Lovely Planet Titelthema Saubere Ozeane Physician Assistant

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Lovely Planet Titelthema Saubere Ozeane Physician Assistant
Magazin für
Angewandte
Wissenschaften
3/2014
Lovely Planet Titelthema
Und nun zum Wetter: Wenn Forscher
versuchen, auf das Klima einzuwirken
Saubere Ozeane
Der gemeinsame Kampf gegen
Plastikmüll in den Weltmeeren
Physician Assistant
Der „kleine Arzt“: Ein neuer Beruf kann
das Gesundheitssystem entlasten
Fachbereich Wirtschaft & Medien
Fachbereich Gesundheit & Soziales
Business School, Media School,
Psychology School, International Business
School, Business Academy Fresenius
Axel Springer, BBDO Proximity,
Constantin Entertainment, ifp – Institut
für Personal- und Unternehmensberatung,
PricewaterhouseCoopers, Vodafone
Medical School
FREI AG, Universitätsklinikum Frankfurt, Universitätsklinikum Köln, Krankenhaus
Nordwest (FFM), Kliniken
der Stadt Köln gGmbH
Grafik Hochschule Fresenius
„Wir zeigen
talentierten jungen
Menschen spannende
berufliche Einstiegs- und
Karriereperspektiven.“
Leyla Samadi, Projektleiterin für
Employer Branding und Personalmarketing
der Peek & Cloppenburg KG, Düsseldorf
Fachbereich Chemie & Biologie
Fachbereich Design
School of Chemistry,
Biology & Pharmacy
AMD School of Design,
AMD School of Fashion
Analytik Jena AG, Biogrund GmbH,
Chemische Fabrik Kreussler & Co.
GmbH, DiaSys Diagnostic Systems
GmbH, PROCESS.ING Technology,
SGS INSTITUT FRESENIUS GmbH,
Spectro Analytical Instruments
AMD Akademie Mode & Design,
Karstadt, Marc O’Polo, New Yorker,
Peek & Cloppenburg, Roeckl Handschuhe & Accessoires, TOM TAILOR
1848 › Magazin für Angewandte Wissenschaften
Die Welt von
übermorgen ...
... ist ein überaus gesellschaftsrelevantes und wichtiges Thema.
Wie entwickeln sich Denkweisen in einer sich ständig verändernden und komplexer werdenden Wirklichkeit? Wie setzt man
kreative Visionen und Erfindungen um, angesichts der knapper werdenden Ressourcen? In der aktuellen Ausgabe unseres
Magazins 1848 widmen wir uns deshalb dem „Übermorgen“ –
einer Zukunft also, die auf Innovationen in der Forschung und
in dem Bewusstsein des Menschen für seine Lebenswelt setzt.
Wir begeistern uns für Ideen, die einmal helfen können, diesen
Planeten zu einem besseren Ort zu machen.
In unserer Titelgeschichte über den Klimawandel (S. 6) skizzieren wir, dass schon in 90
Jahren viele Teile der Erde unter Wasser stehen könnten, sollte sich der CO2 -Ausstoß nicht
verringern. Doch es gibt Hoffnung – und die setzen Forscher gerade in einen der Hauptverursacher des Treibhauseffekts: den Menschen. Gleiches gilt für die gigantischen in den
Ozeanen schwimmenden Plastikmüllteppiche. Untersuchungen wie die von Professor
Thomas Knepper, Dekan des Fachbereichs Chemie & Biologie an der Hochschule Fresenius, und dem Studierenden Sascha Klein tragen dazu bei, ein allgemeines Bewusstsein für
diese Problematik zu entwickeln: Die Forscher haben sich mit sogenannten Microplastics
in Flüssen beschäftigt und dort erstaunliche Entdeckungen gemacht (S. 12).
An der HHL Leipzig Graduate School widmet man sich schon lange dem Thema Leadership und den Anforderungen an Führungskräfte von morgen. In einem Doppelinterview
spricht der erfolgreiche Unternehmer und ehemalige Präsident des Stifterverbandes sowie Förderer der HHL Dr. Arend Oetker mit einer Studierenden darüber, was es heute
bedeutet, ein guter „Leader“ zu sein (S. 14).
An der Hochschule Fresenius werden moderne Lehr- und Lernformen eingesetzt,
die vor allem durch viele Praxisbezüge und die Lebendigkeit des Unterrichts geprägt
sind. In den vergangenen beiden Ausgaben unseres Magazins 1848 konnten unsere Leser unter der Rubrik Kopfkino-Regisseure einen konkreten Eindruck davon gewinnen.
Nur durch eine interessant gestaltete Lehre begeistert man die junge Generation. Umso
mehr freut es uns daher, dass gerade erst Professor Thorsten Daubenfeld vom Fachbereich Chemie & Biologie der Hochschule Fresenius mit dem Ars legendi-Fakultätenpreis
für exzellente Hochschullehre ausgezeichnet wurde. Seine innovativ konzipierten und
didaktisch hochreflektierten Lehrveranstaltungen sind ganz individuell auf die Studierenden zugeschnitten. Insbesondere für seine „virtuelle Praktikumsvorbereitung“ wurde
Daubenfeld hoch gelobt. Einen herzlichen Glückwunsch von uns an dieser Stelle!
Viel Spaß beim Lesen wünscht Ihnen Marcus Pradel
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Editorial, Impressum,
Inhaltsverzeichnis
Der „kleine Arzt“:
Das Ass im Ärmel
Titelthema:
Lovely Planet
Plastikmüll:
Die stille Macht im Meer
Gespräch Führung:
Dr. Arend Oetker
Berufswelt:
Hier entlang, bitte!
Industrie 4.0: Eine
intelligente Kette
Interview Smart Grids:
Prof. Jens Strüker
Mode:
Einen Schnitt voraus
Karriere:
Von einem, der auszog ...
Zahlen & Fakten:
Gut zu wissen
› Impressum
Herausgeber: Botho von Portatius, Präsident der Hochschule Fresenius Idstein/Hessen Verantwortlich für den Inhalt: Prof. Dr. Marcus Pradel, Vizepräsident der Hochschule Fresenius für Hochschulentwicklung und Hochschulmarketing (V. i. S. d. P.) Projektleitung Hochschule Fresenius: Alexander Malek,
Melanie Behrendt, Melanie Hahn Verlag: TEMPUS CORPORATE GmbH - Ein Unternehmen des ZEIT Verlags, Büro Berlin: Askanischer Platz 3, 10963 Berlin /
Büro Hamburg: Pressehaus, Buceriusstraße, Eingang Speersort 1, 20095 Hamburg Geschäftsführung: Ulrike Teschke, Manuel J. Hartung Projektleitung:
Dr. Regine Brandtner Redaktionsleitung: Andin Tegen Textchefin: Bettina Schneuer Autoren: Jochen Brenner, Andin Tegen Artdirektion: Alex Ketzer
Bildredaktion: Maja Metz Korrektorat: Carolin Mader Druck: Mohn media Mohndruck GmbH, Carl-Bertelsmann-Straße 161M, 33311 Gütersloh Herstellung:
Dirk Schmoll Druckauflage dieser Ausgabe: 228.000 Liegt bei in: DIE ZEIT (Teilauflage) Kontakt: Hochschule Fresenius, gem. GmbH, Limburger Straße 2,
65510 Idstein, 1848@hs-fresenius.de Titelbild: plainpicture / Lubitz + Dorner
›3
Gesundheit
Das
Ass im
Ärmel
Sie legen Venen frei, stellen Verdachtsdiagnosen oder erklären Patienten Krankheitsbilder:
Physician Assistants könnten mit ihrer Kompetenz den Klinikalltag erheblich erleichtern.
Nun wächst die Hoffnung, dass dieser Beruf auch in Deutschland anerkannt wird.
Text Andin Tegen · Foto CandyBox Images / Fotolia.com
W
enn Professor Jens Kordelle um 6 Uhr
morgens in die Klinik kommt, weiß er
meistens, dass er die nächsten 13 Stunden
durcharbeiten wird. Nachdem der Chefarzt die Patienten begutachtet und entschieden hat, welche Behandlung sie bekommen sollen, beantwortet er EMail-Anfragen. Danach stehen bis zu vier Operationen an.
Mittagspause? Keine Zeit. Gegen 16 Uhr tauscht er wieder
Grün gegen Weiß, seine OP-Kleidung gegen einen Arztkittel, und bespricht das Nachsorgeprogramm. Später untersucht er neue Patienten, hält Vorträge oder erledigt bürokratische Aufgaben. Um 19 Uhr macht er Feierabend. Doch
damit ist seine Arbeit noch lange nicht beendet: Zu Hause
schreibt er oft noch stundenlang an wissenschaftlichen
Publikationen, bereitet Vorlesung und Vorträge vor. Kordelle ist Chefarzt im AGAPLESION Evangelisches
Krankenhaus Mittelhessen und Dozent im Fachbereich Gesundheit an der Hochschule Fresenius. Bei ihm und seinen
Arztkollegen sammeln sich monatlich bis zu 20 Überstunden
an, die Arbeit zu Hause nicht mit eingerechnet. In Zukunft
›4
könnten es für ihn – und die meisten Ärzte in Deutschland – noch viel mehr werden. Bis zum Jahr 2030 werden
dem Gesundheitssystem laut einer Studie der BertelsmannStiftung von 2013 rund 500.000 Pflegekräfte fehlen. Immer
mehr chronische Alterskrankheiten werden aufgrund des
demografischen Wandels behandelt werden müssen: Sechs
Millionen Menschen leiden in Deutschland schon heute
an Diabetes, fast ein Viertel aller 80- bis 90-Jährigen sind
dement. Auch Osteoporose, Arthrose oder Venenleiden gehören zu den behandlungsintensiven Krankheiten, die weit
mehr Personal erfordern, als zur Verfügung steht.
Für das deutsche Gesundheitssystem könnte es jedoch
bald einen Hoffnungsschimmer geben: den sogenannten
Physician Assistant, kurz PA. Dabei handelt es sich um einen Arztassistenten, der delegierte ärztliche Leistungen
übernimmt. Er kann vorbereitend Arztbriefe schreiben,
Befunde zusammensuchen, einen Teil der Kommunikation mit den Patienten erledigen. In der Herzchirurgie
kann der PA etwa eine Vene des Patienten freilegen, so
dass der Chirurg nur noch den Bypass legen muss. Bei
1848 › Magazin für Angewandte Wissenschaften
jeder Tätigkeit steht er unter der Verantwortung eines approbierten Arztes. „Da es keine strukturierte Ausbildung
zum PA gab, haben die Kliniken durch Weiterqualifizierung von eigenem Personal versucht, verschiedene Assistenzfunktionen selbst abzudecken“, sagt der Dekan des
Fachbereichs Gesundheit und Vizepräsident der Hochschule Fresenius, Professor Achim Jockwig. „Sie werden
dort eingesetzt, wo sie am meisten gebraucht werden.“
Doch gerade weil Arztassistenten so vielseitig einsetzbar sind, herrscht oft Verwirrung über ihre konkreten
Aufgabenbereiche. Sie werden in vielen Krankenhäusern
bereits unter anderen Namen eingesetzt, etwa als Chirurgisch-Technische Assistenten (CTA) oder ChirurgischOperative Assistenten (COA). Letztere können im OP zum
Beispiel desinfizieren, Patienten abdecken, Haken halten
oder Wunden zunähen. Bisher sind die fachlichen Voraussetzungen für die Ausbildung eines Arztassistenten, zu
denen ja auch der PA zählt, noch nicht einheitlich geregelt.
