
Lesegut ermittelt wurden. Allerdings, so
die Experten, sei es „bei einer großtechnischen Herstellung“ von Traubensaft „nur begrenzt“ möglich, schlechte
Beeren auszusondern. Deshalb empfiehlt das Gremium, praxisnähere
Höchstwerte für die Industrie zu vereinbaren. Laut Schutzgemeinschaft der
Fruchtsaft-Industrie stammen über
90 Prozent der Traubenmoste im deutschen Handel aus dem Ausland, vor
allem aus Frankreich und Italien.
ei der Herstellung der meisten Traubensäfte im deutschen Handel gelangt angefaultes Lesegut mit in die
Presse. Das verrät ein erhöhter Gehalt
von Glycerin und Gluconsäure – zweier
Stoffwechselprodukte von Schimmelpilzen und anderen Mikroorganismen.
Eine Arbeitsgruppe der Lebensmittelchemischen Gesellschaft wertete jetzt entsprechendes Datenmaterial aus Industrie und
amtlichen Überwachungslabors aus. Demnach enthalten drei von vier Traubensäften mehr als ein halbes
Gramm Glycerin und zwei
von dreien über 0,3 Gramm
Gluconsäure pro Liter. Vor allem die roten Moste überschreiten damit jene Schwellenwerte, die in Laborversuchen für unverdorbenes
Traubensaftproduktion
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Panorama
Deutschland
Am Rande
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Drach (M.), Bewacher 1998 in Buenos Aires
REEMTSMA-ENTFÜHRER
Wird Drach abgeschoben?
N
STEUERHINTERZIEHUNG
Nachgefragt
Haft auf Bewährung
Keine Strafe für Oskar
D
er dreimalige Europameister der
Springreiter Paul Schockemöhle ist
vom Amtsgericht Oldenburg wegen
Steuerhinterziehung zu einer Haftstrafe
von elf Monaten auf Bewährung verurteilt worden. Er hat einen entsprechenden Strafbefehl akzeptiert. Schockemöhle hatte 1991 in Liechtenstein die Stiftung
Satyr Foundation gegründet und darüber
Teile seiner Geschäfte abgewickelt. Er
entzog dem Fiskus so
Steuern in zweistelliger Millionenhöhe
(SPIEGEL 51/1997).
1997 erstattete
Schockemöhle
Selbstanzeige. Die
Staatsanwaltschaft
Schockemöhle
bestritt zunächst,
dass dies geschehen sei, bevor die Steuerbehörden ermittelten, und deshalb
habe sie nicht strafbefreiend gewirkt. Als
Kompromiss erging der Strafbefehl.
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M.-S. UNGER
Der Kidnapper, der seine Auslieferung
an die deutsche Justiz mit allen juristischen Mitteln hinauszuzögern versucht,
muss wegen der Bestechungsaffäre zudem mit baldiger Abschiebung nach
Deutschland rechnen.
In argentinischen Justizkreisen heißt es,
der Reemtsma-Entführer könnte schon
Ende dieses Monats oder Anfang November nach Deutschland überstellt
werden.
achdem seine Fluchtpläne ruchbar
wurden, haben die argentinischen
Behörden die Haftbedingungen für den
seit März 1998 im „Caseros“-Gefängnis
in Buenos Aires einsitzenden Reemtsma-Entführer Thomas Drach verschärft.
Er soll Vollzugsbeamte bestochen haben, die ihm zur Flucht verhelfen sollten. Doch die Aktion flog auf, Drachs
Bewacher werden seither ständig ausgewechselt.
Nach Oskar Lafontaines
öffentlichen Attacken auf Kanzler
Schröder und führende Koalitionspolitiker werden Forderungen
laut, den Ex-SPD-Chef aus der
Partei auszuschließen.
Was meinen Sie?
F. KRUG / ACTION PRESS
Der Vorgang ist so
selten, dass er jedes
Mal für Bestürzung
sorgt. Wann immer
in Deutschland ein
Minister zurücktritt,
fragen die Menschen und die Medien wie nach
einem Zugunglück: Warum nur,
warum? War es menschliches Versagen oder eine technische Panne? Kaum hat sich Oskar Lafontaine als freier Autor selbständig
gemacht, geht die brandenburgische Ministerin für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Frauen,
Regine Hildebrandt, in den freiwilligen Ruhestand. Die promovierte Biologin mag nicht mehr,
weil ihr Freund, Manfred Stolpe,
eine Vernunftehe mit der CDU
eingegangen ist. Frau Hildebrandt
hätte sich gewünscht, dass er eine
Liebesheirat mit der PDS riskiert.
Im Land Brandenburg flattern
die Seelen auf halbmast. Denn
die beliebteste Politikerin Ostdeutschlands, die schneller redet,
als andere hören, „vermittelt das
Wir-Gefühl der Frauen, die sich
nicht unterkriegen lassen“ (Ostdeutscher Rundfunk Brandenburg). Grund genug für den Sender, „die letzten Tage ihrer Amtszeit“ zu dokumentieren. Die Ministerin fährt übers Land und räsoniert über das Leben: „Ich träume davon, dass überall Harmonie
und Friede herrscht.“ Letzte Woche gab es zum Abschied „Rotkäppchen“-Sekt wie einst, als
verdiente Mitglieder des Politbüros aufs Altenteil geschickt
wurden. Doch anders als bei Lafontaine hat die Partei von ihr
nichts zu befürchten. Sie will jetzt
Bücher lesen und nicht schreiben
und ihre Aktivitäten ins Ausland
verlegen: „Ich heirate Prinz
Charles und werde Königin von
England.“ – Als ob die Briten
nicht schon genug Sorgen hätten.
ZDF
Lady Regine
Die SPD sollte Lafontaine
wegen parteischädigenden
Verhaltens ausschließen
30 %
Ich halte nichts von einem
Parteiausschlussverfahren
39 %
Ich weiß nicht/ist mir egal
30 %
Emnid-Umfrage für den SPIEGEL
vom 5. und 6. Oktober; rund 1000 Befragte;
an 100 fehlendes Prozent ist rundungsbedingt
Werbeseite
Werbeseite
K.-B. KARWASZ
Kanzler Schröder, IG-Metall-Chef Zwickel (l.) beim Gewerkschaftskongress in Hamburg: Die Wohltaten Mark für Mark vorgerechnet
REGIERUNG
Die Prügel der Partei
Kanzler Gerhard Schröder wirbt um seine SPD. Die Genossen glauben seinen
Gerechtigkeitsschwüren nicht, solange er dicke Zigarren raucht.
Bis zum Parteitag im Dezember muss der Vorsitzende ein anderes Bild abgeben.
W
enn Guido Schmitz, der persönliche Referent, dieser Tage mit
seinem Kanzler unterwegs ist,
beult sich nicht mehr stramm seine Brust.
Es war aber nicht Stolz, der sie geschwellt
hatte, sondern ein Zigarren-Etui mit dicken
Cohibas für den Chef. Die braucht der nun
erst mal nicht mehr.
Denn diesmal, so scheint es, hat Gerhard Schröder wohl wirklich verstanden.
Nicht weil er erkältet war, sondern um seiner über den demonstrativen Luxus-Kanzler erbosten Basis ein Zeichen zu geben,
verzichtete er – zumindest öffentlich – vergangene Woche auf seinen Rauchgenuss:
Seht her, soll das heißen, ich bin doch noch
einer von euch.
Für Schröders Berater ist dieser symbolische Rückzug das bisher ernsthafteste
22
Signal ihres Chefs, auf seine Kritiker einzugehen: „Der arbeitet wirklich an sich.“
Es ist auch höchste Zeit. Dass seine
Kanzlerschaft auf der Kippe steht, weiß
Schröder so gut wie seine Gegner. Schröder: „Wenn wir die Politik nicht auf das
Notwendige ausrichten, haben wir keine
Chance mehr.“
Nur noch acht Wochen bleiben bis zum
SPD-Parteitag Anfang Dezember in Berlin.
Nur wenn der gelingt, da sind sich Partei,
Kanzleramt und SPD-Fraktion ausnahmsweise einig, ist die Mindestvoraussetzung
geschaffen, um das desaströse Stimmungstief der SPD bis zu den Wahlen in Schleswig-Holstein und vor allem in NordrheinWestfalen zu überwinden.
Erst die eigene Partei, dann der Rest der
Wähler – Gerhard Schröder, der sich den
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Sozialdemokraten durch Zustimmung aus
einer vagen neuen Mitte als Kanzlerkandidat aufgenötigt hatte, muss umdenken. Mögen auch die Wachstumsprognosen für die
Wirtschaft im kommenden Jahr günstig
sein, mag die anspringende Konjunktur der
Regierung auch ohne große Eigenverdienste
helfen, die Arbeitslosigkeit zu reduzieren –
entscheidend für sein Überleben wird die
Unterstützung aus den eigenen Reihen sein.
In Bochum haben die Genossen Schröder auf ihrem Bezirks-Parteitag eisig abfahren lassen, in Hamburg nötigte er den
Kollegen von der IG Metall widerwilligen
Respekt ab. Doch von einer Wende kann
noch keine Rede sein.
Für Schröder aber ist jetzt endgültig
Schluss mit lustig. Ein Parteistratege bringt
den Kurs, mit dem der Kanzler Partei und
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FPA
AKG
M. URBAN
Wähler überzeugen soll, auf die
kurze Formel „Nie wieder ‚Wetten
dass!‘“. Gefragt ist das Kanzler-Modell Kosovo: ernsthaft, verantwortungsvoll und standhaft. Und natürlich – sozial gerecht.
Imagepflege tut also dringend
Not. Doch während US-Präsident
Bill Clinton oder der britische Premierminister Tony Blair ganze Stäbe beschäftigen, die bei jedem Auftritt für stimmige Bilder zur Untermalung der Botschaft sorgen, kümmert sich im Kanzleramt niemand
so richtig um das Image des Chefs.
Zumal es nicht in erster Linie um
den Kanzler geht. Immer deutlicher George-Grosz-Grafik (1922)
merkt Schröder, wie schwer es ist,
für sein zweites wichtiges Amt den
richtigen Zugang zu finden, das ihm
durch den Abgang Oskar Lafontaines zugefallen ist – das des Parteichefs.
Das ist die Stunde des Franz
Müntefering, künftiger Generalsekretär und amtierender Geschäftsführer der SPD. „Die Partei kritisiert Stil und Attitüde von uns“,
knurrte er in Richtung des CohibaKanzlers. „Das ist die Hälfte der
Diskussion.“ Und ein Berater analysierte trocken: „Schröder kam
einfach zu protzig rüber.“
Dass sie ihn in acht Wochen nicht Niedersächsischer Ministerpräsident Kopf (1956)
zum „Liebling der Partei“ machen
können, ist den neuen alten Strategen in der SPD-Zentrale klar, „das
kann nicht Schröders Rolle sein“.
Doch zwischen einem „Liebling“,
wie es Oskar Lafontaine oder gar
Willy Brandt einst waren, und dem
distanzierten Vorsitzenden, als der
Schröder empfunden wird, liegt ein
weites Feld. Und das wollen Müntefering und sein Ex-Kampa-Team bis
zum Parteitag intensiv bestellen.
Klar ist: Der leichtfüßige Medienkanzler hat ausgedient. Stattdessen wird Schröder in einer Art
verschärften Fronarbeit – der Terminplan wurde entsprechend um- Kanzler Erhard (1964)
gekrempelt – in den nächsten Wochen kaum einen Landes- und Bezirksparteitag auslassen, um sich
dem nölenden Parteivolk zu stellen.
SPD-Landesparteitage, wie am
vergangenen Wochenende in
Schleswig-Holstein und in Hamburg, sind in den nächsten Wochen
für Schröder Pflicht. Kreuz und
quer durchs Land soll er ziehen und
Betriebsräten, Sozialverbänden
und SPD-Bezirksfunktionären zeigen, wie ernst es ihm ist mit dem
Sparen, aber auch mit der sozialen
Gerechtigkeit.
Doch genau damit tut sich der
Kanzler schwer. Mark für Mark Kanzler Schröder (1999)
rechnete er den Metallgewerk- Zigarrenrauchen als Symbol: Insignie des Aufstiegs
VG BILD-KUNST, BONN 1999; G. GROSZ
Deutschland
schaftern am vergangenen Mittwoch vor, welche Wohltaten er verteilt im Land. Die Steuerreform
zum Beispiel, mit der er die Durchschnittsfamilie schon in diesem Jahr
um 1000 Mark reicher mache.
Und natürlich das Bündel der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, für
das er, Gerhard Schröder, allein in
diesem Jahr 6,3 Milliarden Mark
mehr ausgebe als zuletzt die alte
Koalition. „Das sind die Zahlen“,
schmetterte er den Metallern und
ihrem Chef Klaus Zwickel entgegen. „Das ist ein Erfolg.“
Am Tag darauf lieferte seine Koalition die nächste Sozialbotschaft
nach. Mit satter Mehrheit von SPD,
Grünen und PDS passierte die
Schlechtwettergeld-Novelle den
Bundestag – nach einer Debatte, in
der befreite Genossen ihr aufgestautes Lieblingsvokabular von „gerecht“ bis „sozial“ loswurden. Um
zu verhindern, dass Bauarbeiter im
nasskalten Winter ihren Job verlieren, erschwert die Novelle witterungsbedingte Kündigungen. Sie
verpflichtet die Bundesanstalt für
Arbeit, den Bauarbeitern den
Lohnausfall zu ersetzen: Im Extremfall 55 Millionen Mark Kosten.
Zu einer weiteren Entscheidung
im Sozialbereich konnte sich die
Fraktion aber nicht durchringen:
Die Erhöhung des Kindergelds für
Sozialhilfeempfänger um 20 Mark
mochten die SPD-Parlamentarier
nicht beschließen.
In Berlin zeigte der Kanzler dann
am vergangenen Freitag noch einmal persönlichen Einsatz. Als kandidiere er selbst für den Posten des
Regierenden Bürgermeisters, inspizierte er ein Ausbildungszentrum,
ermunterte Jugendliche auf ihrem
Weg zum Bürokaufmann, schüttelte
die Hände angehender Maler und
Lackierer. Dabei pries er – unterstützt von DGB-Chef Dieter Schulte und Handwerkspräsident Dieter
Philipp – die Zwischenbilanz des
Zwei-Milliarden-Mark-Programms
gegen Jugendarbeitslosigkeit.
Schröders derzeit größtes Problem ist die mangelnde Glaubwürdigkeit. Wo immer er hinkommt,
prasseln die gleichen Vorwürfe auf
ihn ein: Wie kann ein Kanzler rigoroses Sparen fordern, der mit 60Mark-Zigarren posiert und alle
Welt wissen lässt, wie teuer seine
Anzüge sind.
Dabei passt das zuweilen fahrlässige Neureichen-Gehabe des Party-Kanzlers aus den ersten Monaten, vom ehemaligen Kanzleramtsminister Bodo Hombach noch angestachelt, so gar nicht zu Schrö23
M.-S. UNGER
SPD-Präsidiumssitzung in Berlin: Verknüpfung von Partei und Regierung
24
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* Beim Besuch des Fallschirmjägerbataillons in Lebach
im August.
ACTION PRESS
ders Selbstwahrnehmung. „Ich weiß,
wo ich herkomme“, erklärt der Junge aus ganz kleinen Verhältnissen
bei jeder Gelegenheit.
Nur glaubt es ihm so recht keiner
mehr. Um sein Gedächtnis aufzufrischen, überreichte ihm die Jugend
der IG Metall in Hamburg einen
dicken roten Pfeil aus Pappe.
Dass Schröder zuerst als Stil, als
Haltung, aber kaum als Inhalt wahrgenommen wird, macht seine Arbeit
nicht leichter. Denn bevor er überhaupt Argumente für seine Politik
vorbringen kann, muss er in jeder
Versammlung aufs Neue den latenten Verdacht des Publikums ausräumen, da habe sich einer von Macht
und Kapital korrumpieren lassen.
Seine Aufgabe ist kompliziert. „Er
muss die Prügel abholen, darf aber in
der Sache nicht nachgeben“, sagen
seine Berater. Und die Zeit drängt. Verteidigungsminister Scharping*: Drohung mit dem Rücktritt
Schon stöhnt einer der Werber:
„Wenn es bis zum Parteitag nicht gelingt, nach gutem Zureden beruhigte er sich erdings ständig betont: Sein Tonfall ist
schon anders geworden. Soziale Gerechihn anders darzustellen, wird es sehr, sehr wieder.
schwer.“
Scharping nimmt Schröder übel, dass er tigkeit ist als Leitmotiv zurückgekehrt,
Leichter wird es für Schröder auch nicht den Osttimor-Einsatz der Bundeswehr aus Reizworte werden vermieden.
„Deutlich andere Akzente als im Schrödadurch, dass Verteidigungsminister Ru- seinem Etat bezahlen soll. Im Kabinett gedolf Scharping, einst Parteivorsitzender, rieten beide vorvergangene Woche wegen der-Blair-Papier“ will Frank Teichmüller,
immer wieder mal seine eigenen Kanzler- Osttimor aneinander. Der Minister warnte Leiter des IG-Metall-Bezirks Küste, in
qualitäten bescheiden, aber deutlich her- davor, „Schuhe anzuziehen, die einem zu Schröders Rede vor den Gewerkschaftern
vorhebt. An seine Adresse ging vergange- groß“ seien. Schröder giftete anzüglich vernommen haben. Endlich habe der
Kanzler wieder von „Arbeitnehmerpolinen Freitag Schröders Mahnung vor ihm zurück: „Das musst du gerade sagen.“
nahe stehenden Sozialdemokraten im SeeDas Misstrauen der Genossen empfindet tik“ gesprochen – „ein erster Schritt weg
heimer Kreis: „Es darf auf keinen Fall eine der Kanzler bisweilen als zutiefst unge- von der dicken Cohiba zum Zigarillo des
Personaldebatte begonnen, weitergeführt recht. „Ich kann nicht verstehen, wie man kleinen Mannes“.
Die Macht der Bilder hat Schröder groß
oder initiiert werden.“
eine solche Politik von GewerkschaftsseiDer Ton des Verteidigungsministers wird te nicht unterstützen kann“, erregte er sich gemacht, jetzt droht sie ihn zu vernichten.
Dass ausgerechnet seine geliebte Zigarhörbar schärfer. Bei einem Gespräch mit in Hamburg vor den Metall-Gewerkschafden Vorsitzenden und Haushaltsexperten tern und donnerte mit der Faust auf das re zum Symbol für den Stimmungsumder Koalitions-Fraktionen drohte er ver- Rednerpult, „wer fair ist, kann einfach schlag geworden ist, kann Schröder nur
gangene Woche sogar mit seinem Rück- nicht davon reden, dass unsere Politik eine schwer einsehen. „Ich rauche die doch seit
15 Jahren“, beklagte er sich jüngst über
tritt, falls ihm die Haushälter nicht 200 Mil- soziale Schieflage hat!“
lionen Mark für den Kosovo-Einsatz bewilDoch auch wenn der Kanzler darauf be- die ständige Kritik an seinen Raucherfreuligten. Scharping: „Wenn diese Sperre harrt, dass er richtig handele und nicht den. Für ihn war die Zigarre sowohl Insibleibt, trete ich zurück. Jetzt reicht’s.“ Erst etwa „unsozialdemokratisch“, wie er neu- gnie des Aufstiegs als auch Ausdruck schieren Lebensgenusses. Jetzt ist sie in der öffentlichen Wahrnehmung zum Symbol des
Neoliberalismus schlechthin geworden, zur
Chiffre für die falsche Attitüde.
Da wirkt es rückblickend fast wie ein
Danaer-Geschenk, dass Lafontaine am Tag
der Kanzlerwahl dem frisch gewählten
Amtsinhaber ausgerechnet eine Kiste edler
Cohibas überreichte.
Denn was beim Ministerpräsidenten von
Niedersachsen als selbstverständliches Attribut des fürsorglichen Landesvaters wahrgenommen wurde – schließlich liebte auch
Niedersachsens erster Ministerpräsident,
der hochpopuläre Hinrich Wilhelm Kopf,
voluminöse Zigarren und genoss sie oft und
ungeniert in aller Öffentlichkeit –, weckt
vor dem Hintergrund des machtvollen Bundeskanzleramts ganz andere Assoziationen.
Gewiss, auch Ludwig Erhard stand stänAuf einem internen Strategietreffen zugleich anheizen und normalisieren. Die
dig unter Zigarren-Dampf. Aber der war, Ende September in Hamburg fixierten SPD müsse, so der Kanzler auf dem Konwie Theodor Heuss, ein bürgerlicher Pro- enge Berater und Zuarbeiter Münteferings gress der IG Metall, „unter radikal veränfessor, zu dem das Gehabe passte. Das Bild die Eckpunkte eines Konzeptes, das die derten Bedingungen definieren, was sodes gut betuchten, Zigarren qualmenden Partei wieder auf Touren bringen soll. ziale Verantwortung ist“.
Das ist ein Klärungsprozess, der auch
Sozialdemokraten Schröder aber verzerr- Wichtigste Stationen sind der Parteitag am
te sich in den Köpfen der Genossen und of- 7. Dezember in Berlin und die Landtags- durch den Rücktritt Oskar Lafontaines verfenbar auch vieler Wähler zur hässlichen wahl in Nordrhein-Westfalen am 14. Mai zögert wurde. „Ein halbes Jahr lang ist inhaltlich praktisch nichts passiert“, räumt eiFratze des Kapitalisten. Schröder mit Co- 2000.
hiba – das ist der Kanzler der Bosse, wie sie
„Der Parteitag ist das Schlüsselereignis“, ner aus dem Willy-Brandt-Haus ein, „der
auf den Bildern des Malers George Grosz verkündet Parteisprecher Michael Donner- Rücktritt hat uns heftiger aus der Bahn gezu sehen sind: kalt, rücksichtslos und ohne meyer. Erste Vorbereitungen für die Jubel- worfen, als wir erwartet hatten.“
Auch Lafontaines Salami-Showdown – jejede Regung für Soziales.
feier sind bereits getroffen: Am vorverganPlötzlich passen Bild und Botschaft genen Mittwoch verpflichtete Müntefering den Tag eine neue Portion Bosheit – fördert
nicht mehr zusammen. „Wenn ich Men- die in Berlin versammelten SPD-Landes- die Auseinandersetzung um die Sache nicht.
schen sage, ihr müsst den Gürtel enger und Bezirksvorsitzenden der Republik, ihre „Man dringt zu Inhalten gar nicht mehr
schnallen, dann kann ich nicht öffentlich Delegierten zielgerichtet einzustimmen. Die vor“, klagt der frühere SPD-Bundesgemit der dicken Zigarre rumlaufen und klare Vorgabe: Es ist zu vermeiden, den Par- schäftsführer Peter Glotz. Weil Lafontaine
rumprotzen“, schleuderte der Bochumer teichef mit schlechten Abstimmungsergeb- mit seiner hasserfüllten Abrechnung beinahe die gesamte Sozialdemokratie und die
Genosse Carsten Rudolph auf dem Par- nissen zu kompromittieren.
teitag des SPD-Bezirks Westliches WestDer Konvent soll vielmehr das Signal aus- grüne Spitze gleich mit brüskiert hat, mag
falen in einem Satz die gesammelte Wut senden: Geschlossen und zuversichtlich geht sich für seinen Politikentwurf derzeit nieder Basis dem Parteichef
entgegen.
Nun will Müntefering mit
seiner Kampa-Erfahrung dafür sorgen, dass bei der Basis
das Bild von Schröder wieder
stimmt. Dreimal die Woche
will der Sauerländer mit der
in Berlin gestutzten Kultfrisur künftig mit Schröder,
Kanzleramtschef Frank-Walter Steinmeier und Fraktionschef Peter Struck zu Lagebesprechungen im Kanzleramt
zusammenkommen. Süffisant
ist in der Parteizentrale von
der „Last, die Schröder zu
tragen hat“, die Rede.
So mannhaft springt Müntefering seinem Vorsitzenden
bei, dass er vielen schon als
heimlicher Parteichef gilt.
Unverdächtig fordert er:
„Wir müssen Regierung und
Partei miteinander verknüpfen.“ Doch er hat ein handfestes Ziel: Er selbst und sei- SPD-Politiker Clement, Müntefering, Schröder*: Geschlossenheit als Schlüsselereignis
ne Vertrauten wollen künftig dabei sein, wenn die politische Tages- die SPD in die Landtagswahlen von Schles- mand öffentlich begeistern. Um mehrheitsfähig zu bleiben, das haben die Wahlniederordnung gestaltet wird – wenn die Be- wig-Holstein und Nordrhein-Westfalen.
schlüsse fallen, welches politische Thema
Müntefering, selbst Landesvorsitzender lagen gezeigt, muss die SPD bei allem Groll
wann, mit welchem Schwerpunkt und mit in NRW, weiß: Mit dem Ausgang der Wah- gegenüber der Person Lafontaines die Posiwelchen Folgen zu behandeln ist.
len ist auch sein eigenes politisches Schick- tionen, für die er stand, dennoch integrieren.
Erst mal dürfen die frustrierten Genossen
In einer Art Handstreich – und sehr zum sal eng verknüpft. Deshalb berief er verVerdruss von Fraktionschef Struck – krem- gangene Woche seinen Intimus und zukünf- – vorzugsweise Mandatsträger – deshalb im
pelte Müntefering die Abfolge der Gre- tigen Bundesgeschäftsführer Matthias November auf vier Regionalkonferenzen in
miensitzungen am Montag um. Künftig Machnig zum Wahlkampfleiter für die Nürnberg, Köln, Berlin und Hamburg
wird zuerst die Parteispitze tagen, erst Landtagsentscheidung an Rhein und Ruhr. Dampf ablassen. Keine lustvolle Veranstaldann folgen der geschäftsführende und erDie nächsten Schritte haben Müntefe- tung für die Parteigrößen.
Nachdem Schröder zunächst als Teilweiterte Fraktionsvorstand.
ring und seine Helfer schon klar fixiert.
Dem gleichen Ziel dient die – bisher ein- Der Leitantrag des Parteivorstandes für nehmer nicht vorgesehen war, wird er
malige – Installation eines neuen Abtei- den Dezember-Konvent soll die Diskussion sich nun doch auf allen vier Veranstaltunlungsleiters, der in der Parteizentrale die über das Selbstverständnis der deutschen gen dem Tribunal stellen. Sein künftiger
Bund-Länder-Beziehungen organisieren soll. Sozialdemokraten zur Jahrtausendwende Generalsekretär prophezeit einen heißen
Auftritt: Es könnte „ein Fegefeuer“
Zusätzlich holte Müntefering – gegen den
Sparwillen der Schatzmeisterin – zehn neue * Auf dem SPD-Bezirksparteitag in Bochum am 2. Ok- werden.
Susanne Fischer, Horand Knaup,
Alexander Neubacher
Mitarbeiter ins Berliner Willy-Brandt-Haus. tober.
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DPA
Deutschland
M. URBAN
Modernisierer Müller: „Bürger und Wirtschaft müssen bereit sein, lieb gewonnene Gewohnheiten aufzugeben“
S P I E G E L - G E S P R ÄC H
„Übers Herz in den Verstand“
Wirtschaftsminister Werner Müller über die Vollkasko-Mentalität
vieler Deutscher, den Umbau des Wohlfahrtsstaats und den Populismus der SPD-Linken
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Müller: Wenn ich das wüsste. Schließlich
besteht im Kern doch Einigkeit, dass wir
den Sozialstaat sicher, das heißt: bezahlbar,
in die Zukunft führen müssen. Denn so,
wie die Weichen gestellt sind, würde Ihnen
der Laden irgendwann um die Ohren fliegen. Das Sparpaket ist der erste Beleg in
der Nachkriegsgeschichte, dass beim Haushalt der Grenzpunkt des noch gerade Möglichen an Steuer- und Abgabenerhöhungen
plus Verschuldung überschritten ist.
SPIEGEL: Vielleicht fehlt Ihrer Politik ein
Leitbild, eine klare Zukunftsvorstellung,
die Bindungskraft entfaltet. Die Menschen
fragen sich: Es wird gespart, aber wofür?
Müller: Ebenso wie jeder sein Leben aus
dem Jetzt heraus gestalten muss, muss dies
für die Gesellschaft gelten. Weder können
wir auf ewig von Marshall-Plänen leben
noch uns immer weiterverschulden. Und
der Staat kann auch die Bürger nicht mit
Steuern erdrosseln. Wir müssen uns wieder
auf das besinnen, was sowohl vernünftig
wie sozial ist: dass jede Generation zunächst die Zukunft aus eigener Kraft gestaltet und daran Befriedigung empfindet.
SPIEGEL: Wer Lafontaine liest,
muss den Eindruck gewinnen, es
gehe auch anders.
Müller: Was Lafontaine und seine
Staatssekretäre Heiner Flassbeck
und Claus Noé wollten, ist eine
bequeme Politik. Wenn Sie mit
geliehenem Geld um sich werfen
und neue Wohltaten versprechen, können Sie immer wählerwirksam arbeiten, insbesondere
H.-G. OED
SPIEGEL: Herr Müller, was halten Sie von
Lafontaines Buch?
Müller: Das habe ich nicht gelesen. Das war
mir denn doch zu blöd.
SPIEGEL: Wir können Sie beruhigen. Sie
kommen auf den Seiten, die bislang zu lesen sind, nicht vor.
Müller: Wieso auch? Lafontaine rechnet ja
mit der Partei ab.
SPIEGEL: Glaubt man dem Buch, beschäftigen Politiker sich vor allem mit Postenschacher und Intrigen. Sind Sie als ehemaliger Manager froh, parteilos zu sein?
Müller: Glauben Sie nicht, dass
wichtige Personalentscheidungen
in der Wirtschaft grundsätzlich
anders getroffen werden. Wenn
Sie in einem Konzern an die Spitze wollen, gelingt Ihnen das auch
nicht, indem Sie jeden Abend ein
Nachtgebet sprechen: Ich möchte morgen befördert werden.
SPIEGEL: In der SPD dreht sich
der Streit vor allem um die Frage der sozialen Gerechtigkeit.
Was wollen die Linken in der
Partei anders machen als Sie?
Minister Riester, Eichel
Es wird gespart, aber wofür?
Werbeseite
Werbeseite
Deutschland
in die eigene Klientel hinein. Grundsätzlich
halte ich das aber für einen Versuch wider
die praktische und theoretische Vernunft.
Sozial auf Pump ist unsozial.
SPIEGEL: Die Wähler scheinen den raschen
Kurswechsel dennoch nicht zu goutieren.
Müller: Die Menschen sind das Unsolide
nun 20 Jahre lang gewöhnt. Und jetzt
kommt dieser Wechsel und dann von einer
sozialdemokratischen Regierung. Das ist
ein Treppenwitz der Weltgeschichte, aber
eine Notwendigkeit. Nur die SPD steht für
Gerechtigkeit zwischen den Generationen.
SPIEGEL: Können Sie die Menschen von dieser Notwendigkeit wirklich überzeugen?
Müller: Ludwig Erhard konnte das Leitbild
einer sozialen Marktwirtschaft mit dem
Schlagwort „Wohlstand für alle“ als Faszination im Volk richtig verankern. Dass eine
Politik des Sparens und Sanierens eine solche Faszination ausstrahlen kann, dass sie
„Die alte Regierung hat
sich schleichend in Richtung
Sozialismus bewegt“
sozusagen übers Herz in den Verstand
geht, ist leider sehr schwierig, aber eigentlich die Voraussetzung.
SPIEGEL: Sind die Deutschen nicht empfänglich fürs Sparen?
Müller: Leider hat bis September vergangenen Jahres niemand verbreitet, dass
wir keinen verfassungsgemäßen Haushalt
mehr aufstellen können. Die mittelfristige
Finanzplanung war getürkt, um die Tatsache der Überschuldung zu verschleiern.
Die alte Regierung hat sich schleichend in
Richtung eines Sozialismus bewegt.
SPIEGEL: Wie bitte? Der Eindruck der meisten Genossen von 16 Jahren Kohl ist genau
der gegenteilige, nämlich dass von unten
nach oben umverteilt wurde.
Müller: Das ist ja das Phänomen. Eigentlich
sollte jeder am Produktivitätsfortschritt gerecht partizipieren. Wenn nach 16 Jahren
Kohl der Durchschnittsarbeitnehmer 50
Prozent mehr leistet, müsste er das auch im
Portemonnaie spüren. Tatsächlich ist der
Durchschnittslohn in Westdeutschland 1998
real kaum höher als 1982. Jede Mehrleistung ist in die Staatskassen transferiert,
also systematisch sozialisiert worden.
SPIEGEL: Sie begründen den neuen Kurs damit, der Staat müsse wieder handlungsfähig werden. Was heißt das eigentlich?
Müller: Die Regierung ist finanzpolitisch
erst wieder handlungsfähig, wenn der
Haushalt ausgeglichen ist. Noch besser
wäre es natürlich, wir machen Überschüsse, können weiter Steuern senken und
Schulden tilgen. Dann können wir auch
mal eine Sonderaufgabe schultern oder in
einem schlechten Jahr „deficit spending“
betreiben, also kurzfristig die Konjunktur
ankurbeln, und das Defizit wieder tilgen.
SPIEGEL: Der Staat soll sich also nicht auf
Dauer zurücknehmen?
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Müller: Doch. Mit der Zeit wird der Elan
nachlassen, das Alte erneut zu probieren.
Der teilweise Rückzug des Staates wird
dazu führen, dass die Wirtschaftssubjekte
in toto wieder wirtschaftsfreudiger werden. Das heißt, es wird im Lande wieder
mehr investiert. Es lohnt sich auch eine
höhere individuelle Leistung, weil das, was
einem verbleibt, mehr wird.
SPIEGEL: Ist weniger Staat ein Wert an sich?
Müller: Bei unserem Zustand schon, denn
der Staat hat begonnen, durch Überregulierungen und zu hohe Steuern das abzuwürgen, was eigentlich ein menschliches
Leben kennzeichnet. Es ist ja ein Missverständnis, wenn Sie versuchen, alle gleich-
zumachen als Beleg dafür, dass alle am Anfang die gleichen Chancen hatten. Doch
Bürger und Wirtschaft müssen auch bereit
sein, lieb gewonnene Gewohnheiten aufzugeben, vom kleinen Beschiss bis zur Einforderung bequemer Staatshilfe.
SPIEGEL: Sie haben als Ziel vorgegeben, die
Staatsquote, also das Verhältnis der Staatsausgaben zur gesamten Wirtschaftsleistung
des Landes, von 48,5 auf 40 Prozent zu
senken. Selbst der Kanzler hält dies für
zu ehrgeizig.
Müller: Wenn jemand Ronald Reagan prognostiziert hätte, dass 15 Jahre später Amerika große Haushaltsüberschüsse schreibt,
hätte das auch keiner geglaubt. Entschei-
dend ist die ökonomische Dynamik. Wenn
die Wirtschaft schneller wächst als die
Staatsausgaben, geht die Quote automatisch zurück. Wenn die Arbeitslosigkeit
merklich sinkt und zudem in Ostdeutschland eine stabile Wirtschaft entsteht, ist das
langfristige Ziel nicht illusorisch.
SPIEGEL: Viele interpretieren Ihre Forderung nach mehr Eigenverantwortung als
Euphemismus für Sozialabbau.
Müller: Mit Sozialabbau hat das nichts zu
tun. Wenn die Wirtschaft expandiert, kann
eine geringere Staatsquote, absolut gesehen, mehr Leistung bedeuten als heute. Jedenfalls müssen wir gegen diese Anspruchsmentalität ankämpfen, dass der
Einzelne mit seiner Leistung nachlassen
könne, weil der Staat ja ohnehin nimmt
und gibt. Das ist eine Denkweise, die
Deutschland zum Abstieg verurteilt. Leider
hat sie sich wie Mehltau über das Land
gelegt.
SPIEGEL: Woran machen Sie das fest?
Müller: Ein kleines Beispiel: Warum ist die
Zahl der 630-Mark-Jobs auf über sechs Millionen in die Höhe geschnellt? Weil es die
Steuerflucht des kleinen Mannes war. Für
mich ist das ein Beleg, dass die Menschen
zwar Leistungen des Staates erwarten, aber
die Belastung durch Steuern und Abgaben
nicht mehr tragen wollen. So gesehen müssen wir uns auch nicht wundern, dass der
kleine Betrug gewissermaßen schon zum
Recht des Alltags gehört.
SPIEGEL: Können Sie das den Bürgern wirklich zum Vorwurf machen?
Müller: Nein, sie wurden auch durch die
Politik dazu verführt. In dem Maße, in dem
versucht wird, einen perfekten Wohlfahrtsstaat zu organisieren, werden die
Bürger in eine Vollkasko-Mentalität entführt. Wo immer Sie eine Ausnahme schaffen oder eine Wohltat ausgeben, wird es
nicht lange dauern, bis die Nachbarschaft
rechts und links dasselbe für sich fordert.
SPIEGEL: Gibt es die von Ihnen beklagte
Vollkasko-Mentalität denn tatsächlich?
Müller: Nehmen Sie die vielfältigen Hilfen,
die die Wirtschaft direkt oder indirekt
erhält. Ein typisches Beispiel war die Reaktion, als die Regierung den Steuerparagrafen strich, wonach die Gewinne aus Firmenverkäufen nur mit dem halben Durch-
„Warum soll der Staat regeln,
was Gesellschaft und
Familie selbst organisiert haben?“
schnittssatz versteuert werden müssen.
Wenn Sie so wollen, war das ein Anspruch,
der zementiert schien. Ein anderes Beispiel: die Arbeitslosenhilfe. Darf die Gesellschaft nicht einfordern, dass der im Moment unglücklich Betroffene sich bemüht,
wieder einen Job zu finden? Oder muss
die Gesellschaft auch denjenigen, der nicht
arbeiten will, genauso tragen wie den, der
keine Arbeit findet?
SPIEGEL: Wollen Sie also Empfänger von
Arbeitslosenhilfe zur Arbeit verpflichten?
Müller: Er sollte zumindest dokumentieren, dass er sich um Arbeit bemüht. Andere Länder geben soziale Hilfe nicht nur als
Geld. In Amerika gibt es Sachleistungen
und Güter. Wer dort zusätzlich das attraktivste aller Güter, nämlich Geld, haben will,
muss Arbeit finden.
SPIEGEL: Welche Leistungen bietet der
deutsche Wohlfahrtsstaat denn Ihrer Ansicht nach ohne Grund an?
Müller: Bei objektiver Bedürftigkeit grundsätzlich keine. Aber: Als die Pflegeversicherung eingeführt wurde, war das selbst
unter Sozialpolitikern umstritten. Warum
soll der Staat etwas regeln, was Gesellschaft und Familie bislang selber recht gut
organisiert haben? Schlussendlich wurde
ein Anreiz geschaffen, sich aus der Verantwortung für Eltern oder Verwandte freizukaufen. So generiert sich die Nachfrage
nach Staat fast von selbst.
SPIEGEL: Noch sensibler ist das Thema Rente. Können Sie nicht verstehen, dass die
Gewerkschaften den Plan, die Renten nur
entsprechend der Inflation anzuheben, als
unsozial geißeln?
Müller: Ja, Gott, sollen wir es so machen
wie die alte Regierung, nämlich erst mal
jede Lohnerhöhung durch höhere Steuern
und Abgaben auf null stutzen? Dann würd e r
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Deutschland
M. URBAN
den die Renten nach der Logik der Nettolohnformel nicht
steigen, sondern wie seit Jahren real entwertet. Wenn aus
der Kritik der Gewerkschaften folgt, dass diese Farce der
alten Koalition besser war,
fasse ich mir an den Kopf.
SPIEGEL: Bei der Rente scheint
die von Ihnen beklagte Anspruchsmentalität besonders
ausgeprägt zu sein. Oder wie
verstehen Sie die Forderung Müller beim SPIEGEL-Gespräch*: „Stattliche Entlastung“
nach einer Rente mit 60?
Müller: Wenn das für alle gelten soll, ohne auf 25 Prozent. Und dann steht in dem
dass die Rente sinkt, kann sich die Gesell- Konzept ein komischer Satz: Gegenfinanschaft das nicht leisten. Seit Bismarck hat zierung gemäß Petersberg. Zu den Peterssich die Lebensarbeitszeit halbiert und die berger Beschlüssen gehört auch die BeRentenzeit verdoppelt. Insofern wird ein steuerung sämtlicher KapitallebensversiUmlageverfahren per se immer schwieriger cherungen. Petersberg kann für viele
durchzuhalten sein. Das ist der Grund, höchst dramatisch werden, nicht zuletzt
warum andere Formen der Vorsorge hin- für die Inhaber von Versicherungen, die
zukommen müssen.
schon 20, 30 Jahre laufen.
SPIEGEL: Die Pläne von Walter Riester, die SPIEGEL: Können Sie denn wenigstens die
gesetzliche Rente durch eine private Zu- Vision teilen, die hinter einer gewaltigen
satzvorsorge zu ergänzen, wurden aber Nettoentlastung steht, dass nämlich der
wieder einkassiert. War sein Modell für staatliche Zugriff zurückgeht?
eine „Zwangsrente“ falsch?
Müller: Grundsätzlich ist das richtig. Aber
Müller: Eigentlich bin ich prinzipiell gegen wir haben ja auch eine stattliche Nettoneue staatliche Vorschriften. Aber wenn entlastung, allerdings bewusst bei den kleiAppelle, fürs Alter vorzusorgen, nichts nen und mittleren Einkommen um 40 Milfruchten, dann müsste die Regierung eben liarden netto jährlich, bereits zum Gesetz
ein bisschen nachhelfen. Ansonsten laufen gemacht. Im Jahr 2001 kommt eine NettoMenschen Gefahr, dass sie im Alter nur ein entlastung bei den Unternehmen von
8 Milliarden hinzu. Mehr ist zur Stunde
Existenzminimum bekommen.
SPIEGEL: Die Union, ohne die bei der Ren- nicht machbar, sonst verstößt der Haustenreform nichts geht, lehnt diese Varian- halt gegen die Verfassung.
te ab. Sie setzt auf Freiwilligkeit.
SPIEGEL: Die Amerikaner haben ihren
Müller: Das wird kaum reichen. Letztlich Haushalt nicht zuletzt durch die Einnahverhält es sich ähnlich wie aktuell beim men aus der Aktiensteuer saniert. Wäre
Ökostrom. Wenn Sie eine Umfrage ma- das ein Modell für Deutschland?
chen, sind wahrscheinlich 95 Prozent der Müller: Das wäre prinzipiell eine Methode,
Gesellschaft für grünen Strom, und der die niedrigeren US-Einkommensteuersätze
kostet ja nur ein paar Pfennig mehr als vorausgesetzt. Dass wir Spekulationsnormaler Strom. Nur bestellen tut den gewinne nach der Frist von einem Jahr
kaum jemand. Man fragt sich, ob man das überhaupt nicht veranlagen, ist sicher disirgendwie zwangsverordnen müsste. Aber kutabel. Aber die Steuer müsste gleichSie sollten die freie Wahl haben, welchen gewichtig sein. Gegebenenfalls muss der
Ökostrom-Anbieter Sie dann wählen.
Anleger sich auch Verluste beim Fiskus anrechnen lassen dürfen.
SPIEGEL: Wird das wirklich klappen?
Müller: Bei zusätzlicher privater Altersvor- SPIEGEL: Wenn Ihre Zustandsbeschreibung
sorge ist auch entscheidend, ob die Leute richtig ist, dann meint die Mehrheit: Spadafür genügend Einkommen zur Verfügung ren ja, aber nicht bei mir.
haben. Unsere Steuerreform entlastet ei- Müller: Daraus darf aber nicht folgen, dass
nen Durchschnittshaushalt bis zum Jahr man sich zu einer populistischen oder op2002 netto um 3000 Mark; das setzt genug portunistischen Politik zurückentwickelt.
Mittel frei, um eine zusätzliche Altersvor- Dann sähe ich allerdings wirklich schwarz
für die Regierungsparteien. Denn die Resorge aufzubauen.
SPIEGEL: Die Union will die Regierung zu gierung ist verpflichtet, die Gesellschaft in
einer Steuerreform drängen, die die Bürger eine sichere Zukunft zu führen und nicht irbis 2003 um bis zu 50 Milliarden netto ent- gendwelchen Wunschträumen Rechnung zu
lastet.
tragen. Schlussendlich würde ich sagen: LieMüller: Was da entworfen wird, ist in man- ber nicht wiedergewählt werden, weil man
chen Punkten eine Ecke schlechter als un- eine für die Zukunft notwendige Politik verser Vorschlag. Die Union will den Körper- antwortlich betrieben hat, als der Wankelschaftsteuersatz auf 35 Prozent senken, wir mütigkeit des Populismus wegen in Schimpf
und Schande abgewählt zu werden.
SPIEGEL: Herr Müller, wir danken Ihnen für
* Mit Redakteuren Ulrich Schäfer und Jan Fleischhauer.
dieses Gespräch.
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M. KRIZANOVIC / DIE ZEIT
Privatmann Lafontaine (am vergangenen Montag): Mit Oskar war immer zu rechnen – und nie auf ihn zu bauen
SPD
Die verfolgende Unschuld
Die Welt aus Oskar Lafontaines Sicht: Wenn er den Film zurückdrehen könnte, würde er
Gerhard Schröder nie zum Kanzler machen. Von Jürgen Leinemann
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muliert: „In früheren Jahrhunderten nagelte das Publikum den Journalisten die
Ohren an die Pumpe.“
Ach ja, das waren Zeiten. Nun liegt das
Büchlein griffbereit auf dem Schreibtisch
eines Mannes, der in diesen Tagen seinerseits mit einer sorgfältig inszenierten Pressekampagne die Republik überzieht. Kein
Tag ohne neue rüde Angriffe auf die SPD,
die er als Vorsitzender wieder an die Macht
gebracht hat. Kein Interview ohne Häme
über den Kanzler, der’s nicht bringt. Und
keine öffentliche Äußerung ohne Werbung
für sein Buch „Das Herz schlägt links“,
BECKER & BREDEL
N
un stehen sie wieder vor seiner
Haustür. Kameraleute, Fotografen,
Mikrofonhalter. Ihre Blicke streichen an den Fenstern entlang, jeden Besucher des Hauses Am Hügel 26 in Saarbrücken fragen sie, ob Oskar Lafontaine zu
Hause sei. Und wie er sich fühle.
Der fühlt sich belagert. Belästigt. Terrorisiert. Auf seinem Schreibtisch im Souterrain, von wo aus er den Eingang nicht sehen kann, hält er Schriftgut bereit, das seinen Zorn in Worte kleidet, Botho Strauß
zum Beispiel: „Das Regime der telekratischen Öffentlichkeit ist die unblutigste Gewaltherrschaft und zugleich der umfassendste Totalitarismus der Geschichte.“
Und er, Oskar Lafontaine, ist ihr Opfer.
Weit reißt der Hausherr die Augen auf
und starrt seinen Besucher herausfordernd
unschuldig an. Er hat sich gut munitioniert
für das Gespräch über die Medien mit den
Medien.
„In früheren Zeiten hatten die Menschen die Folter. Jetzt haben sie die Presse“, steht in einem Essay von Oscar Wilde,
der aus dem Papierwust auf seinem
Schreibtisch hervorlugt. 1891 hat der exentrische Brite in einer Abhandlung über den
„Sozialismus und die Seele des Menschen“
seine Attacken auf den Journalismus for-
Lafontaine-Buch
Vergiftetes Vermächtnis
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das er in dieser Woche mit gewaltigem Medienrummel auf der Buchmesse in Frankfurt vorstellen wird.
Das Medienopfer Oskar Lafontaine ist
eine rege verfolgende Unschuld.
Es hat immer schon zum Selbstverständnis des robusten politischen Akteurs
Oskar Lafontaine gehört, dass er dem Leben in Notwehr-Situation gegenüberstand.
Alles ist ihm zugestoßen – Ämter, öffentliche Aufmerksamkeit, Niederlagen. Immer
hat er nur reagiert. Im März mit fluchtartigem Rückzug, nun mit rächender Rechtfertigung. Was hätte er denn stattdessen
machen sollen? Eine Blaskapelle vors Haus
stellen und feierlich eine Proklamation vorlesen?
Oskar Lafontaine klingt weder aggressiv
noch sentimental in solchen Augenblicken,
auch nicht hilflos oder trotzig. Er spricht
leise und nachdenklich, wie aus weiter Ferne und außerhalb der Zeit. Zwei Armbanduhren hängen über dem Schaft seiner
Schreibtischlampe, als hätte er die Gegenwart abgestreift.
Hört er nichts vom Getümmel, das er
auslöst? Kümmern ihn die Folgen seiner
schrillen Anklagen nicht? Wenn er angegriffen wird, muss er leider die Wahrheit
sagen. So ist das. Schulterzucken, blanker
Deutschland
F. OSSENBRINK
* Am 14. März bei seiner ersten öffentlichen Erklärung
nach dem Rücktritt vor seinem Haus in Saarbrücken.
zimmer in Saarbrücken hängt
nun jenes gerahmte Foto von
Frau und Sohn mit Riesenbovist, mit dem er ein Stück
Heimat vor seinen Bonner
Schreibtisch zu zaubern versuchte. Vielleicht hätte er das
nicht tun sollen, sagt er jetzt.
Zu viel Heimweh.
30 Jahre lang war Oskar
Lafontaine eine öffentliche Figur gewesen, und in all dieser
Zeit verlief seine Achterbahnkarriere im Spannungsfeld einer irritierenden Ambivalenz. Hin- und hergerissen zwischen hechelndem
Ehrgeiz, in der Politik der Erste und Beste zu sein, und einer saugenden
Sehnsucht nach Heimat und Familienidyll,
enttäuschte er Freunde und erschreckte
Feinde. Mit Oskar war immer zu rechnen,
auf Oskar war nie zu bauen.
Unvergessen das Entsetzen in den Augen
des jungen Oberbürgermeisters und SPDVorständlers aus Saarbrücken, als er den
damaligen Kanzler Helmut Schmidt von
zwei schwarzen Aktentaschen niedergezogen, grau und schwer die Stufen zur
SPD-Baracke in Bonn hochstapfen sah.
„So soll ich auch werden? So kaputt?“
Unübersehbar aber auch, wie ähnlich er
ihm ein Vierteljahrhundert später geworden war. Zum Dienst mochte er der Partei
verpflichtet gewesen sein, sagt er heute,
aber nicht bis zum Infarkt.
1990, als ihn die Attentäterin mit einem
Stich in den Hals niederstreckte, hatte er –
den Tod vor Augen – schon einmal erschrocken Bilanz gezogen: War das sein
Leben gewesen? Nicht noch einmal, nahm
er sich vor, wollte er mit so leeren Händen
vor Frau und Kindern stehen.
Das Attentat.Wer dürfte zweifeln an den
Folgen dieses Traumas. In den letzten WoFOTOS: REUTERS ( li.); AP (re.)
Blick. Der gerade noch
machtvolle SPD-Chef, der
über seine politischen Kontrahenten mit unverblümter Verachtung schreibt und
redet, thront hinter seinem
Schreibtisch wie abgeschnitten von seinen eigenen
Sätzen.
In der vergangenen Woche
scheint das schon Welten entfernt. Lafontaine – zuletzt
mürrisch und gehetzt – wirkt
wach und ausgeruht. Er überrascht durch milde Zuhörbereitschaft. Wenn er ins Argumentieren gerät, liest er do- Vater Lafontaine, Sohn Carl-Maurice: „Dahem is dahem“
zierend aus den Druckfahnen
Regression. Rückzug auf kindliche Musseines Buches vor, die er mit roten Zusätter. Oskar Lafontaine überließ es seinem
zen und Anmerkungen versehen hat.
Er formuliert drastisch und riskant wie Sohn Carl-Maurice, diese Haltung auszueh und je, nennt Scheißdreck, was ihm drücken: Der erschien auf dem heimischen
missfällt, und Flachgeister, die ihn nicht Balkon und streckte der Nation die Zunge
raus.
verstehen. Aber er bullert nicht mehr.
Vier Monate, sagt Lafontaine heute,
Die freundliche Stimme und die ruhige
Aufmerksamkeit stehen in einem be- habe er sich mit dem Abschied rumgetrafremdlichen Kontrast zur kalten und schar- gen, bevor er gehandelt habe. Und in der
fen Diktion seiner Aussagen. Wenn er den ersten Phase, vor Weihnachten, hat es nicht
Film zurückdrehen könnte, würde Schrö- gefehlt an andeutenden Drohungen und
der nie Kanzler werden, sagt er beiläufig. Vorhersagen.
Als Lafontaine dann im heimischen
Das Risiko mit dem Niedersachsen sei ihm
ja immer klar gewesen, doch habe er an Saarbrücken selbst öffentlich auftauchte,
dessen Vernunft geglaubt. Er sei also davon präsentierte er sich ostentativ als Privatausgegangen, dass Schröder, wenn er auf mann. In Strickjacke, den Sohn auf den
Platz eins sitze, ihn, Oskar, gewähren lasse. Schultern, signalisierte er die Verwandlung
Oskar, der Puppenspieler, mit der Kanz- zum Familienmenschen, bevor er sein verlerhandpuppe Gerd: So hätte es sein müs- giftetes Vermächtnis verlas. Alle Kränkunsen. Dass es so nicht gekommen ist, ver- gen, Enttäuschungen und Misserfolge seines politischen Lebens entluden sich in pazeiht er weder Schröder noch sich selbst.
Lafontaine, der angebliche Lebensge- thetischer Selbstidealisierung als Gefühlsnießer, ist keiner, der milde mit sich um- Sozialist, der sein Herz nicht an der Börse
geht beim Versagen. Alle haben ihn ge- handeln lässt.
Neues Leben, neues Glück? Als Hauswarnt, sich dem Kanzler im Kabinett zu
unterstellen. Er hat sich überschätzt, nun mann ist Oskar Lafontaine von liebensist die Selbstbestrafung unbarmherzig. Was würdiger Befangenheit. In seinem Arbeitsder Attentäterin Adelheid Streidel 1990
nicht gelungen ist, holt ihr Opfer jetzt
nach: die Zerstörung der politischen Person Oskar Lafontaine.
Beobachtern ist schon unmittelbar nach
dem abrupten Abschied des Saarländers
aus allen politischen Ämtern am 11. März
aufgefallen, dass das Szenario des Endes,
von Oskar Lafontaine sorgfältig geplant
und umgesetzt, alle Züge eines Bilanz-Suizids hatte. Das reichte vom durchgehaltenen Alltag als Ablenkungsmanöver über
einen Vorabend in Gesellschaft mit fast euphorischen und zukunftsorientierten Äußerungen bis zur aggressiven Kargheit der
Abdankungsbriefe, die mehr Abstrafung
waren als Abschied.
Keine Erklärung, keine Chance für Nachfragen – sollten doch alle mal überlegen,
was sie dem aus Bonn Verschiedenen angetan hatten. Es würde ihnen schon leid tun.
Ex-Minister Lafontaine*: Abschied als Abstrafung
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Lafontaine-Sohn Carl-Maurice, Mutter*
Sehnsucht nach Heimat und Familienidyll
chen in Bonn habe er wieder das Messer
blitzen sehen im Traum, erzählt er. Aber
war deshalb gleich sein ganzes politisches
Leben ein Opfergang?
In Wahrheit, behauptet Lafontaine heute, habe er überhaupt nur um zwei politische Positionen aus eigenem Antrieb
gekämpft – um das Amt des Oberbürgermeisters von Saarbrücken und um das des
SPD-Vorsitzenden im Saarland. Nicht einmal Ministerpräsident habe er wirklich
werden wollen.
In die Kanzlerkandidatur 1990 sah er
sich hineingedrängt von den Genossen, am
Parteivorsitz im November 1995 in Mannheim, als er putschartig Rudolf Scharping
ablöste, war seine Frau Christa Müller
schuld. Die habe ihn bekniet, er dürfe die
Partei nicht absaufen lassen. Dass er sich
Scharping und Schröder überlegen fühlte,
damals wie heute, versteht sich.
Nun geht es ihm, sagt er, saugut, sieht
man vom Politischen ab. „Dahem is dahem“, wie die Saarländer sagen. Er trinkt
von seinem Rotwein, wie es
ihm der ehemalige Freund
Günter Grass per Schlagzeile
anrät, hat ein paar Pfunde zugelegt, doch das Maulhalten
will ihm nicht gelingen.
Seine Wohnung hängt voll
mit Farbfotos, die Oskar Lafontaine von seiner Familie in
heimischer Landschaft geknipst hat, idyllische Bilder,
die sich nostalgisch zu MilieuGemälden von Fritz Zollenhofer aus der Hochzeit der
Arbeiterbewegung gesellen.
Zusammen ergibt das eine
Anmutung von Heimatmu-
seum, in dem der Hausherr selbst das
Prunkstück bildet.
Nur, dass er eben noch immer ein bisschen abwesend erscheint im eigenen Heim.
Ein Leben als bloßer Provinzonkel lässt
sich so leicht nicht durchhalten.
Die Politik, die er amputiert zu haben
vorgibt, quält ihn wie ein Phantomschmerz. Und er quält zurück. Mochte er
das Buch, in dem er seinen Bruch mit den
regierenden Genossen rechtfertigen wollte, zunächst noch als Bilanz seines politischen Wollens geplant haben; unter dem
Druck der aktuellen Ereignisse wurde es
zu einem Rachefeldzug.
Es ist, als habe Lafontaine erst nachträglich begriffen, dass er das Werk der
politischen Selbstvernichtung nur unvollständig betreibe, wenn er nicht alles mitzerdeppere, was er zuletzt, im Verein mit
Schröder, geschaffen hat – eine halbwegs
geeinte Partei und eine hoffnungsvolle
Regierung.
Nun teilt er aus. In der simplen mechanischen Logik seines vorkybernetischen
physikalischen Denkens gibt es nur eindimensionale Abläufe von Ursache und Wirkung, Schuld und Bestrafung, Freund und
Feind. Dort sind die Dummköpfe und
Schurken, hier ist er.
Die Folge ist, dass sich Oskar Lafontaine
bis zur Unkenntlichkeit in Besserwisserei
aufgelöst hat. Er scheint nur noch ein Reflex jener radikalen Beschuldigungen zu
sein, mit denen er den Rest der Welt ins
Unrecht setzt.
Ist Oskar Lafontaine ein Linker? Ein Traditionalist? Er wehrt sich gegen diese Klischees, zu Recht. Aber sie prallen auf den
Polemiker Lafontaine zurück, der jeden
Andersdenkenden als Neoliberalen verteufelt, ob Bodo Hombach oder Walter
Riester.
In Wahrheit ist Lafontaine politisch zeitlebens so wendig und opportunistisch gewesen wie Gerhard Schröder auch. Ein
Wunder ist es deshalb nicht, dass dort, wo
er in der Partei gestanden hat, jetzt kein
Nachfolger auftaucht, geschweige denn ein
Bataillon von Gefolgsleuten. Und dass umgekehrt auch seine bedenkenswerten Positionen, seine Warnungen vor der Dominanz der Amerikaner auf den internationalen Finanzmärkten etwa, von den verbliebenen SPD-Linken nicht aufgegriffen
werden, zeigt, wie irrlichternd er sich verrannt hatte.
Nun tut Oskar Lafontaine so, als habe er
alles hinter sich. Die Debatte, die er angeblich wollte, aber als Parteichef wegen
ihres zerstörerischen Potenzials nicht anstoßen durfte, läuft jetzt und zerstört die
Wahlchancen der SPD: Er begleitet sie mit
Zitaten aus seinem „Hauptwerk“, wie er
sein Buch nennt.
Wenn seine parteipolitischen Gegner im
Fernsehen auf ihn einprügeln oder die
künftige SPD-Politik zu beschreiben versuchen, schläft er gelangweilt ein. Da ist
nichts Neues für ihn drin.
Was er nun machen will? Der Traum
vom Bauernhof ist erst mal gestrichen –
zu viel Arbeit. Er ist schließlich Autor.
Und in Frankfurt wird der mediengeleitete Schröder schon sehen, was ein wirklicher Medienstar ist. Einer wie Oskar
braucht kein Amt, um von sich reden zu
machen. Vielleicht schreibt er sogar noch
ein Buch.
Oskar Lafontaine wiegt stolz seinen
Sohn auf dem Arm und lehrt ihn, dass alle
Menschen dumm sind, selbst Papa. Wenn
es auch zur Belehrung der anderen noch allemal reicht. Nach der Frankfurter Buchmesse hat er jedenfalls jede Menge Einladungen, aber dass er von Buchhandlung
zu Buchhandlung tingelt, kommt nicht in
Frage.
Und politisch? Da muss Oskar Lafontaine vorbeugend lachen. Jeden, der ihm
Gedanken an ein Comeback in der Politik
unterstellt, betrachtet er, als sei er geistesgestört. Andererseits bleibt er natürlich ein
politisch interessierter Mensch. Da soll sich
bloß keiner täuschen.
Vor einigen Wochen hat er noch vielsagend durchblicken lassen, dass er einen Film im Kopf habe – in zwei
Jahren sehe die Welt ganz
anders aus. Jetzt beschränkt
sich der Ruheständler Lafontaine erst einmal darauf,
die Ungewissheit über seine
Teilnahme am SPD-Parteitag in Berlin lebendig zu erhalten.
Will er denn wirklich dahin? Na ja, er ist natürlich,
seit er den Vorsitz aufgegeben hat, nicht mehr automatisch Delegierter. Andererseits – den Saaldiener möchte er sehen, der ihn rausschmeißt.
Mag sich auch die politische Leitfigur Lafontaine
selbst zerstören. Der Trickser
Oskar lebt.
™
BERLINER ZEITUNG
D. ZEHENTMAYR
BECKER & BREDEL
Deutschland
* Christa Müller, bei einem Kinderfest
in Saarbrücken im September.
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Deutschland
CDU
Danke, es reicht
Helmut Kohl benimmt sich
noch immer wie ein Bundeskanzler
– und nervt damit seine Partei.
38
B. BOSTELMANN / ARGUM
E
igentlich galt der Empfang im Berliner Opernpalais der früheren Bundestagspräsidentin Annemarie Renger, die am vergangenen Donnerstag ihren
80. Geburtstag feierte. Doch kaum schob
sich die massige Gestalt des Altbundeskanzlers durch den Flur, ließen die versammelten Kamerateams die Jubilarin umstandslos stehen und stürzten sich auf
Helmut Kohl.
Der dicke Pfälzer, früher nicht gerade
ein Freund der Presse, genoss den Auftritt
sichtlich. „Zwei alte Männer und eine
junge Frau“, scherzte der 69jährige mit
kokettem Blinzeln und schob sich neben Renger und dem etwas gequält
wirkenden Wolfgang Thierse, 55, vor die
Objektive.
Wo auch immer der abgewählte Regierungschef in diesen Tagen auftaucht, wird
er empfangen wie ein Star. In Umfragen
kletterte Kohl binnen zwei Monaten von
Platz fünf der beliebtesten deutschen Politiker auf Platz drei. „Es gibt ein richtiges
Kohl-Revival“, stellt der frühere Verkehrsminister Matthias Wissmann halb ungläubig, halb erfreut fest.
Doch nicht immer kann der „Herr Bundeskanzler“, wie Kohl von Parteifreunden
weiter ehrfürchtig genannt wird, zwischen
Nostalgie und Realität unterscheiden. Beflügelt vom Jubel derer, die ihre eigene
Vergangenheit feiern, benimmt Kohl sich
gelegentlich eher als Kanzler „in Reserve“
denn als Kanzler „außer Dienst“.
So forderte der Ehrenvorsitzende, das
Adenauerhaus müsse wie früher zu jedem
seiner Wahlkampfauftritte für professionellen Bühnenaufbau und Begleitpersonal
von rund zehn Mann sorgen. Unzumutbar
sei ihm auch die Qualität der Mikrofone,
klagte Kohl und verlangte seine alte Lautsprecheranlage zurück. Schließlich sei er
„derjenige, zu dem die meisten kommen“,
brüstet sich der Publikumsliebling.
Generalsekretärin Angela Merkel ließ
den Antragsteller abfahren. Eine solche
Sonderbehandlung sei nur für den amtierenden Parteivorsitzenden möglich, beschied sie kühl. Alle anderen müssten mit
der normalen Ausstattung durch die Landesverbände vorlieb nehmen. Sie könne
nicht erkennen, dass die Veranstaltungen
des Ehrenvorsitzenden organisatorisch gelitten hätten. „Schließlich sind sie ja der
Renner“, so Merkel.
Erbost über die mangelnde Unterwürfigkeit seiner einstigen Ziehtochter, deren
Modernisierungsforderungen Kohl zu
Publikumsliebling Kohl*: „Zu mir kommen die meisten“
Recht als Kritik begreift, mobbt der ExKanzler nun beständig gegen Merkel. Das
„Mädchen“ habe den Laden nicht im Griff.
Früher habe alles besser funktioniert.
Entgegen den öffentlichen Beteuerungen seiner Parteifreunde kann Kohl sich
nur schwer damit abfinden, dass der Laden
auch ohne ihn läuft, und mischt sich immer
wieder ein.
Als die CDU/CSU-Fraktion vergangene
Woche heftig über den Einsatz deutscher
Soldaten in Osttimor stritt, ließ Kohl über
seinen Nachfolger Wolfgang Schäuble
ausrichten, es sei „sein persönlicher
Wunsch“, dass die Fraktion der Entsendung zustimme. Er erwarte entsprechendes
Verhalten. Obwohl vielen Abgeordneten
Kohls Intervention missfiel, stimmten sie
schließlich zu.
Mit seiner buddhahaften, Bonbon lutschenden Dauerpräsenz und seiner Comeback-Tournee geht Kohl der Fraktion kräftig auf die Nerven. Manch einer, meint ein
CDU-Politiker, würde wohl gern einen
SPD-Wahlkampf-Spruch wieder auspacken: „Danke Helmut, es reicht.“ Doch
die Abrechnung mit 16 Jahren Kohl ist nach
wie vor tabu. Und niemand will sich vorwerfen lassen, er beschädige die derzeit
einzige Kultfigur der CDU.
So fällt es dem Alten, der im kommenden April seinen 70. Geburtstag feiert,
leicht, die garstigen Teile der Realität auszublenden. Mehr und mehr verfestigt sich
in ihm die Überzeugung, er sei bei der Bundestagswahl vom 27. September um sein
Amt betrogen worden. Kohl betrachte sich
als Opfer eines großen Schwindels, den
Schröder und Co. angezettelt haben, glaubt
sein früherer Gesundheitsminister Horst
Seehofer: „Durch die große Zustimmung
* Bei einer CDU-Wahlveranstaltung im September in
Erfurt.
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bei seinen Auftritten fühlt er sich rehabilitiert.“
Schon gibt es Befürchtungen, der Alte
plane eine Rückkehr in die aktive Politik.
Der Ehrenvorsitzende sei sich „nicht immer ganz darüber im Klaren, dass er nie
mehr der Spitzenkandidat sein wird“, beschreibt ein CDU-Führungsmitglied Kohls
Gemütslage.
Umgeben von seiner Gesteins- und
Münzsammlung, umsorgt von seiner Vorzimmerdame Juliane Weber und seinem
Kanzleramts-Adlatus Michael Roik, hat
Kohl es sich in seinem Berliner Büro
Unter den Linden in der eigenen Vergangenheit bequem gemacht. Kontakt pflegt
er vor allem zu seinen alten Spezis „Carbonara“ (Eduard Ackermann), „Fritzi“
(Andreas Fritzenkötter) und „Tony“ (Anton Pfeiffer). Mit der neuen Garde
der CDU könne der Alte dagegen nicht
viel anfangen, sagt einer seiner früheren
Minister.
Ohne den Anflug eines ironischen
Grinsens ließ Kohl sich im Berlin-Wahlkampf von Eberhard Diepgen mit „Das
Wort hat der Bundeskanzler“ begrüßen.
Ende August wurde er in China von Präsident Jiang Zemin wie ein Staatsgast
empfangen, mit Bill Clinton telefoniert
er regelmäßig, ebenso mit Männerfreund
Boris Jelzin.
Sogar eine Kabinettssitzung hielt Kohl
bereits wieder ab. Mitte September traf
sich die alte Regierungsmannschaft bis
auf wenige Ausnahmen bei Pfronten im
Allgäu und schwelgte in alten Erinnerungen. „Gegen Mitternacht haben wir mit
Hilfe von viel Alkohol die Regierung wieder übernommen“, erinnert sich „Vizekanzler“ Klaus Kinkel. Das nächste Ehemaligentreffen ist bereits geplant. Kinkel
lädt auf die Hohenzollernburg bei Hechingen.
Tina Hildebrandt
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J. H. DARCHINGER
FOTOS: F. OSSENBRINK
Mobiltelefonierer Andrea Fischer, Otto Schily, Joschka Fischer: Was es gibt, wird auch benutzt
S P I O NAG E
Die Wanze hat laufen gelernt
Der technische Fortschritt beunruhigt die Regierung:
Sie prüft ein Handy-Verbot im Kabinettssaal, da die Telefone
zum Lauschangriff missbraucht werden können.
S
o manchem Minister der Bundesregierung steht demnächst ungewöhnlicher Besuch ins Haus. Die Herren
vom Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) haben sich in den
Ressorts angesagt. Sie wollen in den Büros
elektronischen Hausputz halten.
Dabei werden die Experten vom Referat
IV4 („Lauschabwehr,Abstrahl- und Lauschabwehrprüfungen“) die Spitzenkräfte des
Kabinetts freundlich, aber bestimmt aus
deren Arbeitszimmer komplimentieren.
Denn das futuristische Instrumentarium
und die Arbeitsweisen der BSI-Männer
sind so geheim, dass nicht einmal die
Minister zusehen dürfen.
Der Einsatz der Anti-Lausch-Einheit
macht Sinn: Nirgendwo in Deutschland sitzen Geheimdienste aus aller Welt dichter
aufeinander als im neuen Berliner Regierungsviertel. Und nirgendwo, befürchten
Sicherheitsexperten, mühen sich die
Späher so um gute Ausgangspositionen wie
42
an der Schnitt- und Baustelle zwischen Ost
und West.
Besonderes Unbehagen löst bei Staatsschützern der riesige Block der russischen
Botschaft nahe dem Brandenburger Tor
aus: ein geradezu idealer Standort für
Lauschmaßnahmen aller Art. Selbst nach
Ende des Kalten Krieges haben die russischen Dienste ihre Neugier nicht gezügelt.
Schon 1997 warnte der Bundesnachrichtendienst (BND) die Bundesregierung, man
habe eine „Vertretung der Fapsi“, des russischen Abhördienstes, ausgemacht – in der
jetzigen russischen Vertretung in Berlin.
Hatten die Geheimdienste West wie Ost
einst mit Hilfe gewaltiger Horchanlagen
eine Art elektronisches Spinnennetz installieren müssen, so macht jetzt der technische Fortschritt in der Telekommunikation das Ausspähen offenbar leichter: Anlagen und ihre Software lassen sich vor Ort
manipulieren. Neueste Variante ist der Einsatz von Handys. Die Dimension des
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Lauschangriffs per Mobilfunk erklärt ein
Spezialist so: „Jetzt hat die Wanze das Laufen gelernt.“
Wann und wo die Bundesfahnder zuletzt fündig wurden, ist streng geheim –
schon weil es hochpeinlich wäre, wenn bekannt würde, dass in der Regierung ein
Mithörgerät oder eine manipulierte Telefonanlage aufgetaucht ist. BSI-Sprecher
Michael Dickopf konstatiert nur trocken:
„Was es gibt, wird auch benutzt.“
Schon 1994 stellten Techniker der für die
Sicherheit der deutschen Botschaften zuständigen Abteilung 5 des BND im TelefonZentralrechner der Vertretung in Washington eine folgenschwere Manipulation fest:
Die Software war so verändert worden,
dass durch einen einfachen Anruf von
außen beliebig Gespräche mitgehört werden konnten.
Siemens hatte eine amerikanische Firma
mit den Wartungsarbeiten an der Anlage
beauftragt – der BND argwöhnte, dass die
amerikanischen Kollegen von der CIA sich
darüber Zugang verschafft haben könnten.
Dickopf: „Der Trend geht weg von der
schlichten Wanze hin zu Kommunikationsanlagen.“
Damit Ähnliches nicht in der Heimat geschieht, werden nun die Regierungsbüros
sondiert. Bis zu einem Tag brauchen die
BSI-Spezialisten für die Überprüfung eines
einzelnen Zimmers: Alle „Öffnungen“
müssen begutachtet, die Wände auf Wan-
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Deutschland
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genannte IMSI-Catcher vorgestellt. Das ist
ein Gerät, das den Handys vorgaukelt, es
sei eine der Stationen, die sie mit dem Netz
verbindet. So erhalten die Manipulateure
alle Kenndaten des Nutzers und können
die Gespräche belauschen.
Als „fachkompetenter Referent“ trat der
Sicherheitsbeauftragte der E-Plus-Mobilfunk GmbH auf. Die Zuhörer erfuhren, dass
der IMSI-Catcher „aus zwei 19-Zoll-Einschüben besteht und einer handelsüblichen
GSM-Antenne. Die Steuerung erfolgt durch
einen normalen Laptop. Von dem wird das
Handy angewiesen, den Funkverkehr unverschlüsselt abzuwickeln.“
Zu Deutsch: Solche Geräte hebeln den als besonders sicher geltenden GSM-Standard aus.
Ein einziger IMSI-Catcher – im
dicht bebauten Regierungsviertel
unauffällig von wem auch immer
zu betreiben – könnte wohl reiche
Beute machen. Und der Aufwand
ist gering: „Alle Komponenten sind
problemlos von einer Person transportierbar“, urteilten die Experten.
„Der Betrieb erfolgt aus einem
Pkw heraus, damit ist ein schneller
Ortswechsel unproblematisch.“ Kostenpunkt: rund 100 000 Mark.
Ein Lauschangriff auf den Staat?
Eine Gruppe norddeutscher
Hacker brüstete sich während des
Kosovo-Krieges, man habe die
Handy-Telefonate von Außenminister Joschka Fischer abgehört. Als
Beweis sollen Gesprächsfetzen
vom Band abgespielt worden sein.
Den Beleg, dass die Aufnahme
tatsächlich von Fischers Mobiltelefon stammte, blieben die Tüftler bis
heute schuldig.
Aber dass die Lauschgefahr besteht, ist unstreitig. So beriet das
Kabinett während des KosovoKonflikts, bis zu welchem Verschlusssachengrad militärische GeHandy-Sendemast*: Lauschangriff auf den Staat?
heimnisse auch am Handy beNach einem erfolgreichen Selbstversuch sprochen oder per Fax versandt werden
verlangte der Bundesbeauftragte für Da- könnten. Grenzenloses Zutrauen in die
tenschutz von den Herstellern, endlich Sicherheit der eigenen Datenleitungen gab
es nicht – also galt fortan die Devise, dass
„diese Technik sicherer zu machen“.
In naher Zukunft werden echte Lausch- nur Meldungen mit der Sicherheitsstufe
angriffe durch Mobiltelefone – zumindest VS-NfD (Nur für den Dienstgebrauch)
theoretisch – auch ohne vorherige Mani- durch den Äther durften. Für wirklich
pulation am Gerät möglich werden. In den Wichtiges wurden bei den Entscheidungsnächsten Jahren soll der derzeitige Über- trägern eigens nicht belauschbare Telefone
tragungsstandard für Sprache und Daten installiert.
Das BSI ist gerade dabei, ein eigenes
verbessert werden, eine wichtige Neuerung ist dabei die so genannte Fern- Verschlüsselungsverfahren für Handys zu
wartung. Hersteller und Mobilfunkanbieter entwickeln. Auf die Hersteller allein wolkönnen dann neue Software oder neue len die Beamten sich nicht verlassen. Die
Leistungsmerkmale quasi per Funk an alle neue Abwehrwaffe soll in so genannten
Nutzer weitergeben – so könnte auch eine sensitiven Bereichen eingesetzt werden,
also etwa bei Kanzler oder AußenminisLauschmöglichkeit geschaffen werden.
Auf der Fortbildungsveranstaltung in Sa- ter. Bis die Technik so weit ist, bleibt
chen Horch und Lausch wurde auch der so denen als Schutz nur Disziplin beim MobilTalk.
Ansbert Kneip, Georg Mascolo,
„Manipulationsmöglichkeiten“. Die liegen
freilich eher auf dem Niveau von HobbySpionen: Bei bestimmten Marken müssen
nur an der Steckerleiste unten am Gerät
die Pins 3, 6 und 9 überbrückt werden – das
Gerät reagiert dann, als sei es an eine Freisprecheinrichtung angeschlossen.
Nun wird im Benutzermenü der Klingelton abgeschaltet und die automatische
Rufannahme aktiviert. Wer sein Handy
dann im Büro liegen lässt und es von
außerhalb anruft, kann mithören, was im
Kollegenkreis so getratscht wird. Jeder zufällige Anrufer kriegt das Hörspiel allerdings ebenfalls geboten.
C. BACH / PRESSEFOTO BACH + PARTNER
zen geprüft werden. Per Hochfrequenzmessung werden die mit eigener Sendeanlage versehenen Lauscheinrichtungen
aufgespürt. Komplizierter ist es bei Systemen, die eine Stromleitung zum Datentransport nutzen: Da hilft nur aufschrauben und nachschauen.
Ein eigens entwickeltes System, versichert das BSI, sei sogar in der Lage, die
neueste Wanzengeneration aus Plastik hinter Putz und Tapete ausfindig zu machen.
Mit einem Besuch ist es allerdings nicht
getan; die Experten kommen regelmäßig
wieder. „Lauschabwehr“, sagt Dickopf, „ist
eine Daueraufgabe.“
Schon in den Rohbauten der Ministerien trieben sich die BSI-Fachleute herum,
sichteten unverputzte Wände und elektrische Installationen. Auf der Baustelle des
Kanzleramts schieben die Kollegen vom
BND Wache – Hauptquartier ist ein Baucontainer.
Vergangene Woche bekam die Sicherheitsdebatte einen neuen Schub. Bei Kabinettssitzungen und in vertraulichen
Parlamentsgremien sollen Handys aus Sicherheitsgründen künftig draußen bleiben.
Offenbar fürchten die Experten, dass manipulierte Geräte im Umlauf sein könnten,
die als Abhörmikrofon arbeiten.
Die plötzliche Eile der Regierung überrascht. Die Bedrohungen in der schönen
neuen Handy-Welt sind Insidern längst bekannt. Seit zwei Jahren debattieren BSIDatenschützer und Sicherheitsexperten
über das Thema „Handy als Wanze“ (Aktenvermerk).
Mit einer speziellen Software ausgestattet, lässt sich ein Handy aus der Ferne anrufen, ohne dass es klingelt oder dass verräterische Zeichen auf dem Display erscheinen. Voraussetzung ist allerdings, der
Lauscher hatte zuvor Zeit und Gelegenheit, das Handy zu präparieren.
Das Bundesamt für Verfassungsschutz
hat längst reagiert. Besucher der Geheimdienstzentrale in Köln müssen ihre Handys
an der Pforte abgeben – nicht einmal im
ausgeschalteten Zustand dürfen sie mit hineingenommen werden. Auch Dickopf
mahnt: „Wer auf der sicheren Seite sein
will, lässt sein Handy draußen.“
Die Staatsschützer wissen, wovor sie
warnen – Polizeibehörden arbeiten bereits
mit dieser Technik. Verdeckte Ermittler
nutzen manipulierte Handys, um sich bei
Treffen mit Kriminellen abzusichern – die
Kollegen können aus sicherer Entfernung
mithören. Die Handyhersteller fertigen sogar eine geringe Stückzahl dieser mobilen
Wanzen für die geheimen Einsätze an, auf
dem freien Markt sollen sie nicht erhältlich
sein. Doch die obskure Branche der „SpyShops“ wirbt auch hier zu Lande gern mit
solcherlei Equipment. Verkauft werden
darf es offiziell nur im Ausland.
Sogar „technisch versierte Laien“, so
das Ergebnis eines Datenschützer-Kolloquiums im September 1997, verfügten über
Hajo Schumacher
* Im Berliner Regierungsviertel.
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M. EBNER / MELDEPRESS
Umweltminister Trittin*: Unterdrückung des linksalternativen Oppositionsgehabes
MINISTER
Charme als Waffe
Jürgen Trittin versucht, von seinem Image als Bösewicht
des Kabinetts wegzukommen. Sogar die
Atombosse beeindruckt er mit seiner neuen Umgänglichkeit.
S
taatsmännisch, als wäre der leibhaftige Joschka in ihn gefahren, informierte der Bundesumweltminister die
Öffentlichkeit. Jürgen Trittin machte keine
Panik und wiegelte nicht ab – er referierte
mit kühlem Ernst die Nachrichtenlage aus
Tokaimura, vom schwersten Atomunfall
seit Tschernobyl.
Mit keiner Geste, geschweige denn mit
Worten verriet Trittin in der vorvergangenen Woche seine Genugtuung über die
fernöstliche Bestätigung der Risiken der
Atomenergie.
Der neue Trittin: Der grüne Minister hat
begriffen, dass er als politischer Outlaw
auf Dauer nichts bewegt. Ausgerechnet auf
dem Feld, das ihm das Image des bockbeinigen Rüpels eingetragen hat, wirbt er nun
als freundlich-ernster Riese um Vertrauen.
Inzwischen droht kein Kanzler mehr mit
Rausschmiss, und kein Parteifreund käme
wie vor einem Vierteljahr noch auf die
Idee, dem notorischen Störenfried den freiwilligen Rückzug zu empfehlen. „In der
Partei“, versichert Grünen-Bundesgeschäftsführer Reinhard Bütikofer, herrsche
mittlerweile „völlige Klarheit, dass Trittin
nicht mehr in Frage gestellt wird.“
* Auf dem Weg zu einer Kabinettssitzung im Berliner
Alten Museum am 22. September.
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Das Verhältnis zum Kanzler, heißt es in
des Ministers Umgebung, habe sich „längst
entspannt“. Und Michael Schroeren, der
sich als Sprecher des ungeliebten Umweltaufsehers monatelang ebenso klag- wie
erfolglos mühte, dessen konfrontative Politikversuche in ein freundliches Licht
zu rücken, registriert hocherfreut eine „erkennbar differenziertere Berichterstattung“.
Seit seinem Amtsantritt im Herbst 1998
war der grüne Minister mit Provokationen
des Koalitionspartners, forschen Auftritten
im befreundeten Ausland und barschem
Gebaren aufgefallen – nur nicht mit Erfolgen in der Umweltpolitik oder beim Atomausstieg. Zielstrebig marschierte Trittin,
vorbei an PDS-Vormann Gregor Gysi, ans
unterste Ende jeder Sympathieskala.
Selbst seinen Anhängern in Partei und
Umweltverbänden schwante, dass sein
aggressiver Politikstil der ökologischen
Sache eher abträglich war. Statt dem Wahlvolk Angebote für einen attraktiven,
jedoch ökologisch korrekten Lebensstil
anzudienen – analysiert ein grüner Spitzenfunktionär –, habe sich Trittin in seinem ersten Amtsjahr als „Repräsentant des
exekutiven Durchzockens“ präsentiert und
so die eher libertär gesinnte grüne Stammklientel immer wieder vergrault.
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Oskar Lafontaines plötzlicher Abgang
im März und Bodo Hombachs Zwangsversetzung Richtung Balkan machten alles
noch schlimmer: Trittin blieb als letzter böser Bube am Kabinettstisch zurück.
Was auch immer der Umweltminister danach anfasste, die Lobbyisten jaulten auf –
und konnten sich der Zustimmung des Publikums sicher sein. Ob Trittin mit einer moderaten Verschärfung der zuvor zahnlosen
Sommersmogverordnung seiner Vorgängerin Angela Merkel vorpreschte oder die
Spitzen ihm unterstellter Bundeseinrichtungen neu besetzte, die Öffentlichkeit registrierte alles nur als neue Gemeinheiten.
Neu am neuen Trittin ist vor allem die
bislang erfolgreiche Unterdrückung eines
linksalternativen Oppositiongehabes. Die
Anti-Haltung hilft den regierenden Grünen nicht weiter, sie brauchen Erfolge. So
hat der privat angenehm und witzig auftretende Minister den öffentlichen Charme
als Waffe entdeckt.
Als das dem Haus Trittin nachgeordnete
Umweltbundesamt (UBA) in Berlin im September seinen 25. Geburtstag feierte, wurde der Minister unverhofft zum Star des
Festakts. Vor der nahezu vollständig versammelten Creme der Umweltschutz-Wissenschaft begnügte er sich nicht mit jubiläumsüblichen Freundlichkeiten, sondern
konterte spontan und witzig die Sticheleien des Vizepräsidenten des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Tyll Necker,
der vor ihm gesprochen hatte. Das Auditorium applaudierte begeistert.
Dabei war der Auftritt alles andere als
ein Heimspiel. Weil Trittin monatelang als
„Atomausstiegsminister“ absorbiert war,
fühlten sich ganze Abteilungen der Berliner
Behörde von ihrem obersten Dienstherrn
missachtet. Mittlerweile ist UBA-Präsi-
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DPA
Deutschland
Automesse-Besucher Trittin: Flexibel und verbindlich
dent Andreas Troge, immerhin ein Mann
mit CDU-Parteibuch, nicht die harmloseste
Kritik an seinem Minister zu entlocken.
Im Gegenteil: Aus dem Stegreif zählt der
Amtschef eine ganze Liste umweltpolitischer Leistungen auf, die in die noch junge
Amtszeit des Ministers fallen. Das Aktionsprogramm „Umwelt und Gesundheit“, das Trittin mit seiner grünen Kollegin Andrea Fischer aufgelegt habe, sei
ambitioniert, bei den Regelungen zum Materialeinsatz in der Produktion habe es unter Trittin während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft „einen richtigen Ruck“
gegeben. Dass bei der anstehenden Millenniumsrunde der Welthandelsorganisation WTO im amerikanischen Seattle die
Verankerung multilateraler Umweltabkommen auf der Agenda steht, gehe ebenfalls auf eine Initiative Trittins zurück.
In Fachgesprächen, schwört Troge, habe
er seinen neuen Dienstherrn stets „detailliert informiert und gut vorbereitet“ angetroffen. Mit der Steuerbefreiung umweltfreundlicher Gaskraftwerke und der vorgezogenen Einführung und steuerlichen
Förderung schwefelarmen Benzins kann er
nun auch echte Erfolge vorweisen.
Die knapp zwei Wochen als kommissarischer Amtschef zwischen Franz Müntefering und Reinhard Klimmt nutzte der „erste
Verkehrsminister ohne Führerschein“ geschickt zur Imageaufbesserung. Für seinen
Einsatz gegen die von der finnischen EUPräsidentschaft anvisierte Lockerung des
Sonntagsfahrverbots für Lkw lobten ihn selten einhellig Umweltverbände und ADAC.
Seinen Auftritt bei der Internationalen
Automobilausstellung in Frankfurt inszenierte der notorische Beifahrer als fröhliches
Medienereignis. Gut gelaunt klappte der Interimsminister seine 196 Zentimeter in Sprit
sparende Kleinwagen, um anschließend sein
Interesse an den eigentlich als Accessoires
gedachten Edelbikes von Audi und BMW zu
demonstrieren. Schließlich, als das Betteln
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der Fotografen kein Ende nehmen wollte,
ließ sich der vermeintliche Autofresser
lächelnd in einer der zahllosen Sportlimousinen ablichten, nicht ohne die relativierende Bemerkung, jede Messe lebe schließlich
von derlei „Verrücktheiten“.
Natürlich weiß Trittin, dass alle Imagepflege folgenlos bleibt, wenn am Ende der
Ausstiegsverhandlungen mit der Stromwirtschaft kein tragfähiger Atomkompromiss steht. Aber auch auf diesem Feld, auf
dem Trittin in der Vergangenheit vom
Kanzler mal gegen Wirtschaftsminister
Werner Müller, mal gegen den Ober-Grünen Joschka Fischer ausgetauscht wurde,
erlebt der Minister ein Comeback.
Als sich die vier Bosse der wichtigsten
Kernkraftkonzerne Mitte September mit Fischer, Trittin und dessen Staatssekretär Rainer Baake im Berliner Gästehaus des Auswärtigen Amts zum vertraulichen Plausch
trafen, kamen die Herren aus dem Staunen
gar nicht mehr heraus. Das grüne Trio harmonierte blendend. Der Umweltminister,
berichtete nachher ein Teilnehmer, sei
„kaum wieder zu erkennen“ gewesen.
Die grüne Delegation überraschte die
Stromer mit einem von Baake ausgearbeiteten Konsenspaket, das sich erstmals von
einheitlichen Laufzeitbeschränkungen für
alle Meiler verabschiedete. „Flexibilität und
Verbindlichkeit“ lautet seither die Parole,
mit der die grüne Doppelspitze die Stromer für einen Ausstiegsplan gewinnen will,
der die Interessen der Kontrahenten besser
verknüpft als der von Wirtschaftsminister
Müller ausgehandelte Plan mit fixen Laufzeiten von mindestens 35 Jahren.
Gegenüber der Öffentlichkeit blieben die
Stromchefs zwar beim Müller-Plan, doch intern lobten sie das grüne Modell als „nicht
unintelligent“. Der „große Friede“ sei zwar
nicht ausgebrochen, sagt ein Spitzenmanager, doch müsse man sich hüten, „das
kleine Pflänzchen gleich wieder platt zu
treten“.
Gerd Rosenkranz
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Deutschland
Jahrhundert-Medikament – wird teuer verkauft. 20 Tabletten Valium, die jeweils
ARZNEIMITTEL
10 Milligramm des Wirkstoffs Diazepam
enthalten, kosten in der Apotheke 12,19
Mark. Die gleiche Menge Diazepam, auf
dieselbe Weise abgepackt, ist aber schon
für 2,38 Mark zu haben – dann heißt das
Medikament Diazep – oder für 2,71 Mark
Die Preise für Medikamente werden nach
als Lamra.
obskuren Regeln festgesetzt. Der Dumme ist der Patient.
Der Valium-Hersteller Hoffmann-La
Roche kann sich die Hochpreispolitik leisie Münchner Firma Sankyo Pharma die Hilflosigkeit und das Vertrauen der ten: Gewöhnlich vertrauen Patienten einem Medikament, welches sie in guter Ermacht sich vor allem um die Lah- Kundschaft aus.
Beispiel Valium: Die Arznei – 1958 für innerung haben – koste es, was es wolle.
men verdient. Sie offeriert allen,
Alle Versuche der deutschen Gesundderen Gelenke wegen der degenerativen die Schweizer Firma Hoffmann-La Roche
Abnutzung der Knorpel knacken und erstmals synthetisiert und wegen ihrer heitsminister Rita Süssmuth (CDU), Horst
schmerzen, einen lindernden Spray. Er „entspannenden, vegetativ stabilisieren- Seehofer (CSU) und Andrea Fischer (Grüheißt Mobilat Indometacin, 50 Milliliter den, beruhigenden, schlaffördernden Wir- ne), den Arzneimittelmarkt, der vor allem
kung“ (Roche-Werbung) unbestritten ein von den zwangsweise eingetriebenen
kosten in der Apotheke 14,63 Mark.
Beiträgen der KrankenkassenmitMan sprüht das Gemisch aus Alkohol,
Mark
glieder lebt, halbwegs unter KonFettsäuren, Geruchsstoffen und dem Rheu400
trolle zu bekommen, sind gescheimamittel Indometacin drei- bis fünfmal
Griff zur Pille
tert. In anderen EU-Ländern, dartäglich auf den Ort der Pein, manchmal
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Arzneimittelumsatz
unter Großbritannien und Spanien,
hilft das. Neben dem teuren Mobilat-Spray
pro Kopf 1995
300
müssen die Pharmaproduzenten
bietet der Apotheker auch Elmetacin feil.
305
250
ihre Preiskalkulation der Regierung
Die gleichgroße Sprühdose enthält haaroffen legen, sie ist genehmigungsgenau dieselben Substanzen in den glei200
pflichtig.
chen Mengen – schließlich wird sie von
150
In diesem Jahr werden in
derselben Firma im gleichen Bottich zuDeutschland mindestens 39 Milsammengerührt. Ihr Vorteil: Elmetacin kos100
liarden Mark auf Kassenkosten für
tet nicht 14,63 Mark wie das Mobilat-Spray,
50
Arznei- und Heilmittel ausgegeben,
sondern 8,25 Mark. Der Lahme und seine
gut 16 Prozent mehr als im verganKasse sparen 44 Prozent.
0
genen Jahr. Das reicht aber noch
Die frohe Beschwingtheit hält selten lanimmer nicht, klagen Ärzte, Apothege an, weil Arthrose- und Rheumaschmerker und Pharmafirmen im Chor.
zen meist wiederkehren. Versucht der
Quelle:
Bild der Wissenschaft
Obwohl die Ärzte pro Jahr mindesMalträtierte diesmal sein Glück mit einem
anderen beliebten Wirkstoff
namens Diclofenac, führt ihn
der Schweizer Pharmariese Novartis in das geheimnisvolle
Dunkel der Medikamentenpreise. Novartis empfiehlt für
diese Gebresten sowohl sein
Voltaren Schmerzgel als auch
das Voltaren Emulgel. Die beiden Medikamente sind völlig
identisch – allerdings ist das
Schmerzgel deutlich teurer.
Die meist viel zu üppige 120Gramm-Packung ist für 19,80
Mark (17 Pfennig pro Gramm)
zu haben, während das Emulgel auch als 50-Gramm-Tube
angeboten wird, für preiswerte
7,37 Mark (12 Pfennig pro
Gramm).
Solche Preistricks sind in der
Pharmabranche gang und gäbe.
Der Dumme ist immer der Patient. Selbst bei gutem Willen
kann er sich im Dschungel der
Kunstworte, Packungsgrößen
und Werbetricks nicht zurechtfinden. Listig nutzen die Arzneimittelproduzenten (davon
gibt es allein in Deutschland
1100) und Apotheker (21556 betreiben einen eigenen Laden) Qualitätskontrolle von Arzneimitteln: Preistricks sind in der Branche gang und gäbe
Dschungel in der Apotheke
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B. C. MÖLLER / AGENTUR FOCUS
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Sparen per Rezept
Dank eines Beratungsprogramms für Ärzte liegen die Ausgaben
für Medikamente in Südbaden weit unter dem Durchschnitt.
P
enibel wie ein Buchhalter ver- ment des Arztes“, so die feste Übergleicht der Hausarzt die Preise zeugung von Hausarzt Ruf. Er hat jahvon Medikamenten. Peter Ruf ist relang als einer der Pharmako-Theraein Schnäppchen-Jäger. 20 Tabletten mit pie-Berater Kollegen rund um Offen500 Milligramm des Wirkstoffes Acetyl- burg in Sachen Kostendämpfung zur
salicylsäure – bekannt unter dem Mar- Seite gestanden, deren Verordnungen
kennamen Aspirin – gibt es für 10,60, analysiert, verglichen, gerechnet und
aber auch für 3,18 Mark. Für den Dok- vielseitige Gutachten geschrieben: „Dietor in Kappelrodeck im
Schwarzwald ist klar, welches Mittel er verschreibt:
das preiswerteste.
Sparsam wie Ruf verordnen in Südbaden viele
Ärzte. Etwa 20 Prozent
weniger als die durchschnittlichen Westdeutschen verbrauchen die Patienten in der SüdwestEcke der Republik an Arzneimitteln.
Nach einer Krankenkassen-Erhebung liegt
Südbaden mit 451 Mark
pro Kopf jährlich am un- Protest gegen Gesundheitsreform*: Therapie der Kosten
tersten Ende der Ausgabenskala, Bremen (532 Mark), Ham- ser Arzt hier hat 13 verschiedene Betaburg (554 Mark) und das Saarland ste- Blocker verordnet. Ich komme in meiner
hen (578 Mark) ganz oben.
Praxis mit ein bis zwei aus – der hatte
Zwar ist der sparsame Arzneikon- einfach keinen Überblick mehr“, besum auch durch Faktoren wie die nie- richtet er.
drige Arbeitslosenquote der Region beMit einer Gruppe gleich gesinnter
dingt – die Menschen ohne Beschäfti- Kollegen trägt Ruf seine Erkenntnisse
gung gehen öfter zum Arzt als die Be- weiter, für ein Honorar von 250 Mark
rufstätigen. Doch eine entscheidende pro Beratung. Alle vier bis sechs WoUrsache für die zurückhaltende Ver- chen moderiert beispielsweise der Arzt
schreibungspraxis sind die Aktionen Johannes Probst aus Sankt Georgen eider Kassenärztlichen Vereinigung (KV) nen von über 100 Qualitätszirkeln. Ob
in Südbaden.
Kreuzschmerzen oder Diabetes, die
Seit 1993 unterstützt die KV ihre Mit- Ärzte diskutieren Krankheitsbilder –
glieder beim wirtschaftlichen Umgang und immer auch die wirtschaftlichste
mit dem Rezeptblock: mit einer Phar- Therapie. „Bei Rückenschmerzen etwa
mako-Therapie-Beratung, bei der spe- muss der Arzt ja nicht unbedingt etziell ausgebildete Kollegen die Ärzte was verschreiben“, erklärt Gerhard
im sparsamen Verschreiben unterwei- Dieter, Vorsitzender der KV Südbaden,
sen. Durch Listen, die für jede einzel- die Idee des „grünen Rezepts“.
ne Praxis die am besten geeigneten und
Die Ärzte in Sankt Georgen haben
preiswertesten Medikamente empfeh- sich überdies noch ein eigenes Sparlen, werden die Kosten ebenso ge- modell für Krankengymnastik ausgedrückt wie durch Qualitätszirkel, bei dacht: Statt sechs werden nur vier oder
denen Ärzte das „grüne Rezept“, eine fünf Termine verschrieben, den Rest solTherapie möglichst ohne Medikamen- len die Patienten selbst bezahlen. „Date, entwickeln.
mit haben wir dann Geld frei für die
„Der Griffel auf dem Rezeptblock ist Sprachbehandlung bei Kindern“, freut
das teuerste und gefährlichste Instru- sich Probst. Er hat beim Sparen seine
neue Berufung gefunden: „Früher war
* Am 22. September in Berlin mit einem Plakat ge- ich Mediziner“, sagt Probst, „heute bin
ich Kämpfer.“
gen Gesundheitsministerin Andrea Fischer.
Mathias Rittgerott
ARIS
tens eine Milliarde Kassen- und Privatrezepte ausstellen und jeder Allgemeinmediziner für mehr als 400 000 Mark Arzneimittel auf Kassenkosten verschreibt,
obwohl die deutschen Patienten zu den
Weltmeistern im Medikamentenverbrauch
zählen (siehe Grafik) und das Pharmabusiness zu den profitabelsten Geschäftsfeldern zählt, nennt das pharmatreue
„Deutsche Ärzteblatt“ die Rangelei um
eine Ausgabenbegrenzung schlicht „Falschspielerei“.
Als ginge die ganze Kostendebatte sie
nichts an, hat beispielsweise die Pharmafirma Fumedica im Juli den Preis für ihr
konkurrenzloses Schuppenflechte-Medikament Fumaderm initial um stolze 55 Prozent erhöht: Von 140,21 Mark auf 217,87
Mark für 40 Tabletten. Nur der Heilige Vitus, den Apotheker und Arzneifabrikanten
um Beistand anrufen, mag wissen, warum.
Von der kühnen Preispolitik profitieren
nicht nur die Pillendreher: Apothekengroßhändler schlagen auf den Herstellerabgabepreis durchschnittlich 13,7 Prozent
auf, die Apotheker dann noch einmal stolze 47,7 Prozent. Auch aus diesem Grund
sind Medikamente in Deutschland so teuer wie in kaum einem Land der Welt.
Der Berliner Arzt und Apotheker Wolfgang Becker-Brüser, Herausgeber des industrieunabhängigen „arznei-telegramm“,
hat sich die Mühe gemacht, in einem
„Kursbuch“ mehr als 12 000 Medikamente
nach Wirkung und Preis zu vergleichen*.
Das verdienstvolle Werk, soeben erschienen und dicker als die Bibel, ermöglicht die
Verordnung sinnvoller und preiswerter
Arzneimittel.
Tatsächlich gibt es etliche kostengünstige Medikamente, der Arzt muss nur ihre
Namen kennen. So werden von dem oft
verordneten Nitrendipin – einem wichtigen
Herzmedikament aus der Gruppe der Kalziumantagonisten – insgesamt sieben
Präparate zu sehr kommoden Preisen abgegeben: Sie kosten alle kaum mehr als ein
Zehntel des Nitrendipin-Renners Bayotensin der berühmten deutschen Firma
Bayer Vital, die für 100 Tabletten 165,01
Mark verlangt.
Niedrigpreis-Präparate erfreuen sich bei
den Apothekern wenig Sympathie. Der
Stand, früher auch im profitablen Branntweingeschäft engagiert, schätzt eher jene
Kunden, die kaufen und die Ware – nach
der Lektüre der Packungsbeilage – gleich
wegwerfen.
Pro Jahr landen in Deutschland Arzneimittel im Wert von mindestens vier Milliarden Mark auf dem Müll, getreu der
bisher nur mündlich überlieferten Patientenregel: „Angesichts der bekannten Nebenwirkungen essen Sie die Packungsbeilage und sagen Sie nichts ihrem Arzt
oder Apotheker.“
Hans Halter
* „Arzneimittelkursbuch 99/2000“. A. V. I. ArzneimittelVerlags GmbH, Berlin; 2144 Seiten; 198 Mark.
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FOTOS: R. SEYBOLDT
Fahrzeugstau vor der tschechischen Grenze, Prostituierte bei Cheb: Schnelle Nummer zum Niedrigpreis
GRENZVERKEHR
Vati ins Bordell
Steigende Benzinpreise in der Bundesrepublik befeuern
einen Boom in Böhmen. Hunderttausende
von Deutschen kaufen dort billig Sprit, Tabak und Sex.
V
ierzig Mark – mehr zahl ich nicht.“
Der Kunde hat sichtlich Spaß am
Feilschen: „Das ist das letzte Angebot, mein Guter.“ Der Verkäufer schlägt
die Hände vors Gesicht und jammert: „Viel
zu billig. 50 Deutschmark – das ist geschenkt.“
Kurze Zeit später ist der Handel perfekt. Der korpulente Deutsche und der
zartgebaute Vietnamese lachen, klopfen
sich gegenseitig auf die Schultern. Für 45
Mark wechselt der Trainingsanzug mit
Markensignet den Besitzer.
Vergnügt verstaut Heiko Sporbert das
raschelnde Stück Garderobe in einer Plastiktüte. „Wieder ein Schnäppchen gemacht“, grinst er zufrieden, „Neopren – so
einer kostet bei uns mindestens 200 Mark.“
Sohn Christian kann die vielen Taschen
und Tüten kaum noch fassen. „Wir decken
uns hier mit Winterkleidung ein. Mindes-
62
tens 400 Mark haben wir schon gespart“,
frohlockt Sporbert.
Die Familie aus Schmiedefeld am Rennsteig ist frühmorgens in Suhl in einen Reisebus gestiegen. Nach drei Stunden Fahrt
haben die Sporberts nun fünf Stunden Zeit,
um auf dem Dragoun Bazar in der nordwestböhmischen Stadt Cheb ihre Schnäppchen zu machen.
Die Ostler gehören zu einem Heer von
deutschen Kauflustigen, die per Auto, Bus
oder sogar zu Fuß die Grenze zur Tschechischen Republik überqueren, um einen
Tag lang billig einzukaufen.
Der Ameisenverkehr von West nach Ost
begann gleich nach der Wende. Doch seit
die Benzinpreise in der Bundesrepublik
steigen, blüht das Geschäft erst richtig. Besonders an den Wochenenden stauen sich
die Autos mit den Kennzeichen aus Sachsen, Thüringen und Bayern kilometerweit
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auf den Landstraßen in Richtung Tschechien. 25 000 Pkw pro Tag allein am Grenzübergang Selb/A∆ sind keine Seltenheit.
650 000 Deutsche fahren pro Monat zum
Einkaufen nach Tschechien. „Und es werden immer mehr“, sagt Max Sommerer,
Chef des Hauptzollamts Hof.
Die meisten füllen erst mal ihren Benzintank und den mitgeführten Zehn-LiterKanister und sparen dabei pro Liter zwischen 60 und 70 Pfennig. Die Stange Zigaretten ist rund 30 Mark billiger, ein Kasten
Bier 12 Mark. Viele lockt zudem anständiges Essen zu unschlagbaren Preisen und
billiger Sex; außerdem gibt es auf den
Märkten Artikel aller Art und Fabrikate.
Löhne und Steuern sind niedrig in Tschechien, die Zollkontrollen an der deutschen
Ost-Grenze großzügig.
Der größte Umschlagplatz ist der Dragoun Bazar, nur acht Kilometer hinter der
Grenze im Zentrum von Cheb. Der Markt
ist fest in vietnamesischer Hand, denn in
der 33 000-Einwohner-Stadt stellen Vietnamesen – viele von ihnen ehemalige Vertragsarbeiter aus DDR-Zeiten – ein Zehntel der Bevölkerung. Auf einem riesigen
ehemaligen Kasernenhof wird dort an 300
Ständen gehandelt und geschachert.
Hier können Käufer jene scheinbar kostbaren Waren erwerben, die zu Hause für
viele zu teuer sind: Turnschuhe und Trai-
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Deutschland
ningsanzüge von Adidas, Hemden
von Versace, Jeans von Calvin
Klein, Taschen von Louis Vuitton.
Besonders gefragt bei glatzköpfigen jungen Männern: Raubkopien
von CDs der Gruppen Zillertaler
Türkenjäger, Störkraft oder Böhse
Onkelz mit Titeln wie „Dreckig,
kahl & hundsgemein“. Dass die
Designermode gefälscht und der
Vertrieb vieler Neo-Nazi-CDs in
Deutschland verboten ist, kann den
Kaufeifer nicht dämpfen.
Die Besitzer regulärer Läden in
Cheb sehen die Invasion der kauffreudigen Grenzgänger mit gemischten Gefühlen. Sie beklagen
sich über Mafia-ähnliche Vertriebsstrukturen der vietnamesischen Konkurrenten, die mit ihren
Deutschkenntnissen die „Schnitzel“ (Spitzname für Deutsche)
übers Ohr hauen würden, und mokieren sich über die dummen
„TBZ-Touristen“ (T für Tanken,
B für Bumsen, Z für Zigaretten).
„Mutti geht zum Friseur und Vati
ins Bordell“, witzelt ein Kellner aus
der Kleinstadt A∆, der zur Mittagszeit den vom Kaufrausch müden Käufer Sporbert in Cheb: „400 Mark gespart“
Familien ordentliche böhmische
Küche zu Niedrigstpreisen (Knödel, Schnit- einer schnellen Nummer in Grenznähe ein
zel und ein Bier für weniger als sieben bisschen Geld verdienen wollen. Allein in
Mark) serviert.
der ersten Jahreshälfte wurden 1650 AmaIm Friseursalon „Linie“ unweit des his- teurhuren festgenommen – doch meist nur
torischen Marktplatzes von Cheb drängen zur Aufnahme der Personalien, nach wesich die Kunden. Chefin Dagmar Fialová nigen Minuten gehen sie in der Regel wiekann den Ansturm der Deutschen kaum der anschaffen. „Uns fehlt die gesetzliche
bewältigen. „Fünf Mark fürs Waschen, Handhabe“, sagt Polizeimajor Jaroslav
Haare schneiden und Föhnen“, schwärmt ev‡ík.
Franziska Ulbrich aus dem sächsischen FalDie Touristen, so ev‡ík, ließen sich
kenstein, „so etwas gibt es doch heutzuta- nicht einmal durch die Bordell-Überfälle
ge gar nicht mehr.“
abschrecken, die sich häufen. Oft lauern in
Neben Optikern und Zahnärzten freuen der Wohnung einer Prostituierten männlisich auch die Ost-Zuhälter über den An- che Komplizen und setzen dem Freier
sturm. Hunderte von biederen Ein- und buchstäblich das Messer an den Hals. „Die
Zweifamilienhäusern entlang den böhmi- Sextouristen aus Deutschland sind unbeschen Landstraßen wurden in Bordelle und lehrbar“, wundert sich der Polizist.
schummrige Etablissements umgewandelt,
Auch ungewöhnliche Bedürfnisse ihrer
die mit billigen Sex-Angeboten werben. West-Nachbarn befriedigen die Tschechen:
Sobald die Sonne untergeht, verwandelt Etwa zweimal im Monat fährt Dieter
sich auch Cheb selbst in einen einzigen Brandl aus Hof in Bayern über die Grenze
Straßenstrich.
zum „Schießclub Jimi“, zehn Kilometer
Zentren des Geschäfts mit dem billigen von Cheb an der Straße nach Karlovy Vary
Sex sind der Stadtpark und die Balthasar- auf einem Feld gelegen.
