Roots_Auffermann_Weniger_2006
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Roots_S. 141-196 08.06.2006 8:16 Uhr Seite 183 Neandertaler – Kulturträger oder Wilder Mann? Ein kurzer Rückblick auf 150 Jahre Rezeptionsgeschichte Bärbel Auffermann & Gerd-Christian Weniger Neanderthal Museum, Talstraße 300, D-40822 Mettmann 1 Abb. 1 Wappen des Königreichs Preußen mit zwei Wilden Männern als Wappenträger. […] Einen Sprößling der Nachtstille, mit Kraft beschenkt von Ninurta Mit Haaren bepelzt am ganzen Leibe; Mit Haupthaar versehen wie ein Weib: Das wallende Haupthaar, ihm wächst's wie der Nisaba! Auch kennt er nicht Land noch Leute: Bekleidet ist er wie Sumukan! Herzogtums Braunschweig ebenso vertreten wie in Gemeindewappen oder auf Münzen der frühen Neuzeit (Abb. 2). Selbst Goethe (1832) gibt in Faust, der Tragödie zweiter Teil, eine Beschreibung der Wilden Männer: […] Der Stärkste im Land ist er, Kraft hat er, Gleich der Feste des Anu gewaltig ist seine Stärke – Er streift im Steppenland beständig umher, Beständig frisst mit dem Wild er das Gras, Beständig weilt sein Fuß gegenüber der Tränke; Riesen Die wilden Männer sind s’ genannt, Am Harzgebirge wohlbekannt; Natürlich nackt in aller Kraft, Sie kommen sämtlich riesenhaft. Der Fichtenstamm in rechter Hand Und um den Leib ein wulstig Band, den derbsten Schurz von Zweig und Blatt, Leibwacht, wie der Papst nicht hat. Wird hier etwa ein Neandertaler beschrieben? Der Text stammt aus dem ältesten literarischen Werk der Menschheitsgeschichte, dem Gilgamesch-Epos. Gemeint ist Enkidu, der wilde Jäger aus der Steppe, der zum Gefährten des Gilgamesch wird und aus der Wildnis in die Zivilisation wechselt. Mehr als dreitausend Jahre vor der Entdeckung des Neandertalers im Jahre 1856 wurde bereits seine Beschreibung als Wilder Mann – das populäre Bild, das in den vergangenen 150 Jahren Wissenschaft und Öffentlichkeit immer wieder vom ihm gezeichnet haben – erstmals schriftlich niedergelegt. Das Thema des Wilden Mannes zieht sich seit Gilgamesch durch die gesamte abendländische Geschichte bis in die Romantik hinein und erreicht eine außerordentliche Vielfalt und Popularität in den literarischen Quellen des Mittelalters (Bernheimer 1952, Wilckens 1994). Wilde Männer sind in feudalen Wappen des Königreichs Preußen (Abb. 1) oder des Wildheit wird in den mittelalterlichen Quellen als Verlust des Menschseins verstanden. Typische Merkmale dieses degenerierten Zustandes sind fehlende Sprachfähigkeit, starke Körperbehaarung oder das Tragen eines Fellkleides, Ausstattung mit einer Keule oder einem Baumstamm, weitgehende Nacktheit und Höhlen als Lebensorte. Neben Wilden Männern sind Wilde Frauen gleichermaßen vertreten. Erklärt wird ihr unmenschlicher Zustand durch die Ferne zu Gott. Sie haben sich von Gott abgewendet und sind nun, abgeschnitten vom göttlichen Wissen, in ein Stadium der Animalität zurückgefallen. Vor diesem ideengeschichtlichen Hintergrund wird klar, dass die Wurzeln unseres Bildes vom Neandertaler bedeutend älter sind als die anthropologische und archäologische Forschung. Die im 19. und 20. Jahrhundert entstandene Vorstellung vom Wesen des Neandertalers ist nicht das Ergebnis einer objektiven, wis- Neandertaler – Kulturträger oder Wilder Mann 183 Roots_S. 141-196 184 08.06.2006 8:16 Uhr Seite 184 2 3 senschaftlichen Analyse. Soziales Gedächtnis, gesellschaftliche Ideologie und tiefenpsychologische Faktoren waren weit mächtiger als empirische Analysen der noch jungen Wissenschaft über die Ursprünge des Menschen. Mit der Entdeckung des ersten fossilen Menschen wurde ihm reflexartig das tief im abendländischen Bewusstsein verwurzelte Bild des Wilden Mannes übergestülpt. Zu groß war der Schock, den Darwins Evolutionstheorie drei Jahre nach dem