Gericht für Wassersünder (Seiten 62-65)

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Gericht für Wassersünder (Seiten 62-65)
GESELLSCHAFT Recht
Jeden Donnerstag tagt
vor der Kathedrale im
spanischen Valencia das
«Tribunal de las Aguas
de Valencia». Seit 1000
Jahren regelt das Gericht
Streitfragen rund um die
Wasserverteilung auf
den Feldern. Die Bussen
sind gering – die öffentlich zur Schau getragene
Schmach aber umso
grösser.
Text und Fotos: Martin Arnold
D
er Guardia José Borja Pons
Martínez trommelt ungeduldig
mit dem Finger auf den Tisch.
Vor ihm stehen zwei ältere
Männer. «80 Euro Schaden – mindestens», ruft der eine erregt. Der andere,
den Kopf gesenkt, die Augen zu Boden
gerichtet, kneift die Lippen zusammen.
Wenn er jetzt nicht nachgibt, nicht zahlt,
droht – die Schande!
Schweiss tritt dem Mann auf die
Stirne. Blossgestellt vor Freunden, Bekannten, Touristen und Medien, das hat
niemand gerne in einer Gegend, wo man
sich noch kennt und wo Ehre etwas zählt.
Er weiss, hier wird sein Fall anonym behandelt. Draussen wird er erkannt, wird
zum Gespött: ein hoher Preis dafür, dass
er versehentlich das Feld seines Nachbarn unter Wasser gesetzt hat.
«Keine Absicht», brummt er vor sich
hin. Doch Martínez bedeutet ihm, dass er
keine Chance hat. Wasser während seines
Turnus unbeaufsichtigt aufs Feld fliessen
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Gericht für Wass
lassen und sich in der Bar vergnügen, ist
ein sträfliches Vergehen. Das «Tribunal
de las Aguas de Valencia» würde ihn
schuldig sprechen.
Das älteste Gericht der Welt
Schuldig, wie Hunderte vor ihm in der
über tausend Jahre alten Geschichte dieses möglicherweise ältesten Gerichts der
Welt, das jeden Donnerstag punkt zwölf
Uhr mittags vor der Kathedrale in der
spanischen Mittelmeermetropole Valencia tagt. Unter freiem Himmel sitzen
dann acht Männer in schwarzen Talaren
unter dem Portal der gotischen Kirche.
Einst stand hier die Moschee, als die
Mauren die Gegend mit dem Bau von
Tausenden von Kilometern Wasserkanälen zum Erblühen brachten. Es
war Kalif Abderramán III., der für die
Austarierung der Wasserwünsche und
zur Regelung von Streitfragen das Wassergericht gründete. Seine Zuständigkeit
wurde kaum je in Zweifel gezogen, obwohl die Gerichtssprache valencianisch
und nicht spanisch ist.
Wo diese erste und letzte Instanz für
Wasserfragen in der Region mit königlichen Gesetzen im Widerspruch stand,
halfen Dekrete und später im 19. Jahrhundert, als es ein Opfer der neuen, libe-
Recht GESELLSCHAFT
Wasserstürmer statt Wassersünder:
America’s Cup in Valencia
Der America's Cup ist die bekannteste und
älteste Segel-Regatta der Welt. Sie wird seit
1851 in unregelmässigen Abständen ausgetragen.
Den letzten America's Cup gewann 2003 das
Schweizer Team Alinghi. Damit konnte erstmals überhaupt ein europäisches Syndikat,
so wird das Unternehmen rund um die Jacht
genannt, die prestigeträchtige Regatta für
sich entscheiden, und ist Titelverteidiger.
Der America’s Cup findet dieses Jahr im
spanischen Valencia statt. Bestimmt hat den
Austragungsort das Alinghi-Team, da die
Schweiz als Binnenland kein für die Regatta
geeignetes Gewässer hat.
ersünder
ralen Verfassung zu werden drohte, ermöglichten Annexe seinen Fortbestand.
Dem «Ley de las Aguas», dem Wassergesetz, das noch keine 30 Jahre alt ist, hat
es genauso als Modell gedient wie vielen
Staaten Lateinamerikas.
Wasserverteilung
nach Stundenplan
Die Rechtsgrundlage des Tribunals bilden
die ausführlichen Bestimmungen in den
Ordenanzas, den Anweisungen der acht
Wasserbezirke mit 17 000 Hektaren landwirtschaftlichem Boden, welche dem Tribunal angehören.