Neumann-Straße. Die Frauen dort sind für
Im ehemaligen Kuhstall einer landwirtnahezu alles zu haben, die Preise betra- schaftlichen Produktionsgenossenschaft
gen einen Bruchteil dessen, was in einem messen sich Deutsche und Tschechen redeutschen Bordell fällig wäre.
gelmäßig im Schießen. Zwischen 30 PfenEmpörte Cheber Bürger forderten kürz- nig und 1,20 Mark kostet ein Schuss –
lich, dass die Polizei härter gegen die wil- spottbillig im Vergleich zu den Preisen,
de Prostitution vorgehen solle. Besonders die auf deutschen Anlagen genommen
die bei den Tschechen unbeliebten Roma- werden.
Frauen und ihre Zuhälter würden dem An„Die Waffen sind älter hier, aber liebesehen der ehrwürdigen Stadt schaden.
voll gepflegt“, rühmt der Bundeswehr-ZiIn der Bezirksabteilung der Polizei in vilangestellte Brandl: „Und wo kann man
Cheb sind zwar nur 200 Prostituierte er- in Deutschland schon mit einer Makarow,
fasst, doch es gibt hunderte junger Frauen einer Simonow oder einer Kalaschnikow
und Mädchen aus der Provinz, die sich mit üben?“
Almut Hielscher
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JÜRGENS OST+ EUROPA PHOTO
Deutschland
Militärparade in Ost-Berlin*: „Furchtbare Zusammenarbeit aller gesellschaftlichen Kräfte“
EINHEIT
Alptraum der Wende
Rainer Eppelmann über Christian v. Ditfurths Roman „Die Mauer steht am Rhein“
I
ch weiß genau, von wann an ich mir
Sorgen um meinen Freund CvD machte. Der sonst immer so muntere Journalist war ab Ende Juni 1995 nicht mehr gut
drauf.
Er vergaß Termine, schaute bei Gesprächen unter vier Augen immer wieder
wie gehetzt hinter sich, wechselte seine
Wohnungen und wirkte häufig so, als ob er
auf der Flucht sei.
Richtige Sorgen machte ich mir aber
erst, als CvD eines Tages bei einer unverhofften Begegnung im Foyer des neuen
Plenarsaals am Bonner Rheinufer ganz erstaunt zu mir sagte: „Was Rainer, haben sie
dich wieder freigelassen?“ Auf alle Nachfragen, was er denn mit dieser Bemerkung
* Zum 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober 1989.
** Christian v. Ditfurth: „Die Mauer steht am Rhein.
Deutschland nach dem Sieg des Sozialismus“. Kiepenheuer & Witsch; 256 Seiten; 36 Mark.
gemeint habe, verweigerte er jedoch standhaft jede Antwort.
Da begann ich, genau nachzurechnen,
ab wann mein Freund sich so seltsam aufführte. Richtig, es war der 22. Juni 1995. Da
hatte der PDS-Abgeordnete Gerhard Zwerenz im Bundestag ehemalige DDR-Dissidenten als „paranoide Revolutionsparodisten“ und „Hitlers Kinder“ beschimpft
und gedroht: „Wir werden die Umtriebe
protokollieren für die nächste Wende. Sie
kommt gewiss in diesem wendereichen
Zeitalter.“
Die Zwerenz-Drohung muss CvD irgendwie aus dem Gleichgewicht gebracht
haben. Er wusste von den Internierungslisten, die die Vorgängerpartei der PDS,
Erich Honeckers SED, 1989 für die DDRBürgerrechtler vorbereitet hatte.
Und er hatte auch einen Blick auf die Internierungslisten West von 1988 geworfen,
nach denen am Tag der Machtübernahme
1400 BRD-Bürger, darunter Richard von
Weizsäcker, Ulrich Schwarz vom SPIEGEL
und Franz Alt von „Report“ sowie linke
Kirchenmänner wie Heinrich Albertz und
Kurt Scharf zur Verbringung in Lager vorgesehen waren.
CvD ist ein kluger Mensch. Er diagnostizierte seine Angst vor einer „nächsten
Wende“ als Psychose und folgte dem Rat
einer noch klügeren Freundin: „Schreib alles auf, wovor du dich fürchtest!“
CvD hat aus seinen Ängsten gleich ein
ganzes Buch gemacht**. Ich habe „Die
Mauer steht am Rhein. Deutschland nach
dem Sieg des Sozialismus“ an einem einzigen Abend in der Stille meiner Friedrichshagener Wohnung gelesen, und es
wurde mir ganz anders: CvD hat seinen
Alptraum so aufgeschrieben – mit allen
Details und allen Namen –, dass ich froh
Eppelmann
lernten sich erst nach der Wiedervereinigung kennen. Da saß Rainer Eppelmann, 56, einer der bekanntesten Bürgerrechtler der
DDR, schon für die CDU im Bundestag. Zu SED-Zeiten war der
Ost-Berliner Pfarrer eine zentrale Figur der Dissidentenszene.
Die Stasi zählte ihn zu den besonders gefährlichen Elementen.
Der Historiker Christian v. Ditfurth, 46, in den siebziger Jahren
Mitglied der westdeutschen DKP, kümmert sich seit der Wende
um die Vergangenheit Ost. Er schrieb Bücher über die Ost-CDU
(„Blockflöten“) und über die SED-Nachfolgerin PDS („Ostalgie
oder linke Alternative“).
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K. STEINHAUSEN
A. FROESE
Eppelmann und Ditfurth
Ditfurth
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Deutschland
war, als ich in den „Tagesthemen“ sah, wie
Bundeskanzler Schröder den alten Volvo
von „Onkel Herbert“ aus der SPD-Baracke
herausfuhr und Außenminister Fischer im
feinen Zwirn zu diplomatischer Höchstform auflief.
Gott sei Dank nur ein Alptraum. Aber
was für einer!
Der Journalist CvD gehört zu den
300 000 Menschen, die seit dem Herbst
1990 als Emigranten in die Schweiz geströmt sind. Am 3. Oktober 1990 wurde
die Demokratische Republik Deutschland
(DRD) gebildet, nachdem sich die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges darauf
verständigt hatten, die deutsche Frage
durch eine umfassende Neutralisierung
Deutschlands und die Bildung einer Konföderation der Bundesrepublik mit der
DDR zu lösen. Zur Absicherung der alliierten Beschlüsse übernahm die Sowjetunion die Kontrolle über Gesamtdeutsch-
desstrafe vor, in der grünen Partei spricht
Andrea Lederer für „die demokratischen
Kräfte“, die GEW bildet Schulgewerkschaftsleitungen (SGL).
In fast allen SPD-Landesverbänden haben sich „Sozialistische Arbeitsgemeinschaften“ gebildet, auf dem II. SEdDRDParteitag, der im Mai dieses Jahres stattfand, bekannte sich die Partei zum Marxismus-Leninismus und zum Aufbau des
Sozialismus, Egon Krenz wurde zum Generalsekretär gewählt und Politbüromitglied Karsten D.Voigt mit dem Amt des Ministerpräsidenten und stellvertretenden
Staatsratsvorsitzenden betraut.
Der „Polo“ heißt nun „Baikal“, Daimler-Benz und BMW fusionierten zum
Volkseigenen Betrieb (VEB) Autobau Süd,
Siemens gehört wie Bosch zum VEB Elektrotechnik „Ernst Thälmann“.
Helmut Schmidt, Helmut Kohl, HansDietrich Genscher, Joschka Fischer, Hans-
Der Polo heißt jetzt
Baikal, und Siemens gehört zum
VEB „Ernst Thälmann“
Genscher fordert
im Schweizer Exil: „Lasst
Lambsdorff frei!“
land und stationierte ein auf 100 000 Soldaten begrenztes Militärkontingent in
Westdeutschland.
Seitdem sind die Isolierungslager in der
DRD überfüllt, die gesamtdeutschen
Grenzen sind besser geschützt, als es
die alten der DDR je waren, die SED ist
zur Sozialistischen Einheitspartei der Demokratischen Republik Deutschland
(SEdDRD) mutiert, die den DRD-Volkstag
beherrscht.
Der Pfarrer Rainer Eppelmann sitzt im
Zuchthaus Bautzen, Justizminister Horst
Eylmann von der Blockflötenpartei CDU
erklärt, er kenne keine politischen Straftäter, sondern nur Kriminelle, IG-ChemieChef Hermann Rappe hat längst gestanden, als „Agent des USA-Imperialismus“
im Auftrag von Georg Leber die Gewerkschaften indoktriniert zu haben.
Der Städteexpress „Feliks Dsershinski“
verkehrt zwischen Warschau und Basel,
Wolfgang Mischnicks Memoiren „Vom Liberalismus zum Sozialismus. Ein Leben für
Deutschland“ sind ein Bestseller, EU-Kommissar Martin Bangemann lebt seit der Einheit von einer fetten EU-Rente in Waterloo,
der SPIEGEL hat mit „ausgefeilter Rabulistik“ gerade noch die Kurve gekriegt (ExSPIEGEL-Herausgeber Rudolf Augstein
sitzt irgendwo im Tessin).
Coop und die DDR-Handelsorganisation (HO) fusionieren, die Club Cola vom
VEB Getränkewerk Berlin ist zum Nationalgetränk avanciert, die DRD bekennt
sich zum Antifaschismus und leistet deshalb keine weiteren Zahlungen an NaziOpfer. Die maximale Dauer der Untersuchungshaft ist auf vier Jahre heraufgesetzt,
Innenminister Wolfgang Schäuble legt ein
Gesetz über die Wiedereinführung der To-
Jochen Vogel, Björn Engholm beschwören
im Exil die Werte des Grundgesetzes, Genscher fordert: „Lasst Lambsdorff frei!“
Und im „Literarischen Quartett“, das jetzt
aus Wien übertragen wird, charakterisiert
Marcel Reich-Ranicki Hermann Kants neues Nationalepos „Die Einheit“ in gewohnt
heftiger Manier: „Ein durch und durch abscheuliches Buch.“
Der Journalist CvD, der sich an der
gleichgeschalteten „Rheinischen Post“
trotz mancher Anpassungsbemühungen
nicht halten konnte und als kleiner Korrektor beim Kirchenblatt „Froher Bote“
herausflog, weil er übersehen hatte, dass
der Druckfehlerteufel aus der „fruchtbaren
Zusammenarbeit aller gesellschaftlichen
Kräfte“ die „furchtbare Zusammenarbeit“
gemacht hatte, beobachtet aus seinem
Schweizer Exil genau, wie schnell sich die
westdeutsche Gesellschaft den neuen Erfordernissen anpasst.
Der Aufstand im April 1993 mit seinem
Zentrum in der Kohlenpott-Stadt CastropRauxel blieb eine Episode, wurde schnell
niedergeschlagen, sorgte aber auch dafür,
dass bald danach die ersten Intershops eingerichtet wurden.
CvDs Enthüllungen über die deutsche
Einheit, ihre Vorgeschichte und ihre Verwirklichung sind ein großes Stück investigativer Journalismus und werden bald
auch zu den klassischen Geschichtsbüchern
gezählt werden.
Ich bin CvD dankbar für sein Alptraumbuch. Seit ich es gelesen habe, weiß
ich noch besser, was wir Ossis an der Bundesrepublik haben – trotz ihrer zahlreichen Macken.
Ich hoffe, dass auch CvD nun wieder ruhig und ohne Alpträume schläft.
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SPIEGEL-Serie über Wende und Ende des SED-Staates (3)
Die Woche vom 8. 10. 1989 bis zum 13. 10. 1989
»Keine Gewalt«
P. PIEL / GAMMA / STUDIO X
Zwei Tage lang steht die DDR am Rande des Bürgerkrieges.
Wird die Opposition blutig scheitern oder
friedlich obsiegen? Die Entscheidung fällt in Dresden –
und vor allem in Leipzig, der „Heldenstadt“.
Mahnwache an der Gethsemane-Kirche in Ost-Berlin
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100 TAGE IM HERBST: »KEINE GEWALT«
CHRONIK
»Entweder die oder wir«
Sonntag, 8. Oktober 1989
Ost-Berlin
In der DDR-Hauptstadt rattern Reinigungsmaschinen durch den kühlen Herbstmorgen, um die Spuren des Volksfestes und
der brutalen Polizei- und Stasi-Einsätze am
40. Jahrestag zu beseitigen. Wenig später
gibt der greise Staats- und Parteichef den
15 Bezirkssekretären der SED das Startsignal zum politischen Großreinemachen.
Um 11 Uhr erlässt Erich Honecker einen Befehl, den ZK-Mitglied Wolfgang
Herger am frühen Morgen entworfen und
SED-Sicherheitsbeauftragter Egon Krenz
während einer Vormittagssitzung im Ministerium für Staatssicherheit (MfS) überarbeitet hat. Per Fernschreiben umreißt der
Generalsekretär seinen Statthaltern in der
Provinz – von Ernst Timm in Rostock bis
zu Hans Modrow in Dresden – zunächst
die bedrohliche Sicherheitslage:
Im Verlauf des gestrigen Tages kam es in
verschiedenen Bezirken, besonders in Berlin, Leipzig, Dresden, Karl-Marx-Stadt,
Halle, Erfurt und Potsdam, zu Demonstrationen, die gegen die
verfassungsmäßigen Grundlagen unseres sozialistischen
Staates gerichtet waren. Vor
allem in Dresden, Plauen
und Leipzig trugen sie den
Charakter rowdyhafter Zusammenrottungen.
Republikweit sind Tränengas und scharfe Munition bereitgestellt. In den Großstädten werden vorsorglich Krankenhausbetten freigemacht. Ost-Berlin ist für Westler seit Tagen eine verbotene Stadt.
Neben der Vopo stehen als „Reservekräfte“ Militär- und Spezialeinheiten parat,
deren „kurzfristiger Einsatz“, so MfS-Chef
Erich Mielke, „zu offensiven Maßnahmen
zur Unterbindung und Auflösung von Zusammenrottungen zu gewährleisten ist“.
Eines muss Honecker klar sein: Wenn es
zur Entscheidungsschlacht um die Zukunft
der DDR kommt, dann im rebellischen Süden des Landes.
In Leipzig wird für morgen die größte aller bisherigen Montagsdemonstrationen erwartet. Und in Dresden, wo Volk und
Volkspolizei in den letzten Tagen härter
aufeinander geprallt sind als irgendwo
sonst in der DDR, versammeln sich abermals Bürger zum Protest.
Dresden
Am späten Vormittag erreicht der Befehl
aus Ost-Berlin den Dresdner GeheimdienstChef Horst Böhm, 52, in seinem Quartier im
Sowjet- und Stasi-Viertel am Meisenberg.
Über ein geheimes Telefonnetz, dessen Spezialkabel
durch Druckluft und Elektronik gegen Abhören und
Anzapfen gesichert sind, informiert Mielke die regionalen Führer seiner Schattenarmee über die HoneckerDepesche, die parallel an die
Ersten Sekretäre der SEDBezirke herausgegangen ist:
Dann folgt der Einsatzbefehl: „Weitere Krawalle“
seien „von vornherein zu
unterbinden“. In einer „soSie haben sich, ohne Kenntfortigen Zusammenkunft“
nis von dem Fernschreiben
müsse jede Bezirkseinsatzzu geben, auf die dort anleitung umgehend die „entgewiesene sofortige Zusamsprechenden Maßnahmen“
menkunft der Bezirkseinfestlegen. Eile tut Not, denn
satzleitungen einzustellen.
die SED-Machthaber rechnen für den Abend mit dem Geheimdienstler Böhm
Mielke befiehlt, alle
Allerschlimmsten.
hauptamtlichen Stasi-KräfDas MfS hat eine Lagebeurteilung vor- te, über 90 000 Mann, in „volle Dienstbegelegt, die an den schwärzesten Tag der reitschaft“ zu versetzen, sie anzuweisen,
SED erinnert: Selbst „zahlreiche progres- ihre „Dienstwaffen entsprechend den gesive Kräfte“ sähen den Staat „in einer Si- gebenen Erfordernissen ständig bei sich zu
tuation wie kurz vor den konterrevolu- führen“ und alle „Waffenlager … verstärkt
tionären Ereignissen am 17. Juni 1953“ – als zu kontrollieren“.
es nur mit Hilfe von Russenpanzern geAuf den Dresdner Generalmajor Böhm
lang, den Volksaufstand niederzuschlagen. und seine Kollegen kommt eine Menge Ar78
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beit zu. Umgehend sollen sie Vorarbeiten
für eine Geheimoperation treffen: die „Isolierung“ der gesamten Opposition.
Zu diesem Zweck befiehlt Mielke unter
dem Aktenzeichen VVS MfS 0008-71/89
der Stasi, ihre 170 000 Spitzel im Lande
zu mobilisieren, vom Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) bis zum Gesellschaftlichen
Mitarbeiter Sicherheit (GMS): „Alle geeigneten und verfügbaren IM/GMS sind
unverzüglich lagebezogen zum Einsatz zu
bringen.“
Big Brother lässt grüßen: Die Agenten
sollen, einem gigantischen Schleppnetz
gleich, unter den 16 Millionen DDR-Bürgern „alle Personen herausarbeiten“, bei
denen „antisozialistische … Aktivitäten …
nicht auszuschließen sind“. Dazu zählen
ausdrücklich bereits solche Menschen, die
„aufgrund schwankender Einstellungen“
von „Sammlungsbewegungen wie z. B.
,Neues Forum‘ usw. … missbraucht werden
können bzw. eine potenzielle Reserve für
diese Kräfte darstellen“.
Der Auftrag – gezeichnet „Mielke, Armeegeneral“ – lässt keinen Zweifel, welchem Zweck die schwarze Liste gilt: „Es
sind geeignete Maßnahmen festzulegen,
um erforderlichenfalls kurzfristig die Zuführung bzw. Festnahme solcher Personen
zu realisieren.“
Pläne zur Isolierung tausender von Systemkritikern liegen schon seit langem in
den Panzerschränken aller Stasi-Bezirksverwaltungen für den Tag X bereit (siehe
Analyse Seite 105). Als Konzentrationsstätten sind vorzugsweise abgelegene
Gemäuer vorgesehen, etwa die Burg Ranis
im Thüringischen. Die Aktion soll „schlagartig und konspirativ“ ablaufen; schriftlich
festgelegt sind Details von der Bewaffnung
der Wächter („MP, Pistole und 1 Kampfsatz
Munition“) bis zum „persönlichen Bedarf
der zu isolierenden Personen“, darunter
zwei Paar Socken, zwei Taschentücher und
„zweimal Unterwäsche“.
Dresdens Stasi-Befehlshaber Böhm
scheint ganz der Meinung seines Ministers,
dass nur noch Durchgreifen hilft.
Mit wachsendem Missmut hat der Generalmajor seit Tagen „besondere Vorkommnisse“ nach Berlin gemeldet – von
den Bahnhofskrawallen am vorigen Dienstag bis hin zu einem Bummelstreik beim
Vorzeige-Devisenbringer, der Meißner Porzellan Manufaktur; dort ist das Kollektiv
„Blume 5“ aus Protest gegen die Be-
JÜRGENS OST + EUROPA PHOTO
Stasi-„Isolierungsobjekt“ Burg Ranis
schränkung von ∏SSR-Reisen sogar geschlossen aus der FDJ ausgetreten.
Am Nachmittag spitzt sich die Lage in
Dresden gefährlich zu. Auf dem Theaterplatz vor der Semperoper sammeln sich
350 Demonstranten zu einem erneuten
Marsch auf den Hauptbahnhof. Um 15.15
Uhr befiehlt Vopo-Chef Willy Nyffenegger
seinen Männern, Ordnung und Sicherheit
unter allen Bedingungen herzustellen.
Gegen 17 Uhr werden hunderte von Demonstranten eingekesselt, geprügelt und
auf Lastwagen geladen, darunter auch ein
Rollstuhlfahrer. „Die Menschen waren absolut friedlich“, wird später Major GerdUwe Malchow, Kommandeur der Bereitschaftspolizei, zu Protokoll geben:
Die standen herum, die saßen herum. Aber
unser Auftrag war: So viele Zuführungen
wie möglich. Im Gänsemarsch mussten die
auf die Lastwagen rauf.
In der Polizeikaserne werden die Festgenommenen in Garagen und Waschräumen
misshandelt und wie Vieh durch Treppenhäuser getrieben. Ein Offizier im Kampfanzug droht, auf Flüchtende werde geschossen.
Die „Zugeführten“ müssen stundenlang
mit gespreizten Beinen und vornübergebeugt Aufstellung nehmen. Wer sich rührt,
wird mit Knüppelhieben und Tritten so
brutal gequält, dass ein Polizist beschließt,
seinem Seelsorger zu schreiben:
Besonders erschütternd ist, wie von diesen
„Leuten“ (es können keine Menschen
mehr sein) Frauen, Mädchen und ältere
Menschen geschlagen werden.
Gegen 22.30 Uhr sind einige der Bereitschaftspolizisten des Schreiens und Schlagens müde. Da stürmen johlend Offiziersschüler des Strafvollzugs aus Bautzen her-
W. SCHULZE
„MP, Pistole und 1 Kampfsatz Munition“
Häftlinge in Bautzen (1989): „So viele Zuführungen wie möglich“
ein, um die Festgenommenen erneut mit
Schlägen zwischen die Beine in die „Fliegerstellung“ zu zwingen. Ein Augenzeuge:
Wer nicht gleich reagierte oder sich beschwerte, wurde angebrüllt, brutal aus der
Garage geschleift und draußen gegen die
Tore geschleudert.
Je mehr Bürger abtransportiert werden,
desto mehr Menschen versammeln sich auf
den Straßen zu stummem Protest. Und je
friedlicher diese Demonstranten auftreten,
desto mehr Bereitschaftspolizisten meutern und verkünden: „Die schlagen wir
nicht mehr.“
Gegen 18 Uhr sind über 2000 Menschen
in zwei Schweigemarsch-Blöcken unterwegs. Anders als noch fünf Tage zuvor fliegen weder Steine noch Brandflaschen. Angezündet werden hunderte von Kerzen –
eine für jeden der Mitbürger, die in den
letzten Tagen in den Kerkern der Stasi verschwunden sind, unter anderem im berüchtigten „Gelben Elend“ in Bautzen.
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In der Einsatzleitung macht sich Ratlosigkeit breit. Die Befehlslage ist widersprüchlich. Dafür hat nicht zuletzt SEDBezirkssekretär Modrow gesorgt.
Der Mann, der im Ruf steht, heimlich
mit Gorbatschow zu sympathisieren, hat
am Nachmittag Polizeichef Nyffenegger
ermahnt, „keine offenen Konfrontationen
mit den Demonstranten … zuzulassen“.
Denn die Geschehnisse der vergangenen
Tage haben den Bezirkssekretär ins Grübeln gebracht.
Am 6. Oktober hat er in einem geheimen
Telex an die SED-Kreisleitungen in seinem
Bezirk ganz andere Töne angeschlagen als
die Berliner Altherrenriege. Bei „Provokationen feindlicher und negativer Elemente“ sei „taktisch klug“ vorzugehen
und zu differenzieren „zwischen solchen
Elementen und der Masse der Bürger“.
Was tun? Stasi-Chef Böhm drängt zum
Handeln, Bezirksfürst Modrow jedoch, der
den Einsatzbefehl geben müsste, ist telefonisch nicht zu erreichen. Um 18.07 Uhr be79
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K. MEHNER
100 TAGE IM HERBST: »KEINE GEWALT«
Schweigemarsch am 8. Oktober in Dresden: „Dass wir diese Dinge hinnehmen, ist unverantwortlich“
W. KOSSACK / SÄCHSISCHE ZEITUNG
und Superintendent Christof
kommt Böhm schließlich
Ziemer bei Berghofer im BürModrows Sicherheitsbeaufgermeister-Büro. Kurz vor 22
tragten Edmund Geppert an
Uhr werden die Kirchenleute
die Strippe, doch auch der
mit flackerndem Blaulicht in
mag den gewünschten Befehl
die Prager Straße chauffiert.
nicht geben. Böhm blafft in
An der Demo-Front verden Hörer: „Dass wir diese
künden sie eine Mitteilung,
Dinge zulassen, ist unverantder Modrow soeben zugewortlich.“
stimmt hat: Die SED gehe auf
Gegen Abend stehen an der
die Gesprächsforderung ein.
Prager Straße, in BahnhofsStasi-Chef Böhm schäumt.
nähe, demoralisierte Polizisten und demonstrierende Bür- Polizeichef Nyffenegger Um 22.10 Uhr meldet er nach
Berlin: „Beide Pfaffen haben
ger einander lauernd gegenüber. Megafon-Aufrufe der Vopo, die zur Ansammlung gesprochen, die sich daStraße freizumachen, verhallen. Einzelne nach auflöste. Genosse Modrow hat diese
Demonstranten lassen sich zum Sitzstreik Entscheidung politisch so getroffen und
nieder. Die Atmosphäre ist zum Zerreißen trägt die Verantwortung.“
Böhm wird seine Niederlage, so scheint
gespannt.
Da geht, kurz vor 20 Uhr, der katholi- es, nie verwinden – Anfang 1990 nimmt er
sche Kaplan Frank Richter, 29, mit einem sich das Leben.
Glaubensbruder beherzt auf die Polizeikette zu. Die Uniformierten wissen mit den
Kirchenmännern nichts anzufangen und Montag, 9. Oktober 1989
verweisen Richter an einen etwa gleichaltrigen jungen Mann in Zivil, Oberleut- Ost-Berlin
nant Detlef Pappermann, 30.
Die sowjetische Botschaft in Ost-Berlin ist
Der Kaplan bittet den Polizisten, rasch seit vier Jahrzehnten das wahre Machtzeneinen „kompetenten Gesprächspartner der trum der DDR. Dunkel und drohend, für
staatlichen Stellen“ herbeizuschaffen. Pap- die Ewigkeit gebaut, beherrscht das 100 Mepermann zögert zunächst, geht dann aber ter lange Gebäude die südliche Seite der
zu einem Funkwagen und übermittelt den Straße Unter den Linden, nahe an Mauer
Wunsch an seine Oberen. Ohne Rücken- und Brandenburger Tor. Hier hält Wjadeckung durch Vorgesetzte erlaubt der tscheslaw Iwanowitsch Kotschemassow, 71,
Oberleutnant dem Kirchenmann schließ- allwöchentlich seine Lagebesprechung ab.
An diesem Montag zeichnet der Botlich, über ein Polizei-Megafon eine Rede an
schafter ein düsteres Bild vom Zustand der
die Demonstranten zu halten.
Dann geht alles sehr schnell. Die Bürger DDR: „Die Lage ist ernst und fährt fort,
bestimmen per Zuruf und Applaus 20 Spre- schlimmer zu werden. Politisierung greift
cher. Die Delegation, verlangen sie, solle um sich. Die Freunde sind sehr beunruam nächsten Morgen mit Oberbürger- higt.“ Dann referiert er über die Situation
meister Wolfgang Berghofer über Presse- letzte Woche im Süden der Republik:
und Reisefreiheit sowie eine Zulassung des
Neuen Forums verhandeln. Ihr Angebot: 4000 Demonstranten in Dresden zeigten
Wenn die SED zum Dialog mit den kriti- ein aggressives Verhalten. Man hat sieben
schen Bürgern bereit sei, werde die De- Bataillone der Truppen des Innenministeriums gebraucht. In Plauen und in Karlmonstration sich auflösen.
Als die Botschaft das Rathaus erreicht, Marx-Stadt begann es ganz belanglos, und
sitzen Landesbischof Johannes Hempel dann kamen riesige Mengen zusammen.
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Die „Konsolidierungstendenz bei der
Opposition“ sei unverkennbar: „Das ,Neue
Forum‘ gewinnt immer mehr Einfluss. Die
Losungen ,Gorbi! Gorbi!‘ sind doppelsinnig.“ Kotschemassows Fazit: „Die Situation ist seit 1953 nie so ernst gewesen.“
Unterdessen, wenige Stunden vor der
nun schon traditionellen Leipziger Montagsdemonstration, widmen sich Stasi-Strategen weiter ihren Plänen zur Einschüchterung der Opposition. Gewisse Sorgen bereiten den MfS-Oberen die 200 000 Mann
starken betrieblichen „Kampfgruppen“ der
SED, die seit Jahresbeginn für den Einsatz
bei inneren Unruhen trainiert worden sind.
Zwar hat soeben noch die „Kampfgruppeneinheit ,Hans Geiffert‘ “ in der parteieigenen „Leipziger Volkszeitung“ gedroht,
sie sei allzeit bereit, „konterrevolutionäre
Aktionen“, auch in kirchlichen Veranstaltungen, „endgültig und wirksam zu unterbinden – wenn es sein muss, mit der Waffe in der Hand!“
Doch von überall her melden Mielkes
Spitzel, dass sich bei den Paramilitärs Anzeichen von Defätismus mehren. Laut aktuellem Lagebericht („Streng geheim! Um
Rückgabe wird gebeten!“) haben binnen
weniger Tage „146 Kämpfer“ Einsatzbefehle gegen Ausreisewillige und Demonstranten verweigert und „188 Kämpfer“
ihren Austritt erklärt. Beispiel:
Nach der Alarmierung der I. KGB (mot.)
Karl-Marx-Stadt … legten 9 Angehörige
demonstrativ ihren Kampfgruppenausweis
auf den Tisch, und weitere 15 Kämpfer
lehnten den Einsatz ab. Unter diesem Personenkreis befinden sich 3 Gruppenführer
und 12 Mitglieder der SED.
Ursache der Befehlsverweigerung sei die
„Angst, gegen die Bevölkerung ,Zwangsmaßnahmen‘ durchführen zu müssen“,
aber auch „Solidarisierung mit Forderungen der oppositionellen Bewegung ,Neues
Forum‘ in einzelnen Fällen“. Mit einer groß
angelegten Säuberungsaktion will Mielke
die Partei-Miliz wieder fit machen für den
Straßenkampf. „Unverzüglich zu beseiti-
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100 TAGE IM HERBST: »KEINE GEWALT«
Für Schefke hat der Tag abenteuerlich
begonnen. Als „Rädelsführer“ und
„Schlüsselfigur“ der Opposition wird er
seit Wochen rund um die Uhr von der Stasi überwacht. Um die mindestens zehn
Schnüffler vor seiner Haustür irrezuführen,
hat er Zeitschaltuhren installiert, die sein
Radio und die Beleuchtung steuern und
eine belegte Wohnung vortäuschen.
Gegen 9.30 Uhr ist Schefke durch eine
Luke aufs Hausdach gestiegen und 500 Meter über Firste und Flachdächer geklettert
– bis zur Schönhauser Allee, wo er zu seinem Kollegen Aram ins Auto stieg. Bevor
das Duo Leipzig ansteuerte, hat es ein paar
Mal das Fahrzeug gewechselt; Freunde hatten an verabredeten Punkten Trabis mit
unverdächtigen Kennzeichen bereitgestellt.
Als die beiden in Leipzig eintreffen, liegt
über der Messestadt die übliche Dunstglocke aus Braunkohleabgasen und dem
allgegenwärtigen DDR-Desinfektionsmittel „Wofasept“. Durch die Innenstadt
schmuggeln die Journalisten ihre Kameras, in Plastetüten versteckt, in die Reformierte Kirche. Pfarrer Hans-Jürgen Sievers
erlaubt ihnen, den Turm zu besteigen.
Von oben beobachten Schefke und Radomski, wie sich der Ring mit Menschenmassen füllt. Die Reporter sind überwältigt: „Beide haben wir Gänsehaut. Zehntausende gehen auf die Straßen. Wahnsinn,
das muss die Welt erfahren.“
Drunten vollzieht sich in diesen Stunden, was den 9. Oktober nach dem Urteil
von Zeitgeschichtlern zum „Tag der
Entscheidung“ macht: 70 000 friedlich
demonstrierende Bürger geben der
Staatsmacht nicht den geringsten Vorwand
zum Dreinschlagen; die SED muss ihre
erste große Niederlage einstecken; die
gewaltfreie Revolution ist nicht mehr zu
stoppen.
„Von diesem Datum an“, wird später der
Historiker Stefan Wolle urteilen, „begann
ein neues und zugleich das letzte Kapitel
in der Geschichte der DDR. Die totalitäre
Diktatur existierte praktisch nicht mehr.
Der Sieg der Demokratie und die Einheit
Deutschlands waren nur noch eine Frage
der Zeit.“
Rasch aufkommenden Gerüchten zufolge hat niemand anders als Egon Krenz bereits am 8. Oktober für den Umschwung
gesorgt. Krenz selber nährt diese Version,
als er sechs Wochen später behauptet:
JÜRGENS OST + EUROPA PHOTO
gen“ seien alle „die EinsatzbeLeipzig
reitschaft beeinträchtigenden
bzw. untergrabenden ErscheiGegen Mittag, auf der Autobahn
nungen“, hat er gestern an die
Berlin–Leipzig, überholt der
Stasi-Bezirksverwaltungen geTrabi-Fahrer Siegbert Schefke,
tickert; „entsprechende Kräfte“
30, immer wieder Militärkongelte es sofort „herauszulösen“.
vois, die gen Süden rollen.
Zugleich hat der Minister seiDer Fotograf und sein Kolnen engsten Mitarbeitern belege Aram Radomski haben
fohlen, für alle Fälle „Vorschlävon den Leipziger Montagsge zu Aufgaben/Festlegungen“
demonstrationen gehört, die
für eine weitere Stufe der Eska- Botschafter
von den DDR-Medien seit
lation vorzulegen. Derzeit ist Kotschemassow
Wochen totgeschwiegen wersein Stab damit beschäftigt, „im
den. Und sie kennen die
Sinne der Weisung des Genossen Minister Gerüchte, an diesem Montag werde die
vom 8. 10. 1989“ einen „Maßnahmenkata- SED Militär gegen die protestierenden
log“ aufzustellen. Die Liste der gespensti- Bürger einsetzen – wie die chinesische KP
schen Empfehlungen reicht vom „Verbot im Juni auf dem Platz des Himmlischen
der Tätigkeit ausländischer Journalisten“ Friedens.
über den „Einsatz von Fahndungs- und
Schefke und Radomski wollen in LeipFestnahmegruppen“ bis hin zur Bereit- zig heimlich die Montagsdemonstration filstellung von „Isolierungsobjekten“.
men und fotografieren. Schon auf der HinDer Aktionsplan trägt den Decknamen fahrt, angesichts der Truppentransporte,
„Offensive“. Seine Verwirklichung würde „geht uns die Muffe“, wie Schefke festdem zweiten deutschen Staat rumänische hält: „Ob sie schießen würden? Die chineVerhältnisse bescheren.
sische Lösung ist vorstellbar.“
FOTOS: SIPA PRESS
Ich war in Leipzig und habe dort erklärt:
Wir sind dafür, politische Konflikte auch
politisch zu lösen. Und ich habe dort in
Leipzig mitgeholfen, dass diese Dinge auch
so gelöst worden sind.
Demonstranten, Anti-Gewalt-Appell*: „Ein Funke kann einen Flächenbrand auslösen“
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Richtig ist: Krenz taucht zwar in Leipzig
auf – aber erst am Freitag nach der entscheidenden Montagsdemonstration. Und
er telefoniert an jenem geschichtsträch* Am 9. Oktober in Leipzig.
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100 TAGE IM HERBST: »KEINE GEWALT«
sind 2500 Blutkonserven bereitgestellt.
Wehrpflichtige der 5. Volkspolizei-Bereitschaft werden von Vorgesetzten instruiert:
„Heute haben die Demonstranten keine
Chance. Heute sind wir genug Kräfte, heute haben wir genug Technik, heute machen
wir dem Spuk ein Ende.“ Und: „Wenn es
nötig ist, wird auch geschossen.“
Ein Polit-Offizier hetzt: „Genossen, ab
heute ist Klassenkampf. Die Situation entspricht dem 17. Juni 1953. Heute entscheidet es sich – entweder die oder wir … Wenn
die Knüppel nicht ausreichen, wird die Waffe eingesetzt.“ „Zur Demo werden aber
auch Bürger mit Kindern kommen“, wen-
Stunden vorher „wegen Überfüllung geschlossen“. Die SED hat die innerstädtischen Grundorganisationen angewiesen,
die Kirche zu besetzen, und den Genossen
rasch noch einen Schnellkurs in pietätvollem Benehmen erteilt: Im Gotteshaus kein
Applaus, kein Hut, kein Parteiabzeichen.
Rund um die Nikolaikirche wechselt am
Nachmittag schlagartig das Publikum. Der
durch einen graublauen Stahlblech-Zaun
geschickt verkleinerte Vorplatz ist plötzlich mit Pärchen und kleinen Gruppen
übersät – die „Schwulenparade“ hat begonnen, wie der Volksmund spöttisch den
Aufmarsch der Stasi-Männer nennt, die
stets mit Henkeltäschchen und im Kollektiv auftreten.
Währenddessen umrunden lange LkwKolonnen mit Blaulicht die Innenstadt. In
den Straßen fahren Schützenpanzer und
Mannschaftswagen mit Tränengaswerfern
P. LANGROCK / ZENIT
tigen 9. Oktober zwar mit Vertretern der
SED-Bezirksleitung – aber erst, als die Gefahr eines Blutbades unter der Bevölkerung bereits gebannt ist.
Am Morgen ist Krenz von dem Leipziger Jugendforscher Professor Walter Friedrich aufgesucht worden, der ihn mit zitternder Stimme beschworen hat: „Egon,
heute Abend darf in Leipzig kein Blut
fließen.“ Daraufhin telefonierten Krenz
und dessen Adlatus Wolfgang Herger, 54,
mit Mielke sowie dem Innen- und dem Verteidigungsminister. „Die Befehlslage ist
eindeutig“, wird Krenz später das Resultat
seiner Bemühungen beschreiben: „Die Si-
Reporter Schefke*
AP
„Die chinesische Lösung ist vorstellbar“
Radomski-Foto von der Montagsdemonstration*: „Wahnsinn, das muss die Welt erfahren“
cherheitsorgane greifen nicht an, es sei
denn, sie werden angegriffen.“
Das aber heißt zugleich, wie auch Krenz
weiß: „Ein Funke kann einen Flächenbrand
auslösen.“ Nur wenn beide Seiten strikt
auf Deeskalation bedacht sind, kann Blutvergießen vermieden werden.
Noch am Vormittag haben in der Stadt
alle Anzeichen auf Bürgerkrieg gedeutet.
In den Betrieben werden die Eltern morgens aufgefordert, ihre Sprösslinge bis spätestens 15 Uhr aus den Kindergärten zu
holen. Wer in der Innenstadt arbeitet, bekommt früher frei und ist gehalten, die
City zu verlassen. In den Krankenhäusern
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det ein Bereitschaftspolizist ein: „Was wird
mit den Kindern?“ Antwort des Offiziers:
„Die haben Pech gehabt. Wir haben Pistolen, und die haben wir nicht umsonst.“
An eine Einheit aus der südlichen DDR
wird gegen 15.30 Uhr Munition verteilt, 18
Patronen pro Mann. Weisung des Mannschaftsführers: „Und wenn was kommt,
dann feuert ihr das Magazin leer bis zur
letzten Mumpel.“
Die Nikolaikirche, wo wie üblich um 17
Uhr das Friedensgebet beginnt, ist schon
* Links: am 9. Oktober in Leipzig; rechts: auf dem Dach
seines Wohnhauses in Ost-Berlin.
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auf. Polizisten mit Helm und Visier halten
wütend kläffende Hunde zurück.
Auf dem Karl-Marx-Platz versammeln
sich trotz der bedrohlichen Szenerie zehntausende. Viele fürchten, „dass geschossen
wird und dass ich jetzt vielleicht auch mein
Leben riskiere“, wie eine 40-jährige Lehrerin sagt. Von ihren Kindern hat sie sich
vorsichtshalber „regelrecht verabschiedet“.
Noch ist offen, ob der Tag ohne Gewalt
endet oder ob, wie an den Tagen zuvor, ein
paar Steinewerfer den Bewaffneten einen
Vorwand zum Angriff geben.
Da ertönt, Punkt 18 Uhr, aus den Lautsprechern, die überall in der Innenstadt
postiert sind, das Erkennungssignal des
Leipziger Stadtfunks – und wenig später
das erste Echo der Staatspartei auf die Forderungen der Massen.
Der populäre Gewandhaus-Chef Kurt
Masur (siehe Porträt Seite 100) hat gemeinsam mit Pfarrer Peter Zimmermann
und dem Kabarettisten Bernd Lutz Lange
einen Appell verfasst, der die Stimmung
umschlagen lässt – nicht zuletzt, weil er
sensationellerweise von drei (wenn auch
untergeordneten) SED-Bezirkssekretären
mitgetragen wird:
Unsere gemeinsame Sorge und Verantwortung hat uns heute zusammengeführt.
Wir sind von der Entwicklung in unserer
Stadt betroffen und suchen nach einer Lö-
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100 TAGE IM HERBST: »KEINE GEWALT«
sung. Wir alle brauchen einen freien Meinungsaustausch über die Weiterführung
des Sozialismus in unserem Land. Deshalb
versprechen die Genannten heute allen
Bürgern, die ganze Kraft und Autorität
dafür einzusetzen, dass dieser Dialog nicht
nur im Bezirk Leipzig, sondern auch mit
unserer Regierung geführt wird. Wir bitten
Sie dringend um Besonnenheit, damit der
friedliche Dialog möglich wird.
Der Appell der „Sechs von Leipzig“, wie
die Autoren später genannt werden, baut
blitzartig die Spannung ab, die seit dem
Morgen über der Stadt liegt.
Manche weinen, viele applaudieren vor
Erleichterung. Tausende empfinden wie die
zum Tag der Entscheidung ein doppeltes
Spiel: Wäre es aufgrund von Gewalttaten
der Demonstranten zu Schießereien gekommen, hätte er die Schuld auf die alte
Garde geschoben und sich zum deutschen
Gorbatschow erklärt. Als sich ein friedlicher Verlauf abzeichnet, signalisiert er gerade noch rechtzeitig seine Zustimmung –
in der Hoffnung, sich als heimlicher Vater
der friedlichen Revolution in die Geschichtsbücher mogeln zu können.
Am Tag nach der Demonstration verfolgt Reporter Schefke mit heimlichem
Stolz die „Tagesthemen“: Die ARD zeigt
erstmals Bilder aus Leipzig, laut Moderator Hajo Friedrichs „aufgenommen von einem italienischen Kamerateam und uns
unter schwierigen Umständen zugeliefert“.
Schefke weiß es besser. Er hat das Video
am Montagabend in Leipzig einem Freund
zugesteckt, dem Ost-Berliner SPIEGELKorrespondenten Ulrich Schwarz. Dem
Journalisten gelingt es, die Kassette zwischen Gürtel und Unterhose nach WestBerlin zum SFB zu schmuggeln.
Schefke stolpert unterdessen bei völliger
Dunkelheit über die Dächer Berlins zurück
in seine Wohnung. Dort findet er alles vor,
wie er es verlassen hat: Das Radio dudelt,
das Licht brennt, und unten auf der Straße
schieben die übertölpelten Stasi-Männer
pflichtgemäß ihren Dienst.
Um sich Rückendeckung aus Ost-Berlin
zu verschaffen, bittet er Krenz dringend
um Rückruf. Doch der lässt auf sich warten.
Da ordnet Hackenberg, um 18.35 Uhr, auf
eigene Faust den Rückzug an:
Nach Bestätigung wird befohlen, keine aktiven Handlungen gegenüber den Demonstranten zu unternehmen. Befehl Chef: An
alle Einsatzkräfte ist der Befehl zu erteilen, dass der Übergang zur Eigensicherung
einzuleiten ist! Einsatz Kräfte nur bei Angriffen auf Sicherungskräfte, Objekte und
Einrichtungen.
Um 19 Uhr haben die 70 000, immer wieder „Keine Gewalt!“ rufend, die Innenstadt umrundet, ohne dass es zu Zwi-
DPA
Dienstag, 10. Oktober 1989
Ost-Berlin
Sowjetpanzer in Prag 1968: „Nur so, nur zur Drohung“
Rentnerin Hannelore Kubitz: „Angst, ja,
Angst habe ich gehabt, als ich da vor der
Nikolaikirche die Armee habe aufmarschieren sehen. Es stand Spitz auf Knopf …
und dann kam der Aufruf von Masur, und
wir haben geklatscht.“
Eine entscheidende Rolle im Hintergrund spielt in diesen Stunden der amtierende SED-Bezirkschef Helmut Hackenberg. Wochenlang hat er sich gegenüber
Ost-Berlin als Hardliner profiliert. Nun
aber, soeben informiert über den geglückten Dialogbeginn in Dresden, beeindruckt
von der Zahl der Demonstranten in Leipzig und bedrängt von seinen Sekretären,
setzt er zögernd auf Deeskalation.
Hackenberg verzichtet nicht nur darauf,
den drei Sekretären die Mitwirkung am
Masur-Appell zu verbieten. Er möchte am
liebsten die martialisch aufmarschierten
Sicherheitskräfte zurückziehen, bevor sich
der Zug der 70 000 über den Ring in Bewegung setzt.
90
schenfällen gekommen ist. Krenz hat noch
immer nicht zurückgerufen. Hackenberg
seufzt: „Nu brauchen se auch nich anzurufen, nu sind se rum.“
Erst gegen 19.30 Uhr lässt Krenz von
sich hören. Hackenberg meldet, alles sei
gewaltfrei abgelaufen; Krenz billigt – im
Nachhinein – den Entspannungskurs.
Dass drei örtliche SED-Sekretäre das
Dialog-Angebot unterzeichnet haben, erfährt die Parteispitze am nächsten Morgen
durch ein mehrseitiges chiffriertes Fernschreiben (Nummer 527, Empfangszeit 7.22
Uhr). Hackenberg wird nach Berlin ins Politbüro beordert und angewiesen, sich mit
den Genossen, die den Aufruf unterschrieben haben, „auseinander zu setzen“.
Dem Mitunterzeichner Kurt Meyer wird
noch Wochen später vorgeworfen, er habe
„das Sekretariat gespalten“ und „die Sicherheitskräfte verunsichert“.
Der später als Reformbeschleuniger auftretende Krenz, so scheint es, spielt bis
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In den Fensterbänken der schäbigen Häuser im Prenzlauer Berg, Hochburg der Opposition, sind an diesem Morgen die Kerzen heruntergebrannt, die Sympathisanten
in der Nacht entzündet haben – als Geste
der Solidarität mit der Bürgerbewegung.
Erleichterung über den friedlichen Ausgang der Leipziger Demonstration scheint
auch aus dem aktuellen Lagebericht 452/89
der Stasi zu sprechen:
Es kam zu keinen Gewalthandlungen; vorbereitete Maßnahmen zur Verhinderung/Auflösung kamen entsprechend der
Lageentwicklung nicht zur Anwendung.
Starrsinnig zeigt sich, in der 10-Uhr-Sitzung des Politbüros, nur Erich Honecker,
der die Krise der DDR nach wie vor allein
auf „das Wirken feindseliger Kräfte von
außen“ zurückführt. Über die Leipziger
Funktionäre, die zum friedlichen Verlauf
der Demonstration beigetragen haben, giftet der Greis: „Nun sitzen die Kapitulanten
schon in der Bezirksleitung.“
In Wahrheit sitzen sie bereits im Politbüro. Dort bricht an diesem Vormittag ein
Machtkampf aus, wie ihn die SED-Spitze
kaum je erlebt hat: Um die eigene Haut zu
retten, beginnen Honeckers Paladine gegen
ihren Herrn zu rebellieren.
Wolfgang Herger, ZK-Abteilungsleiter
für Sicherheitsfragen, hat eine Beschluss-
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100 TAGE IM HERBST: »KEINE GEWALT«
B. BOSTELMANN / ARGUM
W. SCHMIDT / NOVUM
BUNDESARCHIV
vorlage vorbereitet, in der erstAuf das Taktieren seines
mals eingestanden wird, dass
Zöglings, das er als Konspiradie Ursachen der Ausreiseweltion zur Untergrabung seiner
le auch in der DDR selbst zu
Autorität wertet, reagiert er
suchen seien.
voller Wut.
Ihm kommt Krenz zu Hilfe.
Eine beiläufige Bemerkung
Das jüngste Politbüro-Mitglied,
seines Kritikers bietet dem Geseit 1983 als ZK-Sekretär vor alneralsekretär Gelegenheit zur
lem für Sicherheits- und KaderGegenattacke. Ausgerechnet
fragen zuständig, gilt im Lande
Krenz, Vorsitzender der DDRals potenzieller Honecker- Dirigent Masur
Wahlkommission, sagt, das
Nachfolger. Noch ist nicht an
Wahlgesetz müsse künftig
die Öffentlichkeit gedrungen,
„vollständig“ eingehalten werdaß der Alte auf Distanz zu seiden, auch ein 80- bis 90-pronem zunehmend von Zweifeln
zentiger Stimmenanteil sei für
geplagten Ziehsohn gegangen
die SED ein recht gutes Ergebist. So hat Honecker, erstmals
nis. Fast scheint es, als gestehe
seit Jahren, nicht Krenz mit seiKrenz mit diesen Worten den
ner Urlaubsvertretung beaufBetrug bei den Kommunaltragt, sondern seinen Vertrauwahlen am 7. Mai ein.
ten Günter Mittag.
Was Honecker im Zorn erBereits bei einer Einsatzbewidert, schreibt Gerhard Schüsprechung im Ministerium für Pfarrer Zimmermann
rer, Leiter der Staatlichen PlanStaatssicherheit am 8. Oktober
kommission, mit:
(Teilnehmer unter anderem:
Sagen, was man meint! Wahl
Erich Mielke und Wolfgang
gefälscht oder nicht. Sind geHerger) hat sich Krenz, der
fälscht. Im PB aber nichts
verstoßene Kronprinz, an die
gesagt. Kontrolle hat das
Spitze der Honecker-Kritiker
ergeben.
gesetzt. Auch wenn er zu dieser
Zeit, wie er später bekundet,
Am Ende der Sitzung greift
den Sturz seines Mentors noch
Honecker das Thema noch
nicht beabsichtigt – unter seieinmal auf. Er kündigt „schärfnen Mitkonspirateuren keimt
ste Maßnahmen gegen die
die Einsicht, dass die Tage der Kabarettist Lange
Wahlfälschung“ an – was unHonecker-Ära gezählt sind.
verkennbar auf Krenz zielt.
Der Krenz-Mitstreiter und KGB-Kontaktmann Mielke – so wird später ein hoher Stasi-Offizier dem Historiker Ekkehard Mittwoch, 11. Oktober 1989
Kuhn zu Protokoll geben – sieht nur noch
eine Möglichkeit, Ruhe und Ordnung im Ost-Berlin
Lande wiederherzustellen und die SED- Nach der Politbüro-Sitzung weiß der ewiHerrschaft zu stabilisieren: „Honecker als ge Rückversicherer Krenz: Wenn Honecker
das störende Element der Entwicklung der die Macht behält und seine Drohung in die
DDR zu beseitigen“. Der Offizier: „Einen Tat umsetzt, muss der Rebell den politiModrow wollte von den Herren keiner ho- schen Absturz fürchten.
len. Krenz war der einzige Kandidat, der
Unzufrieden ist Krenz auch mit dem
ihnen geeignet schien, ihre eigenen Pfrün- wichtigsten Beschluss. Der Herger-Entwurf
den nicht anzugreifen.“
ist verwässert worden, herausgekommen
Vor der Sitzung hat sich Krenz bei 9 der ist ein „Kompromisspapier, dem jeder ent21 Politbüro-Mitglieder vergewissert, dass nehmen kann, was er will“. Nun sucht er
das Herger-Papier (Kernsatz: „Wir stellen sein Heil in der Flucht nach vorn.
uns der Diskussion“) deren Billigung finAm Abend besucht Krenz den Ministerdet. Wichtig ist Krenz – neben Mielkes Pla- ratsvorsitzenden Stoph in dessen Wohnung
zet – vor allem die Zustimmung des Minis- und stellt die Frage: „Willi, ist es jetzt nicht
terratsvorsitzenden Willi Stoph sowie der an der Zeit, den nächsten Schritt zu unSED-Bezirksfürsten von Berlin und Karl- ternehmen?“ Stoph antwortet: „Für Erichs
Marx-Stadt (Chemnitz), Günter Scha- Absetzung brauchen wir eine Mehrheit.
bowski und Siegfried Lorenz. Mit deren Wir müssen vorher mit allen sprechen.“
Rückendeckung, kalkuliert Krenz, kann er
den Vorstoß wagen.
In der Diskussion mahnt Honecker Ent- Donnerstag, 12. Oktober 1989
schlossenheit im Kampf gegen die Konterrevolution an. Dabei sei notfalls auch „von Ost-Berlin
der Macht Gebrauch zu machen“.
Die DDR-Bürger erfahren am Morgen aus
Die Beschlussvorlage Hergers, für die dem „Neuen Deutschland“, dass Bewesich Krenz vehement einsetzt, lehnt gung in die Staatspartei gekommen ist: Die
Honecker als „Kapitulations-Erklärung“ Zeit der Sprachlosigkeit geht dank Krenz
strikt ab: „Selbstkritik hilft jetzt nicht.“ und Herger zu Ende, das SED-Zentral94
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100 TAGE IM HERBST: »KEINE GEWALT«
Krenz und Stoph überein: Die Absetzung
Honeckers muss auf die Tagesordnung der
nächsten Politbüro-Sitzung.
lektiv zu treffen oder auch nur zu diskutieren“.
So verspricht er Krenz seine Unterstützung. Der wiederum weiht den Sowjetbotschafter Kotschemassow in den PutschPlan ein. Anschließend beauftragt Krenz
Freitag, 13. Oktober 1989
den FDGB-Chef Harry Tisch, am folgenden
Ost-Berlin
Montag nach Moskau zu reisen, um GorDie Verschwörung, kaum verabredet, batschows Zustimmung einzuholen.
Die Verschwörer können, wenn ihr Vorscheint schon verraten. Die West-Berliner
Lokalausgabe der „Bild“-Zeitung kommt haben gelingen soll, kein Interesse daran
mit der Schlagzeile auf den Markt: haben, dass es bei der nächsten Montags„Honecker: Mittwoch letzter Arbeitstag“. demonstration zu Straßenschlachten und
Am 18. Oktober werde der SED-Gene- bürgerkriegsähnlichen Zuständen kommt.
ralsekretär entmachtet, berichtet das Blatt. Am Nachmittag fliegt Krenz daher mit eiDie Redaktion beruft sich auf eine Exklu- ner TU 154 von Berlin-Schönefeld nach
siv-Information „aus höchstrangigen SED- Leipzig, um sich mit der Bezirkseinsatzleitung zu beraten.
Kreisen in Ost-Berlin“.
Begleitet wird Krenz
von den Stabschefs der
NVA und des Innenministeriums, Fritz Streletz
und Karl-Heinz Wagner,
dem
stellvertretenden
Stasi-Minister Rudi Mittig
und ZK-Sicherheitssekretär Herger.
Auf dem Rückflug formuliert die Fünferrunde ei„Bild“ vom 13. Oktober: Verschwörung verraten
nen Befehl über „MaßnahDer Quellenhinweis soll womöglich in men zur Gewährleistung der Sicherheit und
die Irre führen. Die Frondeure um Krenz Ordnung in Leipzig“. Am frühen Abend
kommen als Informanten kaum in Frage. wird der Entwurf Honecker – in dessen EiWahrscheinlicher ist eine gezielte Indis- genschaft als Vorsitzender des Nationalen
kretion aus Geheimdienst-Kreisen, sei es Verteidigungsrates – vorgelegt.
„Der Einsatz der Schusswaffe im Zuvom sowjetischen KGB selbst oder von
sammenhang mit möglichen Demonstradessen Kampfgenossen in der Stasi.
Geheimdienst-Minister Mielke, der sich tionen“, heißt es in der Order, „ist
gelegentlich als „Vertreter der Sowjetmacht grundsätzlich verboten.“ Zulässig sei der
in der Partei“ bezeichnet, hört auf die „aktive Einsatz polizeilicher Kräfte und
Stimme des Großen Bruders – auch wenn Mittel … nur bei Gewaltanwendung der
er mit dem Reformkurs der Moskauer Demonstranten gegenüber den eingesetzten Sicherheitskräften bzw. bei GewaltanGenossen nicht einverstanden ist.
Honeckers Ablösung hält er für „not- wendung gegenüber Objekten“.
Honecker sträubt sich zunächst dagewendig“. Der SED-Chef sei „nicht mehr in
* Bei der Ernennung von Generälen 1989.
der Lage, seine Entscheidungen im Kol- gen, das Papier zu unterzeichnen. Er will
sogar – „nur so, nur zur Drohung“ – ein
SED-Funktionäre Mielke, Honecker, Krenz*: Der Ziehsohn geht auf Distanz
Panzerregiment durch die Messestadt rattern lassen.
Egon Krenz und Fritz Streletz reden
auf den Generalsekretär ein: Eine
solche militärische Drohgebärde sei
unsinnig, weil die jugendlichen Demonstranten in Panzernahbekämpfung ausgebildet seien.
Wer auf das Kettenfahrzeug springe und
ein Tuch auf die Sichtluke werfe, könne einen Panzer spielend manövrierunfähig machen. Panzereinsatz in Städten setze die
bedingungslose Bereitschaft zur Gewaltanwendung voraus – so wie 1968 in der
Tschechoslowakei, als der Prager Frühling
durch eine militärische Intervention blutig
beendet wurde.
Honecker zieht seinen Vorschlag zurück:
„Na, denn nicht.“
DER SPIEGEL
organ veröffentlicht die von Honecker
bekämpfte Erklärung des Politbüros.
Westliche Kommentatoren mutmaßen,
dass in der SED-Führung die Hölle los ist
– zumal Mielkes einstiger Spionagechef
Markus Wolf tags zuvor in einem BBCInterview auf die Frage nach der
Zukunft der gegenwärtigen DDR-Führung
vielsagend geantwortet hat: „No comment.“
Honecker, plötzlich in Bedrängnis geraten, sucht Rückendeckung bei seinen Getreuen in der Provinz, den Ersten Bezirkssekretären. Er hat sie ins ZK beordert, um
einschätzen zu können, wie weit der Einfluss von Krenz und Schabowski reicht.
In seinem Referat verfälscht Honecker
die zweitägige Krisendiskussion des Politbüros zu einer Debatte über „den Generalangriff der Nato auf den Vorposten des
Sozialismus“. Die Genossen des Politbüros
schweigen.
Auch Schabowski wäre stumm geblieben, hätte Honecker nicht am Ende der
Sitzung den frisch entdeckten Opponenten
siegessicher mit der Bemerkung provoziert:
„Na, will einer noch was sagen, Schabowski vielleicht?“
Der Berliner Bezirkschef, überrascht,
nutzt die Attacke, um die Kollegen Sekretäre darüber aufzuklären, dass es im
Politbüro zwei Tage lang in Wahrheit nicht
um die Nato ging, sondern um den „Ernst
der Lage in der DDR“. Ohne ihm zu widersprechen, beendet Honecker die Sitzung.
Die Konspiration gewinnt Konturen.
Beim Pinkeln verabreden Modrow und
Schabowski ein Treffen. Krenz führt getrennte Gespräche mit Lorenz und Schabowski.
Das Trio beschließt, den Sturz des
Staats- und Parteichefs in die Wege zu leiten. Noch am selben Abend kommen
Jochen Bölsche;
Norbert F. Pötzl, Cordt Schnibben,
Ulrich Schwarz, Alexander Smoltczyk,
Andreas Wassermann
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100 TAGE IM HERBST: »KEINE GEWALT«
PORTRÄT
»Sie haben uns
das Leben gerettet«
Kurt Masur: Die Autorität des Gewandhaus-Stars
half in Leipzig ein Blutbad vermeiden.
E
100
sonnenheit“ samt Versprechen, sich für
einen politischen Dialog einzusetzen. „Masur“, erinnert sich Lange, „hatte schon entsprechende Gedanken parat.“
Um 16.30 Uhr rasen die Sechs in drei
Autos ins Gewandhaus. Academixer Lange vervielfältigt den Appell-Text mit
einer Schreibmaschine und Kohlepapier,
Zimmermann rennt mit den Durchschlägen in die vier Kirchen, in denen gerade
die montäglichen Friedensgebete stattfinden.
Schweißgebadet bittet der Kurier die
Pastoren, den Text am Ende des Gottesdienstes „mit allem Nachdruck“ zu verlesen. Die Pfarrer folgen der Bitte.
Masur und seine Mitstreiter sind nicht
die Einzigen, die an diesem Nachmittag
zur Gewaltlosigkeit auffordern. Drei Arbeitskreise der Bürgerbewegung appellieren an die Bevölkerung:
Auch Landesbischof Johannes Hempel beschwört die Gläubigen: „Ich hoffe, ich bitte, ich flehe, dass diese Nacht in Leipzig
vorübergeht ohne schlimme Dinge.“
Doch die breiteste und stärkste Wirkung
erzielt der Aufruf der Sechs. Immer wieder
wird der Appell, den Masur einem Mitarbeiter von Radio Leipzig auf Band gesprochen hat, über Stadt- und Rundfunk ausgestrahlt.
„Dass der Aufruf zünden konnte“, urteilt Mitunterzeichner Zimmermann, „lag
wesentlich an der moralischen Autorität
von Masur.“
Der Hüne mit dem verhangenen Blick
wird von den musikbegeisterten Leipzigern verehrt, seit er 1970 die Leitung von
Deutschlands ältestem bürgerlichem Symphonieorchester übernommen hat und
damit Nachfolger von Dirigenten-Denkmälern wie Felix Mendelssohn Bartholdy
und Wilhelm Furtwängler geworden ist.
Zwar nutzt die DDR Masur als kulturpolitisches Aushängeschild. Doch der
AP
igentlich wollte Professor Kurt Masur
am Vormittag des 9. Oktober 1989
mit dem Leipziger Gewandhausorchester den „Till Eulenspiegel“ von Richard Strauss proben. Doch er sagt den
Termin ab – der Maestro will nicht musizieren, „während draußen ein Massaker
stattfinden kann“.
Der Kapellmeister hat die Gerüchte vernommen, dass „die Armee eingreift“ – eine Information, die an diesem Tag auch
den Superintendenten Friedrich Magirius
von der Nikolaikirche auf vielerlei Kanälen
erreicht.
Aus Angst vor einem Blutbad operiert
der Dirigent einen Tag lang als Diplomat.
Der Künstler, international geachtet und
daher nur schwer antastbar, will seine Autorität nutzen, um die bornierte Leipziger
SED-Führung von dem bislang verfolgten
Konfrontationskurs abzubringen.
Weil der 1. Sekretär Horst Schumann
seit Monaten krank ist und dessen Stellvertreter Helmut Hackenberg als Betonkopf gilt, ruft Masur um 13.45 Uhr eine
subalterne Charge an: den SED-Kultursekretär Kurt Meyer, mit dem er sich bereits drei Tage zuvor voller Sorge über die
zunehmend bedrohliche Lage ausgetauscht
hat. Masur zu Meyer: „Lassen Sie uns gemeinsam darüber nachdenken, was man
tun kann, um heute Abend das Schlimmste
zu verhindern.“
Meyer verspricht, zurückzurufen und
berät sich mit seinen Sekretärskollegen Jochen Pommert (Propaganda) und Roland
Wötzel (Volksbildung). Beide sagen ihre
Unterstützung zu, Pommert weist auf das
Risiko hin, das sie eingehen: „Parteiausschluss, denn die Parteiführung sieht die
Massen auf der Straße als Konterrevolution an, und wir drei stellen uns auf diese Seite.“
Die drei bieten Masur an, ihn sofort zu
Hause aufzusuchen und zwei weitere prominente Leipziger mitzubringen: den
Theologen und CDU-Politiker Peter Zimmermann (von dem später bekannt wird,
dass er lange Zeit als IM „Karl Erb“ für die
Stasi gearbeitet hat) und den Kabarettisten
Bernd-Lutz Lange von den „Academixern“. Masur ist einverstanden.
Im Wohnzimmer des Dirigenten formuliert die Gruppe gemeinsam ihren – an
beide Seiten gerichteten – Aufruf zur „Be-
Auch der letzte Montag in Leipzig endete
mit Gewalt. Wir haben Angst. Angst um
uns selbst, Angst um unsere Freunde, um
den Menschen neben uns und Angst um
den, der uns da in Uniform gegenübersteht … Gewalt schafft immer nur Gewalt.
Gewalt löst keine Probleme. Gewalt ist
unmenschlich. Gewalt kann nicht das
Zeichen einer neuen, besseren Gesellschaft sein.
Dirigent Masur bei seinem Leipziger Abschiedskonzert 1996: „Vetter Martin Luthers“
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eigenwillige „Vetter Martin Luthers“
(„Time“) widersetzt sich jedem Versuch,
sich von der SED instrumentalisieren zu
lassen. Im Gegenteil: Masur setzt seinen
Ruhm ein, um den Partei-Oberen viel Geld
und ein neues Haus für sein Orchester abzutrotzen.
So verfehlt der Appell des GewandhausStars nicht seine Wirkung. Als Kabarettist
Lange sich abends unter die Menge mischt,
haben – „Das war neu“ – die Menschen begonnen, mit den Uniformierten zu diskutieren. Zimmermann wird Zeuge, wie
„Lassen Sie uns gemeinsam
darüber nachdenken,
was man tun kann,
um heute Abend das
Schlimmste zu verhindern.“
Kampfgruppen-Angehörige ihre Helme absetzen, Schilde und Knüppel weglegen und
sich den Menschen, die noch Stunden zuvor als „Konterrevolutionäre“ und „Rowdys“ diffamiert worden waren, zum Gespräch anbieten. Zimmermann: „Eine
großartige Erfahrung.“
Am nächsten Tag ziehen Bürgerrechtler
zu Masurs Haus und schmücken den Zaun
mit Blumen. Leipziger schlagen den Dirigenten der Wende für den Friedensnobelpreis vor, eine Frau spricht ihn tief bewegt
an: „Im Namen meiner Kinder, meiner Familie und meiner Freunde bedanke ich
mich bei Ihnen, dass Sie uns das Leben gerettet haben.“
Die Leipzigerin steht mit ihrem Urteil
nicht allein. Ein Stasi-Bericht bestätigt:
„Einfluss auf die Lageentwicklung und die
Verhinderung von Gewalt hatte u. a. der im
Rundfunk verlesene Aufruf zur Besonnenheit von Professor Masur.“
Als „Politiker wider Willen“ (Masur)
agiert der Kapellmeister noch einige Wende-Wochen lang; für den Dialog mit den
Regierenden stellt er sein Gewandhaus zur
Verfügung. Der Versuchung, in die große
Politik einzusteigen, widersteht er – etwa
1993, als Christdemokraten ihn als Bundespräsidenten ins Gespräch bringen.
Stattdessen übernimmt der Gewandhaus-Chef zusätzlich die Leitung des New
York Philharmonic Orchestra. Fünf Jahre
lang ist Masur der einzige Mann, der gleichzeitig zwei Orchestern von Weltrang vorsteht – bis er, nach Querelen um Zuschüsse und Zuständigkeiten, 1996 in der so genannten Heldenstadt vorzeitig abdankt.
Von den Leipzigern verabschiedete
sich der Dickschädel mit Beethovens
„9. Symphonie“ – und mit den bitteren
Worten: „Hier haben wir im Augenblick
einen Umgang miteinander, der dem
Geschenk der Wiedervereinigung nicht
adäquat ist.“
Jochen Bölsche
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100 TAGE IM HERBST: »KEINE GEWALT«
ANALYSE
»Liquidieren auf besonderen Befehl«
Das Gewaltpotenzial des SED-Staates: eine Million Mann unter Waffen
F
riedrich Engels, 1841 Einjährig-Freiwilliger im Berliner „Garde-Fuß-Artillerie-Regiment“, später der Bruder
im Geiste des ungedienten Karl Marx, hat
den Kommunisten in aller Welt viel Lesestoff hinterlassen, vor allem über die Macht
der Gewehre. Deshalb hieß die Militärakademie der Nationalen Volksarmee der
DDR nach dem Barmer Fabrikantensohn,
es gab einen Friedrich-Engels-Preis für
„Stärkung und Vervollkommnung der sozialistischen Landesverteidigung“ und ein
Friedrich-Engels-Wachregiment.
„Waffen sind Werkzeuge der Gewalt“,
hatte der Militärtheoretiker scharfsinnig
erkannt. Seine ostdeutschen Enkel zogen
daraus den dialektischen Schluss, dass Waffen deshalb auf gar keinen Fall in die Hände des Volkes gehörten. Denn die „Diktatur des Proletariats“ sei nur machbar, wenn
die Partei die Gewehre kommandiere. Das
sei die Machtfrage.
Die Machtfrage begleitete die DDRKommunisten wie der Mond den Wanderer im dunklen Tann. Schon am 30. April
1945, als die „Gruppe Ulbricht“ aus
Moskau in die sowjetisch besetzte Zone
Deutschlands eingeflogen wurde, gab der
KP-Remigrant den Seinen die Losung
für den Verwaltungsaufbau aus: „Es muss
demokratisch aussehen“, befahl Walter
Ulbricht, „aber wir müssen alles in der
Hand haben.“
Vom Tage Null im Mai 1945 bis zu Ultimo am 3. Oktober 1990, als die DDR aus
der Geschichte verschwand, stand die
Macht im Zentrum aller SED-Überlegungen. Die jeweilige Sicherheitsdoktrin überwucherte alle anderen Politikfelder – sie
ruinierte die Wirtschaft, den demokratischen Zentralismus, Kultur- und Geistesleben, überzog das Land mit einem in
Deutschland bisher nie da gewesenen Spitzelnetz und brachte am Ende zwei Rekorde zu Stande.
Auf dem vergleichsweise winzigen Territorium der DDR – 108 333 Quadratkilometer, das sind 0,02 Prozent der Erdoberfläche – standen mehr als eine Million
Mann, jeder fünfte Erwachsene, mit dem
Gewehr bei Fuß, der Machtfrage wegen. Nirgendwo in Europa drängelten sich
so viele Schwerbewaffnete auf so engem
Raum.
Dieser Rekord wird noch überboten
durch das zweite Kuriosum: Die bitterarme DDR hinterließ der Bundesrepublik
Deutschland in diversen Waffenkammern
Schießgerät und Munition im Wert von
rund 100 Milliarden Westmark.
Jahrelang plagten sich die Bonner
Behörden mit der Reduktion dieser Alt-
lasten – sie wurden verschrottet, zersägt,
verschenkt, verkauft, umgerubelt, ausgeschlachtet oder, wie die legendären Jagdflugzeuge vom Typ MiG-29, in die Bundeswehr integriert. Den Bewaffneten der
Ex-DDR blieben nur ein paar Pistolen für
die Polizei; die staatsnahen Weidmänner
mussten ihre Jagdwaffen abgeben.
Die Volkspolizei („Vopo“) der DDR,
90 000 Mann, hatte bereits Ende 1989 erkennen lassen, dass sie sich auf den westdeutschen Beamtenstatus (und die neuen
Funkwagen) freute. Gegen das Versprechen
der Weiterbeschäftigung, nunmehr fest auf
dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, hielten die Vopos
1989/90 fein still, ließen sich auf der Straße
kaum blicken, bereuten sogar ihre Prügelorgien in den Wochen vor der Maueröffnung und sammelten ohne Trara die
Schießprügel der anderen „bewaffneten
Organe“ ein. Es gab viel zu tun. Als erste
war die Stasi dran.
Das Ministerium für Staatssicherheit
kommandierte der Armeegeneral und Waffennarr Erich Mielke, Jahrgang 1907. Er
führte drei private Faustfeuerwaffen (alles
Westimporte) und zwei Dutzend Büchsen
für die Jagd. Die 92 000 Mann seiner
Geheimpolizei waren bis an die Zähne
bewaffnet, mit 124 503 Pistolen, 76 592 Ma-
JÜRGENS OST UND EUROPA PHOTO
SED-Betriebskampfgruppen: „Nur diejenige Revolution ist etwas wert, die sich auch zu verteidigen versteht“
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64 Jahre alt, ein Mann zum Fürchten. Den
legte Gorbatschow persönlich an die Kette. Der KPdSU-Generalsekretär verbot der
Westgruppe jedes Eingreifen in die inneren
Konflikte der DDR.
Die sowjetischen Streitkräfte zogen sich
in die Kasernen zurück und sagten alle
Manöver ab. Nicht einmal die Ehefrauen
der Offiziere durften mehr einkaufen gehen. Dass sich der Wind gedreht hatte, erkannten die 15 führenden Generäle der Nationalen Volksarmee der DDR spätestens
am 9. November 1989, in der Nacht des
Mauersturms. Zur Krisensitzung des Generals-„Kollegiums“ erschien der sonst stets
anwesende Vertreter der Westgruppe nicht.
In dieser Nacht des höchsten Risikos bewies die NVA-Generalität Verantwortungsbewusstsein, Augenmaß und Vorsicht.
Kommandiert von Generaloberst Fritz
Streletz, Chef des Hauptstabes der NVA,
einem militärisch talentierten und belastbaren Soldaten, widerstand die NVAFührung allen Versuchungen, in die finale
Krise der DDR mit Gewalt einzugreifen.
Dabei galt die sehr straff geführte Nationalen Volksarmee in diesen Tagen durch-
BUNDESARCHIV
schinenpistolen, 3611 Scharfschützenge- weil „unsere Partei nach der Leninschen
wehren, 449 leichten Maschinengewehren, Erkenntnis handelt, dass nur diejenige Re766 schweren Maschinengewehren, 3537 volution etwas wert ist, die sich auch zu
Panzerbüchsen, 342 Flugabwehr-Maschi- verteidigen versteht“.
nengewehren, 48 Polizeiflinten und 3303
Deshalb hatte jeder Klassenkämpfer
Leuchtpistolen. Bei der Stasi waren sogar eine Pistole M(akarow) und eine MPidie hauseigenen Küchenfrauen und Kran- K(alaschnikow) für die Abwehr der „Konkenschwestern bewaffnet.
terrevolutionäre“ parat. Falls durch den
Um die Stasi-Offiziere und ihre 172 000 Feind der Konflikt eskalieren würde, sollInoffiziellen Mitarbeiter (Stand: Oktober ten die „Kampfgruppen der Arbeiterklas1989) nicht zu reizen, sprach die Volkspo- se“ ihr schweres Gerät – Panzergeschütze,
lizei nicht von „Entwaffnung“, sondern Granatwerfer, Zwillingsflak – in Stellung
von „Abgabe“ oder „Übergabe“ der Waf- bringen.
fen. Weil es nicht genug
Kisten gab, wurde das
Schießgerät in Decken
abtransportiert. Für jeden Eventualfall hatte
Mielkes geheime Armee
einen Plan in der Schublade, nur ihre eigene Abschaffung war nicht bedacht worden.
Die „Liquidierung“
hatte das MfS den Dissidenten zugedacht, also Personen mit einer
„verfestigten feindlichnegativen Grundhaltung
gegenüber der sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung“. Für
diese DDR-Bürger – insgesamt 10 726 namentlich DDR-Volksarmee: Gefechtsbereit in 42 Minuten
erfasste Abweichler, ein
jeder mit aktualisierter Personalkarte – waGegen die friedlichen Demonstranten
ren „zeitweilige Isolierungsstützpunkte“ des Wendeherbstes, die immerzu „Keine
vorbereitet, für jede der 211 DDR-MfS- Gewalt!“ riefen, waren die Kampfgruppen
Kreisdienststellen einer. Von dort wären völlig machtlos. In Leipzig und anderen
die Regimegegner plangemäß in zentrale sächsischen Städten verweigerten zahlreiInternierungslager gebracht worden.
che Mitglieder die Mobilmachung und den
Die Unterbringung in diesen Konzen- Einsatz: „Das sind doch unsere Kinder.“
trationslagern sollte dazu dienen, „die perAuch die anderen Waffenträger der Resonelle Basis der subversiven Tätigkeit des publik hatten keine Lust, in den BürgerFeindes zu zerschlagen“. Die Dokumente krieg zu ziehen – weder die „Zivilverteilassen Böses ahnen. In der kalten Sprache diger“ noch die Zöllner, geschweige denn
des Geheimdienstes wird erläutert, was für die Männer der Berufsfeuerwehr. Alle hatden Tag X mit den Internierten geplant ten zwar Waffen und Munition im Schrank,
war: „ihre Liquidierung/Ausschaltung auf unterlagen zugleich aber einem strengen
besonderen Befehl … wenn es die Lage Regiment: „Waffenmeister“ führten Buch
erfordert“.
über jedes Schießgerät und jeden Schuss.
Daraus wurde nichts, weil die Lage sich Selbst „Geschenkwaffen“, etwa von eiim Herbst 1989 rasch zu Ungunsten der nem hochrangigen Sowjetfreund, wurden
Staatsgewalt veränderte. Die MfSler hatten registriert.
Angst um ihren Arbeitsplatz, fürchteten
Die große Sowjetunion unterhielt in der
sogar, gelyncht zu werden. Alle früheren kleinen DDR eine „Westgruppe“ ihrer
Verbündeten – Polizei und Armee, Partei Streitkräfte, 365 000 Mann (plus 208 000 Ziund Betriebskampfgruppen – suchten rasch vilangestellte und Familienangehörige).
Distanz zwischen sich und die Stasi zu Das Riesenheer bestand aus Gardedivisiobringen. Die paramilitärischen Verbände nen, Stoßarmeen und Sturmbrigaden. Die
der Betriebskampfgruppen, insgesamt Elitesoldaten waren bestens gerüstet: 4116
202000 Mann, lösten sich besonders schnell Kampfpanzer, 7948 gepanzerte Fahrzeuin Wohlgefallen auf.
ge, 3578 Artilleriesysteme, 623 Flugzeuge,
Eigentlich, so hatte Erich Honecker 1983 615 Hubschrauber, 94 129 Kraftfahrzeuge
im Berliner „Palast der Republik“ bei ei- sowie 677 000 Tonnen Munition. So steht es
nem Festakt zum 30-jährigen Bestehen der in den 1990 mit der Bundesregierung geBetriebskampfgruppen getönt, habe „un- schlossenen Abzugsvereinbarungen.
sere Partei die Kampfgruppen ins Leben“
Das Kommando führte der Armeegenegerufen und ständig „weiterentwickelt“, ral Boris Wassiljewitsch Snetkow, damals
Die bitterarme DDR
hinterließ in diversen
Waffenkammern Schießgerät
und Munition für rund
100 Milliarden Westmark.
aus noch als universell verwendungsfähig.
Die rund 210 000 Soldaten – davon 42 000
Mann bei den Grenztruppen, 36 000 bei
der Luftwaffe, 16 000 Mariner – standen
Gewehr bei Fuß. Volle Gefechtsbereitschaft, hundertmal trainiert, war in 42 Minuten zu erreichen. Das galt zu Recht als
„Weltniveau“.
Viele Soldaten kamen in den Herbstwochen 1989 tagelang nicht aus den Stiefeln.
Trotzdem drehte keiner durch. Auf dem
Territorium der kleinen DDR drängelten
sich mehr als eine Million Bewaffnete. Und
es fiel kein einziger Schuss.
Dabei waren unter den Soldaten natürlich auch Desperados, Trunkenbolde,
Angsthasen und Fanatiker. Weil trotzdem
niemand das Feuer eröffnete, blieb der
Erde ein immerhin möglicher dritter Weltkrieg erspart. Nur weil kein Blut floss, wurde die friedliche Wiedervereinigung
Deutschlands innerhalb eines Jahres erreicht.
Hans Halter
Im nächsten Heft
Palastrevolte gegen Honecker – Moskau ist
eingeweiht – Agenten unterwandern alle Oppositionsgruppen – „Visafrei bis Hawaii!“
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Deutschland
DDR
Schwarzes Kleid
und rote Socken
Gespaltener Osten: Am 7. Oktober
feierte die alte Elite den
50. Gründungstag der DDR, die
Oppositionellen erinnerten an
die friedliche Revolution von 1989.
D
MROTZKOWSKI
ARIS
er Genosse Minister Armeegeneral
a. D. hat sich fein gemacht. In grauer Jacke, schwarzer Hose und strahlend weißen Schuhen verlässt er kurz vor
elf Uhr seine Zwei-Raum-Wohnung im 15.
Stock. 50 Jahre nach Gründung der DDR
wird der einst gefürchtetste Mann des Arbeiter-und-Bauern-Staats im Rollstuhl aus
dem sanierten Plattenbau im Ost-Berliner
Bezirk Hohenschönhausen geschoben.
Ein neuer brauner Lederhut schmückt
den Kopf des Greises, unter dem silbernen
Brillengestell huschen die Augen wie eh
und je listig und hellwach hin und her. Die
Ex-Stasi-Chef Mielke
„Ein Tag wie jeder andere“
dürren Hände, von Altersflecken übersät,
weisen dem getreuen Diener, der ihn
schiebt, den Weg. Erich Mielke weiß immer
noch, wo es langgeht.
Am 7. Oktober, genau vor zehn Jahren,
stand der Stasi-Chef in Paradeuniform
auf der Ehrentribüne, die sozialistischen
Untertanen bejubelten den „RepublikGeburtstag“. Gegen am gleichen Tag demonstrierende Jugendliche rund um die
Gethsemane-Kirche am Prenzlauer Berg
hetzte Mielke seine Schlägertrupps: „Haut
sie doch zusammen, die Schweine.“
Heute lässt sich der gebrechliche, bis auf
die Knochen abgemagerte Tschekist durch
das gleichgültig vorbei eilende Volk schie112
Sein „West-Arzt“
habe ihm erfolgreich
von der filterlosen
Karo, dem Markenzeichen der DDR-Zigarettenproduktion,
abgeraten.
Ganz offiziell hält
der Parteiführer das
Requiem auf die
DDR. Er spricht über
Bert Brecht, den
Kommunisten, der
freiwillig in die DDR
gekommen war, er
lobt den „DDR-Sozialismus“, der „keine himmelschreienden sozialen und geschlechtsspezifischen
Kommunistin Wagenknecht, Ehemann: Requiem im Tränenpalast
Unterschiede wie im
ben, das er mal für sein Eigentum hielt. Westen“ kannte, nennt ihn einen „FrieFragen nach dem DDR-Jubiläum beant- densfaktor“. Nur die Mauertoten sind im
wortet nur sein Begleiter, und das wider- Tränenpalast kein Thema. Der Beifall ist
willig: „Es ist ein Tag wie jeder andere.“
getragen, selbst Sahra Wagenknecht von
Wie immer bei seiner Tour durch den der „Kommunistischen Plattform“ der PDS
Kiez kommt Mielke an der Buchhandlung lobt ihren Vorsitzenden ausnahmsweise,
„La Chispa“ in der Grevesmühlener Straße ehe sie Autogramme gibt.
vorbei. Im Fenster erinnert ein Plakat an
Im Willy-Brandt-Haus in Berlin-Kreuzeinen seiner größten Erfolge. Es kündigt berg erinnern große Schautafeln an dafürs Wochenende eine Lesung mit Gabrie- mals, wobei der Anlass erst 10 und nicht
le Gast an, der „Kundschafterin des Frie- 50 Jahre her ist. Das „Forum Ostdeutschdens“ (Buchtitel). Gast war Stasi-Quelle land“ der SPD feiert die Gründung seiner
„Gisela“. 17 Jahre lang spionierte sie für Vorgängerorganisation im Osten, der Sodie Staatssicherheit in der Zentrale des zialdemokratischen Partei SDP, am 7. OkBundesnachrichtendienstes.
tober 1989 im brandenburgischen Dorf
Hanno Harnisch, einst inoffiziell mit Schwante.
Mielke verbunden, hat sich fein gemacht
Neben der mit Schreibmaschine gefür die „50. Wiederkehr des Gründungs- schriebenen Gründungsurkunde hängen
tages der DDR“. Zum schwarzen Hemd Fotos von Protagonisten der Wende: Marträgt der Pressesprecher und Conféren- kus Meckel mit langem Bart, Steffen Reicier der PDS eine schwarze Fliege mit che in Parkajacke, Ibrahim Böhme, bereits
weißen Punkten. Im Tränenpalast mode- im Anzug. So nebenbei erklärt SPDriert er die „politisch-künstlerische“ Ma- Ministerpräsident Manfred Stolpe, dass
tinee unter dem Motto „Vorwärts und Brandenburgs Ex-Sozialministerin Regine
nicht vergessen?“.
Hildebrandt, die hinwarf, weil sie lieber
200 Menschen sitzen in der zur Show- mit der PDS statt mit der CDU koaliert
bühne mutierten alten Grenzkontroll- hätte, ein Büro im Brandt-Haus erhalten
stelle am Bahnhof Friedrichstraße, durch wird. „Eine Art Eingabenstelle wie früher
die so viele Westler in den Osten, aber im Staatsrat“, raunt ein Genosse.
kaum Ostler in den Westen gelangten:
Meckel wird am Abend auch im Ostteil
Grauhaarige und Kahlköpfige sind darun- in der Gethsemane-Kirche gebraucht. Über
ter, Wind- und Bundjacken made in DDR. dem Eingang des Gotteshauses hängt wie
Aber auch viele ernst wirkende Jugend- vor zehn Jahren ein Transparent „Die Kirliche hocken zwischen einem Bild des so- che ist geöffnet“. Heute hält keiner mehr
zialistischen Kosmonauten Siegmund Jähn Kerzen in der Hand, kein Vopo blockiert
und der grellen Leuchtreklame für „origi- den Zutritt.
nal american beer“.
„Mensch, vor zehn Jahren war es hier
Sahra Wagenknecht, die kommunistische drin wärmer“, sagt eine Frau. „Wir waren
Sirene der Partei, sitzt auf ihrem Klapp- so viele“, erklärt sie ihrem Begleiter, „da
stuhl ganz vorn im Publikum wie auf ei- kamste erst nicht rein und zum Schluss
nem Ehrenplatz. Ein schwarzes Kleid hat nicht mehr raus.“
sie angezogen, eine silberne Kette angeAuf dem Podium vor dem Altar rekonlegt, das lange schwarze Haar hoch ge- struieren Zeitzeugen die Ereignisse jener
steckt. Ihren Mann, einen westdeutschen Tage und Nächte. Sogar der Mut des HausUnternehmer im Business-Anzug, hat sie meisters wird gelobt. Irgendwann hält es eimitgebracht. Ein Glas Rotwein in der nen Besucher in der letzten Reihe nicht
Hand, plaudert Lothar Bisky, PDS-Vorsit- mehr auf der Kirchenbank. Bernd Albani,
zender, die Bedeutung des Tages herunter: damals Pfarrer der Gemeinde, eilt ans Mid e r
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Deutschland
Wolfgang Bayer, Stefan Berg,
Andreas Wassermann,
Steffen Winter, Adrienne Woltersdorf
114
S P R AC H E N S T R E I T
Nicht mal
flüstern
Die Berliner Regierung boykottiert
EU-Sitzungen, bei denen
nicht auch deutsch gedolmetscht
wird – auch wenn die
anderen Länder das bizarr finden.
S
eit fast zwei Jahren treffen sich Finanzstaatssekretäre aus allen EUStaaten regelmäßig im meist trüben,
regnerischen Brüssel, um über die Steuerharmonisierung in der Gemeinschaft zu
beraten. Mit ihrer Sitzung in dieser Woche
soll endlich die entscheidende Phase beginnen – die Staats- und Regierungschefs
könnten dann auf dem EU-Gipfel in Helsinki im Dezember einen endgültigen Beschluss fassen.
Aus diesem besonderen Anlass boten
die Italiener den Steuerharmonisierern an,
sich diesmal im angenehmen Kurort Fiuggi
zu treffen, 70 Kilometer südöstlich von
schaft angezettelt haben. Die Weisung:
Kein deutscher Minister darf zu einem der
so genannten informellen Ratstreffen anreisen, wenn nicht auch Dolmetscherkabinen für die Sprache der Berliner Republik
aufgestellt werden. Auch Parlamentarische
Staatssekretäre und hohe Beamte sind an
den Bann gebunden. Die sprachverwandten Österreicher schlossen sich der Politik
des leeren Stuhls an. Mehrere Konferenzen
fanden seither ohne die deutschsprachigen
EU-Mitglieder statt.
Die Reise nach Fiuggi schien durch das
Entgegenkommen der Italiener gerettet zu
sein – wenn es nicht den Stolz der Spanier
verletzt hätte. Als die von der Zusage hörten, machten sie ihre Teilnahme sogleich
davon abhängig, dass auch Spanisch vollgültige Arbeitssprache sein müsse. Eine
Beschränkung auf Englisch und Französisch, so Madrid, hätte man gerade noch
hingenommen, weil Spanien erst zur EU
gestoßen sei, als diese Zweisprachigkeit
längst Praxis war. Wenn jetzt eine dritte
Sprachmacht auf den Plan trete, könne das
Spanische nicht länger zurückstehen.
Für die volle Dolmetscher-Besetzung
zum simultanen Übertragen von vier Sprachen fehlte es aber an Platz im Kurhotel.
Der Ausweg: Barbara Hendricks wurde das
Privileg zugestanden, einen
persönlichen Flüsterdolmetscher mitzubringen.
Dass Deutsch jedoch nur
leise durch die Konferenzräume säuselt, entspricht
nicht Schröders Direktive.
Auf Druck des Kanzleramtes lehnte die Steuerexpertin, die an der entscheidenden Sitzung eigentlich teilnehmen wollte, das
Ansinnen ab. Widerwillig
unterzeichnete sie einen
Absagebrief nach London
und Rom.
In einer ersten Trotzreaktion wollte sich die Mehrheit der Mitglieder ohne die
Deutschen unter Italiens Sonne versammeln. Selbst die Österreicher kündigten
Bonn die Gefolgschaft auf. Bei Treffen auf
Beamtenebene fühlten sie sich an ihren
Spracheid nicht gebunden.
Fast sah es so aus, als müssten sich die
Staatssekretäre wie gewohnt zu Brüssel im
finsteren Büropalast des Rates treffen, wo
in alle elf Gemeinschaftssprachen übersetzt werden kann. Denn Dawn Primarolo wollte unbedingt ihr Werk retten und
dazu die Deutschen dabei haben.
Da entdeckten die Italiener plötzlich im
Kurhotel von Fiuggi doch noch Platz für
vier Dolmetscherkabinen – für Englisch,
Französisch, Spanisch und Deutsch. Die
Übersetzer müssen allerdings in einem entfernten Hinterzimmer sitzen, ohne den
sonst üblichen Sichtkontakt zu den Rednern.
Winfried Didzoleit
B. BOSTELMANN / ARGUM
krofon und klagt, er vermisse heute das
„Feuer jener Tage“.
Im sächsischen Plauen brennen wieder
hunderte Kerzen vor dem Südportal der
mächtigen Lutherkirche. Diesmal ist es
eher eine Lichterkette in eigener Sache.
„Die herausragende Rolle“ der Stadt, ärgert sich Superintendent Thomas Küttler,
„ist heute in Vergessenheit geraten“.
Früher als anderswo hatte das Volk hier
auf den Straßen demonstriert. Jetzt hat
nicht mal des Kanzlers Mann für den Aufbau Ost, Rolf Schwanitz, den Weg in seinen
Wahlkreis gefunden. Zwischen kümmerlichen Grünpflanzen und HolzimitatWandverkleidung zitieren Schauspieler des
Vogtland-Theaters im Rathaus aus einem
Artikel des Zürcher „Tagesanzeigers“:
„Plauen“, so attestierte der Schweizer Beobachter in den Oktober-Wendetagen, sei
wohl der „rebellischste Kreis in der DDR“.
Auch im „Haus am Köllnischen Park“ in
Berlin-Mitte schwelgen am Abend Menschen in Erinnerungen – nur in ganz anderen. Hier hat die „Gesellschaft für Bürgerrecht und Menschenwürde“ (GBM) den
harten Kern der alten Garde versammelt.
Die frühere SED-Parteischule wird zum
Panoptikum: Hans Modrow, Egon Krenz,
Erich Honeckers Anwalt Friedrich Wolff,
der DDR-Maler Walter Womacka, selbst
die Tochter des DDR-Bestarbeiters Adolf
Hennecke – sie alle wirken wie lebende
Wachsfiguren. Wink-Elemente aus Papier
mit Hammer und Zirkel im Ährenkranz
liegen bereit.
Krenz, der in zwei Wochen den letztinstanzlichen Richterspruch über seine Beteiligung an den Mauermorden entgegennimmt, lauscht in der Oberloge andächtig
der Rede des GBM-Chefs Wolfgang Richter. Der unerschrockene Kämpfer gegen
„Siegerjustiz und Rentenstrafrecht“ hat
selbst für den letzten ersten Mann im SEDStaat noch Neues parat: die These vom
„Sozialismus unter eschatologischem Vorbehalt“. Vor der amerikanischen Versteigerung einer Fünf-Tage-Reise nach Bayern
verlässt Krenz, der einen baldigen Haftantritt fürchten muss, eilig den Saal.
In der Realschule Berolinastraße nahe
dem Alexanderplatz trifft sich die ziellos
linke Künstlerszene nach der Uraufführung
des Leander-Haußmann-Films „Sonnenallee“ zur Premierenfeier. Auf dem Schulhof sorgen Grenzbaum, Statisten in VopoUniform und eine Tschaika-Limousine mit
DDR-Stander für sozialistisches Flair,
das „Teilnehmerheft“ der Gäste enthält
Verzehrbons für Broiler und Sättigungsbeilage. Drinnen trinkt die neue, junge,
ost-west-gemischte Spaß-Gesellschaft von
Berlin-Mitte einen Prosecco auf den „komischsten Film über den Osten“ („BZ“).
Ehe der Geburtstag zur Neige geht, ist
die DDR zum Witz geworden.
EU-Dolmetscher: Kein Platz im Kurhotel?
Rom, der bekannt ist für Nierensteine ausschwemmendes Heilwasser und zuverlässige Oktobersonne.
Die britische Staatssekretärin Dawn Primarolo, wegen ihrer roten Haarpracht und
ihrer linken Vergangenheit „Red Dawn“
(Rote Dämmerung) genannt, war von dem
Ausflug höchst angetan. Doch ihre Freude
war verfrüht. Zwar vergewisserte sich die
Ausschuss-Vorsitzende Primarolo des Einverständnisses ihrer Stellvertreterin Barbara Hendricks. Die Abgesandte von Bundesfinanzminister Hans Eichel stimmte
freilich erst zu, als die Italiener eine Simultanübersetzung außer in Englisch und
Französisch auch in Deutsch garantierten.
Das nämlich ist oberstes Gebot für alle
deutschen Amtsträger, seit die Deutschen
auf Order des Kanzlers einen Sprachenstreit mit der finnischen Ratspräsidentd e r
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ACTION PRESS
zige Bundesverkehrsminister Reinhard
Klimmt einen seltsamen „Beratungsvertrag“ mit der ctt unterzeichnet.
Insgesamt erhielt der Regionalligaverein von der ctt 620 000 Mark. Das Fachpersonal des Kickerclubs sollte im Gegenzug in den ctt-Kliniken laut Vertrag
sowohl „beratend als auch praktisch tätig“
werden.
Als Gerüchte aufkamen, die SPD von
Fußballfan Klimmt habe die Kliniken des
Geldgebers ctt beim Bettenabbau geschont, meldete sich Wackernagel-Jacobs
zu Wort. Penibel listete die nach dem Regierungswechsel abgetretene Ministerin
auf, dass die ctt-Kliniken im Saarland in
den letzten Jahren 43 Betten abgebaut hätten. Das war die Wahrheit. Aber nicht die
ganze. Die Sozialdemokratin verschwieg
in diesem Zusammenhang, wie sich ihr Ministerium für die Gynäkologie stark gemacht hatte – und das bringt nicht nur sie,
sondern auch den ehemaligen Regierungschef in Erklärungsnot.
Fußballfreund Klimmt*: Pakt zwischen Profi-Sport und Kirchen-Geld
Inzwischen ermittelt die Staatsanwaltschaft in Koblenz in der Fußballclub-AffäA F FÄ R E N
re wegen des Verdachts der Beihilfe zur
Untreue gegen Klimmt. Am Freitag vergangener Woche durchsuchte die Kriminalpolizei Geschäftsräume des Fußballclubs und eine Wahlkampf-Agentur der
Saar-SPD.
Zuwendungen eines dubiosen Krankenhausunternehmers
Wie Wackernagel-Jacobs beteuerte der
für den 1. FC Saarbrücken setzen den
Verkehrsminister in der vergangenen WoVerkehrsminister Reinhard Klimmt immer stärker unter Druck. che, er habe in seiner Zeit als Ministerpräsident des Saarlandes keinen Einfluss zum
er Anruf aus dem Saarbrücker Ge- kologie-Abteilung – mit Erfolg. Weil die Vorteil von ctt-Einrichtungen ausgeübt.
Schon seit Jahren wird die Saar-SPD von
sundheits- und Sozialministerium SPD-Politikerin den Kassenvertretern eine
kam für die Führungskräfte der „bedarfsgerechte Anpassung der Kapa- den Affären ihrer Spitzenpolitiker geKrankenkassen völlig überraschend. Bar- zitäten der Frauenheilkunde“ versprach, schüttelt. Besonders wenn private Leidenbara Wackernagel-Jacobs (SPD) bestellte gaben diese klein bei. Einstweilen bleibt schaften berührt waren, bemühten sich
Genossen immer mal wieder um großdie Fachleute per Rundruf zu einem Eil- die Abteilung bestehen.
Die verhinderte Schließung bringt die zügige Unterstützung ihrer Hobbys durch
termin am 17. November vergangenen Jahderzeit ohnehin schwer gebeutelte SPD solvente Geldgeber – und wenn die Herren
res in ihr Ministerium ein.
Thema des Sondertreffens war das Akut- des Saarlandes weiter in die Bredouille. den saarländischen Fußball bedroht sahen,
Krankenhaus in Lebach, eine Einrichtung Denn Wackernagel-Jacobs hatte in der vor- legte sich der Filz auch schon mal über die
der Caritas-Trägergesellschaft Trier (ctt). vergangenen Woche öffentlich behauptet, Parteigrenzen hinweg.
Auf diese Weise geriet auch Klimmt in
Die Kassen hatten die Verträge mit der es habe „zu keinem Zeitpunkt eine Eingynäkologischen Abteilung des Hospitals flussnahme zu Gunsten des Krankenhaus- den Strudel der Affäre um die ctt. Deren
gekündigt. Weil ihnen die 40 Betten in der trägers ctt“ gegeben. Sie war damit ihrem fristlos entlassener Geschäftsführer HansJoachim Doerfert sitzt seit Mitte SeptemFrauenheilkunde und Geburtshilfe nicht ehemaligen Chef zur Seite gesprungen.
Als Präsident des 1. FC Saarbrücken hat- ber wegen des Verdachts der Untreue in
rentabel erschienen, wollten sie diese bis
te der damalige SPD-Fraktionschef und jet- Untersuchungshaft. Er soll unter anderem
zum Jahresende 1999 abbauen.
Geld der kirchennahen ctt
Innerhalb einer Frist
aufs eigene Konto gelenkt
von drei Monaten musste
haben.
sich das Ministerium zu
Doerfert war bis 1996
diesem Vorgang äußern.
Schatzmeister der CDU in
Wackernagel-Jacobs ließ
Trier – vor allem aber
sich lange Zeit. Erst am
war der ctt-Manager ein
letzten Tag der Frist interglühender Anhänger und
venierte sie. Die MinisteSponsor des Regionalligarin, das belegen Akten von
vereins Eintracht Trier.
Krankenkassen, engagierte
Wenn sein Verein gesich massiv für den Erhalt
gen Klimmts Saarbrücker
der aus Kassensicht kostspielte, zogen sich die beispieligen Lebacher Gynäden Duzfreunde bisweilen
in eine Ecke zurück und
* Bei einem Prominentenspiel in
tuschelten, so ein früheres
Saarbrücken im Juli.
Manager Doerfert, ctt-Zentrale in Trier: „300 000 Mark – Klimmt, Kabinett“
Intervention am letzten Tag
FOTOS: H. TITTEL
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Deutschland
BECKER & BREDEL
Beim Wühlen in der Doerfert-Affäre entTrierer Vorstandsmitglied, in trauter Zweideckten die Staatsanwälte eine weitere
samkeit.
Im Sommer 1997 wurde die gemeinsame Auffälligkeit. Sie fanden eine Notiz, die sie
Begeisterung für Fußball in einer großen dem ctt-Manager zuordneten und auf der
Koalition besiegelt: Klimmt, Doerfert und zu lesen war: „300 000 Mark – Klimmt, KaKlaus Meiser, CDU-Bürgermeister von binett, Marketing“.
Der Bundesverkehrsminister versichert,
Quierschied und Vize-Präsident des 1. FC
Saarbrücken, kamen sich auch geschäftlich weder er noch die SPD hätten von Doerfert auch nur einen Pfennig erhalten. Das
näher.
Klimmt und Meiser, der seit zwölf Tagen Geld der ctt, so stellt sich heraus, bekam
als Innenminister in Saarbrücken dient, stattdessen die Saarbrücker Werbeagenunterzeichneten als Präsidiumsmitglieder tur Hahn, Dittscheid, Weißmüller (HDW).
des einstigen Bundesligavereins den „Be- Diese PR-Fachleute hatten auch den letzratungsvertrag“ mit Doerfert und schufen ten Landtagswahlkampf der SPD gesomit einen eigentümlichen Pakt zwischen managt.
Der geschäftsführende HDW-GesellProfi-Sport und Kirchen-Geld. Ob dieser
Deal indes koscher war, prüft derzeit die schafter Matthias Hahn räumte vergangeStaatsanwaltschaft, die Ermittler vermu- ne Woche ein, der ehemalige ctt-Chef
Doerfert habe sich auf Empfehlung von
ten dahinter eine Scheinvereinbarung.
Die Fußballfreunde Klimmt und Meiser Klimmt mit ihm in Verbindung gesetzt.
Doerfert habe angeboten, die dabetonen, sie hätten ihre Unterschrift lediglich unter einen unveränderten Fortset- mals im alten Völklinger Stahlwerk
laufende
Ausstellung
zungsvertrag gesetzt. Als
„prometheus, menschen,
er zeichnete, sei er dabilder, visionen“ zu sponvon ausgegangen, sagt
sern. Gleichzeitig habe
Klimmt, dass der Vertrag
ihm der ctt-Mann Werbe„beiderseits ordnungsaufträge für Tochtergemäß abgewickelt wurunternehmen der Caritasde“. Und „zumindest teilGesellschaft gegeben,
weise“ habe der 1. FC
und zwar für die ÄrztliSaabrücken die zugesagche Abrechnungsstelle
ten Leistungen auch erGmbH Trier, das Parkbracht – sprich, das
hotel Weiskirchen und die
Ganze sei ein ordentliKlinik Rose AG.
ches Geschäft gewesen.
Jeder dieser Firmen
Das wird aber immer
stellte die Agentur ein
zweifelhafter. Denn der
Honorar von 100 000
FC-Manager
Günther
Mark plus MehrwertsteuHoffmann tut sich bislang
er in Rechnung. Begrünschwer, Nachweise dafür
det wurden die Forderunzu finden, dass seine Leugen mit „Sponsoring“
te für das ctt-Geld auch
und werblichen Leistatsächlich Entsprechen- CDU-Politiker Meiser
tungen.
des leisteten. Er erinnere
Der Name „Prometheus“ taucht jedoch
sich, so sagte er dem SPIEGEL, nur an einige „Vorträge“ des Club-Personals. Deut- in keiner Rechnung auf, und die Ausstellicher klingt eine Stellungnahme des jetzi- lungsveranstalter wurden niemals inforgen ctt-Vorstands Fritz Meyer: „Da die ver- miert, um wen es sich bei dem Gönner
einbarten Leistungen unseren Kliniken handelt. Die drei ctt-Töchter, sagt der neue
offensichtlich nicht bekannt gegeben wur- ctt-Chef Meyer, hätten die Rechnungen
den, sind auch keine Leistungen abgerufen zwar bezahlt, und alles sei auch ordnungsgemäß verbucht worden, aber „Gegenleisworden.“
Die ctt war auch noch mit anderen tungen sind nicht bekannt“.
Er habe, sagt Hahn, die gesamte ctt-Sumgroßzügigen Fußballfans verbandelt. So
engagierte sich der Mannheimer Bau- me, nämlich 348 000 Mark, in die Ausstelunternehmer Wilfried Gaul mit mehreren lung gesteckt. Von den Zahlungen der ctthunderttausend Mark bei Doerferts Ein- Firmen sei „kein Pfennig für den Wahltracht Trier. Gaul bestreitet allerdings, dass kampf verwendet“ worden.
Indes: Die Koblenzer Staatsanwaltschaft
diese Finanzspritze etwas mit dem Bau einer Klinik der ctt im pfälzischen Dahn zu hat neben Doerfert auch hier Klimmt im
tun habe, den sein Unternehmen aus- Visier. Sie ermittelt wegen des Verdachts
der Bestechlichkeit und der Anstiftung zur
führte.
Das ctt-Geschäft mit Klimmt und Mei- Untreue.
Und auch dieses Geld gibt die unter Fußser kann nicht nur für die beiden Politiker
unangenehme Folgen haben. Auch der ballfan Doerfert so freizügige ctt noch nicht
nach wie vor klamme 1. FC Saarbrücken verloren. Die neue Geschäftsführung prüft,
wird möglicherweise zur Kasse gebeten. ob sie möglicherweise Ansprüche auf
Die ctt prüft derzeit, ob sie die Zuwen- Rückzahlungen hat.
Felix Kurz,
dungen an den Verein zurückfordern kann.
Udo Ludwig, Wilfried Voigt
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Deutschland
Wie im Film
Ein alter Professor und ein
amerikanischer Nazi-Jäger sorgten
dafür, dass ein ehemaliger
Waffen-SS-Mann festgenommen
werden konnte.
D
as Verfahren hat Spuren hinterlassen in der Justizgeschichte etlicher
Länder: in Österreich, der DDR
und der ∏SSR, in Kanada und in der Bundesrepublik. Es wurde eingestellt, wieder
aufgenommen, abgegeben, wieder eingestellt. Mal ermittelten Staatsanwälte in
Aachen und mal in Köln, mal in Stuttgart,
mal in Dortmund. Aber die Grausamkeiten, die nahe des Polizeigefängnisses „Kleine Festung Theresienstadt“ unmittelbar
vor Ende des Krieges begangen wurden,
konnten nie gesühnt werden.
Am Mittwoch vergangener Woche aber,
54 Jahre nach dem Massaker und 35 Jahre
nach Beginn der Ermittlungen, griff die
Staatsmacht dann zu. Der pensionierte Redakteur Julius Viel, 81, wurde wegen Mordverdachts verhaftet, inmitten seiner
wöchentlichen Kegelrunde daheim zu
Wangen im Allgäu – ein später Erfolg eines
alten Professors aus Kanada und eines
Nazi-Jägers aus den USA.
Adalbert Lallier, Professor für Wirtschaftswissenschaften im kanadischen
Montreal, war als Banatdeutscher mit 17
Jahren „zur SS gezwungen worden“, wie
er sagt; er diente in der Truppe von Viel,
damals Untersturmführer der Waffen-SS.
Vor zwei Jahren hatte sich Lallier, 74,
dem New Yorker Privatdetektiv und NaziJäger Steven Rambam, 41, offenbart und
seinen früheren Vorgesetzten schwer belastet: Viel habe „willkürlich“ Gefangene
getötet – „mindestens fünf, wahrscheinlich
sieben“.
Der Tatort soll nahe Theresienstadt im
so genannten Protektorat Böhmen und
Mähren gelegen haben – hier stand das
berüchtigte Polizeigefängnis „Kleine Festung“. In der Umgebung waren im Frühjahr 1945 Soldaten einer Nachrichtenschule der Waffen-SS stationiert. Von Osten her
nahte die Rote Armee, von Westen die USArmee.
In einer Talsenke beim Ort Leitmeritz
mussten jüdische Häftlinge und Kriegsgefangene Panzergräben ausheben. Tag für
Tag wurden vom 16. März 1945 an, bewacht
von Festungspersonal, Kapos und Waffen-SS-Leuten, bis zu 1700 Mann eingesetzt.
Weil der Grundwasserspiegel sehr hoch
lag, arbeiteten die Häftlinge im tiefen Wasser. Sie gruben mit bloßen Händen. Wenn
sie schon fast kraftlos waren, mussten sie
mehrfach über die Gräben springen – man-
sehener, mehrfach ausgezeichneter Hochschullehrer.