Fund im Neandertal ausgelöst hatte. Als ihr Kronzeuge wurde der Neandertaler nun regelmäßig aufgerufen und legte Zeugnis ab von einer Theorie, die den Menschen von Gott entfernte. Es war daher nur folgerichtig, dass dem Neandertaler dasselbe Schicksal wie den Wilden Männern des Mittelalters zu Teil wurde: abgeschnitten vom göttlichen Wissen sank er in ein Stadium der Animalität zurück. Erschwerend kam hinzu, dass parallel zu diesem wissenschaftlichen Großereignis mit globalen Folgen die ethnographischen Kenntnisse über außereuropäische Kulturen und ihre ideologische Bewertung in die Rezeptionsgeschichte des Neandertalers einflossen. Die außereuropäischen, zeitgenössischen Jäger und Sammlervölker galten seit ihrer Entdeckung durch Europäer als Wilde auf einer niedrigen Stufe der menschlichen Entwicklung. Die australischen Aborigines wurden daher nicht nur mit Neandertalern verglichen, wie dies zum Beispiel Schaaffhausen oder später Boule taten, sondern wurden von einigen Wissenschaftlern sogar als deren direkte Nachfahren angesehen. Sie seien vor langer Zeit durch den modernen Menschen aus Eurasien vertrieben worden und hätten in Australien ein letztes Rückzugsgebiet gefunden. Die allgemeine Diffamierung fremder Kulturen war Teil des europäischen Wertekanons im 19. Jahrhundert, Rechtfertigung der Kolonialpolitik und zugleich Grundlage der Bewertung des Ne- andertalers. Dieser soziokulturelle Hintergrund leitete die ersten anthropologischen und archäologischen Gehversuche einer neuen Wissenschaft, deren Methodik noch nicht definiert war und deren Präzision und Auflösungsvermögen bis zum heutigen Tag hinter der Komplexität der Fragestellungen immer wieder zurück bleibt (Weniger 2006). Die ersten Versuche der Rekonstruktion von Neandertalern folgten daher dem Zeitgeist des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Die wahrscheinlich älteste Darstellung (Weltersbach 2004) entstammt einer Ausgabe der Zeitschrift Harper’s Weekly aus dem Jahre 1873 (Abb. 3). Sie zeigt die typischen Attribute des Wilden Mannes, der sich in kampfbereiter Pose präsentiert. Archäologische Details wie das Steinbeil und der Hund als Haustier sind falsch. Die verschiedenen chronologischen Phasen der Steinzeit mit ihren unterschiedlichen kulturellen Merkmalen konnten zu diesem Zeitpunkt noch nicht getrennt werden. Drei Jahre später wagte Schaaffhausen eine Gesichtsrekonstruktion des Neandertalers (Abb. 4). Es ist der erste bekannte Versuch einer wissenschaftlichen Rekonstruktion (Weltersbach 2004). Als Erstbearbeiter des Fundes aus der Feldhofer Grotte war Schaaffhausen mit dem Fossil bestens vertraut. Er stellte seine Rekonstruktion, die mit Hilfe des Malers Philippart entstand, auf dem Congrès International d’Anthropologie et d’Archéologie Préhistoriques in Budapest der Fachöffentlichkeit vor. Dieser Neandertaler macht einen ausgesprochen freundlichen, wachen und eher zarten Eindruck. Die Überaugenpartie ist schwach ausgeprägt. Die Nase ist ausgesprochen klein. Der Kiefer weist eine deutliche Schnauzenform auf, für die Schaaffhausen wie für den übrigen Gesichtsschädel aber keine fossilen Belege hatte. Das Hervorstehen der Kieferpartie verleiht dem Gesicht bei aller Freundlichkeit einen äffischen Charakter. Als Neandertaler – Kulturträger oder Wilder Mann Abb. 2 Münze mit der Darstellung eines Wilden Mannes: 24 Mariengroschen von 1699. Abb. 3 Die wahrscheinlich älteste Darstellung eines Neandertalers in der Zeitschrift Harper’s Weekly aus dem Jahre 1873. Roots_S. 141-196 08.06.2006 8:16 Uhr Seite 185 4 Abb. 4 Älteste Rekonstruktion des Typusexemplars durch Schaaffhausen (links) von 1876 sowie seine überarbeitete Rekonstruktion (rechts) aus dem Jahr 1888. Abb. 5 Darstellung des Neandertalers von La Chapelle-aux-Saints durch François Kupka in der Illustrated London News von 1909 nach Angaben von Marcellin Boule. 