„Durch eine praxisorientierte
akademische Ausbildung kann
man die hohen Anforderungen
an diesen Beruf sicherstellen
und junge Leute begeistern.“
Die mangelnde Struktur und die fehlenden Rahmenbedingungen der verschiedenen Weiterqualifizierungen
sorgen für Verunsicherung bei Krankenhausmitarbeitern, das bestätigt auch der Berufsverband der Deutschen
Chirurgen (BDC). „Wir wollen und müssen das riesige
Potenzial des Physician Assistant deutlich machen“, bekräftigt Jockwig. „Durch eine praxisorientierte akademische Ausbildung kann man die hohen Anforderungen an
diesen Beruf sicherstellen und junge Leute begeistern.“ In
anderen Ländern gäbe es schon seit Jahrzehnten zahlreiche positive Beispiele für den Einsatz dieser Fachkräfte.
Mit dem Bachelor-Abschluss zum Physician Assistant an
der Hochschule Fresenius haben Studierende nun beste
Berufsaussichten auch über die Landesgrenzen hinaus.
Der sogenannte „kleine Arzt“ soll einen Anreiz liefern, der
sich vom klassischen Medizinstudium unterscheidet: An
der Hochschule Fresenius dauert das Studium zum Physician Assistant acht Semester, das Medizinstudium an einer Universität dagegen durchschnittlich 13. Unterrichtet
werden die naturwissenschaftlichen Grundlagen und die
Medizin-Fächer. Doch anders als an der Universität ist der
Numerus clausus bei der Aufnahmeprüfung nicht entscheidend. „Wir wollen wissen, ob sich jemand wirklich für die
Arbeit mit Patienten berufen fühlt“, sagt Jockwig und weist
darauf hin, dass beim Auswahlverfahren auch Psychologen
beurteilen sollen, welche Kandidaten sich eigneten.
Der Beruf hat eine lange Tradition: Schon als sich Mitte
der Sechziger in den USA ein Mangel an Allgemeinärzten
in ländlichen Regionen abzeichnete, konnte man auf die
zahlreichen gut ausgebildeten Sanitäter der US-Streitkräfte zurückgreifen, die aus dem Vietnamkrieg zurückgekommen waren. Ohne die staatlich anerkannten PAs stünde
das amerikanische Gesundheitssystem heute vermutlich › Sorge um den deutvor massiven Versorgungsproblemen. Einige von ihnen be- schen Patienten
treiben Praxen in abgeschiedenen Gebieten, die manchmal Schon heute wird
etwa die Hälfte
mehrere Autostunden entfernt von der nächsten Klinik lie- aller Ausgaben in
gen. Sie stehen dabei unter der Supervision eines Arztes, der Gesundheitsversorgung von
den sie bei Fragen anrufen können. Das Ausmaß der be- Menschen über 65
ruflichen Autonomie des PAs wird vom verantwortlichen Jahren in Anspruch
Laut
Supervisor festgelegt und kann beträchtlich variieren. Im genommen.
einer aktuellen
Vergleich zu seinem Namensvetter in den Vereinigten Staa- Studie des Deutschen Instituts für
ten steht der PA in Deutschland noch ganz am Anfang.
Gesundheitsfor Was steht einer staatlichen Zulassung des PA also noch schung machen die
im Wege? „Unter anderem geht es bei der Diskussion um über 65-Jährigen
einem Anteil von
die rechtliche Einordnung“, erklärt Jockwig. „Die Delegati- gut 20 Prozent an
on ärztlicher Leistungen an nichtärztliches Personal durch der Gesamtbevölden Facharzt ist rechtlich zulässig – der Arzt übernimmt kerung aus. Für
die am schnellsten
entsprechend dafür die Verantwortung.“ Das Dilemma, das anwachsende Bevölsich daraus ergibt, lässt sich ihm zufolge leicht veranschau- kerungsgruppe, die
über 85-Jährigen,
lichen: Auf der einen Seite schränkt es das eigenständige sind es heute beHandeln des PAs ein und er muss Rücksprache mit dem reits über 10 ProArzt halten, auf der anderen Seite trägt der Arzt die End- zent der gesamten
Krankheitskosten.
verantwortung für fehlerhafte Diagnosen oder Handlungen 37,4 Prozent aller
Beschäftigten sind
des Arztassistenten.
heute im Pflegebe Das Problem der Haftbarkeit haben auch andere Län- reich tätig, 12,4
der erkannt. In Schweden etwa arbeiten PAs daher in grö- Prozent arbeiten
ärztlicher
ßeren Teams zusammen. „Dort stellen immer mehrere in
Tätigkeit und 7,2
PAs eine Diagnose, das funktioniert – sie machen durch- in therapeutischen
schnittlich nicht mehr Fehler als Ärzte.“ Die Hochschu- Berufen.
le Fresenius wolle mit dem PA nicht den Arzt ersetzen,
sondern eine dringend notwendige kooperative Aufgabenteilung erreichen. Auch Professor Kordelle vertraut
den Leistungen des PA: „Es gibt genügend Tätigkeiten,
die nicht unmittelbar von den Ärzten überwacht werden
müssen und mit deren Verrichtung PAs den Klinikalltag
erheblich erleichtern würden“, sagt der Orthopäde. Er
weiß um die Dringlichkeit, den Beruf so schnell wie möglich staatlich anerkennen zu lassen, schließlich erlebt er
den Personalmangel jeden Tag aufs Neue.
In Jockwigs Augen sollte die Debatte um das Thema
nicht endlos fortgeführt werden, denn in der Berufspraxis
werden schon jetzt viele Fachkräfte benötigt. „Der PA leistet einen großen Beitrag zur Fachkräftesicherung“, sagt der
Professor, „und das ist wichtig, damit die Gesundheitsversorgung nicht vollkommen aus dem Ruder läuft.“ |
Physician Assistant (B.Sc.)
Mit dem praxisorientierten Studienkonzept des Physician
Assistant (B.Sc.) bietet die Hochschule Fresenius in Frankfurt am Main eine neue Berufsperspektive im medizinischen
Bereich. Der Bachelor-Studiengang beginnt erstmals im
Wintersemester 2014/2015 und orientiert sich an den Inhalten
des klassischen Medizinstudiums.
›5
Titelthema
› Wird der Klimwandel bedrohlich oder nicht?
›6
1848 › Magazin für Angewandte Wissenschaften
Ein
schmaler
Grat
Naturgewalt Mensch: Er ist verantwortlich für globale
Bedrohungen wie saure Ozeane, eisfreie Polkappen, massive
Hitzewellen – und zugleich die einzige Macht, die solche Szenarien verhindern kann. Während wir Menschen unser
Verhalten von jetzt an ändern müssten, versuchen Geo-Ingenieure
schon seit Längerem, das Klima künstlich zu beeinflussen.
Text Andin Tegen · Fotos Seite 6-7 plainpicture / Mia Takahara, privat (1)
Grafik Artur Bodenstein (Idee), Hochschule Fresenius (Umsetzung)
S
Seite 8-9
echs Meter unter der Wasseroberfläche im
Indischen Ozean, zwischen Algen und Zebrafischen, die im Sonnenlicht schillern, sitzen 14 Politiker an einem Konferenztisch.
Sie tragen Taucheranzüge, Tisch und Stühle
sind im Meeresboden verankert. An diesem Tag, es ist
der 17. Oktober 2009, unterzeichnen die Kabinettsmitglieder der maledivischen Regierung ein wasserfestes
Dokument, vielleicht das wichtigste in der Geschichte
ihres Inselstaats. Darin rufen sie die internationale Gemeinschaft auf, in deren Mitgliedstaaten den Kohlendioxidausstoß ein für alle Mal drastisch zu senken. Wenn
das nicht geschehe, werde ihre Heimat noch vor Ende
des Jahrhunderts vom Ozean überschwemmt sein; auch
die Flutmauern um ihre Hauptstadt könnten dann nichts
mehr ausrichten. Das Ende eines Paradieses.
Etwa 8000 Kilometer Luftlinie von diesem Paradies
entfernt, in einem grauen Funktionsbau nahe dem Campus der Stadt Hamburg, sitzen einige der Wissenschaft-
Stefan Körber / Fotolia.com, privat (2)
lerinnen und Wissenschaftler, die möglicherweise dazu
beitragen können, den weltweiten CO 2 -Ausstoß in Zukunft einzudämmen. Die Mitarbeiter des Max-PlanckInstitutes für Meteorologie (MPI-M) haben mithilfe aufwendiger Klimamodelle untersucht, wie unsere Umwelt
in Zukunft aussehen könnte – auch wenn sich der Planet
sogar auf mehr als zwei Grad über jenes Durchschnittsniveau, das vor der Industrialisierung herrschte, erhitzen
sollte. Auf dieses sogenannte Zwei-Grad-Ziel hatte sich
die Staatengemeinschaft auf dem Klimagipfel geeinigt,
um dem Treibhauseffekt entgegenzuwirken. Die Ergebnisse der MPI-M-Forscher sind in den aktuellen Bericht
des Weltklimarats geflossen, den IPCC-Report, an dem
rund 260 Wissenschaftler aus aller Welt mitgearbeitet
haben. Er gilt als Grundlage für die Uno-Klimaverhandlungen, und aus ihm geht Alarmierendes hervor:
In Zukunft werden sich die Ozeane erwärmen, Eisschilde an Masse verlieren, viele Gletscher, die auch als
Trinkwasserressourcen dienen, komplett verschwinden, ›
›Jochem Marotzke
Der 44-jährige Professor für
Ozeanografie und
Direktor am MaxPlanck-Institut
für Meteorologie in
Hamburg war zusammen mit 259 Autoren
aus aller Welt an
der Erstellung des
IPCC-Weltklima- berichts beteiligt.