Im tschechischen Leitmeritz hatte Ende
der vierziger Jahre das dortige Volksgericht die Vorgänge weitgehend aufgeklärt
und mehrere SS-Männer in Abwesenheit
zum Tode verurteilt. Die Staatsanwaltschaft im österreichischen Graz ermittelte
später auch. Als schließlich Dortmunder
Ermittler den Fall in die Hand bekamen,
filterten sie die Namen von über 530 Beschuldigten heraus – 168 nur konnten ausfindig gemacht werden.
Einer von ihnen hieß Viel. Er wurde
schon 1964 in Stuttgart vernommen, hatte
aber das Glück, dass ein Belastungszeuge
vor der entscheidenden Aussage starb.
Julius Viel war damals Redakteur bei einer Zeitung in Stuttgart. Nach seiner Pensionierung 1983 wurde er vom Staat geehrt: Ein enger Mitarbeiter des badenwürttembergischen Ministerpräsidenten
Lothar Späth (CDU) überreichte dem ehemaligen Waffen-SS-Mann das Bundesverdienstkreuz.
Im Herbst 1997 hörte im fernen Kanada
der Wirtschaftswissenschaftler Lallier von
der Arbeit des Nazi-Jägers Rambam, der
dort bereits mehr als 160 NS-Verbrecher
aufgespürt hatte. Rambam befragte Lallier
– und der Professor wurde zum ersten
brauchbaren Zeugen für Gräueltaten in der
Leitmeritzer Talsenke.
Zweimal wurde Lallier in
Stuttgart vernommen, mit einem Fernsehteam der Mainzer
„Report“-Redaktion (Sendetermin: diesen Montag, 21 Uhr)
kehrte er an den Ort der Massaker zurück. „Dabei haben sie
uns in der Kriegsschule immer
gesagt“, erzählte er in zitterndem Deutsch, „die Waffen-SS
schießt keinen nieder, der
unbewaffnet ist.“ Und er beklagte „die Ignoranz der Alliierten“ damals – deretwegen
Viel seinen Ruhestand in Wangen, einem hübschen Städtchen
am Alpenrand, habe genießen
können.
Am vorvergangenen WoViel, Fahnder Rambam (2. v. r.): 160 Nazis aufgespürt
chenende stellten Rambam und
die „Report“-Leute dort den
ehemaligen Waffen-SS-Mann.
Wie im schlechten Film beschüttete Viels Frau das Team
mit Wasser, um es zu verjagen.
Rambam sprach Viel auf die
Vergangenheit an, der gedrungene, weißhaarige Mann war
sichtlich geschockt. Nein, er sei
nicht der, den sie suchten, wehrte er ab: „Es muss sich um eine
Verwechslung handeln.“ Daran
glaubt der Stuttgarter Oberstaatsanwalt Kurt Schrimm freilich keine Sekunde.
che fielen vor Erschöpfung ins Wasser und
ertranken.
Anderen Gefangenen rissen Bewacher
die Mützen vom Kopf und warfen sie weg.
Wer sie sich zurückholte, wurde getötet –
„auf der Flucht erschossen“, wie das damals hieß.
Ein Häftling kniete nieder und betete.
Auf Weisung musste ein Dolmetscher übersetzen: „Er bittet Gott, ihn zu sich zu nehmen.“ Ein SS-Mann, in Theresienstadt nur
„Schwarzer Hans“ genannt, spaltete dem
Betenden mit einem Spaten den Schädel.
Wie viele Gefangene bis Ende April 1945
ermordet wurden, ist nicht genau bekannt.
Wahrscheinlich waren es mehr als 750. Später stellten Ermittler nüchtern fest, dass
die Wächter nicht nur aus „Rassenhass
getötet“ hatten – sondern auch „wahllos
aus Langeweile“.
In der zweiten Aprilwoche 1945 hätten,
sagte Lallier, Untersturmführer Viel und
er am Einsatz teilgenommen. Er habe
schon früh ausgesagt, dass sein Vorgesetzter dort gemordet habe – erst während britischer Gefangenschaft, dann gegenüber
einem Mitarbeiter des US-Militärgeheimdienstes CIC. Interessiert habe das aber
niemanden.
1951 wanderte Lallier nach Kanada aus,
sechs Jahre später wurde er dort eingebürgert. 1960 habilitierte er an der Concordia University; Lallier wurde ein ange-
ARD / REPORT MAINZ
NS-VERBRECHEN
SS-Männer Viel (l.), Lallier (Kreis): Willkürlich getötet?
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Georg Bönisch, Jürgen Teipel
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Wirtschaft
Trends
BMW
Weniger Subventionen?
A. HUB / LAIF
D
em Autokonzern BMW droht Ärger
bei seiner geplanten Zehn-Milliarden-Mark-Investition in seine britische
Tochter Rover – die EU-Kommission
wird wahrscheinlich die britischen Subventionen in Höhe von knapp 500 Millionen Mark nicht in voller Höhe genehmigen. In Brüssel ist zwar noch kein
offizieller Antrag aus London eingegangen. Angesichts der öffentlich genannten Zahlen gehen EU-Wettbewerbsexperten aber davon aus, dass London bis
an die gesetzlich mögliche Obergrenze
gehen will. Die Experten bezweifeln jedoch, dass dies im Fall BMW zulässig
ist. Theoretisch dürften die Briten die
Mehrkosten ersetzen, die BMW entstehen, wenn der Autokonzern die 100 Jahre alte Rover-Fabrik in Longbridge in
Schuss bringt, statt etwa in Ungarn ein
Bertelsmann-Konzernzentrale in Gütersloh
R AT I N G - AG E N T U R E N
Einstieg von Bertelsmann
er Medienkonzern Bertelsmann will den großen
amerikanischen Ratingagenturen Moody’s und Standard &
Poor’s (S&P) Konkurrenz machen. Geplant ist eine Allianz
mit der Nummer drei des Marktes, Fitch IBCA (New York/London). Bertelsmann soll Anteile Richter
übernehmen und für das Geschäft in Europa zuständig sein. Die Investitionen liegen bei über einer halben
Milliarde Mark. Mit eingebunden ist die
Deutsche Börse AG, die im Interesse von
börsennotierten Firmen nach Alternativen zu den beiden Marktführern aus
New York sucht. Bei Bertelsmann treibt
der Chef des Bereichs Fachinformatio-
S T E U E R FA H N D U N G
Hohe Trefferquote
A
usgerechnet in Kassel und seinem
strukturschwachen Umland kann
die Steuerfahndung große Erfolge im so
genannten Bankenverfahren vorweisen.
In mehr als 13 600 Fällen haben Bankkunden aus Kassel Gelder nach Luxemburg und in die Schweiz geschoben. Zu
fast 95 Prozent waren Sparkassen und
Genossenschaftsbanken bei der Steuer-
nen, Jürgen Richter, das Projekt voran. „Wir sind in einer
frühen Überlegungsphase“, bestätigt der Ex-Chef des Axel
Springer Verlags. Es hätten in
den vergangenen Wochen bereits Gespräche mit Großbanken stattgefunden. Das Projekt
stehe, sagt ein Bankmanager,
kurz vor dem Abschluss. In
dem Geschäft der Rating-Agenturen, die
gegen Bezahlung die Bonität von Firmen prüfen, winken Renditen von 25
Prozent. Nach dem Kauf des wissenschaftlichen Springer-Verlags würde
Richters Bereich, der derzeit umstrukturiert wird, erneut an Gewicht gewinnen: Er soll 2001 an die Börse.
TEUTO PRESS
D
flucht behilflich – nur wenige hundert
Kunden wandten sich an andere Institute. 54 Prozent aller Fälle haben die
Behörden inzwischen abgeschlossen.
Schon diese brachten dem Fiskus 155
Millionen Mark an zusätzlichen Steuereinnahmen, davon immerhin 13 Millionen Mark an Vermögensteuern. Die Beamten überprüften nicht nur den Abfluss des Geldes nach Luxemburg oder
in die Schweiz, sondern auch den Rückweg nach Deutschland. „Auf diese Weise war die Trefferquote sehr viel höd e r
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Rover-Modell 75
ganz neues Werk zu bauen. Das sind
erfahrungsgemäß 13 bis 15 Prozent der
Investition. Tatsächlich dürfte dieser
Rahmen aber keineswegs ausgeschöpft
werden. Nach EU-Recht müssen die
Kosten, die BMW in einem solchen Fall
in England entstehen würden, etwa für
Sozialpläne bei der Werkstilllegung, von
der Fördersumme abgerechnet werden:
Diese unausweichlichen Ausgaben
schmälern schließlich den Vorteil der
Alternativinvestition. Der neue Wettbewerbskommissar Mario Monti will in der
Tradition seines Vorgängers Karel Van
Miert die Subventionshöhe rigide prüfen.
her“, sagt der Chef der Kasseler Steuerfahndung Erich Franke. So werden bei
elektronischen Transfers zurück ins
Inland von den Banken so genannte
Swift-Belege angelegt, die die Klarnamen der Kunden enthalten. Zu den in
Nordhessen enttarnten Steuersündern
gehörten zwei inzwischen ausgeschiedene Landtagsabgeordnete, mehrere
Kreistagsmitglieder und einige Finanzbeamte. Auffallend hoch war auch die
Zahl von Landwirten – die kassieren
hohe Subventionen.
125
Trends
T E L E KO M M U N I K AT I O N
Angriff auf Europa
Hitler, Porsche (M., auf der Berliner Automobilausstellung 1938)
M A NAG E R
Nazi-Dokumente gestrichen
O
REUTERS
hne Anhang mit historischen Quellen muss die
jüngst erschienene „KarriereBiografie“ des VW-Chefs –
„Ferdinand Piëch – Der AutoMacher“ – der Autorin Rita
Stiens auskommen. Die ursprüngliche Fassung enthielt
Material über die Rolle des
Piëch-Großvaters Ferdinand Piëch
Porsche und seines Vaters und
damaligen VW-Chefs Anton Piëch im
Nationalsozialismus. Die Dokumente
aus dem Münchner Institut für Zeitgeschichte belegen unter anderem, dass
Porsche die NS-Machthaber
1944 darum gebeten hatte, ein
Werk zum Bau der „Geheimwaffe“, das „3 1/2 Tausend
Arbeitskräfte braucht, als
Konzentrationslager-Betrieb zu
übernehmen“. Hans-Dieter
Haenel, Chef des Wiesbadener
Gabler-Verlags (Bertelsmann),
ließ den Dokumentenanhang
kurz vor Drucklegung streichen, da er ihm zu einseitig erschien:
„Es hat keinen Sinn, nur eine Facette
des Buches mit einem historischen Anhang zu versehen.“
ur wenige Tage nachdem MCIWorldCom-Chef Bernie Ebbers mit
rund 235 Milliarden Mark das größte
Übernahmeangebot in der Wirtschaftsgeschichte für die US-Telefongesellschaft Sprint platziert hat, schreckt der
Selfmade-Manager nun auch die europäischen Telefongesellschaften auf.
Schon in kurzer Zeit, so Ebbers, wolle
WorldCom in Europa ein ähnlich leistungsstarkes Telefonnetz aufbauen wie
in den USA. Die Chancen, Unternehmen wie der Deutschen Telekom oder
der spanischen Telefónica Marktanteile
abspenstig zu machen, hält er für hervorragend: Das europäische Telefongeschäft sei nach wie vor von schwerfälligen ehemaligen Staatsmonopolisten beherrscht. Die meisten von ihnen, spottet
Ebbers, hätten im Falle eines Übernahmeversuches durch eine US-Gesellschaft „kaum eine Überlebenschance“.
REUTERS
AP
N
Ebbers
MUSIKINDUSTRIE
Streit um CD-Brenner
ine hohe Sonderabgabe auf CD-Kopiergeräte („CD-Brenner“) wollen
die Plattenfirmen, Musikverlage und
Künstler in einem Musterverfahren erkämpfen. Setzt sich die Musikbranche
durch, müssen die Hersteller der CDBrenner pro verkauftem Gerät rund
20 Mark zahlen. Der Obolus soll pauschal die bislang beim illegalen CDÜberspielen von Musiktiteln und Videosequenzen unbezahlt gebliebenen Urheberrechte ausgleichen – CDs von
Popstars wie Britney Spears werden
häufig lieber billig kopiert als teuer gekauft. Im ersten Halbjahr war der Umsatz von Musik-CDs in Deutschland immerhin um zehn Prozent (220 Millionen
Mark) zurückgegangen. In dem Musterverfahren vor dem Patent- und Markenamt in München verlangt die Zentralstelle für private Überspielungsrechte,
eine Inkasso-Firma von Verwertungsgesellschaften wie der Gema, vom Her126
MISSION PICTURES / ACTION PRESS
E
steller Hewlett-Packard rückwirkend zum 1. Februar 1998
exakt 20,5o Mark für jedes in
Deutschland verkaufte
Gerät. Hewlett-Packard lehnt
solche Pauschalabgaben, wie
sie in den sechziger Jahren
für Tonbandgeräte eingeführt worden waren, komplett ab. Die Musikindustrie
solle lieber selbst die Kontrolle über unliebsame Raubkopien zurückgewinnen, argumentiert die beauftragte
Münchner Anwaltskanzlei
Poll & Ventroni. Moderne
Verschlüsselungstechniken
erlaubten es, so die Juristen
in einem Schriftsatz, bestimmte „private Vervielfältigungen wirkungsvoll zu kontrollieren und individuell abzurechnen, ohne in die Privatsphäre der Nutzer einzugreifen“.
Spears
Zocken auf Pump
2,4
Börsenkredite und Dow-Jones-Index
2,2
10 000
Geld
2,0
GOLDMINEN
Neuer Glanz
1,8
1,6
1,4
1000
1,2
im unteren Wertbereich
gestreckte
Skala
1,0
0,8
0,6
100
0,4
Dow-Jones-Index
Quelle: The Bank Credit
Analyst Research Group
jeweils Jahresendwerte
1930
1940
1950
1960
1970
US-Börsenkredite in Prozent des
Bruttoinlandsprodukts
1980
1990
D
ie Hausse auf dem Goldmarkt kam
überraschend und massiv: Vor
knapp drei Wochen wurde die Feinunze
Gold noch für gut 250 Dollar verkauft,
seit Ende September kostet sie deutlich
mehr als 300 Dollar. Der Preissprung
wurde durch die Entscheidung von 15
europäischen Zentralbanken ausgelöst,
in den nächsten fünf Jahren jährlich maximal 400 Tonnen Gold aus ihren Beständen zu verkaufen. Noch drastischer
als der Goldpreis stiegen die Aktienkur-
2000
W E LT B Ö R S E N
Solide Werte suchen
I
GAMMA / STUDIO X
mmer eindringlicher warnen Ökonomen vor Übertreibungen an den Finanzmärkten. An der Wall Street habe sich eine „klassische Spekulationsblase“ gebildet, glaubt etwa der amerikanische Professor John Kenneth Galbraith, 90, und
erinnert an den großen Krach von 1929. Es gibt in der Tat einige Ähnlichkeiten. So
kaufen immer mehr Anleger ihre Aktien auf Pump. In den USA liegt die Beleihung
von Aktien, gemessen am jeweiligen Bruttoinlandsprodukt, inzwischen so hoch wie
zuletzt in den dreißiger Jahren (siehe Grafik). Solche Werte deuten zumindest auf
eine „Überspekulation“ hin, meint der Münchner Vermögensverwalter Jens Ehrhardt, vor allem Technologieaktien und Internet-Titel seien „hoffnungslos überbewertet“. Der Börsenwert der Firma Priceline.com etwa, die Flugtickets über das
Internet verkauft, sei zeitweise höher gewesen als der Wert der US-Fluglinien Delta, United, USAir, Alaska Air und Continental zusammen. Die Anleger sollten an
den Weltbörsen wieder nach soliden Werten suchen, rät der Experte Ehrhardt, nach
Aktien mit hoher Substanz, erstklassiger Bilanz und ordentlichen Renditen.
Goldpreis und -aktien
130
Januar 1999 = 100
120
Goldpreis
110
GoldminenAktien-Index
MSCI
Quelle: Datastream
Goldwäscher in Brasilien
100
Lateinamerikanische Aktienindizes
in tausend
6,5
Mexiko
6,0 IPC
600
5,5
550
5,0
500
4,5
450
4,0
400
3,5
3,0
350
1999
J F M A M J J A S O
L AT E I NA M E R I K A
Ende der Krise?
N
90
650
ach dem Aufschwung an den asiatischen Börsen scheinen auch die
Aktien aus lateinamerikanischen
Schwellenländern an Attraktivität zu
gewinnen. Zwar sind nach dem Höhepunkt im Frühsommer die Kurse an den
wichtigsten mittel- und südamerikani-
300
Argentinien
Merval
Quelle: Datastream
in tausend
13
12 Brasilien
Bovespa
11
10
9
8
7
6
5
1999
4
J F M A M J J A S O
1999
J F M A M J J A S O
schen Börsen gesunken, doch zunehmend mehr Fondsmanager glauben an
einen steilen Anstieg der so genannten
Emerging Markets. Besonders optimistisch ist Fleming, eine der weltweit
größten Fondsgesellschaften. Nach Ansicht des Londoner Emerging-MarketExperten Michael Hughes seien die
Kurschancen besser als in den Industriestaaten, die Schwellenländer stünden
„erst am Beginn einer lang anhaltenden
und markanten Aufwärtsbewegung“.
d e r
s p i e g e l
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1999
Jan. Febr. März April Mai Juni Juli Aug. Sept. Okt.
se der Goldminen: Der MSCI-Goldminen-Index legte seit Mitte Juli um rund
50 Prozent zu. Aber Mine ist nicht
gleich Mine: Die Gewinnspanne ist größer, wenn sich eine Minengesellschaft
nicht oder nur wenig durch Termingeschäfte gegen Kursschwankungen abgesichert hat. Peter Dupont, MetallAnalyst bei der Commerzbank, empfiehlt südafrikanische Unternehmen.
Diese haben einen geringeren Teil der
künftigen Produktion zu den alten
Niedrigpreisen verkauft als die Konkurrenz. Der südafrikanische Goldproduzent Anglo American etwa schaffte seit
Anfang des Jahres einen Kurssprung um
mehr als 100 Prozent. Allerdings sieht
Dupont nicht mehr viel Spielraum:
„Nur wenn der Goldpreis weiterhin
oben bleibt, könnte sich ein Einstieg in
die Minenbranche noch lohnen.“
127
Wirtschaft
VERMÖGEN
Stifter, Spender, Steuersparer
Die Koalition will das Stiften erleichtern, nach dem Vorbild der USA. Dort werden
Museen, Universitäten und soziale Einrichtungen von gemeinnützigen Stiftungen finanziert. Doch
werden Steuererleichterungen die deutschen Reichen dazu bewegen, ihr Geld zu verschenken?
AP
Staat von allerlei Aufgaben
entlasten.
Vergangene Woche leiteten
die beiden Regierungsfraktionen einen gemeinsamen Gesetzentwurf an das Bundesfinanzministerium zur Prüfung
weiter. Bis Weihnachten, so
der Plan der Koalitionäre, soll
die Novelle des Stiftungsrechts
in den Bundestag eingebracht
werden. Sie soll die Portemonnaies der Reichen in der
Bundesrepublik ein Stückchen
weiter öffnen.
Wenn sich schon Zwangsmaßnahmen wie eine Vermögensabgabe gegen die Verfassung nicht durchsetzen lassen,
soll die wachsende Schar der
Millionäre eben freiwillig einen Teil ihres Geldes abgeben.
„Trotz ihres erheblichen Wohlstandes“, so der Gesetzentwurf, „bleibt die Stiftungsfreudigkeit der Deutschen weit
hinter dem Engagement im
angloamerikanischen Raum
zurück.“ Nicht simple Spenden sind gefragt, sondern gesellschaftlicher Einsatz in Form
von neuen Stiftungen, die sich
möglichst dort engagieren sollten, wo der Staat sparen muss:
bei Armenhilfe, Kultur und
Wissenschaft.
Die Grünen wollen deshalb
das teilweise noch aus dem
vorigen Jahrhundert stammende Stiftungsrecht reformieren. Stiften soll einfacher
und billiger werden. Nach dem jüngsten
Entwurf
π muss eine Stiftung nur noch registriert
werden wie ein Verein. Eine staatliche
Genehmigung ist nicht mehr nötig;
π darf jeder Deutsche bis zu 20 Prozent
seines Einkommens unversteuert an
eine Stiftung abgeben dürfen statt bisher nur 10, allerdings nur bis zu einer
Höhe von 50 000 Mark;
π dürfen Stiftungen ein Drittel statt bisher ein Viertel ihrer Erträge einbehalten und damit ihr Kapital aufstocken.
Stifter Turner (M.)*: Eine Milliarde Dollar für eine Uno-Stiftung
D
ie Geschichten klingen wie Märchen: Vor drei Jahren vermachte
der Computerunternehmer David
Packard seiner Stiftung eine Spende von
fünf Milliarden Dollar für Umweltschützer, Ozeanforscher und den Bau von Aquarien. Ein Jahr später versprach der Medienzar Ted Turner, sonst eher für raue
Sprüche und hartes Business bekannt, eine
Milliarde Dollar für eine neue Uno-Stiftung. Und vor knapp einem Monat trenn* Bei der Bekanntgabe seiner Spende am 18. September
1997 in New York.
128
te sich der Software-König Bill Gates erneut von ein paar Milliarden Dollar und erhöhte damit das Vermögen seiner Stiftung
auf 17 Milliarden.
Solche amerikanischen Verhältnisse
wünschen sich die Koalitionsfraktionen
von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auch
in Deutschland. Ausgerechnet die beiden
Parteien, in denen die Staatsgläubigkeit
traditionell fest verankert war, trennen sich
von alten Glaubenssätzen. Künftig sollen
sich Private mehr für Wohlfahrt, Bildung
und Sport engagieren können und damit,
so auch einer der Hintergedanken, den
d e r
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H. MÜLLER-ELSNER / AGENTUR FOCUS
Guggenheim-Museum in New York
M. O’NEILL / CORBIS-OUTLINE
Schon hofft die Regierung auf einen reichen Spendenboom. Wenn Gewinne und
Börse fleißig weitersteigen, so prophezeit
Kulturstaatsminister Michael Naumann,
würden sich dank des neuen Gesetzes auch
die Geschenke an Museen, Theater oder
Kunsthallen verdoppeln, auf eine Milliarde
Mark.Auch der grüne Finanzpolitiker Klaus
Müller erwartet reichen Stiftungssegen:
„Wir wollen vermögende Bürger bei ihrem
Ehrgeiz, notfalls bei ihrer Eitelkeit packen.“
Wie so etwas funktionieren kann, wollen
die Politiker jenseits des Atlantiks ausgemacht haben. Die Zahlen klingen beeindruckend: Während die zehn größten deutschen Stiftungen, an der Spitze die RobertBosch-Stiftung, gerade über ein Vermögen
von 19,21 Milliarden Mark verfügen, bringen es die Top Ten Amerikas auf umgerechnet 151 Milliarden Mark. Sie fördern
die Krebsforschung oder die Entwicklung
von Impfstoffen gegen Aids, bauen Sportstadien oder Bibliotheken. Sie sponsern
Forscher oder Aquarien und zahlen Kindern in New Yorks Armenviertel South
Bronx Schulausbildung oder zumindest die
Basketballsneaker.
Etliche Großstädte des mittleren Westen
wären kulturelle Wüste, würden sich nicht
Stiftungen und Spender um das Sinfonieorchester, Museen oder Konzerthallen
kümmern. Die Stiftung des PharmazeutikKonzerns Eli Lilly finanzierte allein in Indianapolis unter anderem das Football-Stadion, den Tierpark, eine Versammlungshalle, die Symphonie, einen Tennispark
und ein Kindermuseum. Aber auch New
York wäre ohne Stiftergeld beispielsweise
um das Guggenheim-Museum ärmer.
Über 40 000 Stiftungen gibt es in den
USA, mehr als fünfmal so viel wie in der
Bundesrepublik. Das größere Land und
die kräftigere Wirtschaft eingerechnet, sind
die amerikanischen Stiftungen noch immer anderthalb- bis zweimal so finanzstark
wie in Deutschland.
Ob sich das so schnell aufholen lässt, ist
allerdings fraglich. Stiftungsforscher wie
der Deutsche Stefan Toepler, der an der
Johns Hopkins University in Baltimore
forscht, begrüßen die Reform, warnen allerdings vor zu hohen Erwartungen. Schon
seit den Gründerjahren gibt es in Amerika
AP
Viele Städte wären kulturelle Wüste
ler, der selbst schon als kleiner Angestellter ein Zehntel seines Einkommens abgab, erklärte: „Jeder,
der reich stirbt, stirbt schändlich.“
Viele ihrer Nachahmer indes
waren weniger nobel. Sie nutzten
ihre Stiftung, um ihr Image aufzubessern oder schlicht Steuern zu
sparen. In den USA ist die Erbschaftsteuer weit höher als in
Deutschland. Da fällt es leichter,
das Vermögen quasi zu verschenken – und die Familie durch hoch
dotierte Jobs in der Stiftung zu versorgen. Andere Stiftungen gaben
der Stifterfirma gewaltige Darlehen, fast zum Nulltarif. Per Steuerreform beendete die Regierung
1969 den gröbsten Missbrauch.
Großzügige Steuergesetze erleichtern noch heute das Geben,
aber nicht unbedingt die Schaffung
von Stiftungen. Während die Deutschen höchstens 10 Prozent ihres
Jahreseinkommens steuerfrei spenden können, dürfen die Amerikaner
die Hälfte ihres Verdienstes unversteuert weggeben, allerdings nur 30
Prozent an Stiftungen.
Dennoch steht es auch im Musterland der Spender um die Stiftungen nicht gerade zum Besten.
Denn Gates, Turner und Packard
sind Ausnahmen, die Mehrzahl der
neuen Reichen, die vom Börsenund Hightech-Boom der vergangenen Jahre profitiert haben, erweisen sich im Vergleich zu den Rockefellers und Carnegies als Knauser.
Den wenigsten der neuen Milliardäre steht der Sinn nach Philanthropie.
Immer mehr Stiftungen dienen
eher dem Ego des Gründers als
wirklich Notleidenden. Sie finanzieren Professuren, Säle oder Gebäude von Business Schools, nicht
unbedingt die bedürftigsten Institutionen des Landes. Die University of Columbia etwa bietet das Namensschild ihrer Business School
für 60 Millionen Dollar feil. Gemessen an ihren rasch wachsenden
Vermögen sinkt der Prozentsatz der Spenden und Stiftungsabgaben von Millionären.
Stiftungen haben ohnehin nur einen Anteil
von neun Prozent an den Wohltätigkeitsspenden. Auch Universitäten wie die Harvard School bekommen kaum mehr als
zehn Prozent ihrer Milliardengeschenke
von Stiftungen, den Rest zahlen Ehemalige und Firmen.
Den Großteil der Spenden erbringen
auch in den USA ganz normale Bürger.
Über die Hälfte der Wohltätigkeitsausgaben
wird von Leuten mit einem Jahreseinkommen von weniger als 50 000 Dollar finanziert.
Mathias Müller von Blumencron,
Stifter Rockefeller (1911), Gates (mit Vater)
„Jeder, der reich stirbt, stirbt schändlich“
ein anderes Verständnis von zivilem Engagement, gilt Nächstenhilfe eher als Privatsache denn als Staatsaufgabe.
Die Stiftungen in Schwung gebracht hatten Anfang dieses Jahrhunderts ausgerechnet die so genannten Räuberbarone
und ihre Kumpels. Industrielle und Ölmagnaten wie John D. Rockefeller oder
Andrew Carnegie hatten riesige Privatvermögen angehäuft. Sie hatten ihre Arbeiter geknechtet, die Umwelt verwüstet
und rücksichtslos ihre Geschäfte betrieben. Nun wollten sie sich als Gutmenschen
erweisen.
Tatsächlich verschenkten Carnegie und
Rockefeller Millionenvermögen. Rockefeld e r
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Andrea Marx
129
M. EBNER / MELDEPRESS
Wirtschaft
Rentenreformer Riester (l., beim Kanzlerfest in Berlin): Wie die Haftpflichtversicherung beim Auto
RENTEN
Drei gegen Schröder
Der Plan von Walter Riester, das private Sparen fürs Alter zur
Pflicht zu machen, erlebt eine erstaunliche Renaissance.
Erwärmt die Regierung sich wieder für die „Zwangsrente“?
O
hne sonderlichen Schwung, fast ein
wenig lustlos, trug Walter Riester
am Mittwoch vergangener Woche
seine neuesten Ideen zur Rentenreform
vor. Hier und da wolle er ein paar Mark
verteilen, die Arbeitnehmer mit Zuschüssen zur Altersvorsorge animieren.
„Halbherzig“ wirkte der Arbeitsminister
auf seine Gäste, die er im SPD-Fraktionsvorstandszimmer des Berliner Reichstages
empfing. Dort diskutierte eine Delegation
der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, angeführt von Präsident Dieter Hundt, mit der SPD-Fraktionsspitze darüber, wie sich die maroden
Rentenkassen sanieren lassen.
Riesters Zögerlichkeit hat einen Grund:
Der Blüm-Nachfolger weiß nur zu genau,
Staat und privat
15 %
aus obligatorischer Zusatzversicherung
10 %
85 %
Deutschland
Quelle:
Deutsches
Institut für
Altersvorsorge
Einkommen von Rentnerhaushalten (zwei Personen) 1998
aus gesetzlicher Rente/Grundsicherung
130
dass sein Plan, die private Vorsorge mit bis
zu 250 Mark jährlich zu fördern, die Krise
der Rentenversicherung nicht wirklich löst.
Am liebsten würde er deshalb seinen alten
Vorschlag wieder beleben, der zur privaten
Vorsorge fürs Alter verpflichtet.
Als das Konzept im Juni erstmals an die
Öffentlichkeit drang, wurde es schnell als
„Zwangsrente“ diffamiert. Doch derzeit
erlebt es in vielen Zirkeln der Koalition
eine erstaunliche Renaissance, immer mehr
grüne und sozialdemokratische Parlamentarier sympathisieren inzwischen damit.
Auch im Kabinett steht Riester nach dem
ersten Aufschrei in der Öffentlichkeit, der
alle zurückschrecken ließ, nicht mehr allein. Als Erster schlug sich Hans Eichel auf
die Seite des Arbeitsministers: Der Staat,
so forderte der Finanzminister, dürfe „die
private Eigenvorsorge nicht allein in das
Belieben jedes Einzelnen stellen“. Nun bekundet auch Wirtschaftsminister Werner
Müller im SPIEGEL-Gespräch (siehe Seite 26): „Wenn Appelle, fürs Alter vorzusorgen, nichts fruchten, dann müsste die
Regierung eben ein bisschen nachhelfen.“
Damit hat sich eine erstaunliche Allianz
formiert: Jene drei Minister, die in der Wirtschafts- und Sozialpolitik den Ton angeben, sind sich über den Kern der angekündigten großen Rentenreform einig. „Jetzt
müssen wir“, sagt ein Regierungsbeamter,
„den Kanzler überzeugen.“
Gerhard Schröder mochte das heikle
Thema bislang nicht anpacken. Im Juni
gönnte das Kanzleramt dem Riester-Plan
ganze zwei Tage der öffentlichen Diskussion. Spätestens als die „Bild“-Zeitung eine
„Wutwelle“ auf Bonn zurollen sah, war
Schröder klar: Das Konzept verschwindet
wieder in der Schublade.
Letztlich geht es in der neu entfachten
Debatte um eine Grundsatzfrage. Alle Parteien haben erkannt, dass die staatliche
Rente allein künftig nicht mehr ausreichen
wird. Das Umlageverfahren, das die Beiträge der aktiven Arbeitnehmer direkt an die
25 %
aus freiwilliger Vorsorge
10%
65%
40%
Großbritannien
50%
Niederlande
d e r
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4 1 / 1 9 9 9
42%
45%
26%
42 %
13%
32%
USA
Schweiz
Werbeseite
Werbeseite
Wirtschaft
VARIO-PRESS
derzeitige Rentnergeneration weiterreicht,
Am nächsten kommt dem ursprünglibedarf der Ergänzung durch eine kapital- chen Riester-Plan das Modell, das die
gedeckte Altersvorsorge, es soll also privat Schweden ab diesem Jahr einführen. Die
Geld zurückgelegt werden. Doch wie?
Skandinavier müssen 2,5 Prozent ihres
Grundsätzlich gibt es zwei Varianten:
Lohns in eine private Zusatzabsicherung
π Der Staat kann die private Eigenvorsor- abführen; Gleiches strebt der deutsche Arge für alle zur Pflicht erklären. Denn beitsminister an. Dabei haben die Schwenicht jeder sieht die Notwendigkeit, den weitgehend freie Wahl, wo sie Geld
selbst für das Alter vorzusorgen; viele anlegen, ob nun in Staatsanleihen, Aktien
geben ihr Geld lieber heute als morgen oder in einem Investmentfonds. „Das muss
aus. So fallen diejenigen, die nicht aus- jeder selber wissen“, sagt Jens Henriksreichend vorgesorgt haben, wieder der son, der Chefberater des Finanzministers.
Staatskasse zur Last, was ja gerade verDamit sich nicht unseriöse Anbieter ins
mieden werden soll.
Geschäft drängen, denken Riesters Mitarπ Alternativ könnte die
beiter bereits über eine Art
Regierung auf die EinGütesiegel nach. Nach welsicht der Menschen verchen Kriterien dieses vertrauen. Wer fürs Alter
geben wird, ist noch offen.
spart, dem hilft der Staat
Heikel ist auch die Frage,
mit steuerlichen Anreiwer gegebenenfalls konzen oder Zuschüssen.
trolliert, ob jeder seiner
Sollen später alle eine
Sparpflicht nachkommt.
Extrarente beziehen,
Zwang oder Freiwilligmüssen die Anreize aber
keit – der Streit um das
sehr attraktiv sein: Jeder
richtige Modell zieht sich
muss befürchten, etwas
inzwischen quer durch alle
zu verschenken, wenn er
Parteien und Fraktionen. In
auf das Angebot nicht
der SPD sind vor allem die
eingeht.
Sozialpolitiker noch skepDoch diese Form der Förtisch. „Den Menschen mit
geringem Einkommen könderung kann sehr teuer SPD-Politiker Schwanhold
nen wir das nicht zumuwerden. Deshalb plädieren
selbst Ökonomen, die als wirtschaftsliberal ten“, meint Ulla Schmidt, die rentenpolitigelten, für die obligatorische Variante. „Ein sche Sprecherin der Bundestagsfraktion.
„Das ist der richtige Weg“, glaubt hinsolcher Zwang ist nichts Ungewöhnliches
in der Marktwirtschaft“, meint Manfred gegen Ernst Schwanhold, stellvertretenNeumann,Wirtschaftsprofessor an der Uni- der Fraktionsvorsitzender und SPD-Wirtversität Bonn, „bei der Haftpflichtversi- schaftsexperte: „Ich habe etwas gegen den
cherung fürs Auto gilt dasselbe Prinzip. Begriff Zwangsrente, nichts aber gegen
Wichtig ist nur, dass jeder frei zwischen un- den Inhalt.“
Genauso sehen das die bündnisgrünen
terschiedlichen Anbietern wählen kann.“
Schon vor eineinhalb Jahren forderte Parlamentarier Oswald Metzger und MatNeumann zusammen mit rund zwei dut- thias Berninger. Während ihr Fraktionschef
zend Kollegen, die dem Wissenschaftlichen Rezzo Schlauch am Beschluss der Fraktion
Beirat des Wirtschaftsministeriums an- festhält, der im Juni zur vorläufigen Rückgehören, die Regierung in einer Expertise nahme von Riesters Vorschlag führte, verauf, das bisherige Umlageverfahren durch weisen die beiden Haushaltsexperten auf
eine obligatorische Vorsorge zu ergänzen. die Vorteile der Riesterschen Richtung, vor
Denn was in Deutschland als verpönt allem aber würden neue Ausnahmen im
galt, ist in vielen europäischen Ländern Steuerrecht vermieden.
Nicht einmal in der Union sind alle eilängst Standard (siehe Grafik Seite 130).
Fast überall, wo sich Regierungen an eine ner Meinung. Während Parteichef WolfRentenreform heranwagten, haben sie das gang Schäuble das hohe Lied auf die freie
zusätzliche Sparen zur Pflicht gemacht; Entscheidung singt („Das entspricht unsenur firmiert die „Zwangsrente“ („Bild“) rer Weltsicht“), kann sich Christian Wulff,
der Vorsitzende der CDU-Reformkommismeist unter einem attraktiveren Namen.
So setzen die Niederländer auf das sion „Sozialstaat 21“, eine Sparpflicht
„Cappuccino-Prinzip“. Die staatliche Si- durchaus vorstellen – allerdings nur, wenn
cherung entspricht dem Kaffee, die zu- vorher durch niedrigere Abgaben der
sätzliche obligatorische Vorsorge, die über Spielraum dafür geschaffen wird.
Angesichts der leeren Staatskassen
den Arbeitgeber abgeführt wird, der aufgeschäumten Milch, und obendrauf gibt’s glaubt Wirtschaftsprofessor Neumann, dass
noch Schokostreusel für jene, die freiwillig den Politikern in Wirklichkeit ohnehin keiprivat vorsorgen. Auch die Schweizer führ- ne Wahl bleibt. „Wenn die Zusatzversorten das Pflichtsparen bereits Mitte der gung keinen Zwangscharakter hat, dann
achtziger Jahre ein. Eidgenössische Unter- muss die Politik subventionieren“, sagt er.
nehmen gewähren ihren Mitarbeitern da- „Das wäre doch nur wieder Umverteilung,
bei für jeden Franken, den diese zurückle- und die kostet Geld.“Christian Reiermann,
Ulrich Schäfer
gen, einen ebenso hohen Zuschuss.
132
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Werbeseite
Werbeseite
Wirtschaft
A F FÄ R E N
Umweg über Liechtenstein
gen. Aus Unterlagen, die dem SPIEGEL
vorliegen, ergibt sich der Verdacht, dass
Habibie 1993 über den Umweg Liechtenstein 200 000 Mark von Ferrostaal auf sein
Privatkonto bei der Deutschen Bank
Hamburg überwiesen wurden. Ein weiteres
Dokument von 1991 belegt, dass FerrostaalChef Menges 200 000 Mark Rahardi Ramelan zukommen ließ, dem jetzigen Industrie- und Handelsminister Indonesiens.
Nach Angaben eines Ferrostaal-Managers steckt hinter den Zahlungen ein Auftrag zum Ausbau des Stahlwerks Krakatau
Steel in Indonesien, das Ferrostaal Jahre
zuvor zusammen mit Klöckner, Siemens
und anderen aufgebaut hatte. Habibie, damals Staatsminister für Forschung und
Technologie, wolle mit ehrgeizigen Plänen
die Industrie des Landes ausbauen. Er
habe, zusammen mit seinem damaligen
Vertrauten Ramelan, die Auftragsvergabe
an Ferrostaal unterstützt.
Spuren führen ins Steuer- und Anlegerparadies Liechtenstein. Ein Buchungsbeleg des Ferrostaal-Konzerns (Beleg Nummer 759781) vom 20. März 1991 weist aus,
dass der Essener Konzern 900 000 Mark an
Indonesiens Staatspräsident Habibie: Privatkonto bei der Deutschen Bank Hamburg
Ferrostaal-Chef Menges
Gute Geschäfte mit Indonesien
„Eb. Grammont“ im liechtensteinischen
Hauptort Vaduz überwies zur „Umbuchung der Prov. Zahlung“.
„Eb.“ ist offenbar die Abkürzung für
„Etablissement“, und dieser Begriff steht
für Anstalt. Die liechtensteinische Anstalt ist
ähnlich wie die liechtensteinische Stiftung
eine Rechtsform, bei der öffentlich nicht ersichtlich ist, wem die Firma gehört. Sie ist
zwar eingetragen in dem jedermann zugänglichen Öffentlichkeitsregister. Doch
dort sind nur die Verwaltungsratsmitglieder genannt,
meist Vertreter einer Anwaltskanzlei, die für eine ganze
Reihe von Stiftungen und Anstalten sprechen.
Wem eine Anstalt wie
Grammont gehört, von wem
das Geld ursprünglich stammt,
das sie auf andere Konten
überweist, ist üblicherweise
nicht nachzuvollziehen.
Dem SPIEGEL liegt jedoch
eine Aktennotiz vor, nach
der Dr. Menges bei der
Grammont dem Wechsel des
Verwaltungsrats zustimmen
musste. Herbert Batliner, der
Seniorchef einer liechtensteinischen Anwaltskanzlei, die
auf Stiftungen und Anstalten spezialisiert ist, wurde
durch Hans Gassner und Mario Simmen ersetzt. Einem
solchen Wechsel müssen nur
Männer zustimmen, die das
Sagen bei der Grammont
haben.
Zudem gab der FerrostaalChef der Aktennotiz vom
AP
B
acharuddin Jusuf Habibie hat mächtige Gegner. In der Hauptstadt Jakarta demonstrieren oft zehntausende gegen den indonesischen Präsidenten. Der Internationale Währungsfonds und
die Weltbank sperrten erst einmal jede Finanzhilfe an das 209-Millionen-Volk, solange der Verbleib von 70 Millionen Dollar
der Bank Bali nicht geklärt ist. Und die
Oppositionsparteien wollen Habibie bei
den bevorstehenden Präsidentenwahlen
aus dem Amt heben.
Doch Habibie, der in Aachen studierte,
bei MBB arbeitete und noch immer Heimweh nach seinem einstigen Wohnort Kakerbeck bei Stade verspürt, hat auch viele
Geschäftspartner und Freunde, vor allem in
Deutschland, wo er 19 Jahre seines Lebens
verbrachte. Der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Hans-Olaf
Henkel, zählt dazu und Klaus von Menges,
der Habibie seit den Studienzeiten kennt
und später als Chef der MAN-Tochter Ferrostaal eine ganze Reihe guter Geschäfte
mit Indonesien abschloss.
Die Beziehung zu Menges könnte Habibie jetzt aber eine Menge Ärger einbrin-
D. HOPPE / NETZHAUT
Der Ferrostaal-Konzern hat – darauf weisen dem SPIEGEL
vorliegende Belege hin – Bacharuddin Habibie, mittlerweile
Präsident von Indonesien, 200 000 Mark zukommen lassen.
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Wirtschaft
Zahlungsdokumente
„Bitte überweisen Sie DM 200 000,00“
10. Februar 1993 zufolge in einer „persönlichen Besprechung“ auch Anweisungen
für Geldzahlungen der Grammont: „Dr.
Menges wünscht, dass wir zu Lasten des
DM-Callkontos folgende Vergütungen veranlassen: DM 200 000,-- an B. Hababie, c/o
Deutsche Bank Hamburg“. Ein „B. Hababie“ ist in Hamburg unbekannt. Ein Bacharuddin Habibie verfügt jedoch über ein
Konto bei der Deutschen Bank in Hamburg (Nummer 12 04 700).
Ferrostaal und Dewi Fortuna Anwar,
Staatssekretärin und Pressesprecherin von
Präsident Habibie, nehmen zu den Vorgängen, mit denen sie konfrontiert wurden, keine Stellung.
Der indonesische Präsident hat wegen
der bevorstehenden Präsidentenwahl und
den Unruhen auf Osttimor größere Sorgen als eine 200 000-Mark-Zahlung von
Liechtenstein nach Hamburg. Dennoch
könnte die Transaktion höchst unangenehme Folgen haben.
Für viele Indonesier ist Habibie wegen
seiner Freundschaft zum Vorgänger Suharto ein Repräsentant des alten Systems
„und steht damit für Korruption und Vetternwirtschaft“ („Wirtschaftswoche“). Vorwürfe, Habibie habe in seiner Zeit als Minister, in der er für zehn strategisch wichtige Branchen wie Flugzeugbau, Werften
und Munitionsfabriken zuständig war, sich
selbst und seine acht Geschwister bereichert, gab es immer mal wieder. Die Familie verfügt über ein kleines Firmenreich.
Beweise für Korruption fanden sich nicht.
Die Zahlung der liechtensteinischen Anstalt auf das Privatkonto Habibies in Hamburg ist heikel, vor allem, weil Habibie wegen seines Einsatzes für deutsche Firmen in
Indonesien bereits häufiger kritisiert wurde. „Was wir erleben“, klagt beispielsweise das Wirtschaftsmagazin „Pilar“, „ist
eine Art Germanisierung der indonesischen Wirtschaft.“
d e r
Deutsche Konzerne sind meist
vorneweg dabei, wenn Indonesien
Aufträge für den Bau einer eigenen Luftfahrtindustrie, für Schiffe oder Telekommunikationseinrichtungen vergibt. Indonesien
wiederum ist der drittgrößte Empfänger deutscher Entwicklungshilfe. Viele Großaufträge werden
über die Kreditanstalt für Wiederaufbau finanziert.
Die Opposition wird jetzt fragen, ob Habibie seine Rolle als
Marktöffner für die deutsche Industrie nicht nur wegen seiner
Verbundenheit zum einstigen
Gastland gespielt hat, sondern
möglicherweise auch wegen persönlicher Vorteile.
Die Frage stellt sich auch bei
Habibies Industrie- und Handelsminister Ramelan. „Bitte
überweisen Sie DM 200000,00 auf
das Konto des Herrn Rahardi Ramelan bei der Deutschen Bank Asia in Singapore, Konto-Nr. 2590693-04“, verfügt
Ferrostaal-Chef Menges am 23. Januar 1991
in einem Schreiben seines Unternehmens,
das dem SPIEGEL vorliegt.
Die Überweisung sei „der Order DRAnlage PTKS/Indonesien zu belasten“. DR
ist das Kürzel für eine Direkt-Reduktionsanlage, bei der aus Eisenerz Eisen gewonnen wird. Sie sollte bei PT Krakatau Steel
ausgebaut werden.
Ganz offen erläutert der Ferrostaal-Chef
in dem internen Schreiben, dass die Zahlung an Ramelan verschleiert werden soll.
„Es ist wichtig, dass Ferrostaal dabei nicht
als Auftraggeber in Erscheinung tritt“, deshalb sei die Überweisung „noch über eine
andere Bank zu leiten“.
Der indonesische Minister Ramelan
nimmt dazu ebenso wenig Stellung wie das
deutsche Unternehmen Ferrostaal.
Vor einiger Zeit war Ferrostaal-Chef
Menges noch auskunftsfreudiger, wenn es
um Indonesien ging. Im März dieses Jahres
zeigte sich Menges auf der Technogerma
in Jakarta, der in diesem Jahr nach Eigenwerbung „weltweit größten deutschen
Technologie-Ausstellung“ im Ausland,
noch voller Optimismus. Über die eigenen
Geschäfte mit dem asiatischen Land sagte
Menges: „Wir wollen euch jetzt nicht im
Stich lassen und hoffen natürlich mittelfristig auch auf Aufträge.“ Und über Habibies Zukunft meinte der Ferrostaal-Chef:
„Nach unserer Arithmetik wird Habibie
wieder Präsident.“
Menges muss wohl so rechnen. Ein
Machtwechsel wäre kaum gut für die Ferrostaal-Geschäfte in Indonesien. Das Essener Unternehmen hat voll auf Habibie
gesetzt. Der Konzern hat sogar die jüngere Schwester des Ministerpräsidenten, Sri
Rahayu Fatima Mochtar, unter Vertrag genommen – sie ist Ferrostaal-Repräsentantin für Indonesien.
Dietmar Hawranek
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137
Wirtschaft
noch für fast die Hälfte des
Pharmaumsatzes bei Bayer.
Das erhöht den Druck auf
die Leverkusener, sich nach
Partnern umzusehen.
Doch Schneider ist wählerisch. Der Zukauf sollte
möglichst, so Punkt eins der
Wunschliste, in Amerika
Aspirin allein genügt nicht:
ansässig sein, einen MarktBayer muss seine Pharmasparte
wert haben, der in etwa dem
ausbauen, um mit den Großen
Gesundheitsteil Bayers mit
25 Milliarden bis 30 Milliarder Branche mithalten zu können.
den Euro entspricht, eine
ie Bayer AG gehört zu den stillen
prall gefüllte Pipeline – also
Riesen im Lande. Während sich
viele Neuentwicklungen,
weltweit die Chemie- und Phardie kurz vor der Marktreife
mabranche neu ordnete, arbeiteten die Lestehen – mitbringen und
verkusener eher unauffällig vor sich hin.
auch noch bereit sein, sich
Die 100-Jahr-Feier für ihr Paradeprodukt
voll unter die Oberhoheit
Aspirin in diesem Frühjahr gehörte schon
Schneiders zu begeben.
zu den herausragenden Ereignissen der
Wenninger: „Wir streben
jüngeren Firmengeschichte.
keinen Big Bang an, nur um
Doch seit einigen Wochen herrscht unspektakulär aufzufallen.“
gewohnte Unruhe. Der Kurs der Bayer-AkLieber heute als morgen
tie macht sich mit unüblichen Ausschlägen
würden sich die Leverkusebemerkbar, Börsianer und Analysten spener die erfolgreiche Monkulieren über die Zukunft des deutschen
santo-Pharmatochter Searle
Traditionskonzerns.
anlachen – und KonzernGeld regt die Phantasie an. Nach dem
chef Schneider glaubt, auch
Verkauf der Konzern-Tochtergesellschaft
Chancen zu haben.
Agfa sitzt Bayer-Chef Manfred Schneider Bayer-Zentrale*: Auf der Suche nach einem Partner
Die Muttergesellschaft
Monsanto, die sich ganz
auf einer gut gefüllten Kasse. „Zweistellige Milliardenbeträge in Mark oder auch ger: „Darum beneiden uns alle.“ Aber auch auf die Biotechnologien in der LandwirtEuro“, so Pharmavorstand Walter Wen- er gesteht ein, dass mit Aspirin allein in schaft konzentriert hat, ist hoch verschulninger, „sind für uns kein Thema“, zumal Zukunft vor allem auf dem wichtigen US- det. Das Geschäft mit genmanipulierten
die Verschuldung des Konzerns gering sei Markt nicht zu bestehen ist – zumal Kon- Pflanzen und Saatgut läuft weltweit
schlecht, selbst in den USA wächst der
und die Eigenkapitalquote bei ungewöhn- kurrenzprodukte Furore machen.
Seit Anfang des Jahres verbucht die Widerstand. Da könnte Monsanto-Chef
lich hohen fast 50 Prozent liege.
Die eigenen Mittel werden dennoch Monsanto-Pharmatochter Searle mit ihrem Robert Shapiro, so die Spekulation bei
nicht genügen, Bayer-Chef Schneider hat neuen Schmerzmittel Celebrex einen nie Bayer, Interesse daran haben, Geld in die
da gewesenen Verkaufserfolg in den USA. Kasse zu bekommen.
weit ehrgeizigere Pläne.
Falls Shapiro das wirklich will, wird er
Seit Jahren bedrängen die Analysten Bis zu fünf Milliarden Mark Umsatz pro
Schneider, dass Bayer auf Dauer im lukra- Jahr allein in Amerika wird dem Super- sich allerdings noch etwas gedulden müstiven Life-Science-Geschäft – im Handel Aspirin zugetraut. Vom altehrwürdigen Ur- sen. Schneider kann sich Searle nur leismit Chemie- und Bioprodukten für Aspirin verkauft Bayer weltweit Pillen im ten, wenn die Monsanto-Tochter und seine Pharmasparte in einem „merger of
Mensch, Tier und Pflanze – allein nicht Wert von einer Milliarde Mark.
Aus den konzerneige- equals“, einem Zusammenschluss gleichüberlebensfähig sei. Tatnen Forschungslabors ist wertiger Partner, per Aktientausch versächlich ist das traditionsChemie-Giganten
wenig Hilfe zu erwarten. schmolzen werden.
reiche Pillenunternehmen,
Eventuell dann immer noch bestehende
noch vor zehn Jahren im Börsenwert in Milliarden Dollar Dort häuften sich in jüngster Zeit die Fehlschläge. So Wertunterschiede, so die Überlegungen in
Pharmabereich Nummer
wurde die Weiterarbeit am Leverkusen, könnten aus der Kriegskasse
sechs in der Welt, auf Top Five
Krebsmittel Bay 12-9566, bezahlt werden.
den 16. Rang – und damit
Merck (USA)
169,2
Der Aktientausch ist aber frühestens im
von dem sich Bayer eiins Mittelmaß – zurückgePfizer (USA)
149,7
nen Milliarden-Umsatz ver- nächsten Jahr möglich. Erst dann geht Bayfallen.
sprochen hatte, eingestellt. er in New York mit seinem Life-ScienceBayer sei ein SonderBristol-Myers
145,0
Squibb (USA)
Der Patentschutz des Herz- Geschäft an die Börse.
fall, wehrt sich PharmavorDoch die Zeit bis dahin muss nicht unmittels Adalat ist bereits
stand Wenninger. TatsächNovartis (Schweiz)
108,9
1985 ausgelaufen. Das An- genutzt verstreichen. „Sehr aufmerksam“
lich bringen neben dem eiGlaxo Wellcome
tibiotikum Cipro verliert (ein Vorstand) haben die Bayer-Leute zur
gentlichen Geschäft mit
100,2
(Großbritannien)
seinen Schutz im Jahre Kenntnis genommen, dass die Schweizer
Pharmaka (Umsatz in die2001. Allein diese beiden Kollegen von Novartis keine rechte Freusem Jahr: rund zehn Mil- Deutsche Konzerne
Auslaufprodukte sorgen de mehr an ihrem Landwirtschaftsgeschäft
liarden Mark) nichtver- Stand:
29,5
Bayer
10. 99
haben. Der Wert der Novartis-Sparte, weltschreibungspflichtige Pro- 7.
Quelle:
*Anlässlich des 100. Geburtstags des
weit führend im Pflanzenschutz, wird auf
dukte wie Aspirin und Alka Datastream
28,9
BASF
Arzneimittels Aspirin im März
10 bis 15 Milliarden Euro geschätzt.
Seltzer sowie Diagnostika
dieses Jahres wurde das VerwalHoechst
26,8
Das könnte Schneider derzeit aus der
noch einmal zusammen
ohne Rhône-Poulenc
tungsgebäude als Aspirin-Packung
Portokasse bezahlen.
Heiko Martens
sechs Milliarden. Wenninverkleidet.
CHEMIE-INDUSTRIE
Sturz ins
Mittelmaß
DPA
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Wirtschaft
Bankchef Walter
„Ich bin müde“
D. HOPPE / NETZHAUT
Walters schwere Last
Gescheiterte Kooperationen, Querelen im
Vorstand und keine Vorwärtsstrategie: Dresdner-Bank-Chef
Bernhard Walter steht gewaltig unter Druck.
D
er Mann hat es schwer: Bernhard
Walter sitzt in einer stickigen Ecke
des Washingtoner Flughafens Dulles und saugt an einer HB. Vor ihm liegen
acht Stunden Non-Smoking-Flight zurück
nach Frankfurt, was für den Kettenraucher
jedes Mal ein Horror ist.
Schon die Washingtoner Weltbank-Tagung, ein Pflichttermin der internationalen Finanzelite, brachte dem DresdnerBank-Chef Verdruss. Beim Empfang seiner
Bank im noblen White-Meyer-Haus klagte
er, vor lauter Begrüßungen selbst nicht
zum Essen zu kommen. Tags darauf musste Walter eine Pressekonferenz auf Englisch abhalten, was ihm sehr schwer fällt.
Außerdem wollten Kunden und Kollegen von dem gestressten Banker ständig
wissen, wie weit die Kooperationsgespräche mit der Deutschen Bank gediehen sind. Genervt antwortete Walter,
die Unabhängigkeit der Dresdner Bank
142
stehe nicht zur Disposition. Zurück in
Frankfurt, trifft Walter eine einsame Entscheidung und erklärt die Verhandlungen
über eine gemeinsame Privatkundenbank
mit der Deutschen für gescheitert. Prompt
sackt der Aktienkurs ab.
Nichts will dem Bankmanager, der seit
Anfang 1998 das drittgrößte deutsche Kreditinstitut führt, so richtig gelingen. Von
vielen großartigen Ankündigungen hat sich
bisher keine erfüllt. Die Stimmung in der
Bank ist auf dem Tiefpunkt, der Vorstand
heillos zerstritten. Und dem Chef wird vorgeworfen, sich in Kreditverträge zu vertiefen, statt Strategien zu entwickeln.
Die Führungsschwäche hat ihren Preis:
Mittlerweile gilt das 126 Jahre alte Geldhaus als Übernahmekandidat. Sein Glück
ist bislang nur, dass der Versicherungsriese Allianz rund 40 Prozent der Anteile kontrolliert – und die Dresdner somit am
Markt nicht so einfach zu haben ist.
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B. BOSTELMANN / ARGUM
BANKEN
Henning Schulte-Noelle, Allianz-Chef
und diskrete Eminenz im bundesdeutschen
Finanzgewerbe, erwartet Antworten, wie
sich die Bank in Zukunft positionieren will.
Vor allem im Privatkundengeschäft des
Instituts drohen Verluste. „Wir können es
uns nicht leisten, hier nichts zu tun“, gesteht selbst Walter offen ein.
Den Zusammenschluss mit der Deutschen Bank (SPIEGEL 34/1999) wollte er –
aus Stolz – dann aber doch nicht, obwohl
die beiden Banken monatelang sämtliche
Details besprochen hatten. Denn Walter
wäre dabei der Juniorpartner gewesen.
Schließlich hat die Deutsche Bank sechs
Millionen Privatkunden, die Dresdner Bank
bringt es nur auf gut vier Millionen. Ein
Joint Venture mit gleichen Anteilen, wie es
Walter vorschwebte, wollte die Deutsche
Bank nicht. Sie bot Walter 40 Prozent an
einer gemeinsamen Massenkundenbank
mit neuem, neutralem Namen.
Die zuständigen Manager beider Banken wollten, so einer der Verhandlungsführer, „die Tür nicht ganz zuschlagen“ – und wenigstens eine gemeinsame
Produktentwicklung oder eine Zusammenlegung kleiner Bereiche. Doch Walter war selbst das zu viel. Jetzt steht er –
wieder einmal – unter Druck, schließlich
hatte er versprochen, bis Ende des Jahres eine Lösung zu finden. Die aber ist
nicht in Sicht.
Schon öfter konnte Walter seine Ankündigungen nicht einhalten. So scheiterten
bislang alle Fusions- und Übernahmeverhandlungen mit amerikanischen Investmentbanken: Die Dresdner Bank konnte
sich weder mit Donaldson, Lufkin & Jen-
Dresdner-Bank-Zentrale in Frankfurt
Wird das Institut zerschlagen?
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Wirtschaft
Deutsche
Großbanken
Bilanzsumme 1998 in Mrd. Mark
Deutsche
GeschäftsBank
Mitarbeiter 76 141
stellen 2310
Hypo
Vereinsbank
1226
Stand: Ende 1998
Quelle: BdB
901
Auch bei anderen Vorständen geDresdner
715 riet Einzelgänger Walter in MissBank
48 948
1506
kredit. Seine umstrittene Entscheidung gegen eine KooperaWestLB
693
tion mit der Deutschen Bank
10 602
20
ließ er vergangene Woche in der
CommerzVorstandssitzung noch nicht einmal
bank
32 446
938 638
diskutieren. Intern lästert ein Vorstandskollege: „Es war Dummheit, sich
rette noch mit Paine Webber über ein Zu- durch eigene Äußerungen so unter Druck
sammengehen einigen. Selbst die jahre- zu setzen.“
Walter, so scheint es, hat eine schwere
lange Kooperation zwischen der Dresdner
und der Banque Nationale de Paris (BNP) Last zu tragen. „I’m tired“ („Ich bin müde“), klagte er kürzlich vor den ausländikommt nicht voran.
Auch die vollmundigen Erklärungen, die schen Niederlassungsleitern im bankeigeVermögensverwaltungen von Dresdner nen Konferenzzentrum in Königstein. Das
Bank und Allianz zusammenzulegen, Mitleid hielt sich allerdings in Grenzen.
Stattdessen wunderten sich die Zuhöscheiterten am Widerstand der Banker.
Wieder einmal fürchtete der schwächere rer, dass ihr Chef gleich anschließend – erPartner den Ausverkauf seiner Interessen. schöpft und mit Ringen unter den Augen –
Nun will die Allianz den US-Vermögens- nach Paris fliegen wollte, um mit dem Chef
verwalter Pimco übernehmen und so den der BNP, Michel Pébereau, zu verhandeln.
Wohin Walter auch reist, um seine Bank
Weltmarkt im Alleingang erobern.
Insgeheim freute sich seinerzeit der zu verkuppeln: Die Entscheidung über die
zuständige Dresdner-Bank-Vorstand Ger- Zukunft der Dresdner fällt nicht in Paris,
hard Eberstadt über seine erfolgreiche London oder New York – sondern in MünBlockade. Inzwischen ist er im Ruhestand, chen, in der Königinstraße. Dort sitzt der
doch bei der Pressekonferenz in Washing- mächtige Anteilseigner Allianz.
Der Versicherungsriese hat sich gerade
ton konnte die Bank nicht auf ihn verzichten. „Ich bin täglich im Büro – und Paul Achleitner in den Vorstand geholt.
immer noch für die Vermögensverwaltung Der Ex-Partner der amerikanischen Inzuständig“, so der 65-Jährige, der gerade vestmentbank Goldman Sachs hat alan der Umstrukturierung dieses Ge- lerhand Erfahrung auf dem Gebiet von
Firmenhochzeiten – ihm trauen Branschäftszweiges feilt.
Damit brüskiert er seinen Zögling Leon- chenkenner auch ungewöhnliche Lösunhard Fischer, mit 36 derzeit der jüngste gen für die ertragsschwache BankbeteiVorstand einer deutschen Großbank. Fi- ligung zu.
Die wahrscheinlichste Lösung ist jedoch
scher nämlich, so verkündete die Dresdner
Bank nach Eberstadts „Ausscheiden“, habe nach wie vor eine Fusion mit der HypoVereinsbank, an der die Allianz ebenfalls
dessen Aufgaben übernommen.
Walter hat seinen Vorstand schlecht im mit 18 Prozent beteiligt ist. Auch aus der
Griff. Als er sich einmal kritisch über das Vorstandsetage der Dresdner ist zu hören:
Investmentbanking äußerte, folgte prompt „Schon im nächsten Jahr werden die beidie Zurechtweisung. Der verantwortliche den Institute fusionieren.“
Spekuliert wird sogar über eine ZerVorstandskollege Gerd Häusler habe, so
ein Ohrenzeuge, in Walters eigenem Büro schlagung der Dresdner, wobei das Privatgetobt: „Ich lasse mich nicht wie einen kundengeschäft der HypoVereinsbank zuSchuljungen behandeln“ – Häusler be- fiele. Die Vermögensverwaltung ginge an
die Allianz, das Investment-Banking meiststreitet diese Auseinandersetzung.
Streit gab es auch, als Dresdner-Bank- bietend an einen Wettbewerber.
Doch ob Voll- oder Teilfusion: Die AlliVorstand Ernst-Moritz Lipp öffentlich seine Lieblingsidee lancierte, zusammen mit anz hat ein Führungsproblem. Weder Albder BNP eine paneuropäische Investment- recht Schmidt, Chef der HypoVereinsbank,
bank zu gründen. Das ließ der dünnhäuti- noch Walter gelten als geeignet für eine
ge Walter nicht durchgehen. Er bestand auf solche Aufgabe. Schmidt hat sich im Zuge
einer geharnischten Richtigstellung, die der Fusion der beiden bayerischen Banken
Lipp öffentlich desavouierte. Doch auch mit der Allianz überworfen.Walter aber, da
Lipp teilt aus. So macht er in der Bank kei- sind sich die Manager von Dresdner und
nen Hehl daraus, was er von seinem Vor- Allianz einig, ist dem Job nicht gewachsen.
standssprecher hält – nämlich nichts.
Christoph Pauly, Wolfgang Reuter
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Wirtschaft
S TA N D O R T
Heimliche Freude
S
elten sorgte eine Falschmeldung für
so viel Wirbel. Nachdem der „Stern“
am vergangenen Dienstag berichtet
hatte, der DaimlerChrysler-Konzern wolle
seinen Firmensitz möglicherweise in die
USA verlagern, reagierten sie alle wie elektrisiert: Börsianer, die den Kurs der Aktie
um 2,5 Prozent nach oben trieben; deutsche DaimlerChrysler-Mitarbeiter, die um
ihren Job bangten, und Beobachter, die
den drohenden Exodus deutscher Firmenzentralen ins Ausland befürchteten.
Die Vorstände und das gesamte Top-Management des Konzerns bekamen von den
deutschen Aufgeregtheiten zunächst wenig mit. Sie tagten in Washington, und die
Stallwache in Stuttgart reagierte strikt nach
dem Handbuch für Dementis: Sie verbreitete, der Konzern nehme zu Spekulationen keine Stellung.
Damit aber wurden die Spekulationen
nur angeheizt. Wäre es nicht tatsächlich
lohnend für DaimlerChrysler, in die USA
zu wechseln, dort niedrigere Steuern zu
zahlen und zugleich in den wichtigen Aktienindex für US-Firmen, den Standard &
Poor’s, aufgenommen zu werden? Und ist
in den Zeiten der Globalisierung, in denen
Traditionskonzerne wie Hoechst oder
Mannesmann einfach zerlegt werden, nicht
FOTOS: K. SCHOENE / ZEITENSPIEGEL
Wird DaimlerChrysler künftig von
Amerika aus geführt? Das
Gerücht beflügelte die Börse, doch
tatsächlich macht eine Verlagerung der Zentrale keinen Sinn.
Konzernchef Schrempp: „Alles Quatsch“
auch ein Umzug des größten Industriekonzerns vorstellbar?
Nichts ist unmöglich, fand offenbar auch
das Massenblatt „Bild“, das sich wegen des
„Hochsteuerlandes Deutschland“ sorgte:
„Haut Daimler ab in die USA?“
Bei ruhiger Betrachtung ergibt sich
schnell: Der Konzern hat keinen Grund
dazu. Bislang ist Deutschland für DaimlerChrysler ein wahres Steuerparadies. Das
Unternehmen profitiert von den besonderen Abschreibungsmöglichkeiten und zahlte hier zu Lande jahrelang fast gar keine
Ertragsteuern.
Wegen hoher Verluste, vor allem bei den
einstigen Töchtern AEG und Fokker, kann
DaimlerChrysler seit Jahren einen Verlustvortrag, der zeitweise 17 Milliarden
Mark betrug, geltend machen. Dieser Verlustvortrag wird den aktuell erzielten Gewinnen gegenübergestellt. Erst wenn sie
ihn nach mehreren Jahren übersteigen,
werden wieder Ertragsteuern fällig.
Doch auch dann ist eine Verlagerung in
die USA wenig sinnvoll. Zwar liegt die Besteuerung des Unternehmensgewinns in
Konzernzentrale in Stuttgart: Deutschland war für Daimler ein Steuerparadies
146
den USA (35 Prozent plus regionale Abgaben) weit niedriger als in
Deutschland (über 50 Prozent),
aber setzt die rot-grüne Koalition
ihre Pläne um, wird Deutschland
zum Niedrigsteuerland. Geplant ist
ein Steuersatz von 25 Prozent (plus
Gewerbesteuer).
Ein Umzug würde schon am Widerstand des größten Aktionärs
scheitern. Die Deutsche Bank hält
einen Anteil von rund zwölf Prozent an DaimlerChrysler, der derzeit an der Börse mit 15,8 Milliarden Mark bewertet wird. In den eigenen Bilanzen steht das Aktienpaket, das die Bank schon seit Jahrzehnten
hält, nur mit einem Buchwert von rund
zwei Milliarden. Wenn die deutsche Aktiengesellschaft DaimlerChrysler in eine
US-Gesellschaft umgewandelt wird, müsste
die Deutsche Bank die Differenz zwischen
Buchwert und aktuellem Kurswert, insgesamt 13,8 Milliarden, als Buchgewinn versteuern: Sie müsste fast sieben Milliarden
Mark an den Fiskus abführen.
Auch auf DaimlerChrysler kämen bei
einem Wechsel der Zentrale in die USA
hohe Kosten zu. Der Konzern müsste in
Deutschland eine Abschlussbilanz erstellen, in der Grundstücke und Gebäude mit
den aktuellen Werten berücksichtigt werden. Da diese in den Bilanzen meist nur
mit einem viel niedrigeren Wert erfasst
sind, wäre die Differenz als Buchgewinn zu
versteuern – und damit eine Steuerzahlung von mehreren Milliarden Mark fällig.
Für den abgestürzten Börsenkurs würde
der Wechsel der Konzernzentrale wenig
bringen. Als US-Konzern wäre DaimlerChrysler zwar im Standard & Poor’s-Index
vertreten und große Fonds würden die Aktie ordern. Doch dafür würde die Aktie
aus den Indizes der größten deutschen und
europäischen Unternehmen (Dax und
Euro-Stoxx) ausscheiden; Fonds, die in diesen Indizes engagiert sind, würden DaimlerChrysler dann verkaufen.
In Deutschland würde die Auswanderung zudem auf massiven Protest der Betriebsräte stoßen, die ihre Mitbestimmungsrechte verlören. Und der Marke
Mercedes-Benz drohte Imageschaden: Sie
wäre nur noch die Tochter eines US-Konzerns so wie Opel oder Ford.
An dem Gerücht der Auswanderung sei
absolut nichts dran, sagt Aufsichtsratsvorsitzender Hilmar Kopper von der Deutschen Bank. Und Konzernchef Jürgen
Schrempp kommentiert gewohnt deutlich:
„Das ist alles Quatsch.“
Andere Führungskräfte bei DaimlerChrysler, die über Aktienoptionen persönlich an Kurssteigerungen profitieren,
offenbaren eine klammheimliche Freude
an der Aufregung um eine mögliche Verlagerung: „Ist doch toll“, so ein Manager,
„wie eine Falschmeldung den Kurs hochtreiben kann.“
Dietmar Hawranek
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Werbeseite
W. JAKUBOWSKI / TRANSPARENT
Wirtschaft
Stapellauf in der Gdinger Werft: Aufträge für die nächsten drei Jahre
REFORMEN
Primus Polen
Die polnische Wirtschaft, einst Synonym für Schlamperei
und Schlendrian, ist heute ein Erfolgsmodell: für den
konsequenten Umbau einer Staats- in eine Marktwirtschaft.
Z
u fröhlichen Rhythmen einer Blaskapelle zerbarst die noble Champagnerflasche am schwarzen Schiffsrumpf. Dann rutschte der „Elbwolf“
langsam die Rampe hinunter in das Werftbecken. Die deutschen Auftraggeber von
der Reederei Hermann Wulff aus Kollmar
klatschten Beifall. Einen Tag später ging
das 2700 Container fassende Schiff auf
Jungfernfahrt in die USA.
„Elbwolf“ ist das sechste Schiff, das seit
Januar die Gdinger Werft verließ. Während
der deutsche Schiffbau Not leidet, schaffte Gdingen im vergangenen Jahr bei 650
Millionen Mark Einnahmen rund 55 Millionen Mark Reingewinn. Die Aufträge,
darunter viele aus Deutschland, reichen
für die nächsten drei Jahre. Gern würde
Gdingen deshalb die Warnow-Werft in
Rostock kaufen.
Was ist bloß in Polen los? Noch vor zehn
Jahren war „polnische Wirtschaft“ ein
Synonym für Schlamperei und Schlendrian, für Rückständigkeit und Verschwendung. Die Karikaturisten zeichneten einen
polnischen Bauern, der seine Kuh verhungern lässt, weil er im Streik ist. Oder ein
Boot, das leckt – doch die Menschen weigern sich, das Wasser auszuschöpfen, weil
sie einen arbeitsfreien Sonnabend haben.
Heute ist das Land östlich der Oder ein
Hätschelkind westlicher Wirtschaftsexperten und Finanzorganisationen, Klassenbester der marktwirtschaftlichen Transformation in Mittelosteuropa. Jeffrey Sachs,
einer der bekanntesten unter den US-Mo-
148
den Nachbarn? Die Experten sehen die
Ursachen in der historischen Erfahrung des Landes und in der Mentalität
seiner Menschen. „Marktwirtschaft war
für uns 1989 kein leeres Wort“, sagt Karol Szwarc, früher stellvertretender Finanzminister und heute Berater der Zentralbank.
Selbst in der finstersten Stalin-Zeit wurde der Boden zu 80 Prozent privat beackert, private Handwerker reparierten
Uhren, backten Brot, renovierten Wohnungen. In privaten Treibhäusern wuchsen
Gemüse und Blumen. Das gab es in der
Tschechoslowakei oder DDR nirgends.
In den siebziger Jahren öffnete sich das
Land zum Westen: Polnische Doktoranden
studierten an westlichen Universitäten, polnische Händler durchstreiften die Welt auf
der Suche nach billigen Waren, die sie in
der sozialistischen Mangelwirtschaft Gewinn bringend verkauften.
„Auf dem viel zitierten Polenmarkt in
Berlin haben meine Landsleute Ende der
achtziger Jahre praktische Erfahrungen mit
der Marktwirtschaft gesammelt“, sagt
Zygmunt Solorz, der damals mit Pakettransporten von Deutschland nach Polen
sein Geld verdiente. Heute besitzt er den
größten Privatsender Polens; sein „Polsat“
erzielte 1998 Werbeeinnahmen von rund
500 Millionen Mark.
Das Fundament für die größten Privatvermögen wurde in den achtziger Jahren
noch vor der Wende gelegt. Marek Profus
vertrieb in Polen die Unterhaltungselektronik von Sony, Panasonic und Blaupunkt.
Heute ist er der drittreichste Pole, er beschäftigt in 33 Handelsbüros rund um die
Welt 3500 Leute. Zbigniew Niemczycki
kehrte nach sechs Jahren aus den USA
zurück und begann Farbfernseher aus importierten Teilen zu montieren. Heute baut
er in Lizenz des koreanischen Konzerns
LG, er besitzt Bürohäuser und Arzneimittelfabriken.
Auch wenn der Boden für die Reformen
1989 einigermaßen vorbereitet war, ohne
den Runden Tisch wäre deren Erfolg fraglich gewesen. In zähen Verhandlungen haben damals alle politischen Gruppen einen Konsens in den wichtigsten politischen
und wirtschaftlichen Fragen erzielt, anders
netaristen, spricht gern von der „erfolgreichsten Reform der Neuzeit“, und
Michel Camdessus, Direktor des Internationalen Währungsfonds, bescheinigt Warschau das „dynamischste Wachstum“ in
Europa. Das Bruttoinlandsprodukt lag 1998
gut 20 Prozent über dem Niveau von 1989,
dem letzten Jahr vor der schweren Wirtschaftskrise, in die Osteuropa nach dem
Fall des Eisernen Vorhangs stürzte. Die Inflationsrate sank unter sieben Prozent.
Die Asien- und Russland-Krisen, die in
den vergangenen zwei Jahren die Weltmärkte erschütterten, haben zwar auch in
Polen Spuren hinterlassen. Die Wachstumsprognose für das Jahr 1999 musste nach unten korrigiert werden, von den ursprünglichen 5,5 Prozent auf allerdings immer noch
stattliche 3,7 Prozent. Der Export nach
Russland brach zusammen, das Handelsbilanzdefizit soll dieses Jahr 10,5 Prozent
des Bruttoinlandsproduktes ausmachen.
Polen wächst
Dennoch betragen die Devisenreserven
26 Milliarden Dollar und wachsen.
Bruttoinlandsprodukt;
Der Westen schöpft langsam Vertrauen
Veränderung zum Vorjahr in Prozent
in Preisen von 1990
in die polnische Wirtschaftskraft. Die In5,7
vestoren, die nach dem Russland-Krach vor
4,9
einem Jahr etwa 800 Millionen
Dollar von der Warschauer Börse
–0,6
abgezogen haben, sind bereits zuTschechien seit
Polen
1. 1.1993
rückgekehrt. Die polnischen Exeigenständig
porteure klagen über die starke Tschechien
heimische Währung, die größere
Ungarn
Ausfuhren verhindert.
Quelle: OECD
Warum sind die Reformen an
1991
93
95
97 98
der Weichsel erfolgreicher als bei
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Wirtschaft
M. RUTKIEWICZ/ TRANSPARENT
als in Tschechien oder Ungarn. Das hat
dem ersten Finanzminister und Architekten des polnischen Wirtschaftswunders,
Leszek Balcerowicz, die Arbeit erheblich
erleichtert.
Balcerowicz versammelte die besten
Fachleute des Landes ohne Rücksicht auf
ihre politische Zugehörigkeit um sich. Mit
eiserner Konsequenz führte er die einzelnen Reformvorhaben durch.
„Balcerowicz hat sicher auch viele
Fehler gemacht und trieb so die sozialen
Kosten der Reformen in die Höhe“, erinnert sich Marek Borowski, der ehemalige
Vizepremier und eine der Führungsfiguren der Postkommunisten. „Dennoch: Er
legte ein stabiles Fundament für alle weiteren Reformschritte.“
Zentralbankchefin Gronkiewicz-Waltz
Lob aus den USA
Alle folgenden Regierungen, sowohl aus
dem Solidarnośƒ-Lager als auch aus dem
postkommunistischen Flügel, haben den
von Balcerowicz vor zehn Jahren abgesteckten Kurs fortgeführt. Die Wirtschaftspolitik besaß für alle die absolute Priorität.
Vor zwei Jahren kehrte Leszek Balcerowicz in die Regierung zurück: Er ist heute
ein Garant und Wegbereiter des EU-Beitritts Polens.
Dabei war in Tschechien oder in Ungarn
die Ausgangslage für Wirtschaftsreformen
1989 viel besser als in Polen. „Das nährte
die Illusion, dass der Übergang ohne tiefe
Einschnitte und soziale Härten bewältigt
werden kann“, sagt Miroslaw Wrobel, Direktor des Stahlwerks Katowice in Schlesien, das in den siebziger Jahren ein Vorzeigebetrieb der sozialistischen Schwerindustrie war.
In Polen war die Situation so schlecht,
dass es keine Alternative zu einer Schocktherapie gab. Das Stahlwerk Katowice zum
Beispiel entging 1992 nur knapp der Pleite. Dann gliederten die Staatsmanager
ganze Produktionszweige aus und entließen die Hälfte der Belegschaft. Heute
ist der größte europäische Stahlkonzern
Corus an der Übernahme interessiert.
Der Schlüssel des Erfolgs lag in der soliden Wirtschaftspolitik. Besonders erfolgreich waren die Polen bei der Reform des
Finanzwesens. Die polnische Zentralbank,
d e r
nach dem deutschen Modell neu aufgebaut und unabhängig, betrieb eine aktive
Zinspolitik, um die Inflation zu senken
und den Zloty zu stabilisieren. „Die Bank
hat einen großen Anteil an dem wirtschaftlichen Erfolg“, meint Ex-Finanzminister Andrzej Olechowski. Ihre Präsidentin, Hanna Gronkiewicz-Waltz, gehört
nach Ansicht der US-Fachzeitschrift „Global Finance“ zu den besten Zentralbankchefs der Welt.
Zu wünschen übrig lässt jedoch das Tempo der polnischen Privatisierung. Zwar erreicht der Beschäftigungsanteil des Privatsektors bereits 70 Prozent. Bis heute
wurde aber noch nicht einmal ein Drittel
der Großbetriebe wirklich entstaatlicht.
Allerdings gab es auch weit weniger Skandale und Korruptionsaffären als in den
anderen Ländern.
Anders als beispielsweise die Tschechen
setzten die Polen auf den direkten Verkauf
von Staatseigentum. 512 Betriebe werden
zudem über nationale Investmentfonds privatisiert, die an der Börse gehandelt werden. Die Arbeitnehmer bekommen rund
15 Prozent der Aktien der privatisierten
Unternehmen. An der Warschauer Börse
werden mittlerweile über 170 polnische
Werte notiert.
Das Ausland unterstützte die Reformen
von Anfang an und erließ Polen nach den
ersten Erfolgen die Hälfte der Schulden.
Die Investoren entdeckten schnell den viel
versprechenden Markt mit fast 40 Millionen Konsumenten. Bis heute haben sie
über 35 Milliarden Dollar investiert, davon
rund 10 Milliarden im vergangenen Jahr.
Sie schufen tausende neue Arbeitsplätze
und sorgten für eine ausgeglichene Außenbilanz.
Sicher: Polen muss noch Jahrzehnte der
Versäumnisse aufholen. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Bevölkerung ist
noch immer deutlich niedriger als in Tschechien oder in Ungarn. Die Landwirtschaft
muss reformiert, Stahl- und Kohleindustrie
müssen saniert werden. Noch immer beherrscht der ehemalige Monopolist die
Telekommunikation. Das Straßennetz ist
unzulänglich, doch für neue Brücken und
Autobahnen hat der Staat kein Geld. Ineffiziente Bürokratie, kompliziertes Steuersystem und hohe Steuersätze lassen viele Unternehmen in die graue Wirtschaft
abdriften.
Dennoch: Im Vergleich zu den Nachbarn im Osten und Süden ist Polen eine
Insel der politischen und wirtschaftlichen Stabilität. „Ich kann den deutschen
Geschäftsleuten zu Investitionen in Polen
nur zuraten“, meint Thomas Hardieck, der
ehemalige Vorsitzende der Deutsch-Polnischen Industrie- und Handelskammer
in Warschau. Und Nicolas Stern, Wirtschaftsexperte bei der Europäischen Bank
für Wiederaufbau und Entwicklung, meint:
„Im Osten ist nicht alles gleich. Polen ist
anders.“
Andrzej Rybak
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L U F T FA H R T
Wildes Geflecht
I
hren letzten Lufthansa-Trip am Montag vergangener Woche werden die Passagiere der Frühmaschine von München
nach Madrid so schnell nicht vergessen.
Viele Fluggäste waren schon um fünf aufgestanden, um den Abflug des CanadairJets um kurz vor sieben nicht zu verpassen.
Doch am Airport erwartete die Frühaufsteher eine böse Überraschung. Der Flug in
die spanische Metropole war ersatzlos gestrichen. Stattdessen hob die Maschine der
Lufthansa-Tochter City-Line in Richtung
Birmingham ab. Das hatten die Manager
der zentralen Buchungssteuerung am Wochenende beschlossen.
Auf der teuren Birmingham-Strecke
(Hin- und Rückflug: 2000 Mark) verkehrte
im Auftrag der Lufthansa bislang der britische Billigcarrier Debonair. Doch der
musste am Freitag zuvor den Betrieb einstellen. Deshalb setzten die Lufthanseaten
den Madrid-Jet kurzerhand für die stärker
frequentierte Route nach Birmingham ein.
Das Nachsehen hatten die Spanien-Kunden. Wer nicht rechtzeitig auf eine andere
Airline umgebucht hatte, blieb am Boden
oder musste später fliegen.
Peinliche Pannen wie mit ihrem Partner
Debonair könnten der Lufthansa demnächst noch häufiger passieren. Denn um
Kosten zu sparen und ihre zentralen Drehscheiben in Frankfurt und München besser
auszulasten, haben Lufthansa-Chef Jürgen
DPA
Die Bruchlandung des Lufthansa-Partners Debonair zeigt:
Die Strategie der deutschen
Fluggesellschaft birgt Risiken –
vor allem für die Kunden.
Debonair-Passagiere (in München): Böse Überraschung für Frühaufsteher
J. GIRIBAS
Das vorgeschriebene warme
Weber und seine Berater ein
Abendessen fiel aus, weil in
Wirrwarr von Allianzen und
den Bonsai-Jet nicht einmal
Kooperationen geknüpft, das
eine Küche eingebaut war.
in Europa seinesgleichen sucht.
Auch mit der Pünktlichkeit
Selbst die eigenen Fachleute
nahmen es die Lohnflieger
blicken oft nicht mehr durch,
nicht so genau.
und die Kunden haben das
Die Lufthansa-Manager striNachsehen.
chen die Strecke kurzerhand
Auf internationaler Ebene
aus dem Flugplan und bieten
arbeiten die Lufthanseaten mit
seither nur noch eine Verbinnamhaften Airlines wie United,
dung über Frankfurt an. Ab
dem brasilianischen MarktNovember müssen sich Vielführer Varig oder Japans All
Nippon Airways zusammen. Lufthansa-Chef Weber flieger erneut umstellen. Dann
fliegt Augsburg Airways für die
Europäische und innerdeutsche
Nebenstrecken lassen Weber und seine Lufthansa über München zum Hauptsitz
Mannen zunehmend von kleinen regiona- des Europäischen Parlaments. „So können
len Partnern wie Augsburg Airways, Air wir in München noch zusätzliche PassaDolomiti oder dem österreichischen Mini- giere aufnehmen“, wirbt Bereichsvorstand
Ralf Teckentrup um Verständnis.
Carrier Rheintalflug bedienen.
Dem Lufthansa-Manager und seinen
Die Kunden erfahren meist erst kurz vor
dem Abflug, in welche Maschine sie ver- Kollegen schwante schon im vergangenen
frachtet werden, und reagieren entspre- Sommer, dass sie ihre Partner wohl stärker
chend sauer. Trotzdem weigern sich Luft- an die Kandare nehmen müssen, um sie
hanseaten und Reisebüros häufig, die Pas- zur Einhaltung der Lufthansa-Standards
sagiere schon beim Ticketkauf aufzuklären, zu zwingen. Seither wird jeder Bewerber
welche Gesellschaft den Flug durchführt. auf Sicherheit, die Servicequalität und seiIn Werbekampagnen feiern die Airline- ne finanzielle Potenz geprüft, bevor er in
Manager ihr Allianz-Netz gern als „Ant- den Lufthansa-Club aufgenommen wird.
Bei der Debonair hat der Airline-TÜV
wort auf Liberalisierung
und Globalisierung“. Doch offenbar kläglich versagt. Am Donnerstag
Gemeinsam am Start das wild wuchernde Bezie- vorvergangener Woche teilten die Briten
Europäische Kooperationspartner
hungsgeflecht birgt für die ihrem großen Partner Knall auf Fall mit,
der Deutschen Lufthansa
Lufthansa-Manager gewalti- dass ihre fünf Maschinen, die für die Lufthansa unter anderem Strecken von Münge Risiken.
Beim häufigen Partner- chen nach Toulouse, Birmingham, Manwechsel bleiben Service und chester oder Helsinki bedienten, am Boden
Scandinavian
in Deutschland:
Airlines (SAS)
Pünktlichkeit oft auf der bleiben müssen. Dabei war in BranchenBritish
Augsburg Airways
Schweden
Strecke. Das mussten Weber kreisen schon länger gemunkelt worden,
Midland
Contact Air
Großbritannien
und seine Mitarbeiter erst dass den Briten finanziell die Luft ausgeht.
Cimber Air
Dänemark
kürzlich bei ihrem französi- „Wir haben so kurzfristig davon erfahren“,
schen Partner Regional Air- rechtfertigt sich Teckentrup, „dass wir keiCzech Airlines (CSA)
ne Möglichkeit hatten zu reagieren.“
lines erfahren.
VLM
Tschechien
Belgien
Der Lufthansa-Aufsteiger will an seinem
Die Franzosen verknüpfLuxair
Kurs,
immer mehr Routen auszulagern,
ten
für
die
Lufthansa
seit
Lauda
Air
Regional Luxemburg
Österreich
April die Metropole Ber- trotz solcher Pannen festhalten. In den
Air
Airlines
Adria Rheintalflug
lin mit dem elsässischen kommenden Monaten soll allein die Flotte
Spanair Frankreich
Dolomiti Airways Österreich
Straßburg. Doch statt des von „Team Lufthansa“ verdoppelt werden.
Spanien
Air Littoral Italien
Slowenien
Frankreich
Eines hat der Manager aus dem Deversprochenen größeren
Jets setzten die Junior- bonair-Desaster immerhin gelernt. „Die
partner auf der Route eine Anforderungen an die Finanzkraft unMaschine mit nur 19 Sit- serer Partner“, gelobt er, „werden überStand: 1. Oktober 1999
prüft.“
zen ein.
Dinah Deckstein
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Medien
Trends
Filmszene aus „Peacemaker“ (mit George Clooney)
ARD
500 Millionen Mark für Filmhandel
D
ie ARD will die Vormacht von Leo Kirch im Filmhandel
brechen. Zum 1. Januar 2000 soll die geplante Firma Telepool International von München und Zürich aus dicke Programmpakete für alle ARD-Sender zentral einkaufen – mit einem mittelfristigen Budget von einer halben Milliarde Mark. Es
gehe vor allem um „Mainstream-Produkte“ aus Hollywood,
heißt es in ARD-Kreisen. Geplant ist, dass Telepool International überschüssige Ware an Dritte verkauft, etwa anfallende
Sponsoring-, Video-, Pay-TV- oder Merchandising-Rechte, und
so tüchtig Gewinn macht. Bisher hatten mehrere ARD-Firmen
– oft in Konkurrenz zueinander – selbständig Programme erworben. Der eigentlich als Filmzentrale vorgesehenen Degeto
war 1984 der letzte Coup gelungen, als sie vom US-Studio
MGM über 1300 Filme kaufte, darunter James-Bond-Werke
(„Dr. No“). Zusehends aber wurde die Firma – etwa beim Ankauf von Filmen wie „Peacemaker“ – im eigenen ARD-Verbund
von der Münchner Telepool überholt, an der SWR, MDR und
Bayerischer Rundfunk beteiligt sind. Dieses Unternehmen hält
an der neuen Telepool International 50 Prozent; daneben geben
die privaten Töchter von WDR (25 Prozent) und NDR (20 Prozent) den Ton an. Nach den Planungen, die am 22. November
beschlossen werden sollen, übernimmt Telepool International
von Köln und Hamburg aus auch den Verkauf aller ARDProgramme ins Ausland.
„BILD“-ZEITUNG
DEUTSCHE WELLE
Weniger Nackte
Ü-Wagen als Spielmobil
A. BERGLING
H
albnackte Pin-upGirls wird es auf der
Titelseite der BoulevardZeitung „Bild“ nicht
mehr geben. In aller Stille
befanden Chefredakteur
Udo Röbel und Unterhaltungschef Manfred Meier,
die Masche mit den freiKessler
zügigen Models habe sich
überholt. Dabei war Redakteurin Katja Kessler noch zu Jahresanfang als Betexterin der
scharfen Fotos („Mi-Ma-Mausesack“) berühmt geworden. Ihr Werk beschloss die
„Miezendichterin“ („Die Zeit“), wie gewohnt absurd, am 28. September: Die
Beckenreinigungs-Saugpumpe hatte das Bikini-Oberteil einer Badenden verschluckt –
und die hatte trotzdem keine Zeit für Bademeister Willi: „Lass ihn stehen, Shanine!“
Kessler soll nun in einer eigenen Kolumne
auf der letzten „Bild“-Seite über Prominente tratschen. Und auf Seite eins erscheinen,
bei geeigneten News, allenfalls erotische
Bilder von Stars wie Verona Feldbusch.
W
Pin-up-Girl in „Bild“ (Ausriss)
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ährend Deutsche-Welle-Intendant Dieter Weirich zurzeit Millionen einsparen
muss und sich von rund 600 Mitarbeitern
trennen soll, zeigt sich sein Fernsehdirektor
Wolfgang Krüger von den Sparbeschlüssen
der Bundesregierung gänzlich unbeeindruckt. Für ein Fest der katholischen Schulen am 1. Oktober in Berlin entfremdete er
kurzerhand einen Ü-Wagen der Deutschen
Welle zum Spielmobil für die Kinder. Motto
der Veranstaltung: „TV zum Anfassen“.
Zwar verkaufte Krüger, dessen Sohn eine
der teilnehmenden Schulen besucht, den
Ü-Wagen-Einsatz nachträglich als PRAktion, doch deren Sinn erschließt sich im
Sender, der deutsches Fernsehen fürs Ausland produziert, niemand. „Der Nutzen für
den Sender ist gleich null“, sagt ein leitender
Mitarbeiter, die Kosten schätzt er auf
nahezu 20 000 Mark. Intendant Weirich will
nun die Revision mit der Prüfung beauftragen. Krüger war bereits im vergangenen Jahr
aufgefallen, als er die Infrastruktur der Welle
für seine Tätigkeit als Pressesprecher der
CDU Oberhavel benutzte.
159
Medien
Süßes Silvester
M
it 1500 Mark lassen sich eine
Menge sinnvoller Dinge tun:
Man kann damit beispielsweise einen Profi bezahlen, der einem die
frisch gekaufte Ikea-Küche aufbaut, man kann 30 oder mehr Flaschen Champagner kaufen, kleinere Zahnreparaturen ausführen
lassen oder einen Satz edler neuer Winterreifen aufziehen lassen.
Man kann sich für 1500 Mark aber
auch eine Eintrittskarte für die
große Millennium-Silvesterfeier
des ZDF in Berlin kaufen – die
Frage ist nur, ob das zu den sinnvollen Geldausgaben gehört.
Für so viel Geld will man schon
was geboten bekommen, da muss
das ZDF mindestens Michael
Jackson anschleppen – und auf
Großbildleinwand dokumentieren,
wie Jackson hinter der Bühne den
Teletubbies nachstellt.
Stattdessen aber bieten die
Mainzer nur dieselben Leute auf, die seit Jahrzehnten allabendlich durchs Fernsehprogramm marodieren: Udo
Jürgens, Peter Kraus („Sugar
Baby – o, o …) und Modern
Talking, dazu noch ein
paar vergessene Butterfahrtlieblinge wie
Graham Bonney oder
die Lords – allesamt Oldies, an deren beste Zeiten diese
sich nicht einmal selbst erinnern
können.
Moderiert wird die Kaffeefahrt ins
nächste Millennium von Ulla Kock
am Brink und Thommy Ohrner.
Das ist jener freundliche Mensch,
der so aussieht, als sei er nur deshalb beim Fernsehen, weil er für
einen anständigen Beruf zu nett
ist. Und wie schifft sich die ARD
ins Jahr 2000? Mit dem Komödienstadl, was auch nicht gerade nach
Gegenwart klingt.
Aber wahrscheinlich steckt hinter
dieser Programmplanung eine
List: Gezeigt wird, was wir im
nächsten Jahrtausend bitte nie
wieder sehen wollen. Prost Neujahr!
160
„Ruhestörung im Hotel“
Der Dresdner Schauspieler Jan Josef
Liefers, 35, der in der TV-Komödie
„Jack’s Baby“ (Sonntag, 20.15 Uhr, Sat 1)
erstmals Regie führt und einen Rocksänger spielt, über Musik und Gitarren
SPIEGEL: Herr Liefers,
wann haben Sie angefangen, Musik zu machen?
Liefers: In der Schulzeit.
Ich hatte Unterricht für
Konzertgitarre, wollte
aber lieber eine StromGitarre haben, um die
Musik spielen zu können,
die mir gefiel, BeatlesSongs zum Beispiel.
SPIEGEL: Hatten Sie eine
Band?
Liefers: Nein, ich habe
nur mit Freunden zusammen gespielt. Im Osten
war es damals nicht
so leicht, eine Band zu
Liefers
gründen. Gerade bei
Rockmusik, der eine größere Bedeutung zugeschrieben wurde als Theater
oder Film, war die Kontrolle extrem.
Man konnte nicht einfach eine E-Gitarre kaufen und auftreten. Heute wünscht
man sich zum Geburtstag eine Fender
Stratocaster und einen Verstärker und
gründet eine Band.
SPIEGEL: Haben Sie denn inzwischen
eine Fender Stratocaster?
Liefers: Ja, eine sehr gute 1954er-Replik.
SPIEGEL: Der auf CD erschienene
Soundtrack des Kinofilms „Bandits“
war ein Verkaufserfolg. Auch die Songs
aus „Jack’s Baby“, die Sie gesungen
und mit der Band Fury in the Slaughterhouse komponiert haben, erscheinen
auf CD. Wird Musik immer wichtiger,
um Filme zu vermarkten?
Liefers: Ja, denn Musik
ist der direkte Weg in
die Herzen. Ich bin vor
kurzem als Zugabe bei
der Tournee von Fury in
the Slaughterhouse aufgetreten und habe den
Song „Runaway“ aus
„Jack’s Baby“ gesungen.
Was einem da von den
Zuschauern an Emotionen entgegenschwappt,
kann man mit Theater
nicht vergleichen. Musiker sind die einzigen
Menschen, die ich wirklich beneide.
SPIEGEL: Werden Sie
eine eigene Platte machen?
Liefers: Zumindest möchte ich Songs
schreiben und sehen, was ich mit Freunden musikalisch zu Stande bekomme.
SPIEGEL: Wann haben Sie Zeit dafür?
Liefers: Meine Gitarre und den Verstärker nehme ich fast immer mit. Ich spiele
nachts im Hotelzimmer. Die anderen
Gäste beschweren sich zwar manchmal
wegen der Ruhestörung beim Portier,
aber ich kann nicht anders.
ACTION PRESS
I N T E RV I E W
QUOTEN
Kaltes Rotlicht
H
uren, Drogen, Quoten – das Hamburger Rotlichtmilieu garantierte
jahrelang hohe Zuschauerzahlen. Sogar
die höhnisch verrissene RTL-Komödie
„Der Hurenstreik“ erzielte im Februar
beispielsweise einen Marktanteil von
16,9 Prozent, 3 Prozentpunkte mehr als
der Senderdurchschnitt in dem Monat.
Doch inzwischen hat das Publikum offenbar genug von Sex und Sünde in
Hamburg. Der hoch gelobte Kinofilm
„St. Pauli Nacht“ wurde der Überraschungsflop des Jahres (160 000 Zuschauer). Und die erste der 26 Folgen
der neuen Sat-1-Serie „Die Rote Meile“
(Regie: Michel Bielawa) erzielte nur einen Marktanteil von 12,1 Prozent. Das
Thema St. Pauli sei „ausgereizt“, erklärt der Regisseur Dieter Wedel, die
Reeperbahn habe „keine Wärme mehr,
kaum mehr Mythos“. Wedels eigene
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Einschaltquoten von
Reeperbahn-Filmen
Der König von St. Pauli
Erstausstrahlung Januar 1998
Der Hurenstreik
Februar 1999
Die Rote Meile
1. Folge vom 1. Oktober 1999
Marktanteile
in Prozent
27,9
16,9
12,1
Quelle: Gfk
Rotlichtserie, der Sat-1-Sechsteiler „Der
König von St. Pauli“ war dagegen im Januar vergangenen Jahres schon mit der
ersten Folge auf eine Quote von 28,1
Prozent gekommen. Allein die ARD-Uraltserie „Großstadtrevier“, die im Reeperbahn-Milieu angesiedelt ist, konnte
auch in diesem Jahr ihren Marktanteil
von rund 16 Prozent behaupten.
Fernsehen
Vo r s c h a u
Einschalten
Doppeltes Dreieck
Montag, 20.15 Uhr, ZDF
Ein rotes Auto stürzt eine Steilküste an
der Ostsee hinunter. Schwer verletzt
wird Susanne Marquardt (Barbara
Rudnik) geborgen. Sie kann sich nur
schemenhaft an einige Details erinnern. Hat sie einen Selbstmordversuch
unternommen, weil sie an einem inoperablen Hirntumor leidet? Sie selbst
glaubt nicht an diese Theorie, schließlich hatte sie ihren Job als Staatsanwältin aufgegeben, um die letzten Monate
gemeinsam mit ihrem Mann (Helmut
Berger) zu genießen. Verwirrt und
trotzdem entschlossen macht sie sich
auf die Suche nach der Wahrheit, die,
so muss es in einem guten Thriller sein,
unangenehmer ist, als sie sich vorstellen kann. Ruhig und, welche Entspannung fürs Auge, ohne jede pompöse
Werbeästhetik hat Regisseur Torsten
Fischer diesen Krimi inszeniert. Zu
Recht verlässt er sich dabei auf die exzellenten Schauspieler, darunter auch
Max Tidof als der undurchsichtige
Rudnik, Tidof in „Doppeltes Dreieck“
Mann in Schwarz, und auf ein ausgefeiltes, dialogstarkes Drehbuch (Johannes W. Betz).
tag der Pilotfilm (100 Minuten), Donnerstag die Folge 2 (50 Minuten). Siehe
Seite 172.
Klemperer –
Ein Leben in Deutschland
Die Buchmesse
Dienstag, Donnerstag, 20.15 Uhr, ARD
Donnerstag, 23.45 Uhr, ARD;
Freitag, 22.00 Uhr, Hessen
Zwölf Filme nach den Tagebuchaufzeichnungen des Dresdner RomanistikProfessors Victor Klemperer über seine
Qualen während der NS-Zeit – mit den
überragenden Darstellern Matthias Habich und Dagmar Manzel. Am Diens-
Die 51. Buchmesse in Frankfurt hat den
Schwerpunkt Ungarn, trotzdem werden alle über Günter Grass sprechen.
In der „Großen Buchnacht“ des Hessischen Rundfunks am Freitag redet der
designierte Nobelpreisträger live mit.
Ausschalten
Die Singlefalle –
Liebesspiele bis zum Tod
end lächerliche Inszenierung von Männerphantasien, für die junge Schauspieler-Models ihre makellosen Gesichter
und Körper hinhalten müssen.
Mittwoch, 20.15 Uhr, RTL
Beim Wettbewerb um den schlechtesten Film des Jahres gehört dieser
„Erotik-Thriller“, wie der Sender das
Machwerk nennt, zu den Favoriten.
Superreiche, superschlanke, superblonde Frauen suchen bei der Agentur
„Good Company“ passende Lebenspartner, werden aber dann beim Sex
ermordet – ein echtes Imageproblem
für das Unternehmen. Die Agentur
wird geleitet von der herrischen lesbischen (nomen est omen) Emma, ihrer
verstörten bisexuellen Tochter Julia
und der tückischen lesbischen Helena,
und natürlich sind auch die supererfolgreichen Kundinnen heimlich lesbisch. Den Fall lösen soll die schöne,
blonde Kommissarin Katherin, die ihr
Büro in einem Schwimmbad hat, und
die, was für ein glücklicher Zufall, auch
bisexuell ist und sich auf lesbische Liebesspiele mit der Hauptverdächtigen
einlässt. Abends geht es dann in den
lesbischen Geheimclub, wo wenig bekleidete Lackleder-Frauen sich offensiv
lustvoll aneinander betätigen. Vermutlich hat bei RTL ein Verantwortlicher
Ein Mann wie eine Waffe
Freitag, 20.15 Uhr, Pro Sieben
Doreen Jacobi in „Die Singlefalle“
die Devise ausgegeben, Frauenfilme zu
produzieren, weil Frauen doch die
neue Zielgruppe sind. Daraufhin hat
sich ein Mann das Drehbuch ausgedacht, ein Mann hat es in der Redaktion betreut, ein Mann hat den Film
produziert, und ein Mann hat Regie geführt. Herausgekommen ist eine schreid e r
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Klaus Löwitsch spielt den Kriminalpsychologen David Bornett. Eine Kostprobe seines Scharfsinns gibt dieser, als er
in der Eingangsszene vor Publikum ein
totes Schwein zermetzeln lässt und im
Auditorium einen Frauenmörder entlarvt. Eigentlich könnte der Film da zu
Ende sein, und das wäre auch für alle
Seiten das Beste gewesen, aber dann beginnt eine Serie von Frauenmorden, die,
zu Bornetts Leidwesen, stümperhaft
ausgeführt werden. Keine in die Haut
geritzten Runen, keine zu Buchstaben
gelegten Eingeweide, nur ein Kugelschreiber im Ohr. Schade. Tatverdächtig
sind Bornett und seine Kollegen, deren
Defekte, typisch, von der multiplen
Persönlichkeit bis zum frühkindlichen
Trauma reichen. Übrigens: Eine Studie
über deutsche Serienkiller (SPIEGEL
40/1999) ergab, dass diese oft aus Habgier töten und insgesamt das Gegenteil
dessen sind, wonach Bornett jagt.
161
Medien
T V- K O N Z E R N E
Alles unter einem Dach
Der Medienunternehmer Leo Kirch ordnet sein Imperium: Der Sender Pro Sieben
wird eingegliedert und arbeitet künftig eng mit dem bisherigen Konkurrenten
Sat 1 zusammen. Der neue Verbund ist der mächtigste Fernsehkonzern des Landes.
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S. BRAUER
E
inmal im Jahr ist der Unternehmersohn Thomas Kirch,
42, öffentlich zu sehen. Dann
präsidiert der schlaksige Münchner
auf der Hauptversammlung seiner
Pro Sieben Media AG im Kreis der
Aufsichtsräte.
Unaufhörlich mahlt er mit dem
Kiefer, kommentiert halblaut den
Vortrag des Vorstands, lächelt kurz
süßsauer auf, als ein Aktionär über
den schwächelnden Börsenkurs klagt
und dabei kritisch anmerkt, sein Vater Leo Kirch, 72, mache die besten
Geschäfte offenbar lieber mit einem
anderen Münchner Unternehmen,
dem Börsenliebling EM-TV.
Nach Schluss der Veranstaltung
flüchtet der zurückhaltende Betriebswirtschaftler und TechnikFreak schnell aus dem Saal.
Künftig kann der scheue Unternehmer, der ohnehin bei vielen Experten als Strohmann seines Vaters
gilt, die Öffentlichkeit wieder meiden: Leo Kirch übernimmt die Anteile seines Sohnes an Pro Sieben
(58,4 Prozent) und gliedert den Sen- TV-Unternehmer Leo und Thomas Kirch: „Es wächst zusammen, was zusammengehört“
der in sein Medienimperium ein.
„Es wächst zusammen, was zusammen- jeder Vierte schaut Kirch. 3,85 Milliarden Anfang Oktober gestartete Nachfolgeprogehört“, kommentiert ein Spitzenmanager Mark, fast die Hälfte aller Werbegelder, gramm Premiere World reichlich TV-Abondie Fusion, die Leo Kirch mit einem Schlag flossen 1998 seinen Sendern zu. Und nach nenten und Gewinn bringen, zunächst je– nun für alle sichtbar – zum Marktführer der Pro-Sieben-Übernahme beträgt der doch muss weiter investiert werden.
Zu allem Unglück platzte eine geplante
im deutschen TV-Gewerbe macht. Der Ju- konsolidierte Umsatz der Kirch-Gruppe
nior erhält als Ausgleich einen Anteil an ei- über 10 Milliarden Mark jährlich, sie steigt Anleihe auf dem internationalen Kapitalner Dachgesellschaft des Konzerns und damit in die Riege der weltweit 15 größten markt in Höhe von zwei Milliarden Mark,
Medienkonzerne auf.
Kirch hätte hohe Zinsen von 15 Prozent für
wirkt dort seit kurzem als Aufsichtsrat.
„Vor dem Hintergrund eines sich konso- das riskante Pay-TV-Projekt bezahlen müsDie Verschmelzung der offiziell bisher
strikt getrennten Firmenreiche bringt dem lidierenden TV-Markts“, sagt der Kirch- sen. Nun sorgen das Investmenthaus MorSenior einen erheblichen Machtzuwachs. Stellvertreter Dieter Hahn, 38, „wollen wir gan Stanley Dean Witter und, so Manager
Künftig steuern Leo Kirch und sein Ma- zum Wohl der Gesellschafter und Aktionä- Hahn, ein Konsortium unter Führung der
nagement gleich sechs Sender zentral: re enger zusammenrücken.“ Das steigere Bayerischen Landesbank mit je 1,5 MilDie frei empfangbaren Sat 1, Pro Sieben, die Erträge aller betroffenen Sender enorm. liarden Mark für die Zwischenfinanzierung.
Den eindrucksvollen Zahlen und PerIn dieser Situation kann Kirch gute
Kabel 1, Deutsches Sport-Fernsehen und
N 24, einen für Januar 2000 geplanten spektiven stehen freilich ein paar Proble- Nachrichten gut gebrauchen – sie kommen
Nachrichtenkanal, sowie den Pay-TV- me gegenüber. Die Bankschulden des aus dem werbefinanzierten Fernsehen und
Kirch-Imperiums belaufen sich schät- der eigenen Dynastie.
Monopolisten Premiere World.
Über die Familienzusammenführung à la
Damit ist fast alles unter einem Dach, zungsweise auf rund sechs Milliarden
was das Leben von TV-Junkies angenehm Mark, bedingt durch teure Programm- Kirch ist das Bundeskartellamt seit dem
macht: Talkshows mit Arabella und Sonja, einkäufe in Hollywood und kostspielige 24. September informiert. Die Münchner
fragten bei der Berliner Behörde an, ob
die Fußball-Bundesliga („ran“), die erfolg- Investitionen in das digitale Pay-TV.