5 Schaaffhausen schließlich eine zusammenfassende Monographie über den Fund aus dem Neandertal vorlegte (Schaaffhausen 1888), lieferte er eine überarbeitete Rekonstruktion des Neandertalers mit (Abb. 4). Der freundliche Gesichtsausdruck ist weiterhin erkennbar. Die Überaugenwülste sind nun aber deutlicher ausgeprägt ebenso wie die Schnauzenbildung. Die Nase hat an Volumen gewonnen und insgesamt wirkt der Kopf massiger und derber. Den bei weitem größten Einfluss auf das Bild des Neandertalers hatten aber die Untersuchungen von Boule (1911) an dem im Vergleich zum Typusexemplar aus dem Neandertal weit vollständigeren Skelett von La Chapelle-aux-Saints. Entdeckt 1908, wurde der Fund in der Folge von Boule umfassend untersucht und monographisch vorgelegt. Für Boule war der Neandertaler eine primitive, nicht vollständig aufrecht gehende, ausgestorbene Menschenform, die nicht in den Stammbau des modernen Menschen gehörte. Ausgelöst durch Boules umfangreiche Untersuchungen wurden auf der Grundlage seiner Forschungsergebnisse zahlreiche wissenschaftliche Rekonstruktionen erstellt. Unter der Anleitung Boules entstand bereits im Jahre 1909, noch vor den Untersuchungen, eine erste Rekonstruktion des Fundes von La Chapelle durch François Kupka (Abb. 5). Boule hatte zwar seine wissenschaftliche Arbeit noch längst nicht abgeschlossen, hatte aber bereits ein fertiges Bild des Neandertalers vor seinem inneren Auge (Weltersbach 2004, 64). Die Darstellung wird als realistische, individuelle Rekonstruktion des Fundes den Lesern der Illustrated London News präsentiert. Der Neandertaler erscheint hier als mordlüsternder Raubaffe vor einer Höhle, ausgestattet mit all den bekannten Merkmalen des Wilden Mannes. Ganz anders wirkt die Rekonstruktion des Mannes von La Chapelle, die nur zwei Jahre später in derselben Zeitschrift veröffentlicht wurde (Abb. 6). Diese Rekonstruktion hatte der britische Anthropologe Arthur Keith wissenschaftlich begleitet und von dem Künstler Amédée Forestier anfertigen lassen (Weltersbach 2004). Keith interpretierte den Neandertaler im Gegensatz zu Boule als Vorfahren des anatomisch modernen Menschen. Folgerichtig wird hier ein Neandertaler präsentiert, der sich vom modernen Menschen kaum unterscheidet und als vollständig humanes Wesen erscheint – ein kräftiger, steinzeitlicher Kulturträger, der in seinem Arbeits- und Lebensumfeld am Feuer sitzend dargestellt wird. Von den typischen Accessoires des Wilden Mannes sind nur die weitgehende Nacktheit und die Höhle als Lebensort übrig geblieben. Wie Weltersbach (2004) zeigen kann, war die Darstellung Keiths eine direkte Antwort auf die animalische Darstellung nach Boule. Allerdings billigte Keith dem Neandertaler wenn überhaupt nur eine geringe Sprachfähigkeit zu, die ihn gegenüber modernen Menschen als unterlegen ausweist. In der bildlichen Darstellung kommt diese wichtige Einschätzung aber nicht zum Ausdruck. Boule ließ mit der monographischen Vorlage des Fundes von La Chapelle im Jahre 1913 eine Büste des Neandertalers anfertigen, die Grundlagen der Gesichtsanatomie dokumentiert und dadurch dem Betrachter einen besonders wissenschaftlichen Anspruch vermittelt (Abb. 7). In ihrem brutalen Ausdruck greift sie aber das bereits 1909 definierte Bild des Neandertalers erneut auf. In den Jahren 1915 und 1919 fertigt James Howard McGregor Kopfrekonstruktionen des Fundes von La Chapelle an, unter der Anleitung von Henry Fairfield Osborne (Abb. 8). Grundlage der Rekonstruktion sind Abgüsse des Schädels. Fehlende Partien ergänzt McGregor durch Abgüsse oder Fotos anderer Neandertalerfunde. Er dokumentiert die verschiedenen Arbeitsschritte bei der