Das Grundproblem ist einfach: Die
Region Valencia ist fruchtbar, hat aber
wenig Wasser. Das zwingt die Bauern,
damit haushälterisch umzugehen. Jede
Gemeinde verfügt über ein ausgeklügeltes Netz an Kanälen, die zu jedem Acker
führen. Es gibt Hauptleitungen und
Nebenarme erster und zweiter Klasse.
Ein Nebenarm bewässert manchmal
die Felder von einem Dutzend Bauern.
Wenn jetzt der Bauer, dessen Feld am
nächsten zur Mutterleitung liegt, die
Schleusenschieber immer offen hätte,
würde das Gemüse am Ende der Leitung
verdörren. Deshalb gibt es einen Turnus.
Der ist in jeder Gemeinde verschieden. Er
hängt unter anderem auch von der
Wassermenge ab, die der Fluss Turia mit
sich trägt. Meist dürfen die Bauern das
Feld eine Stunde bewässern. Dann muss
der Schieber geschlossen werden und
der Nächste ist dran.
Die Ordenanzas regeln die Gebühren
für den Unterhalt der Leitungen, die Cequiaje, eine Art Wassersteuer, die Wassergebühren und den Umgang mit dem Wasser. Wer es verschmutzt, Leitungen beschädigt oder verändert, wird bestraft.
Die Kleinen bestraft man –
die Grossen auch
Das Gericht macht auch vor Grossen, wie
der staatlichen Eisenbahn Renfe, nicht
Halt. Als Bauingenieur hatte Juaquin Barraquina Ripoll vor einigen Jahren persön-
Gegen die Alinghi tritt der Sieger des vorgängig ausgetragenen Louis-Vuitton-Cups
an. Das Finalrennen zwischen der Alinghi
und dem Herausforderer, Team New Zealand,
wird – so Neptun will – um den 7. Juli stattfinden. Hightech-Jachtrennen sind eine äusserst teure Angelegenheit. Die Budgets der
einzelnen Syndikate betragen teilweise gegen
200 Millionen Franken. Wichtige Grundvoraussetzung, um überhaupt für dieses
prestigeträchtige Rennen qualifiziert zu
werden, ist, dass die in Form, Grösse und
Gewicht streng reglementierten und mit einer
17-köpfigen Crew gesegelten Jachten im Land
des angemeldeten Teams gebaut wurden. kel
lich vor Gericht zu erscheinen, weil er bei
Bauarbeiten kurzerhand die Wasserleitung auf die andere Wegseite verschieben
liess. Niemand sei zu Schaden gekommen. Keiner habe deswegen auf Wasser
verzichten müssen, verteidigte er sich. Es
half nichts. Schuldig.
An die Höhe der Busse kann er sich
nicht mehr erinnern. Doch an das Interesse seiner Mitarbeiter, ihren Chef öffentlich vor Gericht zu sehen, daran kann er
sich noch erinnern.
Auch an das feierliche Zeremoniell,
das der Alguacil, der Gerichtsdiener,
durchführt. Er ruft der Reihe nach die
Síndicos der acht Wasserbezirke auf und
fragt sie, ob es in ihrem Distrikt zu einer
Anklage käme.
Es gibt keine schriftliche Anklageschrift. Angeklagter und Ankläger stehen
sich Auge in Auge gegenüber. Nur die Urteile werden auf einem Stück Papier festgehalten. Sie umfassen in den letzten 50
Jahren gerade mal zwei umschnürte Bündel. Frühere Aufzeichnungen sind verschwunden oder wurden gar nicht erst
gemacht.
Ein Staudamm
als Wunschtraum
Valencias Umgebung hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Triste Industriebauten wuchern, Äcker und Orangenhaine werden immer kleiner. Dafür
macht sich Industriemüll breit.
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innerhalb weniger Minuten. Wird dem
Urteil nicht Folge geleistet, droht die Betreibung oder ein trockener Kanal.
«Die grösste Strafe für mich wäre die
öffentliche Blossstellung», sagt Ramón
Dasí. Der Bauer sät Melonen und hat
kaum Zeit, über die tiefen Preise zu
sprechen, die er für sein Gemüse auf
dem Markt erzielt. Die zwei Hektaren
Land sind wenig. Umso wichtiger ist
eine gute Ernte. Jetzt ist sein Turnus
und er muss sich beeilen, damit er sein
Feld noch bewässern kann.
Wehe, wem die Schande droht
Wasser marsch: Mit Hilfe steinerner Schieber regelt ein Bauer den Wasserfluss für sein Feld
Die Nacht ist längst hereingebrochen.