Das Bezahlfernsehen rund um Premiere Bedenken gegen eine Eingliederung der
reichsten Comedy-Serien („Die Wochenshow“ und „TV Total“), dazu reichlich und DF 1 erwies sich in der Vergangenheit Pro Sieben Media AG in die Kirch-Gruppe
Nachrichten und Hollywood-Filme. Nie- als größte Geldvernichtungsmaschine der bestünden. Die Antwort, die Ende verganmand erreicht in Deutschland mehr Leute, deutschen Fernsehgeschichte. Jetzt soll das gener Woche einging: nein, es sei ja eine
Kirch-Sendung „Die Harald Schmidt Show“: Aufstieg in die Eliteliga der weltweit größten Medienunternehmen
konzerninterne Transaktion und damit
kein anmeldepflichtiger Zusammenschluss.
Medienrechtlich durfte ein Unternehmen in Deutschland ursprünglich, bis 1996,
nur an einem TV-Sender die Mehrheit halten. Und so kam es, dass Thomas und nicht
Leo Kirch sich an Pro Sieben beteiligte.
Dass er der wirkliche Eigentümer und der
Sohn nur vorgeschoben sei, hat Kirch senior immer vehement bestritten.
Das Gegenteil war nie zu beweisen, dennoch rechnen die Wettbewerbshüter und
die Medienwächter bei ihren Analysen und
Entscheidungen die Unternehmen von Vater und Sohn seit einiger Zeit zusammen
und behandeln den bayerischen Bund als
„Gleichordnungskonzern“.
Fernseh-Spiel
Eine 1997 gegründete spezielle Kartellkommission der Bundesländer zur Beurteilung der Medienkonzentration sah Thomas
und Leo Kirch von Anfang an als Einheit und
genehmigte dennoch alle Anträge auf Anteilsverschiebungen und Neugründungen.
Grund: Der Marktanteil liegt zusammengenommen bei rund 27 Prozent, inzwischen
aber hat der Gesetzgeber die Höchstgrenze
auf großzügige 30 Prozent festgelegt.
Nach dem Okay der Kontrolleure wird
KirchMedia schon bald komplett den
Mehrheitsanteil von Thomas Kirch an den
allein stimmberechtigten Stammaktien der
Pro Sieben Media AG (Firmenwert: 2,8 Milliarden Mark) übernehmen. Mit dem Paket
von 58,4 Prozent lässt sich das ganze Un-
TV-Aktivitäten der Kirch-Familie
TEILHABER
83,4%
neu
Leo Kirch
8,0% Thomas Kirch
2,9% Prinz Walid
2,9% Silvio Berlusconi
2,9% Lehman Brothers
FERNSEH-BETEILIGUNGEN
33,0% HOT
40,0% TV München
100% TV Berlin
neu
* mit Berlusconi, ** Anteil an den allein stimmberechtigten Stammaktien
KIRCH PAY-TV
95,0% Premiere World
40,0% Teleclub, Zürich
FERNSEH-BETEILIGUNGEN
59,0 % Sat 1*
58,4% Pro Sieben Media AG**
Pro Sieben, Kabel 1, N 24
100% Deutsches Sport-Fernsehen
39,5% Telecinco, Madrid
1,3% Mediaset, Mailand
Italia 1, Rete 4, Canale 5
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P R O
SIEBEN
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ACTION PRESS
ternehmen kontrollieren. Als Ausgleich bekommt der scheidende Eigentümer Thomas Kirch, im Zuge einer Kapitalerhöhung,
einen Anteil von rund 8 Prozent an
KirchMedia.
In dieser Holdinggesellschaft bündelt Leo
Kirch sein Lizenzhandelsgeschäft für Sportund Filmrechte, die Produktionen für Film
und Fernsehen sowie die Anteile an den
Free-TV-Sendern. Künftig ist der Sohn nach
dem Vater zweitgrößter Gesellschafter.
Noch im Oktober soll der Anteils-Transfer abgeschlossen sein. Dann beginnt bis
zum Jahresende die Detailarbeit. Überall
sehen die Kirch-Manager Einsparpotenziale und Größenvorteile:
π So können künftig Produktionen nach
der Erstausstrahlung zwischen Sat 1, Pro
Sieben und Kabel 1 besser getauscht und
weiterverwertet werden. Bislang funktionierte das Wechselsystem nur vereinzelt, etwa beim Sat-1-Klassiker „Glücksrad“, das sich jetzt bei Kabel 1 dreht.
π Im Filmhandel bietet Pro Sieben künftig
nicht mehr separat um Ware, das macht
alles Taurus, die Stammfirma Kirchs. Die
gestiegene Einkaufsmacht soll die Preise für Filmlizenzen niedrig halten.
π In der Vermarktung werden die Programme der Kirch-Sender den Werbekunden harmonisch zum Buchen von
Spots angeboten: Pro Sieben als flotter
Serien- und Filmkanal für Teens und
Twens, Sat 1 als Familiensender für die
29- bis 49-Jährigen, Kabel 1 als Film- und
Showspezialist für Zuschauer ab 40.
Ein Plan sieht vor, dass die Vermarktungsorganisationen Media 1 (Sat 1) und
163
Medien
KRUG / CAT / ACTION PRESS
Stratege, „das ist der Ankerplatz fürs Publikum.“
Der Start von N 24 wird
wohl die letzte Tat von
Pro-Sieben-Vorstandschef
Georg Kofler, 42. In dem
Sender wollte er „eine
neue Journalistengeneration für das audiovisuelle
Zeitalter heranziehen“,
für ein „gesellschaftlich
erwünschtes Programm,
wo garantiert nicht Kirch
drin ist“.
Der Südtiroler, ehemals Büroleiter bei Leo
Kirch, hatte den Sender
Pro Sieben Anfang 1989
als Kleingesellschafter
TV-Chefs Kogel, Kofler*: Wechselsystem für Programme
und Geschäftsführer geMediaGruppe München (Pro Sieben) fu- startet und ihn mit Top-Filmen zur Marke
sionieren – für Werbe-Auftraggeber eine gemacht. Jahrelang setzte er auf UnabHorrorvorstellung. Ein „privatwirtschaft- hängigkeit und bestellte etwa beim Kirchliches Duopol“ aus je einem Vermarkter Rivalen Bertelsmann die teure, aber quofür das Bertelsmann-RTL-Fernsehen sowie tenarme Daily Soap „Mallorca“: „Jeder
für Kirch könne „nicht in unserem Inter- Sender“, doziert der Ex-Skilehrer, „muss
esse sein“, sagt Wolf Lange, Mediamanager abends seinen eigenen Slalom fahren.“
Öffentlich erklärte Kofler gern, zwischen
bei Unilever. Und Nestlé-Chef Hans GülThomas und Leo Kirch gebe es höchstens
denberg fürchtet ein „Preisdiktat“.
Entschieden ist freilich noch nichts. „Es „chromosomentechnische Verbindungen“
gibt keine konkreten Vorgaben“, sagt – auch wenn Kirch senior seit der AnKirch-Mann Hahn, „die Chefs der betei- fangszeit der größte Filmlieferant der
ligten Sender sollen sich Gedanken über Gruppe und Vermieter der Pro-Sieben-Firdie beste Struktur machen und diese den mengebäude im Münchner Norden war.
Zeitweise wurde KofGesellschaftern vorschlagen.“
Es winken etliche Rationalisierungsef- ler sogar als Kirchs Kron- IP Deutschland
fekte, glauben die Kirch-Planer. Vom Pres- prinz gehandelt: Er hatte RTL, RTL 2, Super RTL
sesprecher bis zur Finanzbuchhaltung – mit dem geglückten Bör- Gesamtvieles existiert derzeit doppelt im Fa- sengang von Pro Sieben umsatz 2881
in
milienbetrieb Kirch. Vieles wird es künftig im Juli 1997 über eine
Millionen
Milliarde Mark in die
nur noch einmal geben.
Mark
1998
Zum zentralen Nachrichtenlieferanten chronisch leere Familienbeispielsweise steigt der neue Kanal N 24 kasse gespielt.
Markt- 36,2
Doch die dominierenauf, dem die Agentur ADN/ddp gehört.
anteil
Über diese Infrastruktur sollen alle Kirch- de Rolle bei Kirch über- in Prozent
erstes
Sender versorgt werden. „Wir brauchen nahm zusehends der ro- Halbjahr
mehr News-Kompetenz“, sagt ein Kirch- buste Manager Hahn,
1999
dessen Bruder Wolfgang
zugleich im Filmeinkauf
* Mit Entertainer Thomas Gottschalk (l.) bei der Verleiin Los Angeles eine weihung der „Goldenen Kamera“ am 9. Februar in Berlin.
tere Machtposition besetzte. So musste
Kofler mit dem Plan scheitern, bei Sat 1
einzusteigen und in Eigenregie einen
großen Senderverbund zu konstruieren.
Zeitgleich mit dem Beschluss von Leo
und Thomas Kirch, ihre TV-Aktivitäten bei
KirchMedia zu bündeln, entschloss sich
Kofler schließlich im Mai für einen Abgang
in Ehren. Als Wochen später erste Gerüchte über seine Entmachtung durchsickerten,
sah er sich gemobbt – und wetterte gegen
„Heckenschützen“ bei Kirch.
In wenigen Wochen wird er durch den
ruhigen Schweizer Urs Rohner, 39, ersetzt,
einen erfahrenen Juristen, der auf Firmenzusammenschlüsse spezialisiert ist.
Der Fusion von Pro Sieben und Sat 1
sollen weitere Bereinigungen folgen. Das
Ziel: Ein starker Kirch-Konzern, der von
der Produktion von Filmen bis zum
Abspielen in eigenen Kanälen alle TVAktivitäten vereinigt. Und der für Investoren und Aktionäre transparent ist: Spätestens im Jahr 2001 soll die Holding
KirchMedia an die Börse gehen und mehrere Milliarden Mark erlösen.
Kirch habe im TV-Markt stets als erster
„wichtige einzelne Puzzlestücke“ entdeckt, sagt sein Stellvertreter Hahn, „und
nun sieht man besser als früher das Gesamtbild“. Banken gegenüber nannten
Kirch-Manager bereits eine Summe für den
neuen Gesamtwert des Konzerns: mehr als
25 Milliarden Mark.
Hans-Jürgen Jakobs
Kirch-Familie
MGM
Media 1
Pro Sieben,
Kabel 1,
Bloomberg TV,
H.O.T.
Sat 1,
TV.B (Berlin),
tv-m (München),
RNF plus,
B.TV (ab 2000)
1935
Vermarkter von
TV-Werbung
in Deutschland
1850*
Fusion
26,2
Geballte
Werbemacht
22,6
*geschätzt
ARD S&S
ZDF
Das Erste,
Hamburg 1,
B.TV (bis 1999)
3,8
380*
3,2
312
R. FROMMANN / LAIF
Chefredakteur Gowers: „Leser haben noch Wichtigeres zu tun, als Zeitung zu lesen“
PRESSE
Rosa Mission
Die „Financial Times Deutschland“ will den deutschen
Zeitungsmarkt aufmischen. Unter großer Geheimhaltung hat
in Hamburg die Endphase der Vorbereitungen begonnen.
D
a liegt er, der streng geheime Masterplan. Unscheinbar und rosa,
neben Zuckerkrümeln und Kaffeetassen auf dem Rauchglastisch des
Chefredakteurs. Was würden die Jungs
vom Düsseldorfer „Handelsblatt“ nicht alles dafür geben, um an dieses Dokument
heranzukommen. Gierig könnten sie sich
dann auf das „Stilbuch“ stürzen und die
Blaupause der Konkurrenz Blatt für Blatt
inhalieren.
Auf Seite 59 würden sie alles über die
„Sieben Sünden des Satzbaus“ erfahren,
auf Seite 64 brisante Details über
„Schwabbelfett und Stilschludereien“ und
auf Seite 71, dass sich „unsere Zeitung im
Lauftext Financial Times Deutschland
oder FTD“ nennt.
Doch dazu wird es nicht kommen. Andrew Gowers, 41, der englische Chefredakteur der neuen bundesweiten Tages-
zeitung, hat vorgesorgt. Das „Stilbuch“
darf nur von Mitarbeitern ausgeliehen werden – für kurze Zeit und gegen Unterschrift. Die Redakteure sind streng ermahnt worden. Wenn „unsere Coca-ColaFormel“ dem „Handelsblatt“ in die Hände
fällt, so die Botschaft, dann ist „alles aus“.
Denn dann wüsste die Konkurrenz aus
Düsseldorf alles über das Konzept der
neuen Zeitung, die der Hamburger Großverlag Gruner + Jahr (G+J) zusammen mit
dem britischen Medienkonzern Pearson
Anfang nächsten Jahres auf den Markt
bringen will.
Seit Gründung der links-alternativen
„taz“ vor zwei Jahrzehnten hat sich niemand mehr getraut, in Deutschland eine
bundesweite Tageszeitung neu einzuführen – erst recht nicht ein Wirtschaftsblatt, das gegen die starke Konkurrenz von
„Handelsblatt“ und „Frankfurter Allge-
meine“ bestehen muss. Doch der Boom
der Wirtschaftspresse hat Engländer und
Deutsche mutig gemacht – wenn sie auch
inzwischen fast „erschrocken sind ob der
Monstrosität dieser Aufgabe“, wie ein
G+J-Insider berichtet.
Die Idee für das ehrgeizige Projekt hatten Pearson-Vorstand David Bell und G+JChef Gerd Schulte-Hillen am Morgen des
4. Oktober 1997 beim gemeinsamen Frühstück im Hotel Nafsika in Vouliagmeni bei
Athen eher beiläufig entwickelt. Der Brite
hatte sich bei Schulte-Hillen beklagt, er
habe keinen deutschen Verlag finden können, der mit ihm eine deutsche Ausgabe
der „Financial Times“ herausbringen wolle. Der Deutsche zeigte sich interessiert.
Anfang 1998 schlug Schulte-Hillen seinem Zeitungsvorstand Bernd Kundrun vor:
„Lass uns mit den Pearsons reden.“ Die
beiden flogen nach London und waren sich
mit Pearson-Chefin Marjorie Scardino im
Grundsatz schnell einig. Während Teams
beider Seiten erste Konzepte entwickelten, entwarfen die Juristen die Verträge für
ein Joint Venture, an dem beide Partner
gleich große Anteile halten.
Fast 200 Millionen Mark wolle man in
das Projekt investieren, heißt es offiziell
in der Hamburger Konzernzentrale. Doch
intern werden sehr viel höhere Zahlen genannt: Von bis zu 300 Millionen ist die
Rede und einem geplanten Erscheinungstermin in der dritten Januarwoche. In einer
Hausmitteilung an die „lieben Kolleginnen
und Kollegen“ schreibt Gowers: „Unser
Ziel war es schon immer, so früh wie möglich im ersten Quartal 2000 zu erscheinen.“
Bis dahin herrscht strengste Geheimhaltung. Noch nicht einmal der Name der
Zeitung sollte der Konkurrenz bekannt
werden. Per E-Mail wurden die Mitarbeiter angewiesen, sich gegenüber Fremden
als Angehörige der „deutschen Financial
Times“ zu melden – „deutsch mit kleinem
d“. Und ein Handzettel der Öffentlichkeitsarbeit gab einen „Überblick über den
gegenwärtigen Stand der Kommunikation“
(„Was über uns in der Presse stand / Was
wir sagen“). Offizielle Sprachregelung: „Fi-
DPA
Medien
Gruner + Jahr-Zentrale in Hamburg: „Die Führung wird nervös“
166
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Sein Blatt (rosa Titelschriftzug auf dunkelblauem Grund) ist wie das englische
Vorbild auf rosa Papier gedruckt – nur
in dem kleinen Format der meisten deutschen Regionalzeitungen. Gowers will
„Mehrwert durch Standpunkt und Selektion“ bieten. Die „FTD“ müsse zum „Navigationsmedium durch die Infoflut“ werden. In einer Rede vor den Mitarbeitern
gab Gowers die Parole aus: „Lieber Leser,
Sie haben noch Wichtigeres zu tun, als Zeitung zu lesen.“
Der Chefredakteur hat den Ehrgeiz, den
Lesern eine völlig neue Art des Tageszeitungsjournalismus zu bieten – nach angelsächsischem Vorbild. Das Blatt müsse einen
klaren Standpunkt beziehen und „Organisationen als Bündel menschlicher Interessen“ begreifen.
T. MEYER / ACTION PRESS
nancial Times wird Bestandteil des Namens sein.“
Erst vor wenigen Tagen hat Gowers das
Theater beendet: In einem Interview mit
dem Branchenblatt „Werben & Verkaufen“
verkündete er, was ohnehin schon jeder
wusste: Die beiden Gesellschafter hätten
sich auf den Namen „Financial Times
Deutschland“ („FTD“) geeinigt.
Anfang Oktober durften die meisten Redakteure zum ersten Mal bei einer Tagung
im „Salon on Top“ im teuren Hamburger
Inter-Conti-Hotel einen Blick auf die ersten
Testexemplare („Dummies“) werfen, von
denen 500 Stück unter strengen Sicherheitsvorkehrungen in der Berliner G+JDruckerei hergestellt worden waren.
Kaum einer war zufrieden. „Sehr viel
ordentliches Handwerk“, beschreibt einer
der Anwesenden den allgemeinen Eindruck, „aber noch weit von dem eigentlichen Anspruch entfernt.“ Nach einer Stunde wurden die durchnummerierten Dummies (aufgedruckter Verkaufspreis: zwei
Mark) wieder eingesammelt.
Doch Gowers macht sich und seinen
Leuten Mut. „Wir haben noch reichlich zu
tun und bleiben für alle Anregungen offen“, so der Chefredakteur in einem Brief
an seine Mitarbeiter, aber: „Besser konnte
das Marktforschungsergebnis nicht ausfallen: Es bestätigt, dass die Leser großen Bedarf an unserem Produkt haben.“
Der Engländer arbeitet bereits seit Oktober vergangenen Jahres an dem Blatt.
15 Monate lang führte er in London die
Geschäfte der angesehenen „Financial
Times“, während sich sein Chefredakteur
in New York um die US-Expansion des
Blattes kümmerte. Doch als der zurückkam, musste für Gowers ein neuer Job
gesucht werden. Der fließend deutsch
sprechende Journalist, der seine Karriere
1980 bei der Nachrichtenagentur Reuters
begann, wurde zum Gründungschefredakteur des deutsch-englischen Projekts
berufen.
G+J-Manager Kundrun, Schulte-Hillen
„Lass uns mit den Pearsons reden“
In einem „Mission Statement“ für das
geheime „Stilbuch“ der „FTD“ kritisiert
Gowers die gängige Berichterstattung:
„Bisher wurde Wirtschaft in der deutschen
Presse häufig behandelt, als interessiere
sich nur ein kleiner Zirkel von Insidern
wirklich dafür.“ Und: „Der Markt ist reif
für neue Wettbewerber und Ideen.“
Fraglich ist, ob Gowers den hohen Anspruch mit seiner Mannschaft erfüllen
kann. Etliche seiner Redakteure hat er ge-
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BULLS PRESS
168
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T. HUMPHRIES / FINANCIAL TIMES
nau bei den Medien abgeworben,
die er selbst kritisiert. 15 der neuen
Mitarbeiter sollen in einem zweiwöchigen Crash-Kurs an der Gruner + Jahr-Journalistenschule die
Grundregeln des Handwerks lernen
– oder noch einmal auffrischen.
Der Rest hat sich bereits in „Traditionalisten“ und „Modernisierer“
aufgeteilt, die – zunächst noch
freundlich – über die künftige Richtung des Blattes streiten. Bisher liegen die Traditionalisten vorne. Die
geplante Sportseite wurde ihnen
bereits geopfert. Auch Kultur wird
nach dem jetzigen Stand allenfalls
noch rudimentär vorkommen – auf
der letzten Seite („Agenda“), einer Mischung aus Lifestyle,
Kunst und neuen Produkten
und in der Wochenendbeilage, die jeden Freitag erscheinen wird.
„Man merkt schon, dass
„FT“-Redaktion in London
die Führung zunehmend nerVorschlag beim Frühstück
vös wird“, sagt ein Redakteur, „ein Teil davon ist norschaftswoche“ fünf Redakteumale Nervosität, ein anderer
re abgeworben. Die VerlagsTeil aber extra Nervosität.“
gruppe „Handelsblatt“ plant
Kurz vor dem Start wolle
ein ähnliches Magazin („New
man sich offenbar auf keine
York, New York“), und auch
Experimente mehr einlassen Pearson-Chefin Scardino der Hamburger Milchstraßenund gehe lieber auf Nummer
verlag will demnächst ein 14Sicher, bedauert er, der sich selbst den täglich erscheinendes Internet-Wirtschafts„Modernisten“ zurechnet.
magazin („Net Business“) herausgeben.
Gowers residiert mit seiner Redaktion
In seiner Not soll G+J-Zeitschriftenvornicht im G+J-Gebäude, sondern nebenan stand Rolf Wickmann bereits etlichen Rein zwei schmucklosen Büroetagen am dakteuren seines Anlegermagazins „Börse
Hamburger Hafen. „Wir schreiben für die Online“ Gehaltszuschläge versprochen haElite“, lästert ein Mitarbeiter, „aber wir ben – wenn sie sich auf eine verlängerte
sitzen auf Möbeln von Randständigen.“
Kündigungsfrist einließen. Offiziell demenNoch sind die Großraumbüros mit den tiert der Hamburger Verlag den Vorgang.
hellgrauen Kunststoffschreibtischen weitGowers wird es mit seinem Blatt nicht
gehend verwaist. Die meisten der bisher leicht haben, wenn er Anfang des Jahres
etwa 80 Redakteure haben erst Anfang Ok- auf den Markt kommt. Der Düsseldorfer
tober ihren neuen Job angetreten und müs- Mediaplaner Thomas Koch hat für einen
sen zahlreiche Schulungen über sich er- Kunden zwar bereits „blind“ eine Anzeigehen lassen, bevor Mitte November die ge in der ersten Ausgabe der „FTD“ resertägliche Testproduktion aufgenommen viert, aber dann will er „erst einmal abwerden soll. Weitere 30 Redakteure werden warten“ und sehen, ob die neue Zeitung in
in den nächsten Wochen dazustoßen.
der zweiten Woche eine Auflage von 75 000
Monatelang hatte Gowers mit Hilfe der Exemplaren schafft: „Erst dann sind wir
Personalberatungsfirma Russell Reynolds gezwungen, den Erfolg ernst zu nehmen.“
Journalisten bei der Konkurrenz abgeworDoch das „Handelsblatt“, der Angstben. Nur einen Stellvertreter fand er nicht. gegner aus Düsseldorf, wird bereits im OkInzwischen hat er die Suche aufgegeben. tober in die Offensive gehen. In dieser WoDie Offensive des bulligen Engländers hin- che wird der Verlag einen so genannten
terließ ihre Spuren. Kaum ein Verlag kam Relaunch bekannt geben. Mit einer neuen
ohne kräftige Gehaltserhöhungen aus, um optischen und inhaltlichen Aufmachung
die heftig umworbenen Wirtschaftsredak- und einer größeren Mannschaft will er der
teure zu halten.
rosa Offensive begegnen.
„Forget it“, sagt der Engländer, „inzwiBereits vor Monaten trafen sich die Spitschen hätten Sie keine Chance mehr, ein zen von Verlag und Redaktion auf einer
solches Team zusammenzubekommen.“ Hel- zweitägigen Klausurtagung zum Planspiel.
mut Markwort, Chefredakteur des Münch- In gemischten Teams versetzte man sich in
ner „Focus“, hat angekündigt,Anfang nächs- die Rolle des Angreifers aus Hamburg. Das
ten Jahres ein neues Anlegermagazin (Ar- Spiel ging unentschieden aus. Keiner
beitstitel: „Zett“) auf den Markt zu bringen, konnte den anderen vom Markt verdränund allein bei der Düsseldorfer „Wirt- gen.
Konstantin von Hammerstein
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Medien
FERNSEHFILM
Die Geschichte wahrer Treue
ARD
Die Tagebücher des jüdischen Professors Victor Klemperer
über seine Verfolgung durch die Nazis hat die ARD überzeugend
in die Sprache des modernen Fernsehens übersetzt.
TV-Darsteller Manzel, Habich als Ehepaar Klemperer: „Märchenhafte Grässlichkeit“
172
AUFBAU VERLAG
D
ie Barbaren fühlten sich sicher: Bei
einer Hausdurchsuchung schlug ein
Brutalo der Gestapo dem Mann
mit dem gelben Stern Alfred Rosenbergs
NS-Propaganda-Bibel „Der Mythus des
20. Jahrhunderts“ auf den Schädel: Keine Lektüre für einen minderwertigen
Juden, hieß das – die Herrenrasse diskutiert nicht.
Hitlers Knechte wähnten sich in heroischen Zeiten, kaum etwas erschien ihnen verachtenswerter als ein jüdischer
Professor, ein Philologe zumal, ein Textausleger und Bücherwurm. Doch es war
Victor Klemperer, dieser knorrige Mann
mit der Brille und dem steifen Habit eines deutschen Gelehrten, der unter Lebensgefahr ihre Untaten aufschrieb. Am
Anfang war das Wort, am Ende siegte
das Wort.
Ein später, aber ein totaler Triumph. 1995
erschienen Klemperers mehr als 1500 Seiten starke Tagebuchaufzeichnungen über
die Zeit von 1933 bis 1945 und wurden gefeiert. Unbestechlich und unerbittlich, auch
gegen die eigenen Schwächen, hatte hier
ein scharfer Beobachter das Schuldbuch
der Deutschen geführt.
„Ich kenne keine Mitteilungsart, die
uns die Wirklichkeit der NS-Diktatur
fassbarer machen kann, als es die Prosa
Klemperers tut“, schrieb Martin Walser im
Eva und Victor Klemperer (um 1940)
„Irgendwo mit Engelsflügeln“
SPIEGEL. Und reservierte die Tagebücher als unveräußerlichen Besitz der Literatur: „Es ist zwar kein Trost, aber eine
Art Ermutigung, dass das Medium, in dem
dieses Zeugnis erscheinen kann, die Sprache ist.“
Nun bemächtigt sich das Fernsehen der
einzigartigen historischen Quelle. Von dieser Woche an – bis in den November –
sendet die ARD unter dem Titel „Klemperer – Ein Leben in Deutschland“ an zwei
Tagen pro Woche zwölf Filme, die von der
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Erniedrigung, den Qualen und der ans
Wunderbare grenzenden Rettung des
Dresdner Romanisten und seiner nichtjüdischen Frau Eva erzählen*.
Die TV-Unternehmung erscheint auf
den ersten Blick riskant: Der Ausstrahlungstermin zur besten Sendezeit bedeutet, dass dort keine hoch artifizielle Darbietung für Eingeweihte veranstaltet werden kann, sondern ein Massenpublikum
gewonnen werden muss. Und schon schrillen die Alarmglocken, der Verdacht der
Trivialisierung meldet sich, die Furcht,
die Klemperer-Filme könnten die tränendrüsenbewusste Gefühligkeit der „Holocaust“-Serie bloß wiederholen, die Ende
der siebziger Jahre immerhin eine gewisse Berechtigung hatte, weil sie das Thema
der Judenverfolgung dem engen Kreis der
intellektuellen Vergangenheitsbewältiger
entriss.
Um es gleich zu sagen: Die Furcht ist unberechtigt. Die zwölf Klemperer-Filme
gehören zu den Sternstunden des Fernsehens – ebenbürtig mit der Erwin-Strittmatter-Verfilmung „Der Laden“ oder Edgar Reitz’ erster „Heimat“.
Drehbuchautor Peter Steinbach, 60, mit
einer langen Liste hervorragender Produktionen ein ausgewiesener Kenner der
Gesetze erzählenden Fernsehens, beging
nicht den Fehler, die Tagebücher mit antiquarischer Akribie zu bebildern. Er hat
den genialen Beobachter Klemperer seinerseits beobachtet und dies mit den Augen des TV-Mediums. Diese Augen sehen
anders als die Wahrnehmung eines Tagebuchschreibers, manches weniger deutlich,
manches aber auch genauer.
Die Dauerreflexion des Gelehrten, seine immer wieder eingestreuten Aperçus
über den Irrsinn der NS-Sprache („Lingua Tertii Imperii“), vor allem aber Klemperers innere und den heutigen Leser
anrührenden Kämpfe um sein geliebtes
Deutschtum, das ihm von Jugend an mehr
gilt als seine jüdische Abstammung und
an dem er mit zunehmender Verfolgung
verzweifelt – dies kann Fernsehen höchstens andeuten.
An die literarische Form gebunden bleiben muss auch der jähe, innerhalb nur weniger Sätze erfolgende Wechsel zwischen
Angst und Galgenhumor, äußerer Drangsal
und innerer Gedankenarbeit, Liebesbekenntnissen Eva gegenüber und egozentrisch wirkenden Auslassungen eines Mannes, der sich, das Opfer, nie zum Helden
stilisiert.
So gibt es Eintragungen zu lesen wie
die vom 18. März 1945, schlechterdings unverfilmbar in ihrer Ambivalenz zwischen
Verzweiflung und Ironie: Die Klemperers
sind durch die Bombardierung Dresdens
fürs Erste den Häschern der Gestapo entronnen, aber noch nicht in Sicherheit.
Victor schreibt: „Wenn ich diese Flücht* Dienstag und Donnerstag, 20.15 Uhr.
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Medien
hentlich und zugleich zuversichtlich, heften
sich seine Augen, wie die eines Kindes,
hinter der Gelehrtenbrille auf Eva, die
„Arierin“, die ihn nach den Bestimmungen
der Nazis vor dem Abtransport ins KZ
bewahrt.
Selbstbewusst hat Autor Steinbach nicht
nur Seitensprünge für Eva und Victor – er
begegnet einer ehemaligen Studentin (Lisa Martinek) während
der Olympischen Spiele in Berlin
– erfunden. Der Autor komponierte auch die Geschichte einer
Liebe hinein, die – wie ein Kontrapunkt zur Klemperer-Ehe – von
den Zeitläufen zerstört wird: Es
geht um das jüdische Mädchen
Lore Libeskind (Kathrin Angerer),
die sich – die Nürnberger Gesetze
„zum Schutz des deutschen Blutes“ sind gerade in Kraft – in den
arischen Volksschullehrer Eberhard Klingler (Anian Zollner) verliebt und bald von ihm ein Kind
erwartet.
Lore gelingt die Ausreise aus
Deutschland. Einmal noch, 1938
auf der Reise von England nach
Palästina, kommt die junge Frau
mit ihrem kleinen Sohn für einen
Tag nach Dresden. Sie trifft sich
mit Klingler in einer Kirche auf
dem Land. Dem Paar ist klar, dass
es sich nie wieder sehen wird.
Klingler meldet sich zur Front,
wird alsbald blind geschossen und
für kurze Zeit Eva Klemperers
Geliebter. Bitternis und Hoffnungslosigkeit prägen diese tragische Geschichte des jungen LehSchauspieler Habich*: Seitensprung erfunden
rers. Sie ist zugleich ein Beispiel,
Autor Steinbach hat vor solcher Sprach- wie das Fernsehen erzählen muss, um ankunst nicht resigniert. Seine Fernsehaugen schaulich zu machen, wie durch Historie
haben dafür in den Tagebucheintragungen Liebe zerstört wird.
Der Hamburger Regisseur Kai Wessel,
etwas gelesen, das der Rationalist Klemperer eher zudeckt: die Geschichte einer 38, der die ersten sechs Folgen inszeniert
wahrhaftigen, weit über sexuellem Besitz- hat, vertraut wie sein beinahe gleichaldenken erhabenen ehelichen Treue. Was triger Ost-Kollege Andreas Kleinert (Foldie Klemperers zusammengefügt haben, gen sieben bis zwölf) ganz auf seine Dardas konnten auch die Nazis nicht trennen. steller.
In diesen Filmen herrscht ein klarer ReAlle zwölf Filme zeigen diese – darf man
es so nennen? – Liebe. Sie ist das A und das giestil: Alles hat ein Gesicht, die Opfer und
O, die Klammer und am Ende der Sieg. die Täter, das Gute und das Böse. Auf gleisHinreißend spielt das die Eva-Darstellerin nerischen, vom Geschehen abgekoppelten
Dagmar Manzel. Im härtesten Ehestreit, Firlefanz verzichten Wessel, Kleinert und
selbst in den Anfechtungen der Untreue ihr gemeinsamer Kameramann Rudolf Blamit einem blinden Kriegsinvaliden macht hacek aus Prag, aus der Stadt, wo die Filsie mal mit verträumten, mal mit besorgten me entstanden.
Das heißt nicht, dass es in diesen Filmen
Blicken den Wert sichtbar, den dieser Mann
keine optischen Metaphern gäbe. Wo sie
für sie hat.
Und Matthias Habich, nicht minder sou- eingesetzt werden, überzeugen sie: Klemverän in der Klemperer-Rolle, erwidert die- perers Verlust des Hochschulamts an der
se Liebe auf seine Weise: Er verbirgt sie oft TU Dresden erinnert an das Lonesomehinter Egozentrik, Larmoyanz und Ironie. Cowboy-Pathos von „High Noon“ – wir
Doch manchmal, besonders in den schreck- sehen den armen Helden durch unwirtliche
lichen Momenten der Bedrückung im Ju- Räume wandern, an Randalierern vorbei,
denhaus, zerbricht der Panzer: Hilflos, fle- an feigen Kollegen.
Die Szene, in der Klemperer auf dem
* Mit Lisa Martinek.
Schreibtisch seines Dienstzimmers den
ARD
lingswochen erlebt habe – warum soll ich
nicht ebenso gut erleben (oder eben: ersterben), dass wir, Eva und ich, irgendwo
uns mit Engelsflügeln oder in sonst einer
schnurrigen Form wiederfinden? Nicht nur
das Wort ,unmöglich‘ ist außer Kurs geraten, auch ,unvorstellbar‘ hat keine Gültigkeit mehr.“
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Medien
mann), ein kompromissloser Schläger, der
auch vor Mord nicht zurückschreckt, und
Müller (Michael Kind). Der steht für den
ewigen Opportunisten: Zunächst hilft er
den Klemperers beim Hausbau, macht sich
mit deren geliehenem Geld als Fahrlehrer
selbständig, tritt in die SS ein und, als die
Nazis vertrieben sind, hat er schnell einen
Job bei den Russen. Auch dieser Müller
ist eine Figur, wie sie serielles Fernsehen braucht. An ihr lässt sich
Schritt für Schritt die Anpassung von
Mittätern im Fernsehen begreifbar
machen.
Dann verdichten sich die Szenen
zum Kammerspiel. Die Klemperers
sind mit anderen Leidensgenossen in
das Judenhaus eingewiesen worden –
ein Leben in bedrängten Verhältnissen. Der Druck der Verfolger wächst,
es kommt zu Selbstmorden. Folge
neun zeigt Klemperers Gänge mit
dem Judenstern in die Stadt. Die
Szenen vermitteln eine Atmosphäre „märchenhafter Grässlichkeit“
(Klemperer): Da sind Menschen, die
Juden bewusst grüßen, ihnen sogar
etwas zustecken, andere dagegen
demonstrieren ihre Verachtung –
eine irreale und zugleich brutal reale Welt.
Schließlich legt sich Auschwitz
Hochschullehrer Klemperer (1955): Bittere Hoffnung
als Schrecken auf die Szenen. Erst
Monument deutscher Feigheit und folgen- erscheint der Holocaust als eine bedrückende Metapher: Rauch steigt aus einer
loser Scham.
Verlust und Abschied sind neben der gewaltigen tiefschwarzen Lokomotive.
Liebe die weiteren Fäden im „magischen Dann wird die Judenvernichtung zur GeGeflecht“ (Steinbach), das die zwölf Fil- wissheit. Klemperer findet beim Reinigen
me zusammenhält. Dem Verlust des Amtes von Güterwagen eine Postkarte. Ein Uhrfolgt der Verlust aller Arbeitsmöglich- machermeister aus Meißen hat sie 1942
keiten, der meisten Freunde. Dann verliert während des Transports in das Ghetto von
Klemperer sein Auto, das er liebevoll „den Riga heimlich verfasst und später verBock“ getauft hat. Schließlich entreißen steckt. „Ich schreibe diese Zeilen unter
Postengebrüll, Schüssen und Schreien und
ihm die Nazis sein Haus.
Regie, Kamera und Buch setzen diese Flehen um Gnade der Mütter, die um ihNackenschläge klug ins Bild. Sie zeigen re Kinder bangen.“ Als Klemperer diese
ausgiebig, was später den Klemperers ge- Zeilen seiner Frau vorliest, tut er, was
nommen wurde: ihre Treffen mit den die Filme sonst nie zeigen: Er bricht in
Freunden, den unter großen Mühen erfüll- Tränen aus.
Fernsehen oder Tagebuch? Letztlich gilt,
ten Traum vom Haus im Grünen, die Fahrten mit dem „Bock“. Was Entrechtung was der Professor in seinem Tagebuch
heißt, wird so anschaulich in die Sprache schreibt: „Der Geist entscheidet.“ Und die
Filme sind aus Klemperers Geist.
des Fernsehens übersetzt.
Die Schlussszene liefert ein großartiAuch das Böse ist in „Klemperer – Ein Leben in Deutschland“ keine abstrakte Größe. ges Bild bitterer Hoffnung: Klemperer
Da gibt es Mitläufer in Gestalt von Polizis- sitzt stumm, mit ernstem Gesicht – in die
ten. Der Film zeigt ihre wachsende Willfäh- von Kriegsschäden gezeichnete Dresdner
rigkeit gegenüber dem Regime: Zunächst Hochschule als Professor zurückgekehrt –
führen sie sich in ihren Amtshandlungen am Lehrpult. Die Kamera fährt an den Tigegen die Klemperers einigermaßen gesit- schen der Studenten vorbei, auf denen sich
tet auf. In der Pogromnacht 1938 aber fun- zögernd die Hände zum beifälligen Klopgieren sie nur noch als Erfüllungsgehilfen – fen regen. Am Ende der Fahrt erscheint
vergeblich fordert Eva einen von ihnen auf, Eva im Bild, strahlend, stolz.
Walser schrieb, ihn habe die „moralidie allen Vorstellungen von bürgerlicher
Gesittung widersprechende Drangsalierung sche Schönheit dieses Victor Klemperer eivon Juden zu beenden. Die Meute johlen- nigermaßen ergriffen“. Dank des glänzenden TV-Ereignisses können sich jetzt Zuder SA-Leute tut sowieso, was sie will.
Das Lager der Täter repräsentieren der schauer ein Bild von dieser Schönheit
SS-Scherge Malachowski (Franz Vieh- machen.
Nikolaus von Festenberg
ARD
Brief vorfindet, mit dem er nach den Bestimmungen „zur Wiederherstellung des
Berufsbeamtentums“ aus dem Dienst entfernt wird, spiegelt sich im Gesicht seiner
den Nazis nicht abgeneigten Sekretärin:
Sie bricht in Tränen aus, als ihr Klemperer
erklärt, er würde sie wieder einstellen,
wenn der Nazi-Spuk vorbei wäre. Die Kamera verweilt auf der weinenden Frau – ein
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Medien
ZEITUNGEN
Darling Anita
Journalistenwettkampf in
der Filmstadt: Der „Hollywood
Reporter“ und „Variety“
berichten von Produzenten und
Stars – möglichst indiskret.
M. MONTFORT
D
Herausgeber Dowling: „Teil unserer Stadt“
nen sicher.“ Und das soll in dieser von Paranoia gezeichneten Stadt schon was heißen: Denn die Agenten und „publicists“
schirmen ihre Stars normalerweise gegen
Journalisten ab. Interviews gewähren manche Schauspieler nur, wenn die Zeitung oder
das Magazin zuvor Verträge unterschreibt,
in denen zugesichert wird, dass unbequeme
Fragen nicht gestellt und Fotos vor dem Abdruck selbst ausgewählt werden können.
Hollywood sei stets „von einer gewissen
Angst geprägt“, so Chefredakteurin Anita
Busch. Selbst Pressesprecher von Filmstudios würden darauf beharren, ohne Namensnennung zitiert zu werden, obwohl
sie selbst die Redaktionen über diesen oder
jenen „Deal“ informiert hätten.
Oft seien die News, die Agenten oder
PR-Manager verbreiteten, „allenfalls ein
Versuchsballon“, heiße Luft also, mit der
Tatsachen vorgetäuscht würden, damit der
Name eines Schauspielers oder
Regisseurs endlich mal wieder
in einer Meldung erscheine.
Anita Busch und ihre Redakteure versuchen täglich, „die
Wirklichkeit von den Phantasien“ zu trennen. Der Druck, so
die Blattmacherin, sei „erheblich“, denn in Los Angeles, der
Hauptstadt der globalen Entertainment-Industrie, muss der
„Hollywood Reporter“ sich zu
allem Überfluss auch noch mit
einem Rivalen auseinander setzen, der dieselben Leser anspricht und um dieselben Anzeigenkunden wirbt – „Variety“, ebenfalls ein so genanntes
„trade paper“, ein Fachblatt
also, Auflage 30 000 Exemplare.
Die Rivalität mit „Variety“, so
Anita Busch, die drei Jahre Filmexpertin bei dem Konkurrenzblatt war und den „Reporter“
seit Januar dieses Jahres
* Mit Richard Gere in dem Film „Die
Braut, die sich nicht traut“.
d e r
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CINETEXT
ie Schönen und Mächtigen in Hollywood finden diese Frau „erstaunlich“ und „fabelhaft“. Schon
kurz nach dem Kennenlernen wird sie
meist „Darling“ genannt, beim nächsten
Gast heißt es gleich: „Das ist meine beste
Freundin.“
Anita Busch weiß genau, warum Gäste
bei Cocktails und Dinner um ihre Nähe
buhlen – sie ist schließlich die Chefredakteurin des „Hollywood Reporter“, einer
Tageszeitung wie kaum eine andere in der
Welt. Täglich News über Hollywood, doch
kaum Klatsch und Glamour, sondern Entertainment als Industrie.
Der „Hollywood Reporter“, so Herausgeber Robert Dowling, „ist Teil dieser
Stadt“ und damit der hier verbreiteten
Sucht, reich und berühmt werden zu wollen. Wer nicht in seiner Zeitung steht, hat
hier nie existiert. Wer keine Schlagzeilen
liefert, kann auch kein Star sein.
Die Auflage des Insider-Blattes ist eher
bescheiden, 24 000 Exemplare werden täglich verkauft. Und dennoch, so die „New
York Times“, ist die Zeitung aus Hollywood „nahezu Pflichtlektüre“.
Über den „Hollywood Reporter“ nämlich, der in Magazin-Format erscheint,
kommuniziert die Filmstadt „mit- und
übereinander“. Die Schauspieler etwa können nachlesen, welche Produktionen geplant sind, die Produzenten erfahren, welche Gesetze im US-Kongress in Vorbereitung sind, die Hollywoods Phantasien,
etwa in der Darstellung von Gewalt, beschränken könnten.
Exklusiv meldete das Blatt, dass sich nur
noch 4 von 38 neuen US-Fernsehserien in
diesem Jahr auf das Leben des schwarzen
Amerika konzentrieren, Julia Roberts für
ihren nächsten Film 20 Millionen Dollar
Gage erhält und Martin Scorsese, Leonardo DiCaprio und Robert De Niro gemeinsam an einem Filmprojekt arbeiten wollen, „Gangs of New York“ soll es heißen.
Eine Zeile mit Namensnennung auf der
ersten Seite des „Hollywood Reporter“,
ein Foto sogar, suggeriert dem Leser: „Diese Person hat Bedeutung.“ Und Agenten,
Regisseure, Produzenten, PR-Manager notieren den Namen womöglich in ihrer
Computerkartei – für die Einladung zur
nächsten Cocktailparty oder besser noch
für einen Termin zum Casting.
„Wen auch immer unsere 67 Redakteure
anrufen“, sagt Dowling, „ein Rückruf ist ih-
führt, „ist unerbittlich“ und nichts
anderes als ein täglicher Existenzkampf. „Variety“, vor 94 Jahren in New York gegründet, erscheint seit 1933 täglich in Los Angeles, den „Hollywood Reporter“
gibt es seit 1930. Beide Blätter
sind in den Besitz von MedienKonglomeraten übergegangen,
der „Hollywood Reporter“ wird
von der niederländischen Verlagsgruppe VNU kontrolliert, „Variety“ von dem Medienkonzern
Reed Elsevier.
6700 Anzeigenseiten schalteten
die Werber im letzten Jahr im
„Reporter“, 2000 mehr, behauptet Dowling, als die Konkurrenten von „Variety“ vorweisen können. Seit Frau Busch das Blatt
führe, sagt der Herausgeber, „hat die Konkurrenz nichts mehr zu lachen“.
Schon als Reporterin war Anita Busch in
„Hollywood gefürchtet und bei vielen
unbeliebt“(„New York Times“), eben weil
sie Konflikte mit den Mächtigen der Entertainment-Industrie nicht scheut. „Einschüchtern, manipulieren lass ich mich von
niemandem“, sagt sie.
Die Rivalen von „Variety“ will sie durch
ein Dauerfeuer von Exklusivmeldungen „mürbe machen“, die Konkurrenz
„schreckt mich nicht, die stimuliert“.
Auch global will sich der „Reporter“ unter ihrer Führung stärker engagieren. Zwei
Korrespondenten hat das Blatt inzwischen
in Deutschland stationiert, gelegentlich
reist der Auslandschef aus Hollywood persönlich an und recherchiert. Ein Objekt
seiner Neugierde: die Kirch-Gruppe in
München.
Helmut Sorge
Filmstar Roberts*: Der Rückruf ist sicher
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Gesellschaft
Szene
AC C E S S O I R E S
Bäuchlein verdecken
N
icht bloß im ersten Roman der früheren Klatschkolumnistin Beate Wedekind spielt eine Handtasche die heimliche Hauptrolle,
auch im wirklichen Leben modebewusster Frauen geht es nicht ohne
sie. Für Designer ist sie die wahre Talentprobe, denn wird sie Kult,
bringt sie Millionengewinn. Welche Handtaschen diesen Status erreichten und welche auf der Strecke blieben, verrät das Buch „Die
Handtasche“ der „Tatler“-Redakteurin und Handtaschen-Fetischistin Designer-Taschen, Trägerin
Carmel Allen, 32. Gut funktionierender Instinkt und feines Gespür für
den Zeitgeist, so lernt man hier, sind für den Designer unerlässlich: Will Worte scheinen auch in Sachen Handtasche ein Erdie Trägerin Laptop, Handy, Filofax und Aktenordner unterbringen, oder folgsrezept zu sein: Leute mit zu kleinem Ego sollten
soll das Täschchen bloß Lippenstift, Puder und ein paar Visitenkarten besser auf sein Label verzichten, fand etwa Lebeverstecken? Legt sie Wert auf Selbständigkeit, oder begleitet sie einen be- mann Versace, die Stars Courtney Love und Demi
deutenden Mann? Will sie als Schauspielerin mit ihrer eleganten Tasche Moore hängten sich prompt seine Modelle über die
ein Bäuchlein verdecken wie einst Grace Kelly, oder soll die praktische Arme. Kleineren Egos bleiben zum Glück immer
Handbag Willenskraft symbolisieren wie bei Maggie Thatcher? Markige noch an die hundert andere Markennamen.
Palästinensertuch-Mode
H AU P T S TA D T
Comeback des
Troddelfetzens
F
ür die Elterngeneration
dürfte es ein heiliges
oder auch verhasstes Stück
Stoff sein: das Palästinensertuch. Einst diente es bei
d e r
FREIZEIT
Astra im Capri
I
n den Achtzigern war es vor allem die Dorfjugend, die vor ländlichen Großraumdiscotheken parkte und es vorzog, im Auto sitzen zu bleiben, als sich auf der Tanzfläche abzustrampeln. Jetzt
hat der Freizeitsport großstädtische Anhänger und einen modernen Namen bekommen: Parkplatzraven. Ein in Hamburg gegründeter Verein will dem neuen Hobby Anerkennung verschaffen. Es
gehe nicht bloß darum, im Auto Astra zu kippen, erklärt Vereinsmitglied Helge Thomsen, 32, man wolle vor allem „Superschlitten
aus den Sechzigern und Siebzigern präsentieren“. Besonders
erwünscht ist das Aufkreuzen in Modellen wie Consul, Taunus,
Capri, Granada
oder Admiral.
Bei ausgelassener
Stimmung treffe
man sich an der
Tankstelle und
bleibe, solange
es geht, will
heißen: bis die
Tankwarte bemerken, „dass
wir den Rüssel
gar nicht im
Tank haben“.
Hamburger Parkplatzraver
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P. GLASER
O. JACKEL
Friedensmärschen
und Anti-AtomkraftDemos als Erkennungsmerkmal antifaschistischer
Grundhaltung, später mussten sich die
Träger gefallen lassen, als Alt-68er abgekanzelt zu werden. Der Berliner
Designer Hugo
Schneider, 28, inszenierte – in der neuen Kollektion des
Labels „3mulgator“
– dem in Rente gegangenen Troddelfetzen
jetzt ein Comeback, und
zwar als Anzugstoff für
Berliner Night-Clubber.
Geradezu ideal für Tanzbegeisterte sei der Stoff,
schwärmt Schneider: „Er
ist federleicht, man kommt
kaum ins Schwitzen und ist
dennoch interessant angezogen.“
Gesellschaft
MODE
„Ich kaufe alles!“
Die Haute-Couture-Schneider hofieren extravagante Popstars als neue Kunden –
weil die traditionelle Klientel für schrille
Entwürfe aus Pelz und Pomp ihnen davonläuft. Von Wolfgang Joop
A
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lassen sich, auch zum Leidwesen der Boulevard-Presse, kaum noch bei den Couture-Schauen sehen.
Dafür gibt es zwei sich wechselseitig verstärkende Ursachen: Es bieten sich immer
weniger Anlässe, für die Haute-CoutureKreationen angemessen wären. Also werden die Entwürfe immer absurder – damit
sie wegen ihres Sensationspotenzials doch
noch gekauft werden oder, wenn es keine
Kundin gibt, wenigstens ein marktschreierisches Statement ihres Schöpfers abgeben.
„Was Sie hier sehen, ist Unterhaltung“,
kommentiert Bernard Arnault, der Dompteur der jungen Couture-Avantgardisten
John Galliano und Alexander McQueen.
Und er erwartet für das Honorar, das er
den Jungs zahlt, immer neue Tricks fürs
Medienspektakel. Dieses Jahr kann der
Modeschöpfer keine Rücksicht nehmen auf
empfindliche Tierschützer-Seelen.
Das Trend-Magazin „Dutch“ widmet
seine aktuelle Ausgabe ganz dem Pelz –
unter dem doppeldeutigen Titel „fur-ious“,
für fur (Pelz), furious (wütend). „In Zukunft wird es der echte Luxus sein, unkontaminierte Lebensmittel zu essen, und
nicht, Pelz zu tragen“, meint das Blatt.
„Königin für einen Tag“ war eine Frau im
Pelz noch in den Fünfzigern und Sechzigern. Heute sind so viele Könige und Königinnen in Pelzen auf Laufstegen und in
FOTOS: CORBIS SYGMA (li.); SIPA PRESS (re.)
bgezogen, ausgeweidet, gegerbt
und präpariert hatten Reptilien,
Vögel, Füchse und Nerze ihren letzten Auftritt auf den Laufstegen der HauteCouture-Schauen in Paris. Aus Glasaugen
blickten Kaninchen und Fuchs, im Tode
friedlich vereint, als absurde Hut-Mutationen von den Köpfen der Models das Modevolk an, das sich zur Dior-Haute-Couture-Show in Versailles eingefunden hatte.
„Jagen und Sammeln“ war das Motto der
Kollektion. Kein Mitleid und auch kein politisch korrekter Protest regte sich bei den
Zuschauern. Dass es moralisch kein Unterschied sei, einen Tierkadaver zu verdauen
oder ihn mit sich rumzuschleppen, scheint
am Ende des Jahrtausends die gesellschaftsfähige hedonistische Haltung zu sein.
Wer früher noch lieber nackt als mit Pelz
ging, der fühlt sich heute ohne Pelz nackt.
Die neue Lust auf Pomp nach den Jahren minimalistischer Ödnis schließt den
Appetit auf Fetisch und Trophäe mit ein.
Egal, oder eigentlich umso besser, wenn
die Kreation grotesk aussieht, denn moderne Couturiers entwerfen Objekte, keine Kleider. Kleider schneidern sie für den
Mainstream, den weniger exklusiven Kundenkreis, von dem man erwartet, dass er
die gerade in New York, London und Paris
gezeigten Prêt-à-porter-Kollektionen tragen und bezahlen kann. Doch auch dort
findet sich modisch Unbrauchbares wie der
Feder-BH, den der ehemalige LagerfeldAssistent Gilles Dufour für Balmains Sommermode 2000 entwarf.
Mouna Ayoub, eine der letzten PowerShopperinnen von Haute Couture, erklärt
ihre Leidenschaft für Stillleben aus Federn,
Pelz und Pailletten so: „Ich habe Angst, dass
diese Kunst stirbt. Schon als Kind, als meine Mutter mich zu den Couture-Schauen
nach Paris mitnahm, hörte ich, Haute Couture sei eine sterbende Kunst. Solange ich
lebe, wird Haute Couture nicht sterben.“
Mouna Ayoub ist mehr Sammlerin als
Trägerin der Kreationen. Mehr als 1200 Teile hat sie zusammengekauft. Der Anschaffungspreis pro Stück beträgt zwischen
25 000 Mark für ein einfaches Kostüm bis
225 000 Mark für ein besticktes Abendkleid. Deshalb umwerben die Modedesigner die Libanesin mit dem hohen Shopping-Budget wie eine Königin. Die echten
Königinnen der Länder und der Nächte
Dior-, Versace-Entwürfe: Keine Rücksicht auf Tierschützer
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SIPA PRESS
Rapper Puff Daddy
Zu viel neues Geld, um Stil zu haben
boten – wenn es denn nur die Bedeutung
eines anachronistischen Handwerks betonte. Erleichtert berichten Modejournalisten,
dass die jungen Couture-Createure (nur
noch 16 Modehäuser produzieren Haute
Couture) sich nicht futuristisch-praktischen
Experimenten, sondern ganz der Rettung
der aussterbenden Zunft des extremen Luxus verschrieben haben. Die Idee, dass L’art
pour l’art, die Kunst für die Kunst da zu sein
hat und nicht etwa die Schneiderkunst für
den Kunden, scheint die Jungs in CargoPants und T-Shirt zu beflügeln.
Wie gut, dass es für die neue Modekunst
eine neue Kundschaft gibt. Bei den HauteCouture-Spektakeln hat der alte Geldadel,
enttäuscht, empört oder verarmt, die ersten
Reihen frei gemacht für den Entertainment-Adel – die Unterhaltungs- und Lebenskünstler, vorzugsweise aus der PopSzene, für die Extravaganz und Skandale
zur Arbeitsplatzbeschreibung gehören.
Die Rapperin Lauryn Hill versorgt John
Galliano mit Ideen aus der Street-Culture,
seit er sie für ihre Grammy-Verleihung ausstattete. Anna Wintour, Chefredakteurin
der amerikanischen „Vogue“, hatte sich
als Begleiter und Model den New Yorker
Rap-Produzenten Puff Daddy (SPIEGEL
34/1999) nach Paris mitgenommen. Der
FOTOS: REUTERS ( li. u. re.); CORBIS SYGMA (M.)
Modejournalen zu sehen wie in den Fünfzigern und Sechzigern zusammen.
Auch unter Modejournalisten finden
Anti-Pelz-Aktivisten keine Verbündeten
mehr. Trotz größter Sensibilität gegenüber
diesem Thema noch in jüngster Vergangenheit wird nun Tierhaut wie Stoff vom
Meter behandelt. Der Sinneswandel hat
viele Gründe. Zum Beispiel hat sich der
moralische Bezugsrahmen erweitert.
So klingt, angesichts der Massenmorde
im Kosovo und in Osttimor, die Äußerung
des Tierlobbyisten Robin Webb deplatziert:
„Ich könnte jeden verstehen, der so wütend und verzweifelt war über den Missbrauch von Tieren, dass er getrieben war,
auch zu töten.“ Die Diskussion „ob Pelz
oder nicht“ hat die Brisanz des Themas
„Achselhaare ja oder nein“ bekommen.
Die Models, die noch vor ein paar Jahren
nackt auf Postern gegen das Tragen von
Pelzen protestierten und posierten, haben
sich, auch aus Altersgründen, anderen Aufgaben zugewandt. Das neue Alibi für jene,
die überhaupt noch eines brauchen, lautet:
„Informiere dich, wie das Tier gehalten und
getötet wurde, und entscheide dann selbst.“
Die neue Generation von Models, die unbekümmert nackt unterm Pelz über die
Laufstege schreitet, hat sich diese Gewissensfrage bestimmt nicht gestellt – Fragen
könnten die Ausübung des Mode-Kunsthandwerks behindern.
Die Modewelt ist, von innen betrachtet,
eine Welt mit eigenen Werten. Wer in ihr
lebt, wird vielleicht nicht einmal bemerken, dass die dort gerade gültigen Werte im
Widerspruch stehen zum Moralsystem der
sie umgebenden Welt.
In der letzten Couture-Schau dieses Jahrtausends war keine Verschwendung üppig
genug, kein Material zu teuer oder zu ver-
Modelle von Ungaro, Dior, Balmain: „Was Sie hier sehen, ist Unterhaltung“
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CORBIS SYGMA
Gesellschaft
Autor Joop
Träume von Ethik wirken irrelevant
schwarze Ghetto-Liberace, gern in TotalWhite-Trash gekleidet, kam mit kompletter Entourage.
„Puffy takes Paris“, überschreibt „Vogue“
den Couture-Report in ihrer Oktober-Ausgabe, unterschlagend, dass sie ihn selbst
dort hingeschleift hatte. Reporterin Plum
Sykes erzählt vom Sturmangriff des RapSuperstars auf die Pariser Festung hochgezüchteter Exzentrik, in der mondscheinblasse, unschuldig junge Models auf Stilettoabsätzen mühevoll arrangierte Stillleben
über die Laufstege balancierten.
Die Zuschauer wollten so gar nicht dem
präsentierten Schönheitsideal gleichen:
nicht blasse, sondern dunkle Haut, von Geburt an oder von allzu viel Urlaubssonne,
zu viel echtes oder künstliches Kraushaar,
zu viel Collagen in den Lippen, zu viel
neues Geld, um Stil haben zu können.
Aber für welche Kunden, wenn nicht für
diese, sollte die Couture in Zukunft überhaupt noch schneidern? Wenn nur die NeuReichen aus der Ich-Ich-Ich-Kultur übrig
bleiben, erübrigt sich die Frage nach Noblesse. Ob es moralisch zulässig ist, sich
ein totes Tier auf den Kopf zu setzen, ist
eine aus der Mode gekommene Überlegung. Schauen alle hin, regen sich alle auf?
– das sind die Leitprinzipien der neuen
Haute-Couture-Kunden.
Leidenschaft und Träume von Ethik und
Gerechtigkeit wirken am Ende des Millenniums naiv und irrelevant. Understatement
ist abgelöst durch Overstatement: Es geht
nicht darum, ob man einen Pelzmantel
kauft oder nicht, sondern darum, ob man
einen Pelzmantel kauft oder mehrere.
Puff Daddy buchte als Protagonist der
neuen Luxus-Szene ein ganzes Hotelzimmer als Garderobe und brachte 18 Überseekoffer mit Klamotten mit, obwohl er
doch in Paris einkaufen wollte. Dazu zwei
Stylisten (Anzieh-Gehilfen), einen Friseur
und einen Visagisten. Außerdem eine Kiste
mit Platin- und Brillantschmuck, 45 Paar
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Schuhe, 26 Hüte, noch zwei Assistenten,
vier Bodyguards, zwei PR-Manager, Platten-Manager, „Road-Manager“. „Aber
noch weiß Puff Daddy nicht, was er anziehen soll“, berichtet „Vogue“.
Mit schläfrigen Augen unter schweren
Lidern verfolgte der Rapper die VersaceShow, klatschte und verkündete: „Ich kaufe alles!“ Für wen wohl? Den Damen-Glitz
für sich selbst, für eine Fummel-Party auf
Long Island, für seinen Harem oder für
seine 15 Begleiter etwa, die alle zusammen
immer knapp eine halbe Stunde brauchten,
um den Hotelausgang zu verlassen?
Donatella Versace, Karl Lagerfeld, JeanPaul Gaultier und John Galliano konnten
die Truppe um Puffy kaum erwarten, Tom
Ford von Gucci schwärmte von dessen Glitzersteinen: „Er ist halt so: Ich liebe Diamanten, also trage ich sie. Sein Stil ist, was
er aus sich selber macht. Und für Gucci
zahlt er den vollen Preis.“ Warum auch
nicht!
Die Star-Fotografin Annie Leibovitz ließ
Puff Daddy halbnackt, mit Schmuck oder
Weißfuchsmantel behängt, im Set des Hotel Raphael mit Kate Moss für die „Vogue“
posieren, als Stil-Statement einer neuen
Culture-Couture-Epoche: Mehr ist mehr!
Auf den Partys am Abend sah man kaum
eine der Kreationen, um die es tagsüber
ging. Es reicht, über sie zu reden, um sich
mit ihnen zu schmücken, denn wie soll
man sich auch bewegen können in einem
bodenlangen Krokodillederkleid von Gaultier, an dem noch die leeren Fußlappen des
Opfertieres hängen? Wie soll man den
Hitzschlag vermeiden in igluförmigen Pelzröcken? Wie soll man einen Martini, die
Kaviar-Blini zu sich nehmen, wenn Kinn
und Mund versperrt sind von einer JuteKristall-Kreation, geschaffen vom CoutureNewcomer-Duo Viktor & Rolf?
Der alte Geldadel ging nicht zu den Partys. Die Damen der Aristokratie sind zu
Hause geblieben bei den stilleren HauteCouture-Entwürfen vergangener Saisons,
die sie auf Feiern im engsten erlesenen Zirkel auftragen können. Auf den After-ShowPartys posierte stattdessen die neue Kundschaft im Blitzlichtfeuer der Eitelkeiten,
den jeweiligen Haute-Couture-Schneider
im Arm, und das sichtlich gern, schließlich
entwickeln sich die Einnahmen der PopSociety parallel zu ihrer Medienpräsenz.
Und nächstes Jahr? Was bleibt, wenn
man nur noch mit schamloser ästhetischer
Tabuverletzung von sich reden machen
kann? „In einer Welt der Eitelkeit und
Hybris“, erklärt das britische Magazin
„Scene“, werde es immer Gründe geben,
„ein Kleid für 20 000 Pfund aus perlmuttfarbenen Jungfernhäutchen zu nähen“.
Anfang der achtziger Jahre warnte die
Künstlerin Jenny Holzer in Riesenbuchstaben über dem New Yorker Times Square:
„Protect me from what I want“ (schütze
mich vor dem, was ich mir wünsche). Aber
das ist schon lange her.
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Langzeit-Urlauberin Völker (auf den Fidschi-Inseln): Bambushütte statt Luxushotel
Ausflug
in die Freiheit
Immer mehr junge
Führungskräfte gönnen sich
eine Auszeit vom
Berufsleben – und ihre Firmen
profitieren davon auch noch.
Ü
ber Jahre hinweg hatte der junge
Unternehmensberater Karriere auf
der Überholspur gemacht und war
dabei ständig unterwegs – von einem
Team-Meeting zur nächsten Konferenz, zur
übernächsten Sitzung, immer weltweit im
Einsatz. Dann hatte der Münchner PeterMarcus Viersik, 30, genug und bat bei seiner Firma Roland Berger um eine Auszeit.
Drei Monate lang blieb er einfach zu
Hause, saß im Garten, kümmerte sich um
seine Tochter und dachte meist nicht weiter als bis zum nächsten Picknick. Er wollte noch einmal dieses „Gefühl wie in den
Sommerferien erleben“, das sich in den
kurzen Urlauben einfach nicht mehr einstellen wollte. „Irgendwann reichte es nicht
mehr als Ausgleich, die Hand vom Vorstand geschüttelt zu kriegen: Haste toll gemacht.“ Seit drei Wochen arbeitet Viersik
nun wieder, mit neuer Kraft, wie er sagt.
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ruhen lassen“, heißt es im Zweiten Buch Mose.
„Noch bieten weniger als
zehn Prozent aller Unternehmen Sabbaticals an, aber ihre
Zahl wächst deutlich“, sagt Lars
Herrmann von der Berliner Arbeitszeitberatung Dr. Hoff, Weidinger & Partner. Vom ersten
deutschen Ratgeberbuch „Aussteigen auf Zeit“ ist ein halbes
Jahr nach Erscheinen bereits die
zweite Auflage vergriffen*.
Seit Beginn des SabbaticalProgramms bei Siemens 1997
Unternehmensberaterin Völker: Große Pause
nahmen sich 120 Mitarbeiter
Immer mehr aufstrebende Angestellte eine Auszeit. Bei Veba rechnet die Persowie Viersik verabschieden sich für mehre- nalabteilung mit mehreren hundert Kanre Monate oder gar ein ganzes Sabbatjahr didaten. Größere Pausen, etwa zum Provon ihrem Arbeitsplatz. Und das Verlangen movieren, sind bei McKinsey längst gänginach Freiheit auf Zeit gilt auch in den obe- ge Praxis.
Die Münchner McKinsey-Beraterin Antren Etagen der Wirtschaft nicht mehr überall als anrüchig. Nikolaus Held, Personal- je Völker, 33, packte vor zwei Jahren ihren
leiter bei Roland Berger, fand gerade Rucksack und reiste mit ihrem Freund –
„unter den Top-Performern eine neue ebenfalls McKinsey-Berater – drei Monate
Erwartungshaltung. Wünsche nach mehr durch Burma, Kambodscha, Sumatra, auf
Lebensqualität werden immer wichtiger“ – die Fidschi-Inseln und nach Australien.
und davon würden die Arbeitgeber gar Statt im Luxushotel übernachtete sie in
Bambushütten und half, einen entlaufenen
profitieren.
Auch Großunternehmen wie Siemens Orang-Utan einzufangen, den sie auf eioder BMW beginnen inzwischen damit, nem Floß aus Lkw-Schläuchen zurück in
ihren Mitarbeitern Sabbaticals zu offerie- sein Reservat brachte („Ich weiß nicht, wer
ren – meist freilich kürzere Varianten des
Ur-Modells: „Sechs Jahre sollst du dein * Anke Richter: „Aussteigen auf Zeit: das SabbaticalLand besäen und seine Früchte einsam- Handbuch“. VGS-Verlagsgesellschaft, Köln; 160 Seiten;
meln. Aber im siebenten Jahr sollst du es 19,80 Mark.
W. M. WEBER
UNTERNEHMEN
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Gesellschaft
Universität annehmen.Allerdings
geht der Forscher wie die meisten
Langzeit-Urlauber auch ein Risiko ein: Welchen Posten er nach
der Rückkehr bekommen soll,
steht noch nicht fest.
Dass sich das Sabbatical noch
nicht stärker durchgesetzt hat,
sei vor allem psychologisch begründet, glaubt Arbeitszeitberater Herrmann. „Noch immer
läuft es in vielen Firmen ab wie
beim Golden-Goal: Wer punkten will, muss in der Verlängerung dabei gewesen sein.“ Ein
Berater Olbrich: „Heiß auf das nächste Projekt“
Chef, der sich mit 14-Stundendann die vorgeleisteten Stunden en bloc Tagen hochgearbeitet habe, erwarte oft
abfeiern, und das Gehalt läuft weiter. Iris dasselbe von Untergebenen.
Bei Heiner Olbrich, 34, der mit der
Köhler, 32, Sekretärin bei der US-Firma
Hewlett-Packard in Böblingen, sparte so Selbstdiagnose „temporäre Arbeitsunlust“
über Jahre hinweg sechs Monate auf ihrem seinen Chef aufsuchte, lief das Sabbatical
Zeitkonto an. In zwei Wochen will sie nun ohne solche Vorbehalte ab: Der Unternehfür ein halbes Jahr nach Asien reisen, um mensberater bei Roland Berger machte
in einem Waisenhaus bei Katmandu zu drei Monate Pause, um an seinem Geländemotorrad zu schrauben und durch Itaarbeiten.
Albert Gilg, promovierter Mathematiker lien zu tingeln. Zum Schluss heuerte der
und Leiter eines Teams von 40 Forschern bei Fachmann für Konsumgüter-Unternehmen
Siemens, ist noch nicht so weit. Er arbeitet als Roadie auf einem Rock-Festival an.
Schließlich kehrte Olbrich „ganz heiß
Vollzeit, bekommt aber seit 1997 20 Prozent weniger Gehalt. Ab dem nächsten auf das nächste Projekt“ an seinen ArFrühjahr wird Gilg bei weiterlaufenden beitsplatz zurück. Mit Erfolg – bald darauf
Überweisungen ein halbes Jahr frei haben. wurde er zum Mitglied der GeschäftsleiDann will er einen Lehrauftrag an einer US- tung befördert.
Cordula Meyer
W. M. WEBER
aufgeregter war, der Affe oder ich“). Von
diesen Erlebnissen zehrt die Businessfrau
noch heute: „Da macht es einem weniger
aus, bis spätabends am Schreibtisch zu
sitzen.“
Betty Zucker, Leiterin der Abteilung Unternehmensentwicklung des Gottlieb Duttweiler Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft in Rüschlikon bei Zürich, glaubt,
dass Sabbaticals in vielen Branchen bald
zum Manageralltag gehören werden: „Wer
über Jahre Hochleistungen bringt, ist irgendwann ausgepowert und liefert nur
noch Innovationsplacebos ab.“ Hätten Vorgesetzte erst einmal erkannt, dass Mitarbeiter meist hoch motiviert aus der großen
Pause zurückkehren, gäben sie oft sogar
selbst den Anstoß dazu.
„Wer bei uns gefragt wird, ob er ein Sabbatical nehmen will, darf das als Auszeichnung verstehen“, so Personalleiter Held,
der mit Aussteigern „rundum positive“ Erfahrungen gemacht hat. Von rund 800 Beratern bei Roland Berger nehmen sich 30
pro Jahr eine Auszeit – Tendenz steigend.
„Für uns ist das auch ein Mittel, Spitzenleute zu halten“, sagt Held.
Damit das Girokonto der Aussteiger
beim Ausflug in die Freiheit nicht übermäßig in die Miesen rutscht, wird bei den
meisten Unternehmen das Gehalt schon
reduziert, während die Angestellten noch
voll weiterarbeiten. Später können sie
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Werbeseite
Gesellschaft
S P I E G E L - G E S P R ÄC H
„Ich bin ein Baby, das strampelt“
Rockstar David Bowie über Altersweisheit, seinen Börsengang und Tony Blair
SPIEGEL: Mr. Bowie, wann waren Sie zu-
letzt beim Friseur?
Bowie: Letzten Dezember. Danach habe
ich das Haareschneiden vergessen.
SPIEGEL: Zu viele Partys?
Bowie: Im Gegenteil, ich kann Partys nicht
leiden.
SPIEGEL: Ihr Publikum hält Sie doch für das
extrovertierte, „glitzernde Chamäleon des
Rock’n’Roll“.
Bowie: Ein Missverständnis. Ich bin außer
für ein paar Monate in den siebziger Jah-
P. GREGORY / CORBIS SYGMA
Bowie, 52, gehört zu den Legenden des
Rock’n’Roll. Anfang der siebziger Jahre
erfand er die androgyne, glamourösfuturistische Kunstfigur „Ziggy Stardust“,
mit der er auf der Bühne zum Symbol des
„Glamrock“ wurde. Als ruheloser Erneuerer hat der Brite Bowie seither versucht, Gattungsgrenzen der Popkultur
einzureißen – nicht nur als Musiker, sondern auch als Schauspieler, bildender
Künstler und Journalist.
Bowie, Ehefrau Iman: „Den brennenden Ehrgeiz der Jugend hinter mir gelassen“
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ren nie gerne ausgegangen. Große Aufläufe sind mir unangenehm. Auf einer Modenschau zum Beispiel war ich noch nie.
SPIEGEL: Interessieren Sie sich nicht für die
Arbeit Ihrer Frau? Iman ist schließlich eines der bekanntesten Models des 20. Jahrhunderts.
Bowie: Doch, aber wenn wir uns etwas ansehen, dann sind das Museen, Kunstsammlungen und Buchläden. Zweimal die
Woche gehen wir ins Restaurant. Ansonsten essen wir bei Freunden oder bleiben zu
Hause.
SPIEGEL: Das klingt sehr seriös. Haben Sie
Schwierigkeiten mit dem Älterwerden?
Bowie: Ich bin froh, die Unsicherheit, die
Frustrationen und den brennenden Ehrgeiz
der Jugend hinter mir gelassen zu haben.
Ich schreibe und arbeite heute viel konzentrierter. Man könnte also sagen, dass
ich das Älterwerden begrüße und umarme.
SPIEGEL: Diese Euphorie der Altersweisheit
merkt man Ihrem neuen Album „hours …“
nicht gerade an. Dort hört man Klagen,
vieles verpasst zu haben: die große Liebe
zum Beispiel.
Bowie: Der Charakter, den ich dort geschaffen habe, ist ein Mann Mitte 50, der
Rückschau hält und merkt, dass vieles in
seinem Leben nicht geklappt hat. Nur mit
mir selber hat das wenig zu tun. Schauen
Sie mich an: Ich bin doch eher ein Baby,
das vor Glück, Geld und Gesundheit nur so
strampelt. Aber stellen Sie sich diesen Gefühlszustand einmal als Popalbum vor.
„Mir geht es so glänzend und spitze, und
alles in meinem neuen Leben ist super.“
Schrecklich. Niemals würde ich mir eine
solche Platte kaufen.
SPIEGEL: Taugt Glück nicht für die große
Kunst?
Bowie: Die Arbeit am Melodramatischen
scheint mir wesentlich interessanter.
SPIEGEL: Die Melodramatik in „hours …“
strukturieren Sie wieder in der traditionellen Songform. Wollten Sie nach
Ihren Experimenten mit Techno und
Drum’n’Bass wieder einmal einen sicheren Hit haben?
Bowie: Ehrlich gesagt war es für mich erstaunlich festzustellen, dass ich überhaupt
noch in der Lage bin, einen ganz normalen
Song zu schreiben.
SPIEGEL: Und damit endlich wieder einmal
vorne in der Hitparade zu stehen?
Bowie: Ich verkaufe ungefähr eine Million
Alben pro Jahr. Das ist seit den siebziger
Das Gespräch führte Redakteur Thomas Hüetlin.
Werbeseite
Werbeseite
Jahren so. Eine experimentelle Platte wie „Outside“ geht
so oft weg wie die bekanntesten meiner Werke, wie „Station to Station“ oder „Heroes“. Ich habe eine sehr
treue Fangemeinde, und daran ändert sich nur etwas,
wenn ich ein richtig schlechtes
Album rausbringe. Dann verkaufe ich auf einmal richtig
viel. Werke wie „Tonight“
und „Never Let Me Down“
haben mich reich gemacht
und trotzdem fast meine Karriere zerstört.
SPIEGEL: Warum haben Sie
diese Platten überhaupt erst
aufgenommen?
Bowie: Das werde ich selbst
nie verstehen. Ich kann diese
Alben nicht aushalten. Man
merkt ihnen an, dass ich zu
dem Zeitpunkt, als ich sie aufnahm, jedes Interesse an der
Musik verloren hatte. Ich war
nur noch ein Segment des
Mainstreams, das seine Arbeit
abzuliefern hatte.
Bowie (M.) mit Bowie-Puppen*: „Ich wollte stets der Erste sein“
SPIEGEL: Wo stehen Sie heute?
Bowie: Ich bin unberechenbar. Erst in den nicht gelingen. Mir kommt das Publikum SPIEGEL: Sind Ihnen bei Ihrer Arbeit öfter
neunziger Jahren hat sich meine Karriere sofort auf die Schliche.Wenn ich mich lang- künstlerische Einfälle in die Quere geso entwickelt, wie es mir gefällt.
weile, sehe ich gelangweilt aus. „Ground kommen?
SPIEGEL: Sie wollen dem Publikum nicht Control to Major Tom“ singe ich bestenfalls Bowie: Natürlich. Der vielleicht schwernach dem Maul singen, sondern es in Auf- noch für meine Frau in einer Privatvorstel- wiegendste war, dass ich viele Jahre alregung versetzen …
les, was vertraut war, ablehnte, weil ich
lung – damit sie etwas zu lachen hat.
Bowie: … zuerst einmal möchte ich selbst SPIEGEL: Der Einzige, den Sie noch von den es für zutiefst mittelmäßig hielt. Heute
aufgeregt sein. Wenn dies der Fall ist, ent- ehemaligen Superstars Ihrer Generation hat sich mein Horizont da etwas erweitert. Ich glaube heute, dass versteht Erfolg.
akzeptieren, ist Bob Dylan. Der
traute Dinge durchaus in der
SPIEGEL: Traditionell anerkannte Erfolge im ist dafür bekannt, dass er seine
Musikbusiness lehnen Sie ab. Als Sie in die Hits von früher heute vor dem „Ich kenne viele Lage sind, wahr zu sein.
Künstler, die SPIEGEL: Sind solche Einsichten
„Rock and Roll Hall of Fame“ aufgenom- Publikum massakriert. Besteht
men wurden, sind Sie nicht einmal zur Auf- darin jetzt die Kunst der radika- sich öffentlich nur gut getarnte Ratlosigkeit,
nahmegala erschienen. Müssen Sie so et- len alten Herren – wenn man als Sozialisten oder zeigt sich hier bereits das,
was verweigern, um nur ja nicht in den schon nicht mehr die Kultur der verkaufen und was man früher unter der WeisVerdacht zu geraten, bloß ein weiteres vergangenen Generationen für
heit des Alters verstand?
privat das Geld Bowie:
hinfällig erklären kann, dann
Stück Mainstream zu sein?
Es ist auf jeden Fall nicht
anbeten“
mehr der große Vorteil des
Bowie: Das alles interessiert mich nicht. Ich zerstört man wenigstens die
Jungseins, der darin besteht, alhabe über die Jahre nie groß den Umgang eigene?
mit Leuten der Musikindustrie gepflegt, Bowie: Jeder Künstler, der seine Arbeit ernst les, aber auch alles, was vor einem kam, als
vollkommen wertlos abzutun. Ich kann das
und ich habe absolut keine Lust, jetzt noch nimmt, sollte das von Zeit zu Zeit tun.
damit anzufangen. Diese Form der Orga- SPIEGEL: Verwunderlich, dass Sie das Wort beurteilen, denn ich wusste alles. Alles,
Künstler wieder mit so viel Ehrfurcht aus- was wichtig war, zumindest. Und ich wussnisiertheit lehne ich ab.
SPIEGEL: Sie scheinen ein Problem mit Ih- sprechen. Als Sie den französischen Maler te über alles Bescheid. Bis mir jemand etrer Vergangenheit und Ihrem Gesamtwerk Balthus vor ein paar Jahren interviewten, was Neues erzählte – und ich es als wertzu haben. Wenn die Rolling Stones oder erzählte der Ihnen doch, wie ekelhaft und los abtat. Bis ich loszog und es selbst herausfinden konnte. Ich wollte stets der ErsTina Turner auf Tournee gehen, liefern sie prätentiös dieser Begriff klänge.
eine Art „Greatest Hits“-Veranstaltung ab. Bowie: Ich mag das Wort Künstler. Und te sein.
Warum verweigern Sie Ihrem Publikum was Balthus damit meinte, war eher so eine SPIEGEL: Betrachten Sie heutzutage die
Art Insider-Snobismus. Nur wenn einer ab- Rastlosigkeit, mit der Sie die siebziger Jahdiese Art Wohltat?
Bowie: Ich habe absolut kein Problem mit solut über allem steht in der Kunstwelt wie re verbrachten – zugeschüttet unter einer
meiner Legende – aber ich habe nun mal Balthus, der eines der großen Genies die- Unmenge Kokain, fortwährend auf der Sukeine Lust, 300-mal im Jahr „Ground Con- ses Jahrhunderts ist, kann er sich eine sol- che nach einer neuen Identität –, als Flucht
trol to Major Tom“ zu singen und das 30 che Abwertung leisten. Natürlich ist so et- oder als Aufbruch in ein finster-glamouröJahre lang. Da wird man wahnsinnig. Es gibt was lustig – nur glauben sollte man es ses Abenteuer?
wohl Leute wie die Rolling Stones, die die- nicht.
Bowie: Auf jeden Fall beides. Ich war immer
se Art Programm mit großem Enthusiasmus
offen für das Extreme, und vier, fünf Jahzelebrieren oder diesen Enthusiasmus we- * Bei den Dreharbeiten zu seinem Musikvideo „The re lang ging in meinem Leben während der
nigstens vortäuschen können. Mir will das Pretty Things Are Going to Hell“ im Juni 1999.
siebziger Jahre alles so drunter und drüber,
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UMAZ / LFI
Gesellschaft
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Gesellschaft
MTV
dass dieser permanente WechBowie: Wir reden über alles –
sel von Persönlichkeiten geranur nicht über Politik.
dezu zwangsläufig war. Ich hatSPIEGEL: Liegt das daran, dass
te ernsthafte psychische Proder Premierminister einmal in
bleme damals.
einer Band spielte, die Ugly
Rumours hieß, und dass er heuSPIEGEL: Nahmen Sie noch von
te noch einer Karriere im Rockder Außenwelt Notiz?
Business nachtrauert?
Bowie: Ich war verwirrt, aber
nicht blind. Jeder Mensch,
Bowie: Wie die meisten Mitder seine Dinge vor mehr als
glieder seiner Generation hat
zwei Leuten präsentiert, weiß,
Blair eine ganz enge Beziehung
dass er sich in einer Art Theazur Rockmusik gehabt und
ter befindet. Und solche Sikennt sich darin wirklich gut
tuationen haben stets etwas
aus. Nur selbst Geld verdient
Künstliches – selbst wenn Sie
hat er damit nie. Die Verbinals Lagerfeuer-Sänger in verdung zwischen Pop und Politik
waschenen Jeans auftreten und
ist also nicht so fließend wie
so tun, als zelebrierten Sie
bei Ronald Reagan, der aus
mit dieser Schmucklosigkeit
zwei Berufen einen machte.
Integrität, Simplizität und
SPIEGEL: Wie steht es mit Ihrem
Echtheit. Wenn Sie so was vor
eigenen Verantwortungsgefühl?
10 000 Leuten mit riesigen
Spüren Sie eine Verpflichtung
Verstärkern tun – das ist doch
gegenüber Leuten, die Davidmehr als bizarr.
Bowie-Aktien kaufen?
SPIEGEL: Kennen Sie eigentlich
Bowie: Das sind sehr kluge Leuirgendeinen in Ihrem Gewerbe,
te, sie werden nicht enttäuscht
der ganz dicht ist?
werden.
Bowie: Nein, die meisten von
SPIEGEL: Klingt die neue Platte
uns haben einen Schaden. Es
„hours …“ deshalb wie eine sigenügt ihnen nicht, wenn zwei
chere Sache, wie „Classic Booder drei Leute über ihre Gewie“?
fühle Bescheid wissen. Es müsBowie: Hätte ich dieses Ziel gesen stets mindestens eine halbe
habt, hätte ich mich mehr an
Million Menschen sein.
dem orientieren sollen, was zur
Zeit im Radio läuft. Dort spieSPIEGEL: Leiden Sie und Ihre
len sie harten Rock. Meine
Kollegen unter zu großen Egos?
Platte ist so ziemlich das GeBowie: Zu kleinen. Erst die riegenteil davon. Ich bin in die
sige Menge an Menschen gibt
entgegengesetzte Richtung geden Verunsicherten eine Dagangen.
seinsberechtigung.
SPIEGEL: Sie haben das Problem
SPIEGEL: Das klingt ein wenig
der Verunsicherung vor zwei- Musiker Bowie*: „Mit geradezu enzyklopädischem Wissen geschädigt“ nach Nonkonformismus. Haeinhalb Jahren dadurch gelöst,
ben Sie nicht stets Einzigartigdass Sie als erster Rockstar Ihr Werk an die für Geld so weit ging, dass er gelegentlich keit als die meist überschätzte KünstlertuBörse gebracht haben und über Nacht 55 drin schlief?
gend geschmäht?
Millionen Dollar reicher wurden. Sahen Sie Bowie: Guter Gott. Ich arbeite und mache Bowie: Dabei bleibe ich. Das Streben nach
diesen viel kritisierten Schritt außerdem Geld. Was ich nicht tue, ist: arbeiten, um Einzigartigkeit produziert in den meisten
als eine Art Kunst an, die den Rock’n’Roll Geld zu machen. Das ist ein riesengro- Fällen nur Müll. Das Beste, was ein Künstentmythologisiert?
ßer Unterschied. Ich kenne jede Menge ler heute leisten kann, ist die gekonnte ReBowie: Natürlich heißt das große Motto Künstler, die sich öffentlich als Sozialis- organisation von Dingen, die wir längst
meiner Karriere „Was wäre eigentlich, ten verkaufen und privat das Geld an- kennen.
wenn …?“, und das hat mir die Möglich- beten.
SPIEGEL: Was ist einzigartig an Ihrem neukeit gegeben, die Persönlichkeiten ebenso SPIEGEL: Welcher Künstler kniet vor diesem en Album?
schnell zu wechseln wie die kulturellen Altar?
Bowie: Der Zeitpunkt des Erscheinens. Es
Genres. Aber bei meinem Börsengang han- Bowie: Sag ich Ihnen nicht.
wird kein weiteres solches Werk in diesem
delte es sich um höchst einfachen Materia- SPIEGEL: Tony Blair?
Jahr geben.
lismus: Ich wollte meine Zukunft und die Bowie: Großer Künstler. Kaum einer be- SPIEGEL: Wir meinten nicht das Marketing,
meiner Familie absichern, so gut es geht.
herrscht den großen Maschinenraum der wir meinten die Musik.
SPIEGEL: Sie gehören also nicht zu den PR-Kunst besser als er.
Bowie: Dummerweise bin ich, was Musik
schwerreichen Rock’n’Roll-Stars, die nur SPIEGEL: Sie besuchen den britischen Pre- angeht, mit einem geradezu enzyklopädiim Privatjet reisen und dann erklären, sie mierminister ja auch gerne zum Abendes- schen Wissen geschädigt. Ich weiß stets,
lehnten Geld eigentlich ab?
sen. Erzählt er Ihnen da auch, dass in sei- wo etwas herkommt.
Bowie: Ich bin nicht Bruce Springsteen. Das nem schicken neuen Nationalbild eines SPIEGEL: Und woher kommt „hours …“?
ist nicht mein Job. Ich laufe nicht herum „Cool Britannia“ Rockstars und Köche für Bowie: Aus meinem früheren Werk. Teil der
und halte eine Fahne in der Hand, auf der das britische Bruttosozialprodukt wichtiger Übung war dieses Mal, dass ich mich über
geschrieben steht: „Zerstört den Kapita- seien als Stahlwerke und die Autoindustrie? acht Monate nur mit mir selbst beschäftigt
lismus“.
habe.
SPIEGEL: Sie schlagen also eher in die Rich- * In einer Anzeigenkampagne für die MTV Video SPIEGEL: Mr. Bowie, wir danken Ihnen für
tung von Andy Warhol, dessen Verehrung Music Awards, 1999.
dieses Gespräch.
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Gesellschaft
FOTO PRESS FPI
aus sie nun täglich auf die Insel
pendeln müssen. „Da bekommen Sie ja schon für 250 000
Mark einen ganzen Bauernhof“, weiß Makler Karbig. In
Kampen hingegen baut er gerade ein paar Doppelhäuser,
die je Haushälfte 2,5 Millionen
Mark kosten sollen – für 130
Quadratmeter.
Den Kommunalpolitikern
stößt die Inselflucht aber sauer
auf. „Die Orte sterben aus“,
fürchtet Kampens Bürgermeisterin Ruth Sönksen, 65, die seit
einem Vierteljahrhundert für
die Kampener Wählervereinigung Politik macht. Zum Problem würden vor allem Erbschaften. Wer etwa in Kampen
1000 Quadratmeter erbt, muss
im ungünstigsten Fall mit
275 500 Mark Erbschaftsteuer
Nobelort Kampen: „Wer in Deutschland zu Geld kommt, ist nächste Woche hier“
rechnen: „Da bleibt vielen
Denn mit Quadratmeterpreisen von bis nichts anderes übrig, als zu verkaufen“, so
IMMOBILIEN
zu 20 000 Mark in Kampener Spitzenlagen Sönksen.
Die resolute Bürgermeisterin will der
liegen die Sylter Preise noch über denen in
München oder Hamburg. Auch Bauland Abwanderung jetzt gegensteuern: Nach
kostet auf dem Sandhaufen in der Nordsee fast dreijähriger Planungszeit soll Anfang
überdurchschnittlich viel: So liegt der Preis kommenden Jahres der Bau von zehn
pro Quadratmeter in Kampen bei 1200 Mietwohnungen beginnen, die ausschließMark. „Die Wertsteigerung ist hier unver- lich von Sylter Jungfamilien bezogen wergleichbar“, freut sich der Kampener Im- den können. Auf einem gemeindeeigenen
Die Invasion der Reichen
mobilienmakler Karl-Hermann Karbig, 75, Grundstück sollen so genannte Hausscheivertreibt ärmere Sylter von
ben entstehen: Wohnungen über jeweils
„dagegen können Sie Aktien vergessen.“
ihrer Insel. Mit günstigen
drei Ebenen, inklusive Dachgeschoss und Keller, etwa 90
Wohnungen will die Gemeinde
Quadratmeter groß, für 13,60
Kampen nun gegensteuern.
Mark Miete pro Quadratmeter.
„Tatsächlich sind das eher
u Hause auf der Insel wollten sie ihre
24 Mark“, sagt Hans-Joachim
Existenz aufbauen. Kaum hatten die
Obal, 62, Vorstandssprecher
beiden Verlobten ihre Ausbildung auf
der Schleswiger Baugenossendem Festland beendet, kehrten Jutta Henschaft Gewoba Nord, die als
ningsen, 24, und Ronald Glauth, 30, dorthin
Bauträger ausgewählt wurde.
zurück, wo sie geboren und groß geDer Immobilienprofi verweist
worden sind: nach Sylt. Auch die einjähriauf das so genannte Sylter
ge Tochter Jaenna soll von der „enormen
Maß, nach dem etwa KellerLebensqualität“ auf dem Nobel-Eiland
räume voll in die Wohnfläche
profitieren: „Wir wollten zurück, weil wir
hineingerechnet oder Dachdie Insel lieben“, schwärmt die Postangeschrägen nicht abgezogen werstellte.
Familie Henningsen-Glauth*: „Wir lieben die Insel“
den. Doch billiger gehe es
Doch, bei aller Liebe, ein Zuhause hat
das heimgekehrte Paar auch nach einem
Karbig ist seit fast 40 Jahren auf der In- nicht, sagt Obal: „Es sind halt Sylter Verhalben Jahr noch nicht gefunden. Zur Zeit sel. In den sechziger Jahren kaufte er ein hältnisse.“
Die Kosten treibt vor allem die Kampelebt die Jungfamilie in zwei 16 Quadrat- Grundstück am Kampener Heideweg für
meter großen Kinderzimmern bei Hen- 220 000 Mark. Heute schätzt er den Markt- ner „Ortsgestaltungssatzung“ hoch, die
ningsens Eltern in Westerland. „Wir suchen wert auf 3,5 Millionen. „Wer in Deutsch- „Einheitlichkeit des bestehenden Ortsbileine Drei-Zimmer-Wohnung für maximal land zu Geld kommt, der ist nächste Wo- des“ verlangt und unter anderem in Para1500 Mark Warmmiete. Aber das sieht ganz che hier“, erklärt er den ungebrochenen graf vier („Dächer“) vorschreibt: „Es ist
nur Reetdacheindeckung zulässig.“
schlecht aus“, sagt Glauth.
Boom der Insel-Immobilien.
Da das noble Ambiente Kampens geDie Immobilienpreise auf Sylt gelten als
Die Kehrseite: Vor allem junge einheidie höchsten der Republik. Die Dauer- mische Familien sind nicht mehr in der wahrt bleibt, gibt es keinen nennenswerten
nachfrage von Deutschlands Reichen, die Lage, auf Sylt eine Wohnung, geschweige Widerstand gegen das Vorhaben. Karbig
auf der Insel Watt erleben wollen, treibt die denn ein Haus zu kaufen. „Das ist hier beispielsweise freut sich auf die verKaufsummen in Höhen, in denen Normal- nicht drin“, sagt der junge Vater Glauth. gleichsweise armen Familien, „die müssen
verdiener passen müssen. Um die Abwan- Aus seinem Bekanntenkreis hat es bereits wir anpflanzen wie junge Bäumchen“.
derung junger Familien zu bremsen, will viele aufs Festland verschlagen, von wo Denn eines ist dem Makler von MillionenObjekten klar: „Ein Ort nur mit reichen
das Schickeria-Dorf Kampen nun BilligLeuten ist ja widerlich.“
wohnungen auf kommunales Land setzen. * In Westerland.
Florian Gless
Wie junge
Bäumchen
G. SCHLÄGER
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Fußballspiel MetroStars gegen Los Angeles Galaxy in New Jersey (1998): „Dann wollen alle nicht mehr nach Italien“
MÄRKTE
„Ein schlafender Riese“
Europas Fußballclubs kaufen amerikanische Spieler, US-Milliardäre investieren in Eishockeyvereine
auf dem alten Kontinent. Zwei ehedem getrennte Sportwelten wachsen zusammen.
Jüngstes Beispiel: Bayer Leverkusens Partnerschaft mit dem Soccer-Team des Texaners Lamar Hunt.
208
ten der zwölf MLS-Teams: Ständig sitzen
Gutachter aus fernen Ländern auf der
Tribüne – und noch so ausgefeilte Versteckspiele werden den Exodus ihrer
besten Spieler nicht aufhalten.
Elf US-Boys – von Greg Berhalter (Cambuur, Niederlande) über Claudio Reyna
(Glasgow Rangers) bis Tony Sanneh (Hertha BSC Berlin) – heuerten für die Saison
bei europäischen Erstligavereinen an. Die
Siege der Nationalmannschaft gegen
Deutschland und Argentinien haben die
Aufkäufer verstärkt ins Land gelockt;
künstlich niedrig gehaltene Gagen im zentral gesteuerten Franchise-System der MLS
fördern die Bereitschaft der Talente zum
Wechsel nach Übersee.
Soccer – ein Exportschlager? Es hat sich
viel verändert, seit es Franz Beckenbauer
1977 zu Cosmos New York zog. Der Fußball
kam zu früh in die Neue Welt: Er war
künstlich aufgepfropft, wurde vom amerikanischen Publikum nicht wirklich angenommen. In den neunziger Jahren hingegen spielen die Kids Fußball, deren Eltern
haben die Regeln begriffen, und die Frauen-Nationalelf ist Weltmeister.
Einen „schlafenden Riesen“ sieht Bayer
Leverkusens Sport-Geschäftsführer Reiner
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Calmund deshalb im Fußballmarkt Nordamerika. Im rheinischen Bundesligateam
stürmt schon der US-Nationalspieler Frank
Hejduk mit, und seit April verstärkt der
17-jährige Landon Donovan, von Experten
als größtes Talent seit Brasiliens Ronaldo
gepriesen, den Bayer-Nachwuchs.
SVEN SIMON
D
ie Besucher aus Europa sahen sich
um ihre Reisekosten geprellt. Eigens war eine Abordnung des englischen Fußballclubs Nottingham Forest für
eine 90-minütige Inspektion über den Atlantik gejettet. Der Blick auf den Aufstellungsbogen enttäuschte die Interessenten:
Das Objekt ihrer Begierde wurde nicht zur
Besichtigung vorgeführt.
Stern John, 22, Torschützenkönig der vergangenen Spielzeit in der amerikanischen
Major League Soccer (MLS), befand sich in
Sicherheitsgewahrsam. Sein Trainer hatte
auf Johns Dienste im Spiel bei Chicago Fire
überraschend verzichtet. Offiziell, „um ihn
zu schonen“ – aber Insidern war sofort klar:
Der talentierte Stürmer des MLS-Clubs Columbus Crew sollte den Blicken der angereisten Häscher entzogen werden.
Mehr Glück hatten die Gesandten von
Chelsea London, denen es die Künste des
jungen Columbus-Stars Jeff Cunningham,
23, angetan haben: Der Jamaikaner war
zur Musterung freigegeben.
Verkehrte Welt. Ausgerechnet Manager
aus dem Mutterland des Fußballs sind in
der viel geschmähten und lange belächelten US-Liga auf Personalsuche. Wie dem
Club aus Ohio ergeht es derzeit den meis-
Footballspiel Düsseldorf Rhein Fire gegen die
Sport
Barcelona Dragons: Duft von Popcorn
Stadion war immer nur lokal, Sport in den
Medien ist global – da bekommt plötzlich
auch der Austausch über Weltmeere hinweg einen Sinn.
Die Formel ist simpel: US-Nationalspieler in der Bundesliga machen den deutschen Fußball in Amerika interessant,
Lothar Matthäus in New York macht den
US-Fußball in Deutschland interessant.
Wie der Münchner Rekordnationalspieler
plant auch sein Leverkusener Kollege Ulf
Kirsten nach der Bundesligakarriere einen
Wechsel in die MLS – gleichsam als Aktivund Bildungsurlaub.
Das ist ganz im Sinn seines Arbeitgebers
Bayer, der ihn im Anschluss, mit erweitertem Horizont und Englisch-Sprachschatz
ausgestattet, gern in sein Management aufnehmen würde, wahlweise auch
in den Trainerstab. Ihr Interesse
an einer Fortbildung in der USLiga bekundeten auch schon die
Bundesligaprofis Martin Wagner
(Kaiserslautern), Anthony Yeboah
(Hamburg) und Christian Wörns
(Dortmund).
Wenn die Werbewirtschaft in
den Vereinigten Staaten erst mal
die Attraktivität des Soccer erkannt hat, „dann wollen alle nicht
mehr nach Italien“, glaubt Calmund, „dann wechseln die Stars
nach Amerika“. Und sobald auf
Bayer-Import Donovan: Exodus der Besten
einem solchen Wachstumsmarkt
Doch seit kurzem legt sich der Duft von US-Fußball erst gutes Geld zu verdienen
Popcorn über die Stadien auf dem eu- sei, könne die Nationalelf der Staaten nieropäischen Kontinent. Regelmäßig spielen mand mehr stoppen: „Die Amis putzen
Auswahlteams der Basketball-Profiliga uns alle dann von der Bildfläche weg.“
NBA in deutschen Hallen vor, Stars wie
Noch verhindern Geburtsfehler die vorKobe Bryant dribbeln publikumsnah in hergesagte Prosperität. Zwar sind schon 18
Einkaufszonen, NBA-Chef David Stern er- Millionen Fußballspieler im Land regiswägt zum Zweck der Expansion die Anglie- triert, und unter den Sechs- bis Elfjähriderung europäischer Ligen.
gen avancierte Soccer hinter Basketball
Die National Football League (NFL) hat zum zweitbeliebtesten Sport. Doch setzten
einen Ableger mit sechs Teams in Europa die Bosse der Profiliga, um kurzfristig zu
installiert – darunter in Berlin, Frankfurt ordentlichen Zuschauerzahlen zu komund Düsseldorf. Und jüngst fiel mit Philip men, bei der Kundensuche auf lateinameAnschutz der erste amerikanische Investor rikanische Einwanderer.
in der Deutschen Eishockey-Liga ein (sieDrittklassige Importe aus Venezuela,
he Kasten Seite 210).
Costa Rica oder El Salvador halfen weder
Dass deutsche Arenen heute weit mehr dem Spielniveau noch dem Geschäftsgang
sind als Zufluchtsorte für abgetakelte US- auf die Sprünge. Das Image des ImmiBasketballer oder Eishockey-Cracks, liegt grantensports hält das umworbene Mittelan der Amerikanisierung des europäischen standspublikum von den Stadien noch fern.
Sports: Die Werbewirtschaft hat ihn verSo verhalten sich die MLS-Darbietuneinnahmt, Medienhäuser nutzen ihn als gen vorläufig „zum richtigen Fußball wie
Teil der Entertainment-Branche. Sport im die Harlem Globetrotters zur NBA“, spöttelt der Spielermakler Michael
Basketballstar Bryant in Berlin: Simple Formel
Becker, der vorzugsweise US-Profis nach Europa vermittelt.
Viele inländische Spieler stören
sich auch daran, dass die Funktionäre im New Yorker Liga-Büro
bestimmen, welche Profis sich
welchem Team anschließen und
wie viel sie im Einzelnen verdienen. „Ein bisschen seltsam“ findet das Nationalspieler Joe-Max
Moore von New England RevoluBONGARTS
Die Verantwortlichen unterm BayerKreuz sind überzeugt, dass die Zukunft im
Westen liegt. Deutschstämmige Späher sondieren die Rasenplätze von New York bis
L. A., und sie organisieren Begegnungen
mit dem neuen Markt: Auf Bayer-Einladung
bereitete sich letzte Woche die U-17-Juniorenauswahl der USA in Leverkusen auf die
Weltmeisterschaft in Neuseeland vor.
Demnächst sollen die guten Beziehungen sogar in einen Kooperationsvertrag mit
Columbus Crew gegossen werden. Und
dann wird es nicht mehr nur darum gehen,
wer den Torjäger Stern John verpflichten
darf oder welcher Trainer ausgeliehen wird
– dann geht es um richtiges Business, um
internationale Fernsehrechte, um Merchandising und Stadionprojekte.
Denn Eigentümer von Columbus Crew
ist Lamar Hunt, vermögender Erbe des
legendären Öl-Magnaten Haroldson Lafayette Hunt aus Dallas. Der texanische
K. BRENNEKEN / TRIASS
C. TROTMAN / DUOMO
Sportfreak zählt zu den vier Hauptinvestoren der Major League Soccer. Über
Hunt, dem auch der Soccer-Club Kansas
City Wizards sowie das American-FootballTeam Kansas City Chiefs und ein Anteil an
den Basketball-Bulls aus Chicago gehören,
will Bayer Leverkusen ein strategisches
Bein auf den amerikanischen Markt setzen.
Der transatlantische Modellversuch, der
sich derzeit im Stadium eines „letter of intent“ befindet, belegt den Trend zur Verzahnung amerikanischer und europäischer
Geschäftsinteressen. Jahrzehnte waren der
Profisport der Alten und der Neuen Welt
nahezu isoliert, zu unterschiedlich ihre
Strukturen: zwei Systeme, so wenig kompatibel wie der kommunistische Staatssport und das westliche Vereinswesen.
209
Sport
tion, der deshalb in die Bundesliga zurückkehren möchte.
Gehaltsobergrenzen von 1,7 Millionen
Dollar pro Team und 250 000 Dollar pro
Spieler fördern den Ausverkauf. Der frühere Bundesligaprofi Eric Wynalda dechiffrierte das Kürzel MLS spitz als „many lousy salaries“, viele schlechte Gehälter.
Zweifel an der Gerechtigkeit des Systems sorgen überdies für neuen Unmut.
Die Nachricht, dass der betagte Neuzugang Matthäus dank Zuwendungen der
MetroStars-Eigner John Kluge und Stuart
Subotnick (Metromedia Company) ein Saison-Salär von 1,5 Millionen Dollar erwarten darf, „verärgert die jungen Spieler“,
sagt der ehemalige Bundesligaprofi Tom
Dooley.
Dass eine Abkehr vom sozialistisch anmutenden System nötig ist, haben als Erste die Eigentümer der Teams erkannt. Sie
sorgten zuletzt für ein umfängliches Revirement in der MLS-Führung. Auf den
wichtigen Posten des Commissioners setz-
ten sie mit Don Garber einen Mann ihres
Vertrauens. Angesichts der neuen Machtverhältnisse lag Bayer-Manager Calmund
richtig, als er die Fäden nach Amerika
nicht mit dem nationalen Verband, sondern mit einem der Teambesitzer gesponnen hat. In der Kooperation mit Lamar
Hunt sieht er eine gute Grundlage, um bei
künftigen Vermarktungsgeschäften im Vorteil zu sein.
Wenn mit den Unterhändlern von Kirch
und Bertelsmann bald um noch mehr LiveSpiele im frei empfangbaren Fernsehen,
in Pay-TV und Pay-per-View gerungen
wird, könnte ein amerikanischer Mitbieter – „zum Beispiel Disney“ – als Faust-
SNAPS
und Methoden nacheifern würden, war
abzusehen. Dass deutsche Vereine von
ihren unerreichbaren Vorbildern der NHL
freundlich übernommen werden, ist eher
eine Überraschung. Denn Anschutz, 59,
gilt nicht als geltungssüchtiger Multi, der
mit seinen Stars protzt, Trainer und Manager wie Marionetten zappeln lässt und
sich am liebsten im Fernsehen sieht. Der
Konzernherr ist vom Fach: Er besitzt die
Kufencracks der Los Angeles Kings, die
Basketballer der Los Angeles Lakers sowie drei Fußballteams. Voriges Jahr wagte seine Gesellschaft Anschutz Properties
den Sprung über den großen Teich, gründete das Eishockeyteam London Knights
und stieg bei Sparta Prag ein.
Der in Kansas geborene Unternehmer
Berliner Eishockeyteam Eisbären (dunkles Trikot): Freundliche Übernahme
ist extrem medienscheu. Da er Interviews
und Fototermine ablehnt, kann er unerkannt an Marathonläufen teilnehmen.
Das US-Magazin „Fortune“ annonciert
ihn als den „reichsten Amerikaner, von
dem Sie noch nie etwas gehört haben“.
Die erste Million machte der BetriebsEin amerikanischer Milliardär erwarb
wirt mit Öl. Über die Jahre weitete
zwei deutsche Eishockeyclubs. Für die sportlichen
der Kunstfreund seine Geschäftsfelder
Resultate interessiert er sich nur mäßig.
immer weiter aus – Hauptsache, sie
bringen Profit. So besitzt
er den Telekommunikationsn einem grauen Montag im No- und einem US-Milliardär, der
riesen Qwest, ist zweitgrößter
vember hielt die National Hockey seinem Imperium eine kleine
Aktionär der Union Pacific
League (NHL) Einzug im Ost-Ber- deutsche Dependance hinzuRailroad, und so investiert er
liner Bezirk Hohenschönhausen. In Wind- fügt. Anschutz, mit einem gein Sportmannschaften.
jacke und mit Baseballkappe – Ehefrau schätzten Vermögen von elf
Die europäischen Filialen
Nancy, zwei Töchter und einen Schwie- Milliarden Dollar die Numweiß der wohlhabendste
gersohn im Schlepp – marschierte Philip mer 13 im „Forbes“-Ranking
Mann Colorados in guten
F. Anschutz über das Gelände des Eis- der reichsten Amerikaner, erHänden. Sein Schwiegersohn
hockeyclubs Eisbären Berlin. Der Ameri- warb die Eisbären für einen
Chris Hunt, 31, ein redekaner musterte erst Büroräume, Eis- Millionenbetrag, aus dem die
gewandter Leutefänger mit
sporthalle und medizinische Abteilung, Vertragspartner ein Staatsmesserscharfen Bügelfalten
dann schlenderte er in die Umkleideka- geheimnis machen. In Mün- Investor Anschutz
und kontrolliertem Lächeln,
chen, das zuletzt ohne Profibine, „to have a look at the players“.
Der Visite folgten monatelange Ver- Eishockey auskommen musste, gründete fungiert als Statthalter. „Deutschland“,
handlungen – und am Ende stand die un- der reiche Onkel aus Übersee gleich ein erklärt Hunt die Expansion, sei „sehr bevölkerungsreich und einer der größten
gewöhnliche Liaison zwischen einem Ost- komplett neues Team, die Barons.
Dass deutsche Eishockeyclubs in den Märkte in Europa“. Und in Berlin gibt es
verein, der vor Jahren mehr als ein Dutzend Konkursanträge abfangen musste, neunziger Jahren amerikanischen Moden eine Fankultur, die in Amerika an Be-
Reicher Onkel aus Übersee
AP
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pfand hilfreich sein, meint Manager Calmund. Auch für seine Vision von einer
Bundesliga-eigenen Fernsehproduktionsgesellschaft mache sich „Geld und Knowhow“ aus den befreundeten Staaten sicher
nicht schlecht.
Der Partner konnte aus dem Pakt bereits
Nutzen ziehen. In Columbus hat Hunt das
erste reine Soccer-Stadion der USA gebaut,
das Leverkusens BayArena in Kapazität
und Ausstattung verblüffend ähnelt. Als
Columbus-Manager Jamey Rootes bei einer Stippvisite die Sportstätten des Clubs
im Rheinland begutachtete, hatten ihm die
Bayer-Chefs Kopien der Bauzeichnungen
mitgegeben.