zweiten Arbeit sogar fotogra- Neandertaler – Kulturträger oder Wilder Mann 185 Roots_S. 141-196 186 08.06.2006 8:16 Uhr Seite 186 6 7 fisch, um die Grundlagen seiner Vorgehensweise transparent zu machen. McGregors Rekonstruktionen zeigen einen intelligenten und entschlossen wirkenden Neandertaler, der sich deutlich von den Rekonstruktionen Boules abhebt. Osborne, der wissenschaftliche Mentor McGregors, hielt den Neandertaler in vielerlei Hinsicht für brutal und dem modernen Menschen unterlegen. Aber er sah ihn nicht als äffisches Wesen wie Boule, sondern als entwickeltes, intelligentes Wesen (Weltersbach 2004). Weitere Rekonstruktionen verschiedener Wissenschaftler folgen in den 1920er und 1930er Jahren (Eickstedt 1925, Weinert 1929, Mollison 1931). Dabei zeigt sich wie schon bei den ersten Darstellungen, dass die jeweiligen wissenschaftlichen Interpretationen des Neandertalers sein Erscheinungsbild bestimmten, unabhängig vom anatomischen Grundmodell des Skelettmaterials. Die Mehrzahl der Darstellungen wurde zweifellos von den Ausführungen Boules geprägt, der mit seiner Interpretation und heute nachweisbaren Fehleinschätzungen den Grundstein der Neandertalerrezeption im 20. Jahrhundert gelegt hatte und den Mythos des Wilden Mannes ungefiltert auf den Neandertaler übertrug. Neue Ansätze verfolgte in den 1940er Jahren Mikhail Gerasimov, der aufgrund einer reichen Erfahrung in der forensischen Anthropologie den Anspruch vertrat, individuelle Gesichtszüge auf der Basis des Skelettmaterials rekonstruieren zu können (Gerasimov 1968). Unter seinen Arbeiten befindet sich auch eine Rekonstruktion des Mannes von La Chapelle (Abb. 9), die Parallelen zu der Arbeit McGregors erkennen lässt. Das intelligente Erscheinungsbild dieser Neandertaler wird auch durch eine von Carlton Coon betreute Zeichnung unterstützt, die einen Neandertaler im modernen Anzug mit Hut zeigt, um seine morphologische Ähnlichkeit zum modernen Menschen zu demonstrieren (Abb. 10). Neben diesen einzelnen Versuchen, ein humanes Bild der Neandertaler zu rekonstruieren, ist die Mehrzahl der Darstellungen zwischen 1940 und 1980 tief in dem Bouleschen Paradigma verhaftet. Künstler wie Charles Robert Knight (1949), Zdenek Burian (Augusta & Burian 1961) oder Maurice Wilson, die über Jahrzehnte hinweg für Museen und Buchproduktionen viele Darstellungen angefertigt haben, zeigen mit unterschiedlicher Gewichtung Neandertaler regelmäßig als ferne, animalische Wesen. Die Vitalität des uralten, abendländischen Mythos war stärker als alle zaghaften wissenschaftlichen Bemühungen, einen Gegenentwurf durchzusetzen. Die Neandertalerforschung berührt einen überaus sensiblen Bereich unseres Denkens, denn sie reicht hinab an die Wurzel unseres Selbstverständnisses und fragt nach unserem Entwurf des Menschseins. Sie fordert dazu heraus, die kulturelle und die biologische Natur des Menschen immer wieder neu zu gewichten. Dieser Dualismus unseres Menschseins, die damit verbunden Ängste und Abgründe finden ihren populärsten Niederschlag in der Geschichte von Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Kein Thema wurde häufiger verfilmt als gerade diese Erzählung von Robert Louis Stevenson. Der inzwischen klassische Konflikt zwischen den inneren Antagonismen des Menschen beeinflusste auch die Rezeptionsgeschichte des Neandertalers. Zu den vielen feinen Verwicklungen dieser Rezeptionsgeschichte gehört auch, dass ausgerechnet in dem Jahr der Entdeckung des Neandertalers ein anderer, einzigartiger Provokateur unseres Selbstbewusstseins das Licht der Welt erblickte: Sigmund Freud. Der Neandertaler ist der am besten erforschte fossile Mensch und steht uns so nahe wie keine andere Neandertaler – Kulturträger oder Wilder Mann 8 Abb. 6 Darstellung des