›7
Titelthema
›Klimamodelle
der Zukunft Nicht unerheblich
haben die Forscher
vom Max-Planck- Institut für Meteorologie (MPI-M) zum
Weltklimabericht
beigetragen. Die
Hamburger erstellten detaillierte
Klimamodelle für
ihre Simulationen:
„Der Computer hat
für drei verschiedene Szenarien
jeweils die Zeit
von 1850 bis 2100
berechnet“, sagt
Jochem Marotzke,
Direktor am MPI-M.
Der 54-jährige
Physiker wurde
gemeinsam mit vier
weiteren Kollegen
mit der Aufgabe
betraut, am aktuellen IPCC-Bericht
mitzuwirken. Es sind
keine definitiven
Feststellungen, die
die Modelle erstellen, doch sie geben
eine Ahnung davon,
wie es um die Welt
von morgen stehen
könnte.
›Handeln für das
Übermorgen
Der Wissenschaftler Paul Crutzen
wies nach, wie
die in Spraydosen verwendeten
Treibgase FCKW die
Ozonschicht in 40
Kilometern Höhe
zerstören. Der
heute 80-Jährige
warnt immer wieder
vor dem menschengemachten Treibhauseffekt: „Um
die Menge CO2 in der
Atmosphäre auf dem
heutigen Niveau
zu stabilisieren,
müsste man den
Ausstoß um 50 bis 70
Prozent reduzieren.
Statt das Notwendige zu tun, stoßen
wir aber immer mehr
Kohlendioxid in die
Atmosphäre aus.“
›8
die Arktis könnte in den Sommermonaten – sogar noch
vor Ende des Jahrhunderts – vollständig eisfrei sein. Der
Anstieg der Meere könnte Jahrhunderte weitergehen, bis
2100 um bis zu 82 Zentimeter prognostizieren die Forscher
in einem der errechneten Szenarien. Bei dem bedrohlichsten, das von ungebremsten Emissionen ausgeht, sind den
Forschern zufolge Temperaturanstiege von 5,4 Grad gegen
Ende dieses Jahrhunderts möglich. Verantwortlich dafür
ist vor allem die Freisetzung von Gasen wie Kohlendioxid,
dessen Konzentration heute so hoch ist wie nie zuvor in den
letzten 800.000 Jahren. Das ist kein Phänomen der letzten
Jahrzehnte, sondern ein Produkt der Industrialisierung
vor über 200 Jahren – seitdem Fabrikschlote pausenlos
Kohlendioxid in die Atmosphäre blasen, jenes Gas, das
sich noch über Jahrtausende in der Luft hält. Die Auswertungen des Klimaberichts belegen vor allem eins: dass der
Mensch Hauptverursacher des Klimawandels ist. Doch sie
machen auch Hoffnung. Denn es ist den Forschern zufolge
noch lange nicht zu spät, etwas dagegen zu tun.
Geo-Engineering als Wunderwaffe
gegen den Klimawandel?
Noch gibt es kein Allzweckmittel gegen den Klimawandel. Es hängt vom Menschen ab, wie viel oder wie
wenig er sich mit der Verschmutzung seiner Umwelt auseinandersetzt und dazu beiträgt, nachhaltiger mit den
Ressourcen umzugehen. Dass der Mensch also sein Verhalten ändern muss, ist eine Sache. Die andere ist, die
Symptome direkt zu bekämpfen: Mit dem sogenannten
Geo-Engineering oder Climate Engineering werden groß
angelegte manipulative und gezielte Eingriffe in das Klimasystem mit technischen Maßnahmen umgesetzt. Es
ist ein höchst umstrittenes Forschungsfeld, doch viele
Wissenschaftler halten es für wichtig, sich auch mit den
Möglichkeiten auseinanderzusetzen, die eine schnellere
Umsetzung der Klimaziele bewirken – oder helfen, größere Umweltkatastrophen zu vermeiden. All das ist nicht
nur bloße Theorie: Im Kleinen versucht man bereits seit
Jahren, das Wetter zu beeinflussen.
Zum Beispiel im Schwarzwald. Dort erinnert man sich
noch genau an den Juni 2006. Damals prasselten golfballgroße Hagelkörner auf Felder, Dächer und Kraftfahrzeuge
nieder, in der Region entstand ein Schaden von mehreren
Millionen Euro. Nun starten von hier aus Hagelabwehrflugzeuge, sobald der Himmel sich bedrohlich verdunkelt.
Sie kreisen im Aufwind, um mittels Patronen, die an der
Unterseite der Flieger befestigt sind, eine SilberjodidLösung in den Hagelwolken zu verteilen. Diese Lösung
soll die Eisklumpen so verkleinern, dass sie beim Aufschlag kaum noch Schäden anrichten können. Bei diesen
verhältnismäßig kleinen menschlichen Eingriffen in das
Wettergeschehen sind sich Forscher bis heute nicht einig,
ob sie von Nutzen sind. Einige würden sie nicht einmal
als Climate Engineering bezeichnen, für sie begänne eine
Klimamanipulation, wenn plötzlich jeder Landkreis Hagelabwehrflugzeuge einsetzen würde. Das würde möglicherweise eine Kettenreaktion im biologischen Gleichgewicht auslösen, die niemand abschätzen kann.
Anders sieht es aus, wenn mit großem Kaliber versucht wird, ins Klima einzugreifen. So wie etwa vor
zwei Jahren, als der amerikanische Unternehmer Russ
George 500 Kilometer vor der Westküste Kanadas 100
Tonnen Eisensulfat im Meer versenkte – eine Ozeandüngung, die heute verboten ist. Die Partikel sollten die
Vermehrung von Algen steigern, die an der Wasseroberfläche große Mengen an Kohlendioxid binden. Sterben
die Organismen ab, nehmen sie das CO2 mit sich auf den
Meeresboden, wo es für lange Zeit gespeichert bleibt.
Auf Satellitenbildern konnte man zwar sehen, dass seine
Aktion zu einer rund 10.000 Quadratkilometer großen,
künstlichen Algenblüte geführt hatte. Beweisen lassen
sich die Effekte solcher Experimente dennoch nicht. Es
ist nicht klar, welche Wirkung das Eisen auf das Phytoplankton hatte und ob dadurch CO2 permanent aus der
Atmosphäre geholt wird.
Dieser Meinung ist auch der Kieler Wissenschaftler
Andreas Oschlies. Der 47-Jährige ist Professor für Biogeochemische Modellierung am GEOMAR HelmholtzZentrum für Ozeanforschung Kiel. Zusammen mit einem
interdisziplinären Team von Wissenschaftlern untersucht er die erheblichen Unsicherheiten, die mit den Ideen des Climate Engineering einhergehen. Anhand von
Erdsystemmodellen auf dem Computer simulieren sie,
welche Wirkungen und Nebenwirkungen verschiedene
Verfahren haben könnten.
Ozeandüngung zur Bindung von CO2,
Staub gegen die Erderwärmung
„Das ist im Gegensatz zu Experimenten in der Natur
zwar völlig ungefährlich, dafür sind die Antworten aber
auch nur so gut oder schlecht wie die Modelle“, erklärt der
Biogeochemiker. Die Forscher erproben virtuell, welchen
Effekt die Aufforstung von Wüsten mit Wäldern hätte,
was Ozeandüngung oder die Einbringung von Aerosolen in die Stratosphäre bewirken würde. Sie fanden etwa
heraus, was bei dem Versuch passieren könnte, mit Flugzeugen Staub in die Atmosphäre zu bringen: „Am Beispiel
von Vulkanausbrüchen sah man bereits, dass sich die
Staubschichten in hohen Himmelsregionen lange hielten
und die Temperaturen sanken“, erklärt Oschlies. „Der
Nebeneffekt bei der künstlichen Erzeugung von so einem
Staub wäre aber, dass Niederschlagsgebiete sich plötzlich
anders und unerwünscht verteilen würden und es nicht
überall gleichmäßig abkühlt.“
Das wiederum hätte unter Umständen katastrophale Auswirkungen auf den Monsun. CO2 bliebe bei die-
1848 › Magazin für Angewandte Wissenschaften
›Paul J. Crutzen
Der niederländische
Meteorologe erhielt
1995 zusammen
mit zwei weiteren
Wissenschaftlern
den Nobelpreis
für Chemie. Die
Forscher hatten
nachgewiesen, wie
empfindlich die
Ozonschicht auf
bestimmte durch die
Menschheit verursachte Emissionen
reagiert.
› Eine heile Welt - Wunschbild jeder Generation
ser Methode weiterhin in der Luft, viele Jahrtausende
lang. Und so lange müssten auch Maschinen Staub in
den Himmel befördern. Oschlies spricht sehr sachlich
davon, wie man überlegt, das Klima zu beeinflussen, er
gerät nicht ins Schwärmen. „Forscher wollen dabei nicht
Gott spielen“, sagt er, „auch wenn ihnen das in der Debatte oft vorgeworfen wird.“ Doch angesichts der Unvorhersehbarkeit vieler Maßnahmen verstehe er die Angst
vor den künstlichen Eingriffen ins Klima durchaus – sie
könnten Kettenreaktionen auslösen, deren Folgen heute
niemand abschätzen kann.
Forscher erkannte anthropogenen
Treibhauseffekt schon vor Jahren
Auch der Meteorologe Paul Crutzen sieht das GeoEngineering als letzte Möglichkeit im Kampf gegen den
Klimawandel. Dass der Mensch Hauptverursacher der
Klimaveränderungen ist, hatte der Niederländer bereits
vor elf Jahren erkannt. Crutzen hatte herausgefunden,
dass der Mensch schon seit der industriellen Revolution ›A ndreas Oschlies
zur größten Naturgewalt geworden ist, und dieses Zeit- Der 47-Jährige
alter „Anthropozän“ getauft. 1995 wurden ihm und zwei ist Professor für
Marine Biogeocheseiner Kollegen der Nobelpreis für die Erforschung des mische ModellieOzonabbaus verliehen. Der Pionier hatte schon 2006 rung am GEOMAR
Helmholtz-Zentrum
vorgeschlagen, Schwefel oder Schwefelwasserstoff in die für Ozeanforschung
Atmosphäre zu bringen, damit die Teilchen die Sonnen- in Kiel. Dort kostrahlen reflektieren und den Treibhauseffekt bremsen. ordiniert er unter
anderem das neue
Für diesen Vorschlag sei er „heftig von Kollegen ange- DFG-Schwerpunktgriffen worden“, sagte der Forscher damals. Doch er war programm „Climate
Engineering: Risks,
von Anfang an der Ansicht, dass zuerst der CO2 -Ausstoß Challenges, Opporgesenkt werden muss und das Climate Engineering nur tunities?“.
eine Notlösung ist. Ein Beispiel mehr, das demonstriert,
wie angespannt die Forscher zurzeit mit der Frage hadern, wie sich der Treibhauseffekt bekämpfen lässt. Auf
lange Sicht, aber eben auch kurzfristig. Forscher wie der
47-jährige Andreas Oschlies sind sich über diesen „Konflikt“ in ihrem Fach bewusst. Doch man müsse handeln,
›
egal welches der Szenarien aus dem Klimabericht sich
›9
Titelthema
Verkleinerung der Polkappen
So einfach kannst du 10.000 Liter Wasser sparen:
– ein Hamburger Royal TS weniger
– ein halbes Kilo Kaffee weniger
– zwei Kilo Käse weniger
Distanzen bis 5 km lassen sich bequem
mit dem Rad (oder auch zu Fuß) zurücklegen.