Jörg Kramer
deutung einbüßt: Sportverrückte auf den
Tribünen statt gestylter Geschäftsleute in
den VIP-Lounges.
Denn langfristig soll das EishockeyPublikum die Basis bilden für ein anderes
Geschäft: Die Anschutz Corporation sammelt nicht nur Sportclubs, sondern auch
Veranstaltungshallen. Am nächsten Sonntag öffnet in Los Angeles das Staples Center, eine 375 Millionen Dollar teure Arena
mit viel technischem Schnickschnack,
darunter 1200 Bildschirmen. Anschutz ist
neben Rupert Murdoch Mitbesitzer der
20 000 Zuschauer fassenden neuen Heimstatt der Kings und der Lakers; in der
englischen Hauptstadt hat er voriges Jahr
die London Arena total renoviert. Auch in
Berlin sieht der Businessplan der Eisbären mittelfristig den Bau einer modernen Multifunktionshalle vor.
Dass Anschutz, der 1996 seinen Freund
Bob Dole bei dessen Präsidentschaftswahlkampf unterstützte, sich kurzatmig
von sportlichen Niederlagen beeinflussen
lässt, müssen seine mäßig in die Saison
gestarteten Clubs aus Berlin und München nicht befürchten. Neulich erhielten
die Eisbären den Wink, den amerikanischen Geldgeber nicht mit ausführlichen
Spielberichten und Statistiken zu langweilen – eine knappe E-Mail reiche.
Weggefährten gilt Anschutz als ausdauernder Typ mit einem Gespür für die
versteckten Werte einer Investition. Seine Telekommunikationsfirma führte über
Jahre ein unscheinbares Dasein, der Internet-Boom hat Qwest jedoch zum Juwel
gemacht. Derzeit überzieht der Konzern
Europa mit einem Glasfasernetz, um riesige Datenmengen mit Höchstgeschwindigkeit verschicken zu können.
Synergieeffekte mit dem EishockeyInvestment sind kaum zufällig. Denn
in nicht ferner Zeit sollen die Spiele der
Anschutz-Teams in Anschutz-Hallen via
Anschutz-Kabel an den Computer daheim
übermittelt werden.
Helen Ruwald
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Sport
Fortsetzung einer Soap-Opera:
Tonya Harding, die Hexe on Ice,
versucht ein Comeback – die
Frau fürs Grobe gibt sich geläutert.
K
aum war die Sensation öffentlich,
bildeten sich lange Schlangen vor
dem Kartenschalter der EislaufArena in Huntington im US-Bundesstaat
West Virginia. Schließlich hatten die Fans
jahrelang auf den finalen Akt der saftigsten
Soap-Opera gewartet, welche die Eiskunstlaufwelt je erlebt hat: Tonya Harding,
die „Eis-Hexe“, kehrt zurück.
„Ich musste weinen, als ich davon erfahren habe“, kommentiert die Blonde aus
Portland ihre Einladung, am 18. Oktober an
der Meisterschaft der Profis teilzunehmen,
„ich habe immer davon geträumt, dass es
passiert.“
Das Comeback ist die letzte Chance für
die 28-jährige Skandalnudel, ihre Sprunggewalt – sie war die erste Amerikanerin,
die den dreifachen Axel stand – doch noch
in Dollar umzuwandeln. Monatelang bekniete ihr Manager Michael Rosenberg die
Veranstalter, bis endlich das Angebot kam.
Der Preis ist artige Bescheidenheit. Harding, gesegnet mit einem Mundwerk so
scharf wie Kufen, sagt jetzt Sätze, so rosarot wie ihre Bonbonkostüme: „Ich liebe das
Schlittschuhlaufen. Ich will für all die Leute laufen, die über die ganze Zeit an mich
geglaubt haben.“ Natürlich sei sie nervös,
doch Verständnis habe sie für jeden: „Wenn
mich jemand nicht mag, ist das okay.“
Ja, sie sei dankbar. Jedem und für alles.
Was nur ist aus jener Tonya Harding geworden, die einst einen Motorradfahrer
beim Streit um die Vorfahrt mit dem Baseballschläger bedrohte?
1994 ging die Karriere der ehemaligen
US-Meisterin mit einem gezielten Schlag
zu Ende, ausgeführt von ihrem damaligen
Bodyguard auf das Knie ihrer schärfsten
Konkurrentin: Nancy Kerrigan war unmittelbar nach dem Training in Detroit von
einem Mann mit einem Eisenstock
malträtiert worden. Schreiend brach sie zusammen, der Täter flüchtete. Doch der
Hieb war so erbärmlich wie das gesamte
Komplott. Nancy Kerrigan kam mit einer
Prellung davon. Tage später wurden Hardings Bodyguard und dessen Helfershelfer, darunter ihr Ex-Ehemann, festgenommen. Sie gestanden – und beschuldigten
Tonya der Anstiftung.
Der US-Verband wollte Harding aus
dem Olympiateam werfen. Doch die bestritt jede Mittäterschaft und drohte mit
einer 25-Millionen-Dollar-Klage. So kam
es bei den Winterspielen in Lillehammer
zum großen Showdown: die elegante
L & G LEWIS
Flucht aufs Eis
strafe und 500 Stunden Sozialdienst in der
Gemeinde.
Während Kerrigan Werbeverträge abschloss, pflanzte Harding wütend Primeln
in Parkanlagen. Doch der Traum vom
großen Geld und vom Rampenlicht ließ
die Frau, die im Armenviertel von Portland aufwuchs und mit 19 an einen prügelnden Ehemann geriet, nicht los. „O. J.
Simpson hat sein Leben zurückbekommen,
ich will meines auch zurück“, forderte sie
nach zwei Jahren. „Ich habe alles getan,
was man von mir verlangt hat. Ich will eine
Chance, wieder aufs Eis zu gehen.“
Doch die öffentliche Vergebung, die der
beißende Vergewaltiger Mike Tyson erfuhr,
blieb dem Eisluder versagt. Keiner wagte
es, Harding zu verpflichten. Vergebens versuchte sie sich als Blues-Sängerin. Sie
rauchte, trotz ihres Asthmas. Sie
setzte ihren Wagen an einen
Baum und erzählte, sie sei gekidnappt worden und habe sich
heldenhaft befreit.
Chronisch in Geldnot, strich
sie Häuser, catchte und mimte
in einem Low-Budget-Film eine
Kellnerin. Im Dezember 1995
heiratete sie und ließ sich nach
dreieinhalb Monaten wieder
scheiden. Grund: ihr Comeback
als Tonya II. Sie verstärkte das
Training und die Einlagen in
ihren Silikonbrüsten.
1997 bekam die neue Tonya
den bislang einzigen Auftritt seit
der Verbannung – als Vorprogramm eines unterklassigen Eishockeyspiels in Reno. Graziös
wich die Eisprinzessin den Bierflaschen und Eisenstöcken aus,
die von der Tribüne geflogen
kamen. Unbeeindruckt erschien
sie danach zum Hintergrundgespräch – wer 10 000 Dollar zahlte, durfte alles fragen. Für das
Zehnfache traf sie 1998 ihre Rivalin Kerrigan in einer Talkshow.
Doch zur tränenreichen Versöhnung kam es nicht: Harding wich
einer Entschuldigung aus, Kerrigan war eisig.
Seit März trainiert sie, ohne
Eiskunstläuferin Harding: „Ich will eine Chance“
Trainer, zwei Stunden täglich,
auch die übrige Zeit verbringt
sie meist auf dem Eis, als PrivatTrainerin. „Das Eis ist meine Zuflucht.“
Kommende Woche trifft sie
auf die nächste Generation der
Eissternchen, auf Surya Bonaly,
Tonia Kwiatkowski und Pasha
Grischuk. Nach fünf Jahren, die
sie zeitweise „abgeschottet wie
in einer Muschel verbracht“
habe, will sie wieder eine
große Show bieten: „Ich kann
immer noch alle Sprünge dreifach.“
Rivalinnen Harding, Kerrigan (1994): Gut gegen Böse
Michaela Schießl
Kerrigan gegen die skrupellose Harding,
das Gute gegen das Böse, Uptown gegen
Redneck.
Das Duell verschaffte dem US-Fernsehen die vierthöchste Einschaltquote in der
Geschichte – 48,1 Prozent der US-Haushalte folgten dem Drama. Harding kam mit
Verspätung aufs Eis, kurvte 30 Sekunden
hilflos herum und rutschte unter Tränen
an die Bande. Wer weint, kann nicht
schlecht sein. Ihr Schnürsenkel, so jammerte sie, sei gerissen. Sie durfte noch mal
starten, doch es half nichts. Kerrigan holte
Silber, Harding landete auf Platz acht.
Kurz darauf wurde die Schlägerbraut
vom US-Amateur-Eiskunstlaufverband auf
Lebenszeit gesperrt. Ein Gericht verurteilte sie wegen Beihilfe zur Vertuschung einer
Straftat zu insgesamt 160 000 Dollar Geld-
GAMMA / STUDIO X
E I S K U N S T L AU F E N
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Werbeseite
Werbeseite
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Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Ausland
Panorama
ISRAEL
Der Papst kommt
nur bis Betlehem
er Streit um den Bau einer Moschee neben
der Verkündigungskirche von Nazaret eskaliert zum Machtkampf zwischen Christen und
Muslimen im Heiligen Land. Nachdem der Vatikan das Vorhaben wiederholt als Provokation
geißelte, versammelten sich vergangenen Freitag
mehrere hundert Muslime in Nazaret zum Massengebet auf dem besetzten Platz. Die Christen
fürchten wiederum, im Heiligen Land immer
weiter zurückgedrängt zu werden. Der deutsche
Propst Karl Heinz Ronecker warnt vor einer
„Scheibchentaktik“ der Islam-Anhänger. Die israelische Regierung, die notgedrungen eine Vermittlerrolle übernehmen muss, sieht sich in einer Klemme, da das Baugrundstück dem Staat
gehört. Die Muslime behaupten, schon Ex-Premier Benjamin Netanjahu habe ihnen das Gotteshaus über dem Grab eines verehrten Scheichs
zugesagt. Ein Kabinettsausschuss von Regierungschef Ehud Barak regte an, vielleicht eine
kleinere Moschee zu bauen. Ganz verbieten
möchten die Israelis den Bau nicht, weil sie keine neuen Unruhen riskieren wollen wie im vergangenen Frühjahr. Andererseits könnte der
Papst seinen geplanten Millennium-Besuch überdenken, wie katholische Kirchenvertreter in
Jerusalem streuen. Dann fehlte Israel die
Hauptattraktion für das Pilgergeschäft im
Heiligen Jahr. Ein Sprecher der Katholischen
Kirche erschreckte die Israelis bereits mit einem
Horrorszenario: Der Papst kommt, aber nur bis
Betlehem – dem Hoheitsgebiet von Palästinenser-Präsident Jassir Arafat.
REUTERS
D
Gebets-Protest von Muslimen vor der Verkündigungskirche in Nazaret
USA
Zocker-Millionen
für Washington
abakindustrie, Spirituosenproduzenten und Glücksspielkonzerne
gehören zu den größten Parteispendern der amerikanischen Wirtschaft im
anlaufenden Wahlkampf für die Kongress- und Präsidentschaftswahlen des
nächsten Jahres. Von der Sucht-Industrie erhielten die Zentralen der Demokraten und Republikaner in den vergangenen zwei Jahren mehr als 16 Millionen Dollar allein an „weichen Geldern“
– besonders beliebten Spenden, deren
Verwendung nicht leicht kontrollierbar
ist. Hinzu kommen noch die Einzelgaben an Präsidentschaftsbewerber und
INTER TOPICS
T
hat sich das Engagement der Casino-Könige seit 1992 auf zuletzt
5,7 Millionen Dollar vervierfacht.
Die Glücksspielbranche, die jährlich 50 Milliarden Dollar mit ihren
Casinos in 21 Bundesstaaten umsetzt und in den Indianerreservaten der meisten Bundesstaaten
weitere 260 Spielhöllen betreibt,
fürchtet strengere Auflagen. Einer
der bekanntesten Betreiber, der
New Yorker Immobilienspekulant
Donald Trump, 53, will jetzt sogar
selber Präsident werden. Vorigen
Donnerstag gründete der Miteigentümer mehrerer Hotelcasinos
in Atlantic City eine Wahlkampforganisation, mit welcher der Milliardär
ausgerechnet die Kandidatur der populistischen Reform-Partei von Ross Perot,
69, gewinnen will.
Casino-Betreiber Trump
die Kandidaten für die Sitze im Senat
und im Repräsentantenhaus. Während
die Tabakindustrie traditionell zu den
freigebigsten Politik-Ausstattern gehört,
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Panorama
S PA N I E N
Neue Jobs für Ausländer
E
WHITE STAR
ine Million Arbeiter aus Afrika, Lateinamerika und Osteuropa will die
spanische Regierung in den nächsten
drei Jahren ins Land holen. Zwar beklagt Spanien noch immer eine im EUVergleich hohe Arbeitslosenquote von
15,7 Prozent, doch auf Baustellen sowie
Jeder Erntehelfer, der 35 Tage gearbeitet hat, erhält Beihilfen für den Rest des
Jahres. Viele spanische Landarbeiter
wollen nur bis zum Bezug dieser Hilfe
schuften. Deshalb werden nach Schätzungen der Arbeitgeberverbände jährlich 300 000 zusätzliche Arbeitskräfte
benötigt. In den vergangenen 15 Jahren
heuerten Bauern und Unternehmer
hunderttausende von illegalen Einwanderern meist aus Nordafrika an. Weil
die Ausländer häufig
für Hungerlöhne bis zu
14 Stunden täglich arbeiten mussten, befürworten sogar die spanischen Gewerkschaften die neuen Saisonarbeiter. Künftig sollen
Unternehmer zunächst
ihren Bedarf an Arbeitskräften anmelden.
In den Ursprungsländern erhalten Bewerber dann ein Visum für
neun Monate und
müssen nach Ablauf
ihrer Arbeitszeit Spanien wieder verlassen.
Die ausländischen Arbeitnehmer haben Anrecht auf den gleichen
Lohn wie Einheimische. Das neue Gesetz
soll die Zuwanderung legalisieren. Derzeit halten sich etwa 300 000 ohne Papiere in Spanien auf. Jedes Jahr riskieren tausende Flüchtlinge die Überfahrt
von Nordafrika in flachen, „pateras“
genannten Holzbooten und müssen ihre
Ersparnisse an Schlepperbanden abliefern. Seit 1996 ertranken an die 400 Zuwanderer. „Wir wollen die Patera gegen
die Fähre tauschen“, sagt der Präsident
eines Agrarunternehmerverbands. „Wir
haben es satt, Illegale einzustellen.“
Saisonarbeiter bei der Obsternte
für die Ernte von Obst, Gemüse und Tabak finden sich zu wenige arbeitswillige
Spanier. Sogar in den ärmsten Landesteilen, in Andalusien und der Extremadura, wo etwa 30 Prozent arbeitslos
sind, melden sich nur wenige für die
verachteten Jobs auf dem Bau oder im
Feld. Warum auch? Für diese strukturschwachen Regionen hatte die sozialistische Regierung unter dem Sevillaner Felipe González 1983 ein staatliches
Unterstützungsprogramm eingeführt.
UKRAINE
Ein Präsident sieht rot
M
assive Einschüchterungen und wachsende Gewalt belasten den
Präsidentschaftswahlkampf
in der Ukraine. Die linksradikale Kandidatin Natalja Witrenko wurde bereits
durch eine Granate verletzt. Im Lager des bedrängten Präsidenten Leonid Kutschma verdächtigen Mitarbeiter dessen
schärfsten Rivalen, den
Kandidatin Witrenko
Sozialisten Alexander
AP
Moros, von dem Attentat
auf die Rivalin gewusst zu
haben. Ex-Kommunist
Kutschma, der zum zweiten Mal ins höchste
Staatsamt gewählt werden
möchte, geht immer rücksichtsloser gegen Kritiker
vor. Vier lokale Fernsehsender mussten bereits
den Sendebetrieb einstellen. Unbotmäßigen Tageszeitungen drohen hohe
Geldstrafen.
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IRAK
Beton-Bomben
gegen Saddam
M
it einer neuen Wunderwaffe will Washington Saddam Hussein in die Knie
zwingen und den neu entbrannten Propagandakrieg mit dem Despoten gewinnen.
Nachdem der irakische Staatspräsident im
vergangenen Dezember die Rüstungskontrolleure der Uno aus dem Land geworfen
hatte, versucht er, das von den USA und
ihren Verbündeten über den Norden und
Süden seines Reiches verhängte Flugverbot abzuschütteln. Die über dem irakischen
Staatsgebiet patrouillierenden Jets der Alliierten lässt er immer wieder von seiner
Flugabwehr ins Fadenkreuz nehmen, für einen Abschuss hat er eine hohe Belohnung
OSTTIMOR
Flucht in den Dschungel
D
rei Wochen nach der Ankunft der
Uno-Friedensstreitmacht Interfet in
Osttimor fehlt von hunderttausenden
Einwohnern noch immer jede Spur. Vor
dem Unabhängigkeitsreferendum vom
30. August lebten etwa 850 000 Melanesier und Mestizen auf der bisher von Indonesien besetzten Inselhälfte. Australische Uno-Soldaten, die seither Städte
und Dörfer von den proindonesischen
Milizen zurückerobern, finden jetzt nur
noch menschenleere Ruinen vor. Im
Grenzort Balibo, wo einst 15 000 Menschen lebten, traf die Interfet-Streitmacht vorige Woche nur eine einzige
alte Frau an. Von den 120 000 Einwohnern der Hauptstadt haben sich erst
45 000 wieder zurückgemeldet. Eine intensive Suche nach Flüchtlingen in den
umliegenden Bergen blieb erfolglos.
Noch immer werden weit über 100 000
osttimoresische Flüchtlinge im indonesischen Westteil der Insel in Lagern festgehalten; erst letzte Woche begann die
Uno mit ihrer Rückführung. Weil die
australischen Soldaten häufig auf verlassene Gefangenenlager und Folterzentren stießen, befürchten sie, dass die
marodierenden Milizen tausende Unabhängigkeitsbefürworter umgebracht haben könnten. Uno und Hilfsorganisationen hoffen nun, dass sich die übrigen
Vermissten, etwa eine halbe Million
Osttimoresen, noch immer im Dschungel verstecken.
Amerikanischer Kampfjet im Einsatz am Golf
Zerstörtes Wohnhaus im Irak
ausgesetzt. Bisher antworteten die Amerikaner und Briten auf
die Bedrohung mit lasergelenkten Bomben, die zahlreiche Opfer unter der irakischen Zivilbevölkerung forderten – und damit
Washington moralisch unter Druck setzten. Weil Saddam seine
Abwehrstellungen häufig in Wohngebieten versteckt, haben die
Bomben nach Angaben Bagdads allein in den vergangenen Monaten 200 Menschen getötet. Die neu entwickelten Beton-Bom-
Ministerpräsident Milo∆ Zeman,
55, über die Hürden auf dem
Weg zum EU-Beitritt und die
Probleme mit den Roma
Zeman
SPIEGEL: Kann sich Ihr Land in jener
Gruppe der mitteleuropäischen Staaten
halten, die als erste der EU beitreten
werden?
Zeman: Unser großes Problem ist die
steigende Arbeitslosigkeit. Dennoch,
unsere jüngste Zahlungsbilanz ist die
beste der letzten sechs Jahre, die Inflation sank von zehn auf drei Prozent. Ich
glaube, wir werden den Beitritt im Jahr
2003 geschafft haben.
SPIEGEL: Als einziger der ersten Beitrittskandidaten wies Tschechien vergangenes Jahr beim Wachstum ein kräftiges Minus von über zwei Prozent aus.
Zeman: Im ersten Vierteljahr 1999 ging
es sogar noch weiter bergab. Im zweiten
Quartal allerdings betrug der Zuwachs
bereits 3,6 Prozent. Der Druck aus
Brüssel kann uns nur helfen.
SPIEGEL: In Brüssel wird der Vorwurf erhoben, Prag kümmere sich nicht hinreichend um den Schutz von Minderheiten. Es gibt sogar Pläne, eine Art Ghetto für Roma einzurichten.
* Kinder sitzen in Sockellöchern, die zur Vorbereitung des Mauerbaus ausgehoben wurden.
Zeman: Gegen ein Ghetto bin
ich ganz entschieden. Meine
Regierung hat ein umfangreiches Hilfsprogramm für die
Roma verabschiedet. Ein gemeinsames Roma-tschechisches Dorf in Nordmähren
wird zum Pilotprojekt.
SPIEGEL: Dennoch entsteht im
nordböhmischen Aussig eine
Mauer, hinter der Roma vom
Rest der Bevölkerung abgeriegelt werden sollen.
Zeman: Meine Regierung hat den Leiter
des Bezirksamts angewiesen, den Bau
einzustellen. Noch im Oktober soll das
SIPA PRESS
„Druck aus Brüssel
hilft uns“
ben des Pentagon sollen nun die Zahl der Zivilopfer drastisch
senken. Die 900 Kilo schweren Waffen sind nicht mit explosiven
Sprengsätzen, sondern mit Zement aufgefüllt. So könnten die
Bomben die Flakstellungen der Iraker zertrümmern, glaubt das
US-Verteidigungsministerium, ohne dass durch die Streuwirkung herkömmlicher Sprengsätze Zivilisten in anliegenden
Wohngebieten getroffen würden.
DPA
TSCHECHIEN
AFP / DPA
US NAVY / REUTERS
Ausland
Roma-Protest in Aussig*
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Parlament darüber endgültig entscheiden. Ich gehe von einem eindeutigen
Votum gegen den Bau der Mauer aus.
SPIEGEL: Brüssel verlangt auch, Tschechien müsse vor dem Beitritt die Zollunion mit der Slowakei beenden.
Zeman: Dazu sind wir schweren Herzens bereit. Ich hoffe sehr, dass die Slowakei ihre demokratischen Reformen
stark beschleunigt, damit sie möglichst
schnell Mitglied der EU werden kann.
SPIEGEL: Soll das heißen, dass Prag bereit wäre, mit dem EU-Beitritt zu warten, bis auch Bratislava so weit ist?
Zeman: Eindeutig nein. Ich wäre allerdings froh, wenn die Slowakei schon
bald Teil des Schengen-Systems werden
könnte, also die Kontrolle zum Schutz
der EU vor unerwünschtem Zuzug an
ihren Außengrenzen vornehmen würde.
Dann brauchten wir keine Visa-Pflicht
zwischen unseren Ländern einzuführen.
SPIEGEL: Brüssel zwingt die Beitrittsstaaten zur Übernahme der EU-Regeln,
erlaubt aber Übergangsfristen. Was bereitet Ihnen besondere Sorgen?
Zeman: Die Freigabe des Bodenerwerbs,
bei der Fristen von bis zu 15 Jahren in
Rede stehen – da wird es auf die Höhe
der Bodenpreise ankommen. Ein allmähliches Angleichen der Preise an das
EU-Niveau ist für die Freigabe des Handels mit Grund und Boden unerlässlich.
SPIEGEL: Befürchten Sie, dass sich sonst
zu viele Deutsche wieder im früheren
Sudetenland ansiedeln könnten?
Zeman: Wenn wir EU-Mitglied sind, kann
sich bei uns jeder Grundstücke kaufen.
Es geht nur darum, zu welchem Preis.
221
Ausland
Russische Panzer auf der Straße nach Grosny: „Die Freundschaft der Völker ist unzerstörbar“
REUTERS
K AU K A S U S
„Wir schießen auf alles“
Die russische Regierung stürzt sich in einen Feldzug, den sie schon einmal verlor – gegen die
Rebellenrepublik Tschetschenien. Der neue Krieg könnte ein Jahr dauern, anderthalb
Milliarden Dollar und viele Menschenleben kosten. 80 000 Tote forderte der vorige Waffengang.
A
lles für die Front“, brüllte die
Schlagzeile der „Iswestija“: Russlands Wirtschaft werde auf die
„Mobilmachung“ vorbereitet. Ein Foto
zeigte emsige Rüstungsarbeiterinnen.
Die Unterstützung aus der Heimat galt
jenen mehr als 60 000 Soldaten, welche die
Rebellenrepublik Tschetschenien seit drei
Wochen mit Panzern, Geschützen und raketenbestückten Flugzeugen zu Bundestreue und Botmäßigkeit à la russe zwingen
wollen. Und an einem raschen Sieg ist der
222
Regierung von Ministerpräsident Wladimir
Putin nicht einmal gelegen.
Denn der Krieg liefert den Kreml-Herren die Argumente für die allmähliche
Errichtung eines Notstandsregimes, das
möglichst lange erhalten bleiben soll: Im
Herbst werden 205 000 Rekruten einberufen, weit mehr als im Vorjahr. Nach sechs
Monaten Grundausbildung gelten sie als
frontreif.
Auf ein Jahr veranschlagen Experten die
Dauer des Feldzugs und die Kosten auf
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mutmaßlich mehr als 1,5 Milliarden Dollar
– rund eine Monatsrate des russischen Budgets, ein Drittel des nächsten Kredits des
Weltwährungsfonds oder ein gutes Fünftel
jenes Batzen, den russische Abzocker binnen kurzer Zeit über die Bank of New York
beiseite geschafft haben (siehe Seite 225).
Und der vorige Tschetschenien-Krieg kostete 80 000 Menschenleben.
In der Hauptstadt des einstigen Gegners USA brandmarkten Parlamentarier
des Repräsentantenhauses inzwischen
REUTERS
Arg
un
AFP / DPA
Schagrows Terek-Kosaken patrouillieren
deshalb mit ihren Jagdgewehren in Trupps
zu fünf Mann ums Dorf. Andere Waffen
mag ihnen die Regierung bisher nicht zugestehen. Aber Ataman Schagrow hat sich
zwecks Aufrüstung bereits einen Termin
bei Innenminister Wladimir Ruschailo geben lassen, als der vorige Woche den Kaukasus besuchte.
An vier offenen Gräbern von Kameraden, die beim Grenzschutz fielen, hat Schagrow schon gestanden. Den Moskauer Verheißungen steht der Kosaken-Hauptmann
deshalb skeptisch gegenüber. „Wir sind von
allen enttäuscht“, sagt er verbittert. Denn
„früher haben wir besser gelebt, friedlich“.
Früher heißt: als der jetzt parteilose Bürgermeister noch der KPdSU angehörte und
deren Stawropoler Gebietsorganisation
vom jungen Michail Gorbatschow geleitet
wurde.
Kindergärtnerin Natalja Filipowana, 30,
teilt die Sowjetnostalgie ihres Dorfvorstehers. Die Gegenwart sei furchtbar: „StänTschetschenische Flüchtlinge: „Panikstimmung, Depression, Hysterie“
dig schlaflose Nächte und Schießereien.“
Scharfschütze
Alexej,
20,
sucht
mit
dem
Ihre Stimme bei den nächsten Wahlen, das
eroberte Zone
Zielfernrohr seines Gewehrs das Gebüsch hat sie schon entschieden, bekommen die
im Tal jenseits des Wassers ab. „Wenn sich Kommunisten. Vielleicht, so hofft sie, veretwas bewegt“, sagt der junge Soldat, mögen die das kollektive Gefühl vieler
Tere
k Schelkowskaja
„dann schießen wir auf alles.“
Russen im Kaukasus zu korrigieren, „dass
Alexej gehört zu einer Truppe, der Mos- uns niemand mehr braucht“.
RUSSLAND
Grosny
kau übertragen hat, um das aufsässige
Jene Enttäuschten, die auch von der
Tschetschenenland „einen sanitären Kor- KP nichts mehr erwarten, möchte die midon“ (Putin) zu ziehen. Wenn es Nacht litante „Russische Nationale Einheit“
TSCHETSCHENIEN
wird am Ufer des Terek, feuern Alexej und (RNE) sammeln. Die Kameraden organiÖlpipeline
seine Kameraden auf einen unsichtbaren sieren im Stawropoler Gebiet SchießFeind. „Hier gibt es keine Sicherheitszo- übungen und versprechen eine „russische
D A G E S TA N
ne“, kommentiert er den Auftrag seiner Ordnung“. Doch mit den uniformierten
K a u k a s u s
Moskauer Oberen, „hier sind einfach wir.“ Kämpfern, die den rechten Arm zum Gruß
GEORGIEN
Bis Freitag voriger Woche hatten die rus- „Heil Russland“ recken, will Bürgermeister
100 Kilometer
sischen Truppen Schelkowskaja erreicht, Schagrow nicht zusammenarbeiten, obaber noch nicht die begehrte Erdölleitung wohl er weiß, dass „viele Bürger mit ihnen
Russland als gesetzlosen Staat, regiert von quer durchs Land. Auch den Terek, die sympathisieren“.
Die Offensive gegen Tschetschenien, bei
„Kleptomanen“. Wenn der Ruf schon so historische Grenze zwischen dem russinachhaltig ruiniert ist, glaubt der Kreml schen Siedlungsgebiet und den kauka- der die russische Armee innerhalb einer
auch beim jüngsten Kreuzzug keine be- sischen Bergvölkern, haben Putins Soldaten Woche fast ein Drittel der Rebellenrepusonderen Rücksichten mehr nehmen zu noch nicht überschritten. Mit Feuerüberfäl- blik besetzt hat, zeigt an der Heimatfront
müssen: Ausländische Vermittlung sei len von tschetschenischem Gebiet aus müs- jedenfalls Wirkung. Der Kindergärtnerin
nicht erwünscht, beschied Außenminister sen die Bewohner von Galjugajewskaja Filipowana imponiert der ehemalige GeIgor Iwanow knapp eine besorgte EU- ständig rechnen. Die scheinbare Idylle mit heimdienst-Chef Putin, 47, „weil er im UnGänsen und Hühnern zwischen blau gestri- terschied zu seinen Vorgängern etwas tut“.
Delegation.
Der militärische Vorstoß,
Derweil bestellte Präsident Boris Jelzin chenen einstöckigen Häusern
den die Regierung als eine Art
zu seinem Quisling-Regenten im abtrün- liegt in einer Unsicherheitszoerweiterter Polizeiaktion gegen
nigen Bergland den zwielichtigen tsche- ne, und das nicht erst seit BeTerroristen zu maskieren vertschenischen Geschäftsmann Malik Sai- ginn der jüngsten Strafaktion.
21 Polizisten seien seit Ansucht, hat tschetschenischen
dullajew, 35, der seine staatsmännischen
Desperados wie dem inzwiErfahrungen beim Betreiben von Restau- fang des Jahres in der Nähe des
schen von Interpol gesuchten
rants, Schönheitssalons und einträglichen Dorfes von Heckenschützen
Schamil Bassajew bislang
Lotterien sammelte und zwischendurch getötet worden, berichtet Anakaum geschadet, im Gegenteil.
schon Zeit fand, an „mein Volk“ zu appel- tolij Schagrow, 53, Bürgermeister von Galjugajewskaja
Der seit langem verhandlungslieren.
bereite Tschetschenen-PräsiDie Realität des Krieges, von der russi- und nebenher Kosaken-Atadent Aslan Maschadow wurde
schen Armee daheim gern verschleiert, be- man. Die seit 400 Jahren bodurch Moskaus Attacke geginnt am linken Ufer des Flusses Terek – denständigen und wehrhaften
zwungen, Bassajew die Verteidort, wo bei der 3500-Seelen-Gemeinde Bauern, unter der Sowjetmacht
digung der Ostfront zu überGaljugajewskaja das Stawropoler Gebiet zur Operettentruppe degratragen.
der Russischen Föderation endet und auf diert, möchten nun wieder zu
Während Panzerkolonnen
der anderen Seite die tschetschenische Re- Wächtern an Russlands Südgrenze aufgewertet werden.
durch staubige Straßen der
publik beginnt.
Regierungschef Putin
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223
Ausland
nordkaukasischen Stadt Mosdok auf
Tschetschenien zurollen, vorbei an der
verblassenden Propagandaparole „Die
Freundschaft der Völker ist unzerstörbar“,
sammeln sich die zivilen Opfer des Kriegs
am Posten 14, wenige Kilometer vor der
Grenzstadt.
Die tschetschenischen Wachen haben
ihren Kontrollpunkt jenseits des Dorfes
Bratskoje schon geräumt, die russische Armee ist noch nicht vorgerückt. Durch das
Niemandsland flutet ein wachsender Strom
von Müttern mit Säuglingen, Familien mit
Kindern, Alten.
Marchet, 30, kommt aus Gudermes. Mit
ihrem Mann brach sie zur Grenze auf, als
sich in den Straßen ihrer Stadt Bewaffnete zum Endkampf gegen die Russen rüsteten. Hilflos hockt sie auf zwei Koffern, wartet auf ihre Registrierung durch russische
Uniformierte. Sie will „nicht noch einen
Krieg erleben, der erste war schon furchtbar genug“.
Die Russin Jelena Gritschina hat Grosny verlassen, wo sie 30 Jahre gelebt und
auch den letzten Krieg von 1994 bis 1996
überstanden hat. In der tschetschenischen
Hauptstadt, sagt die Lehrerin, machten
sich „Panikstimmung, Depression und
Hysterie“ breit. Gerissene Händler hätten die Lebensmittelpreise in wenigen
Tagen um das Anderthalbfache erhöht,
Fanatiker seien zu allem entschlossen
und wollten Grosny um keinen Preis
kampflos räumen.
Geflohen ist sie vor der antirussischen
Stimmung, die nach den Bombenangriffen
nicht verwunderlich ist. Gleichwohl lobt
sie ihre tschetschenischen Nachbarn, die
mit ihr während des Krieges „das letzte
Stück Brot geteilt“ hätten. Scharfmacher,
so ihr nüchternes Fazit, gebe es auf beiden
Seiten.
Ähnlich urteilt auch Mowla, 41, tschetschenischer Flüchtling aus Grosny. Die
islamistischen Terrortrupps Bassajews sind
ihm genauso zuwider wie die russischen
Luftangriffe. Die Russen seien „normale
Leute“, sagt der Ingenieur, doch in
Moskau gebe es „offensichtlich Kreise, die
am Krieg ein Interesse haben und daran
verdienen“.
Im kaukasischen Hinterland fahndet der
Geheimdienstler Anatolij, 43, nach „Terroristen“. Über die Behauptung, die Armee kontrolliere bereits „befreite Gebiete“, kann er nur lachen. Wo russische Panzer über herbstliche Felder rollen, sind die
Russen noch keineswegs Herren der Lage,
wenngleich sie vereinzelt schon frohgemut
Ortskommandanturen gebildet haben.
Doch damit im Kaukasus der Feind weiter unter Ausschluss der Öffentlichkeit
„massakriert“ (Putin) werden kann, will
Moskau die entscheidende Schlacht erst
mal an der Propagandafront gewinnen:
„Wer die Information kontrolliert“, freut
sich Innenminister Ruschailo, „der kontrolliert die Welt.“
Uwe Klussmann
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BANKEN
Tatjanas
Garderobe
Anklage in New York
wegen illegaler Transfers russischer
Gelder: Die Staatsanwaltschaft
beschuldigt drei Verdächtige. Führt
auch eine Spur in den Kreml?
SENSOV / MOSCOOP / ROPI
AFP / DPA
E
ntwirrt wurde das Knäuel an zwei
Enden. Als die US-Bundespolizei FBI
in einem Fall von Kidnapping ermittelte, stieß sie auf ein verdächtiges Konto
bei der Bank of New York, auf dem das Lösegeld gelandet war. Erst da erfuhren die
Beamten, dass die Staatsanwaltschaft von
New York dasselbe Finanzinstitut auch
schon im Visier hatte.
Auf dem Konto Nr. 6300813206 trafen
jeden Tag hunderte Einzahlungen aus Russland ein. Wenige Tage darauf gingen hunderte Überweisungen auf viele Konten in
der ganzen Welt hinaus. Der Umsatz betrug seit 1996 fast fünf Milliarden Dollar.
Über das Konto verfügte eine internationale Handelsgesellschaft namens Benex,
und die hatte nicht minder auffällige Partner, zum Beispiel die Firma Becs International, die zwei Milliarden bewegte. Eine
dritte Gesellschaft, Torfinix, lieferte Benex
und Becs das Geld zu. Da schloss sich für
die Fahnder der Kreis: Die für den Osthandel zuständige Vizepräsidentin der
Bank of New York, Lucy Edwards, geborene Ludmilla Pritzker, 41, besaß Bankvollmacht für das Konto von Torfinix, und Frau
Edwards ist verheiratet mit Peter Berlin, 44,
dem Geschäftsführer der Benex.
Frau Edwards wurde von ihrer Bank gefeuert, vorigen Dienstag erhob die Staatsanwaltschaft vor dem Bundesgericht öffentlich Anklage gegen das Ehepaar und
dessen russischen Geschäftsfreund Alexej
Wolkow sowie gegen die
Firmen Benex, Becs und
Torfinix. Denn für Geldtransfers, als Geschäft betrieben, bedarf es einer Lizenz der Aufsichtsbehörde, die der US-Bürger und
gebürtige Russe Berlin beantragt, aber nicht bekommen hatte. Ohne diese Genehmigung macht man
sich in den USA strafbar,
was 15 Jahre hinter Gitter
führen kann.
Das Paar befindet sich
derzeit in London, Partner
Wolkow hält sich in Russland auf. Die Ankläger
rechnen dennoch mit
ihrem Erscheinen und hof-
Frisch gewaschen, taugt das
Geld zum Einkauf neuer
Ware. Doch wie kam das
Geld nach New York? Das
FBI erkundigte sich bei russischen Kollegen nach Geschäftspartnern der Bank
of New York, etwa der Moskauer Sobin-Bank, welche
die Zolleinnahmen verwaltet und Staatsdomänen finanziert.
Maskierte Polizisten besetzten vorigen Dienstag
die Sobin, durchsuchten die
Tresore und beschlagnahmten Akten. Russlands
Steuerminister Alexander
Potschinok war nicht überrascht: „Alle unsere Banken arbeiten mit der Bank
of New York.“
Das tun auch andere Firmen: Der Ölkonzern Sibneft, an dem der Tycoon
Boris Beresowski beteiligt
ist, schleuste im Ausland
fällige Verkaufserlöse und
gesparte Steuern zur Bank
of New York und von dort
in die Schweiz. In diese
Transaktionen soll auch die Sibneft-Tochter East Coast Petroleum verwickelt sein,
welche der Russe Alexej Djatschenko
leitet, sowie die ihm verbundene BelkaHandelsgesellschaft.
Djatschenko verfügt über zwei Konten
bei der Bankfiliale auf den Cayman-Inseln,
so hat der Direktor der Bank of New York,
Thomas Renyi, in einem Hearing des USRepräsentantenhauses ausgesagt. Die Konten weisen ein Guthaben von 2,7 Millionen
Dollar aus. Pikant: Djatschenko ist der
Schwiegersohn des Präsidenten Boris Jelzin. Seine Ehefrau Tatjana, amtlicher
„Imetschmaker“ Jelzins, weiß nicht genau,
womit ihr Mann sein Geld macht: „Irgendetwas mit Holzverarbeitung.“
Russlands suspendierter Generalstaatsanwalt Jurij Skuratow verdächtigt Tatjana
Djatschenko schon länger, mit einer vom
Schweizer Bauunternehmer Behgjet Pacolli finanzierten Kreditkarte Garderobe
en gros eingekauft zu haben – möglicherweise Pacollis Dank für Staatsaufträge aus
dem Kreml.
Der Vater, dessen Name auch eine
American-Express-Karte ziert, habe aber
„persönlich nichts damit zu tun“, sagt
Skuratow. Ihn bekümmern größere Deals:
Vorigen Sommer, kurz vor der RubelAbwertung, hätten 18 Privatbanken sich
3,9 Milliarden Dollar bei der Zentralbank
beschafft, im Tausch gegen bald darauf
entwertete Rubel.
Die Greenbacks, sagt Skuratow, stammten vom Weltwährungsfonds und seien
gleich auf Konten bei der Bank of New
York geflossen.
Fritjof Meyer
Bank of New York: Milliarden aus Moskau
fen, dass sie als Zeugen aussagen – mit
strafmildernder Wirkung: „Diese Untersuchung steht erst am Anfang, und es bleibt
noch viel zu tun“, so die Staatsanwaltschaft. Es bleibt etwa zu prüfen, wem die
Benex gehört – wohl einem Semjon
Mogiljewitsch, der sich in Ungarn mit
Mädchen- und Waffenhandel abgeben soll
und alles bestreitet.
Einige Empfänger der Überweisungen
entpuppten sich als polizeibekannte Dunkelmänner. So gingen über die New Yorker
Bank 5,5 Millionen Dollar von der Benex
auf ein italienisches Konto des Ukrainers
Boris Rizner, 34, der per Haftbefehl wegen
Erpressung gesucht wird.
Rizner gilt als Kumpel des Paten der OstMafia in Nordostitalien, Jossif Roizis, 52,
der seit Februar in U-Haft
sitzt. In der Gegend um
Rimini kaufen russische
Handelsleute seit langem
Kleider und Möbel für den
Export in die Heimat auf.
Russische Mafiosi pressen
ihnen die Rechnungen ab,
um sich die Mehrwertsteuer erstatten zu lassen, und
erzwingen Provisionen
durch Prügel und Geiselnahme.
Rizner empfing von der
Bank of New York weitere
700 000 Dollar auf sein
Konto bei der Credito
Cooperativo Ospedaletto.
Jelzin, Tochter Tatjana
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225
Ausland
ÖSTERREICH
Backhendl
und Wildreis
der Wähler haben immerhin für die noch
amtierende SPÖ/ÖVP-Koalition gestimmt.
Zwar legen Untersuchungen nahe, dass
beinahe jeder zweite Österreicher ausländerfeindlich ist; sie zeigen aber auch, dass
bei FPÖ-Wählern dieses Thema nur auf
Rang vier der Prioritätenliste lag. Vordringlich wurde der Wunsch geäußert, Haider möge gegen Korruption und Parteibuchwirtschaft im Dunstkreis der Koalition vorgehen.
So sind es die Regierungsparteien selbst,
die Haider zu einer weltweit misstrauisch
beäugten politischen Größe gemacht haben. Angststarr im Angesicht des
strahlenden Populisten, verharrten Klima und Schüssel bis zuletzt
in der Deckung. Sie haben die
Themen diktiert bekommen, statt
sie zu setzen.
Elf Milliarden Mark jährlich
leistet sich Österreich an Familienhilfen, was in Relation zur Bevölkerung weltrekordverdächtig
ist. Doch Haider fordert 800 Mark
im Monat für das Erstgeborene jeder Inländerin und macht damit
Punkte. Die geringste Zuwanderungsrate in der EU und die niedrige Arbeitslosigkeit hinderten ihn
nicht daran, „Österreich zuerst“
zu plakatieren.
Sicher, es grummelt vernehmlich im Land. Aber bei genauem
Hinhören klingt das nicht nach
Hungerknurren, sondern nach
Völlegefühl. Als die FPÖ am
Wahlabend feiert, drängt wenig
einfaches Volk ans Büffet. Mit modischem Wildreis und klassischem
Backhendl wird Haiders allseitig anschwellender Sammlungsbewegung
Rechnung getragen – Lodenhut trifft auf
Business-Suit.
Eine Koalition mit der FPÖ wäre für die
ÖVP ein gefährlicher Salto rückwärts,
schreibt der Schriftsteller und Alfred-Döblin-Preisträger Gerhard Roth im Magazin
„Format“: Schon „mit Waldheim erhielt
die Casa d’Austria in den achtziger Jahren
einen diskreten Hausmeister, der von nichts
wusste und sich an nichts erinnern konnte“.
Kurt Waldheim, wegen seiner Rolle im
Nationalsozialismus angefeindeter ÖVPPolitiker, war von 1986 bis 1992 Bundespräsident. Er hat die Zweite Republik erstmals in die internationale Isolation geführt.
ÖVP-Chef Schüssel steht nun vor der Wahl,
mit der SPÖ weiterzumachen wie bisher
oder sich mit Haiders Hilfe zum Kanzler
wählen zu lassen, um den eventuellen Preis
erneuter Ächtung seines Landes.
Klimas Sozialdemokraten unterstellen
bang, dass es so kommen wird. David Mock,
Sprecher des Bundeskanzlers, zeichnet ein
volksnahes Bild der Annäherung zwischen
Konservativen und Freiheitlichen: „Des is’
wia ins Wossa einibieseln – ma mocht’s,
aber ma redt net drüba.“
Walter Mayr
VIENNAREPORT
Nach ihrem Wahlerfolg ist Jörg
Haiders FPÖ auf dem Sprung in die
Regierung. Der Wunschpartner
ÖVP zögert, die Warnsignale aus
dem Ausland klingen schrill.
ger. Wer mit ihm regieren wolle, dürfe sich
melden, hat er als Parole für die Koalitionsverhandlungen ausgegeben.
In seinen 13 Jahren an der Spitze hat
Haider den Stimmenanteil der FPÖ verfünffachen können. Inzwischen ist seine
aggressiv fremdenfeindlich auftretende
Partei stärkste Kraft in den Landeshauptstädten Salzburg, Innsbruck, Graz, Bregenz
und Klagenfurt, aber auch in Kitzbühel,
Kufstein, Radstadt und am Wörthersee –
wo Österreich am schönsten und der
Fremde für gewöhnlich ein geschätzter
Goldesel ist.
Wahlsieger Haider: Unheil für die Tourismusnation?
I
m Revier rund um den Wiener Erlachplatz ist alles wie gewohnt – kleine Leute, große Mietshäuser, buntes Völkergemisch. Es gibt weiterhin Surhaxe im Gasthaus Hes und scharfe Paprikaschoten beim
Anatolier nebenan. Die Plakate, auf denen „Stop der Überfremdung“ stand, sind
schnell wieder verschwunden.
Kein Hinweis findet sich dafür, dass im
Arbeiterbezirk Favoriten die Dinge aus
der Balance geraten wären. Und doch wurde hier am vorvergangenen Sonntag in
drei Wahllokalen ein Beben registriert –
erstmals seit Menschengedenken lag die
Sozialdemokratische Partei (SPÖ) bei
Nationalratswahlen nicht in Front. Jörg
Haiders Freiheitliche Partei (FPÖ) hatte
gewonnen.
Mehr als 27 Prozent der Stimmen bundesweit und Platz zwei hinter Kanzler Viktor Klimas SPÖ hat der Kärntner Volkstribun eingefahren. Selbst wenn am Dienstag,
nach Auszählung der Briefwahlstimmen,
die konservative Österreichische Volkspartei (ÖVP) unter Wolfgang Schüssel noch
um Haaresbreite vorbeizöge – Haider bliebe als Dritter mit einem Stimmengewinn
von fünf Prozent der eigentliche Wahlsie226
Die FPÖ erwies sich als Partei der Jugend. Bei den unter 30-Jährigen errang sie
fast so viele Stimmen wie die Dauer-Koalitionäre SPÖ und ÖVP zusammen. Sie
liegt auch vorn in der Gunst der Arbeiter,
und sogar bei Unternehmern schneidet sie
besser ab als die SPÖ.
Die Tourismus- und Exportnation Österreich befürchtet nun Unheil. Denn Haider,
im Ausland vor allem bekannt für seine öffentliche Verbeugung vor SS-Veteranen
und für das Lob der Beschäftigungspolitik
im Dritten Reich, rechtfertigt mit seinem
Aufstieg im internationalen Urteil einen
simplen Dreisatz: Wenn Haider die Nazis
verteidigt und mehr als ein Viertel der
Wähler Haider vertraut, muss sein Land
ewiggestrig sein.
„Ein neuer Hitler in Österreich?“, fragt
rhetorisch die römische „Repubblica“. Widerstand gegen die „Ausbreitung der neonazistischen und faschistischen Seuche“
fordert Israels Premier Ehud Barak. Sein
Außenminister David Levy droht gar mit
diplomatischen Konsequenzen.
In und um Wien wird die internationale
Aufregung erschreckt bis erbost zur Kenntnis genommen. 60 Prozent (bisher: 66,4)
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Ausland
KO S OVO
Revolutionär im Alptraumland
Der Grüne Tom Koenigs will mit der Uno im Kosovo Frieden
stiften. Nach ein paar Wochen fragt sich der ehemalige
Frankfurter Stadtkämmerer, ob er auf der „richtigen Seite“ steht.
Anschlag, die hübschen jungen Mädchen,
die kichernd die Straße auf und ab laufen,
oder die finsteren Jungs an der Ecke mit
ihrem Beuteblick – Szenen wie aus einem
Roman; all das hat er irgendwo schon mal
gelesen. Sogar den jüngsten Buchtitel seines Lieblingsschriftstellers Gabriel García
Márquez, dessen Werke er vor 20 Jahren
für Frankfurter Raubdruckausgaben übersetzt hat, könnte er sich als Tagesnotiz über
den Schreibtisch hängen.
Schon dreimal hat Koenigs die „Nachricht von einer Entführung“ auf den
Schreibtisch bekommen. Einige Uno-Mitarbeiter wurden von Serben festgehalten,
zuvor waren Serben von Albanern entführt
worden, noch immer fristen mehr als tausend Kosovaren ihr Leben in serbischer
Geiselhaft. Und in Kosovo Polje, am
Amselfeld, haben Terroristen eine Gewehrgranate auf den serbischen Markt
abgefeuert. Sie zerfetzte 3 Menschen, 30
wurden verletzt.
Solche Verbrechen sind im Kosovo so
alltäglich wie der Feierabendstau in Koenigs’ Heimatstadt Frankfurt am Main.
Dort hat der Sohn eines Kölner Bankiers
als grüner Stadtkämmerer jahrelang auf
geordnete Finanzen geachtet, als Umwelt-
Fischer, Koenigs (1992), Koenigs, Uno-Polizist in Mitrovica: Um den Job gerissen
FOTOS: S. HUSCH (li.); K. MÜLLER (re.)
E
in bisschen verloren steht der schmale Mann vor der Kukri-Bar in
Pri∆tina. Schüchtern prüft er, ob jemand ihn erkennt. In dem mit den Fahnen
der Nato-Staaten geschmückten Café
macht die westliche Wertegemeinschaft gerade Feierabend: Uno-Polizisten trinken
mazedonisches Dosenbier, Diplomaten
sortieren ihre Papierstapel, Hilfsorganisatoren schreien in ihre Handys. Alle sind
sehr beschäftigt, niemand beachtet Tom
Koenigs, den Neuen.
„Guten Tag, ich bin Ihr Chef“, sagt er
schließlich beherzt zu einem deutschen
Bundesgrenzschutzbeamten, der zufällig
vorbeiläuft. Wenn ihn niemand einführt
in die Geschichte, muss er es eben selbst
tun; schließlich ist er nun eine der Hauptfiguren.
Das Leben in Pri∆tina erinnert ihn an lebendig gewordene Literatur: Die britischen
Soldaten mit den Maschinenpistolen im
dezernent Sonnenkollektoren gefördert
und Hundehaufen auf den Straßen
bekämpft.
Nun soll er als Chef der Uno-Zivilverwaltung für das Kosovo Minderheiten beschützen, Straßen in Stand setzen, Schulsysteme einrichten, eine demokratische
Verwaltung aufbauen, die Guerrillakämpfer der UÇK zunächst entwaffnen und sie
dann in nützliche Mitglieder einer freien,
zivilen Gesellschaft verwandeln. Um diesen unmöglichen Job hat er sich auch noch
geradezu gerissen.
Seit vier Wochen lebt er nun in Pri∆tina
als Untermieter eines kosovarischen
Pädagogikprofessors in „albanischem
Plüsch“. Nachts hört er Gewehrschüsse,
die Telefongespräche nach Deutschland gehen langsam ins Geld, und die Frage, ob er
hier überhaupt „auf der richtigen Seite“
stehe, hat er sich auch schon gestellt. Doch
eigentlich steht Koenigs auf gar keiner Seite, er ist eine. Der ehemalige linksradikale
Agitator der Berliner Gruppe „Rote Zelle
Ökonomie“ amtiert jetzt als leitender Beamter des Weltstaatsapparats.
Den Posten hat er seinem Freund Joschka Fischer zu verdanken, den er noch
aus Frankfurter Sponti-Zeiten kennt. Die
Amigo-Connection gereicht ihm nicht zum
Nachteil, Fischers Freunde genießen in
der Betonburg der Uno in Pri∆tina einen
guten Ruf.
Koenigs residiert in einem 16 Quadratmeter kleinen Zimmer mit widerstandsfähigen Büropflanzen, abgeschirmt von einer resoluten spanischen Sekretärin. Seinen Besuchern weiß er von Exotischem zu
berichten, etwa vom Uno-Klo, das aussehe
„wie die Latrine in einer chinesischen Kaserne“. Noch findet er die neue Welt pit-
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AP
toresk, noch sammelt er die neuen Bilder
zur Wiedervorlage in seinem Kopf.
Auf dem Weg nach Mitrovica beispielsweise, einer Dienstreise von der Etappe an
die Front, sieht er, wie das Kohlekraftwerk
Obeliƒ gelbe Abgasschwaden in den Himmel schickt. Irgendwann, nimmt Koenigs
sich vor, wird er diese Schwefel spuckende Dreckschleuder abstellen.
„Such doch mal einen örtlichen Nachrichtensender und übersetz dann für
mich“, bittet er seinen jungen serbischen
Fahrer. Der dreht gehorsam am Knöpfchen, hört ein paar Worte aus dem Äther,
ruft dann „toll“ und hebt den Daumen.
In Belgrad haben wieder tausende Menschen gegen Milo∆eviƒ demonstriert. Das
freut den Chauffeur. Doch dann erzählt er
plötzlich von seinem Leben in Pri∆tina.
Als Serbe kann er in seiner Heimatstadt
nicht einmal ungefährdet einkaufen. Seine
albanischen Freunde, die er während des
Krieges zu Hause versteckt hat, kennen ihn
plötzlich nicht mehr. „Ich will weg hier. Ich
hab die Schnauze voll. Ich kann das nicht
länger hören: Serben hier, Albaner da.“
Der Uno-Fahrer schluckt und entschuldigt sich bei seinem Boss für den Gefühlsausbruch. „Ist schon in Ordnung“, murmelt Koenigs in seine Richtung.
Das war wieder so ein Moment, in dem
er sich fragt, ob der Einsatz sich überhaupt
lohnt. In seiner Partei verteidigte er die
Trauerfeier für ermordeten Serben in Kosovo Polje: Alltäglich wie der Feierabendstau
Bombardierung von Belgrad, um die Unterdrückung der Albaner im Kosovo zu beenden. Und was machen die Unterdrückten jetzt, mit denen er sich so solidarisch
zeigte? Sie vertreiben ihre Nachbarn, genauso wie die Serben zuvor.
Ob die Friedensmission im Kosovo gelingt, „ist keineswegs sicher“, sagt Koenigs. Ob er hier Erfolg haben wird, „hängt
sehr von der Großwetterlage auf dem Balkan“ ab. Er will andererseits auch nicht
den hilflosen Funktionär vom Technischen
Hilfswerk mimen, sondern versteht seine
Arbeit als „politischen Job, in dem man
kämpfen muss“. Natürlich sähe er es am
liebsten, wenn in einigen Jahren eine demokratische Regierung in Pri∆tina residieren würde, die geflohenen Serben aus
Belgrad zurückkehren und die Erzfeinde
fröhliche Feste miteinander feiern würden.
Doch die multikulturelle Gesellschaft, die
nicht zuletzt von Frankfurter Intellektuellen immer wieder als Ideal debattiert wurde, ist im Kosovo nicht in Sicht.
Ausland
Für Koenigs wäre das Scheitern der
Uno-Mission auch eine persönliche Niederlage. Sein Millionenerbe hatte er einst
an den Vietcong und den chilenischen
Widerstand gegen Pinochet verschenkt, unter dem Druck politischer Realität wandelte er sich dann von einem Linksradikalen zum liberalen Grünen, den Glauben
an Toleranz und Menschenrechte hat er
stets bewahrt. Diese Grundüberzeugungen
geraten im Kosovo ständig auf den Prüfstand, selbst bei seiner Lieblingseinrichtung, der Feuerwehr.
Den Brandbekämpfern galt schon in
Frankfurt seine Liebe, auch in Pri∆tina hat
er die Truppe sofort besucht und bei einem
Einsatz begleitet. In Kosovo Polje brannte
im albanischen Viertel das Haus eines Serben. Die 15 Feuerwehrmänner, alles Albaner, riskierten buchstäblich ihr Leben, um
das Haus eines Feindes zu retten.
Die Löschmannschaft von Pri∆tina ist
nur noch halb so groß wie vor dem Krieg.
Die 15 serbischen Kollegen fehlen. Was
würde geschehen, wenn sie wieder zum
Dienst kämen, hat Koenigs die verbliebenen Albaner gefragt. „Dann werden wir
uns vor Freude besaufen“, lautete die Antwort. Doch die Fete wird ausfallen. Die
Serben trauen sich nicht länger an ihren
Arbeitsplatz.
In Mitrovica, der geteilten Stadt am Ibar
im nördlichen Kosovo, trifft Koenigs bei
einem Arbeitsessen die Funktionäre des ihre Leute im jeweils anderen Teil der
guten Willens. Über 30 Uno-Mitarbeiter Stadt. Keiner ist in der Lage, sie abzugeben,
aus aller Welt sitzen im ehemaligen Bank- denn die Zahl der Feuerköpfe, die nur dargebäude der Stadt bei Pizza aus Papp- auf warten, herumzuballern und Handgraschachteln und Amselfelder Rotwein zu- naten zu werfen, ist auf beiden Seiten viel
sammen, um dem neuen Boss aus Deutsch- zu groß. Die Zukunft des Kosovo, diktiert
land Bericht zu erstatten. Die Nachrichten Koenigs einem albanischen Reporter
anschließend auf englisch in den Block,
sind nicht immer schlecht.
Überall dort, wo Serben und Albaner „wird sich in Mitrovica entscheiden“.
Dann fährt er zurück in das Uno-Hauptganz unter sich leben, bleibe es ruhig, berichten die Uno-Pioniere aus den zerstör- quartier nach Pri∆tina, durch eine sternenten Dörfern. Die Häuser würden winterfest klare Nacht. Links und rechts zieht die in
gemacht, die Strom- und Wasserversorgung Tintenblau getauchte Landschaft an ihm
bessere sich, die Kinder gingen wieder zur vorbei wie ein surreales Irrbild.
Am Straßenrand liegen tote
Schule – lauter kleine Siege für
Hunde, auf den Wiesen lodern
die Uno.
Ungleich schwerer wiegen al- Koenigs’ Ideale, Flammen. Bauern verbrennen
Toleranz
Unkraut neben den Minenlerdings die ständigen Niederlagen. Die albanischen Ärzte, und Menschen- feldern. Die Feuer beleuchten
die im serbischen Stadtteil von rechte, geraten das Amselfeld, wo vor 600 Jahren die Türken die Serben beMitrovica im Hospital gearbeiin Pri∆tina
und Milo∆eviƒ vor zehn
tet haben, verlassen das Kranständig auf den siegten
Jahren hunderttausende natiokenhaus und nehmen ihre albaPrüfstand
nalbesoffener Landsleute vernischen Patienten gleich mit.
sammelte.
Wochenlang sind sie auf ihrem
Autofahrt durch Alptraumland? „Ab
Weg zur Arbeit bedroht worden, und der
serbische Chefarzt hat die Zusammenar- sofort werden hier Kfz-Nummernschilbeit torpediert, wo er nur konnte. Jetzt der ausgegeben“, sagt der Intellektuelle
plötzlich unvermittelt in die Dunkelheit
kehrt wieder Apartheid ein – und Ruhe.
Unter vier Augen bespricht sich Koenigs hinein. Und demonstriert Entschlossenerst mit dem „Bürgermeister“ der Albaner, heit: „Wer bis zum Jahresende kein gültidann mit dem der Serben. Beide wollen ges Schild hat, wird verhaftet.“
dasselbe, nämlich Sicherheitsgarantien für
Claus Christian Malzahn
Ausland
G R O S S B R I TA N N I E N
Tödliche
Lachnummer
Der Schock über die
Katastrophe von London zwingt
Betreiber und Regierung
zur überfälligen Modernisierung
des maroden Bahnsystems.
U
nter der Rubrik „Signal-Ausfälle“
unterhält das Satiremagazin „Private Eye“ die Briten seit Jahren mit
gruseligen, aber realen Geschichten über
die Eisenbahn, einst der Stolz des Landes
und ein Motor des Aufstiegs zur industriellen Weltmacht. Mal muss, berichtet das
Blatt beispielsweise, ein
2100 Seiten starker FahrPaddington
plan durch zwei dicke Er-
Zwar wird wohl erst ein Untersuchungsausschuss in monatelanger Arbeit
klären können, wer die Verantwortung für
die Katastrophe trägt, doch eine der Ursachen, da sind die Experten schon heute einig, liegt in genau jenem Chaos, das „Private Eye“ den Stoff für seine ärgerlichen
Lachnummern liefert. Seit der Privatisierung der Staatsgesellschaft British Rail vor
fünf Jahren verfügt das Inselland über ein
einmalig zersplittertes Eisenbahnsystem:
Gleise, Bahnhöfe und Signalanlagen
gehören der Gesellschaft Railtrack; Lokomotiven und Wagen verleihen 3 Betriebe
an insgesamt 25 Unternehmen, die auf
ihren Strecken häufig Monopolrechte haben. Hinzu kommen 5 Frachtunternehmen
und 19 Wartungsbetriebe. Viele dieser Firmen nutzen zudem noch die Dienste von
Subunternehmen.
„Diese Fragmentierung“, so der ehemalige Operationschef der aufgelösten Staatsbahngesellschaft, Peter Rayner, mache die
„Einhaltung hoher Sicherheitsstandards
fast unmöglich“. Bei den meisten Ent-
vertrauten die Privaten bislang auf ein
weitaus billigeres akustisches Warnsystem,
das aber bei einem ähnlich verlaufenden
Unfall an fast gleicher Stelle vor zwei Jahren versagte. Die Schreckensbilanz damals:
7 Tote, 150 Verletzte.
Hatte der Staat Schienennetz und Züge
einst in der Hoffnung verkauft, dass die
neuen Eigner endlich jene Investitionen
nachholen würden, die er selber versäumt
hatte, sah er sich enttäuscht. Vor allem
durch Personalabbau sorgten die neuen
Besitzer zunächst einmal für Gewinne. Von
den beiden an der Kollision beteiligten Gesellschaften erwirtschaftete Thames Trains,
die Eignerin des Regionalzugs, voriges Jahr
41 Millionen Pfund. Great Western Trains,
verantwortlich für den Expresszug, schloss
mit 92 Millionen Pfund Gewinn ab.
Bei solchen Summen ist denn auch die
Strafe zu verschmerzen, die das Schnellzug-Unternehmen für den Unfall vor zwei
Jahren zahlen muss – 1,5 Millionen Pfund.
Der Betrag ist nur halb so hoch wie
die Summe, die der damalige Firmenchef
LONDON
Harrow
Road
Unglücksstelle
Hyde Park
gänzungsbände korrigiert werden, weil etliche der ausgewiesenen Züge nicht wie
angegeben starten können – sie wären unweigerlich zusammengestoßen.
Andererseits fallen fahrplanmäßige
Züge in Großbritannien immer wieder aus.
„Sorry, wir haben keinen Lokführer“, müssen wartende Passagiere nicht selten als
Erklärung hinnehmen. Die chronischen
Verspätungen holen britische Bahner dann
zuweilen mit schlichter Schummelei auf:
Am „Tag der 100-prozentigen Pünktlichkeit“ rauschten viele Züge durch kleinere
Bahnhöfe einfach hindurch, um rechtzeitig
ihr Ziel zu erreichen.
Doch nun ist den Briten das Lachen über
ihr Eisenbahnunwesen vergangen, das Magazin wird eine andere Rubriküberschrift
auswählen müssen, seit sich am vorigen
Dienstag, gut drei Kilometer vor dem berühmten Westlondoner Bahnhof Paddington, das schwerste Eisenbahnunglück der
britischen Nachkriegsgeschichte ereignete.
Wohl weil der 31-jährige, gerade ausgebildete Lokführer Michael Hodder übersehen hatte, dass Signal 109 auf Rot stand,
starben beim Zusammenstoß eines Express- und eines Regionalzugs vermutlich
80 Menschen. Bergungstrupps suchten
noch Freitagnacht in dem völlig ausgebrannten Wagen an der Spitze des Schnellzugs nach Spuren von Leichen.
232
REX FEATURES / ACTION PRESS
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Roa
ello rove
G
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Por broke
Lad
500 m
Paddington
Bergungsarbeiten am Londoner Unfallort: Zusammenprall bei Signal 109
scheidungen über notwendige Investitionen würden sich heute „die verschiedenen
Organisationen erst einmal über Verantwortlichkeiten streiten“.
Der Zusammenprall bei Signal 109 ist
ein trauriger Beleg für den Zuständigkeitswirrwarr. Mindestens achtmal haben
Zugführer seit 1993 das durch Masten und
Drähte leicht zu übersehende Signal nicht
beachtet. Spätestens nach einer BeinaheKatastrophe im Februar 1998 wurde SN
109 in den Railtrack-Unterlagen als gefährliches Sicherheitsrisiko geführt.
Ein automatisches Bremssystem, das –
wie etwa bei der Deutschen Bahn – die
Züge zum Stillstand bringt, wenn sie ein
Stopplicht überfahren, haben die britischen
Eisenbahngesellschaften nur vereinzelt eingeführt. Mit Zustimmung der Regierung
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Richard George im vergangenen Jahr beim
Verkauf von Unternehmensaktien verdiente.
Sogar der wirtschaftsfreundliche Londoner „Economist“ kennzeichnet die
„Kluft zwischen dem Reichtum der Bahnbetreiber und der Missachtung ihrer Passagiere“ als „Skandal“ und bewertet die
Privatisierung von British Rail als „katastrophalen Misserfolg“.
Unter dem Eindruck des Unglücks von
Paddington rufen nun die Briten wieder
nach mehr Staat – und finden Gehör. Vizepremier und Verkehrsminister John Prescott kündigte die verspätete Einführung
des modernen Bremssystems an. Die
Kosten in Höhe von einer Milliarde Pfund
wollen sich Regierung und die Eisenbahngesellschaften teilen.
Hans Hielscher
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W E LT B E V Ö L K E R U N G
Alarm an der nassen Front
Die Schlüsselrolle bei der Versorgung der wachsenden
Weltbevölkerung spielt das Wasser. Experten sagen voraus: 2025
leidet ein Drittel aller Menschen unter akutem Mangel.
* Klaus M. Leisinger: „Die sechste Milliarde, Bevölkerungswachstum und nachhaltige Entwicklung“. Verlag C.
H. Beck, München; 368 Seiten; 24 Mark.
234
Wasserschwund
Jährlich verfügbares
Süßwasser pro Kopf
in Kubikmeter
3000
2500
Somalia
2000
China
1700
Indien
Äthiopien
1000
Ägypten
FOTO S : I M AG I N E , BAVA R I A
S
tellen Sie sich vor“, heißt es auf
der Internet-Seite der „NetAid Foundation“, „täglich stürzen 300 JumboJets ab. Und es gibt keine Überlebenden.
Würde Sie das beeindrucken, würde das
Ihre Wut anstacheln?“
Mit derart drastischen Vergleichen wirbt
die neu gegründete Stiftung für den Kampf
gegen Hunger und tödliche Armut. Prominente Menschenfreunde wie Bill Clinton,
Nelson Mandela und Tony Blair unterstützen die Kampagne. Kurz bevor nach UnoBerechnungen am 12. Oktober irgendwo
in Afrika, in Indien oder auch im GazaStreifen der sechsmilliardste Erdenbürger
geboren wird, klingen die Warnungen von
Entwicklungshelfern, Wissenschaftlern und
Politikern immer schriller.
Bis vor kurzem hatte noch das Prinzip
Hoffnung überwogen; mit dem technischen
Wissen und den finanziellen Mitteln der
Moderne, so schien es, müssten Mängel
und Krisen langfristig zu bewältigen sein.
So dachte auch der Entwicklungssoziologe
Klaus Leisinger. Aber nun, da er das statistische Material zum Bevölkerungswachstum und zu den Folgen erneut zusammengetragen hat, erfüllt ihn „immense Alarmiertheit“*. Der in Basel lehrende
Professor, der stolz darauf ist, sich von den
Beschwörern der Apokalypse immer fern-
Kenia
Algerien
Somalia
Israel
Jordanien
0
1955
d e r
1998
s p i e g e l
2025
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akuter Mangel
Durstende Flüchtlinge in Äthiopien: Kampf um Wasser am Blauen Nil
gehalten zu haben, sieht die letzten Chancen schwinden: „Begreift denn niemand,
was hier läuft?“
Seinen Sinneswandel hat in erster Linie
die gefährliche Kombination von Wassermangel, Knappheit an landwirtschaftlich
nutzbaren Böden und Zerstörung der Tropenwälder bewirkt. Das Wasser spielt dabei die Schlüsselrolle für die Ernährung
der Weltbevölkerung – es ist die Voraussetzung, dass Getreide und Gemüse gedeihen, aber auch Gras fürs Vieh. Dabei ist auf
Regen allein kein Verlass: Schon heute
werden weltweit auf den bewässerten 17
Prozent der Anbaufläche fast 40 Prozent
der Nahrungsmittel erzeugt.
Wasser ist kostbar, obwohl es 70 Prozent der Erde bedeckt. Aber nur 2,5 Prozent aller Vorkommen sind Süßwasser, und
davon steht nur etwa ein Prozent in Flüssen, Seen und als Grundwasser zur Verfügung. Von den jährlich 110 000 Kubikkilometer Niederschlägen sind gerade mal 9000
Kubikkilometer nutzbar, wie Leisinger berechnet hat, dazu kommen etwa 3500 Kubikkilometer in Stauseen und Reservoirs.
Wasser ist nicht nur Mangelware, es ist
auch ungleich verteilt. Auf den 40 Prozent
der Landfläche, die trocken oder halb
trocken ist, gibt es nur zwei Prozent des
globalen Fließwassers. Aber auch dort, wo
im Durchschnitt genug Regen fällt, wechseln sich Monate starken Regens und extremer Trockenheit ab.
Üppig, wie für Amerikaner und Europäer (Tagesverbrauch: bis 700 Liter),
sprudelt der Wasserhahn nur ausnahmsweise. Senegalesen müssen mit weniger als
30 Litern auskommen. Pro Jahr verbringen die 771 Millionen Afrikaner etwa 40
Milliarden Stunden beim Wasserholen.
Wo Wasser rar ist, ist auch seine Qualität
schlecht. In den Entwicklungsländern haben 1,2 Milliarden Menschen keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser, 2,9 Milliarden verfügen nicht über sanitäre Einrichtungen. Etwa die Hälfte der Menschen
in diesen Ländern plagt sich mit Krankheiten, die auf die prekäre Wasserversorgung zurückzuführen sind.
Für das Jahr 2025 erwarten Fachleute in 52 Ländern Wasserknappheit (weniger als 1700 Kubikmeter pro Kopf und
Jahr) oder akuten Mangel (weniger als
1000 Kubikmeter). Betroffen sind dann
bis zu 3,2 Milliarden Menschen, 37 Prozent der Weltbevölkerung.
Die Zusammenhänge zwischen Bevölkerungswachstum, Entwicklung und
Wasserbedarf sind in China besonders
augenfällig. 1980 lebten dort etwa eine
Milliarde Menschen, die Industrialisierung war relativ gering und der Wohlstand der Städter bescheiden. Die vorhandenen Ressourcen an Frischwasser,
immerhin die viertgrößten der Welt,
reichten für alle.
Heute ist die Bevölkerung um 250
Millionen Menschen angewachsen, die
Mangel
BOCCON-GIBOD / DAS FOTOARCHIV
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236
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schon begonnen. Wo hohe
Preise die Verschwendung
verhindern, haben die Armen
das Nachsehen; wo der Markt
nicht greift, herrschen Willkür und Korruption. So
wächst um die prekäre Versorgung ein gewaltiges soziales Konfliktpotenzial.
Noch gefährlichere Auseinandersetzungen zeichnen sich
zwischen
rivalisierenden
Staaten ab. Große Teile Ostafrikas leben vom Wasser des
6700 Kilometer langen Nil.
Die Verträge zwischen den
Anrainerstaaten stammen aus
dem Jahr 1959. Sie müssten
längst neu ausgehandelt werden. Doch die größten Länder, Ägypten und Sudan,
sind uneins. Zudem verlangt
Äthiopien einen größeren
Anteil, da 80 Prozent des
Wassers, das durch Kairo
fließt, aus seinem ergiebigen
Blauen Nil stammen. 2050
wird eine Milliarde Menschen
von der gerechten Verteilung
des Nilwassers abhängen,
viermal mehr als heute.
Eine lange Tradition hat der Wasserstreit
auch im Nahen Osten, einer der trockensten Regionen der Erde. Vor allem Israel
wird von arabischen Staaten beschuldigt,
den Wasserhahn im Machtpoker einzusetzen. Im März erschreckte Jerusalem die
jordanischen Nachbarn mit der Ankündigung, wegen Trockenheit die zugesicherte
Wassermenge um die Hälfte zu kürzen.
„Die Kriege des nächsten Jahrhunderts
werden um Wasser geführt“, prophezeit
Ismail Serageldin, Vizepräsident der Weltbank. Der Mangel und die Verteilung werden politisch gemanagt werden müssen –
sicher ist aber auch, dass dies nur gelingt,
wenn die Weltbevölkerung nicht unkontrolliert weiter wächst.
Spektakuläre Internet-Auftritte und
Mega-Konzerte, wie sie NetAid für den 9.
Oktober gegen die Armut angekündigt hatte, ergeben nur Sinn, wenn die Regierungen ihre Verpflichtungen einhalten. 1994
versprachen sie in Kairo auf der Weltbevölkerungskonferenz, die Mittel zur Propagierung der Familienplanung, zur Förderung der Frauenausbildung und zur Verteilung von Verhütungsmitteln bis zum Jahr
2000 auf 17 Milliarden Dollar zu verdreifachen. Leeres Gerede: Die Industrieländer,
schätzt die Uno-Organisation für Entwicklungshilfe, werden ihre finanziellen Verpflichtungen nur zu einem Drittel erfüllen.
„Das wesentliche Merkmal des 20. Jahrhunderts“, resümiert der britische Professor
Ernst Gombrich, „ist die schreckliche Vermehrung der Weltbevölkerung. Es ist eine
Katastrophe, ein Desaster.Wir wissen nicht,
was wir dagegen tun können.“ Jürg Bürgi
M. HORACEK / BILDERBERG
Industrialisierung wird kräftig vorangetrieben, die Metropolen wuchern, der Wohlstand nimmt zu. Die Folge
ist eine „ungeheure Wasserknappheit“, so Leisinger:
2030 werden sich 1,5 Milliarden Menschen die vorhandenen Vorräte teilen müssen.
Noch düsterer präsentieren
sich die Aussichten in Ägypten. Schon letztes Jahr standen dort pro Kopf nur noch
899 Kubikmeter Süßwasser
zur Verfügung. Wächst die
Bevölkerung wie bisher um
mehr als eine Million Menschen pro Jahr, bleiben im
Jahr 2025 gerade noch 615
Kubikmeter.
Dass große Teile der
Menschheit in den letzten
Jahrzehnten nicht verhungerten, ist in erster Linie der
künstlichen Bewässerung zu
verdanken. Nur so lassen sich
mit modernem Saatgut und
Mehrfachernten hohe Erträge erzielen. In Pakistan wachsen 80 Prozent der Nah- Badeluxus in Deutschland*: Düstere Prognosen
rungsmittel auf bewässerten
Böden, in China 70, in Indien und IndoneLester Brown, Gründer des renommiersien über 50 Prozent.
ten Worldwatch Institute, rechnet vor, dass
Aber erst zehn Prozent der Nahrungs- zur Produktion einer Tonne Weizen im
mittel in Afrika kommen aus künstlich be- Marktwert von 200 Dollar 1000 Tonnen
wässertem Land. Uno-Experten schätzen, Wasser nötig sind. Wird dieselbe Menge
dass künftig weitere 110 Millionen Hektar Wasser in der Industrie eingesetzt, können
bewässert werden können. Das darauf er- damit Waren im Wert von 14 000 Dollar
zeugte Getreide würde bis zu zwei Milli- hergestellt werden. China, das jährlich
arden Menschen ernähren.
zehn Millionen Menschen neu in Lohn und
Die Prognose lässt allerdings die be- Brot bringen muss, wird wohl kaum zöträchtlichen Schäden außer Acht, die durch gern, die Industrieproduktion der Selbstdie Bewässerung entstehen. Weil auf be- versorgung mit Nahrungsmitteln vorzuwässertem Land nur Hochertragssorten ziehen. Folge: Die Nachfrage nach Getreiverwendet werden, geht die Artenvielfalt de auf dem Weltmarkt steigt beträchtlich,
verloren. Zudem versalzen die Böden – in und mit ihr die Preise.
Pakistan war schon vor zehn Jahren ein
Leidtragende sind zuerst jene armen
Viertel der bewässerten Regionen geschä- Länder, besonders in Nordafrika und im
digt, in China und Indien je ein Sechstel, Nahen Osten, deren Ernährung wegen
weltweit sind es heute 21 Prozent.
Wassermangels – Jordanien verfügt pro
Leisinger und andere Fachleute behar- Kopf und Jahr über klägliche 285 Kubikren darauf, dass der Nutzen richtiger Be- meter – vom Import abhängt. Spätestens
wässerung „bei weitem deren Kosten 2030 geriete nach Browns Berechnungen
übersteigt“. Zweifel hegt der Professor das ganze Ernährungssystem der Erde aus
aber, ob der ehrgeizige Plan zur Ausdeh- den Fugen, wenn die Chinesen 200 Millionung der Anbaufläche realistisch ist. Bis nen Tonnen Getreide einführen müssen –
2025 wäre dafür eine Verdreifachung der so viel, wie vor fünf Jahren insgesamt geWassermenge nötig, und so viel steht für handelt wurde.
die Landwirtschaft auf keinen Fall zur
Das Internationale WassermanagementVerfügung.
Institut in Colombo schätzt die Zunahme
Gleichzeitig steigt der Wasserverbrauch des Wasserbedarfs privater Haushalte zwisowohl in den Großstädten der Entwick- schen 1990 und 2025 auf 45 bis 335 Prozent.
lungsländer als auch in den Industriebe- Jede sechste der 640 größten Städte Chinas
trieben. Bedeutende Mengen von Wasser, kämpft mit Wassermangel. Pekings Stadtdie heute noch in die Landwirtschaft verwaltung lässt das Nass aus mehrefließen, werden zu höheren Preisen für den ren hundert Kilometer Entfernung herindustriellen und privaten Konsum abge- anführen. Die Verteilungskämpfe haben
zweigt – mit weit reichenden Folgen für
* Taunus Therme in Bad Homburg.
die Weltwirtschaft.
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T. GIVENS
Berliner Wohnhäuser auf dem „Dugway Proving Ground“: „Dem Industriearbeiter das Dach über dem Kopf nehmen“
ZEITGESCHICHTE
Angriff auf „German Village“
In der Wüste von Utah probten die Amerikaner während des Zweiten Weltkriegs die
Bombardierung Berlins. Detailgetreu ließen sie Mietskasernen nachbauen.
Architekt war der renommierte deutsche Jude Erich Mendelsohn. Von Mike Davis
238
japanischer Ziele stand in Dugway auf dem Programm.
Mendelsohns Leistung bestand
in der Anonymität des Ergebnisses: sechs Versionen der typischen Mietskasernen, die Berlins
Arbeitergebiete zu den am dichtesten besiedelten Arme-LeuteVierteln Europas machten. Die
Nachbauten waren zwar nicht so
hoch wie ihre siebenstöckigen
Vorbilder im Wedding oder in
Kreuzberg, ansonsten aber handelte es sich um verblüffend genaue Duplikate.
Der deutsche Stararchitekt
beschaffte den Amerikanern ausführliche Informationen über
die Dachkonstruktionen in den
Zielgebieten, da sie einen kritischen Faktor für den Erfolg
der Brandbomben darstellten.
„Erweitert und bestätigt“ wurden die Daten laut Standard Oil
„von einem Angehörigen des
Lehrkörpers der Harvard Architecture School, bei dem es sich
um einen Experten für die
Bombardierung Berlins durch B-17-Bomber (1945)
deutsche Holzrahmenbauweise“
Strafe für den Hort des Bösen
handelte.
Die Baufirmen stellten sicher, dass die in
griffe, die deutsche Städte in Flammenmeere verwandelten, wuchs auf Seiten der Dugway verwendeten Rahmen in Alterung
Alliierten die Frustration, weil es ihnen und spezifischer Dichte den deutschen mögnicht gelingen wollte, auch in der Reichs- lichst genau entsprachen. Die Hölzer wurhauptstadt einen Feuersturm zu entfachen. den teilweise sogar aus Murmansk imporIhre wissenschaftlichen Berater forder- tiert.Weil Brandexperten einwandten, Dugten deshalb ein Sofortprogramm, bei dem ways Klima sei zu trocken, sorgte Standard
die Brandeigenschaften von Arbeiterwohn- Oil für die richtige Feuchtigkeit: GIs musshäusern anhand exakter Abbilder getestet ten die Ziele ständig mit Wasser begießen,
werden sollten. Planung und Bau wurden um den Berliner Regen nachzuahmen.
Mit der Inneneinrichtung wurden vermit geheimen Forschungen über die Entflammbarkeit japanischer Häuser koordi- sierte Hollywood-Dekorateure der RKOniert, denn auch die simulierte Vernichtung Studios beauftragt; sie hatten sich als AusBPK
B
erlins entlegenster, unbekanntester
Vorort liegt verwaist in der Strauchwüste des US-Bundesstaats Utah,
rund hundert Kilometer südwestlich von
Salt Lake City. Er trägt den Namen „German Village“ und ist Teil des Armeegeländes „Dugway Proving Ground“.
Dugway ist knapp halb so groß wie das
Saarland und stärker mit Giftstoffen verseucht als das atomare Testgelände in
Utahs westlichem Nachbarstaat Nevada.
Drei Generationen chemischer und biologischer Waffen der amerikanischen Streitkräfte wurden hier erprobt; das Areal unterlag stets höchster Geheimhaltung und
war während des Kalten Krieges von Legenden umwoben.
Das „deutsche Dorf“ ist der Überrest
eines größeren Gebäudekomplexes: Nachbauten Berliner Mietskasernen, an denen
die Einäscherung von deutschen Städten
geübt wurde. Ein ganz Großer der modernen Architektur hat sie erschaffen – der
deutsch-jüdische Architekt Erich Mendelsohn.
Im Jahr 1943 heuerte das US-Korps
für chemische Kriegführung Mendelsohn
heimlich an und gewann ihn dafür, gemeinsam mit Technikern von Standard Oil
in der Wüste von Utah ein Berliner Arbeiterviertel im Miniaturformat zu errichten.
Eine Mietskaserne mit der Bezeichnung
„Building 8100“ steht heute noch – das
Bauwerk lässt nicht ahnen, dass hier derselbe Mann am Werk war, der zur Weimarer Zeit für solche Berliner Wahrzeichen
wie das Mosse-Haus, das Columbus-Haus,
das Wohnhaus Sternefeld in Charlottenburg oder das Observatorium Einsteinturm
in Potsdam verantwortlich zeichnete.
Absolute Ähnlichkeit in jeder Hinsicht,
lautete die Vorgabe. Seine Auftraggeber
hatten es eilig. Trotz erfolgreicher Luftan-
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Ausland
DEUTSCHE FOTOTHEK DRESDEN
heute wurden „zivile Nebenschäden“ vornehm unter den
Teppich gekehrt, um das nationale Gewissen nicht zu belasten. Doch wie die Errichtung von German Village
zeigt, hat die Wirklichkeit
weitaus dunklere Seiten.
Die Berliner Mietskasernen
wurden im Mai 1943 auf dem
Dugway Proving Ground errichtet, kurz bevor Winston
Churchill im Zentrum Hamburgs orkanartige Feuerstürme entfachen ließ. Ihr Zweck
bestand darin, Möglichkeiten
zu erproben und Probleme zu
lösen, die ganz eindeutig jenseits der moralischen Grenzen einer Punktzielbombardierung lagen. Die Bauten
wurden zu einer Fachmesse
für die wachsende Lobby des
Feuerkriegs.
Die Planer des heraufziehenden Luftkriegs gegen Japan waren hoch interessiert daran, welche
Wirkung neue Brandstoffe, darunter Napalm und sogar eine „Fledermausbombe“,
die hunderte lebender, mit winzigen
Brandsätzen präparierter Fledermäuse enthielt, beim Einsatz gegen japanische Häuser haben würden.
Berlin jedoch würde „sich schwieriger
gestalten als die meisten anderen deutschen
Städte“, urteilte der leitende Brandbombenexperte Horatio Bond vor dem nationalen
Ausschuss für Rüstungsforschung der USA.
„Die Bauqualität ist höher, und die einzelnen Blocks sind besser voneinander getrennt.“ Wie die Tests auf dem Dugway Proving Ground zeigten, war „kaum zu erwarten, dass die Flammen ungehindert von einem Gebäude auf das nächste übergreifen“.
Armageddon fand somit in zwei Akten
statt: Der erste war die „Luftschlacht um
Berlin“ der Royal Air Force (RAF) vom November 1943 bis März 1944, der zweite die
„Operation Donnerschlag“ im Februar 1945.
Luftmarschall Arthur Harris, der den Briten
versprochen hatte, Berlin „so lange zu bombardieren, bis das Herz von Nazi-Deutschland aufgehört hat zu schlagen“, schickte
die schweren Bomber der RAF am 18. November 1943 Richtung deutsche Hauptstadt.
Die Lancaster flogen in gefährlich dichten Formationen und konzentrierten ihre
Ladungen auf kleine, dicht besiedelte Gebiete. Den Brandbomben folgten Sprengkörper, deren erklärter Zweck es war, Feuerwehrleute und Rettungskräfte zu töten.
Gemäß der Doktrin der Royal Air Force,
Berlins rote Industriearbeitergürtel anzugreifen, um möglichst großen Unmut zu
säen, wurde der Wedding, Hochburg der
KPD, fast vollständig in Schutt und Asche
gelegt.
Obgleich es Harris nicht gelang, einen
Feuersturm nach dem Vorbild Hamburgs
Zerstörtes Dresden (1945): „Wir müssen hart mit Deutschland umgehen“
statter des Films „Citizen Kane“ Lorbeeren
verdient. Unterstützt von Handwerkern,
die ihr Metier in Deutschland gelernt hatten, schufen sie jene billige, aber schwere
Möblierung, die in den meisten Berliner
Arbeiterhaushalten zur Aussteuer gehörte.
Sogar deutsche Textilien wurden beschafft,
um etwaige typische Eigenschaften von
Bettdecken und Vorhängen bei Bränden
sorgsam zu studieren.
Insassen des Staatsgefängnisses von
Utah, die in großer Zahl als Arbeitskräfte
verpflichtet wurden, brauchten nur 44
Tage, um German Village und das japanische Pendant (zwölf Doppel-Apartments,
komplett eingerichtet mit Hinoki-Holz und
Tatami-Strohmatten) fertig zu stellen. Der
gesamte Komplex wurde anschließend mit
Brandbomben beworfen und zwischen Mai
und September 1943 mindestens dreimal
vollständig wieder aufgebaut.
Mendelsohns Verantwortung für das
Berliner Bauprojekt im Wilden Westen
steckt voll bitterer Ironie. Der Architekt
hatte ein starkes Interesse an Reformen im
Wohnungsbau und an einer neuen Wohnkultur. Dennoch beteiligte er sich nie an
den großen Ausschreibungen, die Ende der
zwanziger Jahre von den Sozialdemokraten organisiert wurden.
Besonders rätselhaft war Mendelsohns
Fehlen 1927 bei der Planung der Weißenhofsiedlung in Stuttgart, eines von Ludwig
Mies van der Rohe geleiteten Vorzeigeobjekts, das der amerikanische Architekt Philip Johnson als „wichtigste Gruppe von
Gebäuden in der Geschichte der modernen
Architektur“ bezeichnet hat. MendelsohnBiograf Bruno Zevi vermutet, der Baumeister sei aus antisemitischen Gründen
ausgeschlossen worden.
Wenn das stimmt, war Dugway seine Rache. Die Mietskasernen wurden nach240
gebaut, um „dem deutschen Industriearbeiter sein Dach über dem Kopf zu nehmen“, wie es die Engländer unverblümt
formulierten – auch wenn die USA kurz
nach ihrem Kriegseintritt immer wieder
versicherten, ihre Air Force werde niemals
absichtlich den „kleinen Mann auf der
Straße“ zum Ziel von Angriffen machen,
sie sei der „sauberen“ Zerstörung rein
militärischer oder militärisch-industrieller
Ziele verpflichtet.
Die 8. US-Luftflotte flog bei Tageslicht
„Präzisionsschläge“ – ganz im Gegensatz
150 km
Großer
Große
Gr
oßerr
Salzsee
Salt Lake City
German Village
Dugway Proving Ground
VERE
I N I G T E S TA T E N
A
UTAH
zu ihren britischen Verbündeten, die, verbittert über die Bombardierung Londons,
deutsche Städte nachts mit Bombenteppichen belegten und hofften, dass die Bewohner entmutigt und sich gegen das NaziRegime erheben würden.
Die neuartige technische Ausstattung der
B-17 („Fliegende Festungen“) und die hoch
entwickelten Norden-Abwurfzielgeräte ermöglichten den USA einen Bombenkrieg
„mit demokratischen Werten“. Damals wie
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Ausland
zu entfesseln, machten die Lancaster doch
immerhin fast ein Viertel der zentralen
Stadtteile dem Erdboden gleich. Bis zu 1,5
Millionen Berliner wurden obdachlos, etwa
10 000 verloren ihr Leben.
Als Hitler nach der Landung der Alliierten in der Normandie Vergeltung mit
V1- und später V2-Angriffen auf London
übte, war Churchills erste Reaktion die
Forderung nach weiteren Angriffen auf
Berlin – selbst den Einsatz von Giftgas ließ
er prüfen, und auch Biowaffen waren nicht
tabu: „Es ist absurd, in dieser Frage Moral
ins Spiel zu bringen.“
Er bat Roosevelt um die beschleunigte
Lieferung von 500 000 streng geheimen
„N-Bomben“. Sie enthielten tödliche
Milzbrand-Erreger, die Wissenschaftler in
Dugway gezüchtet hatten. Giftgas und
Milzbrand waren für das Weiße Haus zu
viel, aber Roosevelt wollte den Briten unbedingt entgegenkommen.
Im August 1944 erklärte er gegenüber
seinem Finanzminister Henry Morgenthau Jr. wutentbrannt: „Wir müssen hart
mit Deutschland umgehen, und ich meine die Deutschen, nicht nur die Nazis.
Entweder müssen wir das deutsche Volk
kastrieren oder ihm so eine Behandlung
verpassen, dass es nicht weiter Nachwuchs zeugen kann, der dann immer so
weitermachen will wie in der Vergangenheit.“
Im gleichen Monat unterbreitete Churchill dem amerikanischen Präsidenten den
Plan für die „Operation Donnerschlag“,
der auch vorsah, dass 220 000 Berliner in
einem einzigen Großangriff von 2000
Bombern verwundet oder getötet würden.
Roosevelt stimmte im Grundsatz zu, obwohl einige hohe Air-Force-Kommandeure Anstoß nahmen an den zu erwartenden Auswirkungen.
Der US-Kriegsheld Jimmy Doolittle,
Kommandeur der 8. Luftflotte, reagierte
ebenfalls erbittert, als ihn General Dwight
D. Eisenhower anwies, sich für den „wahllosen“ Abwurf von Bomben auf Berlin bereitzuhalten.
Am Ende wurde der Befehl für die Aktion Donnerschlag, die nun auch Dresden
und Leipzig als Zielorte umfasste, aus
Gründen erteilt, die ebenso viel mit der
Beendigung des Zweiten Weltkriegs zu
tun hatten wie mit dem späteren Kalten
Krieg. „Die völlige Verwüstung der Innenstadt einer so großen Metropole wie
Berlin“, hatte die RAF vorausschauend
in einer Besprechung verkündet, „würde
unsere russischen Verbündeten und die
neutralen Staaten von der Schlagkraft
der anglo-amerikanischen Luftstreitkräfte
überzeugen.“
Als der bleigraue Winterhimmel über
Berlin am 3. Februar 1945 endlich aufklarte, hielt Doolittle seine verwundbaren
B-24-Bomber hartnäckig zurück und
schickte stattdessen mehr als 900 B-17,
eskortiert von hunderten von Jägern. Es
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P. LANGROCK / ZENIT
SÜDD. VERLAG
A. RIVAL
Architekt Mendelsohn, Mendelsohn-Observatorium in Potsdam, -Wohnblock in Berlin-Wilmersdorf: Starkes Interesse an Reformen
war nicht der große K.-o.-Schlag, wie ihn
sich die Engländer vorgestellt hatten, trotzdem starben 3000 Berliner.
Dresden kam zehn Tage später der ursprünglichen apokalyptischen Vision der
„Operation Donnerschlag“ näher. Strategische Bedeutung hatte die mit schlesischen Flüchtlingen, Zwangsarbeitern und
alliierten Kriegsgefangenen überfüllte Kulturmetropole lediglich als temporärer Verkehrsknotenpunkt für die zusammenbrechende Ostfront. Amerikanische Bomber
konzentrierten sich auf die Bahnhöfe und
Gleisanlagen, die Briten nahmen alles andere aufs Korn.
Das Ergebnis war der größte Feuersturm
seit Hamburg. Die geschätzte Zahl der Toten betrug 35 000 bis 40 000. Im gleichen
Jahr fielen hunderttausende Japaner den
Feuersbrünsten zum Opfer, die B-29-Bomber in ihren Städten entfachten.
Diese Erinnerungen an die dunkelste
Seite des „guten Krieges“ hängen noch immer schwer über den giftigen Hinterlassenschaften rings um German Village –
auch heute noch, da der Potsdamer Platz
und die anderen offenen Wunden Berlins
sich in prunkvolle Zeugen des Wohlstands
im wiedervereinigten Deutschland verwandeln.
Mendelsohns einsame Mietskaserne erscheint als Mahnmal für eine allzu selbstgerechte Bestrafung der Horte des Bösen.
German Village, Berlins heimlicher Ort der
Trauer, liegt unbeachtet inmitten der Wüste
von Utah.
Davis, 53, ist Kulturhistoriker, war Professor für Urbanistik am Southern California
Institute of Architecture und ist Autor des
soeben auf deutsch erschienenen Buches
„Ökologie der Angst. Los Angeles und das
Leben mit der Katastrophe“. Eine erweiterte Fassung dieses Berichts erscheint in
der New Yorker Zeitschrift „Grand Street“.
Titel
Die Enkel kommen
Aufbruchstimmung bei deutschen Schriftstellern und ihren Verlegern: Der Nobelpreis für
Günter Grass weckt hohe Erwartungen – auch bei jenen Autoren, die dem
Weltberühmten nachfolgen. Und wirklich: Es gibt eine neue Generation, die lustvoll erzählt.
A
m Mittwoch dieser Woche wird die
letzte Frankfurter Buchmesse in
diesem Jahrhundert ihre Tore öffnen. Der Gewinner steht schon vorher fest.
Und zusammen mit ihm, Günter Grass,
der dort den zugesprochenen Nobelpreis
und seinen 72. Geburtstag feiern will, rückt
auch die deutsche Literatur neu ins Zentrum internationaler Aufmerksamkeit.
244
Der Augenblick ist günstig wie selten
zuvor: Nachdem nahezu 20 Jahre lang in
der erzählenden deutschen Literatur wenig
Bewegung, wenig Schwung war – mit einer
Hand voll Ausnahmen wie Patrick Süskind
und Bernhard Schlink –, zeigt sich bei einer Reihe jüngerer deutscher Autoren aus
Ost und West, männlichen wie weiblichen
Geschlechts, ein vitales Interesse am Erd e r
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zählen, an guten Geschichten und wacher
Weltwahrnehmung.
Sie heißen Karen Duve und Judith Hermann, Thomas Brussig und Ingo Schulze,
Jenny Erpenbeck und Elke Naters, Thomas Lehr und Michael Kleeberg, Julia
Franck und Silvia Szymanski – lauter neue
Namen. Doch während früher deutsche
Autoren, wenn sie nicht gerade Heinrich
Gruppenbild mit jungen Erzählern
SVEN SIMON
Thomas Brussig, Karen Duve, Thomas
Lehr, Elke Naters, Jenny Erpenbeck (o.),
Benjamin Lebert (u.) vor der Kulisse
der Hamburger Speicherstadt
Abstand zwischen der Veröffentlichung der ‚Blechtrommel‘ 1959
und dem Nobelpreis 1999, so
kann ja jetzt jeder Autor hoffen,
dass in ihm ein Nobelpreisträger
schlummert, der in 40 Jahren erweckt werden wird.“
Für die Verlagshäuser, die ganz
oder überwiegend von Belletristik leben, wäre ein größeres, vor
allem auch internationales Interesse an den heimischen Produkten ein Segen. Immer noch
stammen fast 40 Prozent der neu
erscheinenden Romane und Erzählungen aus dem Ausland:
weitaus mehr, als umgekehrt an
deutscher Literatur dorthin zu
verkaufen war und ist.
„Die Flut angelsächsischer
Bestseller wird auf die Dauer erstens monoton und zweitens unerschwinglich“ – mit dieser Meinung steht Simon nicht allein da.
Die zunehmende Konzentration
auf dem deutschen Buchmarkt
und der damit wachsende Konkurrenzdruck erlauben es den
ausländischen Agenten, immer
höhere Vorauszahlungen zu fordern.
Der Berliner Verleger konnte
sich schon vor dem Grass-Triumph freuen: Mit Thomas Brussig hat Simon einen jungen, in
der DDR aufgewachsenen, aber
erst nach der Wende in Erscheinung getretenen Autor unter Vertrag, der den bisher originellsten
literarischen Nachruf auf die
DDR geschrieben hat. Dieser Roman – „Helden wie wir“ (1995) –
hat sich mit 200 000 Exemplaren
hervorragend verkauft und ist gerade verfilmt worden, Kinostart:
Anfang November. Brussigs neues Buch „Am kürzeren Ende der
Sonnenallee“, von dem eine Filmvariante
schon in den deutschen Kinos läuft, findet
beim Publikum ebenfalls großen Anklang
(SPIEGEL 36/1999).
Brussig, 33, steht mit seiner Erfolgsstory
nicht allein da. Eine neue Lust am Erzählen
ist spürbar, ein Scharren um die besten
Plätze vernehmbar – noch gedämpft vom
kollegialen Gefühl des gemeinsamen Aufbruchs. Doch die Verlage locken, literarische Agenten mischen mit und pokern für
ihre jungen Autoren um Vorschüsse –
schon werden für Taschenbuchrechte deutscher Debütromane Summen von mehreren hunderttausend Mark geboten. Verfilmungen sind keine Ausnahme mehr: „Der
große Bagarozy“, nach einem Roman von
M. BRINKMANN
Heinrich Böll (1982)
Böll, Siegfried Lenz oder Christa Wolf
hießen, mit Auflagen von wenigen 1000 Exemplaren zufrieden waren, erreichen heute selbst Debütwerke Auflagen von 100 000
Stück – der Erstling des Jüngsten, „Crazy“
von Benjamin Lebert, 17, verkaufte sich
binnen kurzem 180 000-mal.
Die Enkel der Nachkriegsliteratur treten
an, befreit von mancher Beschwernis der
vom Zweiten Weltkrieg geprägten Vorgänger-Generation. Auch das Ausland, der
deutschen Literatur lange Zeit überdrüssig,
beginnt sich seit einiger Zeit wieder für
Romane und Novellen aus Deutschland zu
interessieren. „Die Situation hat sich plötzlich verändert“, stellt das Londoner Literaturblatt „The Times Literary Supplement“ in seiner neuesten Ausgabe fest: mit
einer „ungewöhnlich großen Anzahl perfekter Erstlingsromane“ jüngerer deutscher Autoren. Der Nobelpreis für Grass ist
da eine willkommene Ermutigung.
REUTERS
M. ZUCHT / DER SPIEGEL
Siegfried Lenz
Günter Grass
Die deutschen Verleger atmen hörbar
auf, und sie stimmen, wie Michael Krüger
vom Münchner Hanser-Verlag, froh in den
Jubel ein. „Ich glaube ganz sicher“, sagt
Krüger, 55, auch selbst Autor, „dass diese
Preisverleihung an Grass einen Schub für
die deutsche Literatur bringen wird. Schon
in den Jahren zuvor hat sie im Ausland
mehr Aufmerksamkeit gefunden als in
früheren Jahren.“
Auch Dietrich Simon, 60, Chef des
Ex-DDR-Verlags Volk & Welt in Berlin,
ist überzeugt, dass die Nobel-Würde des
Blechtrommlers allgemein die Aufmerksamkeit für deutsche Literatur erhöhen
und den jungen Schriftstellern Auftrieb geben wird: „Bedenkt man den zeitlichen
„Die Flut angelsächsischer Bestseller
wird auf die Dauer monoton“
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245
Titel
K
önnte jetzt bitte mal Schluss sein und natürlich das Zweistromland zwimit lustig, mit dem ganzen Pop-Irr- schen Euphrat und Tigris, genannt Mesosinn, mit hip und Hype und allem potamien. Das Allerwichtigste aber: Alle
coolen Gelalle? 41 Jahre nach Bill Haleys Geschichten dieses Buches handeln, ohne
Krawallkonzert in Berlin und 12 Jahre nach dass es dauernd ausgesprochen wird, vom
Andy Warhols Tod ist das so genannte Pop- Alleinsein, von der Einsamkeit – und die
Bewusstsein von Spaß und verwegener ist logisch immer eine ernste Sache.
Lebensart derart gründlich in Deutschland
Nun fühlt, wie alle Literatur-Schlauangekommen, dass heutzutage schon Ron meier wissen, seit jeher jedes SchreiberSommer, Ulrich Wickert und Inge Meysel Ich sich irgendwie allein, auch wecken
unbeanstandet unter der Bezeichnung exotische Orte wie Colombo, Malta oder
„Popstar“ firmieren – braucht es da nicht Bamberg in jedem Nicht-Eingeborenen
auf der Stelle eine Anti-Pop-, AntiSpaß- und Anti-Hipster-Guerrilla?
Schon passiert, hier kommen die
schreibenden Boten der neuen Ernsthaftigkeit: „Irony is over. Bye Bye.“
haben sie auf die Rückseite des BuchEinbandes geschrieben, ein Zitat des
– nun ja – Popsängers Jarvis Cocker;
„Ernste Geschichten am Ende des
Jahrtausends“ verspricht der Untertitel der Story-Sammlung „Mesopotamia“*; und Antworten auf allerletzte
Fragen verheißt schon der Klappentext: „Wie wird es weitergehen?“
etwa oder „Wird die Luft dünner und
das Atmen leichter?“
Siebzehn Leute haben etwas beigesteuert zu „Mesopotamia“, allesamt
„junge Autoren“, wie es einmal heißt,
obwohl ein paar schon ziemlich weit
jenseits der 35 sind – egal. Sechzehn
haben einfach eine Geschichte abgeliefert, darunter Christian Kracht, 32,
der Herausgeber des Buchs, Elke Naters, 36, und Benjamin von StuckradBarre, 24, um die Bekannteren zu nennen. Und Rainald Goetz hat eine
Schwarzweiß-Fotoserie geliefert, die
heißt „Samstag, 5. Juni 1999, Hotel Europa“ und zeigt Zeitungsausschnitte,
Blicke aus dem Fenster, eine Gedichtseite und feiernde Menschen.
Worum aber geht es in den Ge- Goetz-Fotos aus „Mesopotamia“
schichten von „Mesopotamia“? Viel
um Musik beispielsweise, dabei weniger Fremdheitsempfindungen. Aber auch die
um Elton John und die Disco-Klassiker Storys selbst erzählen vom Verlorensein:
von Chic (die beide auch vorkommen), davon, wie einer mit einem turtelnden
mehr aber um Bruckner und Purcell, E- Pärchen im Skiurlaub herumsitzt oder
Musik wie „ernste Musik“ eben. Wichtig wie eine auf einer Insel unter der Spaßin den Geschichten ist die Beschwörung tyrannei ihrer Gefährten verkümmert;
magischer Orte: Bamberg, Las Vegas, davon, wie ein Mädchen mit ihrem
Davos, Buchmessen-Frankfurt, Colombo Freund auf eine Party geht und der dann
mit einer anderen herummacht; oder
davon, wie ein alter Mann einem jun* Christian Kracht (Hrsg.): „Mesopotamia. Ernste Geschichten am Ende des Jahrtausends“. Deutsche Ver- gen Besucher aus seinen wilden Jahren
erzählt.
lags-Anstalt, Stuttgart; 336 Seiten, 39,80 Mark.
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H. SHERONAS
Im Sammelband „Mesopotamia“ schildern
junge Autoren den Ernst des Globetrotter- und Literatenlebens.
R. GOETZ
Ist ja gar nicht alles supergut
Tatsächlich (und
allen
Ernstes)
schreiben sich die
„Mesopotamia“Autoren also allesamt irgendetwas
Seriöses von der
Seele: Offenbar ist
die Welt gar nicht
immer so supergut
und superlustig,
wie sie der popKracht
hysterische GuteLaune-Mensch gern sieht. Wer mag, kann
in vielen Geschichten des Bandes Anzeichen dafür finden, dass es einen (von den
Schreib’s-auf-und-speicher’s-ab-Möglichkeiten des Internet begünstigten) neuen
Hang zur Bekenntnisliteratur gibt: eine
Erzähl-Naivität, die sich nicht viel um
gerade Sätze schert und noch weniger
um einen schulmäßig aufgespannten
Handlungsbogen.
Anders und ein bisschen deutlicher
gesagt: Einige der in „Mesopotamia“
versammelten Geschichten sind
Schrott. Schlecht ausgedacht und
sauschlecht aufgeschrieben oder aber,
was noch wahrscheinlicher ist, hilflos
erlebt und noch hilfloser hingetippt.
Wer blöde Sätze sammelt, der kann in
diesem Buch ein dutzend Mal Hurra
brüllen: „Manche Augenblicke erinnern mich an Zeiten, die ich nie erlebt
habe“ ergibt einen Rekordwert auf
der nach oben offenen Schwurbelpoesie-Skala; an anderer Stelle ist
„das erste, was auffällt, die Luft. Sie
ist so schwer und so süß, dass man
fürchtet, schon vom Atmen Durchfall
zu bekommen“. Womit eine der Fragen des Klappentexts beantwortet
wäre: Die Luft wird dicker.
Dem Unternehmen „Mesopotamia“ braucht man mit derlei DetailGemaule nicht zu kommen, schon
weil ein paar Ausfälle zum Wesen nahezu jeder Anthologie gehören. Erstaunlich an diesem Buch ist in erster
Linie das Selbstbewusstsein, mit dem
die Autoren erzählen, man kann ruhig
sagen: die Unverschämtheit, mit der
sie lostexten und darauf vertrauen,
dass es jede Menge Leser gibt, die sich für
ihre Geschichten interessieren.
Und offenbar haben sie Recht. Sammelbände mit „neuer deutscher Literatur“ gibt es seit Jahr und Tag; früher
hießen sie „Von nun an“ (1980), „Rawums.“ (1984), „Feindschaft“ (1989) oder
„Wenn der Kater kommt“ (1996), erschienen als Paperback und versendeten
sich fast ohne Resonanz. „Mesopotamia“
kommt in schönem Hardcover und bedient einen Markt, auf dem jüngere
M. JEHNICHEN / TRANSIT
Deutsches Literaturinstitut Leipzig: „Menschen, die sich gegenseitig nichts schenken“
C. GIESE
deutschsprachige Autoren plötzlich für
Aufruhr sorgen.
Kracht, Stuckrad-Barre und Naters haben mit „Faserland“ (1995), „Soloalbum“
(1998) und „Königinnen“ (1998) Bücher
geschrieben, die allesamt verblüffende
Auflagen schafften – und auf sehr direkte Art und Weise aus dem Leben gegenwärtiger junger Menschen erzählten.
Natürlich gab es Kritiker, die an der literarischen Qualität dieser Bücher herummäkelten (was zumal bei StuckradBarres Erstling auch schwer berechtigt
war); aber schon die Tatsache, dass es sich
derzeit über deutsche Gegenwartserzähler wieder zu streiten lohnt, kann als
mittlere Sensation durchgehen.