Es ist kühl um zehn Uhr abends, selbst
in Valencia. Schon von Weitem sind
glühende Zigarettenstummel zu sehen.
Einige Männer stehen im Kreis. «Ein
Fluch ist das», jammert Juan Ferrer, der
zuvor erregt mit seinen Kollegen über die
Erfolge des FC Valencia diskutiert hat.
Einladung für die Sünder
José Ferrer hat eine junge Frau und er
findet es gefährlich, sie um diese Zeit
ständig alleine zu Hause zu lassen. «Andere Männer sind jetzt bei ihren Frauen.
Ich aber muss aufs Feld.» Ferrer ist als
Nächster dran und darf eine Stunde lang
Wasser in seinen Orangenhain fliessen
lassen. Neben ihm stehen die beiden
Bauern, die im Turnus zuvor dran waren
und jener, dessen Feld soeben gewässert
wird. Nächtliche Treffs unter Orangenbäumen oder im Kohlfeld – auch das ist
das Bauernleben in Valencia.
«Wir wollen einen Staudamm», fordert Ferrer. «Dann könnten wir das Wasser nutzen, wann wir wollen.» Der Präsident des Tribunals, der Síndico Francisco
Almenar Cubells, steht auf die Wasser-
leitung und setzt zu einer Ansprache an,
die mit den Worten endet: «Die Herren
reklamieren immer. Aber sie wissen genau, dass wir kein Geld für einen Staudamm haben.»
Die Einhaltung der Vorschriften und
den sorgsamen Umgang mit dem Wasser
kontrolliert die Guardia. Pro Bezirk sind
das mehrere Männer. Sie sind es auch,
die einem Sünder die Einladung für den
kommenden Donnerstag in die Hand
drücken. Dann hat dieser in Valencia zu
erscheinen, und zwar in dem eigenen
Büro, das jeder Wasserbezirk dort besitzt.
Hier bietet sich ihm die letzte Chance,
sich mit dem Geschädigten zu einigen.
Danach muss er sich vor den Richtern
den Vorwürfen der Guardia stellen. Und
dem Publikum. Der Sindico seines eigenen Bezirkes tritt dann in den Ausstand.
Mit sieben Richtern ist ein Mehrheitsurteil garantiert.
Blitzurteil
ohne lästige Anwälte
Kein Angeklagter besitzt einen Verteidiger, keine Rechtsanwälte können das Verfahren verschleppen. Die Richter urteilen
Der Bauer ist darauf bedacht, die Gesetze
einzuhalten. Nicht die Aussicht auf die
geringe Strafe in Sous, die umgerechnet
auf Euro selbst ihm nicht wehtun würde,
schreckt ab, sondern die Schande. Darauf
baut das alte Wasserrechtsystem von Valencia. Und es funktioniert noch immer.
Auch wenn die Landwirtschaft an Bedeutung verliert und Pläne der Regierung,
Wasser aus dem Ebro abzuleiten, um es
bei Almería regelrecht zu verschwenden,
dieses Gericht und den sorgsamen Umgang mit Wasser geradezu verhöhnten.
«Hier stehen Kläger und Angeklagte
einander gegenüber. Die Konfrontation
ist unmittelbar. Das Urteil ist schnell
gesprochen. Man kann nicht dagegen
appellieren und es ist allgemein anerkannt. Es gibt wenige perfekte Dinge
auf dieser Welt. Aber dieses Gericht
gehört dazu», sagt Juaquin Ripoll. Der
Mann muss es wissen. Schliesslich wurde
er als Eisenbahningenieur dort selbst
verurteilt.
■
I N FO B OX
Literatur zu Valencia
• «Valencia und die Costa Blanca»,
Verlag Travel House Media 2007,
ISBN 3-8342-0705-0, Fr. 14.–
• «Valencia Impressionen – Bilder und Texte»,
Verlag Hispa-Guide 2006,
ISBN 3-9808683-2-7, Fr. 17.50
Literatur zum Thema Segeln:
• «Das grosse Buch vom Segeln», Verlag
Delius Klasing 2007,
ISBN 3-7688-1949-7, Fr. 85.50
• Giorgetti: «Segelyachten», Verlag White
Star 2007, ISBN 3-86726-040-4, Fr. 52.30
• Philipp: «Regattasegeln – Strategie und
Taktik», Verlag Delius Klasing 2006,
ISBN 3-7688-1602-1, Fr. 43.70
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