Waschen bei 40 Grad
spart 35 % Strom gegenüber
einem 60-Grad-Programm
verwirklichen würde: „Wenn man die Erderwärmung
auf das international anerkannte Ziel zwei Grad Celsius
begrenzen will, muss man die globalen CO2 -Emissionen
in den nächsten zwei bis vier Jahrzehnten halbieren“,
sagt der Kieler Wissenschaftler. Doch davon sei man
noch weit entfernt. Für viele Forscher steht fest, dass
es im Falle eines klimatischen Supergaus ohne eine Art
„Notfallplan“ schlecht für die Weltbevölkerung und den
Planeten aussehen würde. „Es kann sein, dass bei unseren Versuchen herauskommt, dass Climate Engineering
keine Option ist – vielleicht gibt es aber auch Verfahren,
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die mehr nützen als schaden. Es ist enorm wichtig, das zu
erforschen“, sagt Oschlies. „Nichtstun ist keine Option.“
Protestaktionen für eine
heile Welt von morgen
So sah es auch der ehemalige Präsident der Malediven, Mohamed Nasheed. Der Politiker und Ozeanograf
hatte mit seiner Unterwasser-Kabinettssitzung vor gut
drei Jahren weltweit medial Aufsehen erregt. Ob seine
1848 › Magazin für Angewandte Wissenschaften
Ein Schnellkochtopf spart
67 Kilo Kohlendioxid pro Jahr
Die fünf umweltfreundlichsten Städte Europas
1. Kopenhagen
2. Stockholm
3. Oslo
4. Wien
5. Amsterdam
68 % der Stockholmer
fahren mit dem Rad zur Arbeit
Die fünf größten Klimasünder
10 % aller Wälder stehen
weltweit unter Schutz
› Quellen: gfdl.noaa.gov, Anthony Allen, Umweltbundesamt, vorweggehen.de, iopscience, Siemens, WWF
Aktion die internationale Gemeinschaft in ihrem Umgang mit der Umwelt beeinflusst hat, lässt sich nicht
sagen. Doch die Daten des neuen Klimaberichts verdeutlichen einmal mehr, wie stark seine Heimat vom Untergang bedroht ist.
An den makellos weißen Stränden des Insel-Archipels
wiegen sich Tag für Tag die Palmen über der Gischt. Fischerboote liegen malerisch an den Kais, bereit für das
Auslaufen am nächsten Morgen. Fast jeden Abend sieht
man von hier aus die Sonne in sattroten Farben am Horizont untergehen. Noch ist das so. |
Transport Strategy and Management Wie gelangt eine Fracht von Amsterdam nach Zhengzhou? Wo lassen sich Transportkosten sparen – und wie erzielt man dabei eine gute Ökobilanz? Für High Potentials,
die neben dem Studium noch arbeiten, hat die HS Fresenius den englischsprachigen Studiengang Executive MBA Transport Strategy and Management ins Leben
gerufen. Dessen Absolventen können eigenverantwortlich etwa Logistikprozesse
analysieren und planen sowie Führungs- und Managemententscheidungen treffen.
Gerade bei der Umsetzung von Transportvorgängen können sie beeinflussen, wie
die Ressourcen geschont werden, wenn man Wege gut plant. Wichtig ist es deshalb,
sich schon frühzeitig mit Fragen des Klimawandels auseinanderzusetzen. Diese
Fachleute belegen daher zum Beispiel auch Kurse zu CO2-effizienter Mobilität – oder
lernen, wie sich am Schreibtisch dank IT jene Papierflut eindämmen lässt, die etwa
internationale Zollabfertigungen oder Versicherungsdokumente verursachen.
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Plastikmüll
Die stille Macht
im Meer
Er bleibt, für Hunderte von Jahren: Plastikmüll ist zu einer massiven
Bedrohung der Ozeane geworden. Mithilfe von Gesetzen, Gewässerforschung und
futuristischen Säuberungsplattformen wird die Katastrophe nun bekämpft.
Text Andin Tegen · Foto Ilya Akinshin / Fotolia.com
S
o etwas hatten die spanischen Forscher noch nie gesehen:
Ein Pottwal von der Größe einer Segeljacht war an der Küste Andalusiens gestrandet. Doch das tonnenschwere Säugetier hatte sich nicht etwa ins seichte Gewässer verirrt – es
war an dem südspanischen Strand gelandet, weil es zuvor, sozusagen, ein ganzes Gewächshaus verschluckt hatte. 30 Quadratmeter
Abdeckplane, über vier Meter Schlauch, neun Meter Kunststoffseil,
zwei Blumentöpfe und 2,5 Kilo kleinteiligen Plastikmüll zogen die
Wissenschaftler aus seinem Leib: Das Tier war qualvoll an einem
Darmdurchbruch verendet.
Bis zu diesem Zeitpunkt dachten Forscher, dass überwiegend Meeresfische, Robben oder Vögel vom Kunststoff im Meer bedroht seien.
Nun hatte sich auch ein Meeresgigant wie der Pottwal unter die Opfer
eingereiht. Die Tiere leiden unter den geschätzt gut sechs Millionen
Tonnen Plastik, die jedes Jahr neu in die Ozeane gelangen: Schildkröten wachsen mit Plastikringen um den Bauch auf, seltene Basstölpel
strangulieren sich beim Nestbau mit Fasern von Fischernetzen.
Flip-Flops, Feuerzeuge, Farbeimer und Flaschen, aber auch Kühlschränke: Die meisten Gegenstände, die nicht auf dem Müll landen,
sondern im Meer, gelangen über Flüsse dorthin. Im Meer jedoch
verrottet Plastik nicht, sondern zerfällt in immer kleinere Teile. Mit
der Zeit verliert das Material seine Weichmacher, wird spröde und
durch die UV-Strahlung löchrig. Erst nach etwa 20 Jahren ist eine
dünne Einkaufstüte zerkleinert, eine Plastikflasche braucht sogar
über 400 Jahre.
Trotz der vielen Abfall- und Recyclinganlagen gelangt Weggeworfenes vor allem durch schlecht gesicherte Mülldeponien vom
Wind in die Meere. Hinzu kommt ein mangelndes Bewusstsein für
Müllentsorgung bei jedem Einzelnen. Außerdem leitet der Verbraucher, selbst ohne es zu wissen, Plastikpartikel in die Umwelt weiter,
denn diese befinden sich etwa in Haar- und Duschgels, Zahnpasten
oder Fleece-Pullis. Letztere verlieren pro Waschgang bis zu 2000
winzige Kunstfasern, die nur einige spezielle Kläranlagen zurückhalten können – ansonsten fließt der Flausch ins Wasser weiter.
Die größte Ansammlung an Plastikmüll erspähte Kapitän Charles
Moore 1997 nach einem Jachtrennen im Pazifik – eine Entdeckung,
›12
die sein Leben und seine berufliche Laufbahn vollkommen veränderte. Heute hält der bärtige Seemann und Ozeanograf in ganz
Amerika Vorträge über die verschmutzten Weltmeere; manchmal
trägt er dabei eine bunte Kette aus aufgefischten Fundstücken. Als
Moore vor 17 Jahren von seinem üblichen Kurs abwich und durch
Gewässer kreuzte, durch die er noch nie gesegelt war, gelangte er in
ein riesiges Gebiet zwischen Japan und den USA, wo sich die Strömungen der Ozeane miteinander verbinden und im sogenannten
Nordpazifikwirbel münden. „Jedes Mal, wenn ich an Deck ging, sah
ich Seifenflaschen, Plastikbehälter oder Kunststoffsplitter im Wasser treiben“, schreibt er in seinem Buch „Plastic Ocean“. Bis dahin
hatte er große Müllmengen nur in Küstennähe oder Flüssen erlebt,
nie hätte er sie so weit im Ozean vermutet. „Es war unmöglich, diesem Wohlstandstreibgut auszuweichen, eine ganze Woche lang“, erinnert er sich.
Heute bezeichnet man diesen Müllstrudel als Great Pacific
garbage patch oder als siebten Kontinent. Darin drehen die Kunststoffteilchen nahezu ewig ihre Runden. Schätzungen zufolge ist dieser „Teppich“ so groß wie Mitteleuropa. Kapitän Moore hat seit seiner
Entdeckung auf einer Strecke von über 40.000 Seemeilen Kunststoffmüll als Proben aus dem Nordpazifik gefischt und dabei unter anderem erkannt, dass viele davon als Schadstoffsammler dienen. Auch Professor Thomas Knepper beschäftigt sich seit Langem
mit Plastik und dessen Vorkommen in der Umwelt. Er ist Dekan
des Fachbereichs Chemie und Biologie und neuer Vizepräsident an
der Hochschule Fresenius. Gemeinsam mit seinem Doktoranden
Sascha Klein hat er im Rahmen einer Forschungsarbeit aus Rhein
und Main Sedimentproben entnommen und auf Mikroplastik untersucht, kleinste Kunststoffteilen im Gewässer, eine Arbeit, die von
der Wasserchemischen Gesellschaft unterstützt wurde.
Die Forscher haben dabei Pionierarbeit geleistet, denn bislang
war nicht bekannt, welches Ausmaß an synthetischen Polymeren –
also Kunststoff – sich auch in Gewässern im Landesinneren befindet. „Wir haben herausgefunden, dass die Konzentration an Polymeren in Flüssen streckenweise sogar vergleichbar ist mit der an
einigen Küsten“, sagt Professor Knepper. Der 28-jährige Chemiker
1848 › Magazin für Angewandte Wissenschaften
Sascha Klein fügt hinzu, dass die treibenden Plastikteilchen durchaus als Schadstoffsammler dienen können: An Plastik können sich
etwa Insektenschutzmittel wie DDT anreichern. Und auch Weichmacher können aus dem Kunststoff ins Wasser gelangen. „Das sind
hormonell wirksame Schadstoffe, die zum Beispiel die Sexualentwicklung bei Fischen stören können. Irgendwann vermehren die Fische sich nicht mehr richtig, weil es einfach zu viele weibliche gibt“,
sagt der junge Experte.
Am Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven fanden Forscher
auf dem Meeresplastik sogar Bakterien wie den Cholera-Erreger.