Na gut, es gab Rolf Dieter Brinkmanns
Texte aus der ersten Hälfte der Siebziger
und Rainald Goetz’ Roman „Irre“ (1983);
ansonsten aber hielten sich deutschsprachige Schriftsteller statt an die Abenteuer des Alltags lieber an Themen wie zeitlose Liebeshändel und Deutschlands Einheit oder aber an sauber ausgedachte
Fabeln, die (wie Helmut Kraussers „Melodien“ oder, viel bräsiger, Robert Schneiders „Schlafes Bruder“) in längst vergangenen Zeiten spielten.
Der Mut, von Party-Abstürzen und banalen Alltagskatastrophen zu erzählen,
hat vermutlich mit US-Vorbildern wie
Bret Easton Ellis zu tun, der ein brillanter Beschreiber von Äußerlichkeiten und
Milieus ist und ein miserabler Erzähler –
der Mann ist mittlerweile so weit kanonisiert, dass im „Zeit“-Feuilleton ungestraft behauptet werden darf, er habe mit
„American Psycho“ das „vielleicht beste Buch der zweiten Jahrhunderthälfte“
geschrieben: Sonst noch Wünsche?
Für die Verschwörungstheoretiker des
Literaturbetriebs ist der Erfolg der Erzähler Kracht und Stuckrad-Barre aber
viel einfacher zu erklären: Beide sind
im Hauptberuf Journalisten; der Wirbel
um ihre Bücher sei das Werk von befreundeten Medienmachern. Solchen
Komplott-Theorien gibt „Mesopotamia“
reichlich Nahrung: Mehr als die Hälfte
der Autoren kommen aus dem Journalistenmetier.
In Wahrheit ist vermutlich mal wieder
der Münchner Kolumnist und Schriftsteller Maxim Biller, 39, an allem schuld. Der
nämlich erzählt seit etwa zehn Jahren
jedem, ob der’s nun hören will oder
nicht, dass in unserer Zeit jeder junge
Mensch, der sich als Schriftsteller bezeichne, schon der falsche sei: Wer wirklich das Zeug zum Schriftsteller habe, der
würde heutzutage lieber Journalist. Sollte Biller Recht haben, dann stünde es
wirklich ernst um die deutsche Gegenwartsliteratur.
Wolfgang Höbel
Autorenpaar Stelling, Dannenberg
Ein deutscher Gemeinschaftsroman
Helmut Krausser, ist ein weiteres Beispiel.
Auch die Zeitungen und Magazine werden
aufmerksam, vor allem aber: Das Publikum ist neugierig – oder wie es die KinoEigenwerbung für die Dolby-Tonanlage
zu Beginn des Filmabends verheißt: „The
audience is listening.“
Und jenes „literarische Fräuleinwunder“ (SPIEGEL 12/1999), das mittlerweile
schon fast sprichwörtlich ist, setzt sich
munter fort. Neben Judith Hermann
(„Sommerhaus, später“) zählt immer noch
die Schweizerin Zoë Jenny („Das Blütenstaubzimmer“) zu
den literarischen Spitzenreitern – beide haben von ihren Büchern
mehr als 100 000 Stück
verkauft, für Jennys
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kleinen Debütroman sind mittlerweile
21 Auslandslizenzen vergeben worden.
Das neue Buch von Birgit Vanderbeke
(„Ich sehe was, was Du nicht siehst“) hat
sogar den Sprung auf die Bestsellerliste
geschafft. Karen Duves Debüt („Regenroman“) findet lebhaftes Interesse und
wurde bisher 30 000-mal verkauft. Das
neueste Buch der Autorin, das in diesem
Herbst erscheint, erfüllt die Erwartungen,
die das erste geweckt hat: der Erzählungsband „Keine Ahnung“ (siehe Gespräch
Seite 255).
Duve, Jahrgang 1961, gehört auf dem
Ball der Debütanten beinahe schon zu den
Älteren – ebenso wie Silvia Szymanski,
Jahrgang 1959, die im vergangenen Jahr
ihren flotten Romanerstling „Chemische
Reinigung“ veröffentlichte und nun ebenfalls einen Erzählungsband nachgelegt hat:
bizarre „erotische Geschichten“ unter dem
paradoxen Titel „Kein Sex mit Mike“.
Auch Elke Naters, 36, und Julia Franck, 29,
präsentieren in diesem Herbst mit „Lügen“ (siehe Seite 264) und „Liebediener“
– einem feinen, äußerst melancholischen
Roman aus dem heutigen Berlin – jeweils
schon zweite Bücher.
Neue beachtliche Debüts kommen hinzu: die „Geschichte vom alten Kind“, das
Buch der 1967 geborenen Jenny Erpenbeck
(siehe Seite 262), der Erzählungsband
„Seltsame Materie“ von Terézia Mora,
Jahrgang 1971, und der Roman „Gisela“ –
eine gemeinsame Arbeit der 1971 in Ulm
geborenen Anke Stelling und des aus Leipzig stammenden Robby Dannenberg, Jahrgang 1974.
„Gisela“, ein deutscher Gemeinschaftsroman: verblüffend die vom Ergebnis her
nahtlose literarische Zusammenarbeit zwi-
Eine verblüffende
Zusammenarbeit zwischen
den Geschlechtern
247
FOTOS: M. JANSEN (li.); R. WALTER (M.); I. OHLBAUM (re.)
Titel
Autorinnen Szymanski, Franck, Mora: Melancholisches aus dem heutigen Berlin
Und ich wart einfach auf das, was kommen wird, und wenn nichts kommt, dann
nehm ich halt das, was jetzt da ist, und das
ist, im Ganzen besehn, genug, dass man
leben kann. Und wenn man dazu noch regelmäßig einen geblasen kriegt, denkt man
sowieso nicht mehr viel nach über alles,
und das ist ziemlich gut.
„Ein Wunder, dass die deutsche Dichtung
nach dem Krieg nicht verstummt ist“
lass zu Anklage und Selbstanklage. Die
Das Autorenduo, so unbefangen wie Auseinandersetzung mit den Nazi-Eltern
frech der Alltagssprache zugewandt, stu- scheint kein Thema mehr zu sein.
dierte gemeinsam am Deutschen LiteDie Geschichten spielen in Deutschland,
raturinstitut Leipzig, das 1995 aus dem aber Deutschland spielt nicht mehr die
ehemaligen Johannes-R.-Becher-Institut Hauptrolle wie – nahezu unausweichlich –
hervorgegangen und der Universität ange- in der Nachkriegsliteratur. „Sprechen“,
gliedert ist. Auch das ist neu: Ohne falsche schrieb Jean-Paul Sartre 1947 in seinem
Scheu, frei von Geniekult erforschen jun- berühmten Essay „Was ist Literatur?“,
ge Autoren, im kritischen Austausch, die „heißt handeln: jedes Ding, das man behandwerkliche Seite des Schreibens – und nennt … hat seine Unschuld verloren.“
dabei könnte langfristig sogar so etwas wie
ein Gemeinschaftsgefühl
entstehen.
Der österreichische
Schriftsteller Josef Haslinger („Opernball“), der
seit 1996 am Institut als
Lehrmeister tätig ist,
staunt, wie ernsthaft seine Studenten sich gegenseitig kritisieren: „Das
sind Menschen, die jahrelang zusammen sind
und sich gegenseitig
nichts schenken.“ Man
könne zwar keine Autoren heranzüchten, aber
viele Anfängerfehler vermeiden helfen. Zuneh- Roman-Verfilmung „Der große Bagarozy“*: Publikum lauscht
248
Übermächtige Schuldgefühle waren es
vor allem, welche die deutschen Autoren
nach 1945 immer wieder hinderten, literarisch zu handeln, mit Worten vital nach
der Welt zu greifen und so einen neuen
Blick auf die Dinge zu eröffnen. Ein zuweilen reizvoll rätselhaftes, meist aber bloß
anstrengend in sich gekehrtes Schreiben
war die deutsche Regel, die immerhin einige gute Gedichte entstehen ließ, aber
kaum einen großen Roman.
Die Nachkriegsliteratur hatte sich von
der ersten Stunde an mit dem Schatten der
mend, so Haslinger, werde auch die Form
des Romans angestrebt. „Die ewige Frage: Lässt sich noch erzählen? spielt kaum
noch eine Rolle. Da gibt es eine neue Unbekümmertheit.“
Anders als die Großväter von der
„Gruppe 47“ gehen die jungen Erzähler
auch recht unbefangen mit der Vergangenheit um: Erstmals seit nahezu einem
halben Jahrhundert scheint die Erinnerung
an die deutschen Verbrechen nicht mehr
die Zungen zu lähmen – denn weder die
Autoren selbst noch ihre Väter haben An-
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CINETEXT
schen den Geschlechtern, zudem aus
Deutschland-West und -Ost, verblüffend
auch der freizügige und weitgehend überzeugende Umgang mit einer von sexueller
Protzerei durchsetzten, multiperspektivischen Rollenprosa. Auch in diesem Roman
versteckt sich unter der mit obszönen Details gesättigten Oberfläche die elegische
Story uneingelöster Liebe und vergeblicher Hoffnung auf Nähe – wie hier am
Schluss (aus männlicher Sicht):
Nazi-Verbrechen, den Folgen des verlorenen Krieges und der Frage der deutschen
Schuld auseinander zu setzen. Das war
nicht nur ein moralisches, es war auch ein
ästhetisches Problem: Wie ließ sich angemessen auf den Horror reagieren, der vergangen, aber nicht vergessen, ja noch nicht
einmal richtig erinnert worden war?
„Die Literatur war nicht vorbereitet auf
und hat keine Mittel entwickelt für solche
Vorgänge“, notierte bald nach dem Krieg
Bertolt Brecht mit Blick auf die deutschen
KZ: Die Vorgänge dort würden „keine Beschreibung in literarischer Form“ vertragen. Noch Jahrzehnte später sah der damalige Verleger und heutige Staatsminister
für Kultur Michael Naumann deutsche
Schriftsteller in einer Notlage: Keiner von
ihnen könne „bei hellem Verstand“ eine
Geschichte erzählen, als wäre nichts geschehen. Das „wahre Wunder“ sei, dass
die deutsche Dichtung nach dem Krieg
nicht gänzlich verstummt sei.
Forderungen und Empfehlungen in dieser Richtung gab es genug, besonders von
Theodor W. Adorno, der nicht nur das Gedichteschreiben nach Auschwitz für „barbarisch“ hielt, sondern 1954 kategorisch
erklärte: „Es lässt sich nicht mehr erzäh* Mit Corinna Harfouch, Til Schweiger.
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T. RICHTER
Titel
„Gruppe 47“-Autoren Lenz, Richter (1967): „Sprechen heißt Handeln“
T. RICHTER
ULLSTEIN BILDERDIENST
rimentelle Autoren wie Jürgen Becker, immerhin einer
der Preisträger der einflussreichen Gruppe 47. Der junge
Österreicher Peter Handke
schloss sich an: Die „Methode
der Geschichte“, schrieb er
1967, sei für ihn nur noch anwendbar „als reflektierte Verneinung ihrer selbst: eine Geschichte zur Verhöhnung der
Geschichte“.
„Gruppe 47“-Autoren Walser, Böll, Bachmann (1955): In sich gekehrt
Dieses selbstzerstörerische
Endzeit-Lied wurde 1968/69,
len.“ Er meinte, in der Folge des Krieges terne Kampf geals die junge Linke gegen
sei die „Identität der Erfahrung“ und gen das Erzählen
Konventionen jedweder Art
damit „die Haltung des Erzählers“ für im- erst richtig. In den
revoltierte, zum intellektuelsechziger Jahren
mer verloren.
len Gassenhauer: „Die GeErst vor diesem Hintergrund lässt sich wurde eine regel- „Gruppe 47“-Autor Grass (1961)
schichten machen keinen
die Leistung des Verfassers der „Blech- rechte Antihaltung Überdruss am eigenen Metier
Spaß mehr“ (Wolf Wondratrommel“, lässt sich die Wirkung dieses von Autoren und
vor 40 Jahren veröffentlichten Romans Literaturtheoretikern kultiviert, die sich tschek), „Literatur in jeder Form ist
unnütz“ (Peter O. Chotjewitz) – und als
würdigen: Gegen alle verordneten Skrupel als Statthalter der Moderne verstanden.
Die literarischen Gattungen wurden für Gebot der Stunde wurde ernsthaft ausgeschrieb Grass Ende der fünfziger Jahre
in seinem Pariser Kellerzimmer an – be- überholt, der Roman und schließlich – im geben: „Holen wir die geschriebenen
stärkt und beraten nicht zuletzt von sei- Verbund mit der Studentenrevolte – die Träume von den brechenden Bücherbornem Gesprächspartner Paul Celan, dem ganze „bürgerliche Literatur“ für tot er- den der Bibliotheken herunter und
melancholischen Holocaust-Überlebenden klärt. Einer der einflussreichsten Vorspre- drücken wir ihnen einen Stein in die
und rätselvollen Lyriker („Todesfuge“). cher damals: Hans Magnus Enzensberger. Hand“ (Peter Schneider).
Wer nicht gleich auf die Straße ging und
Wild entschlossen trommelten der damals Seine rhetorische Brillanz wirkte fatal, weil
dennoch auf der Höhe der Zeit sein woll31-jährige Autor und sein Held, der Winz- sie viele Talente entmutigte.
Im Rückblick erscheint das damalige Li- te, duckte sich, lieferte brav gattungslose
ling Oskar Matzerath, gegen das Erzählverbot. Der Bericht aus Zwergensicht er- teraturklima nahezu suizidär: Ausgerech- „Texte“ ab, experimentierte mit Zitatmöglichte das ungezwungene Fabulieren net den Schriftstellern galten plötzlich das montagen und dokumentarischem „Mateund dabei auch die Darstellung von Gräu- Erfinden von Geschichten, „Einbildungs- rial“ – und ödete damit nicht nur das Pueltaten und Schrecken, ohne die Form des kraft“ und „Phantasie“ als verdächtig und blikum an, sondern am Ende wahrscheinverächtlich. Die Voraussetzungen für den lich auch sich selbst.
Romans zu sprengen.
Doch kaum waren 1959 und im Jahr dar- Roman seien zusammen mit dem BürgerDer ausgestellte Überdruss am eigeauf die ambitionierten Werke von Grass, tum verschwunden, spannende Fabeln mit nen Metier, das Misstrauen den „eigenen
von Heinrich Böll („Billard um halb- auffälligen Helden seien vorindustriell, Kunststücken“ (Grass) gegenüber, alles im
zehn“), Uwe Johnson („Mutmassungen mithin bloß noch trivial, ja auf das Fabu- Namen eines dubiosen Fortschritts und geüber Jakob“) und Martin Walser („Halb- lieren überhaupt müsse verzichtet werden, richtet gegen das angeblich naive und
zeit“) erschienen, begann der literaturin- erklärten Mitte der sechziger Jahre expe- traditionelle Geschichten-Erzählen, verschreckte zahlreiche Nachwuchstalente – zumal ein Großteil der deutschen Literaturkritik sich die Argumente zu Eigen machte.
Da half es zunächst auch wenig, wenn einige der Autoren bald schon die voreilige
Enzensbergers rhetorische Brillanz wirkte
sich fatal auf junge Talente aus
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Preisgabe elementarer Bereiche des Literarischen wie Fabel und Fiktion bereuten
und zur Umkehr mahnten. Handke erkannte zu Beginn der siebziger Jahre,
„dass eine Fiktion nötig ist, eine reflektierte Fiktion, damit die Lesenden sich wirklich identifizieren können“.
Doch den Lesenden war die Lust auf
deutsche Literatur vorerst vergangen: Es
gab genug andere europäische Erzähler,
von jenen aus Nord- und Südamerika ganz
zu schweigen. Allenfalls konnte noch der
Märchenerzähler Michael Ende überzeugen, der sich als Jugendbuchautor frei von
Erzähltabus fühlen durfte – und mit den
beiden für Kinder geschriebenen Romanen „Momo“ (1973) und „Die unendliche
Geschichte“ (1979) überraschend ein Millionenpublikum erreichte.
Die zwei Bücher belegten demonstrativ
die ersten beiden Plätze der SPIEGEL-Jahresbestsellerliste 1981 und gaben die Richtung für die achtziger Jahre vor: Wenn die
Phantasie schon nicht im Straßenkampf an
die Macht zu bringen war, so sollte sie doch
in der Literatur wieder zu ihrem angestammten Recht kommen.
Mit dem Roman „Das Parfum“ (1985),
der ebenfalls märchenhafte Züge trägt, gelang dem 1949 geborenen Patrick Süskind
als erstem deutschen Autor der Nachkriegsgeneration ein großer internationaler Bucherfolg, der nicht nur an den der
„Blechtrommel“ heranreicht, sondern ihn
inzwischen glatt überrundet hat: Während
der Roman des Nobelpreisträgers eine
Weltauflage von rund vier Millionen aufweisen kann, verkaufte sich „Das Parfum“
bis heute – in weniger Jahren – weltweit
gut zehn Millionen Mal. Bezeichnend für
das Zeitklima: „Das Parfum“ erschien bei
Diogenes in Zürich, nachdem mehrere etablierte Literaturverlage in Deutschland das
Manuskript abgelehnt hatten.
Dass dieser Longseller ungleich erfolgreicher ist als Grass’ Roman, ist nur wenig
bekannt: Süskind tritt als Person nicht in
Erscheinung, öffentliche Auftritte oder gar
FOTOS: D. OTFINOWSKI (li.); R. WALZ (re.)
Titel
Autoren Schlink, Strauß: Literatur lebt von Gedankenschönheit
die Teilnahme an politischen Diskussionsveranstaltungen sind ihm ein Gräuel –
ebenso wie anderen erfolgreichen Schriftstellern deutscher Sprache, die in den achtziger Jahren und danach als Erzähler Furore gemacht haben, etwa Sten Nadolny
(„Die Entdeckung der Langsamkeit“),
Christoph Ransmayr („Die letzte Welt“)
oder Bernhard Schlink („Der Vorleser“).
Inbegriff solcher Zurückgezogenheit ist
der – wie Schlink – 1944 geborene Botho
Strauß, der spätestens seit „Paare, Passanten“ (1981) eine Form von Gedankenprosa ins Spiel bringt, die von der neuen Fabulierlust gleich weit entfernt ist wie vom
gestrengen Avantgardedenken und Sprachexperiment. Strauß ist heute einer der wenigen, die ihr Schreiben auch theoretisch
begleiten. Er sieht die „nachschöpferische
Unbefangenheit“ der jüngeren Romanproduktion mit Skepsis.
Für ihn bleibt die deutsche
Literatur von ihrer Herkunft her ideell: „Sie lebt
von Gedankenschönheit.“
Joachim Lottmann:
Tatsächlich wirken geDeutsche Einheit
rade die jungen Wilden
Haffmans Verlag, Zürich;
der Erzählkunst wie von
384 Seiten; 39 Mark
jeglichem Ballast befreit:
Die Mehrzahl von ihnen
Benjamin von
schert sich nicht um ErStuckrad-Barre:
zähl-Traditionen, scheint
Livealbum
kaum noch etwas von den
Verlag Kiepenheuer &
Skrupeln zu ahnen, die
Witsch, Köln; 256 Seiten;
die deutsche Literatur ein
16,90 Mark
halbes Jahrhundert lang
Die Bücher der neuen Erzähler
Robby Dannenberg,
Anke Stelling:
Gisela
Ammann Verlag,
Zürich; 160 Seiten;
24,80 Mark
Julia Franck:
Liebediener
DuMont Buchverlag, Köln;
240 Seiten; 36 Mark
Thomas Lehr:
Nabokovs Katze
Aufbau-Verlag, Berlin;
512 Seiten; 49 Mark
252
Silvia Szymanski:
Kein Sex mit Mike
Verlag Hoffmann und Campe,
Hamburg; 192 Seiten; 24 Mark
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begleitet haben. Die demonstrative Unbekümmertheit überdeckt auch manche
Unsicherheit und Unkenntnis.
Die neue Autorengeneration hat zwar
keinerlei Ambitionen, als Gewissen der
Nation in Erscheinung zu treten oder gar
in die politische Arena zu steigen – öffentlichkeitsscheu allerdings sind nur die
wenigsten. Es gehört heute zum Geschäft,
dass man sich zu verkaufen weiß und dies
auch mehr oder weniger ungeniert tut.
Das treibt zum Teil groteske Blüten.
Worüber schreibt ein literarischer Jungstar,
der sein erstes Buch „Soloalbum“ nennt,
danach? Über seine Lesetour: einen Bericht mit dem Titel „Livealbum“. Benjamin
von Stuckrad-Barre, 24, beschreibt seine
Agentin, sein Publikum und den Hotelalltag („Wer Klopapier wie Servietten faltet,
um dessen Erstbenutzung zu belegen, kann
auch gerne Faxe in Briefumschläge falten,
voll ok“) – und verkennt dabei, dass 250
Seiten darüber den Leser schneller ermüden als den Autor die ganze Reiserei.
Natürlich kann das seinen Witz haben,
wie bei Joachim Lottmann, 45, der mit seinem zweiten Roman „Deutsche Einheit“
einen spöttischen Reigen aus der Berliner
Literatenwelt der neunziger Jahre („Ganz
Berlin war voller Literaturhäuser“)
präsentiert. Vom Literarischen Colloquium am Wannsee („Die deutsche Subventionsliteratur hatte in dieser Villa ihr geistiges Zentrum“) bis zu Marcel ReichRanicki („der einzige echte Kenner der
Literatur“) wird alles, unverschlüsselt,
Deutsche Verlage lehnten
„Das Parfum“ ab
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DELPHI
tigen Studenten deflorieren
ließ. Trotz der oft unkomplizierten Eroberungen anderer
Mädchen und Frauen lässt den
Helden der Gedanke an Camille nie los. Die beiden schreiben sich Briefe, es gibt auch gelegentlich Treffen – ohne dass er
seinem Ziel näher kommt.
Selten ist in der deutschen
Literatur so drastisch und zugleich dezent und liebevoll
über Sexualität geschrieben
worden wie in diesem Buch.
Anders als der Regisseur Georg, der mit einem seiner Filme
namens „Nabokovs Katze“, einem „rein autobiografischen
Fall“, kläglich scheitert, beweist Lehr mit seinem gleichnamigen Roman, dass es
möglich ist, das Private zu
erzählen, dass die Biografie immer noch fesseln kann.
Über Jahre hin erstreckt sich
diese „Komödie des verweigerten Coitus“, eine wunderbare Liebesgeschichte, denn: „Mit keiner Frau war es
so aufregend, nicht miteinander zu schlafen.“ Wie real Camille für Georg wirklich
ist, ob sie nicht nur ein Hirngespinst, ein
Sehnsuchtsbild darstellt und wie schließlich das Märchen der Einlösung aller Hoff-
Brussig-Verfilmung „Sonnenallee“*: Origineller Nachruf auf die DDR
gediegenen Bildungs- und Künstlerroman
geschrieben, zugleich eine Education érotique – mit einer Ernsthaftigkeit und Könnerschaft, die das Buch über die meisten
Literaturtitel dieses Herbstes hinaushebt.
Lehr begleitet seinen Protagonisten
Georg von Anfang der siebziger bis in die
A. SMAILOVIC (li.); Q. LEPPERT; W. BELLWINKEL (re.)
zum Thema. Am Ende ist das kaum mehr
als eine auf Buchlänge gezogene, mitunter
sogar gelungene Reportage über den Betrieb: Literatur, die wieder einmal keine
sein will (auch wenn „Roman“ auf dem
Titelblatt steht) – und die im eigenen Saft
schmort.
Autoren Lottmann, Stuckrad-Barre, Lehr: „Komödie des verweigerten Coitus“
So erfrischend das bisweilen daherkommt, es gaukelt einen selbstreflexiven
Gestus nur vor. Der „Merkur“-Herausgeber Karl Heinz Bohrer, einer der schärfsten
Kritiker der von vielen begrüßten „Rückkehr des Epischen“ (Martin Hielscher),
bemängelt das Fehlen einer Literatur, die
die eigenen erzählerischen Mittel und Methoden im Auge behält. Er hält es geradezu für das Wesen des modernen Erzählens,
dass es „die erzählte Gegenständlichkeit
der weit fortgeschrittenen Reflexion aussetzte“. Bohrer urteilte unlängst über die
neuen deutschen Dichter: „Die literarischen Standards sind auf dem tiefsten Niveau der Nachkriegszeit angelangt.“
Vielleicht könnte den grimmigen Kritiker der neue Roman von Thomas Lehr versöhnlicher stimmen. Lehr, 41, hat mit
„Nabokovs Katze“ einen ganz altmodisch-
Mitte der neunziger Jahre: Schülerzeit in
der Kleinstadt S. (deutlich Speyer, dem Geburtsort des Autors, nachempfunden), Lektüre von Sartre, Freud und Henry Miller,
abgebrochenes Studium der Mathematik
in Berlin, Beginn einer Karriere als Filmregisseur, Schaffens- und Ehekrise, Flucht
nach Mexiko und längerer Aufenthalt in
New York. Stationen eines Deutschen aus
der Provinz, der mit Politik nicht viel am
Hut hat, der um seine Kunst kreist – und
von sexueller Besessenheit getrieben wird.
Die lebensbegleitende Sehnsucht freilich
gilt der einen, der ersten Schülerliebe, Camille, die Georg nicht rangelassen hat („Du
willst mit mir schlafen, obwohl ich erst vierzehn bin“) – sich dann aber von einem bär-
Selten wurde Sexualität so drastisch
und zugleich liebevoll dargestellt
* Mit Teresa Weißbach, Alexander Scheer.
254
nungen in Heidelberg einzuschätzen ist –
das offen zu halten und in einem kunstvollen Erzählrahmen zur Sprache zu bringen zeigt den versierten, mit den Mitteln
der Perspektivbrechung jonglierenden Erzähler.
Und wer weiß, vielleicht sitzt irgendwo
in Süddeutschland ein unbekannter Autor
und schreibt derzeit an einer umfangreichen Generationensaga, die 2001 erscheinen wird? Vor genau 100 Jahren schrieb
ein junger Dichter namens Thomas Mann
in München an seinem ersten Roman, den
er im Juli 1900 abschloss und der im Oktober 1901 herauskam – 28 Jahre später
erhielt er für die „Buddenbrooks“ den
Nobelpreis.
Volker Hage
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AUTOREN
„Ich stehe gern im Regen“
SPIEGEL: Frau Duve, Ihr „Regenroman“ erschien im Eichborn Verlag, mit dem neuen
Erzählband „Keine Ahnung“ sind Sie ins
Allerheiligste der Konsumkritik, in den
Suhrkamp Verlag, eingedrungen – für derartig unterhaltsame Prosa ein erstaunlicher
Triumph. Zu welchem Verlag gehören Sie
denn nun?
Duve: Zu Eichborn, wo ja auch mein „Lexikon der berühmten Tiere“ verlegt wurde.
SPIEGEL: Wie kam es zu dem ungewöhnlichen Doppelschlag?
Duve: Der „Regenroman“ und die erste
Version der Erzählungen waren fast gleichzeitig fertig. Ich hatte schon zehn Jahre
vorher geschrieben und nichts davon verkaufen können. Während meines Stipendiatenaufenthalts im Stuttgarter Schloss
Solitude kamen plötzlich die Angebote –
da habe ich beidhändig zugegriffen.
SPIEGEL: Stimmt es, dass das Eichborn-Lektorat in den „Regenroman“ stark eingegriffen hat?
Duve: Ja, eine Figur musste ganz abtreten:
der Waldschrat, der jetzt nur noch kurz im
Sumpfloch neben der fetten Frau als tierhaftes Mondgesicht auftaucht. Er sollte ein
„Sekundär-Zwerg“ sein – so haben DDRWissenschaftler eine bestimmte Art von
Kleinwüchsigen bezeichnet. Diese Figur
hatte ich ausgeführt als den ursprünglichen
Besitzer des Hauses im Ost-Moor, der dann
von seinen geldgierigen Verwandten nach
der Wende entmündigt wird, weil sie das
Haus verkaufen wollen, und der, statt in
dem ihm zugedachten Pflegeheim, in einer
Das Gespräch führten die Redakteure Volker Hage und
Mathias Schreiber.
M. WITT
Die Erzählerin Karen Duve,
38, hatte mit ihrem Debütwerk „Regenroman“ – ein
junges Paar kauft sich ein
morsches Haus in ostdeutscher Moorlandschaft, verliert sich im Dauerregen, in
erotischen Wirrungen und
Gewalt – einen sensationellen Erfolg. Soeben erschien
ihr neuer Erzählband „Keine
Ahnung“. Sie lebt in Schöppingen und in Hamburg.
Autorin Duve: „Sechs Wochen schreiend und weinend im Bett gelegen“
Schilfhütte haust. In Ina Seidels „Regenballade“ gibt es eine solche märchenhafte
Figur, den „Schnatermann“ – ich wollte
sie zitieren. Wie überhaupt der ganze
Roman anfangs viel märchenhafter angelegt war.
SPIEGEL: Dass Sie so deutlich ändern mussten, fanden Sie nicht demütigend?
Duve: Doch, das fand ich furchtbar, ich hatte schließlich fünf Jahre an dem Roman
gearbeitet.
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SPIEGEL: Wie viele Manuskriptseiten muss-
ten Sie insgesamt opfern?
Duve: Der Verlag verlangte fünfzig, aber
wo ich schon mal dabei war, habe ich gleich
hundert gestrichen.
SPIEGEL: Liegen die jetzt in einer Schublade – für eine künftige textkritische Edition
der Erstfassung, die man eines Tages viel
besser finden wird als die heutige?
Duve: Nein, die sind zerschreddert – wie
meine ersten beiden Romanversuche. Heu255
SPIEGEL: Ihr, sagen wir einmal: sehr realistisches Männer- und Menschenbild …
Duve: … ich komme selbst ja auch nicht
so gut weg, wenn ich über mich schreibe …
SPIEGEL: … wird gewiss von konkreten Erfahrungen grundiert. Welche waren das vor
allem?
Duve: Ich bin 13 Jahre lang in Hamburg
Taxi gefahren, ich habe auch einmal im
Finanzamt gearbeitet.
SPIEGEL: Glaubt man Martin Scorseses Film
„Taxi Driver“, so ist Taxifahren ein extrem
harter Beruf. Was war Ihr schlimmstes
Erlebnis?
A. KIRCHHOF / ACTION PRESS
te bin ich mit den Kürzungen sehr einverstanden. Dem Sekundär-Waldschrat trauere ich allerdings ein bisschen nach.
SPIEGEL: Die zuweilen lexikalische Genauigkeit, die hart am Leben entlang erzählte
Episode ist Ihre Stärke; zugleich aber neigen Sie, etwa in der Erzählung „Im tiefen
Schnee ein stilles Heim“ – der Fiktion einer nicht enden wollenden Schnee-Katastrophe –, zur phantastischen Parabel.
Duve: Zwischen diese beiden Pole bin ich
tatsächlich gespannt.
SPIEGEL: Aber welcher Richtung neigen Sie
mehr zu?
Duve: Dem Phantastischen, glaube ich.
Duve-Thema St. Pauli: „Sexualität, besonders ihr dämonischer Teil, ist zentral“
SPIEGEL: Im „Regenroman“ wie in „Keine
Duve: Schwer zu sagen. Ich bin nachts ge-
Ahnung“ gibt es recht drastische erotische
Passagen. Andererseits freut sich die von
der Außenwelt abgeschnittene Ich-Erzählerin der Schnee-Geschichte: „Johann
Köpfli kann nicht zu mir herein … alles ist
gut.“ Der Leser gewinnt den Eindruck, das
Beste am Sexualakt ist doch, dass er irgendwann überstanden ist.
Duve: Schade. Vielleicht haben Sie mich bei
irgendetwas ertappt. Aber im Ernst: Sexualität, besonders ihr dämonischer Teil, wird in
meinen Büchern immer ein zentraler Punkt
bleiben. Ich bin ein bisschen auf das Thema
fixiert. Wie viele andere Menschen auch.
SPIEGEL: Sind die zum Teil frustrierenden
Erfahrungen der Ich-Erzählerin mit Männern auch Ihre eigenen?
Duve: Die Erzählungen sind schon autobiografischer als der „Regenroman“. Irgendwo muss man es ja hernehmen. Aber
ich bedien mich nur so weit in meinem Leben, wie es für eine Geschichte taugt. Außerdem verfälsche und dramatisiere ich
meine Erfahrungen skrupellos.
SPIEGEL: Was ist denn am „Regenroman“
autobiografisch? Haben Sie selbst im Osten
ein Sumpf-Haus renoviert?
Duve: Nein. Aber die Rückenschmerzen des
Schriftstellers Leon – das waren meine eigenen. Mit so etwas habe ich einmal sechs
Wochen schreiend und weinend im Bett
gelegen. Danach habe ich mir ein Pferd gekauft – das Reiten hat mir geholfen.
fahren, da befördert man fürchterliche,
stinkende Leute. Einmal hat mir ein Mann
– ich lief hinter ihm her, weil er die Fahrt
nicht bezahlen wollte – eine Bierflasche
ins Gesicht geworfen. Taxifahren ist ein
Beruf, in dem sich die Liebe zum Mitmenschen ziemlich verschleißt.
SPIEGEL: Als erfolgreiche Autorin sind
Sie jetzt häufig auf Lesetour. Fliegt da
auch mal eine Bierflasche in Ihre Richtung?
Duve: Nein, das Schlimmste, was mir da
passieren kann, ist, dass sich jemand mit
mir über seine Schreiberfahrungen unterhalten will. Aber im Großen und Ganzen
ist das Lesungspublikum einfach nett, nett,
nett! Die hauen einem nicht mit der Faust
aufs Bein, die kotzen einem nicht ins Auto
und die beschweren sich nicht, dass man
den falschen Weg gefahren ist. Die sind
nett!
SPIEGEL: Haben Sie als Taxifahrerin schon
geschrieben?
Duve: Ich habe es versucht, es war unheimlich schwer. Einige Jahre konnte
ich überhaupt nichts schreiben. Ich habe
allerhöchstens eine Manuskriptseite in
zwei Wochen geschafft. Und für alles, was
ich zu Papier brachte, habe ich mich geschämt.
SPIEGEL: Der große Erfolg Ihres „Regenromans“ wurde immer wieder im Zusammenhang mit dem so genannten Fräulein-
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wunder der deutschsprachigen Gegen- Duve: Ich glaube das nicht. Walter Kemwartsliteratur diskutiert. Die Zeitschrift powski erinnert sich doch intensiv und er„Emma“ hat daran Anstoß genommen und zählt dennoch eingängig. Wichtiger war für
in einer Typologie der schreibenden Er- mich, dass ich mich von dem Schulmeisterfolgsfrauen Sie unter „Domina“ abgehakt. Diktum lösen konnte, alles sei schon geDuve: Darüber war ich stinksauer. Ich habe schrieben worden.
sogar Alice Schwarzer einen Beschwerde- SPIEGEL: Gibt es noch andere Vorbilder als
brief geschrieben. Sie hat genau das getan, Kempowski?
was sie anprangern wollte – mich mit ei- Duve: Kempowski ist kein Vorbild, ich benem idiotischen Begriff etikettiert und se- wundere ihn bloß. Außerdem bewundere
xualisiert. Einfach dumm.
ich Diedrich Diederichsen und Alice
Schwarzer für die Fähigkeit, komplizierte
SPIEGEL: Hat Frau Schwarzer reagiert?
Duve: Bisher nicht. Aber letzten Endes Zusammenhänge in unübertroffen schöperlt das alles an mir ab wie Wasser an der ner und einleuchtender Klarheit darzustellen.
Ente.
SPIEGEL: Verstehen Sie
sich als feministische
Autorin?
Duve: Wie jede vernünftige Frau verstehe
ich mich als Feministin.
Ich weiß, es gibt da
auch peinliche Figuren wie in jeder politischen Gruppierung.
Was ich dazu denke,
lässt sich gelegentlich
auch in dem, was ich
schreibe, nachlesen. Literarische Maßstäbe
haben aber immer Vorrang.
SPIEGEL: Wie erklären
Sie sich die gegenwärtige Blüte deutschspra- Filmszene aus „Taxi Driver“: „Fürchterliche, stinkende Leute“
chiger Erzählfreude, an
der nun einmal etliche Frauen beteiligt SPIEGEL: Entwickeln sich manche Gesind?
schichten bei Ihnen ganz anders, als sie geDuve: Das ist wohl der Pendelschlag. Nach- plant waren?
dem lange genug verkündet wurde, direk- Duve: Sehr oft. Der „Regenroman“ sollte
tes, geradliniges, munteres Erzählen eige- keineswegs so untergangsdüster, er sollte
ner Erlebnisse sei naiv oder gar „unmög- viel leichter und charmanter enden.
lich“ – noch in den achtziger Jahren galt SPIEGEL: Stehen Sie gern im Regen?
unterhaltsame Prosa nicht als Literatur –, Duve: Ja. Ich mag extremes Wetter, Sturm,
kommt jetzt eben die Gegenbewegung, und Regen, Schneegestöber – da renne ich soman zieht mit dem gleichen Eifer und der fort nach draußen.
gleichen Ungerechtigkeit über experimen- SPIEGEL: Was ist schwierig am Erfolg?
telle Schriftsteller her. Ich habe irgendwann Duve: Man wird dauernd fotografiert und
beschlossen, mich nicht mehr in Texträtsel muss damit fertig werden: So siehst du also
zu hüllen, die zwar einigen Kritikern ge- inzwischen aus! In einem Fernsehfeature
fielen, mir selbst aber schon bald keinen habe ich mich neulich auf meinem Pferd
Spaß mehr machten. Stattdessen erinner- gesehen, und mir wurde zum ersten Mal
te ich mich an Geschichten, wie ich sie klar, wie unglaublich schlecht ich reite.
schon mit zwölf Jahren schreiben wollte.
SPIEGEL: Haben Sie Angst vor dem nächsSPIEGEL: Hat den jüngeren Autoren auch ten Buch? Glauben Sie, Ihnen fällt wieder
das Verblassen der Erinnerung an die etwas Gutes ein?
Schrecken der deutschen Vergangenheit Duve: Ideen sind nicht das Problem. Ich hadie Zunge gelöst?
be noch sechs Bücher im Kopf. Die Ausführung ist das Problem. Ich arbeite sehr
langsam.
Karin Duve:
SPIEGEL: Was man Ihrer schwungvollen
Keine Ahnung
Prosa nicht anmerkt. Ist unter den Plänen
Suhrkamp Taschenbuch
auch eine richtig nette Liebesgeschichte,
Verlag,
mit einem Mann, der fast so sympathisch
Frankfurt am Main;
wirkt wie ein Pferd?
168 Seiten;
Duve: Ich verspreche es.
13,80 Mark.
SPIEGEL: Frau Duve, wir danken Ihnen für
dieses Gespräch.
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
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Werbeseite
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BELLETRISTIK
Vom Herztod der Helden
Die SPIEGEL-Redaktion empfiehlt neue Romane und Erzählungen: Intime Berichte vom
fernen Kontinent der Leidenschaften, von Liebeswirren, Hassausbrüchen und psychischen
Kampfsportübungen. Auffällig: Im Krieg der Gefühle führen immer mehr Frauen das Wort.
Autorin Erpenbeck
Die
verlorene
Tochter
Jungsein als Maske
Jenny Erpenbeck debütiert
mit einer Parabel über die
ewige Kindheit
Jenny Erpenbeck:
Geschichte vom
alten Kind
Eichborn Verlag,
Berlin/Frankfurt am
Main; 106 Seiten;
29,80 Mark.
262
C. JUNGWIRTH / BIG SHOT
Ein Mädchen, „ganz und gar Waise“,
steht nachts allein auf der Straße. Der
Eimer, den es in der Hand hält, ist seine
einzige Habe – er ist leer wie jene Stelle
im Kopf, „wo bei den anderen eine Meinung sitzt“.
Die Polizei fragt aus dem dicken, mondgesichtigen Wesen mit dem klobigen,
schrankförmigen Körper nur das Alter
heraus: Es ist vierzehn, aber an Name
und Herkunft kann es sich nicht erinnern. So kommt es in ein Kinderheim mit
Internatsschule, Sporthalle, Werkstätten,
eine kleine Stadt am Waldrand, umzäunt
und bewacht wie ein Lager.
So beginnt die „Geschichte vom alten
Kind“, der Romanerstling der Berliner
Opernregisseurin Jenny Erpenbeck, 32.
Die Debütantin, die heute bei Graz lebt,
stammt aus einer Schriftstellerfamilie –
ihre Großeltern, Hedda Zinner und Fritz
Erpenbeck, waren in der DDR der fünfziger, sechziger Jahre bekannte Autoren.
So wirkt die Fabel vom wortkargen Findling ohne Erinnerung wie der Versuch
einer jungen Autorin, sich mit einer Art
Nullpunkt-Figur zu identifizieren, um von
Grund auf, der wortmächtigen Familientradition zum Trotz, eine eigene SprachWelt bauen zu können. Die Erzählerin
d e r
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selbst möchte als namenloses „Mädchen“
wie „vom Mond gefallen“ sein. Und die
Dinge neu erfinden.
Vielleicht rührt daher die seltsame Euphorie, mit der die Heldin die eigenen
Defizite bejaht: den ungeschlachten Körper mit Rotznase, das Versagen im Englischunterricht, die tölpelhaften Bewegungen beim Ballspiel, die linkischen
Seitenblicke auf alles Erotische, das ewige Kränkeln und Nicht-Mitkommen.
Das „Mädchen“ ist unter allen Heimkindern „das schwächste“, und diese
Schwäche, nicht „verwendbar“ zu sein,
macht es in Wahrheit stark. Statt die literaturüblichen Zöglingsverwirrungen auf
dem Schulhof und im Schlafraum bloß zu
erleiden, genießt es geradezu die „Gnade, aufgegeben worden zu sein“.
Warum bloß? Der unterste Platz in der
Hierarchie der Anstalt ist unangefochten –
gesichert durch „Unfähigkeit“, nicht, wie
die höheren Ränge, durch irgendeine
„Tauglichkeit“, die jederzeit in Frage gestellt werden kann. Das Mädchen „beneidet keinen von denen, die das Gelände“
am Wochenende verlassen dürfen, „denn
es weiß ja, wie es draußen zugeht: Man
den, originellen Szenen und mit einer
erstaunlichen Sprachdisziplin. Für die
ein wenig zu konstruiert wirkende Rahmenhandlung wird der Leser reichlich
entschädigt durch die lebendige und
glaubwürdige Schilderung der alterstypischen Kämpfe und Krämpfe unter Internatskindern. Jenny Erpenbeck hat sich
offenbar gut auf ihre Story vorbereitet:
Im Alter von 27 Jahren spielte sie selbst
ein „altes Kind“, indem sie in einer
Gymnasialklasse vier Wochen lang erfolgreich die 17 Jahre junge Mitschülerin
mimte.
M AT H IAS S CH RE I BE R
Sonderteil
Frankfurter
Buchmesse
1999
Neue Belletristik: Kindheitsgeschichten, Liebesgeständnisse,
Kämpfe um Kunstwerke: Autorinnen geben in Romanen und
Erzählungen den Ton an
Seite 262
Neue Sachbücher: Bildungskanon trotz Beliebigkeit? Wie
viel Gedächtnis braucht Kultur?
Essays, Biografien, Bildbände
zur Jahrtausendwende
Seite 284
Messe-Navigator: Was läuft wo,
wer liest wann? Lageplan und
ausgewählte Veranstaltungen
Seite 292
Friedenspreis: Gespräch mit
dem amerikanischen Historiker
Fritz Stern über seine Kindheit
in Breslau, deutsche Diktaturen
und die Wiedervereinigung
Seite 296
Thema Ungarn: Zsuzsanna Gahse über die Erzähler ihrer Heimat, den schwachen Part der
schreibenden Frauen und Pferde
als literarisches Thema
Seite 304
ASTROFOTO
Supernova: Vergangen wäre nicht vergangen
steht mit einem leeren Eimer auf einer
Geschäftsstraße und wartet“.
Noch sicherer als der Aufenthalt im Kinderheim ist das Ausharren im Krankenbett. Wo das Mädchen denn auch landet
– in einem dramatischen Finale.
Die Parabel vom Kind, das sich nicht nur
der Welt und ihren Erfolgsmaßstäben entziehen will, sondern auch der Zeit – dem
Älterwerden – , endet mit einer Überraschung, von der nur so viel verraten sei:
Was trauriges, noch vom letzten Weltkriegsbrand grundiertes Schicksal zu sein
schien, erweist sich als grandiose „Maskerade“ einer verlorenen Tochter.
Gewiss liegt es bei dieser Autorin nahe,
das Kinderheim als Bild für die geschlossene Gesellschaft der DDR zu deuten.
Und die trotzige Weltflucht des Mädchens als typisch ostdeutsches Verhaltensmuster nach der Wende.
Wichtiger ist: Das Buch greift auf ein
klassisches Verweigerungsmotiv zurück –
von Kaspar Hauser, dem geheimnisvollen
Naturkind, bis zu Peter Pan, der aus dem
märchenhaften „Niemalsland“ stammt
und nicht erwachsen werden will.
Doch diesen Rückgriff entfaltet Erpenbeck in bildlich prägnanten, anrührend e r
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Große Sonne
Der Wiener Daniel Kehlmann bietet die
literarische Erschütterung physikalischer
Gewissheiten
Die Helden der neueren deutschen Literatur sind gerne seltsam. Patrick Süskinds
Monsieur Grenouille („Das Parfum“) erschnüffelt den Sinn der Welt – ein olfaktorisches Faktotum. Der skurrile Nordpol-Erkunder John Franklin macht bei
Sten Nadolny „Die Entdeckung der
Langsamkeit“. Und der anachronistische
Lesewurm-Knabe Bastian rettet in Michael Endes „Unendlicher Geschichte“
das Abendland vor dem vernichtenden
Nichts massenmedialer Verblödung.
Alle diese sonderbaren Figuren stehen
für die poetische Erkenntnis, dass die
Welt mehr ist, als sich die kulturgängige
Weisheit vom Vorherrschen der Gut-,
Schön- und Starkmenschen träumen
lässt.
Auch der Physiker David Mahler, Held
des zweiten Romans, den der in Wien
lebende Jungschriftsteller Daniel Kehlmann, 24, in diesem Bücherherbst vor263
Bestgehasste
Freundin
M. KLIMEK
Elke Naters durchschaut das Beziehungsspiel und ist ihm trotzdem ausgeliefert
Autor Kehlmann: Die Welt ist aus den Fugen
legt, ist aus dem Geschlecht der Unzeitgemäßen – und dies im wörtlichen Sinne.
Denn diesem David, einer, wie die Psychiater leichtfertig sagen würden, „Border-Line“-Persönlichkeit an der Grenze
zum Psychotiker, widerfährt eine Entdeckung, die Raum und Zeit durcheinanderrüttelt: Der Zweite Hauptsatz der
Thermodynamik stimmt nicht.
Das hätte gewaltige Konsequenzen: Denn
wenn Daniel Recht hätte, würde sich das
All nicht ständig weiter ausdehnen und
würden alle Sonnen letztlich verglühen.
Die Materie hätte ein anderes Ende, als
unter dem Diktat der fortfließenden Zeit
dermaleinst in differenzloser Verteilung
im dunklen Raum zu wabern.
„Mahlers Zeit“, so der Romantitel, dieser
Einspruch gegen die Thermodynamik,
kommt dem Außerkraftsetzen der Vergänglichkeit gleich: Vergangen wäre nicht
vergangen, morgen war gestern, was gewesen ist, kommt erst noch, die Zeit ist
nicht mehr linear, sondern zyklisch.
Geschickt und mit einer kräftigen, unprätentiösen Sprache lässt der Autor
seinen Helden nicht nur diese Entdeckung machen. Der Gang der Erzählung, die Beschreibungen der Orte revolutionieren sich gleichsam physikalisch:
Für einen Moment erstarrt ein Tanklaster bewegungslos, ehe er zerschellt und
eine Katastrophe auslöst. Im Gewittersturm drehen sich Straßen um sich
selbst. Schon erzählte Beschreibungen
drängen plötzlich wieder ins Geschehen,
nur dass es nun andere Personen sind,
die sie bemerken. Die Welt ist aus den
Fugen.
264
Und in dieser aus allen chronologischen
Gewissheiten gefallenen Erzählung wird
die Tragödie eines Hochbegabten sichtbar: Dieser David Mahler war ein zu
dickes Kind mit einer enormen mathematischen Begabung, bestimmt für lebenslange und selbstgewählte Einsamkeit.
Der Fußballtrainer sortiert den Knaben
aus der Mannschaft, die Eltern können
mit David so wenig anfangen wie die
Schule oder später die Universität
oder seine Freundin – der Mann ist zu
seltsam.
Die Schwester wurde von einer Kehrmaschine erfasst und zerstückelt – eigentlich
eine traumatische Erfahrung, die David
mit Trauerarbeit zu überwinden hätte,
um den Verlust zu besiegeln.
Doch in der (thermo-)dynamisch gewendeten Seele geht es anders herum: Die
Schwester wird zum Symbol für Zukunft,
die Toten stehen auf. David sehnt sich
nicht nach psychologischem Verständnis,
er ist von seiner physikalischen Theorie
besessen. Sie bestimmt sein Leben, und
nur ein Nobelpreisträger kann seine Entdeckung würdigen.
Wie hier der geniale und dem Herztod
entgegentreibende Held den geheimnisvollen Meister verfehlt, gehört zum furiosen Finale des Romans: Da wird die Sonne immer größer und die Landschaft um
den Sterbenden immer irrealer – die
Physik spielt erbarmungslos Ball mit den
Menschen.
Unter den vielen merkwürdigen Helden
der neueren deutschen Literaturgeschichte ist David Mahler einer der sonderbarsten.
Nikolaus von Festenberg
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„Königinnen“, „Lügen“, „Mau Mau“ –
das sind gute Titel. Und so klar, minimalistisch, selbstbewusst wie ihre Titel sind
auch Elke Naters’ Geschichten. Extrem
schlicht erzählt, weshalb man beim Lesen
manchmal stutzt: Ist das jetzt banal oder
genial?
„Lügen“, ihr neuer, zweiter Roman, liest
sich wieder, als hätte Naters, 36, ihn
beim Friseur diktiert, aber vermutlich
war es harte Arbeit, bis jedes Wort saß.
Wie bei einem guten Haarschnitt: Man
darf ihm nicht ansehen, wie lange man
dafür stillgesessen hat.
Wie schon in ihrem äußerst erfolgreichen Debüt „Königinnen“ erzählt die
Autorin die Geschichte von zwei Freundinnen um die Dreißig in Berlin, diesmal aber nur aus einer Perspektive: der
von Augusta. Augustas Gedanken kreisen, aus Mangel an eigenem Leben, um
das Leben ihrer bestgehassten Freundin
Be. Die hat scheinbar alles, was Augus-
Autorin Naters: Guten Sätzen darf man nicht
Daniel Kehlmann:
Mahlers Zeit
Suhrkamp Verlag,
Frankfurt am Main;
160 Seiten;
29,80 Mark.
selbstironischen und, genau, lustigen Sätze rücken Naters weit weg
von der sogenannten Frauenliteratur – und in die Nähe von sogenannten Jungliteraten wie Christian
Kracht und Benjamin von Stuckrad-Barre, mit denen sie auch eifrig
paktiert.
So ist sie in dem von Kracht herausgegebenen, bei DVA erschienenen Sammelband „Mesopotamia“ mit „Mau Mau“, einem Kapitel aus ihrem noch nicht fertigen
dritten Roman, vertreten; und in
der Internet-Schreibstube berichtet sie unter der Adresse www.
ampool.de neben Kracht und Konsorten von Familienquerelen und
mehr oder weniger erschütternden
Banalitäten des Alltags.
Doch wo bei den Jungs alles beherrscht ist von Hysterie und
Hipness, ist bei Naters auch Platz
für Melancholie – etwa wenn sie
ein Wochenende auf dem Land beschreibt, bei dem die Freundinnen
eingeschneit werden und sich
Gedanken und Erinnerungen wie
eine Schneedecke auf die Seele
Autor Grøndahl: Fremdheit unter der Oberfläche
legen. Das Buch liest sich so weg
wie die „Bunte“ beim Friseur. Der Untugal – es ist genau die Route, die er mit
terschied ist das Gefühl danach: Der
ihr sieben Jahre zuvor gefahren war,
Kopf ist nicht hohl. Es ist eher ein Gefühl nachdem er seine heimliche Affäre mit
wie nach einem guten Abend mit Freuneiner Malerin in New York beendet hatte.
den. Wie man unter Jungliteraten sagt:
Der Ehemann, ein 44-jähriger Kunsthistomehr so angenehm.
riker, ist der Ich-Erzähler des Romans
Anke Dürr
„Schweigen im Oktober“ von Jens Christian Grøndahl: In der Einsamkeit des
leeren Hauses, denn die Kinder Simon
und Rosa sind erwachsen, und später, bei
einem Kurzbesuch in New York, lässt er
das gemeinsame Leben an sich vorbeiziehen, reflektiert, analysiert, interpretiert
die Ehejahre, die sich unter der Oberfläche der Gewohnheit verbergende tiefe
Jens Christian Grøndahl
Fremdheit.
schildert die Krise eines Historikers
„War ich glücklich geworden? Oder war
An einem Morgen im Oktober hat Astrid es nur ein hoffnungsvoller Ersatz, dieses
Alltagsglück?“ – ist die zentrale Frage
es zum ersten Mal erwähnt, beiläufig,
seiner Überlegungen. Ruhig und ganz
während sie sich im Badezimmer
unspektakulär lässt Grøndahl, 40, der
schminkte: Sie wolle eine Reise machen.
in Dänemark schon mehrere Romane
Und tatsächlich bricht sie wenig später
auf. Wie sie im Türrahmen des Schlafzim- veröffentlicht hat, den Erzähler sich immer tiefer in den Zweifel hineingrübeln:
mers steht und ihn, der fast noch schläft,
Entsteht der Mensch erst aus dem Blick
ruhig betrachtet, ist das letzte Bild, das
des anderen, oder ist, genau umgekehrt,
ihr Mann von ihr sieht. Aus den Kreditder andere grundsätzlich unerreichbar
kartenabrechnungen liest er den Verlauf
und unverständlich? Was bleibt am Ende
ihrer Reise ab: von Dänemark nach Porals Antwort auf die Frage nach der eigenen Identität? Mit großer sprachlicher
Jens Christian Grøndahl:
Präzision und psychologischem ScharfSchweigen im Oktober
sinn hat Grøndahl sich eines Themas
Aus dem Dänischen von
angenommen, das in den siebziger
Peter Urban-Halle.
Jahren Stoff erst für Dramen und dann
Paul Zsolnay Verlag, Wien;
für Small Talk war, inzwischen fast
328 Seiten; 39,80 Mark.
vergessen wurde und trotzdem so faszinierend ist wie eh und je: die MidlifeCrisis.
Marianne Wellershoff
W. BELLWINKEL
In der Einsamkeit
des leeren
Hauses
ansehen, wie lange man dafür stillgesessen hat
Elke Naters:
Lügen
Verlag Kiepenheuer &
Witsch, Köln;
192 Seiten;
29,90 Mark.
d e r
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265
K. BOSSE
ta fehlt: Mann, Kinder, Spaß, Verve.
Und die Definitionsmacht darüber,
was man trägt, wen man mag, wie man
lebt.
Es gibt solche Leute, und dann gibt es die
Augustas, die das Spiel durchschauen,
sich ihm aber nicht entziehen können. So
verfolgt die Ich-Erzählerin, wie Be
Freund und Kinder verlässt und eine lesbische Beziehung beginnt, und übersieht
dabei fast, wie sie selbst auf ein Happy
End zusteuert.
Doch vielleicht ist es nicht unbedingt
die Geschichte, die Elke Naters’ Roman
so besonders macht. Es ist ihr Stilbewusstsein, ihre Fähigkeit, detailliert, aber
knapp Menschen und Vorgänge zu beschreiben. Etwa wenn sie nachdenkt, wie
sie dem Ex-Freund ihrer Freundin helfen
kann: „Ich überlege, ob ich zu Karl hinuntergehe, um ihn zu fragen, ob er etwas
braucht. Das geht natürlich nicht. Das
würde so aussehen, als ob ich herumspionieren würde. Wie meine Mutter. Die
immer hereinkam, wenn ich Besuch hatte. Na, Kinder, wollt ihr etwas essen?
Immer den guten Grund vorgeschoben.
Das werde ich nicht tun.“
Das ist Prosa von oft provozierender Einfachheit. Solche vermeintlich naiven,
Die Kerls
auf den Bäumen
Wie die Affen in die Literatur
gekommen sind: eine Anthologie
D. HIGGS / TEPA
Spiegelbild des Menschen, tierischer Partner und biologischer Vorgänger – seit Urzeiten hat der Homo sapiens den
Affen bestaunt und begrübelt. Viele Geschichten und Gedichte handeln von den
der „ein ganz originaler Affe“ gewesen
sei. E. T. A. Hoffmann ließ die Nachäfferei ins Gruselige umschlagen: Sein gelehrter Milo preist das Menschendasein
in solchen Tönen, dass der äffischen
Adressatin seines Briefes angst und bange vor so viel Selbstverleugnung wird –
ähnlich wie den Lesern von Kafkas „Ein
Bericht für eine Akademie“. Bei Edgar
Allan Poe aber darf ein Orang-Utan im
„Doppelmord in der Rue Morgue“ die
Bestie rauslassen, und Robert Musil schil-
Afrikanischer Schimpanse: Spiegelbild oder bloß biologischer Vorgänger?
haarigen Gestalten auf den Bäumen – die
Berliner Lektorin Margit Knapp, 39, musste sich auf die letzten drei Jahrhunderte
beschränken, als sie den literarischen Spuren der Gorillas, Schimpansen und tierisch-menschlichen Zwischenwesen nachging: „Affenmensch und Menschenaff“
heißt ihre originelle Anthologie.
Erzaufklärer Lessing schrieb ein hintersinniges Trauer-Epigramm auf Mimulus,
dert die „Affeninsel“ als Gleichnis der
Diktatur.
Affen sind offensichtlich aber auch genussvolle, äußerst erotische Liebhaber junger, unschuldiger Mädchen. Da darf eine
Affenhand einen Menschenbusen begrapschen, eine Prinzessin aus „Tausendundeiner Nacht“ wird durch einen äffischen
Lover zum sexbesessenen Lustmädchen,
oder zwei Fräulein trauern ihren tierisch
Margit Knapp:
Affenmensch und
Menschenaff
Klaus Wagenbach Verlag,
Berlin; 144 Seiten;
24,80 Mark.
guten Amouren nach, in echter Affenliebe: So erzählen es Voltaire, Peter Goldsworthy und Peter Høeg.
Und wenn die Lust Folgen hat? Entsteht ein Schimpanse ohne Haare oder
ein Mensch mit Gorillagesicht? Die Affenforscherin Nelly Pritschke mag nur
unter der Bedingung heiraten, dass der
Bräutigam sich für ihre soziologischen
Studien zur Verfügung stellt und ein
Gorillaweibchen begattet. Der Versuch
gelingt. In seiner Groteske „Die Affenschande“ hat Anarchist Erich Mühsam
durchgespielt, was dabei alles passieren
könnte.
Christina Berr
Schicksal tritt
durch die Tür
Der Ungar Sándor Márai beschwört eine
untergegangene Lebensweise
Zwei alte Männer im Zwiegespräch: 41
Jahre lang haben sich der General und
der Hauptmann nicht gesehen. Damals ist
Konrád, der Hauptmann, überstürzt abgereist, hat seinen Freund seit Kindertagen
und dessen schöne Frau verlassen – ohne
ein Wort, ohne spätere Nachricht. Auch
ohne Grund? 41 Jahre lang hat Henrik,
der General, einsam in seinem Schloss in
Sándor Márai:
Die Glut
Aus dem Ungarischen
von Christina Viragh.
Piper Verlag,
München/Zürich;
224 Seiten; 36 Mark.
PIPER VERLAG
den ungarischen Wäldern gegrübelt, hat
seine Frau begraben und die Hoffnung,
den Freund wieder zu sehen.
Doch dann kommt ein Brief: Konrád
meldet sich zum Diner an. Noch einmal
werden die Gesellschaftsräume gelüftet
und beheizt, alles soll so sein wie 41 Jahre zuvor. Und dann beginnt das Abendessen, und die Konversation hebt wieder
an, und langsam wird ein Verhör daraus
mit ungeheuren Vorhaltungen. Unnachgiebig, aber mit besten Manieren befragt
Márai
der General seinen Freund, treibt ihn in
die Enge und seziert in einem stundenlangen, packenden Monolog das Wesen
ihrer Freundschaft und die Unausweichlichkeit ihres Verrats durch Konrád: „Es
stimmt nicht, dass das Schicksal heimlich
in unser Leben tritt. Nein, das Schicksal
tritt durch die Tür herein, die wir ihm
öffnen, und wir bitten es, doch näher
zu treten.“
Seltsam anachronistisch mutet auf den ersten Blick „Die Glut“ an, dieser wunderbare, wieder entdeckte Roman des ungarischen Erzählers Sándor Márai (1900 bis
1989). In schnörkellos-altmodischer –
hervorragend übersetzter – Sprache versprüht Márai das faulig-üppige Parfum
einer untergegangenen Lebensform.
Doch der bedeutende europäische
Schriftsteller beschreibt hier nicht nur
kunstvoll die Anatomie einer Dreiecksgeschichte aus der untergegangenen Donaumonarchie, Márai beschwört gleichzeitig das Pandämonium menschlicher
Beziehungen: Menschen, in denen eine
Glut der Gefühle glimmt, sei es aus Gier,
Liebe, Rache oder Hass. Márais elegantes
Meisterwerk von 1942 wird hoffentlich
nun nicht noch ein zweites Mal vergessen
werden.
Joachim Kronsbein
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Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Straßenkehrer
in Tel Aviv
Leon de Winter über russische und
„richtige“ Juden
In Russland explodiert eine Rakete beim
Start, in Tel Aviv wird ein Mann auf der
Straße erschossen. Die Explosion ist kein
Unfall und der Mord kein Verbrechen aus
Leidenschaft. Zwischen dem einen und
Autor de Winter: Interesse an der jüdischen
dem anderen Ereignis passiert eine Menge: Das sowjetische Imperium geht unter,
hunderttausende sowjetische Juden
wandern nach Israel aus, der Irak riskiert
eine Kraftprobe mit dem Rest der Welt.
Es kracht an allen Ecken und Enden, und
Leon de Winter schreibt einen Roman,
der die Geschichte von Sascha Sokolow
und Lew Lesjawa erzählt, zwei jüdischen
Raketentechnikern, die beide ihren Job
verloren haben und nach Israel ausgewandert sind. Sascha kehrt die Straßen in
einem Tel Aviver Armenviertel und
betäubt sich mit Unmengen von Wodka;
Lew wird mit seltsamen Geschäften reich
und mächtig. Eines Tages treffen sich ihre
Wege wieder, und der schlaue Lew macht
den tumben Sascha zu seinem Partner.
Leon de Winter:
Sokolows Universum
Diogenes Verlag,
Zürich;
434 Seiten;
39,90 Mark.
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A. SAHIHI
Am Ende gewinnt der arme Schlucker,
und der gewiefte Strippenzieher stirbt einen ungemütlichen Tod. Leon de Winter,
45, erzählt eine Geschichte voller Geschichten: Es geht um das sowjetische
Raumfahrtprogramm, das Ende der glorreichen Sowjetunion, das schwierige Leben in Israel, organisierte Kriminalität,
um die Bemühungen russischer Juden,
„richtige“ Juden zu werden. Und natürlich um die Liebe, die Wunden heilt und
Wunder möglich macht. Er packt viel
Identität, Sex und Essen
Stoff zwischen zwei Buchdeckel, weil er
aber wunderbar erzählen kann und sein
Material klug organisiert, kommt die
Quantität der Qualität zugute. Der Mann
hat sich wie immer den Plot ausgedacht,
alles übrige solide recherchiert – ein
Handwerker der Literatur. De Winters
Art zu schreiben hebt sich wohltuend
von den komatösen Zustandsbetrachtungen und Einblicken in das Innere leerer
Räume ab, mit denen uns andere Dichter
strapazieren. Auch ein langer de Winter
ist kurzweilig, sogar nach 400 Seiten
möchte man gerne wissen, wie die Geschichte weitergeht, sie ist zwar zu Ende
erzählt, aber nicht beendet. Was wird aus
Sokolow, der in seinem Universum herumgestoßen wird? Ist Lesjawa wirklich
tot? Oder hat er seinen Abgang nur inszeniert, um Sokolow reinzulegen?
Drei Elemente sind es, sagt de Winter, die
ihn um- und antreiben: Die Frage nach
der jüdischen Identität, Sex und Essen. In
Sokolows Universum dreht sich alles um
Jüdischsein unter absurden Bedingungen.
Sex gibt es auch. Nur das Essen kommt
diesmal ein wenig zu kurz.
Henryk M. Broder
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Kein Held,
nirgends
In ihrem Debüt gelingen Inka Parei bissige
Hauptstadt-Bilder
US-Autor T. Coraghessan Boyle verteidigt
Großwildjäger und andere Verlierer
Hell heißt die eine Eigenbrötlerin, Dunkel die andere. Sie sind, abgesehen von
ein paar Ratten, die einzigen Bewohner
einer abbruchreifen Mietsruine im Osten
Berlins. Beide gehen dem Leben aus dem
Weg, und auch voneinander wollen sie
nicht viel wissen.
Gleichwohl wird Hell nervös, als ihre
„Außenklo-Partnerin“ spurlos ver-
Als der große weiße Jäger mit ihm fertig
war, hatte Claude keinen Kopf mehr und
sah aus „wie ein zusammengeknüllter
Teppich, über den jemand einen Eimer
voll Hackfleisch geschüttet hatte“.
Mike Bender musste bei diesem Anblick
einen Traum begraben: den Traum,
Claude auszustopfen und als Trophäe
in den Empfangsraum seines Immobilienmakler-Büros in Beverly Hills zu
stellen.
So blutig, so böse beginnt der US-Erfolgsautor T. Coraghessan Boyle, 50, seine
neueste Kurzgeschichtensammlung, in der
er 15 Geschichten präsentiert – ein wüstes
Bestiarium des amerikanischen Alltags.
„Without a Hero“ heißt die amerikanische Ausgabe – und in der Tat: Bei Boyle
gibt es keinen Helden, nirgends.
Dabei ist der Erzähler weniger tiefgründelnder Psychologe als vielmehr ein brillanter Unterhalter: Mit flottem Witz zieht
er seine Figuren in den Abgrund, aber er
zieht nicht über sie her. Gelegentlich lei-
W. BELLWINKEL
Frau Rambo aus
Berlin
schwindet. Sie wittert, zu Recht, Bedrohliches. Prompt legt ein Brandstifter in
Dunkels Wohnung ein Feuer; fast gleichzeitig taucht dieser hilflose Bankräuber
auf, der ihre Nachbarin offenbar als Letzter gesehen hat und mit dem Hell eine
völlig unromantische Affäre beginnt. Zufällig spürt sie auch noch den Mann auf,
der sie einst vergewaltigt hat – es sind
nicht gerade die üblichen Alltagsprobleme, mit denen die Ich-Erzählerin Hell
zurechtkommen muss.
Immerhin: Dank täglicher Kampfsportübungen hat sie, fast schon ein weiblicher
Rambo, für jede Lebenslage einen passenden Faustschlag oder Fußtritt parat.
Die junge Autorin Inka Parei, 32, hat
mit ihrem Erstlingsroman „Die Schattenboxerin“ einen wunderbar herben
Hauptstadtroman geschrieben. Immun
gegen die aktuelle Berlin-Euphorie,
outet sie die Stadt als Trash-Moloch mit
müllverstopften Hinterhöfen, streunenden Hunden und zwielichtigen Gestalten.
Ulrike Knöfel
A. WEISE
Parei
Boyle
stet sich der begnadete Zyniker Boyle sogar Anfälle von leiser Melancholie. Denn
er kennt sie gut, die Verlierertypen, und
so gewinnen seine vom Leben überforderten Schwächlinge und Schwachköpfe
am Ende doch, irgendwie, meistens – und
sei es die Sympathie des Lesers. Manchmal, im Falle von übermütigen Großwildjägern etwa, gewinnt am Ende allerdings
auch ein Elefant.
Martin Wolf
Inka Parei:
Die Schattenboxerin
Schöffling Verlag,
Frankfurt am Main;
184 Seiten;
34 Mark.
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T. Coraghessan Boyle:
Fleischeslust
Aus dem Amerikanischen
von Werner Richter.
Carl Hanser Verlag, München;
296 Seiten; 36 Mark.
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Die ernsten
Spiele der Liebe
Iselin C. Hermann debütiert mit einer
spannenden Liebesgeschichte
J. SPERLING
Die Dänin Delphine Hav hat sich in der
Pariser Galerie Y in das Gemälde „Sans
titre“ des Malers Jean Luc Foreur verguckt. „Obwohl ich das Bild nicht besitze, gehört es mir“, teilt sie dem Künstler
auf einer Postkarte mit, „danke.“
Scheinbar nicht mehr als der geschriebene Knicks einer Verehrerin; Fanpost;
nett.
Gut gemacht: Schon auf Seite 21 ihres
literarischen Erstlings gelingt der
Kopenhagener Regisseurin, Lektorin und
Journalistin Iselin C. Hermann, 40, der
Kick vom tastenden Who’s who zur
(auch erotisch knisternden) Romanze.
Bis diese Liebesgeschichte im Nachwort
ihr ebenso knappes wie verblüffendes
Ende findet, entwickelt sich auf dem
Postwege ein – durch raffinierte Warteschleifen gelängtes und durch schrillen
Kick-down belebtes – Crescendo an
Spannung und Lesespaß.
Was da in privater Ehrerbietung einsetzt,
mit intimer Anmut Gestalt annimmt
und endlich in handfester Sinnlichkeit
Autorin Hermann: Korrespondenz als literarische Komposition
Umgehend kommt, überraschend, eine
Antwort. Nein, „normalerweise“ reagiere
er „auf enthusiastische Briefe nicht“.
Aber es habe ihn doch „berührt, wenn
ein Mensch, den ich nicht kenne, dieses
Erlebnis mit einem meiner Bilder hat“.
So verspüre er einfach „Lust“ zu reagieren. Scheinbar nicht mehr als ein artiger
Bückling in Worten; Fanpost angekommen; nett.
Doch Delphine hat Feuer gefangen. Sie
lässt nicht locker, geht zur ausführlichen
Briefform über, tänzelt der Frage nach
ihrem Alter kokett aus dem Wege, gesteht erst „eine kleine, zittrige Unruhe in
den Nervenenden“ und bald schon die
„Wahrheit“: „Ich sehne mich danach,
dass Du mir schreibst.“
Und er schreibt. Er hat als erster das Du
gewagt; nun schickt er ihr, ungefragt, einen seiner Ausstellungskataloge mit Foto
und Lebenslauf und malt sich aus, wie
seine Briefpartnerin wohl aussehen mag,
„dass Deine Lippen sich wölben“ und
„dass Du lange Beine hast“: „Du bist
hübsch, das kann ich aus Deinen Briefen
herauslesen.“
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kulminiert, ist nichts anderes als eine
zeitgemäße Spielart des herrlich altmodischen Briefromans: Korrespondenz als
literarische Komposition. In der Ära
der E-Mails wird hier noch einmal der
Briefkasten zur Beziehungskiste.
Das ideale Buch für einen griesen Sonntagmorgen: Kaffee schlürfen, Croissants
knabbern und unterm kuscheligen Plumeau mit Herzklopfen daran glauben,
was Delphine ihrem „lieben JL“ ins Gewissen schreibt: „Unser Spiel ist das
ernsthafteste, das ich je gespielt habe.“
Und er?
Die kalte Dusche am Sonntagmittag
kann der Leser sich sparen. Die verpasst
Klaus Umbach
ihm die Hermann.
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Iselin C. Hermann:
Liebe Delphine …
Lieber Jean Luc …
Roman. Aus dem Dänischen
von Regine Elsässer. Deutsche
Verlags-Anstalt, Stuttgart;
176 Seiten; 34 Mark.
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Herzen auf
Raupenfüßen
Die Australierin Delia Falconer debütiert
mit einem Roman über Liebesverrat
Ach die Liebe, ach die Wolken. Veränderlich und unaufhaltsam ziehen sie dahin.
„Man konnte unsere Liebe wie Dampf
von den Berggipfeln aufsteigen spüren“,
erinnert sich die Ich-Erzählerin im Roman-Erstling der Australierin Delia Falconer, 33. Wie aber sollte Leidenschaft je
an ihr Ziel kommen, wenn sie einem
Mann gilt, der – nach Worten des romantischen Ästheten John Ruskin – „den
Wolken dient“?
Erschienen ist dieser Harry Kitchings
dem Mädchen Eureka wie ein Himmelsbote: Im Korb einer Lastenseilbahn über
Abgründe herangeschwebt; seine verkrüppelte Hand presst eine Kamera an
die Brust. Denn er ist aufgebrochen, um
Landschaftsdarstellung, Ausflüge ins Gebirge, Visionen in der Dunkelkammer.
Harry kopiert den Namen der Freundin
in das Bild einer Kumuluswolke. Noch
unter Katastrophenahnung, in die der
scheinbar ferne Weltkrieg hereinspielt,
genießt Eureka den „kleinen Luxus, seinen Ellbogen an meinen gepreßt zu
fühlen“. Kein Kuss, kein Heiratsantrag.
Abrupt folgt der „Verrat“: Harry ist dieser Liebe nicht gewachsen, er heiratet
eine demütige, geldgierige Kriegerwitwe
mit Baby, wohl weil „die Wolken sich
nicht in ihren Rocksäumen verfingen“. Die Erzählerin, als Krankenschwester auf einen nebligen Zauberberg entrückt, findet fieberhafte Trieberfüllung
bei einem Todgeweihten – der schwächere
Teil des stimmungsmächtigen Buchs.
Schließlich spült Eureka die Silberschicht
von Harrys nachgelassenen Fotoplatten
durch das Waschbecken einer Schiffskabine in die stürmische See, um die Bilder
zu entgrenzen. Es ist, als würden sie vom
Sog der Sprache mitgerissen.
Jürgen Hohmeyer
Krimi-Tipps
Anne Holt: „Im Zeichen des Löwen“. Aus dem Norwegischen
von Gabriele Haefs. Piper Verlag, München; 416 Seiten; 39,80 Mark.
So ruhig war es lange nicht mehr im Büro von Brigitte Volter, der
Ministerpräsidentin von Norwegen. Als sich die Sekretärin endlich
traut nachzuschauen, findet sie die Regierungschefin erschossen am
Schreibtisch. Autorin Anne Holt weiß, wovon sie schreibt: Sie war
kurzzeitig Justizministerin in Oslo. Gemeinsam mit ihrer damaligen
Staatssekretärin Berit Reiss-Andersen hat sie eine faszinierende Innenansicht der norwegischen Gesellschaft und ihrer politischen
Kaste geschrieben.
Dean Koontz: „Geschöpfe der Nacht“. Aus dem Amerikanischen
von Uwe Anton. Heyne Verlag, München; 512 Seiten; 36 Mark.
D. SATTMANN
Chris Snow leidet an einer seltenen Erbkrankheit: Sonnenlicht ist
für ihn tödlich. So streift er nur bei Nacht durch seinen Wohnort, ein
amerikanisches Küstenkaff. Bei einer dieser Touren beobachtet er,
wie eine Leiche beiseite geschafft wird. Als dann noch eine Zeugin
ermordet wird, ist Chris klar, dass auch er auf der Todesliste steht.
David Baldacci: „Die Wahrheit“. Aus dem Amerikanischen von Uwe Anton.
Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach; 512 Seiten; 44 Mark.
Falconer
Ein Häftling in einem Gefängnis der USA macht eine Eingabe beim
Obersten Gerichtshof – und setzt damit eine Kettenreaktion von Bedrohung, Mord und Verleumdung in Gang. Mühsam schälen zwei junge Wahrheitsfanatiker aus alten Akten und Zeugenaussagen heraus,
was wirklich vor 25 Jahren bei einer Spezialeinheit des Militärs geschah und wer dafür verantwortlich ist. Die Jagd führt in die höchsten
Kreise Washingtons.
in den Blue Mountains bei Sydney „Gott
zu photographieren“. Als ein verhängnisvolles Familienerbe liegt ihm Lichtbildner-Alchimie im Blut, aber erst nach einem Unfall, der ihn fürs erlernte Druckhandwerk untauglich macht, hat Harry
sich zu seiner Berufung durchgerungen.
Delia Falconer erzählt, durch die Maske
Eurekas, ihre Geschichte aus dem ersten
Jahrhundertviertel in hohem Sprachton,
bildkräftig und anspielungsreich, mit
Scharfblick auch für die Phantastik kleinstädtischer Familien- und Gesellschaftsgrotesken. Anrührend im Zentrum jedoch: das diskrete Einverständnis der
Liebenden über Jahre – „Unsere Herzen
bewegen sich aufeinander zu, langsam,
auf Raupenfüßen.“ Gespräche über
Michael Connelly: „Das zweite Herz“. Aus dem Amerikanischen
von Sepp Leeb. Heyne Verlag, München; 448 Seiten; 39,80 Mark.
Terry McCaleb hat einst beim FBI Serienkiller gejagt, bis ein Koronarleiden ihn außer Gefecht setzte und ihm sogar ein neues Herz eingepflanzt werden musste. Eines Tages bekommt Terry Besuch von einer
Frau, die behauptet, die Schwester von Gloria Torres zu sein, der
Spenderin, deren Herz er nun in der Brust trage. Gloria sei, erzählt
die Besucherin, damals ermordet worden. Jetzt bittet sie Terry, den
Mörder ihrer Schwester zu finden. Zögernd willigt er ein und verstrickt sich in ein mörderisches Komplott.
Andrea Camilleri: „Der Hund aus Terracotta“. Aus dem Italienischen
von Christiane von Bechtolsheim. Edition Lübbe, Bergisch Gladbach;
352 Seiten; 36 Mark.
Delia Falconer:
Die Liebe zu den Wolken
Aus dem Englischen
von Bettina Abarbanell.
S. Fischer Verlag,
Frankfurt am Main;
320 Seiten; 39,80 Mark.
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Camilleri hat mit Commissario Montalbano eine Art von sizilianischem Maigret geschaffen, einen Polizisten, dessen Fälle sich für doppelbödige Studien einer verkommenen Gesellschaft anbieten. Diesmal
geht es um ein aktuelles und um ein vergangenes Verbrechen. In einer
Höhle findet Montalbano zwei skelettierte Leichen, die von einem
Schäferhund aus Terracotta bewacht werden.
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und komische Raserei zu versetzen: Martin und Kate sind ein junges Ehepaar aus
London, das mit seinem Baby für ein paar
Monate aufs Land zieht. In idyllischer
Einsamkeit wollen beide an Büchern
Michael Frayn schickt einen Heimlichtuer
schreiben und sich an den Schock des
auf erotische und kunsthistorische Irrfahrt
Eltern-Seins gewöhnen. Kate ist KunsthisMalerei ist eine Stillstandskunst: Nicht
torikerin, Martin ist Philosoph mit kunstohne Grund sagt man von den Gemälden historischen Neigungen, vor allem aber
großer Meister, sie hielten die Welt an;
voller Angst, in der Rolle des Familiendie Zeit erscheine wie gefroren im Bild
Ernährers eine Null zu sein.
einer schönen Frau, einer Schlacht oder
Da trifft es sich gut, dass ein offenbar
einer netten Landschaft, in der sich Men- rustikal vertrottelter Nachbar die beiden
schen wie Spielzeugfiguren verlieren.
zu sich nach Hause bittet, um ein paar
Schreiben ist eine Beschleunigungskunst, alte Gemälde zu begutachten – und Martin eine, wie er sich sofort sicher ist,
sensationelle Entdeckung macht:
Die Kamin-Abdeckung im Frühstückszimmer des Nachbarn ist ein
verschollenes Bild aus dem Jahr
1565, ein fehlendes Puzzlestück aus
dem Jahreszeiten-Zyklus von Pieter
Bruegel (der sich, wie Kunst-Amateure aus diesem Buch lernen, im
Gegensatz zu seinen Nachfahren
ohne h nach dem g schrieb).
Für Martin ist der Anblick des Bildes ein Erweckungserlebnis: Er will,
er muß diesen Schatz in seinen Besitz bringen. Und weil er seine jähe
Erkenntnis zunächst sogar vor Kate
geheim hält, verstrickt er sich mehr
und mehr in kleine Lügen und verwegene Tricksereien – dass ihn die
junge, schöne Frau des Bildbesitzers
in eine fatale Liebesaffäre hineinzerren will, ist noch eine der milderen Folgen seiner Jagd auf das vermeintliche Meisterwerk.
Staunenswert leicht und oft zum
Tränenlachen komisch ist der
Ton, in dem Frayn seinen Erzähler
Martin von erotischen Wirrungen
und immer neuen Tiefschlägen beAutor Frayn: Komische Jagd auf ein Meisterwerk richten lässt – und von immer neuen
Zweifeln, die es zu entkräften gilt:
zumindest im Fall des britischen Dramati- So macht jeder gelehrsame Ausflug in
die Kunstgeschichte den fortschreitenden
kers und Romanautors Michael Frayn. In
Irrsinn des Helden noch ein wenig
seinen besten Werken bringt Frayn, 66,
plausibler. Am Ende aber müssen alle
die Welt auf Touren, läßt seine Figuren in
Mitspieler erkennen, dass sie kaum mehr
immer wilderem Tempo durchs Lebenssind als die Menschen in den MeisterwerLaufrad hetzen, bis es sie aus der Bahn
ken des ältesten Bruegel: niedliche Spielwirft und sie japsend auf der Erde liegen
– wobei nicht ganz klar ist, ob sie nun vor zeugfiguren, bei deren Freudentänzen
Erschöpfung japsen oder vor Lachen über und Plackereien, Grausamkeiten und
Liebesspielen eine unbekannte, rätselhafihr eigenes Schicksal.
te Schicksalmacht die Fäden zieht.
In Deutschland ist Frayn vor allem beWolfgang Höbel
kannt geworden durch sein Theaterstück
„Der nackte Wahnsinn“, eine irre Farce
über ein paar Schauspieler am Rande des
Michael Frayn:
Nervenzusammenbruchs; die Komödie
Das verschollene Bild
aus dem Jahr 1982 ist bis heute ein StadtAus dem Englischen
theater-Hit. In seinem jüngsten Roman
von Matthias Fienbork.
„Das verschollene Bild“ erzählt Frayn
Hanser Verlag, Münnun in epischer Breite und mit verblüffenchen; 360 Seiten;
der Sachkenntnis von der Malerei des 16.
39,80 Mark.
Jahrhunderts – und schafft es dennoch,
seine Helden in maximale Turbulenzen
K. BOSSE
Erweckung im
Frühstückszimmer
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Der Blick des
Blinden
Es ist schwindelerregend, als Leser einen
Text vor Augen zu haben, bei dem man
dennoch immer nur Zuhörer ist: Gilbert
Adairs verspielt-vertrackter neuer Roman mit dem vielsinnigen Titel „Blindband“ besteht, von ein paar kurzen Passagen abgesehen, ausschließlich aus Dialogen, und deren Zentralthema ist das
Nicht-Sehen. Ein Erblindeter, dem eine
Explosion nicht nur das Sehvermögen,
sondern die Augen selbst geraubt hat, reflektiert über den unentrinnbaren
„atavistischen Sehreflex“, der ihn nach
wie vor beherrscht wie der Phantomschmerz einen Amputierten.
„Erblindeter Autor sucht Amanuensis“,
steht über der Anzeige in der Londoner
„Times“: Ein berühmter alternder
Schriftsteller, seit einem Autounfall vor
vier Jahren weltabgewandt auf seinem
Landsitz hausend, sucht Beistand, um ein
EPOCA
Der britische Schöngeist Gilbert Adair
brilliert mit einem eleganten Kunst-Thriller
Gilbert Adair, 55, geistreicher Romancier, Essayist,
Filmpublizist, unter Londoner Intellektuellen als lästerlustiger Dandy bekannt,
findet für seine schmalen,
mit Scharfsinn und snobistischer Ironie polierten
Kunstkrimis langsam auch
hier zu Lande Liebhaber:
„Blindband“ ist gleichzeitig
mit der englischen Ausgabe
auf Deutsch erschienen.
Und ein paar Druckfehler, die nur ein
Blinder übersehen könnte, werden dem
detektivisch gewitzten Leser auf der
vorvorletzten Seite ihr Geheimnis verraten.
URS JENNY
Autor Adair: Lästerlustiger Dandy
Buch über seine Blindheitserfahrung zu
Papier zu bringen. Der junge Mann, der
den bizarren Schreib-Job übernimmt, erweist sich als flink und erstaunlich einfühlsam. Dem Leser allerdings, exklusivem Ohrenzeugen der Arbeitsgespräche
zwischen den beiden, entgeht nicht lange, dass der Sehende den Blinden auf
eine tückisch subtile, geradezu thrillermäßig spannende Weise irrezuführen beginnt, und ahnt bald im Unsichtbaren die
Umrisse eines dunklen Verbrechens, bei
dem die Augen von Rembrandts letztem
Selbstporträt (in der Londoner National
Gallery) eine Schlüsselrolle spielen.
Gilbert Adair:
Blindband
Deutsch von
Thomas Schlachter.
Edition Epoca, Zürich;
224 Seiten;
39,50 Mark.
Belletristik-Tipps
Malachy McCourt: „Der
Junge aus Limerick“.
Argon Verlag, Berlin;
332 Seiten; 38 Mark.
Auch er will die Asche seiner Mutter besingen: Zeitgleich mit Frank McCourts
Fortsetzung seiner Memoiren kommt die etwas flaue
brüderliche Konkurrenz.
Uwe Johnson / Siegfried
Unseld: „Der Briefwechsel“. Suhrkamp Verlag,
Frankfurt am Main;
1220 Seiten; 68 Mark.
Literarische Korrespondenz
von seltener Kontinuität:
769 Briefe und Telegramme aus den Jahren 1959
bis 1984 – fast ein (doppelter) Lebensroman.
Julien Green: „Tagebücher
1990 bis 1996“.
List Verlag, München;
772 Seiten; 98 Mark.
Den sechsten Band der
1926 begonnenen Tagebücher konnte Green noch
selbst redigieren, bevor er
1998 mit 97 Jahren starb
– würdiger Schlussstein
der Edition.
Jacob und Wilhelm
Grimm: „Deutsches
Wörterbuch“. Deutscher
Taschenbuch Verlag,
München; 33 Bände. Zus.
33 812 Seiten; 999 Mark.
Unübertroffen und nun,
nach 15 Jahren, noch einmal im Taschenbuch-Nachdruck – unser Wortschatz
in Kassette.
Gert Ledig: „Vergeltung“.
Suhrkamp Verlag,
Frankfurt am Main;
212 Seiten; 32 Mark.
Wiederentdeckung nach
mehr als 40 Jahren: Ledig,
der im Frühjahr starb,
schrieb einen der seltenen
deutschen Romane über
den Luftkrieg (SPIEGEL
1/1999) – auch literarisch
bemerkenswert.
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Anne Stevenson:
„Sylvia Plath“.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main;
656 Seiten; 39,80 Mark.
Erschöpfend und – bisweilen allzu – detailreich
dargestellt: Leben und
Sterben der Kultautorin,
die sich 1963 das Leben
nahm.
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André Gide: „Lyrische und
szenische Dichtungen“.
Werke XI. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart;
496 Seiten; 78 Mark.
Der vorletzte Band einer
verlegerischen Großtat: die
gesammelten Werke des
Franzosen in mustergültiger Edition.
Michel Leiris: „Die Spielregel. Band 4: Wehlaut“.
Matthes & Seitz Verlag,
München; 456 Seiten;
58 Mark.
Abschluss der umfangreichen Autobiografie: teils
Tagebuch, teils Poesie,
teils Werk der Erinnerung –
gewollt fragmentarisch.
Dieter Forte: „Das Haus
auf meinen Schultern“.
S. Fischer Verlag,
Frankfurt am Main;
864 Seiten; 68 Mark.
Drei autobiografische Romane, zwischen 1992 und
1998 publiziert, getragen
von einem einzigen großen
Erzählbogen, wie der dritte
Teil „In der Erinnerung“
(SPIEGEL 45/1998) erwies:
nun in einem Band.
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SACHBÜCHER
Rüstzeug fürs Millennium
Welches Wissen ist nötig im kommenden Jahrtausend? Und wo bleibt in der Überfülle
weltweit vernetzter Informationen die geistige Heimat des Menschen? Zukunftsentwürfe und
Bilanzen prägen den Sachbuch-Herbst – hier einige Empfehlungen der SPIEGEL-Redaktion.
Schwanitz-Idol Shakespeare
(im Film „Shakespeare in Love“)
L. SPARHAM / UIP
Mutter aller Massaker
Dietrich Schwanitz spielt mit dem Bildungskanon
Was dieser Zeus so alles trieb: In jungen
Jahren mischte er dem Vater Kronos „ein
Brechmittel in seinen Ouzo“, seine erste
Amtshandlung als Obergott bestand „in
der sexuellen Belästigung der Titanin
Metis“, und alle Vorwürfe von Gattin
Hera, dass er „zu einer tiefen Beziehung“ unfähig sei, trieben den Olympier
nur in immer neue Eskapaden.
Ein richtig krasser Typ, offenbar – zumindest wenn alles so stimmt, wie Dietrich
Schwanitz es zusammenfasst. Und das
muss es ja wohl: Ein Professor und Talkshow-Star, der sein Buch „Bildung – Alles, was man wissen muss“ nennt, darf
seine Leser nicht zum Narren halten.
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Oder doch? Vielleicht ist der pfiffige Anglist, dem seine Hamburger Kollegen noch
immer nicht verzeihen, dass er sich vor
gut zwei Jahren per Frühpensionierung
aus der öden Universität ins Schriftstellerleben absetzte, ja ein Schalk. Vielleicht
hat Schwanitz, 59, den Leuten einen
Streich spielen wollen, die zu wissen glauben, was Bildung ist. Vielleicht wollte er
sie ködern mit seinem Anspruch, dieses
gar nicht so dicke Buch enthalte tatsächlich alles „Marschgepäck“, das nötig sei,
um „die Geschichte seiner eigenen Gesellschaft zu verstehen“.
Hamburgs Uni-Präsident Jürgen Lüthje
zumindest ist schon in die Falle gerannt.
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Gleich bei Erscheinen monierte er stirnrunzelnd, Schwanitz gebe mit seinem angeblichen Bildungskanon „subjektive
Sichtweisen als verbindliche Wahrheiten“
aus. Das meiste in dem Buch, das tatsächlich eine Blitztour durch Geschichte, Literatur, Kunst und Weltbilder anbietet, sei
platt und falsch und natürlich viel zu
knapp geraten. Kunststück, könnte
Schwanitz erwidern. Denn für ihn ist das
lustvoll bis flapsig eingedampfte Wissen
ein großes Spiel, ein fröhlicher Kassensturz unserer Traditionsbedürfnisse.
Oberlehrer mögen nun fragen: War Palestrina tatsächlich der „Erfinder“ des musikalischen Kontrapunkts? Darf jemand
behaupten, der Apostel Paulus sei ein
„christlicher Trotzki“ gewesen? Wurde
mit Luther „das Christentum wieder jüdischer“? War für die alten Griechen
wirklich „nur das Konstante wirklich“?
Hat Bismarck „die Deutschen in die
Dietrich Schwanitz:
Bildung – Alles, was
man wissen muss
Eichborn Verlag,
Frankfurt am Main;
544 Seiten;
49,80 Mark.
Das gelingt ihm immer wieder. Einprägsam erklärt er den Trojanischen Krieg zur
„Mutter aller Massaker“, die römischen
Volkstribunen umschreibt er als „so etwas Daniel L. Schacter bereist das
Ähnliches wie heutige Betriebsräte“, die
menschliche Gedächtnis
Klöster des Mittelalters nennt er „Trainingslager für den Himmel“. Den KarrieDie Erinnerung sei, schrieb Jean Paul,
restart von Zarin Katharina I. würdigt er
„das einzige Paradies, woraus wir nicht
so: „Katharina … war als Magd des luthe- vertrieben werden können“. Für andere
rischen Pastors Glück in Marienburg aufdagegen ist der Speicher im Hirn die Hölgewachsen. Bei der Belagerung der Stadt
le, der sie nicht entfliehen können. Pascal
wurde auch sie erobert und ergriff den
resümierte kühl: „Das Gedächtnis ist für
Beruf der Konkubine.“
alle Tätigkeiten der Vernunft notwendig.“
Manchmal verbergen die Scherze KluDer Gefühle dito.
ges. Hegels „Phänomenologie des GeisGedächtnis ist nicht alles, aber ohne Getes“ etwa, an der Generationen von
dächtnis ist alles nichts. Erlerntes und ErPhilosophen gekaut haben, tritt als
lebtes, Erkenntnisse und Erfahrungen,
„Weltgeschichte in Form eines BildungsSeligkeiten und Scheußlichkeiten, Meloromans“ auf. „Held des Romans war der dien, Momente, Düfte, Bilder: Das Depot
Geist“ – muss ja ein spannendes Buch
im Kopf, das Meisterstück der Evolution,
sein. Und in Sachen Christentum wird
macht den Menschen zum Menschen.
Schwanitz geradezu weise: Die biblische
Wie es das tut, weiß bislang allerdings
Geschichte „wurde von Gott geschrieniemand genau. Daniel L. Schacter, Harben, einem Gott, den die Europäer als
vard-Professor für Psychologie und Neueinzigen anerkannten. Deshalb wurde
rowissenschaft, ist auch nach 20 Jahren
sie Wort für Wort geglaubt … Um geGedächtnisforschung und Experimenten
ringfügiger Unterschiede in der Deutung am Objekt so fasziniert von seinem Thedieser Geschichte willen wurden Länder
ma, dass er es als spannende Labyrinthverwüstet und Städte in Schutt und
wanderung aufbereitet hat.
Asche gelegt“.
„Mit Hilfe des Gedächtnisses“, schreibt
Das ist doch Klippschule, könnten Zweif- Schacter, „versucht das Gehirn, der Umler meckern. Aber auch sie sollten die
welt Ordnung aufzuerlegen.“ Aber das
Bravourstellen im Spiel nicht verpassen:
Gedächtnis, „dieser komplexe und geFünf moderne Bühnenautoren lässt
wöhnlich so zuverlässige Faktor, kann
Schwanitz in einem kuriosen Dramolett auftreten, und Shakespeare
stellt er gar, wie es dem
Anglisten ziemt, in einem Glaubensbekenntnis vor. Wer ihn, den
„Dichter aller Dichter“,
den „Meister der sprachlichen Kernfusion“, genießen kann – Schwanitz
gibt eine kleine Kostprobe –, „der erlebt den Urknall als einen poetischen Orgasmus der
Kreativität. Es gibt kein
besseres Gefühl auf dieNeurologe Schacter: Auswahl aus dem Ereignis-Strom
ser Erde als dieses. Es
befreit aus Depression und schlechter
uns gelegentlich gründlich hinters Licht
Laune und macht dankbar dafür, dass
führen“. Denn es sei eben auch eine „anman lebt“.
fällige Macht“.
Alle Achtung, Herr Professor. Ihr Spiel
Eine multiple dazu. Klinische Studien an
ist offenbar doch ein bisschen ernst geAmnesie-Patienten und anderen Hirnvermeint.
letzten bekräftigten die These, dass das
Johannes Saltzwedel
Gedächtnis nicht als Solist, sondern in
weit vernetzten Systemen arbeitet. KurzManfred Fuhrmann:
zeit- und Langzeitgedächtnis sind beDer europäische
kannt, doch mit ihnen fängt das Knäuel
Bildungskanon des
der Memorier-Möglichkeiten erst an.
bürgerlichen Zeitalters
Komplizierter als früher angenommen ist
Insel Verlag,
auch der Vorgang des Speicherns. Nicht
Frankfurt am Main;
„wertfreie Schnappschüsse“ oder „wort224 Seiten; 39,80 Mark.
wörtliche Aufzeichnungen der Wirklichkeit“ werden kodiert, sondern zugleich
Anfällige Macht
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K. SNIBBE
AKG
Scheiße geführt“? Reicht
es, Hitler als
„Führer aller
Knallköpfe“ abzufertigen?
Doch das sind
nur die einfachsten Spielzüge.
Fortgeschrittene
könnten mit
Professor
Schwanitz darSchwanitz
um feilschen,
wie viel Platz denn ein historisches Kapitel verdient. Da werden die Wiedertäufer
oder gar die Ursachen des SchleswigHolsteinischen Krieges von 1864 ausführlicher vorgestellt als alle Kreuzzüge zusammen. Afrikas und erst recht Asiens
Geschichte fallen fast völlig unter den
Tisch – keine Spur von Weltkultur. Naturwissenschaft findet kaum statt; auf ökonomischem Gebiet gleichen die Lücken
einem Vakuum.
Aber sogar die Mankos haben Methode.
Denn was Schwanitz da frech und flott
zusammenschreibt, unterscheidet sich
nur wenig vom Stoff, den einst das humanistische Gymnasium lehrte. In einem
eleganten Büchlein hat gerade der Konstanzer Altphilologe Manfred Fuhrmann,
selbst Zögling solcher Anstalt, den „Bildungskanon des bürgerlichen Zeitalters“,
seine Entstehung und seine Entsorgung,
resümiert: Buddha und die Dampfmaschine wurden darin übergangen, denn
wer im abendländischen Kunstgenuss geschult war, würde mit solchem Nebenkram schon zurechtkommen.
Entsprechend lässt der Schwanitz-Kanon
sich durchaus als intellektueller Striptease eines alternden deutschen Akademikers lesen, der das, was ihm für das
Verstehen der großen Zusammenhänge
genügt, auch anderen empfiehlt. Ähnlich
wie Immanuel Kant, der im 18. Jahrhundert vom Katheder „Weltweisheit“ lehrte, also ein Faktengerüst fürs geistige Leben, glaubt der Literaturwissenschaftler
felsenfest an den sprachlichen Zusammenhang der Welt, und ähnlich wie
Kants Vorlesungen heute wirken viele
Schwanitz-Passagen komisch.
Allerdings mit einem Unterschied. Der
akademische Entertainer weiß, dass niemand sein Werk als Prüfungsstoff braucht
– also muss die Sache Spaß machen.
Werbeseite
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Werbeseite
die Bedeutungen und Gefühle des Augenblicks; und das so komplex Gespeicherte
entscheidet dann darüber, „was wir aus
dem Strom der täglichen Ereignisse herausgreifen und behalten“.
Barbara Leaming entzaubert
Zuweilen können sich Gedächtnisinhalte
die Verschwörungstheorien
sogar ganz „ohne Erinnerungsbewusstsein“ manifestieren, Menschen von einem Eine Biografie über Marilyn
früheren Erlebnis beeinflusst werden, an
Monroe, wirklich, schon
das sie sich nicht erinnern: Dieses „impli- wieder? Aber sicher doch.
zierte“ (unbewusste) Gedächtnis, ein
Dieser Mythos, dieses LeFund jüngster Forschung, hat laut Schacben hat immer Saison. Oriter die Ansicht vom Wesen des Gedächtginell an Barbara Leamings,
nisses „grundlegend verändert“.
55, Monroe-Biografie ist das
Noch liegt freilich im Halbdunkel, wie
verstörend Unspektakuläre.
die Speicherung chemisch-physikalisch
Anders als etwa die Verfasabläuft, wie im Gehirngewebe Gedächtser des im gleichen Verlag
nis-„Engramme“ abgelegt und abgerufen
erschienenen Buchs „Der
werden, mit anderen verschmelzen oder
Fall Marilyn Monroe“
sich verflüchtigen. Eins ist sicher: Der
(1996) mauschelt sie nicht
Kosmos von Persönlichkeit und Bewusstum den mysteriösen Tod
sein hängt an ein paar Nervenfäden.
des Stars herum. Weit und
Manchmal hängt sie schief, die Persönbreit keine vom Monroelichkeit, auch ohne Hirnverletzungen. Im
Liebhaber John F. Kennedy
Russland der zwanziger Jahre schickte
ausgesandten Killerkomeine Zeitung einen ihrer Reporter zum
mandos.
Arzt: Er machte sich nie Notizen,
konnte sich alles merken, lange Listen mit Worten, Namen, Zahlen
auswendig hersagen, vorwärts,
rückwärts, auch Nonsens-Silben.
Der russische Neuropsychologe
Alexander Luria hat den Fall beschrieben; der Reporter wechselte
schließlich den Beruf und ging ins
Showbusiness, als Gedächtniskünstler.
Ohnehin ist das Gedächtnis, so
Schacter, „prinzipiell die Grundlage
aller Kunst“, jedes Kunstwerk lebe
„direkt oder indirekt von der persönlichen Erfahrung des Künstlers“. Biografin Leaming, Monroe (1954): Untergang durch Selbstüberlistung?
Ein Künstler muss sein eigener Archäologe werden. So begab sich Marcel
stellen wolle, aber jedes Mal machte sie
Stattdessen liefert Film-Expertin LeaProust auf die „Suche nach der verloreausgerechnet dann Nacktaufnahmen
ming (Veröffentlichungen über Rita
nen Zeit“, und die stieg ihm, berühmtes
oder trat nahezu unbekleidet öffentlich
Hayworth, Katherine Hepburn, Orson
Beispiel, in die Nase, als er „petites maauf, wenn ihre Chefs gerade dabei waren,
Welles) die penible Bestandsaufnahme
deleines“, ein Gebäck, in Tee tunkte.
ihrem Anliegen entgegenzukommen.
eines Berufs- und Liebeslebens. Sie hat
Als „kapriziöses und launiges Wesen“
Gleicher Mechanismus auch in der Liebe:
Akten von der Twentieth Century-Fox,
empfand der alte Arthur Schopenhauer
Monroes wichtigstem Arbeitgeber, durch- Monroe wünschte sich ein Zuhause, eine
das Gedächtnis, „einem jungen MädFamilie und Kinder, doch immer wenn
gearbeitet, gibt akribisch Gespräche
chen zu vergleichen“: Bisweilen nämgeeignete Kerle auftauchten, der Baseunter Studiobossen wieder und wertet
lich verweigere es ganz unerwartet,
ball-Spieler Joe DiMaggio etwa oder der
unbekannte Drehberichte aus.
was es hundertmal geliefert habe, und
Schriftsteller Arthur Miller, schlug sie sie
Abenteuerlich, wie sich zwischen Studio
„bringt es dann später, wenn man nicht
nach allen Regeln der Kunst in die
und Star Missverständnis an Missvermehr daran denkt, ganz von selbst entFlucht.
ständnis, Drama an Drama reihte. Ungegen“. Für Überraschung bleibt also
entwegt beharrte Monroe darauf, dass sie War die Monroe also selbst die größte
gesorgt.
Schurkin in ihrem Leben? Es dürfte die
nicht nur das sexwütige Dummchen darFritz Rumler
D. PARKER
LIAISON / GAMMA / STUDIO X
Marilyn
pur
Barbara Leaming:
Marilyn Monroe.
Die Biographie jenseits des Mythos
Herbig Verlag,
München;
480 Seiten; 58 Mark.
Daniel L. Schacter:
Wir sind Erinnerung.
Gedächtnis und
Persönlichkeit
Deutsch von Hainer Kober.
Rowohlt Verlag, Reinbek;
656 Seiten; 49,80 Mark.
288
d e r
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4 1 / 1 9 9 9
Alan Sokal, Jean Bricmont:
Eleganter Unsinn. Wie die
Denker der Postmoderne die
Wissenschaften mißbrauchen
Deutsch von Johannes Schwab
und Dietmar Zimmer.
Verlag C. H. Beck, München;
352 Seiten; 39,80 Mark.
gewitzteste aller bisherigen Verschwörungstheorien sein: Untergang durch
Selbstüberlistung.
Leaming hat solide recherchiert, voll protokollarischen Eifers; manchmal schreibt
sie etwas spröde. Aber bei einem so oft
be- und verurteilten Leben lohnt es allemal, pure Fakten sprechen zu lassen:
Manche mögen’s leis.
Susanne Beyer
Gewitzte
Aufklärung
Zwei Physiker entlarven die intellektuelle
Hochstapelei vermeintlicher Meisterdenker
Wer behauptet, dass die äußere Welt unabhängig vom Individuum existiert und
verlässlichen physikalischen Gesetzen gehorcht, hängt einem längst überholten
Dogma an. Die postmodernen Wissenschaften haben derlei naive Überzeugungen umfassend widerlegt. Sie haben
gezeigt, dass die so genannte physische
Realität nichts als ein soziales und sprachliches Konstrukt ist, das Herrschaftsinteressen verbirgt und keine objektive
Bedeutung beanspruchen kann.
Fanfarengleich begann mit diesen Thesen
ein Beitrag des New Yorker Physik-Professors Alan Sokal, den die angesehene
amerikanische Kulturzeitschrift „Social
Text“ vor gut drei Jahren veröffentlichte.
Schon der Titel schien einen fulminanten
geistigen Gipfelsturm zu verheißen, indem er komplizierte Begriffe aus den
Natur- und Geisteswissenschaften wie
selbstverständlich verband: „Die Grenzen überschreiten: Auf dem Weg zu einer transformativen Hermeneutik der
Quantengravitation“. Einschüchternde
Universalkompetenz suggerierte ein
Fußnotenapparat, der an die 200 Kronzeugen anführte, von Albert Einstein
Autoren Sokal, Bricmont
FOLEY / OPALE
Parodie löste Wissenschaftskrieg aus
d e r
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4 1 / 1 9 9 9
nen Diskursen den Anstrich der
Exaktheit zu geben“.
Als Vorbild nennen die Autoren
das Kind in Andersens Märchen
„Des Kaisers neue Kleider“, das
unbefangen die Nacktheit des
Herrschers ausspricht.
Die Klarheit der Autoren verbindet sich auch mit subversivem Humor – seit jeher eine
der wirkungsvollsten Waffen
der Aufklärung. So zitieren sie
Passagen des für seine Unverständlichkeit berühmten Psychoanalytikers Jacques Lacan.
Allen Ernstes identifiziert der
das „erektionsfähige Organ“
mit dem mathematischen Symbol 앀옽-1. Sokal/Bricmont kommentieren: „Wir gestehen, dass
es uns bedrückt, wenn unser
Märchenillustration: Herrscher des Denkens entblößt erektionsfähiges Organ mit 앀옽
-1
gleichgesetzt wird. Dies erinnert
von unbegriffenen naturwissenschaftliuns an Woody Allen, der sich in ‚Der
chen Konzepten auf soziale ZusammenSchläfer‘ gegen die Umprogrammierung
hänge: „Intellektuelle Hochstapelei“ beseines Gehirns wehrt: ,Sie dürfen mein
trieben die, die „das Prestige der NaturGehirn nicht anrühren, das ist mein
wissenschaften benutzen, um ihren eigezweitliebstes Organ!‘“
Rainer Traub
AKG / KUNSTSAMMLUNG GERA
über Jacques Derrida und Niels Bohr bis
Paul Virilio.
Gleich nach der Veröffentlichung freilich
enthüllte der Autor selbst, dass er der
internationalen Kultgemeinde der so genannten Postmoderne eine Parodie untergejubelt hatte: eine listige Mischung
aus humanwissenschaftlichen Floskeln
und naturwissenschaftlichen Begriffen,
reinen Absurditäten und sachlichen Fehlern, Halbwahrheiten, Nullsätzen und
höherem Blödsinn. Die Parodie traf ins
Schwarze. Sie löste eine Art Wissenschaftskrieg aus, in dessen Verlauf Sokal
zusammen mit seinem belgischen Kollegen Jean Bricmont das jetzt auf Deutsch
vorliegende Buch schrieb; ein Anhang präsentiert den Text, der den
Streit auslöste.
Sokal und Bricmont verteidigen die rationale Tradition der Aufklärung gegen den
Irrationalismus und Relativismus der
Postmoderne. Sie wenden sich gegen die
„Zurschaustellung von Halbbildung“; viele Texte postmoderner Gurus erschienen
schwierig „einzig und allein deshalb, weil
sie absolut nichts aussagen“. Bestenfalls
sinnlos ist, so zeigen sie, die Anwendung
Sachbücher-Tipps
Martin Burckhardt: „Vom
Geist der Maschine“.
Campus Verlag,
Frankfurt am Main;
412 Seiten; 68 Mark.
Eine „Geschichte kultureller Umbrüche“ im menschlichen Selbstbild. Der
Groß-Essay animiert –
anders als Sloterdijks
Wortblasen – zum
Weiterdenken.