Neandertalers von La Chapelle-aux-Saints durch Amédée Forestier in der Illustrated London News von 1911 nach Angaben von Arthur Keith. Abb. 7 Büste des Neandertalers von La Chapelle-aux-Saints, erstellt im Jahre 1913 nach Angaben von Marcellin Boule. Abb. 8 Büste des Neandertalers von La Chapelle-aux-Saints, erstellt durch James Howard McGregor nach Angaben von Henry Fairfield Osborne. Roots_S. 141-196 08.06.2006 8:16 Uhr Seite 187 9 Abb. 9 Büste des Neandertalers von La Chapelle-aux-Saints, erstellt durch Mikhail Gerasimov aus dem Jahr 1948. Abb. 10 Zeichnung eines „zivilisierten“ Neandertalers aus dem Jahr 1939 nach Angaben von Carlton Coon. 10 Menschform des Eiszeitalters. Trotzdem ist vielen diese Nähe nicht geheuer. Erst seit den 1990er Jahren wird ein langsamer Wandel in der Rezeption des Neandertalers erkennbar. Eine Flut neuer Untersuchungsergebnisse verkürzt die biologische und kulturelle Distanz zwischen Neandertalern und anatomisch modernen Menschen so sehr, dass Neandertalern ihr Menschsein heute nicht mehr abgesprochen werden kann (Auffermann & Orschiedt 2006). Die Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in Rekonstruktionen und Lebensbilder folgt aber letztendlich einer sehr persönlichen, individuellen Einschätzung des jeweiligen Wissenschaftlers. Wie stark etwa Emotionen bei Gesichtsausdruck und Gestik in der Rekonstruktion zugelassen werden, ist völlig unabhängig von den wissenschaftlichen Hintergrunddaten. So sind lachende Neandertaler wie sie die Brüder Alfons und Adrie Kennis entwickeln, bisher ohne Beispiel (Abb. 11, 12). Die entscheidenden Parameter für die Wahrnehmung eines rekonstruierten Neandertalers durch den Betrachter liegen ohnehin nicht im anatomischen Bereich. Morphologische Details, die Anthropologen bei ihrer Forschung mit größter Aufmerksamkeit bedenken, treten in der Wahrnehmung des menschlichen Gegenübers zurück. Wirklich bedeutsam sind hierbei Gesichtsmimik und die Ausstattung mit kulturellen Accessoires. Frisur, Schmuck und Kleidung sind für uns im Alltag bei der Begegnung mit einem anderen Menschen zunächst wichtiger als anatomische Details. Auf der Grundlage desselben wissenschaftlichen Befundes und derselben Rekonstruktionstechnik kann das Ergebnis für den Betrachter durch Körperhaltung, Mimik und die kulturellen Accessoires daher sehr unterschiedlich ausfallen. Rekonstruktionen im Neandertal Museum und im Naturhistorischen Museum Wien, die von derselben Künstlerin auf der Basis desselben anatomischen Befundes von La Ferrassie hergestellt wurden, vermitteln aufgrund des sie umgebenden kulturellen Kontextes sehr unterschiedliche Vorstellungen vom Wesen und Verhalten der Neandertaler. Die größte Herausforderung bei der wissenschaftlichen Beurteilung des Neandertalers bleibt bis heute die Auseinandersetzung mit den eigenen Vorurteilen. Der Wissenschaftler, der die Quellen des Eiszeitalters interpretiert, ist kein objektiver Beobachter. Er ist Teilhaber seiner eigenen Geschichte und damit zugleich der Versuchung ausgesetzt, sich selbst in den Daten wieder erkennen zu wollen. The Neanderthal – Culture Bearer or Savage Man? A Brief Review on 150 Years of Perception History From the Gilgamesh epic on, the motive of the Savage Man has run through the complete occidental history. It reached an extraordinary diversity and popularity in medieval literature where savageness meant the loss of humanity. Typical features of Savage Men and Women are the lack of the faculty of speech, extremely hairy bodies being depicted either nakedly or in fur dresses, clubs or tree trunks in their hands and caves as their alleged habitations. Medieval sources claim their distance to and rejection of God to be the reasons of their barbarity. The roots of our image of