Diese würden die Plastikteile als eine Art Taxi nutzen, um von A
nach B zu gelangen. Klein und Knepper wiegeln jedoch entschieden
ab: „Es ist nicht klar, ob diese Transportfunktion nicht auch durch
Holz oder anderes Treibgut übernommen wird und in welchem Ausmaß das geschieht“, sagt Klein. Bisher stürben Tiere daran, dass sie
keine Nahrung mehr aufnehmen können, weil ihre Mägen durch
Plastik verstopft sind. „Nur von Weichmachern und Monomeren,
die zur Produktion der Kunststoffe verwendet werden, weiß man,
dass sie schädlich sind.“ Die Wissenschaftler betonen, dass sie noch
am Anfang ihrer Grundlagenforschung stehen.
Kunststoffe sind nach wie vor die Stars unter den Verpackungsmaterialien. Im Laufe des vergangenen Jahrhunderts haben sie einen regelrechten Siegeszug hingelegt. Kein anderes Material kann
so hart sein wie Stahl und doch so wenig wiegen; keines kann
so klar wie Glas und doch so schwer zu zerbrechen sein. Kunststoffe lassen sich schon bei niedrigen Temperaturen formen und
erhalten durch Beimischung spezieller Zusatzstoffe weitere, fast
frei bestimmbare Eigenschaften. Sie werden zu Fasern und Folien, dienen zur Herstellung von Lacken, Klebstoffen, Textilien und
Bauteilen. Es gibt nicht viel, das es nicht in irgendeiner Form auch
aus Plastik gibt.
Auch die EU-Kommission erkennt das wachsende Problem immer deutlicher und will Plastik- und Kunststoffabfälle nun drastisch verringern. Kunststoffe, die Schwermetalle und andere Stoffe
enthalten, sollen schrittweise vom Markt genommen oder noch vor
2020 ganz verboten werden. Doch bis es zu rechtsverbindlichen
Gesetzesauflagen kommt, könnte es für viele Wale, Fische und
Möwen zu spät sein.
„Jeder Einzelne muss sich darüber klar sein, wo seine Plastiktüte
landet, und sich fragen, ob es nicht auch einmal eine Glasflasche anstelle einer PET-Flasche sein kann“, mahnt Professor Knepper. Noch
sieht er das Umwelt-Engagement des Menschen trotz Mülltrennung
und Recyclingsystemen kritisch. Umso wichtiger erscheinen ihm an
dieser Stelle die Ideen Einzelner, etwas gegen das Plastikproblem zu
tun. Etwa die des findigen Niederländers Boyan Slat.
Der 19-jährige Student der Luft- und Raumfahrttechnik will den
Müll im Meer mit einer selbst erdachten Plattform namens Ocean
Cleanup Array einfangen: Die schwimmende Konstruktion ist mit
Armen ausgestattet, die so beweglich sind wie die Flossen eines
Manta-Rochens. Mit diesen soll sie Unrat von der Meeresoberfläche schöpfen, während Fischschwärme und andere Meeresbewohner ungestört unter ihr hindurchschwimmen oder -treiben können.
Die Entsorgungsplattform würde fest im Meeresgrund verankert,
so dass die Strömung den Müll in ihre Arme treibt. Zurzeit arbeiten
Forscher noch an einem Pilotprojekt mit Slats neuer Technik.
In Professor Kneppers Augen wäre es schön, wenn noch mehr
Menschen so ein Bewusstsein für unseren Planeten hätten wie dieser Student. Auch Sascha Klein glaubt, dass „eine bessere Welt“
möglich wäre. Wenn jeder mitmache, würden die Strände und Gewässer der Zukunft vielleicht einmal märchenhaft sauber sein –
„und das ist doch mehr als wünschenswert.“
Die School of Chemistry, Biology & Pharmacy
… an der Hochschule Fresenius bietet verschiedene Bachelor- und Master-Studiengänge mit Schwerpunkten aus den Bereichen Angewandte
Chemie, Wirtschaftschemie, Industriechemie, Bio- and Pharmaceutical
Analysis sowie Biosciences an. Dem Fachbereich angeschlossen wurde
in Idstein das Institute for Analytical Research (IFAR), das Lehre, Forschung und Praxis miteinander verknüpft: Hier wird unter anderem auf
den Gebieten Spurenanalytik, Schwerpunkt: organische Spurenanalytik
im Wasser, geforscht und entwickelt. Das Instiut wurde mit modernsten
Geräten und Laboren ausgestattet. ›13
Gespräch
„Wer zuhören kann, der kann auch führen“
Ein halbes Jahrhundert trennt sie, doch beim Gespräch zwischen dem ​
Unternehmer Dr. Arend Oetker und der Studentin Juliana Schnell ergaben
sich erfreulich viele Übereinstimmungen. Ihr größter gemeinsamer Nenner:
Führung ist kein Einzelkampf, sondern eine Frage von Teamgeist.
Interview Jochen Brenner · Fotos Michael Danner
›14
1848 › Magazin für Angewandte Wissenschaften
err Dr. Oetker, Sie haben 1968, mit 28 Jahren, die KonfitürenH
Fabrik „Schwartauer Werke“ von Ihrer Mutter übernommen.
Was hat es damals bedeutet, zu führen und Verantwortung zu
übernehmen?
Oetker: Eigentlich war ich damals noch nicht richtig in der Lage,
zu führen. Mein bis dahin erster Kontakt mit Führung von Personen
war bei der Bundeswehr. Ein Unternehmen ist aber keine Kaserne.
Ich habe schnell gemerkt, dass die Kraft des Eigentums auch große
Verantwortung mit sich bringt. Daran bin ich gewachsen. Anfangs
fiel es mir schwer, Entscheidungen treffen zu müssen, heute freue
ich mich, zu entscheiden.
Leipzig Graduate School of Management HHL
Kann man Führung überhaupt lernen?
Oetker: Nur zu einem gewissen Teil. Führung hat mit natürlicher
Autorität zu tun, mit Körpersprache und Haltung. Führung findet
übrigens überall statt. Ein Lehrer meines Sohnes war ein Meister
darin: Jedem seiner Schüler gab er an der Tür die Hand, sah seine
Schützlinge an, begrüßte sie. Dann setzten sich alle hin und legten
eine Besinnungsminute ein. Das Konzept dieses Lehrers nenne ich
Führung durch Haltung, durch Ausstrahlung der Person, durch Anspruch. Das imponiert mir.
Schnell: Der Zufall hat mich sehr früh in eine Führungsposition geführt, mit gerade 22 Jahren. Ich war mit einem Stipendienprogramm an einem Bildungsinstitut in London und habe dort als
Assistentin gearbeitet. Meine Mentorin und Kollegin, die als Marketingmanagerin tätig war, fiel überraschend aus. Der Direktor der
Bildungsakademie rief mich in sein Büro und sagte: Du machst das
jetzt! Die Herausforderung für mich bestand unter anderem darin,
gerade von älteren Kollegen ernst genommen zu werden. Dabei habe
ich viel über Führung gelernt.
Die Managerschmiede HHL ist nicht nur die älteste private Wirtschaftsschule Deutschlands – sie zählt zu den führenden Business Schools des
Landes mit Promotions- und Habilitationsrecht. Ausgewählte Studierende
der Hochschule Fresenius, insbesondere vom Fachbereich Wirtschaft &
Medien, profitieren von unserem neuen Kooperationsparter, denn auch Promotionsvorhaben sollen ihnen in Zukunft über die HHL möglich sein. Zudem
fördert die Zusammenarbeit auch universitäre Verbundforschungsprojekte, an denen Professoren, Lehrende und besonders qualifizierte Studierende mitarbeiten können. Es ist ein bisschen wie in der Regierung: Wir sind eine große Koalition aus Arbeit und Kapital. Nur wenn beides zusammenwirkt, ist
Führung überhaupt möglich.
Schnell: Ich glaube auch nicht, dass ich mit Ellenbogeneinsatz
weiterkommen würde. So bin ich nicht erzogen, und auch mein
Glaube verbietet es. Unter meinen Kommilitonen ist das Wegbeißen
nicht verbreitet, da geht es von Anfang an um die gemeinsame Leistung. Personalentscheidungen sollten nach persönlichem Einsatz
fallen. Wer viel leistet, kann dann auch mit einer Führungsposition
belohnt werden.
Welche Lehren haben Sie mitgenommen aus dieser Zeit?
Schnell: Ich habe mich immer hundertprozentig vorbereitet und
Aufgaben sehr präzise vergeben. Mir war wichtig, klar zu sein, nie
von oben herab. Und ich habe die Position, in der ich war, nie ausgenutzt. Das wurde anerkannt. Ich habe damals festgestellt, dass ich
eine gewisse natürliche Autorität habe. Wenn es mal nicht gut lief,
habe ich versucht zu verstehen, was die Ursache war. Lag es an mir?
Gab es Neid? In der ersten Woche meines neuen Jobs hatte ich meinen ersten offiziellen Termin in der Deutschen Botschaft. Nur Diplomaten und ich, als Vertreterin der Bildungsakademie. Die wichtigste
Lehre aus dieser Zeit ist für mich: Man wächst in die Rolle rein.
eute ist oft von „wertorientierter Führung“ die Rede.
H
Was verstehen Sie darunter?
Oetker: Wenn das Wirtschaften von Werten geprägt ist, die über
den Tag hinaus gelten. Das ist ein bisschen wie in der Kirche. Ich
besuche oft den Gottesdienst in Berlin und habe einen Favoriten
unter den Pfarrern, aus meiner Sicht eine Führungspersönlichkeit.
Er predigt so bildlich, dass ich gar nicht anders kann, als über das
nachzudenken, was er sagt. Die Kirche hat ja nun ein besonderes
Werteverständnis, und so, wie dieser Pfarrer ihre Werte transportiert, sollte auch die Wirtschaft ihre Werte transportieren: glaubwürdig, authentisch, unmittelbar.
Schnell: Wo Wirtschaft und Ethik aufeinandertreffen, gerät
man schnell in ein Dilemma. Nicht alles, was der Kapitalismus hervorbringt, halte ich für ethisch vertretbar. Wenn man an der Spitze steht, kommt irgendwann der Punkt, an dem man entscheiden
muss: Wie weit gehe ich, um den Profit zu maximieren? Auch daran
muss sich eine Führungskraft messen lassen.
Oetker: Ich habe ein etwas weniger düsteres Bild von unserem
System, ich glaube an den Wettbewerb. Wenn sich der Bessere mit
seinen Ideen durchsetzt, dann kann ich damit leben. Fairer Wettbewerb ist etwas sehr Gerechtes.
Kleiner Test: „Gute Führung heißt andere erfolgreich machen“,
hat Ihrer Meinung nach wer gesagt, der Dalai Lama oder der
ehemalige BASF-Chef Jürgen Hambrecht?