290
Jörg Lau: „Hans Magnus
Enzensberger“. Alexander
Fest Verlag, Berlin;
400 Seiten; 39,80 Mark.
Fast fünf Jahrzehnte als
literarischer Intellektueller:
das Lebensbild eines
widersprüchlichen Zeitgenossen, der stets auf
der Höhe und dennoch seinen Interessen treu blieb.
Benita Eisler: „Byron –
Der Held im Kostüm“.
Blessing Verlag,
München;
864 Seiten; 68 Mark.
Draufgängerei, betörende
Lyrik und Sex in fast jeder
Spielart (wenn’s denn
stimmt): Goethe hat den
Dichter-Lord sogar im
„Faust“ verewigt.
Hans-Joachim Gehrke:
„Kleine Geschichte der
Antike“. C. H. Beck
Verlag, München;
244 Seiten; 38 Mark.
Wie tyrannisch waren griechische Tyrannen? Warum
musste Cäsar sterben?
Forschungsfakten, schnörkellos erzählt, dazu sachkundig und reichhaltig
bebildert.
Tadeusz A. Zieliński:
„Chopin“.
Gustav Lübbe Verlag,
Bergisch Gladbach;
912 Seiten; 78 Mark.
Ein minutiöses Porträt vom
Landsmann zum Lesen
und Nachschlagen;
Biografie und Musikführer
in einem.
Christopher Badcock:
„Psychodarwinismus“.
Hanser Verlag, München;
320 Seiten; 49,80 Mark.
Freud scheint passé. Und
doch könnte er mit seinen
Theorien Recht gehabt
haben. Der britische Soziologe will das mit Evolutionstrends bestätigen.
d e r
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Monika Faber: „Anton
Josef Tr‡ka“. Brandstätter
Verlag, Wien;
128 Seiten; 68 Mark.
Seine Porträts von Wiener
Jugendstil-Größen wie
Klimt und Schiele sind kongenial; außerdem war der
rätselhafte Fotograf selbst
Maler. Eine Entdeckung.
Daniel Arasse:
„Leonardo da Vinci“.
DuMont Verlag, Köln;
546 Seiten; 168 Mark.
Auf jüngstem Wissensstand „erfindet“ dieser
Kunstgeschichts-Essay
Leonardo neu – als Genie
in ständiger Wandlung.
Der Band ist üppig und
nobel illustriert.
Robert Maschka:
„Wagners Ring“.
Piper Verlag, München;
128 Seiten; 14,90 Mark.
Handlung, Hintergründe
und Wirkung des wohl
vertracktesten MythenGebräus der Opernwelt
sind kaum zu überschauen. Der Musikfachmann
schafft es: knapp, kundig,
pointiert.
Werbeseite
Werbeseite
MESSE-NAVIGATOR
Messegelände Frankfurt
Die wichtigsten
Orte und Termine
Mit frischem Lorbeer aus Stockholm bekränzt, wird er – ob er will oder nicht –
unwillkürlich werben für die hohen Aufgaben der Dichter und Denker auf diesem Planeten. Denn niemand nimmt den
Mund selbstsicherer voll für die Sache
der schönen Literatur als der Trommler
aus Behlendorf mit seinem sonoren Bariton, dessen Literatur nicht schön sein
will, sondern lieber schief, und der
schnörkelfrei Widersprüche benennt, Widerwärtiges nicht meidet und mit harter
Pranke auf den moralischen Busch
klopft. Doch – ewiger Clinch von Geist
und Geld – die Präsenz wortmächtiger
Intellektueller in den Medien deckt sich
nicht immer mit ihrer Bedeutung für die
Bilanzen der Buchkonzerne.
Denn nicht Grass und die Seinen sorgen
hauptsächlich für den – von Experten auf
bis zu zwei Prozent geschätzten – Zuwachs im Handel. Das Plus kommt nicht
von Romanen, Lyrikbändchen oder Erzählungen, die Profitbringer der Branche
waren zuletzt Fachzeitschriften: Vierteljahres-Organe, Almanache und Expertenpostillen für Genforscher, Literaturwissenschaftler oder Raumsondenbastler.
Unspektakulär, präzise und seriös bescherten die grauen Blätter dem Handel
in den vergangenen Jahren einen bescheidenen Wachstumsschub, die schöne
Literatur lahmt hinterher.
Schon das blanke Zahlenmaterial spricht
Bände. Im Vergleich zum Vorjahr werden
dieses Mal in Frankfurt auf der Buchmesse mal wieder mehr Einzeltitel ausgestellt
als je zuvor: 385 000 statt 365 517 im Jahr
1998. Gleichzeitig aber geht die Zahl der
Einzelaussteller leicht, aber stetig zurück:
von 6 793 im Vorjahr auf jetzt rund 6 600.
Die Konzentrationsbewegung in einer
schwierigen Branche setzt sich also fort.
Andere Länder sind dabei schon weiter
als Deutschland. Ungarn zum Beispiel –
Gastland der diesjährigen Messe.
292
-Allee
Hauptgüterbahnhof
Dort teilen sich nur sechs Verlage 60 Prozent des gesamten Marktes. Doch die
verdienen ihre Forints lange nicht mehr
mit Schöngeistigem – erstaunlich für das
einst sozialistische Land mit der vielfach
gerühmten „Lesekultur“. Belletristik
bringt es auf nur noch drei Prozent vom
Gesamtumsatz der Branche. In der Bundesrepublik Deutschland wurden 1997
immerhin noch elf Umsatz-Prozent fürs
Schöngeistige veranschlagt.
Weiter trommeln, Günter Grass!
Messegelände
er
inz
Ma
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Lan
Hauptbahnhof
in
Ma
Eingang
Galleria
Galleria
9.2
9.1
9.T
51. BUCHMESSE FRANKFURT
Dauer: Mittwoch, 13. bis Montag, 18. Oktober
Publikumsverkehr: Samstag und Sonntag,
9.00 – 18.30 Uhr
Eintrittspreis: 12 Mark (Sa./So.)
Einzelaussteller: ca. 6600 Verlage
Nationalausstellungen: 86
Ausstellungen
Termine am Wochenende
9.00 – 18.30 Uhr; Halle 3.0: „Das Ungarnbild in der deutschen Literatur“
9.00 – 18.30 Uhr; Halle 3.1 (C 561):
„Die schönsten deutschen Bücher 1998“
10.00 – 13.00 Uhr; Stadtbücherei Frankfurt (Zeil 17 – 23): „Buchmesse 1999 –
Schwerpunktthema Ungarn“
10.00 – 17.00 Uhr; Deutsche Bibliothek
(Adickesallee 1): „100 Jahre Inselverlag
1899 – 1999“
Samstag, 16.00 Uhr (Eröffnung);
Büchergilde (Großer Hirschgraben 20 – 26):
„Günter Grass – Originalgrafik“,
in Anwesenheit des
Künstlers
Samstag, 20.00 Uhr
(Eröffnung); Metall
Galerie, IG-Metall
(Lyoner Strasse 32):
„Günter Grass –
Aquarelle ‚Mein
Jahrhundert‘“
Günter Grass
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9.0
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FREITAG, 15.10.
19.30 Uhr; Stadtbücherei Frankfurt
(Zeil 17 – 23): „Portugiesische Schriftsteller in
Frankfurt“, Lesung (zweisprachig) mit Mário de
Carvalho, Teolinda Gersão, Rui Zink u.a.
20.00 Uhr; Sendesaal des Hessischen
Rundfunks (Bertramstraße 8): „Lange Büchernacht“, Gespräche mit Péter Esterházy, György
Dalos, Péter Nádas, Imre Kertész, Lásló Krasznahorkai u.a.
20.00 Uhr; Römerhalle
(Römerberg 23):
„Literatur im Römer“,
Lesungen und Gespräche
mit Robert Gernhardt,
Hans Joachim Schädlich, Birgit Vanderbeke
u.a.
20.30 Uhr; Romanfabrik
(Hanauer Landstraße
186): Lesung mit Bret
Bret Easton Ellis
Easton Ellis
(„Glamorama“)
21.00 Uhr; Künstlerhaus Mousonturm (Waldschmidtstraße 4): „Literaturnacht – Budapester
Szenen“, szenische Lesungen mit jungen ungarischen Autoren
PICTURE PRESS
Stagnation auf hohem Niveau
– die 51. Buchmesse
F R A N K F U R T
r-Heuss
M. FRÜHLING
Trommeln!
Theodo
Congress Center
7.0
ShuttleBus
6.3
5.1
Eingang
Torhaus
Service-Center
(S-Bahn-Station
„Messe“)
Eingang
City
Festhalle
6.2
5.0
6.1
2.0
Lesezelt
1.1
1.0
6.0
8.0
5.1
Literatur/
6.0 Sachbuch
6.1
3.0
4.1
Pressezentrum,
Literaturagenturen
Gastland
Ungarn
3.1
4.2
4.0
10.1
10.0
5.0 Sachbuch
8.0
9.0 Internationale
9.1 Verlage
9.2
Forum Management
6.3 für Sortiment und
Verlag
6.2 Kinder- und
Jugendbuch
4.1 Literatur/
9.2 Bücherei Forum
6.2 Religion
3.1 Bildkunst
3.0 Gastland Ungarn
5.0 Touristik
4.0 Elektronische
Kunstbuch
4.2 Wissenschaft
Technik
Medien
10.00 Uhr; Halle 3.0 (Café Pest-Buda):
„Ungarische Literatur unbegrenzt –
Wojvodina“, Gespräche mit Gyözö
Bordás, Ottó Tolnai u.a.
10.00 bis 18.00 Uhr; Halle 6.1 (A 104):
Klaus Teuber, Deutschlands erfolgreichster Spieleautor („Die Siedler von
Catalan“) präsentiert seine Spiele
11.00 Uhr; Halle 6.1 (E 131): Lesung mit György
Dalos
11.00 Uhr; Halle 6.0 (A 107/110): Franz Alt diskutiert und signiert
11.00 Uhr; Messegelände (vor der Halle 3): Die
Budapest Tanzgruppe lässt die Bücher vergessen
13.00 Uhr; Halle 4.1
(D 115): Geburtstagsempfang für den Nobelpreisträger Günter Grass (siehe auch Ausstellungen)
14.00 Uhr; Halle 9.1
(D 901): „Live & in Farbe“,
Radiogespräch mit Imre
Kertész, Marlene Streeruwitz und Peter Gay
11.00 Uhr; Paulskirche (nur auf Einladung):
Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Fritz Stern
15.00 Uhr; Halle 9.1 (D 901): „Nach dem
Ende – Friedenslesung für den Balkan“, mit
Ivan Lovrenovic, Ali Podrimja u.a. (Diskussionsleitung Freimut Duve)
17.00 Uhr; Deutsche Bibliothek (Adickesallee 1): Lesung von Cees Nooteboom
(Einführung Siegfried Unseld)
19.00 Uhr; Union International Club
(Am Leonhardsbrunn 12): Lesung von
Péter Esterházy
Marlene Streeruwitz
M. WITT
Mahmud Doulatabadi
15.00 Uhr; Halle 9.1 (D 901): „Iran: Die Ästhetik des Widerstands“, Diskussion mit Mahmud
Doulatabadi u.a.
15.00 Uhr; Halle 6.0 (A 107/110): Signierstunde mit Rafael Seligmann
15.00/16.30 Uhr; Halle 6.1 (A 104): Ephraim
Kishon im Gespräch mit Jörg Kachelmann
und Klaus Teuber
16.00 Uhr; Halle 6.1 (D 126): „Kreuzverhör“, der Krimiautor Peter Zeindler
sagt aus
20.30 Uhr; Romanfabrik (Hanauer Landstraße 186): Lesung mit Sibylle Berg,
Silvia Szymanski u.a.
22.00 Uhr; Kino „Orfeos Erben“ (Hamburger Allee 45): „Der Vulkan“, Preview
der Verfilmung von Klaus Manns gleichnamigem Roman (Regie: Ottokar Runze)
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AC T I O N P R E S S
N . S C H M I D - B U R G K / P H OTO S E L E C T I O N
György Dalos
S T I L LS /S T U D I O X
SONNTAG, 17.10.
B. FRIEDRICH
SAMSTAG, 16.10.
Sibylle Berg
Cees Nooteboom
293
DICHTER
Marmoriert wie das Leben
Der Schauspieler Manfred
Krug kann auch anders: In einem Bilder-Buch stellt er sich
jetzt als Dichter vor.
W
er fährt da „durch den arschkalten Novemberpark von
Windsor in der Königskutsch
mit den Knien ganz nah an
den Knien der Kwien“? Es ist der Herzog,
als er noch Bundespräsident war, neben
ihm seine Frau, und „die heißt meinetwegen Mukobrutz“.
Und: Wie hätte Herzogs Pendant
Jacques Chirac geheißen, „wenn die Eltern
Deutsche gewesen wären“? Klar doch:
„Jens Gespens oder Lutz Verputz“. Ja:
„Faques Chirac“!
So verzinkt Respektloses findet sich in
den wohl rhythmisierten Texten von Manfred Krug, dem TV-Kommissar und Telekom-Promoter, die diese Woche in Buchform erscheinen.
Bei Roman Herzog „haben mich auch
die unentwegten Staatsbesuche und die
TV-Kochlektionen seiner Gattin inspiriert“,
sagt Krug. „Beim Franzosen-Chef war es
die kalte Wut“, als der seine Atombombenversuche im Südpazifik veranstaltete.
Dass der Schauspieler schreiben kann,
hat er mit seinem Bestseller „Abgehauen“
(1996) so gut unter Beweis gestellt, dass
damals nicht wenige (fälschlich) annahmen,
sein Freund, der Schriftsteller Jurek
Becker, sei der wahre Autor gewesen. Über
ihn, der 1997 verstarb, schreibt er hier: „der
fehlendste aller Menschen mir“.
Krug, ein exzellenter Musiker, hat, das
zeigen auch diese Gedichte, einen eigenen,
unverwechselbaren Wort-Sound – mal synkopisch, mal so glatt, dass es sich auf platt
reimt. Oft sind es collagenartige Rollentexte, angeregt von Zapper-Früchten aus
dem Fernseh-Allerlei. Morgenstern,
Schwitters und Ernst Jandl grüßen „laut
und luise“ von fern.
Viele der Gedichte lesen sich, als habe er
sie sich mundgerecht gefeilt. Ein Eindruck,
der sich verstärkt, wenn er sie selbst vorträgt. Viele kreisen um die Liebe. Da wird’s
schnoddrig und machistisch, auch ganz
sanft, marmoriert eben wie das Leben.
Das Personal, dessen er sich annimmt,
rekrutiert sich nur ausnahmsweise aus Präsidenten, meist stammt es aus dem Parterre der Gesellschaft. So etwa sein Onkel
Erich, der „fümm’vierzich / sexnvierzich“
seinem kleinen Neffen in Duisburg Kriegsgeschichten erzählt. Oder ein armer StasiTropf, ein durchgeknallter Drehbuchschreiber oder ein vereinsamter Voyeur,
der sein Ding träumt: „Ich kann dich anknipsen und ausknipsen.“
Er selbst sieht tiefstapelnd seine verdichteten Stücke, von denen hier eine kleine
Auswahl zum ersten Mal vorgestellt wird,
als „Blähbeulen im Kopf“ oder „Gedichte
in Anführungszeichen“. Der Maler Moritz
Götze aus Halle sei schuld daran, so Krug,
dass er seine Schublade geleert habe.Wenn
dem so ist, sei er bedankt, wie sowieso für
seine Buntstiftzeichnungen, die Krugs Texte adäquat bebildern.
Rolf Rietzler
Vier Gedichte von Manfred Krug
Wenn ich falle, kleine Frau,
fall ich auf die Knie.
Ach, ich kenne dich genau,
du wohnst drunt in der
Wachau
und heißt Melanie.
Manfred Krug:
66 Gedichte,
was soll das?
Bilder von Moritz Götze;
mit einer CD, gesprochen von Manfred Krug.
Econ Verlag, München;
160 Seiten; 48 Mark.
Flugratten
in den Kopf rein.
Zum einen Ohr rein,
zum andern nicht raus.
Für immer
nicht.
Ich kann dich anknipsen wie eine Birne.
Und ausknipsen.
Du bist mir bequem,
ich erschaffe dich selbst.
Aus dem Nichts.
Ich brauche dich nicht.
Wärst du denn leidenschaftlich?
Wärst du verludert und geistreich?
Brauchst du einen?
Bist du bereit zur Sünde?
Sehnst du dich nach ihr?
Liest du meine Briefe,
in Angst und Gier geschrieben?
Hast du dir schon ans Herz gegriffen
oder zwischen die Haxen?
Wenn ich will,
greifst du dir hin.
An kann ich dich knipsen wie Licht.
Und aus.
Ich stelle mir vor, du leuchtest.
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Pilotfilm:
Schwanzroboter
jagt Formel für
Reißverschluß für
V-2-A-Tanga für
Telefonmuschimaus, was
unter Brücke steht,
auf Hirnroboter
wartet.
2. Folge
Hirnroboter
in kugelsicherem
Auto zündet fern
Deinämeit im Pfeiler
der Brücke,
über die er selbst soeben.
Wahnsinn.
Straßenfeger.
Werbeseite
Werbeseite
FRIEDENSPREIS
„Die Vereinigung
erfordert Takt“
Historiker Fritz Stern über seine Begegnung mit
Einstein, über den Widerstand gegen NS- und DDR-Diktatur
und über die Trivialisierung des Holocaust
K. BOSSE
Fritz Stern ist einer der bedeutendsten Historiker der
jüngeren deutschen und europäischen Geschichte. Geboren 1926 in Breslau, war er zwölf Jahre alt, als er vor
den Nazis mit seiner Familie in die USA floh. Beiderseits des Atlantiks wurde der US-Bürger vor allem
mit seinem Hauptwerk „Gold und Eisen“ bekannt, einer bahnbrechenden Doppelbiografie über Bismarck
und dessen jüdischen Bankier Bleichröder. Vor der
deutschen Vereinigung entschärfte Deutschlandkenner
Stern als historischer Berater Margaret Thatchers die
britischen Bedenken gegenüber einem neuen Großdeutschland. Am Sonntag dieser Woche erhält Fritz
Stern den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.
Die diesjährige Wahl des Börsenvereins wurde vielfach verstanden als „nachträglicher Kommentar“
(„Tageszeitung“) und „Akt der Wiedergutmachung“
(„Süddeutsche Zeitung“) nach der umstrittenen Rede
des Vorjahres-Preisträgers Martin Walser.
SPIEGEL: Herr Professor Stern, Ihre Vertreibung aus Deutschland liegt 61 Jahre zurück, seit mehr als 50 Jahren sind Sie
amerikanischer Staatsbürger. Und doch
haben Sie auf die Frage, was Ihnen zum
Wort „Heimat“ einfalle, einmal geantwortet: „Heimatlos“.
Stern: Das war ganz spontan gesagt. Wahrscheinlich meinte ich damit, dass ich mich
im Sinne des deutschen Wortes Heimat
eher heimatlos fühle. Wenn ich aber auf
ULLSTEIN BILDERDIENST
Das Gespräch führte Redakteur Rainer Traub.
Englisch Auskunft geben sollte, würde ich
sagen: Hier in Amerika bin ich zu Hause,
„I feel at home“. Das ist ein Unterschied.
SPIEGEL: Der Titel Ihres jüngsten, gerade
in den USA erschienenen Buches lautet
„Einstein’s German World“. Haben Sie
selbst Einstein noch kennen gelernt?
Stern: Ja, das muss 1944 gewesen sein. Ich
begleitete meine Mutter zu ihm nach
Princeton, wo sie ihn um ein Urteil über
ihre Erfindung bat, wie man Kindern Arithmetik beibringen konnte. Einstein ging damals auch auf mich zu und fragte nach
Hitler-Konvoi in Breslau (1936): Das feine Schweigen vor dem Grauen
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Werbeseite
Werbeseite
meinen Berufsplänen. Ich schwankte, ob
ich Arzt werden wollte wie mein Vater,
zwei Großväter und vier Urgroßväter –
oder ob mir Geschichte und Literatur noch
mehr im Blut lägen als dieses Erbe.
SPIEGEL: Wozu riet er Ihnen?
Stern: Er sagte: „Medizin ist eine Wissenschaft, Geschichte nicht. Also musst du Medizin studieren.“ Das habe ich natürlich
doch nicht getan, und als ich dann anfing,
als Historiker über Einstein zu schreiben,
haben einige Witzbolde gesagt, das sei meine Rache an Einstein.
SPIEGEL: Wurden Sie jüdisch erzogen?
nem Vater das Extrablatt mit der Schlagzeile: „Hitler zum Reichskanzler ernannt“.
Ich wusste genau: Das ist schlimm. Ich erinnere mich auch an gefolterte Patienten
und Freunde meines Vaters.
SPIEGEL: Stand er einer politischen Partei
nahe?
Stern: Er hatte sich 1914 als Kriegsfreiwilliger gemeldet und wurde mit zwei Eisernen Kreuzen dekoriert, aber nach der
Erfahrung des Ersten Weltkriegs war er Pazifist und Republikaner. Übrigens bewahre ich einen handschriftlichen Brief auf,
den mein Vater nach Hitlers Machtergrei-
die Weimarer Republik keineswegs als
nationale „Schmach“ empfunden, sondern
sympathisierte – was den deutschnationalen Hauptmann bestimmt schockiert hätte
– ausgerechnet mit den Sozialisten.
SPIEGEL: Und war den Nazis wohl auch deshalb verhasst?
Stern: Als Historiker kann ich nicht oft genug betonen, dass die ersten Opfer des Regimes Sozialisten und Kommunisten waren. Wenn sie außerdem noch Juden waren
– umso schlimmer. Ein Freund und Patient
meines Vaters war Ernst Eckstein, der Führer der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP)
Stern: Nein. Meine Eltern waren schon bei
ihrer Geburt getauft. Ich selbst auch, und
meine Schwester wurde noch 1935 in Breslau von einem Pastor der Bekennenden
Kirche konfirmiert. Wir sind mit allen
christlichen Gebräuchen aufgewachsen.
Aber dann wurden wir durch die Rassengesetze zu Nichtariern gestempelt. Und
wer als Jude verfolgt wird, der ist in einem
gewissen Sinn zweifellos Jude. So habe ich
mich auch aufgefasst.
SPIEGEL: Haben Sie die Machtergreifung
der Nazis als Kind bewusst erlebt?
Stern: O ja. Ich kam am 30. Januar 1933 von
der Schule nach Hause und brachte mei-
fung 1933 von seinem ehemaligen Hauptmann bekam. Darin steht der Satz: „Wenn
alle so treu und tapfer gekämpft hätten
wie der Leutnant der Reserve Stern, dann
wäre uns die Schmach der letzten 14 Jahre erspart geblieben.“ Das wurde bei uns
zu Hause zum geflügelten Wort, denn in
dieser kleinen Geschichte verknoten sich
die Widersprüche der großen Geschichte
auf ironische und paradoxe Weise: Einerseits meinte es der einstige Vorgesetzte offensichtlich gut mit meinem Vater, den die
neuen Herren gerade als „Nichtarier“ stigmatisierten. Andererseits war mein Vater
längst Demokrat geworden. Er hatte darum
in Breslau, ein Jude. Er wurde als Erster
verhaftet und nach wenigen Tagen tot in
seiner Zelle gefunden. Zur SAP gehörte bekanntlich auch der junge Willy Brandt. Später, da war er schon Kanzler geworden, fragte ich ihn einmal nach seinem erschlagenen
Parteifreund. Er erinnerte sich genau an
Eckstein, der wohl eine herausragende Rolle in der SAP gespielt hatte. Ein anderer
Patient meines Vaters war Hermann Lüdemann, seinerzeit Oberpräsident von Niederschlesien, der auf dem Weg ins Konzentrationslager auf einem Karren durch die
Stadt geschleppt wurde. Er kam wieder frei,
gehörte zu den Widerständlern des 20. Juli
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1944, überlebte das KZ mit viel Glück ein
zweites Mal und war nach dem Krieg Ministerpräsident von Schleswig-Holstein. Ich
habe ihn 1954 wieder gesehen, als ich während eines Forschungsaufenthalts in Berlin
die Feier zum zehnten Jahrestag des misslungenen Hitler-Attentats beobachtete, bei
der er als Redner auftrat. Kanzler Adenauer, Präsident Heuss und andere Gründerväter der Bundesrepublik waren dabei.
SPIEGEL: Was haben Sie da empfunden?
Stern: Das Miterleben dieser Feier hat etwas in meinem Leben geändert. Es war tief
bewegend, in die Gesichter der Witwen
Leben. Er konnte – wenn auch auf sozialistisch-ruppige Art – die schöne Wohnung
meiner Großmutter genießen. Denn er hatte erleben müssen und überleben können,
was uns erspart geblieben ist – und was
wir wahrscheinlich nicht überlebt hätten.
SPIEGEL: Ihre gerade im Beck-Verlag auf
Deutsch erschienene Essay-Sammlung
heißt „Das feine Schweigen“. Im Titelstück
des Bandes beziehen Sie, ohne Martin
Walser zu erwähnen, eine Gegenposition
zur Rede des Friedenspreisträgers vom vergangenen Jahr, die vielfach als Plädoyer
für einen Schlussstrich unter die Nazi-Ver-
und der Kinder von Deutschen zu sehen,
die ihr Leben gegen Hitler riskiert hatten
und gescheitert waren.
SPIEGEL: Haben Sie Ihre Heimatstadt Breslau je wieder besucht?
Stern: Ja, vor Jahren. In der ehemaligen
Villa meiner Großmutter wohnte ein älterer Herr, ein polnischer Ex-Offizier, mit
dem ich mich französisch verständigen
konnte. Er hatte Auschwitz überlebt, im
Wohnzimmer hingen Kinderzeichnungen
aus diesem Lager, er zeigte mir seine
eintätowierte Häftlingsnummer. Auch diese Erfahrung hat mich bewegt, weil ich das
Gefühl hatte: Irgendetwas stimmt doch im
gangenheit gedeutet wurde und sehr umstritten war.
Stern: Zunächst einmal geht der Ausdruck
„das feine Schweigen“ auf Friedrich Nietzsche zurück, der ihn ironisch auf Goethes
Attitüde gegenüber dem deutschen Charakter gemünzt hat. Mein Münchner Vortrag unter diesem Titel hatte nichts mit
Walser zu tun. Sein Anlass war der 60. Jahrestag der Reichspogromnacht von 1938.
Ich habe nur versucht zu zeigen, dass das
„feine Schweigen“ in der deutschen Geschichte oft belastend gewirkt hat.
SPIEGEL: Aber als Historiker haben Sie
doch eine Haltung zur Walser-Debatte?
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Stern: Ich habe die heftige Diskussion,
die da entbrannt ist, mit Interesse verfolgt, weil sie zweifellos ein kulturell-politisches Ereignis war. Mehr können Sie
im Augenblick dazu von mir nicht erwarten.
SPIEGEL: Sowohl die Tagebücher von Victor
Klemperer als auch die Autobiografie von
Marcel Reich-Ranicki sind deutsche Bestseller geworden. Wie erklären Sie sich das
starke Interesse, welches das Publikum gerade in jüngster Zeit solchen Erinnerungen von jüdischen Überlebenden des Holocaust entgegenbringt?
Stern: Ich glaube, dass sich viele auf das be-
sinnen, was Deutschland verloren ging.
Und natürlich beeindruckt und bewegt die
Erinnerung an das Menschliche in einer
unmenschlichen Zeit.
SPIEGEL: Im Sog des weltweiten Filmerfolgs
von „Schindlers Liste“ entstehen auch in
Deutschland immer mehr Spielfilme über
den Holocaust. Die Verbindung von Entertainment und geschichtlichem Grauen ist
nicht mehr tabu. Stört Sie das?
Stern: Zunächst gehöre ich zu den wenigen,
die „Schindlers Liste“ sehr kritisch gegenüberstehen.
SPIEGEL: Warum?
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ARCHIVE PHOTOS
Stern: Weil er zwar den Zuschauern ein
Stück des Grauens eindrucksvoll vermittelt. Aber die Leute gehen aus dem Kino,
ohne in irgendeiner Weise über den historischen Zusammenhang belehrt zu sein. Es
gibt so etwas wie die Trivialisierung des
Holocaust, und die meisten Produkte dieser Art fördern das historische Verständnis
nicht. Das Grauen soll nicht ausgenutzt
werden.
Einstein mit Studenten in Princeton (1946)
SPIEGEL: Zwei Jahre vor dem Fall der Mauer haben Sie aus Anlass des 17. Juni 1953
vor dem Bundestag geredet und dabei emigrierte Dichter und Denker wie Heinrich
Heine und Karl Marx als Wortführer beim
Kampf um Menschenwürde in der deutschen Geschichte gewürdigt. Nun sind die
Intellektuellen in Ost und West in den letzten Jahren sehr kleinlaut geworden …
Stern: … das ist auch ein Verlust und vielleicht eine Reaktion auf die Tatsache, dass
zu viele Intellektuelle den beiden großen
Versuchungen unseres Jahrhunderts, dem
Nationalsozialismus und dem Kommunismus, erlegen sind. Auf der anderen Seite
muss aber gerade der Historiker an den
großen Beitrag erinnern, den Literaten und
Intellektuelle zur Unterminierung des
Kommunismus geleistet haben.
SPIEGEL: Die Anhänger der so genannten
Postmoderne erklären nicht nur das klassische Modell des Intellektuellen, sondern
das gesamte Wahrheitsideal der Aufklärung für erledigt.
Stern: In meinem Fach, der Geschichte, bezweifeln die Vertreter der „Postmoderne“
sogar die Möglichkeit des Versuchs, objektiv zu sein. Diese Denkmode finde ich sehr
gefährlich. Der Historiker versucht zu erforschen, wie es einmal gewesen ist – im
Bewusstsein, dass wir es nie genau treffen
können, weil es eine andere Welt war. Aber
wir können uns zumindest an diese Welt
annähern. Wenn das nicht einmal mehr
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als Ziel angestrebt wird, verlieren wir ein
Stück Wissenschaft, ein Stück Erziehung,
ein Stück Wahrheit.
SPIEGEL: Was ist Ihre Bilanz der deutschen
Einheit zehn Jahre nach dem Mauerfall?
Stern: Ich war und bin voller Bewunderung sowohl für die Anführer der ostdeutschen Bürgerrechtsbewegung wie für die
hunderttausende Bürger der DDR, die in
Leipzig und anderswo auf die Straße gegangen sind. Dieses Beispiel einer erfolgreichen Revolution ist ein Novum der deutschen Geschichte, das meines Erachtens in
der alten Bundesrepublik nicht ausreichend anerkannt worden ist. Man vergisst
auch leicht, dass die geglückte Revolution
von 1989 eine Vorgeschichte hatte. Es gab
ja schon in früheren Jahren Elemente und
Ansätze einer Opposition in der DDR, für
die ich mich damals – oft zum Befremden
westdeutscher Freunde – interessiert habe.
SPIEGEL: Der Liberalismus, haben Sie geschrieben, sei im Idealfall nichts anderes als
„die Institutionalisierung des Anstands“.
Warum spielen Begriffe wie Takt und Einfühlungsvermögen in Ihren Schriften eine
so auffallende Rolle?
Stern: Weil das Psychisch-Kulturelle in der
Geschichte so wichtig ist. Beispiel Wiedervereinigung: Da müssen Historiker, Politi-
Filmszene aus „Schindlers Liste“
ker und der gewöhnliche Bürger mit Takt
und dem Versuch des Einfühlens auf den
anderen zugehen. Nach dem schrecklichen
Jahrhundert, das wir durchgemacht haben,
sollten wir uns darüber klar sein, dass die
Erniedrigung eines anderen Menschen zum
Schlimmsten gehört, was passieren kann.
Ich meine nicht nur die brutalen Formen,
sondern schon die elementare und unspektakuläre Form der Erniedrigung: dass
man sich gar nicht darum bemüht, den anderen zu verstehen.
SPIEGEL: Herr Professor Stern, wir danken
Ihnen für dieses Gespräch.
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UNGARISCHE LITERATUR
Suche nach den Frauen
I. OHLBAUM
J. J. HÄNEL / ROWOHLT
trotzigen Ernst dieser Geschichte wieder
zu begegnen.
Es gibt nicht sehr viele einprägsame, klar
konturierte Frauengestalten in der ungarischen Literatur von heute. Die Damen des
Péter Esterházy etwa sind äußerst unruhig, und kaum hat man ein Bild von ihnen,
verwackelt es schon wieder: Eine Frau wird
durch eine andere verdeckt. Die 97 Frauen, die er einmal in dem Buch „Eine Frau“
(1996) porträtierte, wird niemand recht auseinander halten können. Sie sind dick und
mager, zartfühlend und herrisch, treu und
durchtrieben zugleich – und am Ende sind
möglicherweise alle diese Frauen niemand
anderes als Esterházy selbst.
In seinem neuen Buch „Thomas Mann
mampft Kebab am Fuße des Holstentors“,
einer Sammlung von Erzählungen und Aufsätzen (im Salzburger Residenz Verlag),
Autor Kertész: „So schritt sie siegreich und doch zaghaft auf mich zu“
schreibt er dann ja auch:
Zsuzsanna Gahse über den
„Madame Bovary bin ich.“
Es war dieser Roman, mit
Dabei ist die Flaubert-Heldem der Ungar Kertész, 69,
Themenschwerpunkt der
din Bovary eine Französin,
erstmals
in
Deutschland
BeBuchmesse: die aktuelle Liteund (auch) das zeigt, dass
achtung fand – später folgte
ratur aus Ungarn – weltoffen, dann sein „Roman eines
die Literatur aus Ungarn,
voller Witz und von Männern
diese – wie manche sagen –
Schicksallosen“ und mit ihm
osteuropäische, in Wirklichder große Erfolg. Durch dieverfasst.
keit mitteleuropäische LiteGahse, 53, wurde in Budapest sen ungewohnten, geradezu
ratur, sich ganz selbstverunerhörten Blick auf Auschgeboren, wuchs in Wien auf
ständlich im Westen bewegt
witz war „Kaddisch“ in Verund lebt heute als Schriftstel- gessenheit geraten.
und aufhält.
lerin und Übersetzerin in MüllAuf der Suche nach FrauJetzt ist auch das bisher Autorin Gahse
engestalten gerät man in
fehlende Mittelstück zur Triheim (Schweiz); soeben erlogie in deutscher Sprache erschienen: der neueren ungarischen Prosa schnell an
schien von ihr der Roman
„Fiasko“. In diesem – schon 1988 in Un- die Mütter – wie jetzt wieder bei László
„Nichts ist wie oder Rosa
garn veröffentlichten – Roman erzählt Garaczi, 43, in einem neuen Buch mit
kehrt nicht zurück“ (EuropäiKertész vom trostlosen Misserfolg eines dem Titel „Die wunderbare Busfahrt“:
Schriftstellers, und er erzählt in der drit- Der Erzähler kann, als Schüler, der Mutsche Verlagsanstalt).
ten Person, als hätte er sich selbst über ter unters Nachthemd gucken und weiß
die Schultern geschaut. Um die drei Ro- schon, dass sie weiß, dass er sie einmal
n seinem Roman „Kaddisch für ein mane im richtigen Zusammenhang zu für ein Mädchen stehen lassen wird. Ohnicht geborenes Kind“, 1990 in Un- sehen, muss man den „Kaddisch“, das nehin vergnügt er sich bereits, wenn auch
garn erschienen, schreibt Imre Kertész Schlussstück, unbedingt wieder aufschla- ängstlich, mit drei Klassenkameradinnen.
über die erste Begegnung mit einer gen – nicht nur wegen der Frau, die über Das Buch ist ein verschmitzter, kluger
Frau: „Als sie … sich auf einmal aus der den blaugrünen Teppich schreitet, sondern Rückblick auf die sechziger und siebzischwatzenden Runde löste … gleichsam vor allem, um dem großen Nein, dem ger Jahre – und auf eine damals junge Mutda herausriss und über den blaugrünen
Teppich watete, als käme sie über das
György Dalos:
László Garaczi:
Meer, so schritt sie … siegreich und doch
Olga.
Die wunderbare Busfahrt.
zaghaft auf mich zu.“
Pasternaks letzte Liebe
Bekenntnisse eines Lemuren
Die Herankommende wirkt schon desDeutsche
Bearbeitung
von
Aus dem Ungarischen von
halb unvergesslich, weil die Szene in dem
Elsbeth Zylla. Europäische
Andrea Seidler und Pál Deréky.
Buch gleich mehrfach beschworen wird.
Verlagsanstalt, Hamburg;
Literaturverlag Droschl, Graz;
Eine Frau kommt auf blaugrünem Grund
180
Seiten;
36
Mark.
248 Seiten; 37 Mark.
dem Erzähler entgegen, dann geht sie wieder an ihm vorbei.
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ter, geschildert aus der Perspektive des maßen bekannt sein. Sie stammt aus Siebenbürgen, lebt seit 1983 in Budapest, und
Sohnes.
György Dalos, 56, der einst in seinem hervorzuheben sind ihre politisch inspiRoman „Die Beschneidung“ (1990) eine rierten Gedichte. Einzig die Vierte im Bunäußerst eindrucksvolle Mutter vorgestellt de, Virág Erdös, schreibt neben Gedichten
hat, bietet nun mit „Olga“ die sachliche manchmal auch Erzählungen.
Da ich das hoffnungsvolle Klagelied so
Biografie der Geliebten Pasternaks: „Fast
laut vorgetragen habe, gebe ich auch gern
ein Roman“, wie der Untertitel sagt.
Aber es hilft alles nichts: Eine große zu, dass vor einigen Jahren eine bemerFrauenfigur, eine moderne, ungarische An- kenswerte junge Prosaistin angetreten ist –
na Karenina, ist nicht dabei. Eine unange- mit einem autobiografischen Roman. Die
messene Forderung? Natürlich könnte man Geschichte handelte von einer tollkühnen,
die Novellen, Romane und
Gedichte ungarischer Autoren
auch unter ganz anderen Gesichtspunkten durchforsten.
Etwa: Welche Rolle spielen
Pferde in der Literatur von
heute? Immerhin ist das ungarische Wort für Pferd uralt, die
Ungarn und die Pferde gehören seit jeher zusammen, und
von Pferden wäre in der Tat
einiges zu berichten – auch
wenn der ewig vernachlässigte Dezsö Tandori (eine Vaterfigur für die jüngere Dichtergeneration) einmal geschrieben hat: „Ich bin vom Pech
verfolgt: Mein jeweiliges Thema wird zur gegebenen Zeit
nie für bedeutend gehalten:
Bären, Spatzen, Pferde …“
Und nun ein Roman von
Sándor Tar, 58: „Ein Bier für
mein Pferd“. Schön sind die
darin enthaltenen Geschichten Autor Esterházy: „Madame Bovary bin ich“
aus dem Osten Ungarns – auch
wenn es am Ende doch mehr um die Men- unglücklichen Liebe, und über diese Liebe
schen als um die Pferde geht, etwa um eine schrieb die junge Frau in einem herrlich baTochter, die das Verbotene liebt: „Wie die rock durchsetzten Ungarisch. Der Name
Jungen aussahen, interessierte sie nicht, für der Autorin: Lili Csokonal. Die Begeistesie waren alle gleich, wenn einer anfing, sie rung war groß, einige Wochen nach dem Erzu streicheln, schloss sie sowieso die Augen, scheinen des Romans stellte sich dann freilich heraus, dass die Csokonal eine Erfinebenso, wenn sie ihn streichelte.“
Womit wir wieder bei den Frauen wären dung war – der wirkliche Verfasser des ein– geschildert von einem männlichen Autor. fallsreichen Romans war Péter Esterházy.
Lägen in Frankfurt auch die ungarischen
Wo bleibt der weibliche Blick? Irgendwo
muss es doch in Ungarn Frauen geben, die Zeitschriften auf Deutsch vor, wäre ein
Romane oder Erzählungen schreiben, etwas anderer Blick auf die Landschaft
Bücher, die so eigenwillig und sprachbe- der Schreibenden möglich. Dann wären
wusst sind wie die ihrer männlichen Kol- Essayistinnen dabei, die die Literatur inlegen. Noch sind sie nicht recht ausfindig tensiv begleiten und einen unverwechselbaren Ton anschlagen.
gemacht worden.
Der Blick in diese Zeitschriften wäre ohLyrikerinnen hat Ungarn zu bieten:
Zsuzsa Rakovszky etwa oder Orsolya nehin eine notwendige Ergänzung zu der
Kalász. Der Name Zsófia Balla mag Flut von Romanen und Gedichten, die jetzt
für deutschsprachige Leser sogar einiger- nach Frankfurt hinüberschwappen. Zudem
Imre Kertész:
Fiasko
Aus dem Ungarischen
von György Buda und
Agnes Relle. Rowohlt
Berlin Verlag, Berlin;
444 Seiten; 45 Mark.
László
Krasznahorkai:
Krieg und Krieg
Aus dem Ungarischen von Hans
Skirecki. Ammann
Verlag, Zürich; 320
Seiten; 42 Mark.
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M. KLIMEK
sind diese Zeitschriften ein Forum für aktuelle (oder aktualisierte) Themen.
Ungarn kommt nicht als ein exotisches
Literaturland zur Buchmesse. Eher wird es
in Frankfurt um eine Wiedersehensfreude
mit den ungarischen Autoren gehen.
Man wird György Konrád, Péter Esterházy,
Imre Kertész, István Eörsi, György Dalos,
László Földényi begegnen. Von ihnen
werden Neuerscheinungen präsentiert.
Die gegenwärtige Literatur Ungarns ist
in Deutschland gut bekannt, der Einblick
vielfältig, mehr noch: Der
Zauber, der Nádas, Esterházy
und Kertész umgibt, kommt
wohl daher, dass sie nicht vorrangig als ungarische Autoren, sondern als Schriftsteller
schlechthin wahrgenommen
werden. Etwas Besseres für die
ungarische Literatur kann sich
niemand wünschen.
Vor vielen Jahren, als die
Romane und Erzählungen von
Miklós Mészöly erschienen,
gab es noch nicht so eine natürliche Nähe zu den schreibenden Ungarn. Mészöly, heute 78, wird immer noch zu
wenig beachtet. Jetzt erscheint
sein 1976 in Ungarn veröffentlichtes Hauptwerk „Rückblenden“ wieder als SuhrkampTaschenbuch. Der große Alte
der ungarischen Literatur
könnte der heimliche Star in
Frankfurt sein. Immerhin hat
seine erzählerische Haltung
bei nicht wenigen Autoren Spuren hinterlassen. Das Zuschauen als Grundhaltung,
die Logik, die sich aus genauen Beobachtungen ergibt, sind Grundelemente seiner
Erzählweise.
Interessant ist schließlich, dass die Ungarn, ursprünglich Nomaden, wieder unentwegt unterwegs sind, in Berlin ebenso
wie in New York. Die Autoren reisen, und
die Stoffe ihrer Romane suchen ebenfalls
die Ferne, wie das jüngste Beispiel zeigt,
der brandneue Roman „Krieg und Krieg“
von László Krasznahorkai, 45. Darin zieht
es den Helden in einer teils imaginierten,
teils realen Reise von Budapest über Kreta, Venedig, Rom bis nach New York – er
will sein Ende nicht daheim erleben.
„In die Ferne gehen, um zu sterben“,
heißt nicht umsonst das uralte Motto der
ungarischen Literatur. Die Suche nach Abstand von der Heimat ist vielleicht nur eine neue Variante
Sándor Tar:
der alten Weisheit. Und der
Ein Bier für
Witz (darüber müsste man almein Pferd
lerdings lange reden), der in so
Aus dem Ungarivielen ungarischen Werken aufschen von Hans
blitzt, hängt am Ende ebenfalls
Skirecki. Verlag Volk
mit jenem historischen Satz zuund Welt, Berlin;
sammen. Es geht um ein gut ge232 Seiten; 32 Mark.
launtes Trotzdem.
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FOTOS: AFP / DPA ( li. o.); G. FREUND ( li. u.); STEFAN MOSES (re. o.); ULLSTEIN BILDERDIENST (re. u.)
XIII. DAS JAHRHUNDERT DER MASSENKULTUR:
1. Traumfabrik Hollywood (39 /1999); 2. Die Malerei der Moderne (40/1999);
3. Die Dichter und die Macht (41/1999); 4. Pop in Musik und Mode (42/1999)
Václav Havel auf dem Prager Wenzelsplatz (1989); Ernst Jünger (1994); Simone de Beauvoir (1949); Josef Stalin, Maxim Gorki (1931)
Das Jahrhundert der Massenkultur
Die Dichter
und die Macht
Revolutionen und Kriege trieben viele Schriftsteller aus
ihrer künstlerischen Isolation. Vor allem seit dem Ersten Weltkrieg
ergriffen sie Partei, nahmen teil an der Politik,
mitunter auch an der Macht. Bedeutsam wollten sie sein, auch
in der Gesellschaft, aber der Erfolg war nur mäßig.
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Das Jahrhundert der Massenkultur: Die Dichter und die Macht
Flucht aus der Banalität
Von Gerd Koenen
R. VIOLET / GAMMA / STUDIO X
AKG
Spiegel des 20. Jahrhunderts
D
ie jahrhundertelange Vorherrschaft publikums und Büchermarktes, die im ehemalige Häftling Solschenizyn erfasste
der geschriebenen Literatur sei 18./19. Jahrhundert die Entstehung des au- mit unbeirrbarer Intuition die Schwäche
längst zur historischen Episode ge- tonomen Schriftstellers ermöglicht hatte, eines Regimes, das eine atomare Superworden, schrieb Hans Magnus Enzensber- der die Formen und Inhalte seiner Dich- macht kommandierte und doch nur noch in
ger 1970. Als ein rein monologisches Me- tungen und Erzählungen kraft seiner Sub- der dünnen Luft seiner eigenen Lügen und
dium isoliere das Buch Produzenten wie jektivität frei bestimmen konnte – bis hin Fiktionen existieren konnte.
In den kurzen Jahren seiner legalen
Leser, im Gegensatz zu den elektronischen zur völligen Negation der Gesellschaft.
Aber die Geschichte der Literatur des Schriftstellerexistenz (von 1962 bis 1967)
Medien, „die ihrer Tendenz nach einen
jeden zum Sprechen bringen“. Der an- 20. Jahrhunderts ist über weite Strecken schrieb Solschenizyn nicht nur die beitiquierte Akt des Schreibens werde bald bestimmt von der Flucht ihrer Autoren aus den großen, autobiografischen Romane
schon durch Lesegeräte, Schreibautoma- der angeblichen Isoliertheit, Künstlichkeit, „Der erste Kreis der Hölle“ und „Krebsstation“, sondern auch
ten, Licht- und Schnellnoch die drei Bände des
drucker zu einem ge„Archipel Gulag“, den
wöhnlichen Akt der Pro„Versuch einer künstleriduktion werden. Der Auschen Bewältigung“ (so der
tor habe nur noch die AufUntertitel), worin er eine
gabe, sich selbst überflüsFülle konspirativ gesamsig zu machen, indem er
melter biografischer Er„als Agent der Massen“
zählungen mit psychologiarbeite. „Gänzlich verschen Analysen und dokuschwinden kann er erst
mentarischen Enthüllungen
dann in ihnen, wenn sie
zu einem Anklagedossier
[die Massen] selbst zu Auvon erschütternder Wucht
toren, den Autoren der Gezusammengefasst hatte. In
schichte geworden sind.“
allen Weltsprachen verMit diesen vom kulturbreitet, hat dieses Buch wie
revolutionären Geist der
kein anderes dem historiZeit inspirierten Überleschen Umbruch von 1989
gungen zu einer „Theorie
vorgearbeitet.
der Medien“ trieb EnzensÜberhaupt ist vielleicht
berger die Diskussionen
niemals so angespannt und
über die fehlende „gesellbedeutungsvoll geschrieschaftliche Funktion“ und
ben und gelesen worden
das absehbare „Ende der
wie in diesen Jahrzehnten,
Literatur“ auf die Spitze,
als der geschlossene Kosdie seit den frühen sechzimos des „realen Sozialisger Jahren in der BundesAutor Zola, Dreyfus-Degradierung (1895): Komplott gegen die Republik
mus“ immer mehr Risse
republik geführt wurden
und in der Selbstauflösung der „Gruppe Banalität ihrer Existenz in die Sphäre von bekam. Ingo Schulze hat das „Leseland
47“ unter dem Druck der Jugendrevolte Macht und Politik, in der sie Echtheit, Be- DDR“ als ein einziges Löschblatt beschrievon 1967/68 sinnfälligen Ausdruck fanden. deutsamkeit, Gemeinschaft zu finden hof- ben: „In der Provinz geschahen die WunIm Gegenzug hat Dieter Wellershoff da- fen. Und gerade eine totalitäre Politik der: Plötzlich konnte man vor einem graumals „romantische und elitäre Sehnsüchte“ musste auf viele Künstler anziehend wir- en Buch mit der schwarzen Aufschrift ‚Dubanalysiert, die hinter diesem Gestus vor- ken, besonders in den Jahren der großen liners‘ stehen. Oder auf einem schwarzen
geblicher Selbstabdankung steckten: „Of- historischen Umbrüche – anziehender als Spektrumband fügten sich die weißen
fenbar will man die arbeitsteilige Gesell- die scheinbar banale, uninspirierte, zu kei- Buchstaben zu Sensationen zusammen
schaft, in der Produzent und Verbraucher ner wirklichen Lösung fähige Demokratie. wie: Malamud, Frisch, Pynchon … Woher
Zwei Welten, zwei Kulturen. Im selben man die Namen kannte? Man wusste sie
nur indirekt miteinander verkehren, wieder durch die Gemeinschaft ersetzen.“ Es Jahr 1970, in dem das krisenhafte Selbst- halt – von Freunden, aus Nachworten, man
sei das alte Unbehagen an der Anonymität bewusstsein vieler westlicher Literaten in stieß den anderen mit dem Ellbogen an –
des Marktes, das im Hohn und Hass auf die kulturrevolutionären Ausbruchsphantasi- da liegt noch ein Exemplar, willst du
angeblich folgenlose Literatur zum Aus- en Halt suchte, wurde der Nobelpreis für denn nicht? – Oh! Danke! Natürlich! Wer
druck komme – „und zwar umso bitterer, Literatur an Alexander Solschenizyn ver- ist das?“
Kein Zufall wohl auch, dass im Moment,
je offener der Markt für oppositionelle, liehen, dessen kunstvoll schlichte Lagervermeintlich tabuverletzende oder formal novelle „Ein Tag im Leben des Alexander als der Vorhang zerriss und die Mauer fiel,
Denissowitsch“, als sie 1962 zur Veröffent- Schriftsteller, Künstler, Intellektuelle in die
ungewohnte Produkte geworden ist“.
Ein seltsames Paradox: War es doch ge- lichung freigegeben wurde, bereits ein un- vorderste Linie der gesellschaftlichen Berade die Entstehung eines anonymen Lese- terirdisches Beben ausgelöst hatte. Der wegung rückten. Auch das waren Stern312
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Nobelpreisträger Solschenizyn bei der Rückkehr nach Russland (1994): Anklagedossier von erschütternder Wucht
stunden des späten Gutenberg-Zeitalters:
Wie die Leitautoren einer halb legalen oder
illegalen Publizistik um Mazowiecki und
Michnik am Runden Tisch in Warschau der
uniformierten Riege der Parteigeneräle die
ersten halb freien Wahlen abhandelten; wie
Heym, Hein, Hermlin und Christa Wolf auf
dem Alexanderplatz in letzter Stunde noch
eine neue Deutsche Demokratische Republik ausrufen wollten; wie der Lyriker Mircea Dinescu, als rezitierte er eines seiner
absurden Gedichte, im besetzten Bukarester
Fernsehstudio den Sturz des vampirischen
„Conducator“ verkündete; oder wie der
Dramatiker Václav Havel auf dem Wenzelsplatz zu den hunderttausenden sprach,
als wäre er schon der Bürgerpräsident, als
der er kurz darauf dann tatsächlich die Prager Burg in Besitz nahm. Havels Maxime
„In der Wahrheit leben“ kann als ein fernes
Echo jenes dramatischen „J’accuse“ Emile
Zolas gelten, mit dem die Schriftsteller zu
Beginn dieses Jahrhunderts als Protago-
nisten der Demokratie und der universellen
Menschenrechte erstmals die Bühne der
großen Politik betreten hatten.
Allerdings zeigte gerade die Affäre um
den zu Unrecht der Spionage angeklagten
jüdischen Hauptmann Dreyfus, in der
Emile Zola die Spitzen der eigenen Armee
und Justiz öffentlich der Rechtsbeugung
und eines Komplotts gegen die Republik
bezichtigte, auch schon die Keime der
ideologischen Bürgerkriege, die die europäischen und später auch die außereuropäischen Nationen zerrissen haben.
Zola sprach nicht einfach als prominenter und besorgter Staatsbürger, sondern als
der Autor des 20-bändigen Romanzyklus
der „Rougon-Macquart“, der die Gesellschaft Frankreichs, fast wie in einem zweiten Schöpfungsakt, in ein Gesamtgemälde
gebannt hatte.
Nicht nur in den „Kulturnationen“ Mittel- und Osteuropas, von Deutschland bis
Russland, waren die Dichter und Denker im
Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts ideelle
Mittelpunkte der Nation und verehrte Objekte einer eigentümlichen Kunstreligion
geworden. Auch in den Staatsnationen des
Westens – und gerade in Frankreich – waren sie in eine ähnlich überhöhte Position
als Seher, Mahner, Ankläger, Aufklärer und
Propheten gerückt, die die Rolle eines „Gewissens der Gesellschaft“ oder „Ersatzparlaments“ einnahmen. Aber Zolas Gegenspieler Maurice Barrès war ebenfalls
Schriftsteller und Intellektueller. Wo Zola
auf Recht und Vernunft pochte, da betonte
Barrès die Macht der Gefühle und die Bande des „Blutes“.
Soviel sympathischer und moderner die
Position Zolas und seiner Anhänger war, so
nüchtern lässt sich von heute aus auch die
Problematik ihrer universalistischen Geltungsansprüche bezeichnen, die sich gerade in der neu aufgekommenen Bezeichnung als „Intellektuelle“ zeigte. Anatole
France übersetzte diesen Begriff als „Ge-
„Drama schreibt sich besser vor dem Hintergrund von
Diktatur als von Demokratie, wie auch immer die beschaffen ist.“
Heiner Müller, 1991
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bildete mit Urteilskraft“,
die in besonderer Weise
geeignet seien, „in Angelegenheiten der allgemeinen Ordnung und des öffentlichen Interesses das
Wahre vom Falschen zu
unterscheiden“.
Sie alle, die Produzenten rechter wie linker
Weltanschauungen, reagierten auf den unaufhaltsamen Eintritt der Massen
in das politische Leben –
und gleichzeitig auf die
von Heils- und Unheilserwartungen begleiteten
Schübe der Säkularisierung und Individualisierung, die wohl die eigentliche Weltrevolution
dieses Jahrhunderts ausgemacht haben.
Aus der historischen
Distanz wird deutlich,
dass zum Ausbruch des
Ersten Weltkriegs eben
nicht allein die „Torheit
der Regierenden“ und die
imperiale Konkurrenz der
Mächte, sondern auch die
überspannten Erwartungen und panischen Ängste
der beteiligten Gesellschaften wesentlich beigetragen haben.
Dieser Krieg, der, je
Gemälde „Apokalyptische Landschaft“ (1912)*: Der Krieg wurde zur Stunde der Literaten
länger, desto mehr, die
Züge eines totalen europäischen Bürger- tualisierung, Radikalisierung“ und damit die Material dient und dessen Ziel es ist …
krieges annahm, wurde, wie kaum ein an- Demokratisierung Deutschlands zu betrei- ihm jede gewünschte Form zu geben“? So
deres historisches Ereignis, zur Stunde der ben, um es seiner angestammten, friedli- der Kunstwissenschaftler Boris Groys, der
Dichter. „O dass doch ein Brand unsere chen Lebensform einer „machtgeschützten die Parteinahme der russischen AvantgarHäupte bewölb! / Es rascheln gewitternd Innerlichkeit“ zu berauben. Freilich ermisst disten für das bolschewistische Regime aus
Horizonte fahlgelb. / (…) Die Nerven ge- man die Erbitterung des jüngeren gegen den ihrem Wunsch erklärt hat, durch das Bündpeitschet! Die Welt wird zu enge. / Lasst älteren Bruder erst richtig, wenn man in nis von Kunst und Macht auf den Trümschlagen uns durch Gestrüpp und Gedrän- Heinrich Manns Essay „Geist und Tat“ den mern der niedergebrochenen alten eine
ge!“ So hatte in klirrend expressionisti- neidvollen Satz liest: „Sie haben es leicht ge- neue Welt als „Gesamtkunstwerk“ zu
scher Diktion der verhinderte königlich habt, die Literaten Frankreichs, die, von schaffen, in der das Leben nach einem verbayerische Fahnenjunker Johannes R. Be- Rousseau bis Zola, der bestehenden Macht bindlichen Willen und Plan zweckmäßig
cher im Mai 1914 „einen großen Weltkrieg“ entgegentraten: Sie hatten ein Volk.“
Darin lag der höchst zeitgemäße Geherbeigesehnt – um sich, wie viele Enthusiasten der ersten Stunde, später unter Re- danke, dass, wenn man für große Entwürfe und Prospekte kein Volk „hatte“, sich
volutionären wiederzufinden.
Die Motive und die Sprache mussten eben eines zurechtschneiden müsse. Gesich dabei gar nicht so sehr ändern. Denn nau das strebten die totalitären Parteien
auch die Kriegsdichtung erschöpfte sich und Bewegungen an, die in den Staaten
keineswegs in plumper Propaganda gegen Mittel- und Osteuropas alle frustrierten Erden Feind, sondern schwelgte in höchsten wartungen und Ängste des Weltkrieges in
menschheitlichen Berufungen und Selbst- ein Programm der autoritären Mobilmachung der Massen ummünzten.
berufungen – und das auf allen Seiten.
Getragen wurden sie nicht zuletzt von
Als eine „Wiederholung der DreyfusAffäre in kolossalisch vergrößertem Maß- den Faszinationen, und mehr noch, von
stabe“ stellte sich Thomas Mann dieser den verwandtschaftlichen Gefühlen, die
ganze Weltkrieg dar. In seinen „Betrach- ein gut Teil der Intellektuellen und Künsttungen eines Unpolitischen“ klagte er die ler des Zeitalters ihnen entgegenbrachte.
Parteigänger der Entente in der Gestalt War der totalitäre Staatsmann nicht auch
des „Zivilisationsliteraten“ (worin alle „eine Art Künstler, dem die ganze Welt als
Welt seinen Bruder Heinrich erkannte) an,
Autor Brecht (1927)
die „Politisierung, Literarisierung, Intellek- * Von Ludwig Meidner.
Radikale ideologische Parteinahme
FOTOS: AKG
Spiegel des 20. Jahrhunderts
Das Jahrhundert der Massenkultur: Die Dichter und die Macht
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FOTOS: ULLSTEIN BILDERDIENST
Sinne nennt, ist ja hauptund ästhetisch eingerichsächlich nichts als die Betet wäre. Aus entsprelastung des einzelnen mit
chenden Motiven hatten
Fragen, von denen er
die Futuristen Italiens das
kaum die Worte kennt,
Bündnis mit dem Faschisweshalb es ganz natürlich
mus gesucht und hatte Fiist, dass er in einer volllippo Tommaso Marinetti
kommen pathologischen
schon 1915 Mussolini als
Weise darauf reagiert.“
einen „Mann von wahrAm Ende sind es die
haft futuristischen Aspiragroßen Einzelgänger wie
tionen“ gerühmt.
Musil, Proust, Joyce oder
Es griffe allerdings zu
Kafka gewesen, die ihr
kurz, darin nichts als
Zeitalter in „große Erzähkünstlerische SelbstaufgaAutor Becher (1927)
lungen“ gefasst haben, debe oder „Verrat der Intellektuellen“ zu sehen, wie ihn Julien Ben- ren Wirkung immer stärker geworden ist,
da 1927 so leidenschaftlich angeprangert gerade weil sie die neue Welterfahrung eihat. Die Wahrheit ist schwieriger. Denn die ner völlig offenen, aber heillosen Geradikale ideologische Parteinahme hat kei- schichte zum Ausdruck gebracht haben.
Dass die Nationalsozialisten ihre unneswegs verhindert, dass ein Teil der
großen Literatur des Jahrhunderts gerade beschränkte Herrschaft im Mai 1933 mit
so entstanden ist. Der Hass oder die Ver- einem spektakulären Autodafé aller für
blendung des Autors sind in ihren Text als „volksfremd“, „seelenzerfasernd“ oder
Signum der Zeit eingelagert und lassen sich „materialistisch“ erklärten Bücher eröffnur um den Preis der Banalisierung philo- neten, war eine gewaltsame Reaktion gegen
diesen „relativistischen Zeitgeist“. Hitler
logisch wieder herausfiltern.
Weder ein Außenseiter wie der wahn- räsonierte bei späterer Gelegenheit einmal,
hafte Antisemit Louis-Ferdinand Céline mit die Entwicklung des einst „tatkräftigen“
seiner „Reise ans Ende der Nacht“ noch ein Volkes der Deutschen zu einem „Volk der
Ezra Pound, der sein halbes Künstlerleben Dichter und Denker“ sei an sich schon eine
und etliche seiner „Cantos“ auf die Vereh- Degenerationserscheinung gewesen. So
rung Mussolinis verwendet hat, geschweige rangierten die Schriftsteller in der Hierarein Ernst Jünger als Mythologe der „Stahl- chie der Künste weit hinten.
Albert Speer bezeugte, er habe Hitler
gewitter“ und des „Arbeiters“ lassen sich
aus der Weltliteratur des Jahrhunderts weg- „tatsächlich nicht ein einziges Mal über eidenken. Auf der Seite der radikalen Linken nen der repräsentativen Dichter des Dritten
sind die Namen noch ungleich zahlreicher, Reiches“ sprechen hören. Gerade umgeund weder im Falle von Bertolt Brecht noch kehrt Stalin, der ein System repräsentierte,
von Louis Aragon oder Pablo Neruda lässt das im Gegensatz zu den neuheidnischen
sich ein politisch ungenießbarer von einem Riten des Nationalsozialismus viele Züge
künstlerisch genießbaren Teil ihres Werkes einer säkularen Schriftreligion trug. Einer
der genialen Schachzüge Stalins war es,
säuberlich abtrennen.
Aber das Dilemma reicht tiefer: Wie geht parallel zur Entmachtung der parteiinterman zum Beispiel mit der Tatsache um, nen Opposition den heimwehkranken Madass wir in Michail Scholochows „Der stil- xim Gorki aus dem Exil zurückzuholen und
le Don“ ein mit dem Nobelpreis gekröntes, als den Hohen Priester der neuen Union
ebenso großartiges wie affirmatives Epos der Sozialistischen Sowjetrepubliken zu ineiner der großen politischen Vernichtungs- thronisieren.
Stalin und Gorki verkörperten nun in
aktionen des Zeitalters besitzen und in der
Figur des Kommunisten Ilja Buntschuk ei- plakativer Weise das Bündnis von Macht
nen positiven Helden des Massenterrors? und Geist. Gemeinsam formulierten sie die
Vielleicht nur, indem man zugibt, dass Kriterien eines „Sozialistischen Realisdie Künstler dieses Zeitalters der Welt- mus“, der mit allen Avantgardismen endkriege stärker als andere das panische und gültig Schluss machte und eine volkstümillusionäre Verlangen nach einer mit sich liche, in traditionell russisch-realistischem
versöhnten, vom Stachel ihrer treibenden Stil gehaltene Literatur und Kunst mit
Widersprüche und schreienden Ungerech- positiven Helden und aufbauendem Optitigkeiten ein für alle Mal „befreiten“ mismus einforderte.
Mit dieser umfassenden Sorge Stalins
menschlichen Gesellschaft zum Ausdruck
für die geistige Kultur hing es auch zugebracht haben.
Fast niemand sah sich damals in der Lage, sammen, dass unter seinem Regime mehr
die ironische Gelassenheit eines Robert Mu- Schriftsteller und Künstler – loyale und dissil aufzubringen, wenn er in einem Essay sidente, berühmte und unbekannte, alte
„Das hilflose Europa“ 1922 nüchtern fest- und junge – verhaftet, gefoltert, ermordet
stellte: „Was man Zivilisation im üblichen oder deportiert worden sind als je in der
Geschichte irgendeines anderen Landes.
Hellsichtig sagte Ossip Mandelstam, als
sein Todesweg begann, seiner Frau Nadeschda: „Weshalb beklagst du dich? Nur
bei uns schätzt man die Literatur so, dass
man Menschen dafür umbringt.“
Die Ermordung Mandelstams, Babels,
Pilnjaks, Meyerholds und anderer weltbekannter Künstler als „Spione“ und „Volksfeinde“ vollzog sich in tödlicher Stille, in einer Art luftleerem Raum, zu dem neben
der Indifferenz der westlichen Öffentlichkeit auch das Schweigen oder die offene
Apologetik berühmter bürgerlicher Kollegen wie Lion Feuchtwanger, Romain Rolland oder Heinrich Mann beitrugen. Diese
bewunderten gerade die zeremoniöse Stellung und staatliche Alimentierung der
Kunst im Sozialismus.
Entscheidend war jedoch, dass die Aufmerksamkeit der meisten Intellektuellen
Autor Thomas Mann (1906)
Erbitterung gegen den Älteren
von dem okkupiert wurde, was sich in und
um die „faschistischen“ Mächte, besonders
Nazi-Deutschland, zusammenbraute. Während der Erste Weltkrieg aus heiterem
Himmel hereinbrach, konnte man den
Zweiten von weitem kommen sehen. Der
Exodus der jüdischen und oppositionellen
Intelligenz aus einem Deutschland, das seinen eben noch umschwärmten Künstlern
und Wissenschaftlern keine Träne nachweinte, tat ein Übriges. Hier kündigte sich
ein Weltumsturz an, für den es keinen
Maßstab gab.
Bis heute sind wir nicht fertig geworden
mit dem, was damals passierte. Diejenigen,
die sich dem mit „Auschwitz“ bezeichneten
Zentrum des Schreckens literarisch genähert und ihre Erfahrungen verarbeitet ha-
„Jeder starken Revolution zuvor kommt eine unerbittliche Literatur.“
Heinrich Mann, 1943/44
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STEFAN MOSES
Sozialdemokraten, Künstler*: Teil des Establishments und veraltete Moralapostel
ben, wie Paul Celan, Tadeusz Borowski oder
Primo Levi, taten es unter Lebensgefahr.
Als der Exkommunist Arthur Koestler
im Frühjahr 1940 – in der Zeit des HitlerStalin-Paktes also – in London seinen
Schlüsselroman „Sonnenfinsternis“ herausbrachte, der die brutalen Mechanismen
der Moskauer Schauprozesse und der absurden „Geständnisse“ der Altbolschewiken aufdeckte, wurde das Buch in
Linkskreisen heftig diskutiert, in der
bürgerlichen Öffentlichkeit jedoch
völlig ignoriert. Ganz anders 1946,
als in Paris eine französische Übersetzung herauskam und gerade
angesichts wüster Drohungen der
Kommunisten ein breites Publikum
erreichte. Aber auch für einen Großteil der nichtkommunistischen Intellektuellen hatte Koestlers Buch
den Ruch des Verrats.
Simone de Beauvoir ließ damals in
ihrem Roman „Die Mandarins von
Paris“ ihren Helden Dubreuilh (Sartre) mit dem Renegaten Scriassine
* Vorn: Agnes Fink, Ingeborg Bachmann, Rut
Brandt; hinten: Fritz Kortner, Hans Werner
Henze, Günter Grass, Willy Brandt, Karl Schiller, Hans Clarin 1965.
Mutlangen-Blockierer Böll (l., 1983)
Die Öffentlichkeit produktiv-anstößig genutzt
LITERATUR
Karl Corino (Hrsg.): „Intellektuelle im Bann des Nationalsozialismus“. Verlag Hoffmann und Campe,
Hamburg 1980; 252 Seiten – Eines der wenigen
Bücher, die auf dieses Thema ernsthaft eingehen.
Wolfgang Kuttenkeuler (Hrsg.): „Poesie und Politik.
Zur Situation der Literatur in Deutschland“. Verlag
Kohlhammer, Stuttgart 1973; 410 Seiten – Sammelband zu den Diskussionen über das „Ende der Literatur“ nach 1967/68, mit Beiträgen von Enzensberger, Walser, Wellershoff und anderen.
Wolfgang J. Mommsen (Hrsg.): „Kultur und Krieg. Die
Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller
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(Koestler) wie folgt abrechnen: „Gewiss, im
Vergleich zur Idee ist die Wirklichkeit immer im Unrecht; sowie die Idee zu Fleisch
und Blut wird, wird sie entstellt. Die einzige Überlegenheit der UdSSR über sämtliche
möglichen Sozialismen liegt darin, dass sie
existiert.“ Und als sich sein Freund Perron
(Camus) von den Informationen über die
stalinistischen Lager tief verunsichert zeigt,
erklärt Dubreuilh (Sartre) kategorisch: „Allein wichtig ist die Entscheidung, ob man
durch die Denunziation der Lager für die
Menschheit oder gegen die Menschheit
arbeitet.“
Das existenzialistische Credo, die Freiheit der „Wahl“ des Individuums, war damit im Zeichen des neuen West-Ost-Konflikts unter den kategorischen Imperativ
einer Parteinahme für oder gegen die Sowjetunion gestellt. Der Charakter dieser
Parteinahme war allerdings ein ganz anderer als eine Generation zuvor. Nicht um
enthusiastische Vorstellungen einer zu entwerfenden und zu erschaffenden „neuen
Welt“ ging es mehr, sondern um eine existenzielle Entscheidung für oder gegen den
„real existierenden“ Sozialismus, weil er
die einzige Gegenmacht zum globalen Imperialismus und Kapitalismus der USA darstellte. Das „Engagement“, das Sartre vertrat, war also in erster Linie negativ bestimmt, als radikale Kritik der bürgerlichen
Gesellschaft und Absage an die von Amerika aus vordringende Weltkultur.
Auch die westdeutsche Nachkriegsliteratur hat sich überwiegend als eine „engagierte Literatur“ verstanden, wenn auch
nicht mit vergleichbarer Radikalität. Im
Bann der eigenen deutschen Geschichte
kreiste sie um das Phantom einer vermeintlich allgegenwärtigen Tendenz der
„Restauration“. Aus dieser schiefen Perspektive hat sie ihr eigentliches Sujet, die
chaotischen und amoralischen Sozial- und
Bewusstseinsformen, in denen sich die Gesellschaft der Bundesrepublik nach 1945 neu
zusammengemendelt hat, zu einem
gut Teil verfehlt. Und während ihre
Autoren, wie sie auf den Klassenfotos
der „Gruppe 47“ zu sehen sind, sich
noch in ihrer Rolle als ewige Außenseiter, Kritikaster und „Pinscher“
sonnten, war ihnen entgangen, dass
sie längst zu Repräsentanten ihrer
tonangebend gewordenen Generation geworden waren.
Kein Wunder, dass die radikalen
Studenten 1967/68 die „engagierten
Schriftsteller“, die sich eben noch
als Speerspitze der Opposition gegen eine „formierte Gesellschaft“
gefühlt hatten, plötzlich als Teil des
Establishments und antiquierte Moralapostel verhöhnten.
Aber alles an dieser „Kulturrevolution“ von 1968 war ja doppeldeuELLERBROCK & SCHAFFT / BILDERBERG / XXP / DER SPIEGEL
Spiegel des 20. Jahrhunderts
Das Jahrhundert der Massenkultur: Die Dichter und die Macht
im Ersten Weltkrieg“. Verlag Oldenbourg, München
1996; 282 Seiten – Geistes- und Mentalitätengeschichte des Ersten Weltkriegs, nicht nur aus deutscher Perspektive.
Michael Rohrwasser: „Der Stalinismus und die Renegaten. Die Literatur der Exkommunisten“. Verlag
Metzler, Stuttgart 1991; 412 Seiten – Subtile Betrachtungen über die Schwierigkeiten von Schriftstellern,
sich vom Kommunismus zu lösen.
Jürgen Rühle: „Literatur und Revolution. Die Schriftsteller und der Kommunismus“. Verlag Kiepenheuer
& Witsch, Köln 1988; 648 Seiten – Bis heute unübertroffen – „ein analytischer Bericht über verführte
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Verführer, botmäßige Revolutionäre und treue Ketzer“ (Manès Sperber).
Günther Rüther (Hrsg.): „Literatur in der Diktatur.
Schreiben im Nationalsozialismus und DDR-Sozialismus“. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn
1997; 508 Seiten – Sammlung von Einzelstudien über
die Strategien der Anpassung und Selbstbehauptung
in der Diktatur.
Hans Dieter Zimmermann: „Der Wahnsinn des Jahrhunderts. Die Verantwortung der Schriftsteller in
der Politik“. Verlag Kohlhammer, Stuttgart 1992;
176 Seiten – Polemik gegen die „Verantwortungslosigkeit der Ästheten“.
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DIE THEMENBLÖCKE IN DER ÜBERSICHT: I. DAS JAHRHUNDERT DER IMPERIEN; II. … DER ENTDECKUNGEN;
III. … DER KRIEGE; IV. … DER BEFREIUNG; V. … DER MEDIZIN; VI. … DER ELEKTRONIK
UND DER KOMMUNIKATION; VII. … DES GETEILTEN DEUTSCHLAND: 50 JAHRE BUNDESREPUBLIK;
VIII. … DES SOZIALEN WANDELS; IX. … DES KAPITALISMUS; X. … DES KOMMUNISMUS; XI. … DES FASCHISMUS;
XII. … DES GETEILTEN DEUTSCHLAND: 40 JAHRE DDR; XIII. DAS JAHRHUNDERT DER MASSENKULTUR
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B. BOSTELMANN / ARGUM
AFP / DPA
trät jenes Chomeini, der im
tig: Die StudentenbeweFebruar 1989 seine „Fatgung, die sich Adornos und
wa“, das Todesurteil, gegen
Marcuses Thesen vom toden Autor der „Satanitalen Verblendungszusamschen Verse“ schleuderte.
menhang und der univerDass es ein Roman war,
sellen Manipulation als
ein Stück „schöne Literadem zeitgemäßen Herrtur“ also, und nicht etwa
schaftsmittel des Spätkapiein Hollywood-Film, ist
talismus zu Eigen gemacht
kein Zufall. Nur ein litehatte, war vielleicht das errarisches Kunstwerk war
ste große, vom Fernsehen
und ist in der Lage, einen so
voll „gecoverte“ Medienkomplexen metaphorischen
ereignis.
Raum zu eröffnen, dass
Dieter Wellershoff hat
darin auch die „Großen Erschon 1969 diagnostiziert,
zählungen“ der alten Weltwelche Form das demonreligionen in einen neuen,
strative Engagement des
Zeiten, Räume und KultuSchriftstellers alsbald anren übergreifenden Handnehmen würde: „Ein neues
lungszusammenhang einZeitalter hat Mikrofone
fließen können.
und Kameras an ihn heranRushdie spricht im
geschoben, und das GewisÜbrigen nicht als Brite
sen ist schon die verinneroder Westler, sondern als
lichte Dauerpräsenz dieser
Abkömmling des alten
neuen Öffentlichkeit, die
Schmelztiegels Indien und
ihm wie allen interessanzugleich als Mensch in der
ten Personen das Angebot
globalen Diaspora, als ramacht, dauernd in ihr andikaler Einzelner, der sich
wesend zu sein.“
(wie seine Helden) der tiefsWenige haben das so
ten aller Gotteslästerungen
produktiv-anstößig genutzt
schuldig gemacht hat: „sich
wie Heinrich Böll, der sich
selbst zu erfinden“.
noch 1972 in Moskau mit
Dass er endlich sein
Solschenizyn, Lew KopeVersteck verlassen konnte,
lew und anderen Verfemdass man dieses Stück
ten traf, während er in der
Weltliteratur, das ihrem
Bundesrepublik „Gnade
Begriff nahe kommt, in
oder wenigstens freies Geden meisten Ländern der
leit“ für Ulrike Meinhof
Islamische Fundamentalisten (1989): „Zeitlosigkeit Gottes“
Welt kaufen und lesen
forderte (SPIEGEL 3/1972).
Als Böll im selben Jahr den Nobelpreis „Unser Auschwitz“ (1965) bis zur Friedens- kann, kurzum: dass der zehnjährige Krieg
erhielt, war ihm Günter Grass, der Nobel- preisrede 1998 über die angebliche Funk- um die „Satanischen Verse“ mit einem
preisträger von 1999, fast schon voraus, was tionalisierung ebendieses Themas als „Mo- Sieg geendet hat – das darf wohl auch
die Dauerpräsenz in der Öffentlichkeit be- ralkeule“. Die biografische Quelle bleibt als ein Beweis für die fortdauernde
traf. Seit seinen Auftritten als Wahltromm- in beiden Fällen die gleiche: der Versuch, stille Macht der Schriftsteller verstanden
ler für die „EsPeDe“ Willy Brandts hatte die Prägungen und Stigmatisierungen einer werden.
Grass seinen Ruhm als Autor der „Blech- Kindheit im Nationalsozialismus künstletrommel“ (1959) bewusst in den Dienst risch und intellektuell zu bewältigen.
Die Prognosen vom „Ende der Literaeiner politischen Pädagogik gestellt, die
Der Autor
auch sein literarisches Werk zunehmend tur“ haben sich alles in allem nicht beGerd Koenen, 54, Hisgeprägt hat. Seine höchst anfechtbaren wahrheitet. Vielleicht ist die Literatur erst
toriker und freier PuWeltbetrachtungen, in denen der arg- heute dabei, in einem neuen Sinne zu
blizist, veröffentlichte
wöhnisch-poetische Blick des Danziger werden, was Goethe als „Welt-Literatur“
1991 „Die großen GeKriegskindes immer zu spüren war, haben voraussah.
sänge“ über den lite„Verbrennt die Bücher und vertraut
der Macht des Zeitgeistes jedenfalls
rarischen Personennie gehuldigt: nicht dem „radical chic“ von dem Buch“, lässt Salman Rushdie in seikult um Lenin, Stalin
1968, nicht der nationalen Saturiertheit nem Roman „Die Satanischen Verse“ den
und Mao. Von 1993 bis
emigrierten Imam sagen, der eine totavon 1989.
1996 beteiligte er sich
Ähnliches ließe sich allerdings auch von litäre Theokratie anstrebt, mittels deren
an dem von Lew Koden provokativen Interventionen seines die rasende Geschichte der Menschen wiepelew geleiteten Forschungsprojekt „Westfrüheren Mit- und heutigen Gegenspielers der in die „Zeitlosigkeit Gottes“ überführt
östliche Spiegelungen“.
Martin Walser sagen: von seinem Essay werden könnte. Das war ein genaues Por-
Spiegel des 20. Jahrhunderts
Das Jahrhundert der Massenkultur: Die Dichter und die Macht
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Kultur
Szene
L I T E R AT U R
FOTOGRAFIE
Rückenwind für
Deprimierte
u zweit machen Frauen „einander
Geständnisse und sind bedrückt“,
denkt die verkaterte Lola, „zu dritt machen sie einander Mut; zu viert hacken
drei auf die Vierte ein, bis sie in Depressionen verfällt“. In diesem Roman sind
die Frauen zu viert. Am
Morgen nach einem
„Feminine Studies“-Kongress trifft sich ein Quartett erfolgreicher Frauen in
ihren späten Vierzigern,
die es in das US-Städtchen
mit dem vielsagenden Namen Middleway verschlagen hat. Lola stammt aus
Skandinavien, ist Alkoholikerin und war einst ein
Filmstar der Nouvelle Vague; Aurore
wurde als Weiße in Afrika geboren,
wuchs in Frankreich auf und ist inzwischen eine anerkannte Schriftstellerin;
Babette kam als Jugendliche aus Algerien nach Bordeaux und hat es zur StarAkademikerin in den USA gebracht;
und Gloria, die Enkelin einer Bettlerin
aus der Karibik, leitet seit Jahren ihren
Uni-Fachbereich in Middleway.
Mit viel Rückenwind steuert dieser
Frauenroman der Autorin Paule Constant, 55, den deutschen Markt an: „Vertrauen gegen Vertrauen“ hat vergangenes Jahr den wichtigsten Literaturpreis
Frankreichs gewonnen und sich wochenlang auf Platz eins der Bestsellerlisten
gehalten. Doch was Constant am besten
gelingt, ist nicht der Emanzen-Blues,
sondern das Porträt einer unglücklichen,
zutiefst verunsicherten Frau: der Schriftstellerin Aurore. Leider gerät die immer
wieder aus dem Blick, denn Constant
reißt vieles an, vermengt Themen, Tonlagen und Schauplätze, vermischt Feminismus-Kritik und Campus-Satire, feinfühlige Betrachtung und literarische
Selbstbespiegelung – und verwischt dabei die Konturen ihres Romans.
Die Lebensgeschichten der Frauen hätten weit mehr Raum gebraucht, als ihnen zugestanden wird. Diese verletzten
und von den Männern abgestreiften
Frauen quetschen sich dicht an dicht auf
den Seiten – und finden als Romankollektiv trotz diverser Tricks der Verfasserin nicht zusammen. Und so brauchen
sie gar nicht aufeinander einzuhacken:
Deprimiert ist jede für sich allein.
Paule Constant: „Vertrauen gegen Vertrauen“. Aus
dem Französischen von Michael Kleeberg. Frankfurter
Verlagsanstalt, Frankfurt a. M.; 272 Seiten; 39,80 Mark.
W
hoopi Goldberg stieg für sie in eine Badewanne voller Milch, und Arnold
Schwarzenegger posierte auf einem weißen Hengst. Die US-Fotografin Annie Leibovitz versteht es, die Erfolgreichen dieser Welt so in Szene zu setzen, dass
sie nicht nur ihrem Publikum, sondern auch sich selbst gefallen. Nun überrascht die
berühmte Künstlerin mit einem Bildband, der nicht nur den schönen Schein zelebriert: „Women“ (Schirmer/Mosel, München; 240 Seiten; 148 Mark) heißt das
Werk, und es zeigt viele verschiedene Gesichter – verträumte und verletzte, amüsierte, stolze und beherrschte. Manche hat man schon andernorts gesehen, etwa die
stillende Jerry Hall und die milde lächelnde Hillary Clinton. Die beeindruckendsten Fotos zeigen unbekannte Frauen, denen die Kamera direkt ins Gesicht schauen kann, weil sie keine Masken tragen. „Women“ ist Leibovitz’ Liebeserklärung an
ein starkes Geschlecht.
Leibovitz-Porträts: Nicole Kidman (o.), „Model“ Tammy Kelly (u. l.)
FOTOS: A. LEIBOWITZ / CONTACT / AGENTUR FOCUS
Z
Die Frauen dieser Welt
„Model“ Rebecca Demison
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Szene
AU S S T E L L U N G E N
Krabbelnde Leidenschaft
V
T. FEUERSTEIN / COURTESY OF KUNSTRAUM H. WIDAUER / JRP GENF / J. LOPEZ
erderben viele Köche wirklich den Brei? Und was passiert,
wenn es sich nicht um exzentrische Küchenchefs, sondern um
zwei phantasiesüchtige Künstler handelt, die zusammen ein einzigartiges Kunstwerk schaffen sollen? Bringen sie sich um, oder
beflügeln sie sich gegenseitig? Sie verkleiden sich, wenn sie zufällig beide eine Leidenschaft für Insekten pflegen, als Fliege und
Käfer, treffen sich auf dem Dach eines New Yorker Hochhauses,
tratschen ein wenig und drehen darüber einen Film. Wie der belgische Künstler und Dramatiker Jan Fabre (Käfer) und der russische Konzeptkünstler und Kinderbuchillustrator Ilja Kabakow
(Fliege). Und weil sie wollen, dass auch das Publikum die Welt
durch die Augen ihres geliebten, krabbelnden und fleuchenden
Kleingetiers wahrnimmt – nämlich mit 200 statt mit 24 Bildern pro
Sekunde –, spielen sie ihren Film besonders schnell ab. „Get Together. Kunst als Teamwork“ heißt die witzig irritierende Ausstellung in der Kunsthalle Wien, in der das Resultat einer ungewöhnlichen Wahlverwandtschaft zu sehen ist (bis 9. Januar). Und
nicht nur dieses: Über 60 Künstler von Carsten Höller bis zu Rirkrit Tiravanija haben sich kreativ gepaart und dabei überraschende Gemeinsamkeiten entdeckt. Richard Hoecks und John
Millers Foto-Serie „Hard Hat“ lässt ahnen, dass beide keine Folge des TV-Klassikers „Bonanza“ verpasst haben. Sie zeigen zwar
nicht nur die Serien-Cowboys, sondern auch brünette Schönheiten – alle aber mit einem lächerlich hohen Filzhut.
Fotoarbeit „Hard Hat“ von Hoeck und Miller
Kino in Kürze
äußerer Mittel rührt er an tiefe Gefühle,
mit Behutsamkeit macht er das Ernste
leicht.
Szene aus „Sonja. Rote Korallen“
T H E AT E R
Sonja und die Liebe
I
n der Generation der jungen deutschen Autorinnen war sie vergangenen
Herbst eine der lichtvollsten Debütantinnen. Jetzt schreibt Judith Hermann,
29, auch fürs Theater. In Bielefeld
hat am Freitag ihr Text „Sonja. Rote
Korallen“ im Theater am Alten Markt
Premiere – die Dramatisierung von Motiven aus ihrem Debütband „Sommerhaus, später“. Das Zwei-Personen-Stück
handelt von einem Maler und der jungen Sonja, die einander im ICE kennen
lernen. Doch die luftige Liaison entwickelt sich keineswegs zügig, die Frau
entzieht sich. So geheimnisvoll wie Sonja scheint auch ihr Armband zu sein, das
von ihrer Urgroßmutter stammt. Die
Uraufführung der Schienen-Romanze
inszeniert Titus Georgi.
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ge des Gruselfilms „Bis das Blut gefriert“ scheucht „Speed“-Regisseur Jan
De Bont seine Helden durch ein Höllengemäuer, das Hill House in Neuengland, wo einst ein Finsterling mordete
und jetzt sein Geist spukt. Es pfeift das
Grauen aber auch durch die Löcher der
Geschichte – die sind groß genug, um
Lili Taylor, Liam Neeson und Catherine
Zeta-Jones fast unrettbar verschwinden
zu lassen.
„Austin Powers – Spion in geheimer
Missionarsstellung“. In dieser aberwit-
zigen James-Bond-Parodie entstammt
der forcierte Humor vorzugsweise untersten Schichten: Scherze aus der Fäkal- und Genitalsphäre, dazu Anspielungen auf 007-Klassiker. Austin
(Mike Myers in drei Rollen) jagt den
glatzköpfigen Weltzerstörer Dr. Evil,
der mit einer Laserkanone auf Washington zielt. Ein Film (Regie: Jay Roach)
mit Starbesetzung (Liz Hurley, Robert
Wagner, Rob Lowe) für belastbare Naturen, die sich unterhalb der Gürtellinie
nicht in Feindesland wähnen.
„Ende August, Anfang September“.
Nicht ein paar Tage sind gemeint, sondern ein ganzes Jahr: das Hin und Her
innerhalb einer Hand voll befreundeter
junger Leute aus der Pariser Szene. Der
Älteste wird 40, hatte als Schriftsteller
noch keinen überzeugenden Erfolg und
sieht nun schon den nahen Tod vor sich;
sein Bewunderer ergattert einen lukrativen Verlagsjob, wofür er sich in seiner
Künstlerseele verachtet; und die Frauen
suchen sich aus der Anhänglichkeit so
schwacher Männer zu lösen, auch wenn
es weh tut. Ein paar Abschiede, ein paar
Anfänge. Der französische Regisseur
Olivier Assayas hat längst treue Bewunderer, und auch sein neuer Film gibt
ihnen Recht: Aus impressionistischer
Beiläufigkeit entwickelt er eine komplexe Erzählung, mit einem Minimum
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KINOWELT
K. STUKE
„Das Geisterschloss“. In der Neuaufla-
Szene aus „Austin Powers“
Kultur
KINO
„Die Kurden fanden es
wunderbar“
Der Produzent Peter Herrmann, 44,
über die Dreharbeiten zu dem Film
„Eine Hand voll Gras“, die in Iran
stattfanden
SPIEGEL: Zum ersten Mal seit 20 Jahren
erhielt ein westliches Team eine Drehgenehmigung für einen Spielfilm in
Iran. Hätte man nicht auch einen anderen Drehort finden können –
zum Beispiel in den kurdischen Siedlungsgebieten der
Türkei?
Herrmann: Dort war das Risiko zu groß – wir mussten uns
zu einer Zeit festlegen, als gerade der Kurdenführer Abdullah Öcalan verhaftet wurde.
SPIEGEL: Die Handlung des
Films basiert auf einer SPIEGEL-Reportage.
Herrmann: Ja, es ist eine FicHerrmann
tion-Story, aber nach einer
wahren Geschichte: Ein kleiner Junge aus der kurdischen Türkei
wird nach Hamburg geholt und dort als
Drogendealer eingesetzt, weil er noch
strafunmündig ist.
SPIEGEL: Hatten Sie Schwierigkeiten
beim Dreh?
Herrmann: Der Drehort war ein Dorf
nahe der irakischen Grenze. Kommunikation und Versorgung waren fürchterlich anstrengend. Es gab kein Telefon,
tagsüber hatte es 30 Grad, nachts war
es unter null. Aber von staatlicher Seite waren alle sehr hilfsbereit.
SPIEGEL: Keine Aufregung?
Herrmann: Natürlich war eine gewisse
Spannung da, weil in diesem Gebiet
noch vor wenigen Jahren gekämpft
worden ist. Außerdem lebt die Region
vom Schmuggel.
SPIEGEL: Wie haben die Einheimischen
Ihre Arbeit aufgenommen?
Herrmann: Die Kurden fanden es wunderbar, dass wir
dort gedreht haben. Sie wollen der Welt zeigen, dass sie
nicht nur Meuchelmörder
sind. Sie haben uns extrem
geholfen.
SPIEGEL: Wurden Sie beim Filmen von der Regierung beobachtet?
Herrmann: Die Regierung
hatte uns zum Schutz sechs
Soldaten mitgegeben, die
vor Angst schlotterten, als
wir in unserem Drehort ankamen. Die Dorfbewohner haben denen
erst mal die Gewehre weggenommen.
Als wir intervenierten, hat man sich
darauf geeinigt, dass die Soldaten
bei Nacht unser Zeltlagercamp bewachten.
K U LT U R G E S C H I C H T E
Zauberlehrlings Nöte
M
anuskript abliefern, drucken lassen und den
Platz auf der Bestsellerliste abwarten: Schön
wär’s, wenn Bücher so ihren Weg machten. Eine
Menge kann dazwischenkommen. Stattlich und
spannend ist darum die Ausstellung, die jetzt im
Weimarer Goethe-Nationalmuseum (und vom 7.
November an in Marbach) vorführt, „Was mit den
Büchern geschieht“, wenn sie ins Leben treten.
Schon vor Fertigstellung lauern Foltern; so wurde
Thomas Manns noch unveröffentlichter Großroman
„Der Zauberberg“ auf einem Lesungsplakat 1919
als „Der Zauberlehrling“ angekündigt. Ist ein
Opus da, machen sich Nachdrucker, Plagiatoren
Busch-Zeichnung
und Exlibris-Narren darüber her. Oder die Zensur
schreitet ein. Wilhelm Buschs Bildergeschichte vom „Heiligen Antonius von Padua“
zum Beispiel galt in Österreich als gotteslästerlich, bis ein paar listige Abgeordnete
1902 das gesamte Werk im Parlament verlasen, um den Vorwurf zu prüfen – die
Buchfassung konnte dann als „Nachdruck des Sitzungsprotokolls“ erscheinen. Anekdoten überall: Zur legendären Widmung „Wem sonst als Dir“, die Hölderlin der Geliebten Susette Gontard versteckt in seinen „Hyperion“ schrieb, haben die KatalogAutoren, darunter Altmeister Reinhard Tgahrt aus Marbach, eine ganze Kollektion
Parallel-Funde zu bieten. Und was echte Exklusivität heißt, zeigen sie an einem Wort
des Dichters Stefan George: „Mein nächstes Buch drucke ich in zwölf Exemplaren,
elf für meine Freunde, eines für die breitere Öffentlichkeit.“
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Am Rande
Noble Nachricht
N
ahezu ein Jahrhundert lang galt
der Ratschluss der Stockholmer
Nobelpreisjury als unerforschlich
wie die Wege des Herrn. Warum
wurde Thomas Mann erst 28 Jahre
nach der Veröffentlichung der „Buddenbrooks“ nobilitiert und Günter
Grass nun erst 40 Jahre nach der
„Blechtrommel“? Warum haben es
weder Bertolt Brecht noch Vladimir
Nabokov, weder James Joyce noch
Marcel Proust, weder Franz Kafka
noch Jorge Luis Borges zum Nobelpreis gebracht? Letzte Woche lüftete der Schwede Jerry Bergström das
Geheimnis: Versagt haben die nationalen Tourismus- und Public-Relations-Branchen der jeweiligen Kandidaten.
Bergströms Werbeagentur dagegen hat den
letztjährigen Preisträger
José Saramago gemacht:
mit einer professionellen
Kampagne, binnen eines
Jahres, im Auftrag und
auf Rechnung des portugiesischen Handels- und
Tourismusbüros. Er hat
unter anderem Interview-Serien arrangiert
und die romanistischen Fakultäten
schwedischer Universitäten infiltriert. Zufrieden bilanzierte Profi
Bergström im Branchenblatt „PR
View“: „Nichts unterscheidet einen
Nobelpreis von einer Präsidentenwahl oder der Auszeichnung eines
Autos.“ Im Licht dieser Nachricht
wird der nebulöse Hintergrund des
Nobelpreises von 1997 für Dario Fo
sonnenklar: Im globalisierten Wettbewerb hat Italien nicht geschlafen.
Adria und Riviera sind ebenso wie
die Algarve auf Attraktionen angewiesen, ob sie nun Alfa Fo oder Dario Romeo heißen. Rechtzeitig vor
dem Millennium erkannte offenbar
die deutsche Reisebranche die Zeichen der Zeit. Im Fall des derzeitigen
Laureaten halten sich seine PR-Macher bisher zwar bedeckt. Aber zu
Unrecht, denn mit der Marke Grass
haben sie Schaden vom Wirtschaftsstandort Deutschland gewendet.
327
G. KRAUTBAUER / SNF PRODUKTION
Kultur
Musical „Saturday Night Fever“ in Köln: Mit Schmachtlocken und Schlaghosen wirbeln die Boys ins bonbonbunte Delirium
MUSICALS
Amadeus in Aspik
Die marode Musicalszene wittert Morgenluft, mit dem Start in die neue Saison häufen sich
die Premieren. Nun sollen der Drache Tabaluga, der Komponist Mozart, ein
transsexueller Outsider und flotte Tanzcorps der angeschlagenen Gattung wieder auf die Beine helfen.
W
ar nicht längst alles aus? Die Boa
beim Trödel, der Putz im Eimer?
Die deutsche Musicalszene floppte. Noch vor kurzem war der Geier der
Star der Saison.
„Rent“ lahmt vor sich hin. Für „Joseph“,
„Miss Saigon“ und „Les Misérables“ läutet das Sterbeglöckchen. „Sunset Boulevard“ ist bereits am Ende, auch „Der Herr
der Ringe“ hat das Zeitliche gesegnet, genau wie „Gambler“ und „Gaudí“. Katzenjammer im „Cats“-Revier.
In vielen Flimmerkästen erloschen die
Spots. Die Stella AG, jahrelang der Überflieger des Gewerbes, landete nach „steilem Sturzflug“ („FAZ“) im Minus. Der
Musical-König Rolf Deyle musste abdanken, selbst Komponist Andrew Lloyd Webber, in der Zunft der Dukatenscheißer,
schöpft nicht mehr aus dem Vollen.
328
Prompt druckten Deutschlands Feuilletons schadenfrohe Nachrufe. „Musicals waren wie eine Lizenz zum Gelddrucken“,
kommentierte „Die Welt“ die Agonie der
Singspiele, „es war ein Goldrausch.“ Der
„kommerziellen Spaßkultur“ gehe die Puste aus, beklatschte die „Frankfurter Rundschau“ noch Anfang des Jahres die „Stunde der Ausnüchterung“: „Staatstheater und
E-Musik-Lobby können aufatmen.“
Zu früh gefreut: Die Szene berappelt
sich, durch die Spielstätten weht Morgenluft. Mit dem Start in die Herbstsaison wird
wieder kräftig getingelt.
Im brandneuen „TeatrO CentrO Oberhausen“ versucht jetzt der kleine Drache
Tabaluga, nicht nur seine in Eis erstarrte
Prinzessin Lilli, sondern auch den Typ des
kidstauglichen Musicals zu neuem Leben
zu erwecken und so in fünf Jahren die Vord e r
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laufkosten von 62 Millionen Mark wieder
einzuspielen.
Nicht auszuschließen, dass das klappt:
Mit „Tabaluga & Lilli“ öffnet sich ein netter, familienfreundlicher Sesam. Zwar labern die Dialoge durch manch hirnrissige
Untiefe, und die Musiktitel klingen alle
hartnäckig nach dem bejahrten Rocky-Boy
Peter Maffay, dem Stammvater des Märchens und 28,5-prozentigem Teilhaber an
dessen Rechten.
Doch wer guckt, kommt auf seine Kosten: Die Illusionsmaschinerie läuft wie geschmiert. Es pufft, zischt, dampft abendfüllend; auf 60 Meter Leinwand tricksen
Computer ihre glänzenden Animationen,
und ganze Batterien von Lasern verzaubern, auf die Sekunde perfekt, den Oberhausener Zweckbau in eine Augsburger
Puppenkiste voll Hightech-Schick.
DPA
VIENNAREPORT
Musical „Tabaluga“ in Oberhausen: Es pufft, zischt, dampft
gegriffen wie in Wien, der
Stadt auf klassischer TonErde. Dort, im historischen
Theater an der Wien, fand
am vorletzten Wochenende die Welturaufführung
von „Mozart!“ statt, wohlgemerkt: Titel und Thema
mit Ausrufezeichen.
Nun war das Wolfgangerl schon immer für manchen Mumpitz gut. An der
Biografie ist ja auch alles dran: Wunderbub mit
Triezpapa, goldiges Schwesterherz, miese Neider und,
natürlich, der anonyme
Unhold, der ein Requiem bestellt und damit
den Genius selbst aufs
Sterbebett streckt. Furchtbar das Ganze und mehr
Dichtung als Wahrheit.
Und wenn schon: Kein
Komponist ist schließlich
von seinen Fledderern so
oft verkindscht und verblödet worden. Da sind die
Musical „Mozart!“ in Wien: Mit Terzen und Totenkopf in den Orkus
Derweil wird unter der Plane des Kölner
„Musical Dome“ ein 47-Mann-Ensemble
zum Revival der Disco-Mode gestriegelt:
Rund vier Wochen vor der Premiere am
Broadway brach am Rhein bereits das „Saturday Night Fever“ aus und soll nun wenigstens drei Jahre lang dem musicalmüden
Publikum in die Beine fahren.
In der vom Kölner Schauspiel eingerichteten Halle Kalk, einer ausgemusterten
Fabrik, probiert gleichzeitig das städtische
Theater mit dem Girlie-Boy „Hedwig“
ein deftig-duftes Kontrastprogramm zum
kommerziellen Event-Zirkus.
Doch nirgends haben die Musicalmacher
wieder mal so tief geschürft und so hoch
neuen Wiener Musicalisten durchaus in unfeiner Gesellschaft.
Nun ist der Librettist Michael Kunze
nicht zwingend als Poet der Hochkultur
ausgewiesen. Immerhin, als Texter von
Udo Jürgens („Griechischer Wein“) weiß
er, wie das Leben und wo die Musik spielt:
Schmus macht Moos. Und so lässt er denn
für den Salzburger Genius aus dem „unendlichen Universum der Musik“ das
„Gold von den Sternen“ regnen, erteilt
auch mal dem weinerlichen Filius das Wort
(„Mein Gott Papa, wieso kannst du mich
nicht lieben, wie ich bin?“) und macht sich
ansonsten mit der Komponistenschwester
Nannerl seinen Reim auf den Lauf der
d e r
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Dinge: „Der Prinz ist fort, das Schloss ist
leer, und die Prinzessin lacht nicht mehr.“
Gemeinhin können sich Librettisten derart groben Unfug leisten – der Zweck heiligt die Knittel. Aber der Komponist Sylvester Levay kitscht und knatscht leider
genau nach Textvorlage und kugelt Mozart
vollends zum kandierten Früchtchen.
Mal leiert er lauter eintönige Kürzel runter, mal glaubt er sich mit ein paar rockigen Rülpsern am Puls der Zeit. Aber am
liebsten dickt er seine reinen Terzen ein
und schleimt mit ganzen Seilschaften aufgelöster Dreiklänge durch den Orchestergraben – Amadeus in Aspik.
Den Rest besorgen die Herren Dekorateure. Regisseur Harry Kupfer und Bühnenbildner Hans Schavernoch setzen wieder ihre schwenkfreudige Hebebühne in
Gang, kramen die gewohnt wackligen Spiegelwände hervor und begnügen sich mit
einer einzigen Überraschung: Plötzlich, unter unheilschwangerem Dröhnen, fährt ein
schwarzer Totenkopf auf die Bretter und
kurvt nun, motorisch betrieben, bis zum
Schluss über die Bühne. Leider ein Regiefehler: Der Coup kommt zu spät. Denn
wenn der Schädel Gas gibt, ist der Schmäh
längst im Orkus.
Wow, wie geht es dagegen im Schatten
des Kölner Doms zur Sache: grelle Show,
heiße Party, bühnenbreit Highlife. Da drehen sich die gestylten Boys mit der
Schmachtlocke und den Schlaghosen ins
geschickt choreografierte Delirium. Zwischen glitzernden Spiegelwänden buhlen
sie um ihre Darlings, und die Girls wirbeln
hochhackig mit.
„Saturday Night Fever“, jene schon legendäre Schlagerparade der Bee Gees, die
der weiß betuchte John Travolta im Kino
salonfähig gemacht hat, soll nun am Rhein
der Disco-Mode neuen Schwung verpassen. Oder umgekehrt: Ein Revival der Disco-Ära soll dem müden Musical auf die
Sprünge helfen.
Mag ja hinhauen. Die Songs schmalzen
nur halbfett, also bekömmlich; gymnastisch
ist die Truppe auf Zack; und das Design
verstrahlt genau die bonbonbunte Kälte
der damaligen Tanzpaläste.
Doch auch dieser Glamour hat seine
Grauzone. Deutsch gequatscht und englisch gesungen bleibt die Story ärgerlich
halber Kram, und im Ruckzuck der Ensemble-Nummern geht auch der noch unter. Denn den Kern des Plots – junge Verlierer aus Brooklyn tanzen sich ihren Frust
aus dem Leibe – treten in Köln 94 Beine
platt. Also doch kaum mehr als Wellness
fürs Auge.
Aber es geht, wie sich zeigt, auch anders:
weg vom gewichsten Amüsement und hin
zum ruppigen Denkzettel, raus aus den
Glamourpalästen und rein in Thespis’ Hinterhof. Da macht ein Mann aus Kleinkunst
die große Nummer.
Ein armes Schwein, fast solo auf der plüschigen Bühne; war mal ein Kerl und hieß
329
LEFEBVRE / BÜHNEN DER STADT KÖLN
Köster im Kölner Musical „Hedwig“
Fetzig durch die Schmuddelecken
Hansel, wollte aus Ost-Berlin weg, rüber
ins KaDeWe; ging nicht; die Mauer. Da
fängt ein GI namens „Sugardaddy“ Feuer
und will den Boy heiraten. Hansel lässt
sich operieren, der Eingriff misslingt: 2,54
Zentimeter Mannesfleisch, genau ein Inch,
bleiben zwischen seinen Beinen stehen.
Nun heißt er Hedwig, ist „zurechtgenäht“ und bald von Daddy verlassen. Aus
der Traum.
Europäische Erstaufführung des US-Musicals „Hedwig and the Angry Inch“ in OffKöln, im rechtsrheinischen Abseits, wo so
eine krude Mixtur aus Zeitgeschichte,
Geschlechtsumwandlung und Rockabend
nicht groß auffällt.
Ein Jammer. Denn diese kleine, laute
Travestie über das Crossover der Geschlechter ist ein Melodram voll schrägem
Drive und vulgärem Charme, mit all den
Fummeln und falschen Locken herrlich
schmierig und trotz der banalen Botschaft
seltsam anrührend.
Da nervt kein klebriges Ohrgewürm
wie in „Mozart!“, da ist der Tanzboden
nicht wie in „Saturday Night Fever“ keimfrei gewienert. Dafür ist Leben in der
Drecksbude und Gefühl in den Songs, und
der famose Gerd Köster – Stimme mit
Schnauze – fegt fetzig durch die Schmuddelecken.
Zum Kick für einen neuen MusicalBoom reicht das kaum: Die raue „Hedwig“
bleibt eher was für stille Liebhaber, ein
Minderheitenprogramm. Aber Tabaluga,
diesem schnuckligen Drachen aus dem
Kohlenpott, und Kölns glitzerndem DiscoRemake werden die Massen zulaufen; Schaden nehmen sie nicht, ihren Spaß werden
sie haben. Nur Wien, weit weg, lohnt keinen
müden Schilling.
Klaus Umbach
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Kultur
MUSEEN
„Wieder bei Null anfangen“
Christoph Stölzl, Generaldirektor des Deutschen Historischen
Museums, über seinen geplanten Wechsel auf den
Chefposten im Feuilleton der Springer-Zeitung „Die Welt“
SPIEGEL: Herr Stölzl, ist alles klar für den
Absprung?
Stölzl: Wie der Übergang aus einer Beamtenexistenz mit Pensionsberechtigung in
die freie Wirtschaft zu regeln ist, wird noch
ausgerechnet. Ich erwarte eine positive
Entscheidung in den nächsten 14 Tagen.
SPIEGEL: Welcher Teufel reitet Sie, aus dem
Olymp der Museumswelt in die Niederungen des Journalismus herabzusteigen?
Stölzl: So sehe ich das nicht. Als politisch
handelnder Kulturmensch habe ich immer
gefunden, dass die öffentliche Meinung ein
gleichrangiger Dialogpartner ist.
SPIEGEL: Wie kam es zu dem Plan?
Stölzl: Mt dem jetzigen „Welt“-Chefredakteur Mathias Döpfner hatte ich schon
oft über meine Lieblingsthemen Typografie, Layout und Illustration gesprochen. Im
Sommer hat er mich gefragt, ob ich mir einen Berufswechsel vorstellen könnte.
SPIEGEL: Was vertreibt Sie aus Ihrem jetzigen Amt? Man spricht von Streit mit dem
Kultur-Staatsminister Michael Naumann
und seinem Referenten Knut Nevermann.
Stölzl: Völliger Unsinn. Versuche, auf das
Programm des Museums einzuwirken, gibt
es jetzt so wenig wie unter der vorigen Regierung. Dazu ist es als GmbH auch viel zu
unabhängig konstruiert. Dass Nevermann
den Vorsitz im Aufsichtsrat übernommen
hat, ändert daran nichts.
SPIEGEL: Sie waren Favorit der Regierung
Kohl für das Präsidentenamt der Stiftung
Preußischer Kulturbesitz. Die Vertreter der
Länder haben aber Ihre Berufung verhindert. Wie tief sitzt die Kränkung?
Stölzl: Das ist das falsche Wort. Natürlich
bin ich über die Politisierung einer Sache,
die wahrlich nichts mit Parteipolitik zu tun
hat, unglücklich gewesen. Aber schon damals musste ich mich fragen, ob ich vom
Deutschen Historischen Museum weggehen kann. Ich bin zu dem Schluss gekommen: Die Weichen sind gestellt, ich brauche
kein schlechtes Gewissen zu haben.
SPIEGEL: Überdruss am gewohnten Job?
Stölzl: Nein. Unsere Planungen gehen
mit schönen, interessanten Dingen weiter.
Nur ist ein Generalist wie ich eben von der
d e r
P. MEISSNER / ACTION PRESS
Historiker Stölzl, 55, leitete von 1980 bis
1987 das Münchner Stadtmuseum und
übernahm dann den Aufbau des Deutschen
Historischen Museums in Berlin, das 1990
mit dem DDR-Museum für Deutsche Geschichte vereinigt wurde.