the Neanderthal are eminently older than anthropological and archaeological research. General defamation of foreign cultures was part of the European values in the 19th century. It served as justification for colonial politics and as basic principle The Neanderthal – Culture Bearer or Savage Man? A Brief Review on 150 Years of Perception History 187 Roots_S. 141-196 08.06.2006 8:16 Uhr Seite 188 11 for appraising the Neanderthal. Recent hunter-gatherer civilisations were looked upon as savages on a low step of human evolution. The first tries to reconstruct Neanderthals followed the spirit of the age. Boule´s research on the skeleton of La-Chapelle-aux-Saints in 1911 had by far the greatest influence on the image of the Neanderthals. To Boule, they were a primitive kind of humans who did not play a role in the genealogy of modern man. He supervised the reconstruction of the La Chapelle Neanderthal in 1908, i. e. even before he had started his examinations. Other reconstructions of different scientists followed in the 1920´s and 1930´s. It is obvious that the particular scientific interpretation of the Neanderthal determined his appearance. Most depictions between 1940 and 1980 were highly affected by Boule´s paradigm, except for single attempts to reconstruct a human, intelligent and developed image of Neanderthals (e.g. by Gerasimov, Coon). Only since the 1990´s, there is a noticeable change in the perception due to a lot of new research results showing that the humanity of Neanderthals cannot be denied anymore. The transformation of scientific facts into reconstruction is based on a very personal and individual estimation made by any particular scientist, who always has to confront him-/herself with his/her own prejudices. Schriften Auffermann, B. & J. Orschiedt (2006): Die Neanderthaler. — Stuttgart: Theiss. Augusta, J. & Z. Burian (1961): Menschen der Vorzeit.– Zug: Bertelsmann. 188 Neandertaler – Kulturträger oder Wilder Mann 12 Boule, M. (1911): L’Homme fossile de La Chapelle-auxSaints. — Paris. Bernheimer, R. (1952): Wild men in the Middle Ages. A study in art, sentiment and demonology. — Cambridge (Harvard Univ. Press). Eickstedt, E. v. (1925): Eine Ergänzung der Weichteile auf Schädel- und Oberkörperskelett eines Neanderthalers. — Zeitschr. Anat. Entw.-gesch., 77: 363–380. Gerasimov, M. M. (1968): Ich suchte Gesichter. Schädel erhalten ihr Antlitz zurück – Wissenschaft auf neuen Wegen. — Gütersloh (Bertelsmann). Goethe, J. W. von (1832): Faust. Eine Tragödie von Goethe. Zweyter Theil in fünf Akten (Vollendet im Sommer 1831). — Stuttgart und Tübingen: J. G. Cotta'sche Buchhandlung. Knight, C. R. (1949): Prehistoric man. — New York. Mollison, T. (1931): Eine neue Rekonstruktion des Homo primigenius. — Anthropolo. Anz., VII: 285–288. Schaaffhausen, H. (1888): Der Neanderthaler Fund. — Bonn (Marcus). Weinert, H. (1929): Skelettrekonstruktion eines Neanderthaler-Menschen. — Medizin. Welt, 22: 803– 804. Weltersbach, K. (2004): Homo neanderthalensis und Urmensch: Rekonstruktionen und Lebensbilder. — Diplomarbeit Universität Zürich. Weniger, G.-C. (2006): Neanderthals and early Moderns – human contacts on the borderline of archaeological visibility. — S. 21–32 in: Conard, N. J. (Hrsg.): When Neanderthals and Modern Humans met. — Tübingen (Kernverlag). Wilckens, L. v. (1994): Das Mittelalter und die „Wilden Leute“. — Münch. Jb. Bild. Kunst, 45: 65–82. Abb. 11 Rekonstruktionen der Funde von Teshik Tash, Monte Circeo, Saccopastore, La Chapelle-aux-Saints (von links nach rechts) als lachende Neandertaler durch Adrie und Alfons Kennis aus dem Jahr 2000. Abb. 12 Rekonstruktion des Neandertalers aus der Feldhofer Grotte, für das Neanderthal Museum angefertigt von Adrie und Alfons Kennis 2006.