Oetker: Der Dalai Lama?
Hambrecht.
Oetker: Passt zu ihm. Und es stimmt ja: Einsam an der Spitze
komme ich nicht vorwärts, ich muss teilen, abgeben können als Führungspersönlichkeit. Man kann nicht mehr diktatorisch führen, da
hat sich in den vergangenen Jahrzehnten einiges geändert. Führung
muss heute im Team passieren, nur wer zuhören kann, der kann
auch führen. Wir leben in Deutschland in einer Konsensgesellschaft.
err Dr. Oetker, wie erleben Sie die Generation der
H
20- bis 30-Jährigen?
Oetker: Ich habe fünf Kinder im Alter von 22 bis 38 Jahren. Die
sind selbstbewusst, auch selbstständiger, als ich es in diesem Alter
vielleicht war. Mein Eindruck ist, dass diese Generation das selbst
gestaltete Leben früher übt.
Frau Schnell, Sie gehören zur sogenannten Generation Y, wie
Soziologen diejenigen nennen, die um die Jahrtausendwende
Teenager waren. Was prägt diese Generation eigentlich?
Schnell: Wir sind zu Menschen erzogen worden, auf deren
Meinung früh gehört wurde. Und die immer Alternativen hatten, ›
›15
Gespräch
an sagt der Generation Y nach, auf Führungspositionen gar
M
keinen großen Wert zu legen. Wollen die nicht nach oben?
Schnell: Ich glaube, man muss unterscheiden bei dieser Frage.
Wir haben keine Angst, wir scheuen uns nicht vor Führung. Wir
wissen nur nicht, ob die Führungsaufgabe die attraktivste aller
Möglichkeiten ist. Unter meinen Kommilitonen ist die Frage verbreitet, ob sie sich für potenzielle Führungsaufgaben zum Beispiel
im elterlichen Unternehmen schon bereit fühlen und was dann aus
der Selbstverwirklichung wird. Viele sagen: Ich möchte jetzt erst
mal meinen Weg gehen.
Oetker: Das war zu meiner Zeit undenkbar. Wollen oder nicht
war für mich keine Kategorie. Zu meinem Glück wollte ich dann ja
aber auch.
› Juliana Schnell, 25, studiert an der Hochschule Fresenius im
Masterstudiengang Medienmanagement und Entrepreneurship.
mitreden durften. Wir konnten als Kinder mitentscheiden, wohin
die Familie in den Urlaub fahren oder welches Auto angeschafft
werden soll. Schon in der Grundschule haben wir ein Gefühl für
Mode und Stil entwickelt und konnten es ausleben. Unsere Eltern
sind in den 50er-, 60er-Jahren geboren und haben uns früh sehr gefördert. Allerdings ohne Drill, im Gegensatz zu ihren eigenen Kindheit. Klavierunterricht? Kein Problem, wenn du magst. Wenn dann
etwas anderes wichtiger wurde, war das auch gut.
J . Schnell: Herr Dr. Oetker, ich würde gerne die letzte Frage
stellen. Können die Generationen beim Thema Führung etwas
voneinander lernen?
Oetker: Auf jeden Fall. Zur Führungsqualität gehört eine starke
Persönlichkeit, die man sich erarbeiten muss. Wenn ich zurückblicke, fällt mir auf, wie wichtig es ist, über den Tellerrand zu blicken.
Machen Sie Ihren Job gut, aber vergessen Sie darüber die schönen
Dinge des Lebens nicht, Kunst, Musik und Theater. In diesen Sphären erhalten Sie Impulse, die Sie als Führungsperson weiterbringen.
Inzwischen habe ich allerdings ein Alter erreicht, in dem ich davon
ausgehe, dass ich mehr von Ihnen lernen kann als Sie von mir. |
„Als ich 1968 anfing, gab es keine
Work-Life-Balance. Da hieß es Work,
work, work und erst mal wenig Life.“
Was für Menschen sind diese Kinder heute geworden, was ist
Ihnen wichtig?
Schnell: Ich gehöre zu einer Generation, die Work-Life-Balance
als Errungenschaft versteht. Viele wollen nicht nur im Beruf, sondern auch im Privatleben erfolgreich sein, das heißt: Zeit für eine
Familie haben, die Kinder sehen, wegfahren. Ich glaube übrigens,
dass die Hierarchien in Unternehmen heute auch durchlässiger geworden sind, gerade auch für die, die mal weniger arbeiten, für die
Familie aussetzen oder ein Sabbatical machen wollen. Das haben
nach meinem Eindruck die Firmen heute aber auch verstanden.
Oetker: Als ich 1968 anfing, gab es keine Work-Life-Balance. Da
hieß es Work, work, work und erst mal wenig Life. Aber ich sage
nicht, dass das besser so war.
›16
› Dr. Arend Oetker, 75, leitet die Arend Oetker Holding GmbH & Co. KG in Berlin. Er
ist Gesellschafter des Bildungsunternehmens Cognos AG, zu dem neben der Hochschule Fresenius auch die HHL Leipzig Graduate School gehört, an welcher der
Lehrstuhl für Wirtschaftspsychologie und Führung seit 2013 seinen Namen trägt.
1848 › Magazin für Angewandte Wissenschaften
Hier
entlang,
bitte!
Gute Führungskräfte hören ihren Mitarbeitern zu,
lassen sich kritisieren, geben Schwächen zu. In bestimmte
Archetypen lassen sie sich hingegen nicht einteilen.
Text Andin Tegen · Foto Fiedels / Fotolia.com
W
enn die Beraterin Christina Grubendorfer
von dem viel zitierten Unterschied zwischen Managern und Leadern hört, rollt
sie meistens mit den Augen: Manager seien eher Verwalter, Leader dagegen Visionäre; Manager
stünden für Organisieren, Planen und Kontrollieren, also
für perfekte Abläufe, Leader inspirierten die Mitarbeiter, schafften Kreativität, Innovation, Sinnerfüllung und
Wandel: So jedenfalls beschrieb es schon 1990 John P.
Kotter in „A Force For Change: How Leadership Differs
From Management“. Vielen gilt der Harvard-Professor als
Erfinder des Begriffs Leadership. Die Berliner Psychologin Grubendorfer kennt genügend Unternehmen, in denen Führungskräfte immer noch in diese archetypischen
Kategorien eingeteilt werden.
„Ich halte das für Quatsch“, sagt sie, „denn die Funktion einer Führungskraft ist vielschichtiger, als es diese
Kategorien beschreiben.“ Manager etwa gebe es in ihren
Augen schlichtweg nicht, weil der Begriff impliziere, dass
diese den Erfolg eines Unternehmens kontrollierten oder
in eine Richtung lenken könnten. Führungskräfte müssten die Illusion der Kontrolle aufgeben, da Firmen als sich
selbst organisierende Systeme ihrer eigenen Logik folgten. „Der Erfolg oder Misserfolg eines Unternehmens ist
das Ergebnis eines komplexen Kommunikationsprozesses mit der gesamten Belegschaft“, sagt die Expertin, die
auch als Coach arbeitet. Der Begriff Leadership treffe die
Funktion von Führungskräften schon eher. Sie stehen dafür, dass sie Mitarbeitern Orientierung geben, Strukturen
und Rahmen schaffen, innerhalb derer sich die Beschäftigten bewegen können – und diese auch mal loben für
das, was sie tun.
Noch vor 30 Jahren waren die meisten Unternehmen
hierarchisch gegliedert: Die „oben“ beschlossen, die „unten“ führten aus. Heute gilt es jedoch, auf die „Weisheit
der Vielen“ zu setzen und sich auch auf Einwände aus der
Belegschaft einzulassen. Grubendorfer charakterisiert
kompetente Führungskräfte als Jongleure, die in der Lage
sind, Ambivalenzen auszuhalten. Sie konzentrieren sich
auf die gesamte Konzernstruktur, erkennen die Position
des Unternehmens auf dem Weltmarkt, nehmen dabei
auch Widersprüche von Kollegen auf und leiten daraus
eine sinnvolle Führungsrichtung ab. „Solche Menschen
befinden sich in einem permanenten Spannungsverhältnis – und das muss man erst mal aushalten können.“
Es sei daher hilfreich, in regelmäßigen Abständen darüber zu diskutieren, welches Thema gerade im Fokus
des Unternehmens stehe. „Bei den einen geht es um die
Vereinfachung von Arbeitsabläufen, bei anderen um freie
Gestaltung und neue Ideen“, sagt Grubendorfer. Dabei
sollten Führungskräfte sich nicht nur im eigenen Kreis
austauschen, sondern sich auch den Fragen und der Kritik
der Belegschaft stellen. Nur so schafften sie konstruktive Diskussionsräume. „Ich habe schon erlebt, dass nach
so einem Meeting sogar Firmenkäufe geplatzt sind“, berichtet die Psychologin, „denn erst im Austausch darüber
wurde dem Vorstand klar, dass dieser Schritt gar nicht
zur Unternehmensphilosophie passt.“ |
›17
Industrie 4.0
ine
E
intelligente
Kette
In den Fabriken der Zukunft passen sich die
Produktionswelten dem digitalen Zeitalter an: Viele
Berufe wird es in der Smart Factory nicht mehr geben.
Die Arbeitskraft Mensch bleibt ihr dennoch erhalten.
Text Andin Tegen · Foto picture alliance / Wolfgang Thieme / dpa-Report
I
mmer wenn sich eine Flasche auf dem Fließband mit Seife füllt, sieht Professor Detlef Zühlke die Zukunft. Hier, in
der Forschungsfabrik, haben die Seifenflaschen ein FunkEtikett, das in der Lage ist, digital mit einer Maschine zu
kommunizieren. Diese wiederum gibt das Kommando, welche
Flüssigseife eingefüllt werden soll, die rote oder blaue, oder ob
die Flasche einen weißen oder schwarzen Verschluss erhält. Was
auf den ersten Blick aussieht wie ein ganz normaler Produktionsweg, ist ein ausgeklügeltes System digitaler Kommunikationsvorgänge – in der intelligent vernetzten Fabrik von Morgen. › Neue Aufgaben für Arbeitskräfte in den Fabriken 4.0
›18
Detlef Zühlke gehört zu den Gründern der Forschungsfabrik
SmartFactoryKL in Kaiserslautern und ist Leiter des Bereichs
Innovative Fabriksysteme am Deutschen Forschungszentrum
für Künstliche Intelligenz (DFKI). Der Ingenieur und sein Team
arbeiten an flexiblen Produktionsvorgängen, durch die immer
individuellere Produkte hergestellt werden können, ohne dass
dafür die Herstellungssysteme ständig neu programmiert werden müssen. „Ein Verbraucher kann sich aussuchen, welches
Etikett seine Flasche haben soll, wie der Abfüllkopf aussehen
soll, welche Stückzahl er braucht“, sagt der wissenschaftliche
Direktor. Wenn der Kunde etwa ein Produkt im
Internet zusammenstellt und bestellt, landen
alle Informationen im Computersystem der Fabrikanlage. Bei dieser Individualisierung kommen Unmengen von Daten zusammen, die sich
auf zuckerwürfelgroßen Datenträgern in den
Maschinen befinden. „Der Ablauf funktioniert
in unseren Versuchen noch nicht immer reibungslos“, sagt Zühlke, „aber wir sehen, welche
Möglichkeiten diese neue Form der Vernetzung
bringt und dass sie erhebliche Produktionskosten sparen würde.“
So wie man heute verschiedene Geräte mit einem USB-Stecker an den PC anschließt, so sollen sich in der Fabrik der Zukunft eines Tages
Feldgeräte wie Roboterarme, Maschinen und
Anlagenmodule ohne weitere Programmierung zu Produktionssystemen modular zusammenschließen lassen. Dafür müssen sie perfekt
zusammenspielen.