Museumsmann Stölzl
„Vom Kulturmachen zur Kulturkritik“
Idee verlockt, noch einmal bei Null anzufangen. Sonderbar, dass eine Gesellschaft,
die dauernd Veränderungen predigt, ungläubig reagiert, wenn mal einer nicht seine Privilegien aussitzen will, und dass man
sich versteift, es müsse ein Knatsch dahinter stecken. Solch ein Geheimnis kann
ich nicht bieten. Zugegeben: Das ist in hohem Maße irrational.
SPIEGEL: Tatsache ist: Das Museum muss
künftig mit weniger Geld auskommen.
Stölzl: Das stimmt und schlägt schon sehr
zu Buche, spielt aber für meinen Entschluss
keine Rolle. Bei uns wird genauso gekürzt
wie bei allen anderen. Hätte ich Sorge,
dem Haus drohe Gefahr von der rot-grünen Koalition, dann hätte ich gesagt: Das
wollen wir doch mal sehen. Nein, jede
Bundesregierung wird dieses HauptstadtMuseum nach Kräften fördern.
SPIEGEL: Was reizt Sie am Rollenwechsel?
Stölzl: Ich spüre große Lust, vom Kulturmachen zur Kulturkritik überzugehen und
auch dort mitzureden, wo ich bisher nicht
zuständig war.
SPIEGEL: Sehen Sie sich vorwiegend als
Autor?
Stölzl: Nein, eher als Zirkusdirektor. Ich
habe einige Erfahrung darin, Menschen
und Ideen zusammenzubringen.
SPIEGEL: Was soll das Team leisten?
Stölzl: Themen finden, die über abgesteckte Spartengrenzen hinausgehen. Ein großes
demokratisches Publikum muss witzig und
unterhaltend gebildet werden. Außerdem
bin ich ein sinnlicher Mensch und finde,
Zeitungen sollten auch wunderschön sein.
SPIEGEL: Das klingt nach gründlichen Veränderungen bei der „Welt“.
Stölzl: Wären die zufrieden mit sich, würden
sie kaum nach Seiteneinsteigern Ausschau
halten.
Interview: Jürgen Hohmeyer
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Kultur
NOBELPREIS
„Von Shakespeare bis zu mir“
KÖRBER STIFTUNG
Ein alter Mann erinnert sich an die Freundschaft zweier junger Männer*.
Grass (M.), Reisegefährten**: „Komme soeben aus Weimar“
A
ndere Länder haben auch große Dichter. Der Schöpfer des
„Ulysses“, James Joyce, wollte mit
der Politik nichts zu schaffen haben. Der
unpolitische Dichter Knut Hamsun, der
unpolitische Dichter Günter Grass, beide
Unglückssprecher ihres Landes, wo werden sie heute am meisten gelesen, was
wird mit ihrem Nachruhm geschehen?
Hier möchte ich eine Anleihe bei dem
großen Lyriker Bert Brecht machen: „Wir
wissen, dass wir Vorläufige sind und
nach uns wird kommen: nichts Nennenswertes.“
* Rudolf Augstein wünscht Günter Grass den geruhsamen, ja glücklichen Höhepunkt des Lebens, um dessen
Fortdauer er nur beten kann.
** Rudolf Augstein, Marion Gräfin Dönhoff, Kurt A.
Körber bei ihrer Leningrad-Reise 1970.
*** Golo Mann („Wallenstein“) hielt sich mit seiner Erzählkunst an die Wirklichkeit – aber auch wieder nicht:
Er überhöhte seine Heldenverehrung.
332
Ob der große G. G. eines solchen Gedankens wohl auch nur fähig wäre?
„O vanitas vanitatum“, der Prediger Salomo spricht, „alles auf dieser Welt ist eitel.“
Der Günter Grass, den ich kennen lernte, war ein ganz anderer als heute. Bartlos
wirkte er irgendwie komisch. Dann sah
ich bald die Notwendigkeit eines Schnauzers ein. Keine Oberlippe, Zahngewirr. Damals konnte man mit ihm noch reden. Zufällig hatte ich als Einziges sein Buch „Katz
und Maus“ gelesen. Mit ihm im Auto sitzend sagte ich: „Die ,Blechtrommel‘ ist
dir gut gelungen. Aber ein Drittel hätte es
auch getan.“ Er blieb ganz ruhig und stellte mir eine andere für mich etwas peinliche Frage.
Es freut mich, zu zwei Dritteln Recht
behalten zu haben, wenn ich mir die Nobel-Artikel anlässlich seines sehnsuchtsvoll
erwarteten Preises vorlesen lasse. Man
muss nicht zum Kreise der Auserwählten
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gehören, um sofort zu durchschauen, welche Einschränkung in der Begründung der
Nobel-Verleiher steckt. Grass wurde gewählt, weil das größere Deutschland nun
einmal wieder dran war. Grass ist ein
Pazifist, und hätte man mich aus dem
Schlaf gerüttelt und gefragt, wem von allen
Deutschen man den Literatur-Nobelpreis
zuerkennen sollte, so hätte ich noch halb
blind die drei Silben hervorgestammelt:
„Günter Grass“.
1966 nannte ich ihn einen „verdienten
Sänger des Volkes“. Er sang damals für
die gottlose SPD. Aber wie kam ich dazu? Werde ich über irgendein Grasssches
Gesamtwerk ein irgend vertretbares Urteil
abgeben können? Da ich ja kaum wert
gewesen wäre, ihm die Schnürsenkel zu
lösen, wie sollte ich ein Urteil über sein
Werkchen „Das Treffen in Telgte“ abgeben? Es wurden, so sagte mir Grass damals, im französischen Sprachbereich 28
Exemplare verkauft. Ich hingegen hielt
„Telgte“ für ein lebloses Glasperlenspiel
in der Art von Hermann Hesse. Das uns
heute bekannte Alleswisser-Großmaul
samt zugehörigen Wichtigkeitsorden war
Grass damals noch nicht. Er schrieb zu
Adenauers Tod 1967 einen Zweizeiler, der
da lautet: „Welchen Hering wird man
nach ihm benennen?“ Das gefiel mir damals. Nur stellte sich heraus, dass er das
zehnmal längere Gedicht seinem und meinem engsten Freund Uwe Johnson zur
Bearbeitung überlassen hatte. Der strich
alles weg, und nur der Hering blieb stehen. (Bert Brechts „Puntila“: „Hering, du
Hund“!)
Aber ich gerate selbst ins Erzählen,
der ich meine wenigen wichtigen Artikel
nie im Erzählton formulieren konnte***.
Im Nachschlagewerk fand ich den Schlüssel. Ich selbst hatte ja über Grass geschrieben. Er hatte ein Lehrstück über das Volksaufbegehren von 1953 geschrieben, das
unter dem Titel „Die Plebejer proben den
Aufstand“ 1966 herauskam. Meine Überschrift „William Shakespeare, Bertolt
Brecht, Günter Grass“ macht deutlich, dass
ich das Schreiben von Theaterstücken nicht
für seine größte Stärke hielt.
Fazit: Das Stück wollte nicht geschrieben werden.
Dabei hätte man einem Vortrag unseres
Dichters 1964 entnehmen können, dass
große Ereignisse ihre Schatten vorauswarfen. Grass wörtlich: „Von Livius und Plu-
LEBECK / STERN / PICTURE PRESS
tarch über Shakespeare bis zu Brecht
und mir.“
Immerhin er war noch Mensch. In den
Weißen Nächten von Leningrad saßen wir
1970 zu dritt und tranken Rotwein, im Angesicht des majestätischen Winterpalais,
das zwar 1917, anders als die Legende will,
von den Roten nicht gestürmt wurde,
dafür aber auf sicherem Grund stand, sagen wir auf 10 000 Totenköpfen. Grass, so
fand ich, war Mensch. Grass war immer für
die Mühseligen und Beladenen. In Indien
und in noch ferneren Regionen. Die ganze
Reise verdankten wir einem Ehrenbürger
Hamburgs, dem kinderlosen und etwas eitlen Kurt Adolf Körber. Er entwickelte von
1939 bis 1945 Maschinen zur automatischen Zigarettenherstellung. Ich hätte damals in meiner Eigenschaft als Augstein
nicht nach Leningrad fahren dürfen, Grass
nicht, weil er Berliner war. Wie immer
kittete Marion Dönhoff alles. Sie ließ die
Gegenseite wissen, entweder keiner käme
oder alle.
Wir kamen in Moskau an und stellten einen Unterschied zum Westen fest. Nur Verheiratete durften sich ein Zimmer teilen.
So streng waren dort die Bräuche, dass
man der Nachtwächterin (Deschurnaja) ein
zu hohes Trinkgeld hätte hinblättern müssen. Stattdessen gab es viel Geschleiche
auf den Gängen. In der Moskauer Metro
konnten Günter Grass und ich so viele
Menschen zur Übernachtung sehen, dass
uns die Zahl von einer Million Schlafgängern nicht übertrieben erschien.
Dann im Prachtexpress, wohl noch aus
Zarenzeiten, erreichten wir das Venedig
des Nordens, eben Leningrad. Hier gab es
viel zu sehen und zu staunen, lautes Dröhnen aus den in den Ästen hängenden Laut-
Grass mit Ehefrau Ute
„Der größte Tänzer ist er allemal“
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Kultur
sprechern erleichterte uns den obligaten
Sündermarsch durch den riesengroßen
Krieger-Friedhof, wo es dann Erfrischungsgetränke gab.
Die zweitägige Sitzung erbrachte einen
jener nutzlosen Dialoge, wie die Sowjetmenschen sie damals anscheinend nicht
entbehren konnten. Das Kommuniqué lautete: „Friedensfreunde aus der Sowjetunion und der Bundesrepublik trafen sich
in Leningrad. Beide Seiten stimmten darin überein, dass der Frieden zu erhalten
sei.“ Mir wurde das zu langweilig, ich wanderte zum nächsten Kiosk, wo ich deutsche und englische Zeitungen nicht finden
konnte. Nur das „Lützelburger Wort“ fiel
mir in die Hände, vermutlich das Zentralorgan der russischen Untergrundarmee in
Luxemburg.
Ich kehrte an den Konferenztisch zurück, wo Grass und Gräfin Dönhoff mit
Hilfe eines Freundes von mir, Professor
Jurij Rubinski, heftig stritten. Ein von mir
dem „Lützelburger Wort“ entnommenes
Zitat aus dem Munde Walter Ulbrichts
fruchtete da nicht mehr. Geleitet wurde
die Sitzung von einem gebürtigen Wiener
Juden, dem spät berufenen Berliner Nikolai Poljanow. „Jelernt is jelernt“, sagte der
Sowjetmensch, als ich ihm zur hervorragenden Leitung der Sitzung gratulierte.
Die Sehnsucht aller aber richtete sich
auf das neue Stadthaus der Leningrader.
Hier tanzte der Industrielle Körber mit
der stellvertretenden Bürgermeisterin
Anna Boikowa, alles in Ordnung also, auch
nicht-eheliche Paare durften in einem
Zimmer schlafen und, wie uns die Gräfin
bedeutete, sich das Frühstück ans Bett bestellen. Ein Mensch bekam gar nichts, aber
eine Dreiergruppe war ja eine Delegazija,
eine Delegation also, und unsere Stückzahl lag bei elf.
Russen wie Nicht-Russinnen schütteten
das kostbare Nass in sich hinein, da hieß es:
„Der berühmte deutsche Dichter Günter
Grass wünscht, an die Versammelten ein
Wort zu richten.“
Alle erstarrten. Der neben mir stehende
Chefredakteur der satirischen Zeitung
„Krokodil“, der vorgab, kein Wort Deutsch
zu verstehen, sprach es aber wohl recht
gut. Er sagte zu mir: „Ich sehe, die Deutschen sterben nicht aus.“ Grass mit seinem sonoren Bariton nahm die Ohren fast
aller Anwesenden in Beschlag. Wenn ich
mich nicht sehr irre, begann er mit den
Worten: „Komme soeben aus Weimar.“
Wie? Mein Günter ein Wichtigtuer? Das
war nun nicht mehr zu leugnen. Durch lautes Klatschen beendete man den wohltuenden Klang seiner Rede.
Am nächsten Tag ging es per Luftkissenboot nach Schloss Peterhof. Alles bis
ins Kleinste wieder hergezaubert. Den Papagei im Käfig, die Singvögel sangen ein
bärenhaft grunzendes Liedchen. Irgendetwas gefiel mir an dem Schloss nicht. Keiner
hatte bedacht, dass vor allem die Polen,
334
d e r
aber auch die Russen Meister in der Kunst
waren, zerstörte Stadtteile wieder aufzubauen (Warschau), und das ganze naturgetreu nachgebaute Schloss Peterhof galt
als ein Meisterstück dieser Bausparte.
Nach Hause flogen wir über das vor
Anker eingepflockte Panzerschiffchen
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Bestseller
Belletristik
1 (1) Isabel Allende Fortunas Tochter
Suhrkamp; 49,80 Mark
2 (3) Elizabeth George Undank ist der
Väter Lohn Blanvalet; 49,90 Mark
3 (2) Donna Leon Nobiltà
Diogenes; 39,90 Mark
4 (4) John Irving Witwe für ein Jahr
Diogenes; 49,90 Mark
5 (5) Henning Mankell Die falsche
Fährte Zsolnay; 45 Mark
6 (–) Noah Gordon
Der Medicus
von Saragossa
Blessing; 48 Mark
Das erste Mal auf der
Liste: die Geschichte
eines heimlichen Juden,
der im Spanien des
Spätmittelalters vor der
Inquisition flieht
7 (7) Henning Mankell Die fünfte Frau
Zsolnay; 39,80 Mark
8 (6) Günter Grass Mein Jahrhundert
Steidl; 48 Mark
9 (10) Nicholas Sparks Zeit im Wind
Heyne; 32 Mark
10 (–) Marianne Fredriksson Maria
Magdalena W. Krüger; 39,80 Mark
11 (9) Walter Moers Die 131/2 Leben
des Käpt’n Blaubär Eichborn; 49,80 Mark
12 (11) Martha Grimes Die Frau im
Pelzmantel Goldmann; 44 Mark
13 (8) Johannes Mario Simmel Liebe ist
die letzte Brücke
Droemer; 44,90 Mark
14 (15) Siegfried Lenz Arnes Nachlass
Hoffmann und Campe; 29,90 Mark
15 (–) Stephen King Atlantis
Heyne; 44 Mark
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„Aurora“, das der Legende nach die Revolution einleitete.
Der dritte Mann am Rotweintisch neben
Grass und mir war Peter Bender gewesen,
ein humoriger Russlandkenner. Ich hoffe,
er lebt noch. Von Professor Rubinski weiß
ich nur, dass er seine große Heimat verriet
Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich
ermittelt vom Fachmagazin „Buchreport“
Sachbücher
1 (2) Marcel
Reich-Ranicki
Mein Leben
DVA; 49,80 Mark
Das erste Mal auf
Platz eins:
die ergreifende
Autobiografie des
Star-Kritikers
2 (1) Sigrid Damm Christiane und
Goethe Insel; 49,80 Mark
3 (3) Waris Dirie Wüstenblume
Schneekluth; 39,80 Mark
4 (4) Corinne Hofmann Die weiße
Massai A1; 39,80 Mark
5 (5) Dale Carnegie Sorge dich
nicht, lebe! Scherz; 46 Mark
6 (7) Ruth Picardie Es wird mir fehlen,
das Leben Wunderlich; 29,80 Mark
7 (6) Tahar Ben Jelloun Papa, was ist
ein Fremder? Rowohlt Berlin; 29,80 Mark
8 (8) Klaus Bednarz Ballade vom
Baikalsee Europa; 39,80 Mark
9 (9) Bodo Schäfer Der Weg zur
finanziellen Freiheit Campus; 39,80 Mark
10 (10) Daniel Goeudevert
Mit Träumen beginnt die Realität
Rowohlt Berlin; 39,80 Mark
11 (11) Jon Krakauer In eisige Höhen
Malik; 39,80 Mark
12 (15) Peter Kelder Die Fünf „Tibeter“
Integral; 22 Mark
13 (14) Ulrich Wickert Vom Glück,
Franzose zu sein
Hoffmann und Campe; 36 Mark
14 (12) Günter Ogger Macher im
Machtrausch Droemer; 39,90 Mark
15 (13) Guido Knopp Kanzler –
Die Mächtigen der Republik
C. Bertelsmann; 46,90 Mark
d e r
und lange Zeit in Paris lebte. Selbst die
Gräfin konnte ihn nicht nach Hamburg
schaffen, die strengen Devisengesetze standen dem entgegen.
Freilich, wenn ich an die Zeit denke, da
der heutige Tischtuchdurchschneider Günter Grass noch mein junger Freund war,
habe ich nur noch in Erinnerung, dass der
Dichter Grass meinen geliebten Tango hervorragend tanzte, besser als alle anderen,
von mir ganz zu schweigen, der ich ein
Stümper auf dem Parkett war. Das
schmerzte. Ein Teilnehmer tröstete mich:
„Ob er ein großer Dichter werden wird,
kann niemand wissen, aber der größte Tänzer unter uns ist er allemal.“
Das übertrug sich auch auf seine Stimme. Grass verstand es, jeden Mist so vorzutragen, dass er aller Zuhörer Ohren in
seinen Bann schlug. Und das mir, der ja
noch heute besser singen kann als Grass.
Meine Frau und ich waren einmal in
sein Haus nach Wewelsfleth eingeladen.
Er kochte besser als all unsere Fernsehköche von Clemens Wilmenrod bis Alfred
Biolek. Er gab uns fünf Radierungen mit
auf den Heimweg, nach zwei Tagen tauchte eine Rechnung über 15 000 Mark auf.
Wir schickten zwei davon zurück, bezahlten aber für die drei anderen die gebührenden 9000 Mark. Ersprießlich war
das nicht.
Früher war ich bei einem Dentisten, der
mir vorhielt, er leiste 40 Jahre Dienst am
deutschen Zahn. Solches Lob merkt man
sich. Ich erblindete nicht durch die Lektüre der in 16 Bänden versammelten Gesamtwerke meines stimmlichen Konkurrenten. Teils konnte, teils wollte ich sie
nicht mehr lesen. Da ich aber regelmäßiger „Bild“-Leser bin, weiß ich auch
kein Schlusswort für meine heiteren Erlebnisse mit G. G.. Ich muss betrübt zur
Kenntnis nehmen, dass er mich im Schimpfen nun gewaltig überragt. Wo ich, der einen derberen Beruf hat, gelegentlich einem Störenfried (Horst Tomayer) zurief:
„Halt’s Maul, du Arsch“, da gibt es
unser Großmeister dem wendigen Lafontaine sogar schriftlich: „Halt’s Maul! Trink
deinen Rotwein!“ Wie weiland drei junge Leute in den Weißen Nächten von
St. Petersburg.
So kommt man in die Hundejahre. Aus
dem Innensenator Helmut Schmidt, der
die zu Gunsten des Gefangenen Augstein
zum Untersuchungsgefängnis strebenden
Massen abfing und vorsichtig umleitete,
wurde, so meint jedenfalls Klaus Podak in
der „Süddeutschen Zeitung“, einer der
beiden zuverlässigsten Besserwisser der
Nation. Schmidt steht hier nicht in Rede.
Ohne ihn hätte der Praeceptor Germaniae
die Krone des größten Besserwissers ohne
weitere Konkurrenz in Anspruch nehmen
können.
Wer ist nun Günter Grass? Ein großartiger Erzähler in einem immer breiter aufgeblasenen Großmaul.
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Wissenschaft
Prisma
MEDIZIN
Falsche Therapie von Magengeschwüren
V
U M W E LT
Rätselhaftes
Lachssterben
D
ie Zahl der atlantischen Wildlachse,
die zum Laichen in die Flüsse und
Ströme Nordamerikas zurückkehren,
ist in den letzten Jahren dramatisch gesunken. Wanderten Mitte der siebziger
Jahre noch 800 000 Wildlachse jährlich
von ihren Fressgründen im Nordatlantik stromaufwärts zu den Laichplätzen
etwa des Miramichi River in New
Brunswick, so war diese Zahl im letzten
Jahr auf etwa 80 000 gesunken. Die
Ursachen für das Verschwinden der
Wildlachse sind weithin rätselhaft. Der
kommerzielle Lachsfang vor Grönland
und den Küsten Nordamerikas wurde
schon vor Jahren nach einem internationalen Abkommen eingestellt; der
Rückgang der Lachse hält trotzdem
unvermindert an. Nun vermuten Experten, die Erwärmung des Nordatlantiks im Zuge der weltweit steigenden Durchschnittstemperaturen könne
die Edelfische dezimieren. Doch auch
natürliche Räuber setzen ihnen möglicherweise zu: Tierschützer hegen
mit besonderer Hingabe Kegelrobben,
ihre Zahl nimmt deshalb jährlich um
etwa acht Prozent zu. Für den LachsSchützer Bill Taylor, Präsident der
Atlantic Salmon Federation, steht nur
eines fest: „Irgendetwas Schreckliches
passiert da.“
Einsatz der
Elektrode
AU T O M O B I L E
Strom gegen
Schadstoffe
Abgase vom Motor
Katalysator
Motor
E
Auspuff
Katalysator
ine neue Technik zur
Elektrode
noch wirkungsvolleren
Auspuffrohr
Entgiftung von Autoabgasen entwickelte der Elektronikhersteller Litex
Schalldämpfer
in Westlake Village, Kalifornien. Eine vor dem
Katalysator ins Auspuffrohr geschraubte Elektrode
baut im Abgasstrom ein elektrisches Feld auf. Die dadurch angeregten Schadstoffteile verhalten sich im Kat
deutlich reaktionsfreudiger und lassen sich deshalb besser
in ungiftiges Kohlendioxid umwandeln. Litex verspricht
eine Reduktion von Stickoxiden um 50 Prozent und von Kohlenmonoxid um 80 Prozent gegenüber derzeitigen Kat-Systemen. Das
Bauteil, das derzeit von verschiedenen Automobilherstellern erprobt wird, soll im
nächsten Jahr serienreif sein. Die Kosten pro Fahrzeug schätzt Litex auf 190 Mark.
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AP
SPL / AGENTUR FOCUS
or 16 Jahren erkannten australische Ärzte, dass Bakterien vom Typ Helicobacter
pylori für die meisten Magen- und Zwölffingerdarmgeschwüre verantwortlich
sind. Seit knapp einem Jahrzehnt gilt die Bekämpfung dieser Erreger mit Hilfe von
Antibiotika als anerkannte, auf Dauer wirksame und kostengünstige Therapie dieser
Leiden. Deutschlands Allgemeinärzte und Internisten jedoch, so eine Studie des Frankfurter
Instituts für medizinische Statistik, wenden diese Therapie nur bei jedem vierten bis sechsten
in Frage kommenden Patienten an. Rund zwei
Drittel der Ärzte halten sich nicht an die Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten, die eine
nur eine Woche dauernde Behandlung mit drei
unterschiedlichen Medikamenten vorschlägt.
Die Mediziner scheinen überholte Behandlungsformen vorzuziehen: Diese garantieren
ihnen, dass die Patienten mit ihren Magenbeschwerden immer wieder kommen.
Helicobacter pylori
Werbeträger Rakete (Fotomontage)
R AU M FA H R T
Auftrieb mit
Pizza
N
eun Meter hoch wird das Emblem der amerikanischen Fastfood-Kette „Pizza Hut“ auf der Proton-Trägerrakete prangen, die ein
Kernstück der Internationalen Raumstation in die Umlaufbahn hieven
soll. Die Auftraggeber lassen sich die
kurzlebige Werbung etwa 2,5 Millionen Dollar kosten, willkommener
Auftrieb für Russlands Not leidende
Raumfahrtindustrie. Nicht zuletzt
aus Geldmangel hat sich der ursprünglich für April 1999 geplante
und zuletzt für Mitte November vorgesehene Start erneut verzögert.
Jetzt soll die Proton mit der PizzaReklame nicht vor Weihnachten abheben. Die Pizza-Manager erhoffen
sich ausreichende Werbewirksamkeit
von den Minuten auf der Rampe vor
dem Start und der ersten Flugphase.
Denn der Raketenteil mit dem Symbol wird vor dem Erreichen der Umlaufbahn abgetrennt und verglüht
dann in der Atmosphäre.
337
Computer
R. FROMMANN / LAIF
Prisma
Linux-Fachmann Dalheimer
S O F T WA R E
Lebenszweck Spaß
Matthias Kalle Dalheimer, 29, ist einer der Programmierer,
die das kostenlose Betriebssystem Linux entwickeln. Während
er und seine Kollegen kaum daran verdienen, wurden die Teilhaber des Linux-Händlers „Red Hat“ zu Millionären.
SPIEGEL: Ärgern Sie sich darüber, dass andere aus Ihren Ideen
Kapital schlagen?
Dalheimer: Für manche ist das Anhäufen von Reichtümern
eben der einzige Lebenszweck. Für mich ist viel interessanter,
dass ich Spaß an der Arbeit habe. Wenn ich mir überlege, was
die Distributoren machen: Das Ganze in Schachteln packen und
verschicken – das ist doch sterbenslangweilig.
SPIEGEL: Und wovon leben Sie jetzt?
Dalheimer: Ich programmiere nicht nur unentgeltlich, sondern
auch im Auftrag von Firmen.
SPIEGEL: Warum programmieren Sie dann auch noch ohne
Bezahlung?
Dalheimer: Ich bin Zeit meines Lebens linker Sozialdemokrat
gewesen. Ich war schon immer der Meinung, dass man der
Gesellschaft so viel wie möglich zurückgeben sollte.
SPIEGEL: Fürchten Sie nicht, dass der Kommerz die Idee von
Linux und freier Software untergräbt?
Dalheimer: Der Spaß hört natürlich auf, wenn sich jemand meine Software nimmt und mir mit meinen eigenen Programmen
Konkurrenz macht. Aber wir in der Linux-Szene gehen davon
aus, dass uns die Lizenzen davor schützen. Bis jetzt sind diese
allerdings noch von keinem Gericht geprüft worden. Was mich
mehr stört als ein paar Leute, die bei „Red Hat“ reich geworden
sind, ist ein gewisser Schlag Anwender. Die stellen immer nur
Forderungen und geben nichts zurück.
SPIEGEL: Sie programmieren in der Freizeit und für Ihren Lebensunterhalt. Gehen Sie auch mal nach draußen?
Dalheimer: Ich arbeite um die 90 Stunden die Woche. Aber
seitdem ich vor sechs Wochen nach Schweden ausgewandert
bin, brauche ich nur den Kopf vom Monitor um 30 Grad nach
links zu drehen, sehe den Wald, und abends kommen sogar
Elche vorbei.
RECHNER
Superflache Mini-PC
D
er Trend zum Mini-PC hält an.
Während Apple mit dem iBook
kürzlich noch einen 3-Kilo-Laptop vorstellte, setzen andere Hersteller auf superflache Sub-Notebooks. PC aus Sonys
Vaio-Reihe beispielsweise wiegen nur
noch rund 1,5 Kilo. Mit dem „ThinkPad
240“ legt jetzt auch IBM ein Sub-Notebook vor: 25 Millimeter dünn, 1300
Gramm leicht und von einem 300 Megahertz Celeron-Prozessor angetrieben.
Integriert sind ein leuchtstarker AktivMatrix-Bildschirm (Auflösung 800 mal
600 Punkte), eine vollwertige Tastatur
und ein schnelles Modem. Nur der Preis
ist bleiern: Das Modell erleichtert den
Käufer um 5200 Mark.
Szene aus der Lernsoftware „Physikus“
LERNPROGRAMME
Abenteuer Stromkreis
K. BERNSTEIN / DER SPIEGEL
W
Sub-Notebook „ThinkPad 240“
338
as tun, wenn ein Meteor die rotierende Erde zum Stillstand bringt?
Wenn auf der einen Erdseite fortan
ständig die Sonne brennt und auf der
anderen Dauerfrost herrscht? Wo fade
Schulbücher und laue Versuche versagten, versucht jetzt der Schulbuchverlag
Klett mit dem Lernabenteuer „Physikus“ (CD-Rom für Windows und Mac)
das Interesse am Fach Physik zu
wecken. Als Retter der Welt müssen
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Schüler so lange Linsen fokussieren,
elektrische Widerstände berechnen und
Gewichte austarieren, bis drei Transformatoren die erforderliche Spannung für
eine Impulskanone bereitstellen. Denn
nur die Kanone kann die Erde wieder
in Schwung bringen. Für besonders
knifflige Fälle steht in „Physikus“ eine
liebevoll animierte Lehrbuchhilfe zur
Verfügung. Und wem die Rätsel zu
schwer sind, der wird sich über die exzellenten 3-D-Landschaften im Stil des
Abenteuer-Klassikers „Myst“ freuen.
www.physikus.de
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Wissenschaft
TOURISMUS
Urlauber im Höllenpfuhl
Eine US-Firma bietet Exklusiv-Trips zu den letzten unerschlossenen
Winkeln der Erde. Vergangene Woche brachte sie erstmals 16 Touristen zu
den „Schwarzen Rauchern“ am Tiefseegrund. Für 19 000 Dollar
durften sie sechs Stunden lang Krebse, Steine und Qualm bestaunen.
„Schwarzer Raucher“ auf dem Grund des Atlantiks: Auch wer überall schon war, war hier noch nie
L
ichtfinger geistern durch die Finsternis auf dem Grund des Atlantiks. In
ihrem schwachen Schein ragen hie
und da steinerne Kamine auf, aus denen
schwarzer Qualm pufft: brühheißer, stinkender Schwefelwasserstoff, der im eisigen
Meerwasser sofort ausflockt und als
schwarzer Schnee ringsum niedersinkt.
In dieser Unterwelt würde der Teufel
weniger auffallen als die zwei kleinen UBoote, die zwischen den Schloten herumschweben und mit ihren Scheinwerfern die
Szene ausleuchten. Aus den Bullaugen lugen begeisterte Gesichter, es wird eifrig
geknipst: Der Tourismus hat den Höllenpfuhl erreicht.
Die Passagiere in den Kapseln erleben
den exklusivsten Trip, der heute für Geld
zu haben ist. Knapp 35 000 Mark kostet
die Tauchfahrt zu den Heißwasserschlünden, den „Schwarzen Rauchern“, in der
Nähe der Azoren. Fast zweieinhalb Kilometer geht es hinab unter den Meeresspiegel. Auch wer überall schon war, war
hier noch nie.
340
Die US-Firma Zegrahm in Seattle hat
das Spektakel veranstaltet. Sie ist spezialisiert auf Pauschaltouren in extremes
Gelände. In diesem Geschäft heißt es findig sein. Die Kundschaft ruft stets nach
neuen Attraktionen. Die höchsten Berge,
die Wüsten und die Pole sind schon von
gestern. Jetzt ist die Tiefsee fällig.
Vergangene Woche schifften sich erstmals 16 Urlauber ein – acht Männer, acht
Frauen. Sie kommen aus den USA, den
Niederlanden, aus Großbritannien und
Australien. Es sind großteils Geschäftsleute im Ruhestand, aber auch Unternehmer
wie der Texaner Richard Garriott, 39, der
mit der Computerspielefirma Origin zu
Reichtum gekommen ist. Die Reise buchte er zusammen mit seinem Vater, einem
pensionierten Skylab-Astronauten.
Das russische Forschungsschiff „Akademik Keldysch“ brachte die Gesellschaft
von der Azoreninsel São Miguel aufs offene Meer. An Bord: die zwei kleinen UBoote Mir 1 und Mir 2, jedes bietet Platz
für zwei Passagiere und einen Piloten.
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WOODS HOLE
Vor den Tauchgängen bereitet der
Schiffskoch den Reisenden eine spezielle
Diät, arm an Flüssigkeit und Ballaststoffen, denn in den Kapseln ist kein Platz
für Toiletten. Im äußersten Notfall müssen
Pinkelflaschen und ein verschließbares Eimerchen reichen. Sobald sie an der Reihe
sind, packen die Touristen tapfer ihre Kameras ein, dazu Wollmützen und Handschuhe gegen die Kälte, und ab geht es
in die Tiefe.
Zwei Stunden dauert der Sinkflug, vier
bis sechs Stunden bleiben dann für die Erkundung der ewigen Finsternis. Der Tiefseeboden freilich ist ein touristisch denkbar
unattraktiver Ort. Kilometerweit dehnt sich
leblose Ödnis aus. Deshalb steuern die Untersee-Shuttles die Oasen in dieser Wüste
an. Sie liegen entlang den Mittelozeanischen Rücken, gewaltigen Gebirgszügen,
die sich durch die Weltmeere ziehen. Es
sind die Nähte, an denen die Platten der
Erdkruste auseinander streben; im Mittelatlantik etwa so langsam, wie ein Fingernagel wächst.
ZEGRAHM
Ozeanograf Walsh
Weltrekord im Tieftauchen
das ausgerechnet im Umkreis der heißen Schlünde
gedeiht: Muscheln und Seesterne, rosa Krebse ohne
Augen und schneeweiße
Aale. Mehr als 300 Arten
sind mit bloßem Auge zu erkennen.
Trotzdem könnte sich
manch einer fragen, ob
sechs Stunden Blick auf
Krebse, Steine und Qualm
den Preis eines Mittelklassewagens rechtfertigen. Die
Veranstalter haben die Reisenden auf der „Akademik
Keldysch“ deshalb behutsam darauf vorbereitet, dass
das Spektakulärste das ist,
was sie nicht sehen können.
Tiefseeforscher, die während der Reise ihrer Arbeit
nachgehen, unterrichten
zwischen den Tauchgängen
die Gäste. Einer von ihnen
ist der Ozeanograf Don
Walsh, der seit 1960 den
Weltrekord im Tieftauchen
hält. Damals hatte er mit
dem Tauchboot „Trieste“ im
Marianengraben eine Tiefe
von 10 916 Metern erreicht.
Die Fortbildung weiht die U-Boot vom Typ Mir: Sinkflug in die Unterwelt
Globetrotter ein in ein Naturschauspiel, das, wenngleich unsichtbar, gab, aber reichlich Schwefelwasserstoff,
doch kosmische Tragweite habe.
könnten in einem solchen Milieu die ersten
Zu Abermillionen hausen nämlich Mi- Organismen entstanden sein.
kroben wie Methanopyrus („MethanfeuÄhnliche Bedingungen, so wird den Tiefer“) und Pyrococcus furiosus („Rasendes see-Touristen versichert, herrschen auch
Feuerkorn“) im porösen Gestein der Schlo- anderswo im All. Der Jupitermond Europa
te. Sie ertragen Temperaturen von mehr birgt unter seinem Eispanzer wahrscheinals 100 Grad Celsius, und ihr Stoffwechsel lich einen Ozean. Auch Schwefel dürfte
benötigt weder Sauerstoff noch Son- auf diesem Himmelskörper in großen Mennenlicht. Sie leben von den Schwefelver- gen vorkommen; darauf lassen jüngste Aufbindungen im heißen Wasser, die für an- nahmen der Raumsonde Galileo schließen.
dere Lebewesen hochgiftig sind. Einige Und wo Schwefel ist, sind vielleicht auch
zählen zu den Bakterien, die meisten Schwefelfresser zur Stelle.
aber zu den Archäen, jenem noch rätselDie Belehrungen, gepaart mit mancherhaften Reich von Einzellern, auf das die lei Annehmlichkeiten, steigern das Erlebnis
Forscher erst vor rund 20 Jahren aufmerk- beträchtlich. Neben 17 Labors und einer
sam wurden.
Bibliothek beherbergt das Schiff des MosDie winzigen Schwefelfresser bilden die kauer Schirschow-Instituts für OzeanograGrundlage der reichen Fauna. Von ihnen fie auch noch ein Schwimmbad und eine
profitieren zum Beispiel die unzähligen, Sauna. Die Abenteurer, die hier einquaroft meterlangen Röhrenwürmer, die in wal- tiert sind, wissen es zu schätzen, dass Zeglenden Büscheln auf dem Gestein siedeln. rahm bei allem Pionierwesen den Komfort
Die Würmer haben weder Maul noch Ma- nicht vergisst.
gen; in ihren Körpern hausen Schwefel„Einige Reisende waren schon mehrmals
bakterien, die mit Hilfe des Giftes aus den mit uns auf Tour“, sagt Scott Fitzsimmons,
Schloten Nährstoffe gewinnen.
ein Sprecher der Firma. Kaum eine UnterWie die Einzeller mit der Hitze fertig nehmung dauert länger als eine Woche;
werden, ist noch weitgehend unbekannt. auch die Tauchfahrt ist in elf Tagen geGesichert ist nur, dass sie bei Temperatu- schafft. Das kommt der Ungeduld einer
ren unter 80 Grad ihr Wachstum einstellen, wachsenden Anzahl von Kunden entgegen.
bis es wieder gemütlich brodelt.
„Die sammeln neue Erfahrungen wie
Viele Experten vermuten in solchen Trophäen.“
Geysiren der Tiefsee den Ursprung des LeZegrahm erweitert deshalb zügig das
bens. Vor Milliarden von Jahren, als es in Angebot. Mitte September erst hat eine
der Atmosphäre noch keinen Sauerstoff Reisegruppe die versunkene „Titanic“ in
P. P. SHIRSHOV INSTITUTE
Unablässig quillt dort Lava aus dem
Erdinneren nach und erstarrt zu neuer
Kruste. Meerwasser versickert in tiefen
Spalten und Rissen, wird von der Glut des
Magmas erhitzt bis auf 400 Grad und
schießt wieder empor. Dabei reißt das
Wasser allerhand Metallsalze und andere
Minerale aus dem Gestein mit sich. Wo das
kochende Gemisch aus dem Meeresgrund
brodelt, wachsen Erzschlote heran, die
oft die Höhe eines dreistöckigen Hauses
erreichen.
Die Tauchboote fahren bis auf zwei, drei
Meter an die Kamine heran. Im Licht der
Scheinwerfer zeigt sich, dass die Erde nicht
nur schwarzen Auswurf speit. Vielfarbene
Steingärten gleiten vorüber. Glitzernder
Schwefelkies, auch Katzengold genannt,
ist zu sehen, Zinkblende, Manganoxide,
bunte Kupfersulfide, Eisenglanz und andere Erze aus der Tiefe der Erdkruste.
In den letzten 20 Jahren wurden immer
neue Ansammlungen von „Schwarzen Rauchern“ in der Tiefsee entdeckt. Es gibt Regionen, in denen sie Millionen Tonnen von
Erzen abgelagert haben; manche Schlote
fördern einen Zentner pro Sekunde.
Mehr noch bezaubert die Touristen in
den Tauchkapseln das wimmelnde Leben,
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Wissenschaft
PLANET EARTH
erste, bei der die Touristen gleich
mit von der Partie sind.
„Unsere Kunden fordern
uns“, sagt Fitzsimmons. Manche
plage schon die Sorge, „dass ihnen auf Erden bald die Orte
ausgehen, wo sie noch hinkönnten“. Der Software-Unternehmer Richard Garriott zum Beispiel war schon am Südpol und
nun auch in der Tiefsee: „Jetzt
bleibt mir nur noch der Weg nach
oben.“
Ist damit der Weltraum das
nächste große Ziel? Zegrahm
verkauft schon die Tickets. Die
nötigen Verkehrsmittel gibt es
noch nicht, aber etliche Unternehmen arbeiten daran, darunter
die US-Firma Vela. Sie hat einen
Raumgleiter entwickelt, der
von einem Flugzeug aus starten
und dann in einer Höhe von 100
Kilometern die Erde umkreisen soll. Wenn nichts dazwischenkommt, könnten gegen
Ende des Jahres 2002 die ersten Touristen
ins All geschossen werden.
Experten sind skeptisch, die Kundschaft
nicht. 30 Unentwegte, meldet Zegrahm,
haben schon den vollen Fahrpreis von
178 000 Mark hinterlegt.
Röhrenwürmer in der Nähe eines „Schwarzen Rauchers“: Oasen auf dem Meeresboden
3775 Meter Tiefe beäugt. Im kommenden
Frühjahr geht es hinab zum tadellos erhaltenen Wrack des britischen Schiffes
„Breadalbane“, das Mitte des vergangenen Jahrhunderts in der arktischen See vor
Kanada unterging. Und 2001 will Zegrahm
womöglich die erste Tauchfahrt zum Nord-
pol wagen. Seit Jahrzehnten, so beteuert
Fitzsimmons, hätten die Pioniere diesen
magischen Punkt verfehlt. Denn genau genommen liege er nicht im ewigen Eis, sondern vier Kilometer tiefer: auf dem Grund
des Nordpolarmeers. Und da war noch nie
wer. Diese Eroberung wäre nebenbei die
Manfred Dworschak
MEDIZIN
Warten und hoffen
Bisher starben 48 Menschen am Rinderwahn: der Beginn einer Epidemie? Auf einer Tagung
in Tübingen diskutierten Forscher darüber. Noch wagen sie keine Prognosen.
Doch die Befürchtung wächst, dass Großbritannien eine Katastrophe bevorstehen könnte.
W
SZENARIO 1
Wellen des Todes
BSE-Epidemie und menschliche Opfer
insgesamt
80 000
36 682
35 000
Todesfälle bei
pessimistischer
Schätzung
diagnostizierte
30 000
BSE-Fälle
CreutzfeldtJakobTodesfälle 16
25 000
20 000
15 000
10 000
5000
2184
Der Londoner Epidemiologe
Simon Cousens versuchte,
die zu erwartende Zahl
menschlicher Opfer vorherzusagen. Doch abhängig
von den Annahmen vor allem
über die Inkubationszeit der
Krankheit kommt es zu extrem
unterschiedlichen Szenarien.
SZENARIO 2
Hirn-Präparierung in Edinburgh, Tomogramm von nvCJK-Patient: Löcher im Nervengewebe
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100
Todesfälle bei
optimistischer
Schätzung
10 10
3
* 7 Todesfälle
und 7 Erkrankte
bis 21. September
1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999
werden sterben? Die jüngsten Zahlen der
Opfer, die der britische Experte Robert
Will aus Edinburgh kürzlich auf einer Tagung in Tübingen verkündete, geben keine
Auskunft darüber (siehe Grafik).
Warten und hoffen heißt die Devise.
„Was die Zahl der zu erwartenden Toten
betrifft, tappen wir immer noch ziemlich
im Dunkeln“, so der Londoner Epidemiologe Simon Cousens, der mehrfach ver-
insgesamt
?*
0
FOTOS: SPL
enn das keine Epidemie gibt, haben wir einfach Glück gehabt.“
Und wenn das Glück ausbleibt?
Was das bedeuten würde, mag sich Hans
Kretzschmar, Neuropathologe an der Universität Göttingen, lieber nicht ausmalen.
Glück – das hieße immer noch, dass
rund hundert Menschen am Rinderwahn
sterben werden. Doch es könnte weit
schlimmer kommen: „Es kann durchaus
sein, dass hunderttausende oder sogar Millionen Rindfleischesser krank werden“, gestand der Chefmediziner der britischen
Regierung, Liam Donaldson, vor kurzem.
Das ist Glasnost auf der Insel der wahnsinnigen Weidetiere. Zwar werden zur öffentlichen Beruhigung Rinderkadaver in
Öfen geschoben, ansonsten aber wiegelte
man bisher ab. Ein hoher britischer Politiker ließ seine Tochter sogar vor laufenden
Fernsehkameras Hamburger futtern – als
Beweis dafür, wie unbedenklich British
Beef sei.
Noch immer wagen die Experten keine
Prognosen darüber, was die Menschheit
erwartet. Nur so viel ist sicher: Eine neue
unheilbare und tödliche Krankheit hat den
Menschen befallen. Auch der Infektionsweg ist unstrittig: der Verzehr von Rind.
Doch in wie vielen Menschen mögen die
unheilvollen Erreger stecken? Wie viele
Quelle: MAFF;
Department of Health
sucht hat, das bevorstehende Szenario mit
Hilfe statistischer Methoden zu errechnen.
Unsicher macht ihn vor allem, dass derzeit niemand weiß, wie lange der Erreger
des Rinderwahns im Menschen schlummert,
bevor er sein Zerstörungswerk beginnt –
wie lang also die Inkubationszeit der neuen Krankheit ist. Sie ist entscheidend dafür,
ob die bisherigen Todesfälle bereits das gesamte Ausmaß der Epidemie unter den
Menschen erkennen lassen
– oder ob sie nur Vorboten
einer Katastrophe sind.
„Das wird frühestens im
Jahr 2002 sicher feststehen“,
vermutet der BSE-Experte
Charles Weissmann.
Gut zehn Jahre nachdem
die ersten Rinder daran zu
Grunde gegangen waren,
dass Prionen, bestimmte Eiweiße, ihr Gehirn in einen
Schwamm verwandelten,
starb 1995 der erste Mensch
an der gleichen Krankheit.
Den Eltern von Stephen Churchill war aufgefallen, dass ihr Sohn extrem müde und
abwesend wirkte. Seine Konzentration und
sein Gedächtnis verschlechterten sich Woche um Woche. Knapp ein Jahr später war
der 19-Jährige tot. Der Befund der Pathologen: Stephens Hirn war durchlöchert wie
das einer an BSE verendeten Kuh.
Zwar sterben Menschen seit langem an
durchlöcherten Gehirnen. Die Neurologen
343
SOUTH WEST NEWS SERVICE
BULLS PRESS / EXPRESS NEWSPAPER
ACTION PRESS
lässt es sich schließlich in feine Scheibchen schneiden.
Farbstoffe wie Hämatoxylin
und Eosin offenbaren letztlich, ob hier eine neurodegenerative Erkrankung ihr
dämonisches Werk verrichtet hat; Antikörper entlarven
die Krankheitserreger.
Inzwischen, meint die
Neurologin Zerr, erlauben es
moderne Methoden, die Anzeichen von nvCJK auch
beim Lebenden schon recht
zuverlässig zu erkennen.
Gelänge es, auf diese Weise
die Zahl der Erkrankten zu
ermitteln, so würde dies den
Epidemiologen einen weiteren Blick in die Zukunft des
Verbrennung eines Rinderkadavers in Großbritannien: Wie lange schlummert der Erreger?
Seuchenzugs ermöglichen.
Bisher allerdings scheuten sich die BriHans-Gerhard Creutzfeldt und Alfons Ja- ben, sei es durchaus wahrscheinlich, dass
kob haben in den zwanziger Jahren dieses die Zahlen in den kommenden Jahren ten, die Zahl der Kranken zu publizieren.
Jahrhunderts erstmals solche schwamm- „dramatisch steigen“. „Auch bei BSE gab „Wahrscheinlich will man die Pferde nicht
artigen Veränderungen an Menschenhirnen es in den ersten Jahren nur einzelne Fälle, scheu machen“, vermutet Zerr. So wurde
beschrieben. Doch die tödliche und bis heu- und dann sind die Zahlen plötzlich hoch- es von ihr und ihren Kollegen als Zeichen
te unheilbare Creutzfeldt-Jakob-Krankheit gegangen“, unterstreicht Inga Zerr, Neu- größerer Offenheit gewertet, dass Will,
der Leiter der Edinburgher CJK-Überwa(CJK) hat immer nur alte Leute getroffen. rologin an der Universität Göttingen.
Von 1995 bis 1998 stieg die Zahl der jähr- chungsstelle, ihnen in Tübingen erstmals
Und sie ist schmerzlos wie kurz: Binnen
fünf Monaten rafft sie ihre Opfer dahin. lichen Opfer von 3 auf 16. In diesem Jahr einen Blick in die bislang verdeckten KarAus agilen, gesunden Menschen werden gibt es erstmals zaghafte Anzeichen für ten erlaubte: Derzeit sei die Krankheit bei
körperliche und geistige Wracks; sie zittern eine Stagnation: Bis Ende September fielen sieben weiteren Menschen ausgebrochen.
Sorgsam von der Öffentlichkeit abgeund zucken und erkennen schließlich nicht sieben Menschen dem Rinderwahn zum
Opfer. Hoffnungsbotschaft oder nur kurze schirmt, bemühen sich britische Fachleute
einmal mehr ihre engsten Vertrauten.
schon seit Jahren eifrig darum, die Zahl
Noch böser aber ist der Rinderwahn, Erholungspause?
Eine Prognose für die nächsten Jahre der Kranken genau ins Visier zu bekomwenn er den Menschen befällt. Er greift
sich vor allem die Jungen, und er quält sie fällt schwer, auch deshalb, weil eine zwei- men: Beim kleinsten Verdacht im entlelänger: 14 Monate dauert es im Durch- felsfreie Diagnose zu Lebzeiten bis heute gensten Zipfel der Britischen Inseln rücken
schnitt, bis der Tod den Leidenden erlöst. nicht möglich ist. Erst der Blick in den Experten von der staatlichen CJK-ÜberDass es sich bei der neuen Krankheit Schädel der Toten offenbart die letzte Ge- wachungsstelle an, um den Fall in Augenschein zu nehmen.
um die Rinderseuche BSE handelt und wissheit: Rinderwahn.
Die Diagnose erfordert eine Monate
Als verdächtig gilt jeder, der sich plötznicht etwa um eine „neue Variante der
Creutzfeldt-Jakob-Krankheit“, wie ihr währende Prozedur. „Den Toten wird lich nicht mehr in seiner Umgebung zuName nvCJK glauben machen will, gilt in zunächst das ganze Gehirn entnommen“, rechtfindet und der sein Gedächtnis binnen
Fachkreisen inzwischen als sicher. „Die Er- erzählt Kretzschmar. „Dann liegt es zwei weniger Wochen verliert. „Alzheimer und
reger von BSE und nvCJK sind allen Tests bis drei Wochen lang in Formalin. So ein Parkinson verlaufen sehr viel schleichenGehirn wiegt ja etwa 1500 Gramm. Bis es der“, erläutert Zerr.
zufolge identisch“, sagt Cousens.
Die Spezialisten aus Edinburgh untersuWie bei einem am Wahnsinn verendeten vollständig fixiert ist, das dauert.“
Modrig-grau verfärbt, wird das Denk- chen erst die Rückenmarkflüssigkeit desRind ist das Gehirn eines nvCJK-Toten voll
von krankhaften Prion-Proteinen. Sie wu- organ schließlich in eine gallertartige Mas- jenigen, der von Prionen befallen scheint.
chern als blütenförmige Gebilde zwischen se eingelegt, in Blöckchen zerteilt und in Dort finden sich bei CJK-Opfern Eiweiße,
seinen Denkzellen; Löcher klaffen im Ner- Alkohol gebadet. Eingebettet in Paraffin, die von sterbenden Nervenzellen freigesetzt werden. Weil bei keiner anderen
vengewebe. Schon auf den ersten
Erkrankung des Hirns ein ähnlich
Blick wird selbst einem Laien klar:
massiver Zellschwund einsetzt, gelten
So ein Hirn kann nicht mehr richtig
diese Eiweiße als untrügliches Indiz.
funktionieren.
Elektroenzephalogramm und KernViele Opfer hat diese Variante des
spintomogramm liefern weitere InHirnschwamms bislang nicht geforformationen: Die Hirnstromwellen
dert: genau 48, allesamt binnen der
und das Lochmuster im Nervengeweletzten fünf Jahre. 46 von ihnen starbe sind bei CJK und nvCJK unterben im Vaterland des Rumpsteaks, ein
schiedlich. Deshalb lassen sich beide
Opfer stammt aus Frankreich, eines
Krankheitsbilder recht gut voneinanaus Irland.
der abgrenzen. Zerr: „Alles zusamEs sei aber ein gefährlicher Irrtum,
men liefert das eine ziemlich sichere
aus der bisher relativ geringen Zahl
Diagnose.“
an nvCJK-Fällen zu schließen, die GeTrotzdem zählt die CJK-Überwafahr sei gebannt, warnt Donaldson.
Sollten sich die Opfer bereits in den Eltern des nvCJK-Opfers Churchill, nvCJK-Opfer Tomkins chungsstelle aus Edinburgh offiziell
bislang nur die Toten – „weil wissenfrühen achtziger Jahren infiziert ha- Der Rinderwahn greift sich vor allem die Jungen
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Werbeseite
schaftliche Ergebnisse erst veröffentlicht und 1996 mehrere Monate in Großbritanwerden, wenn sie wirklich wasserdicht nien aufgehalten hatten, Blut zu spenden.
sind“, so Cousens.
In Deutschland werden entsprechende
Auch zwei britische Forscherteams, die Weisungen bislang nur diskutiert. Seit Jahsich anhand von Blinddarm- und Mandel- ren wird aber schon kein britisches Blutgewebe einen Überblick über die Zahl der plasma mehr für deutsche Gerinnungsfakbevorstehenden nvCJK-Tode verschaffen toren und Impfstoffe verwendet.
wollen, fürchten öffentliches Gerede. Sie
Bei diesen Verboten handelt es sich um
prüfen derzeit etwa 4000 solche Organe reine Vorsichtsmaßnahmen. Denn die Framit Hilfe von Antikörpern auf Prionen.
ge, ob nvCJK durch Blut übertragen wird,
Dass sich die nvCJK-Erreger auch vor ist bis heute ebenso wenig beantwortet wie
Ausbruch der Krankheit ausmachen las- die Frage nach Art und Menge der Rindersen, hatten Wissenschaftler im letzten Jahr produkte, die ein Mensch zu sich nehmen
entdeckt. In Südwestengland war ein Mann darf, ohne sich mit nvCJK zu infizieren:
an nvCJK gestorben, dem acht Monate vor Waren die Opfer des menschlichen Rindem Ausbruch der Krankheit der Wurm- derwahns vornehmlich Liebhaber von Infortsatz herausoperiert worden war.
nereien und Kalbshirn – oder haben sie
Weil Teile solcher entnommenen Orga- sich die Prionen durch edles Filet zugezone in Großbritannien wie auch in Deutsch- gen? „Schon ein normaler Mensch kann
land mitunter lange aufbewahrt werden, sich nicht erinnern, was er vor zehn Jahren
konnte sich der Pathologe David Hilton gegessen hat“, erklärt Weissmann. „Jeden Appendix dieses Toten besorgen
und in ihm nach dem nvCJK-Erreger
suchen. Tatsächlich fand er das Eiweiß
mit Hilfe markierter Antikörper. Der
Blinddarm eines nvCJK-Infizierten
kann also bereits mindestens acht Monate bevor die ersten Symptome auftreten und somit etwa zwei Jahre vor
seinem Tod verheißen, welcher Leidensweg ihm bevorsteht.
Nun suchen die britischen CJK-Forscher fieberhaft in tausenden eingelegter Blinddärme und Mandeln nach
Prionen. Wem die Organe einmal
gehörten, wissen sie nicht. Andernfalls
müssten sie schwere ethische Proble- BSE-Experte Kretzschmar: Hirne in Paraffin
me fürchten: Was ist, wenn sie etwas
entdecken? Zu helfen wäre den Betroffe- mand mit geistigen Behinderungen kann
nen nicht. „Man könnte ihnen nur mittei- das erst recht nicht.“
len, dass sie einen grässlichen Tod sterben
Doch je mehr Wissen über die Übertrawerden“, sagt James Ironside von der CJK- gungswege von nvCJK-Erregern angehäuft
Überwachungsstelle.
wird, desto düsterer wird das Bild. So verOhnehin hat Ironsides Job nach Ansicht öffentlichten französische Forscher vor
von Statistikern nur geringe Aussicht auf kurzem, dass sich Lemuren – die wie der
erfreuliche Ergebnisse: „Selbst wenn alle Mensch zu den Primaten zählen – viel
4000 Proben negativ sind, würde das nicht leichter durch Nahrung mit BSE infizieren
heißen, dass wir mit wenigen nvCJK-Fällen als bislang angenommen.
rechnen können“, unterstreicht Cousens.
Nicht einmal Vegetarier scheinen vor der
Erwiese sich umgekehrt auch nur eine ein- bösartigen Krankheit gefeit. Denn unter
zige Probe als infiziert, so könnte dies sta- den 48 nvCJK-Opfern findet sich auch
tistisch den Tod von zehntausenden von Clare Tomkins, die vor ihrer Erkrankung
Menschen bedeuten.
zwölf Jahre lang völligen Fleischverzicht
Dass sich die krankhaften Prionen aus- übte. Demnach hat sie sich entweder durch
gerechnet in Mandeln und Blinddärmen Rinderprodukte im Essen, wie zum Beifinden, ist kein Zufall. Denn wie die spiel Gelatine, infiziert – oder die InkubaLymphknoten und die Milz beherbergen tionszeit von nvCJK ist doch länger als
beide Organe Teile des Immunsystems. bislang gehofft.
Und schon vor zwei Jahren fanden SchweiDie bisherigen Opfer hätten sich dann
zer Wissenschaftler Hinweise darauf, dass möglicherweise schon Anfang der achtImmunzellen, bestimmte weiße Blutkör- ziger Jahre angesteckt, als die Rinder
perchen, die gefährlichen Eiweiße beför- auf britischen Weiden noch gar nicht taudern können. Diese tragen die Krankheit melten. Die größte Gefahr einer Infektion aber, darin sind sich die Experten
offenbar erst ins Gehirn.
Das Wissen um den Lebenssaft als po- einig, bestand Mitte bis Ende der achttenziellen Prionenträger stellt die Frage in ziger Jahre. Diese Opfer würden erst
den Raum, ob auch Blutkonserven an- in fünf bis zehn Jahren plötzlich über
steckend sind. Die USA und Kanada un- Konzentrations- und Gedächtnisschwäche
tersagten Menschen, die sich zwischen 1980 klagen.
Christina Berndt
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T. RAUPACH / ARGUS
Wissenschaft
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FOTOS: PICTURENET AFRICA
Preisgekrönte Autodiebstahlssicherung, Ig-Nobel-Friedenspreisträger Fourie: Scharfes Anbraten von Übeltätern
Das neogotische Gewölbe erzitterte
schier unter dem Jubel der 1200 Gäste, die
mit Papierfliegern um sich warfen, indes
der greise Chemie-Nobelpreisträger William Lipscomb mit seiner Klarinette fuchtelnd um Silentium bat – zu Recht, denn
Sich selbst parfümierende Anzüge, Zentrifugen für Gebärende Dr. Vatles Studie gibt endlich Antwort auf
die uralte Rätselfrage nach dem Gefäß, in
und ein Flammenwerfer gegen Autodiebe – wieder
das der Norweger bevorzugt pinkelt, wenn
einmal wurden in Harvard die Ig-Nobel-Preise verliehen.
ihm der Doktor für die Urinprobe kein
Behältnis mit nach Hause gibt.
Als Depot für den goldenen Strahl präamenswitze sind nicht statthaft, den am pachydermen Anus forschenden
auch dann nicht, wenn ein Mensch US-Zoologen Ray Grossloch bei den An- feriert er, so das Fazit der im Journal der
Grossloch heißt und im Dienste der nals (von deren Witz ein unlängst auch auf Norwegian Medical Association publizierWissenschaft jenes Organ der Elefanten Deutsch erschienener Auswahlband kün- ten Studie, ein Heringsglas der Marke „Devermisst, das bei diesen Tieren (Bruttofä- det**) als „hochpotenten Ig-Nobel-Kan- likat Apetittsild“, gefolgt von diversen Spirituosen-Flaschen und Deo-Rollern, aus
kalprodukt: 150 Kilo am Tag) besonders didaten“ verpetzt hatte.
Immerhin aber teilte die Jury dessen denen der norwegische Patient vorher aber
strapaziert wird.
Leider aber gibt es allerorten unreife Vorliebe für konsequent auf ausschei- schlauerweise die Rollkugel herauspopelt.
Naturen, auch an der Harvard University, dungsspezifische Vorgänge zentrierte For- Auf die Aussagekraft der Urinanalyse habe
jenem Pantheon der Großgeister, wo jetzt schungsvorhaben. Gleich zwei einschlägi- die Wahl der Gläser aber keine Auswireine Auszeichnung verliehen wurde, der ge Kandidaten wurden prämiert – für Ar- kungen gehabt, versicherte Vatle, da diese
die Forscher-Elite der Welt alljährlich ent- beiten in den Disziplinen Sperma und Urin vor Gebrauch stets hinreichend gesäubert
gegenbangt: der so genannte Ig-Nobel- gab es die Preise für Chemie und Medizin. worden seien.
Scheu wie ein Klopfgeist, der Gestalt
Tumultuöse Szenen folgten bei der VerPreis. Ihn vergeben die in den USA erscheinenden „Annals of Improbable Re- angenommen hat, mutete Dr. Arvid Vatle leihung des Chemie-Preises an Herrn Tasearch“ für besonders schräge („ignoble“) an, als er das Podium der Sanders-Aula keshi Makino aus Japan, der für seine ErForschungsarbeiten, die „nicht wiederholt von Harvard erklomm, deren einzigartiger findung eines so genannten Treue-Sprays
Architekturstil zwischen spätem Hoch- ausgezeichnet wurde: Auf die Unterhose
werden können oder sollen“.
Da es sich bei den Annals um ein satiri- zeitskuchen und frühem Wasserklosett gesprüht, macht „S-Check“ Spermaflecken
sichtbar – eine Erfindung, die Männern unsches Wissenschaftsjournal und bei der Ig- changiert.
gefähr so willkommen ist wie
Nobel-Jury um ein Gremium aus acht
Frauen ein Piranha im Bidet,
tatsächlichen Nobelpreisträgern mit starweshalb einige versuchten,
kem Hang zum Altersjux handelt, war die
den kleinen gelben MenGefahr billigen semiotischen Amüsements
schen von der Bühne zu
nicht von der Hand zu weisen.
buhen.
Doch gottlob widerstand das Ig-NoÄhnlicher Missmut wäre
bel-Komitee, satzungskonform kompletwohl auch George und Chartiert durch „zwei willkürlich von der
lotte Blonsky entgegengeStraße aufgelesene Passanten“, der Verschlagen, hätte es ihnen ihr
suchung – was allenfalls jenen HamburZustand erlaubt, den Ig-Noger Kindskopf verwundern dürfte, der
bel-Preis persönlich entge* Robert Wilson (Physik-Nobelpreis 1978), Sheldon Glagenzunehmen.
show (Physik 1979), William Lipscomb (Chemie 1976).
Das Ehepaar bekam ihn
** Marc Abrahams: „Der Einfluß von Erdnußbutter auf
postum für die Erfindung eidie Erdrotation“. Birkhäuser Verlag, Basel; 164 Seiten;
Nobelpreisgekrönte Jury-Mitglieder*: Hang zum Altersjux ner Geburtszentrifuge (US39,80 Mark.
PREISE
Kreisel im Kreißsaal
J. CLASE
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Wissenschaft
SOUTH WEST NEWS SERVICE
Patent: 3.216.423), deren Wirkweise darauf basiert, dass die Gebärende auf eine
Drehscheibe geschnallt und dann so lange
im Kreis herumgewirbelt wird, bis der
Säugling herausflutscht – ein durchaus segensreiches Instrument, das Vätern die
oft enervierende Warterei sowie das damit verbundene Wehgeschrei zu ersparen vermag.
Geradezu erwünscht dagegen sind
Schmerzensbekundungen bei jenem Geistesblitz, den der gleichfalls von Hamburg
aus ins ignoble Kandidatenspiel gebrachte
Charles Fourie der Welt bescherte (SPIEGEL 14/1999): Für seine Autodiebstahlssicherung mittels Flammenwerfer, die
Übeltäter scharf anbrät, erhielt der Südafrikaner den Friedenspreis.
Nicht minder wiegen die Verdienste des
Umweltpreisträgers Hyuk-ho Kwon, der
einen Anzug erfunden hat, der sich durch
Reiben am Textil selbst parfümiert. „Klarer Fall, zweimal Pfefferminz“, befanden
die sich berubbelnden Nobel-Laureaten
Ig-Nobel-Physikpreisträger Fisher
Beglückung der Kukident-Brigade
Dudley Herschbach (Chemie) und Robert Wilson (Physik), die Ig-Nobel-Kollege
Kwon gratis mit seiner Aroma-Kollektion
ausgestattet hatte.
Offenbar von Herrn Kwons BonbonDüften berauscht, bestieg in sichtlich labiler Seitenlage Ig-Nobel-Physikpreisträger
Len Fisher das Podium – jener Mann, der
die Kukident-Brigade mit der Berechnungsformel für den idealen Eintunkverlauf von Keksen in Tee beglückte. Sie lautet: L2=γDt/4η.
„Ladies and Gentlemen“, hob schließlich Annals’ Chefredakteur und Zeremonienmeister Marc Abrahams zu den traditionellen Abschiedsworten an. „Wenn Sie
keinen Preis erhalten haben, vor allem
aber, wenn Sie einen bekommen haben –
mehr Glück im nächsten Jahr.“ Bis dahin
liegt Kandidat Grossloch in Hamburg auf
Wiedervorlage.
Henry Glass
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Schild gegen
böse Mächte
US-Militärs erprobten eine neue
Raketenabwehr. Technisch sagt der
Test wenig aus. Doch er schürt
Star-Wars-Euphorie in Amerika
und verärgert die Russen.
A
ziemlich erfolglos an einer
Raketenabwehr. Fehlschläge,
Verzögerungen und Nachbesserungen haben bisher rund
60 Milliarden Dollar verschlungen. Auch politisch
konnten sich die Befürworter
einer solchen Verteidigungsstrategie in den letzten Jahren
nicht mehr recht durchsetzen
– Bill Clinton hatte zunächst
nicht viel übrig für das „National Missile Defense“-Programm (NMD).
So hat das, was vom „Star
Wars“-Programm der achtziger Jahre unter Clinton übrig
geblieben ist, nicht mehr viel
zu tun mit Reagans Visionen:
Höchstens 200 Kill Vehicles
sollen nach Plänen des Pentagon gebaut und in Alaska
und in North Dakota stationiert werden – Krieg der
Sterne light. Dennoch würde
auch dieses abgespeckte
Raketenabwehrsystem die
Beziehungen zu Russland
schwer belasten. Es liefe nämlich dem ABM-Abkommen
(Anti Ballistic Missile) zuwider, auf das sich die USA 1972
mit der Sowjetunion geeinigt
haben. Das Vertragswerk verbietet die Stationierung eines
solchen landesweiten Schutzschildes.
Denn das Prinzip der
Raketenabwehrtest*: Zu Elektronikstaub zerschmettert
Abschreckung würde außer
Bezeichnung „Kill Vehicle“, 20 Minuten Kraft gesetzt, wenn eine Nation sich unnach dem Minuteman-Start von den Mar- angreifbar macht. Geschützt durch einen
shall-Inseln aus in die Lüfte geschleudert, undurchdringlichen Schild, könnten die
suchte den Gefechtskopf, fand und zer- USA in der Welt schalten und walten, wie
schmetterte ihn mit einer Aufprallwucht es ihnen gefällt – bisher müssen sie, trotz
von fast 26 000 Stundenkilometern zu fei- strategischer Überlegenheit, Vergeltungsnem Elektronikstaub. „Hit-to-Kill“ heißt schläge fürchten.
Nicht nur Boris Jelzin hat ein Problem
die Technik im Jargon der Militärs.
Die Erfolgsmeldung kommt dem Vertei- mit den US-Verteidigungsplänen. Auch
digungsministerium sehr gelegen. Seit 1983, China befürchtet, dass Taiwan sich unter
als Ronald Reagan seine von Science-Fic- den amerikanischen Schutzschild flüchtet.
tion-Autoren inspirierte Idee eines raum- Und das verarmte Nordkorea stünde plötzgestützten Laserwaffen-Schutzschilds über lich mit völlig leeren Händen da – bisher
Amerika propagierte, basteln die Techniker haben die Politiker in Pjöngjang gerne ihre
Waffenarsenale als Verhandlungsmasse genutzt, um Lockerungen des amerikanischen Wirtschaftsembargos zu erzielen.
Trotz der zu erwartenden internationalen Auseinandersetzungen haben US-Regierung und -Kongress die Gelder für das
NMD-Programm in diesem Jahr deutlich
aufgestockt: 10,5 Milliarden Dollar stehen
dem Pentagon nun zur Verfügung. Und
Ende Juli gab der Präsident endgültig seine ablehnende Haltung auf, indem er das
Missile-Defense-Gesetz unterschrieb.
merika rüstet wieder für einen
Atomkrieg. Während sich die Filmemacher in Hollywood die Zeit
seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion vertrieben, indem sie den bösen Russen ersetzten durch Darth Vader (Star
Wars), Killermeteore (Armageddon) und
fiese Aliens (Men in Black), mussten die
Entscheidungsträger in Washington auf
echte Spionageaufklärung warten, um
neue Vaterlandsfeinde ins Auge zu fassen.
Inzwischen sind genügend CIA-Berichte und andere Schreckensnachrichten
durchgesickert. „Die Bedrohung ist real“,
warnte Verteidigungsminister William Cohen die Öffentlichkeit, „und sie wird in
den nächsten Jahren immer stärker werden.“ Erstmals seit Ende des Kalten Krieges stünden Ziele in den Vereinigten Staaten wieder im Visier böser Mächte, davon
sind die Politiker überzeugt.
Nur hätten inzwischen nicht mehr die
Russen die Hand am roten Knopf, sondern
„Schurkenstaaten“ wie der Irak, Iran und
Nordkorea. Nicht zu vergessen: Terroristen
könnten das Land erpressen. Zwar ist bisher von keinem dieser Feinde bekannt,
dass er auch nur eine einzige funktionsfähige Langstreckenrakete in seinem Arsenal hätte. Trotzdem ist die nationale Sicherheit inzwischen zum Politikum geworden – der Kampf um die Präsidentschaft 2000 hat begonnen.
Zu ihrem Lieblingsprojekt haben die republikanischen Wahlkämpfer die alte Idee
von einem Raketenabwehrschild erkoren,
das die US-Bürger vor den Saddams dieser
Welt retten könne: Schnelle, präzise Hightech-Geschosse sollen feindliche
Atomsprengköpfe auf ihrem Todeskurs etwa in Richtung Los Angeles hoch in den Lüften abfangen und zerstören.
Die Technik, die das können
soll, ist keine Science-Fiction
mehr. Am Samstag vorletzter
Woche ist den Waffenexperten
der erste Test gelungen. Von der
kalifornischen Küste aus starteten sie eine Langstreckenrakete
vom Typ „Minuteman“ – das war
der Feind. Er kam 6400 Kilometer weit. Ein Abfanggeschoss mit
der schlichten, aber eindeutigen US-Präsident Clinton*: 200 „Kill Vehicles“ bestellt
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FOTOS: AP
RÜSTUNG
* Oben: Kondensstreifen einer „Minuteman“-Rakete
über Kalifornien am 2. Oktober, sie wurde später über
dem Pazifik von einem „Kill Vehicle“ zerstört; unten:
Anfang Oktober im Pentagon.
Technik
Darin heißt es, die Abfangraketen würden aufgestellt, „sobald es technisch möglich ist“. Einzige Einschränkung: Der Kongress muss noch über die nötigen Mittel
für die Stationierung beschließen. Das soll
im nächsten Sommer geschehen, nachdem
das Pentagon nach zwei weiteren Abfangtests im Juni seinen Bericht über die technische Qualität des Systems vorlegen wird.
Im Sommer 2000, kurz vor den Präsidentschaftswahlen, ist eine Wende der USPolitik unwahrscheinlich. Selbst wenn Clinton oder der demokratische Kandidat Al
Gore wollten – nun, da die nationale Sicherheit zum Top-Wahlkampfthema avanciert ist, können sie es sich kaum leisten,
das Pentagon-Projekt fallen zu lassen.
Schon jetzt überbieten sich die Kandidaten
der Republikaner darin, erst Paranoia unter den Wählern zu schüren, um dann zu
versichern, dass bei ihnen der Schutz des
Vaterlandes an erster Stelle stehe.
„Die Welt bleibt ein gefährlicher Ort“,
verkündete kürzlich Elizabeth Dole auf
Wahlkampftour, „und wir Amerikaner sind
heute sogar verletzlicher für Raketenangriffe als vor sieben Jahren.“ Das Schmieden des Raketenschilds habe für sie absolute Priorität. Und den ABM-Vertrag, so
die Position vieler Republikaner, habe man
damals mit der Sowjetunion und nicht mit
Russland abgeschlossen und könne ihn daher jetzt unbedenklich kündigen.
In der Debatte geht völlig unter, ob das
NMD-Programm überhaupt technisch
dazu in der Lage sein wird, seinen Zweck
zu erfüllen. „Die Entscheidung wird absolut nichts mit der Wirksamkeit des Systems
zu tun haben“, sagt Lisbeth Gronlund,
Physikerin am Massachusetts Institute of
Technology und Mitglied der „Union of
Concerned Scientists“.
Gronlund hat die Test-Designs untersucht. Ihr Fazit: Bis Juni werden keinesfalls ausreichend Daten vorliegen, um Reife und Verlässlichkeit des Systems beurteilen zu können. Auch ob Russland oder China nicht bis zum Jahr 2005, wenn die Stationierung abgeschlossen sein soll, längst
Gegenmaßnahmen entwickelt haben, sei
völlig unklar. „Das Thema wird immer so
diskutiert“, wundert sich Gronlund, „als
hätten Länder wie der Irak, Iran oder
Nordkorea zwar das technische Knowhow, um Raketen einzusetzen, aber nicht
genug Know-how, um Gegenstrategien zu
entwickeln.“
Der erste Test am Samstag über dem
Pazifik jedenfalls hatte mit dem Ernstfall
so wenig zu tun wie Hollywood mit
dem wirklichen Leben: Die „feindliche“
Rakete trug einen GPS-Sender mit sich
und funkte ihre Positionsdaten ständig
ans Kill Vehicle – der Zerstörer wusste
also stets haargenau, wo sein Ziel gerade
war. „So hilfsbereit wird ein echter Gefechtskopf kaum sein“, meint Lisbeth
Gronlund.
Rafaela von Bredow,
Stefan Simons
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NC AR
Wissenschaft
Flugzeug mit Gerät zum Melken von Wolken: Gerichtsverfahren wegen „Regenraub“
METEOROLOGIE
Schüttgut vom Himmel
Regenmacher haben Konjunktur; doch bringt die Technik
wirklich mehr Niederschlag? Ein Langzeitexperiment in Mexiko
gibt erste Antworten auf die seit Jahrzehnten strittige Frage.
D
arauf hat Dan Breed seit Tagen gewartet: Der Wind frischt auf, dunkle Wolken ballen sich am Himmel
zusammen und werfen zerfranste Schatten auf das kahle Hochplateau. Nach einem letzten Blick auf den Bildschirm des
Wetterradars hastet der amerikanische Meteorologe mit dem Piloten Vic Weightman
zum kleinen Flugzeug vom Typ Piper
Cheyenne, wenige Minuten darauf steuern
sie mitten in die Gewitterfront hinein.
Unter dem wolligen Bauch einer regenträchtigen Wolke legt Weightman einen
Schalter im Cockpit um, auf den Tragflächen zünden Geräte, die aussehen wie
kleine Raketenwerfer. Rauchigen Nebel
verbreiten die Brandsätze, der von Auf352
winden rasch ins Innere der Wolke gewirbelt wird – wenig später rauscht heftiger
Regen auf die dürre Landschaft nieder.
Breed ist Regenmacher. Seit drei Jahren
impft er im Auftrag des amerikanischen
National Center for Atmospheric Research
im Norden Mexikos Wolken mit Kaliumund Natriumchlorid, um ihnen Regen
zu entlocken. Das groß angelegte Forschungsprojekt soll endgültig klären, ob
die künstliche Besamung am Himmel wirklich mehr Niederschläge produziert oder,
wie Skeptiker seit jeher behaupten, nur
Hightech-Schamanentum ohne bewiesenen Nutzen ist.
Wolken mit Chemikalien auf die Sprünge zu helfen ist ein großes Geschäft, die
Nachfrage steigt weltweit: Der gewonnene
Regen soll Ackerflächen fruchtbar halten
oder Wasserspeicher auffüllen. Manche
Skigebiete versuchen, ihre Hänge mit zusätzlichen Flocken bestäuben zu lassen.
In Kanada schwärmen um Calgary regelmäßig Wolkenmelker der US-Firma
„Weather Modification Inc.“ aus, die potenzielle Hagelwolken zum Wasserlassen
bewegen, bevor sich eine Katastrophe wie
der große Hagelsturm von 1991 wiederholt. Tennisballgroße Eisbomben richteten
damals innerhalb von 30 Minuten einen
Schaden von rund 275 Millionen Dollar an.
„Seit wir die Wetterflieger beauftragt
haben, hat sich die durchschnittliche Schadensmenge in den letzten vier Jahren von
275 auf 155 Millionen Dollar reduziert“,
berichtet Jim Renick, Vertreter der Versicherungen in Calgary. Die Investition von
rund einer Million Dollar pro Jahr scheint
sich zu rentieren.
Über 40 Länder versuchen, den natürlichen Niederschlag in geordnete Bahnen
zu lenken – Griechenland etwa, Guatemala und die Vereinigten Arabischen Emirate.
In Rosenheim ist „Hagelpilot“ Georg Vogl
berühmt, der durch Wolken-Impfung zu
verhindern weiß, dass eisiges Schüttgut
vom Himmel die Felder seines Landkreises
platt macht. Vor wichtigen Feiertagen pflegen Moskauer Spezialisten die „Operation
Zarenwetter“ in Marsch zu setzen, die
das Gewölk vor den Toren Moskaus zur
Die Wettermacher
Künstlicher Regen
1 Ein Flugzeug
„impft“ die Wolken
mit Salzpartikeln.
Wassermolekül
4 Erreichen die Wassertropfen eine bestimmte
Größe, fallen sie als
Regen aus der Wolke.
Salzpartikel
2 Um die künstlichen Kondensationskeime lagern
sich Wassermoleküle an.
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3 Die Kondensationswärme gibt den Wassertröpfchen Auftrieb in
kältere Schichten der
Wolke, durch weitere
Kondensation wachsen
die Tropfen.
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FOTOS: AP
Hagelschäden in Texas
Hagel in South Dakota
Hightech-Schamanentum ohne Wirkung?
Tennisballgroße Eisbomben
Ader lässt, damit planwidriger Niederschlag die staatstragenden Aufmärsche
nicht verdirbt.
In den USA jagen Profis erntereifen Wolken in 29 Bundesstaaten hinterher, mit
Wetterradaren am Boden, übers Land verstreuten Beobachtern und ständig einsatzbereiten Flugzeugen. Amerikanische Gerichte mussten sogar schon über den Vorwurf des „Regenraubs“ verhandeln, wenn
Staaten sich um himmlisches Nass betrogen
sahen, weil ihre Nachbarn die Wasserspender per Impfung entleert hatten.
Doch bislang konnte niemand stichhaltig nachweisen, dass Wolkenbesamung
tatsächlich fruchtet. Viele Wissenschaftler
nennen die Methode Humbug, Steuerzahler fürchten die Verschwendung öffentlicher Gelder, denn die Meteorologen wissen
nicht, ob es weniger geregnet oder mehr
gehagelt hätte, wären keine Chemikalien
versprüht worden.
Der Vergleich langjähriger Niederschlagsmittelwerte nützt wenig, denn auch
natürliche Klimaschwankungen, Treibhauseffekt oder schlicht der Zufall könnten
für die erhöhte Regenmenge verantwortlich sein. Doch nun, da die Forschungsarbeit im trockenen Norden Mexikos kurz
vor dem Abschluss steht, geben die Meteorologen erste Ergebnisse bekannt, und
die sprechen eindeutig für das Herumdoktern an den Wolken.
Die Amerikaner versuchten schon um
die Jahrhundertwende erstmals, Wolken
mit an Ballons oder Drachen in die Höhe
getragenen Dynamitstangen platzen zu lassen, doch diese Experimente scheiterten
kläglich.
In den vierziger Jahren entwickelten
dann Wissenschaftler des Elektrokonzerns
General Electric die noch heute praktizierten Methoden der Wolken-Impfung:
Regenkeime in Form von Silberjodid oder
Trockeneis beschleunigen die Kondensation des Wasserdampfes zu Tropfen (siehe Grafik Seite 352). Die erste kommerzielle Regenmacherfirma gründete ein
Farmer in den fünfziger Jahren in North
Dakota.
Auf dem mexikanischen Hochplateau in
Coahuila testen die Forscher die bislang
modernste Variante der Wolken-Impfung:
neuartige Fackeln an den Tragflächen der
haltspunkt für ihre Entscheidung
geben.
Im Kontrollzentrum lesen Wissenschaftler an den Echos auf
ihren Radarschirmen ab, wie viele Regentropfen sich in den Wolken bilden. Haben sie genügend
Daten gesammelt, vergleichen die
Meteorologen Wolken gleichen
Typs und stellen fest, ob geimpfte Wolken
mehr Regen entwickeln. „Mit bloßem
Auge“, sagt Breed, „ließe sich nicht erkennen, dass eine Wolke mehr abregnet, als
gemeinhin zu erwarten wäre.“
Doch die bisher akribisch ermittelten
Daten sind eindeutig: Um 30 bis 40 Prozent
erhöht sich die Regenmenge, wenn eine
Wolke mit der neuen Technik geimpft wird
– weit mehr als die alten Methoden abwarfen, deren Regensegen auf ein Plus von
10 Prozent geschätzt wurde.
Zwar warnen die Meteorologen des
National Center for Atmospheric Research
vor voreiligen Schlüssen. Sie wollen erst
noch mehr Versuche durchführen und genauer erforschen, was in den besäten Wolken vorgeht. Doch bestätigen die Zahlen,
was auch die Meteorologen in Südafrika
beobachtet hatten. Und mancher kommerzielle Regenmacher setzt das neue Verfahren bereits erfolgreich ein.
Trotzdem bleibt das Regenmachen ein
kniffliges Geschäft, Bewässerung auf Befehl
klappt auch mit der neuen Technik nicht.
Gibt es keine Wolken am Himmel, zerrt
kein Flugzeug eine herbei. Deshalb werden
die Wettermanager Wüsten nie begrünen.
Sie können Wolken nur dazu bewegen,
mehr von ihrer nassen Last abzuladen.
Trockengebiete wie die Region Coahuila
werden so landwirtschaftlich nutzbar.
Dürregebiete ohne Wolken müssen jedoch weiterhin auf althergebrachten Regenzauber vertrauen. Im Amazonasgebiet
etwa regnete es im letzten Jahr sechs Monate lang nicht. Die Buschbrände gerieten
außer Kontrolle. In ihrer Verzweiflung rief
die brasilianische Regierung nicht nur die
Brandspezialisten der Vereinten Nationen
an, sondern auch Schamanen der einheimischen Caiapó-Indianer. Einen Tag nach dem
Regentanz der Eingeborenen schüttete es
vier Stunden lang aus Kübeln – die meisten
Feuer erloschen.
Hubertus Breuer
354
Regenflieger, die aus Magnesium, Wasser
absorbierenden Salzen und Bindemitteln
bestehen und nach ihrer Zündung kleine
Salzpartikel mit nur einem halben Mikrometer Durchmesser ausstoßen.
Die wichtige Rolle der Salzpartikel entdeckten südafrikanische Meteorologen
schon Ende der achtziger Jahre, als sie bemerkten, dass sich regenschwangeres Gewölk bevorzugt im Windschatten des
Schornsteins einer Papiermühle blicken
ließ. Sie durchflogen den Himmelsdunst,
entnahmen Proben und stellten fest, dass
die Wolke vom Rauch der Mühle viele Salze enthielt – Kalium- und Natriumchlorid,
an denen die Luftfeuchtigkeit kondensierte und so eine Wolke bildete.
Die Salze dienen nicht nur als Kristallisationskerne, sondern ziehen Feuchtigkeit
regelrecht an. Die Meteorologen entwickelten Fackeln mit Salzbeimischung,
deren Rauch der Wind rasch in den Wolken
verteilte. Bereits die ersten Radarmessungen zeigten spektakuläre Mengen an Regentropfen in besäten Wolken an.
Trotz der verheißungsvollen Ergebnisse
strich die südafrikanische Regierung dem
Projekt bald die Mittel. Da hatten die Amerikaner aber längst von der neuen Technik
Wind bekommen. In Mexiko begannen sie
mit Fördermitteln der einheimischen Industrie ihre eigene Versuchsreihe.
Das Experiment ist ähnlich wie eine
Arzneimittelstudie angelegt: Damit die
Kontrolleure vorurteilsfrei ans Werk gehen, wissen sie nicht, ob die Wolke wirklich geimpft oder nur von wirkungslosen
Placebos durchflogen wurde. Die Piloten
steigen mit einem verschlossenen Umschlag ins Cockpit, den sie erst öffnen,
wenn sie sich der Wetterfront nähern. Darin finden sie Anweisungen, die Wolke zu
besäen oder ohne das Zünden der Salzfackeln zu passieren. Vom Boden aus, so
die Order, darf die Flugbahn keinen And e r
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Ursula Wamser, Peter Wetter, Andrea Wilkens, Holger Wilkop,
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Chronik
SAMSTAG, 2. 10.
SPARKURS Als „jetzt nicht finanzierbar“
weist Bundeskanzler Gerhard Schröder
die Pläne von IG-Metall-Chef Klaus
Zwickel zur Reduzierung der Arbeitslosigkeit („Rente ab 60“) zurück.
SONNTAG, 3. 10.
RECHTSRUTSCH Der große Gewinner der
Parlamentswahlen in Österreich ist mit
vorläufig 27,2 Prozent die Freiheitliche
Partei des Rechtspopulisten Jörg Haider.
Die Sozialdemokratische Partei des Bundeskanzlers Viktor Klima schneidet mit
33,4 Prozent so schlecht ab wie nie zuvor
in der Nachkriegszeit.
NACHTRETEN Die „Welt am Sonntag“
druckt erste Auszüge aus „Das Herz
schlägt links“ – der Generalabrechnung
von Ex-SPD-Chef Oskar Lafontaine mit
der Politik der Regierung Schröder.
MONTAG, 4. 10.
NS-VERBRECHER Ein Gericht in Kroatien
verurteilt den 77-jährigen ehemaligen
KZ-Kommandanten des Lagers Jasenovac, Dinko akiƒ, zu 20 Jahren Haft.
JURISTENTREFFEN In seiner Eröffnungsrede
zum 17. Deutschen Richtertag übt der
Vorsitzende Rainer Voss ungewöhnlich
harsche Kritik: Politiker versuchten,
„die Rechtsprechung zu beeinflussen“.
DIENSTAG, 5. 10.
2. bis 8. Oktober
zern Sprint – der größte Firmenzusammenschluß aller Zeiten. Ihren 10-ProzentAnteil an Sprint will die Deutsche Telekom für 18 Milliarden Mark verkaufen.
MITTWOCH, 6. 10.
SPIEGEL TV
REPORTAGE
Traumschiff mit kleinen Fehlern
Unterwegs mit der MS „Europa“
meisterschaft im Einzelzeitfahren im italienischen Treviso.
ABFUHR Auf breiten Widerstand stößt EUKommissar Günter Verheugen beim
Europa-Parlament mit dem Vorschlag, die
Türkei beim Gipfel im Dezember in den
Kreis der Beitrittsanwärter aufzunehmen.
DONNERSTAG, 7. 10.
NS-OPFER Sechs Milliarden Mark bieten
die deutsche Industrie und die Bundesregierung den überlebenden NS-Zwangsarbeitern als Entschädigung an. Die Anwälte der Opfer wie der Münchner Michael
Witti reagieren ablehnend: „unakzeptabel, eine Riesenenttäuschung“.
AUSLANDSEINSATZ Mit klarer Mehrheit billigt der Bundestag die Entsendung deutscher Sanitätssoldaten nach Osttimor.
FREITAG, 8. 10.
MENSCHENRECHTE Ein Londoner Gericht
entscheidet: General Pinochet, der frühere chilenische Präsident, kann wegen der
Verbrechen unter seiner Militärdiktatur
an Spanien ausgeliefert werden. Pinochets Anwälte wollen Berufung einlegen.
BEFEHLSÜBERGABE General Klaus Rein-
zug kollidieren nahe Paddington Station
im Westen Londons. Dabei geraten vier
Waggons in Brand. Vermutlich 80 Menschen werden getötet.
hardt wird als erster Deutscher Kommandeur der Kosovo-Friedenstruppe Kfor.
übernimmt das US-TelekommunikationsUnternehmen MCI-WorldCom den Kon-
MONTAG
23.00 – 23.30 UHR SAT 1
RADSPORT Jan Ullrich gewinnt die Welt-
ZUGUNGLÜCK Ein Intercity und ein Vorort-
GLOBAL PLAYER Für 129 Milliarden Dollar
SPIEGEL TV
LAUTSPRECHER Die CSU eröffnet ihren
Parteitag in Nürnberg. Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber geißelt die
„mutlose Steuerpolitik“ der Regierung in
Berlin.
MS „Europa“
SPIEGEL TV
Mitte September startete das Flaggschiff
der Reederei Hapag-Lloyd zu seiner ersten Kreuzfahrt. Ein schwimmendes Luxushotel für mehr als 400 Gäste. Doch
die Werft in Helsinki hat den Fünf-Sterne-Dampfer zu spät abgeliefert. Als die
ersten Passagiere an Bord gingen, wurde
noch gehämmert und gebohrt.
DONNERSTAG
22.05 – 23.00 UHR VOX
SPIEGEL TV
EXTRA
Mit Vollgas durch die „Grüne Hölle“ –
die Bleifuß-Freaks vom Nürburgring
Geschwindigkeit ist ihre Leidenschaft. Jedes Wochenende rasen hunderte von
Amateur-Rennfahrern mit tiefergelegten
Alltagsautos und getunten Motorrädern
über den Nürburgring, die gefährlichste
Rennstrecke der Welt. Offiziell gilt hier
die Straßenverkehrsordnung, doch kaum
einer hält sich daran.
SAMSTAG
22.40 – 23.45 UHR VOX
SPIEGEL TV
SPECIAL
People’s Century – Das Jahrhundert
Teil I: Jahre der Hoffnung
Die Unterprivilegierten wachen auf; das
proletarische Bewusstsein entwickelt sich.
Beginn der zehnteiligen Dokumentationsreihe über Naturkatastrophen und
Krieg, Fortschritt und Wohlstand des ausgehenden Jahrhunderts.
SONNTAG
22.15 – 23.00 UHR RTL
REUTERS
SPIEGEL TV
Zweirad-Akrobaten: Malaysische
Soldaten proben ihren Auftritt zur Einweihung der Formel-1-Rennstrecke
in Sepang bei Kuala Lumpur.
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MAGAZIN
(K)ein Oskar für Lafontaine – der ExSPD-Vorsitzende liest aus seinen Werken; Die Schule der Gewalt – Bericht aus
einem Jugendgefängnis in MecklenburgVorpommern; Operation Donnerschlag –
wie die US-Armee die Bombardierung
Berlins probte.
357
Register
Rüstungsfabrik geschickt. Nach Kriegsende
dann der wütende Neuanfang: Rasch entwickelte er sich mit seinen energiegeladenen, abstrakten Farbbildern zu einem
weltweit bewunderten Protagonisten des
europäischen Informel. Emil Schumacher,
der in Spanien, der Schweiz und seiner
Heimatstadt Hagen lebte, starb am vergangenen Montag auf Ibiza.
Gestorben
Bernard Buffet, 71. Von Kunstkritikern
wurde er als Kitschmaler belächelt, auf
dem Kunstmarkt war der Franzose den-
CORBIS SYGMA
Akio Morita, 78. Eigentlich hätte er die
GAMMA / STUDIO X
noch begehrt: Seine melancholischen Menschen- und Clownfiguren, ausgemergelte
Gestalten mit harten Konturen, schienen
vor allem in die skeptischen Jahre des Existenzialismus zu passen – und machten ihn
zum Multimillionär. Unerträglich wurde
dem besessenen Leinwand-Arbeiter das
Leben, als ihm die Parkinsonsche Krankheit das Malen unmöglich machte. Am vergangenen Montag beging Bernard Buffet in
seiner Villa im südfranzösischen Tourtour
Selbstmord.
F. NEUMAYER / RIRO-PRESS
Heinz G. Konsalik, 78. Der BestsellerAutor aus Köln, bis kurz vor seinem Tode mit einer 44 Jahre jüngeren Chinesin
liiert, fürchtete weder Kitsch noch Klischee. Er hackte
Romane im Akkord
(155 in 43 Jahren),
nannte sich „Volksschriftsteller“ und
hatte volkswagenmäßig Erfolg (83
Millionen Weltauflage). Er war Student
der Medizin und
Landser in Russland,
folglich hieß sein Erst-Erfolg „Der Arzt
von Stalingrad“, und die Freuden des
Landsers, Gewalt, Sex und andere Trivialitäten, behielt er auch an anderen RomanFronten bei. 1939 trat er eine Tätigkeit bei
der Gestapo an und wie sein Dienstherr
pilgerte er nach Bayreuth. Heinz G. Konsalik starb am 2. Oktober nach einem
Schlaganfall in Salzburg.
Sake-Brauerei seines Vaters übernehmen
sollen. Doch er folgte seinem Hang zur
Technik. Als Ingenieur der japanischen
Kriegsmarine tüftelte er im Zweiten Weltkrieg zunächst im Dienste des Kaisers. Die
erhoffte Wunderwaffe gegen die Amerikaner erfand er
zwar nicht, dafür
aber lernte er seinen
künftigen Geschäftspartner Masaru Ibuka kennen. Nach
dem Krieg gründeten die Ex-Offiziere
im zerbombten Tokio die Firma „Tokyo Tsushin Kogyo“
– den späteren Elektronikkonzern Sony.
Berühmt wurde er
vor allem durch seine Erfindung des Walkman. Nach einem schweren Schlaganfall
zog sich der Sony-Chef 1993 aus dem aktiven Geschäft zurück. Akio Morita starb
am 3. Oktober in Tokio.
Amália Rodrigues, 79. In ihrer Heimat
Portugal war sie schon lange ein Nationaldenkmal, verehrt als die Verkörperung des
traurig-trotzigen Fado. Keine andere Sängerin konnte den Weltschmerz, die Melancholie und die Schicksalergebenheit
dieser traditionellen, arabisch beeinflussten Armeleute-Gesänge authentischer interpretieren als die Lissabonner ArbeiterTochter. Welttourneen und TV-Auftritte
machten die Sängerin mit der unverwechselbaren klagend-rauen Stimme auch im
Ausland berühmt. Amália Rodrigues starb
am vergangenen Mittwoch in ihrer Heimatstadt an den Folgen eines langjährigen
Lungenleidens.
Emil Schumacher, 87. Weil er sich nicht
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SIPA PRESS
von Nazi-Professoren unterrichten lassen
wollte, brach er 1935 sein Kunststudium
ab. Doch entziehen konnte er sich dem
NS-System damit nicht. Vier Jahre später
wurde der junge Westfale, 1912 in Hagen
geboren, als technischer Zeichner in eine
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Werbeseite
Werbeseite
F. OSSENBRINK
Personalien
SIPA PRESS
Müller, 39, heiraten. Der erste Termin war
geplatzt, weil Dreßlers Ex-Frau Leocardia,
58, die Scheidung anfocht. Die künftige
Frau Dreßler wird von ihr in Interviews
als „Ehebrecherin“ beschimpft, dabei war
Leocardia selbst Grund für Dreßlers erste
Scheidung. Gefeiert wird am 23. Oktober
mit vielen Freunden und wenig Gästen aus
der Politik. Kanzler Schröder ist nicht eingeladen, dafür Oskar Lafontaine, Norbert
Blüm und Guido Westerwelle.
Chirac, Anelka, Aznar
Nicolas Anelka, 20, französischer Fußball-Nationalspieler und mit der zweithöchsten Ablöse der Fußballgeschichte – 64
Millionen Mark – von Arsenal London zu
Real Madrid gewechselt, rächte sich symbolisch an der Grande Nation für vermeintliches Unrecht: Der Kicker verweigerte – zunächst – die Teilnahme an einem
Gala-Schmaus, zu dem der spanische Premierminister José María Aznar, 46, zu
Ehren des auf Staatsbesuch weilenden Pariser Präsidenten Jacques Chirac, 66, gebeten hatte. Begründung des in einem der
berüchtigsten französischen Vororte aufgewachsenen Eigenbrötlers: Bruder Didier,
Guru und Manager, sei nicht mit eingeladen. Während die verlegenen Spanier eilig
streuten, der Star der „größten TransferPosse der Fußball-Neuzeit“ („Neue Zürcher Zeitung“) sei wegen seiner dürftigen
Leistungen bei Real lieber in Deckung geblieben, gaben Pariser Insider eine andere
Version: Der stolze Sohn von Emigranten
aus Martinique war letztes Jahr drei Wochen vor der Fußball-WM aus der siegreichen Tricolore-Equipe ausgeschlossen worden. Somit war er auch von den Freudenfeiern ausgesperrt, die Chirac am Nationalfeiertag im Elysée-Park zum eigenen
Ruhm um „les Bleus“ entfesselt hatte. Chirac nahm das Madrider Foul-Spiel des Stürmers mit Humor: „Ich will mich nicht in
die Familienangelegenheiten des Monsieur
Anelka einmischen.“ Der schwierige Nicolas spielte daraufhin auf Unentschieden:
Er erschien zum Tafeln – ohne Bruder,
dafür aber mit Real-Trikots für Chirac und
für Aznar.
Clement
Wolfgang Clement, 59, nordrhein-westfälischer Ministerpräsident (SPD), hält
nicht viel von der Farbkombination RotGrün. Bei einem Besuch des Thomy-Werks
in Neuss stellte die Werksleitung dem hohen Gast Bestseller-Produkte vor. So etwa
den Verkaufsschlager „Thomy Rot-Weiß“.
Das Gemisch aus Mayonnaise und Ketchup
sei der Hit, sogar über das Ruhrgebiet hinaus. Auch die Mischung Ketchup und Senf
(„Thomy Rot-Gelb“) ward dem Ministerpräsidenten zum Geschmackstest
angeboten. Bei den vielen Farben
fiel dann dem Werksleiter auch noch
der Scherz ein: „Und jetzt denken
wir noch über Rot-Grün nach.“ Da
erschrak Clement, der Mann mit
dem Modernisiererimage: „Das lassen Sie mal lieber. Damit kann man,
glaube ich, nicht so viel Geld verdienen. Passt außerdem nicht in die
Tube.“
Rudolf Dreßler, 58, SPD-Sozialexperte, kann jetzt doch im zweiten
Anlauf die RTL-Journalistin Doris
Claudia Schiffer, 29, deutsches Fräuleinwunder, das nach einem Durchhänger im vergangenen Jahr jetzt wieder auf
den Pariser Laufstegen zu sehen war,
forciert gezielt das Filmgeschäft. In dem
Kinostück „Black and White“, das im
New Yorker HipHop-Milieu angesiedelt
ist, spielt sie – zusammen mit Ben Stiller
und Brooke Shields – eine schwierige
Studentin. „Ich suche mir Rollen ohne
viel Glamour aus“, sagt die Jung-Schauspielerin, die ihre letzten
Model-Auftritte
zum Freundschaftspreis
von 1500 Dollar absolvierte. Da könne sie sich
„ganz auf den darzustellenden Charakter konzentrieren“ und müsse
sich nicht um ihr „Aussehen kümmern“.
Friedhelm Julius Beucher, 53, SPD-Bun-
AP
Schiffer
360
destagsabgeordneter und Vorsitzender des
Sportausschusses, vermisste bei Kollegen
aus dem Osten wahlkämpferischen Einsatz. Der Fraktionsvorsitzende Peter
Struck hatte Listen herumgereicht, in die
sich die Abgeordneten für Wahlkampfeinsätze vor allem in Ost-Berlin an S- und
U-Bahnhöfen eintragen sollten. Das Ergebnis empörte den unter anderem auch in
Arbeitslosen-Initiativen engagierten Sozi.
Von 69 Ost-Abgeordneten der SPD hatten
sich gerade mal 23 zum Termin am vergangenen Donnerstag gemeldet. „Können
mir mal die anderen sagen, welche Termine ihr für Donnerstag zwischen 6.30 Uhr
und 7.30 Uhr habt?“, blaffte Beucher die
Anwesenden an, „vielleicht verpasse ich ja
ganz wichtige Dinge der Öffentlichkeits-
NYT
Margaret MacGregor, 36, Gärtnerin
und Faust- sowie Kickboxerin, bestand auf ihren für den vergangenen
Samstag in Seattle anberaumten Boxkampf gegen das männliche Leichtgewicht Loi Chow, 34, beide 57 Kilo
schwer. Zwar gibt es in den USA aus
Gründen der Gleichberechtigung keine rechtliche Handhabe gegen einen
Faustkampf Frau gegen Mann, aber
den Machos aus der Boxszene war
das bevorstehende Sportereignis nicht
geheuer. „Wir meinen“, so der Di- „September“-Blatt, Nicholson
rektor der Athletic Commisssion des
US-Staates Nevada, Marc Ratner, „dass te Kalender für sechs
Männer gegen Männer und Frauen gegen Pfund (rund 18 Mark)
Frauen kämpfen sollten.“ MacGregor indes zum Verkauf. Mrs. Ione
wollte erst dann auf den Fight verzichten, Ashcroft, 59, Vorsitzen„wenn jemand ein wirklich plausibles Ge- de der Winchester Congenargument“ vorbrächte. Sie jedenfalls servative Association
habe die kriegerische Kunst gelernt, nach- und „Januar“-Kalenderblatt, zu dem Tun
dem sie sich bei Ehekrächen ihrem prü- der Ladys: „Manche glauben, die konsergelnden Ex-Mann absolut „hilflos“ ausge- vativen Frauen sind ein graues Krampfsetzt sah: „Ich habe mir dann gesagt: Kein aderngeschwader.“ Vielmehr, so die
Mann wird das mit mir noch einmal tun, es Dame, die sich eine Toga übergeworfen hat
und neckisch den nackten Oberschenkel
sei denn, ich lass ihn.“
vorstreckt, seien alle Altersgruppen vertreten; und die Bilder seien weder „unfein
noch vulgär“. „August“-Model Caroline
Dineage, 27, zeigt sich im Ballkleid, umrahmt von zwei Herren mit nacktem Oberkörper. Sie gesteht, sie habe es als Jüngste
in ihrem Wahlkreis „schwer, ernst genommen zu werden“. Diesmal habe sie die Sache umgedreht „und die Kerle dazu gebracht, die Kleider abzulegen“. Und „September“-Darstellerin Nicholson, die sich
hinter einem Strohballen versteckt, sagt: Es
sei eine „tolle Gelegenheit“ gewesen, das
richtige Image der Partei zu zeigen: „Die
Leute halten einen immer noch für sonderbar, wenn man unter 40 und Mitglied
der Konservativen ist.“ Natürlich sind die
Damen, sofern verheiratet, mit Zustimmung der Ehemänner fotografiert worden.
MacGregor, Chow
d e r
s p i e g e l
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361
FOTOS: BULLS PRESS (li.); R. RILEY (re.)
Sheena Nicholson, 34, Tory-Mitglied und
Landwirtin, und elf weitere konservative
Damen posierten spärlich bekleidet für Kalender-Fotos und einen guten Zweck: Geld
für die Parteikasse. Auf dem Parteitag der
Torys vergangene Woche kam der gewag-
arbeit.“ Beuchers Strafpredigt zeigte Wirkung. Die Liste sei dann „ganz schön angeschwollen“. Anderntags traten 150 Mitglieder der Fraktion, darunter auch Struck
und Verteidigungsminister Rudolf Scharping, frühmorgens bei U-Bahnhöfen und
Schulen an, um die Berliner Genossen
zu unterstützen. Die allerdings begleiteten die Aktion ohne große
Begeisterung, manche ließen die
Bundestagsabgeordneten ganz allein
agieren. Verena Wohlleben wartete
am Alexanderplatz eine dreiviertel
Stunde auf Material und Vertreter der
Ortspartei. Die Parlamentarische Geschäftsführerin der Bundestags-SPD,
Susanne Kastner, wollte rote Äpfel
verteilen („damit die Leut in der Früh
eine Freud haben“), erhielt aber nur
Broschüren. Ihr Fazit: „So gewinnt
man keine Wahlen.“
Hohlspiegel
Rückspiegel
Aus dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ über
Brigitte Bardot: „Vielmehr hat ihr gerade
dieses Engagement viele Feinde eingebracht, sie bekam Morddrohungen
von Pferdemetzgern und handelte sich
sogar eine Geldbuße dafür ein, dass sie
das rituelle Schlachten der Moslems in
Frankreich als ,islamische Zügellosigkeit‘
bezeichnete.“
Zitate
Aus der „Badischen Zeitung“: „Bei der
Kommunalwahl am 24. Oktober kandidieren zum ersten Mal auch Frauen und Männer für den Gemeinderat.“
Aus der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung“
Aus der „Westdeutschen Zeitung“
Aus einem Urteil des Bundesfinanzhofs:
„Die künstliche Befruchtung der (gesunden) Ehefrau mit Fremdsamen bezweckt
aber nicht die Beseitigung oder Linderung
des Ehemannes, sondern die Erfüllung des
Wunsches nach einem Kind.“
Aus dem Landespressespiegel Hessen:
„Davon müsse das Land noch 50 000 Mark
nachlassen, damit der neue Eigentümer die
Frau des bisherigen Betreiberehepaares
übernehme.“
Aus der „Welt am Sonntag“
Aus der „Badischen Zeitung“: „Ein großer
Unterschied besteht noch in der Einstellung zu Ausländern: Gut die Hälfte der
südwestdeutschen Jugendlichen glaubt,
dass das Zusammenleben funktioniert; jeder zweite Sachse sieht es skeptisch.“
Aus dem „Mühlacker Tagblatt“: „Bezüglich der Todesursache gibt es keine Hinweise auf eine Fremdeinwirkung. Die Zahl
der Drogentoten bei der Polizeidirektion
Pforzheim hat sich 1999 somit auf drei erhöht.“
362
Günter Grass in einem Interview mit
der „Woche“ zum SPIEGEL-Gespräch
mit Marcel Reich-Ranicki über dessen
schwieriges Verhältnis zum diesjährigen
Literaturnobelpreisträger „Autoren –
,Ich bedaure nichts‘“ (Nr. 40/1999):
Die Woche: Ihr Erzfeind Marcel ReichRanicki hat im SPIEGEL die Frage aufgeworfen, ob es nun nicht an der Zeit sei, sich
zusammenzusetzen. Haben Sie dazu Neigung?
Grass: Als der SPIEGEL-Titel erschien, auf
dem Reich-Ranicki meinen Roman „Ein
weites Feld“ zerriss, hat er auch das Tischtuch zwischen uns beiden zerrissen. Er behauptet, die Fotomontage sei ohne sein
Wissen entstanden, aber er hätte dieses
Bild verhindern können. Er hatte zudem
die Möglichkeit, den SPIEGEL wegen Missbrauchs zu verklagen. Er kann das nicht
wie einen Lapsus behandeln. Das hat mich
tief verletzt. So einfach ist das nicht zu begradigen.
Die Woche: Aber wenn Sie ihm nächste
Woche auf der Frankfurter Buchmesse begegnen würden, dann gäben Sie ihm die
Hand?
Grass: Dann würde ich ihm das sagen. Es
ist ja nicht so, dass ich ihm aus dem Weg gehen oder um die Ecke schleichen würde.
Das ganz gewiss nicht. Ich habe Jahrzehnte unter ihm leiden müssen und hatte trotzdem immer ein vergnügliches Verhältnis
zu ihm, weil ich ihn auch nicht überschätzt
habe, wie viele das tun.
Die „Tageszeitung“ zum selben Thema:
Ein Glückwunsch. Marcel Reich-Ranicki,
der lauteste Verreißer heimischer Prosa
und Lyrik, hütet seine Zunge. Persönlich
will er nicht dem Autor der Blechtrommel
zum Literaturnobelpreis gratulieren.
Gleichwohl stimmte er im SPIEGEL versöhnliche Töne an: „Mein lieber Günter
Grass, Sie sind es, Sie sind doch der Größte!“ Ein Tischtuch. Doch Grass fühlt sich
nicht genug von Reich-Ranicki umworben,
lässt er in der „Woche“ verlauten. Mit dem
SPIEGEL-Titel aus dem Jahr 1995, auf dem
Reich-Ranicki in einer Fotomontage Grass’
Roman „Ein weites Feld“ zerfetzt, habe
der Kritiker das Tischtuch zwischen ihnen
beiden zerrissen. Wenn es gegen dessen
Willen entstanden sei, hätte er es verhindern müssen. Und darauf ein Butt. So können die beiden Männer nicht zusammenkommen. Günter sieht Marcel von Stichwortgebern umstellt, Marcel unterstellt
Günter gekränkten Narzissmus: „Sein Verhältnis zu mir hängt immer nur davon ab,
wie ich sein letztes Buch beurteilt habe.
Das ist das Übliche bei allen Autoren.“
Den letzten und einzigen Butt bekam Marcel von Günter in den Fünfzigern serviert.
d e r
s p i e g e l
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