Trotz aller Digitalisierung und Mechanisierung wird die Arbeitskraft Mensch in der Fabrik der Zukunft laut Zühlke erhalten bleiben.
1848 › Magazin für Angewandte Wissenschaften
Den Betriebselektriker wird es in Zukunft seltener geben, dafür
mehr Personen, die Netzwerke konfigurieren und Systeme instand halten können. Das müssen nicht zwingend Informatiker
sein: „Die jetzigen Facharbeiter müssen eine Zusatzqualifikation erwerben, und auch die Ausbildungsinhalte müssen sich
an die neuen Anforderungen anpassen“, sagt der Forscher. Für
ihn ist klar, dass es die Kollegen in der Fabrik der Zukunft in
gleicher Anzahl geben wird wie heute, denn allein die Programmierungs- und Überwachungsaufgaben werden in den neuen
Fabrik-Modellen viel Personal brauchen.
Der Bedarf nach smarten Produktionsweisen wird laut
Zühlke in Zukunft immens steigen. Das beweise schon jetzt das
Kaufverhalten der Leute: „Man stellt sich online sein persönliches Müsli zusammen oder die eigene Schokolade – in Zukunft
möglicherweise sogar das eigene Auto.“ Für ihn ist es denkbar,
dass der Kunde sich Bremsen, Lenkrad oder Armaturen individuell aussucht und am Rechner sogar die Endmontage seines
PKWs beobachten kann. So würde die Smart Factory gleichzeitig zur gläsernen Fabrik für den Kunden werden.
Doch die neue Transparenz bringt ein Problem mit sich. Wenn
ein ganzes Produkt mit einem Datensatz gefertigt werden kann,
sind Unternehmen auch anfällig für Hackerangriffe, Industriespionage oder Produktpiraterie. „Eine hundertprozentige Sicherheit
für die Smart Factory wird es nie geben“, sagt Zühlke, „denn trotz
Virenscanner wird es immer Möglichkeiten geben, irgendwann
in die Systeme einzudringen“. Dennoch ließe sich das Rad nicht
zurückdrehen. Global konkurrenzfähig bleibe nur derjenige, der
seine Produktionsvorgänge anpassen würde. „Man schmeißt seinen PC ja auch nicht in die Ecke, weil es einen Hacker-Angriff
geben könnte. Man wägt die Risiken ab und lebt damit.“
Der Bedarf an smarten
Produktionsweisen wird in Zukunft
immens steigen.
Aber auch ihn beängstige die Vorstellung, was passieren könnte, wenn Daten in großem Stil manipuliert würden.
„Wenn ein Hacker die Gummimischung von Autoreifen so verändert, dass die Reifen beim Fahren platzen, oder wenn geheime Produktdetails gestohlen werden – dann sind das Szenarien, die furchteinflößend sind.“ Die Forscher stehen noch ganz
am Anfang ihrer Entwicklungen für die Fabrik der Zukunft,
gibt er zu. „Man wird sicher erst harmlose Innovationen auf
dem Gebiet einsetzen, etwa in der Verpackungstechnik“, erklärt Zühlke. Als Beispiel nennt er Weinflaschen, die zu Ostern mit gelben Manschetten versehen werden sollen und zu
Weihnachten mit roten Etiketten. Oder Roboter, die in einer
Blechpresse agieren und die einzelnen Bleche stapeln. All das
berge kaum Gefahren und erleichtere Produktionsvorgänge
ungemein, da nicht jeder Vorgang einzeln programmiert werden müsse.
„Die Smart Factory birgt Risiken, doch wir glauben, dass
die Vorteile am Ende überwiegen werden“, sagt Zühlke, „Fortschritt lässt sich nicht einfach so aufhalten.“ |
Schleudern, wenn die Sonne scheint
Intelligente Stromnetze verändern die Welt: Fabriken,
Netze und Haushaltsgeräte werden zunehmend mit
moderner Kommunikationstechnologie aufgerüstet,
was ihren Verbrauch deutlich senken kann. Drei Fragen
zu den sogenannten Smart Grids an Professor Jens
Strüker, Geschäftsführer des Instituts für Energiewirtschaft (INEWI) und designierter Studiendekan Master
Energiemanagement an der Hochschule Fresenius.
Warum wird gerade heute so intensiv an der Stromversorgung
der Zukunft geforscht?
Das hat einen einfachen Grund: 2020 soll unser Strom zu einem Drittel aus erneuerbaren Quellen kommen, 2050 fast vollständig. Bereits heute speisen Tausende Windräder und Blockheizkraftwerke sowie Millionen Solaranlagen einen
Großteil der Energie ins Mittel- oder Niedrigspannungsnetz ein. Das System
wird also immer zerstückelter, und immer mehr Stromanbieter agieren im Netz.
Doch wie koordiniert man diese Strommengen, die zu so unterschiedlichen Zeiten wetterbedingt stark schwankend eingespeist werden? Stromangebot und
-nachfrage müssen stets unmittelbar ausgeglichen werden, sonst werden zum
Beispiel Produktionsmaschinen geschädigt oder Transformatoren fallen aus. Um
überhaupt eine Steuerung zu ermöglichen, sind exakte und zeitnahe Informationen über den Stromverbrauch und den Zustand des Netzes notwendig. An dieser
Stelle helfen dann Smart Grids, also intelligente Netze.
Woher wissen diese intelligenten Netze, wie viel ein Haushalt
tatsächlich verbraucht?
Ein wichtiges Element sind digitale Stromzähler, die unsere mechanischen
Zähler ablösen. Man nennt sie Smart Meter. Während man bislang einen Ablesewert für einen Haushalt für ein ganzes Jahr hatte, werden damit viertelstündliche Erhebungen möglich. Mit entsprechender Software und Kommunikationstechnik lassen sich dann Stromgeräte automatisch regulieren. Oder
dem Verbraucher wird über Smartphones, Tablets und Displays die Information grafisch veranschaulicht, wie teuer oder billig der Strom zu einer bestimmten Zeit ist. Der Kunde entscheidet dann, wann es am günstigsten ist, Waschmaschine oder Trockner anzustellen.
Könnte so ein digitales Stromnetz von Hackern lahmgelegt werden?
Die Versorgung kann durch die miteinander verbundenen und kommunizierenden Geräte stabilisiert werden, indem das schwankende Stromangebot
besser an die Nachfrage angepasst wird. Auf der anderen Seite eröffnen sich
durch diese Energieinformationsnetze neue Angriffspunkte. Möglich wäre,
dass ein Hacker die Stromversorgung in einem ganzen Stadtteil lahmlegt,
indem er etwa allen Smart Metern ein extrem niedriges Preissignal kommuniziert und, weil viele Kunden reagieren, die Netze überlastet würden. Panikmache oder pauschale Beurteilungen sind jedoch unangebracht: Allein
die Vielzahl an Anbietern und Geräten sowie die zunehmende Dezentralität
der Erzeugungsstruktur wirken totalen Systemausfällen eher entgegen. Das
Internet ist ein gutes Beispiel für ein dezentrales System, was sich als stabil
erwiesen hat. Und schließlich entwickeln sich neben den Angreifern auch die
Verteidiger weiter: Sicherheitslösungen für Energieinformationsnetze sind
ein sehr aktiver Forschungsbereich.
Energiemanagement (Master)
An der Hochschule Fresenius in Frankfurt am Main werden die Energieexperten von morgen ausgebildet. Neben energiewirtschaftlichem Wissen
werden sie auch in Mitarbeiterführung, Change- und Innovation-Management geschult. In sechs Semestern kann man berufsbegleitend den Master
erwerben.
›19
Mode
› Die Abschluss-Shows als Sprungbrett für die Karriere
Einen Schnitt
voraus
Deutschlands Designer genießen auch
international einen guten Ruf. Dabei müssen
sie heute viel mehr sein als nur kreativ.
Das gilt vor allem für den Nachwuchs.
Text Andin Tegen · Foto AMD / Gregor Kaluza
›20
1848 › Magazin für Angewandte Wissenschaften
G
rell ist ihr Look, er könnte der eines Popstars
aus den 80ern sein. Ihr Blick dagegen ist der
eines schüchternen Teenagers. Im hautengen,
schulterfreien Kleid mit buntem Hawaiiprint
posiert die junge Frau vor einem mit Graffiti besprühten
Bauwagen. Die Berlinerin fällt auf, und darum geht es
Yvan Rodic.
Menschen wie sie hat er täglich vor seiner Linse, etwa
die kahl rasierte Frau aus Melbourne im Military-Look,
deren Gesicht von Spinnen-Tattoos übersät ist, den Hipster
aus Kopenhagen, der einen Pelz mit pinkem Innenfutter
trägt. Solche Motive von besonders gekleideten Passanten
stellt der Schweizer Stilblogger regelmäßig auf seine Homepage, und Millionen User lassen sich davon inspirieren. Die
Streetlooks zeigen, wie Menschen Trends für sich persönlich umsetzen – und wie stark sich Modedesign auf der
ganzen Welt individualisiert hat.
Das Leben wird vielschichtiger, die Wahlmöglichkeiten, wer man sein will, scheinen grenzenlos. Gleichzeitig wächst das Bedürfnis nach erkennbaren äußerlichen
Merkmalen, und das manifestiert sich in der Art, wie man
sich kleidet. Für angehende Modeschöpfer in Deutschland ist der gesellschaftliche Trend zur Individualität eine
große Chance. Designerteams wie Augustin Teboul mit
ihren surrealistisch-femininen Kreationen, die androgynen Entwürfe von Kostas Murkudis oder auch Michael
Sontag mit seinen asymmetrischen Drapierungen sind so
erfolgreich, weil sie dieses Bedürfnis nach Abgrenzung
widerspiegeln. Sie genießen dafür nicht nur in Deutschland, sondern auch international hohes Ansehen.
„Designer müssen Zusammenhänge
verstehen und beherrschen: von
der Trendanalyse über den Entwurf
bis hin zu Marketing und Vertrieb.“
Doch die Stars der Branche zeichnen sich nicht nur durch
Kreativität und Eigenwilligkeit aus. Wer in ihre Fußstapfen treten will, muss heute ein weitgefächertes Wissen
mitbringen. „Designer müssen Zusammenhänge verstehen und beherrschen: von der Trendanalyse, Materialund Textilkunde über den Entwurf bis zu Marketing und
Vertrieb“, sagt Professor Ekkehart Baumgartner, Vizepräsident der Hochschule Fresenius im Fachbereich Design
und Mitglied der Geschäftsleitung AMD Akademie Mode
& Design. „Sie müssen sich aber auch mit gesellschaftlichen Entwicklungen wie Individualisierung auseinandersetzen.“ Studierende stehen vor einer Menge Fragen: Wie
kann ich meinen Stil für eine größere Zielgruppe interessant machen, mich am Markt positionieren? Wie setze
ich ein Kleidungsstück mit meiner eigenen künstlerischen
Handschrift um? Und achte gleichzeitig darauf, dass die
Stoffe umweltschonend produziert wurden? Viele Jungdesigner versuchen sich heute auf dem Markt der nach-
haltigen Mode und werden konfrontiert mit Problemen,
etwa beim Überprüfen von Produktionsbedingungen und
Qualitätsstandards oder bei der Stoffbeschaffung. Schon
das Entwerfen innovativer Kleidung ist herausfordernd,
wenn es Bio-Baumwolle zumeist nur in Weiß oder Cremetönen gibt; brillante Farben lassen sich nachhaltig kaum
herstellen. Studierende der AMD müssen sich fortwährend mit diesen Hürden auseinandersetzen.
Einmal im Jahr kann man die Ergebnisse ihrer Arbeit bei den Graduate Fashion-Shows sehen. Zu diesen
Abschlussevents werden Redakteure internationaler Modemagazine, Blogger, aber auch Chefdesigner und Produktmanager von namhaften Modefirmen eingeladen.
„Wichtig sind den Anwesenden neben einem hochqualitativen Handwerk und der Innovationskraft der Studierenden auch die Kreationen als Gesamtkunstwerk“, sagt
Baumgartner. Es ginge dem Publikum weniger um die
Alltagstauglichkeit der Entwürfe, sondern um Ideen und
Konzepte der Show: Frisuren und Make-up der Models
müssen genauso zum selbst gewählten Thema passen wie
Accessoires, Musik, Lichtdramaturgie und die auf großer Leinwand eingespielten Videos. In diesem Jahr hat
sich etwa der Absolvent Son Chu dem Polygon, also dem
Vieleck, gewidmet. Chu spiegelt das Thema Geometrie in
den Silhouetten und Mustern seiner Kleider wider: Eine
schulterfreie Abendrobe zieren Vielecke, die wie Kristalle anmuten und als Gesamtbild an ein Kaleidoskop erinnern. Die Absolventin Ann-Christin Schmitz befasste sich
mit der Bedeutung von Heimat im Zeitalter der Globalisierung – sie mixte Mieder und Lederhosen.
Auch Entscheidungsträger wie Unternehmenschef Luca
Strehle von Strenesse halten es für wichtig, dass junge
Designer vor allem über eine ästhetische Urteilskraft verfügen, wenn sie etwas entwerfen. „Sie müssen sich in der
Modegeschichte orientieren und gleichzeitig den Zeitgeist
lesen können“, sagt er, „und sie brauchen genug Realismus,
um ihre Vision für den Markt umzusetzen.“ Die Ansprüche
an den Nachwuchs sind gestiegen, die Herausforderung,
passende Lehrinhalte zu entwickeln, im gleichen Maße.
Letzendlich müssen Ausbilder vor diesem Hintergrund
fördern, um was es schon gestern im Bereich Design ging:
die Entwicklung einer eigenen Handschrift. |
AMD Akademie Mode & Design
Die Akademie bildet seit 25 Jahren aus: An den Studienzentren
in Hamburg, Düsseldorf, München und Berlin sind über 1500
Studenten eingeschrieben. In der dort ansässigen School of
Fashion werden die Bachelorstudiengänge Mode-Design,
Mode- und Designmanagement angeboten, an der School
of Design sind es Raumkonzept und Design sowie Visual and
Corporate Communication. Und ab Herbst 2014, nach erfolgter
Akkreditierung, zudem Crossmedia Communication, Design
Innovation and Management sowie Management in Creative Industries (MBA). Neben dem Studienangebot der AMD und des
Fachbereichs Design gibt es hier auch den deutschlandweit
einzigen Ausbildungsgang Modejournalismus.
›21
Karriere
Von
einem,
der
auszog ...
… um die Berufswelt zu erobern: Alexander Lehmann hat nach seinem Fachhochschuldiplom in Medienwirtschaft einen Job beim Fernsehen gefunden – und damit die perfekte Verbindung aus Theorie und Praxis.
„
Protokoll Andin Tegen · Foto Tilman Schenk
Ein Junge steht vor einem Getränkeautomaten. Er wirft
eine Münze ein, drückt auf die Taste ‚Cola‘, holt die Dose
heraus und stellt sie auf den Boden. Er wiederholt das Ganze, stellt
die zweite Dose neben die erste – und nutzt die beiden als Trittleiter.
Nun erreicht er die Taste, an die er wirklich heranwill: Er drückt
auf 'Pepsi', nimmt die Dose und verschwindet – dieser Werbespot
wurde vor ein paar Jahren an der Hochschule Fresenius im Fach
Wirtschaft & Medien analysiert und steht für alles, was mir im Berufsleben wichtig ist: einem großen Publikum eine Botschaft zu
vermitteln, die zugleich humorvoll, provozierend und filmisch gut
umgesetzt wird. Und dabei maßgeblich an der Kostenkalkulation
mitzuwirken. Es braucht einfach gute Unterhaltung, um ein Produkt zu verkaufen, und neben einer Menge schwacher Kampagnen
gibt es eben geniale wie die von Pepsi, die mich bei meiner Arbeit
inspirieren.
Heute bin ich Sales Manager bei Super RTL in Köln und berate
Werbekunden darin, wie sie ihre Spielekonsolen, ihre Miniponys
oder Superhelden-Figuren werblich in Szene setzen können. Ich
analysiere die für den Kunden wichtigen Zielgruppen oder überlege mir Onlinespiele und Gewinnspiel-Spots, die mit dem Produkt
verknüpft sind. Als ich mich 2008 an der Hochschule Fresenius
immatrikuliert habe, wollte ich mehr darüber wissen, wie sich der
kreative Prozess bei der Vermarktung mit dem betriebswirtschaftlichen Aspekt verbinden lässt. Zuvor hatte ich eine Ausbildung zum
›22
Werbekaufmann absolviert – nun studierte ich neben meinem Job
in der Agentur. Mein Beruf war inhaltlich eine gute Grundlage für
das Studium, weil ich schon Erfahrungen im Projektmanagement
von Marketingkampagen hatte sammeln können. Aber die reine
Agenturarbeit hatte mir irgendwann nicht mehr gereicht. Es reizte
mich, einen noch stärkeren Einblick in die Medien zu erhalten, und
das Studium lotste mich genau in diese Richtung: Im Bereich Sales
& Marketing von Super RTL überlege ich heute, wie man etwa Spielzeug gut werblich inszenieren kann.
Dabei helfen mir die Inhalte aus meinem Studium von damals,
etwa aus dem Fach Medienpsychologie: Auf welche Sinnesreize reagiert der Kunde am stärksten, wenn er Werbung anschaut? Warum
sieht er zuerst auf Gesichter und dann erst auf das Produkt oder
das Logo? Ich profitiere auch von meinen Kenntnissen in VWL und
BWL. Umfangreiche Kostenkalkulationen fallen mir leicht, obwohl
Mathe nie zu meinen favorisierten Schulfächern gehörte. Um eine
Eins in Mathematik geht es aber nicht. Sondern darum, ein Gefühl
für Geld zu haben und während eines Projekts die Kosten im Auge
zu behalten. Die Jahre an der Hochschule waren prägend für mich,
sie haben mir einen neuen Job ermöglicht und die Option auf einen
Führungsposten. Ich erinnere mich gern ans Studium zurück. Auch
wenn ich neben dem Job Vorlesungen besucht habe und oft pauken
musste, während meine Freunde feiern gingen. Diese Jahre waren
hart – aber sie haben sich ausgezahlt.“ |
Gut zu wissen
Mehr Jobs für Kreative, gute Prognosen für fossile Energien, beliebter werdende
nachhaltig erzeugte Produkte: Hier finden Sie weitere Daten zu den Reports im Magazin.
Grafik Alex Ketzer
Was ist Führungskräften
bei Mitarbeitern wichtig?
78 %
Vertrauen 76 % Integrität Verantwortung 65% 58 %
Respekt Nachhaltigkeit 31 %
31 %
Mut Erneuerbare Energien können die Nutzung von Kohle,
Erdöl, Erdgas und nuklearen Energien im Strom- und
Wärmemarkt schrittweise reduzieren und diese langfristig sogar vollständig ersetzen.
Schulen und Universitäten liegen mit 95 %
an der Spitze der Dinge, für die die Menschen
in Deutschland mehr Geld fordern. Es folgen
Renten und Altersvorsorge (89 %), Gesundheitsversorgung (87 %), Kinderbetreuungsmöglichkeiten (85 %) und der Wald (77 %).
Pro Jahr bindet der deutsche Wald rund 110 Millionen Tonnen Kohlendioxid.
Das entspricht in etwa dem jährlichen CO2-Ausstoß durch Pkw in Deutschland.
Jobaussichten Kreativwirtschaft: Die Zahl
Selbstständiger und sozialversicherungspflichtig
Beschäftigter in der Kultur- und Kreativwirtschaft
konnte zwischen 2009 und 2012 durchschnittlich
um jährlich 1,9 % zulegen.
Plötzlicher Sinneswandel: Jeder Zweite
gab 2013 an, häufig nachhaltig erzeugte
Produkte zu kaufen – doppelt so viele
Menschen wie noch vier Jahre zuvor.
%
ie: + 7,0
-Industr
s
e
m
a
nd G
ware- u
0 %
—­Soft
e Künste: + 3,
— Darstellend
— Architektur: + 2,5 %
— Designwirt
schaft: + 1,7 %
— Run
dfunkw
irtscha
ft: + 0,7
%
› Q uellen: w ertekommission.de, Fraunhofer ISE, Forsa, Ottogroup Trendstudie, Bundesministerium für Wirtschaft und Energie
Bildung,
die prägt.