Neue Medien – neue Metaphern? Sprachliche

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Neue Medien – neue Metaphern? Sprachliche
Neue Medien – neue Metaphern?
Sprachliche Erschließung des neuen Mediums Internet
durch Metaphern (deutsch-französisch)
Wissenschaftliche Hausarbeit
zur Erlangung des akademischen Grades
eines Magister Artium
der Universität Hamburg
vorgelegt von
Birte Schnadwinkel
aus Oldenburg
Hamburg 2002
Kontakt: b.schnadwinkel@gmx.de
Inhaltsverzeichnis
1.
Einleitung............................................................................................... 4
2.
2.1
2.2
2.3
2.3.1
2.3.1.1
2.3.2
2.3.3
2.3.4
2.3.4.1
2.3.4.2
2.3.4.3
2.3.5
2.3.5.1
2.3.5.2
2.3.5.3
2.4
Grundzüge einer kognitiven Metapherntheorie................................. 7
Der klassische Metaphernbegriff ............................................................... 7
Das ‘neuere’ Metaphernverständnis .......................................................... 8
Die kognitive Metapherntheorie nach Lakoff und Johnson........................ 9
Die Metapher als alltägliches Phänomen und konzeptuelles Instrument..... 9
Konzeptuelle vs. sprachliche Metaphern – ein Beispiel.............................. 11
Idealisierte kognitive Modelle nach Lakoff ............................................... 13
Ursprungs- und Zielbereiche der metaphorischen Übertragung................. 14
Klassifikation der konzeptuellen Metaphern ............................................. 15
Orientierungsmetaphern ........................................................................... 15
Ontologische Metaphern .......................................................................... 17
Strukturelle Metaphern ............................................................................ 19
Die kognitiven Funktionen der Metapher .................................................. 21
Erklärungs- und Verständnisfunktion ........................................................ 21
Das kreative Potential .............................................................................. 22
Der Fokussierungseffekt .......................................................................... 24
Zusammenfassung .................................................................................... 25
3.
3.1
3.2
3.3
3.4
3.5
3.5.1
Das Internet – seine Geschichte und Entwicklung ...........................
Der militärisch-wissenschaftliche Hintergrund..........................................
Einflüsse aus der alternativen Computer-Szene.........................................
Die Erfindung des Internet als ‘Netz der Netze’ ........................................
Die zweite Geburtsstunde des Internet: das World Wide Web...................
Die jüngste Entwicklung ..........................................................................
Das Internet als Kommunikations- und Informationsmedium in
Krisenzeiten und Notsituationen: der 11. September 2001 .......................
4.
4.1
4.2
4.2.1
4.3
5.
5.1
5.1.1
5.1.2
5.1.3
5.2
Metaphern in der Fachterminologie: die technische Einordung
des Internet ...........................................................................................
Allgemeines zum Gebrauch von Metaphern in Fachsprachen....................
Metaphern in der Fachsprache des Internet ...............................................
Die Entstehung der Metapher ‘Internet-Surfen’ ........................................
Schlußfolgerungen ....................................................................................
Die Metaphorisierung des Internet: soziale und kulturelle
Aspekte .................................................................................................
Zur Herkunft der zentralen Internet-Metaphern ‘Cyberspace’,
‘Datenautobahn’ und ‘globales Dorf’ ........................................................
Die Metapher ‘Cyberspace’ ......................................................................
Die Metapher ‘Datenautobahn’ .................................................................
Die Metapher ‘globales Dorf’ ...................................................................
Zusammenfassung ....................................................................................
26
27
29
30
31
32
35
37
37
39
45
48
49
50
50
55
61
63
3
6.
6.1
6.2
6.5
Korpusanalyse......................................................................................
Zum Textkorpus und zur Methode ...........................................................
Der Cyberspace – ein Raum der unbegrenzten Möglichkeiten, der
Freiheit und Gefahren? .............................................................................
Die Datenautobahn – eine schnelle und leistungsfähige Technologie in
einer guten Infrastruktur? .........................................................................
Non-verbaler Gebrauch der Datenautobahn-Metapher ..............................
Das globale Dorf – ein Ort der Kommunikation und des
Gemeinschaftsgefühls? .............................................................................
Ergebnisse der Korpusanalyse ..................................................................
7.
Schlußbetrachtung und Ausblick....................................................... 100
8.
8.1
8.2
Literaturverzeichnis.............................................................................104
Korpus .................................................................................................... 104
Fachliteratur ............................................................................................ 106
9.
Anhang.................................................................................................. 112
6.3
6.3.1
6.4
65
65
67
83
92
94
99
4
1.
Einleitung
Der Cyberspace. Unendliche Weiten. Wir schreiben das Jahr 2002. Dies sind die
Abenteuer einer jungen Sprachwissenschaftlerin, die aufgebrochen ist, eine neue
Welt zu erforschen. Viele Mausklicks von der Vergangenheit entfernt, dringt sie in
das digitale Zeitalter der Zukunft vor. Auf ihrer mal rasanten, mal schleichenden
Fahrt über die Datenautobahn wird sie vielen Bewohnern des globalen Dorfes
begegnen: den Netz-Pionieren, die es aufbauten, den Netizens, die sich in
Chaträumen und elektronischen Kaufhäusern die Zeit vertreiben – aber auch den
Cyberpiraten, die über das Datenmeer surfen, und den Hackern, die mit VirenAttacken die virtuelle Welt bedrohen.
Natürlich wurde dieser kurze Text speziell für die Einleitung der vorliegenden Arbeit
konzipiert und entstammt somit nicht der Fachliteratur. Er umreißt jedoch in wenigen
Worten das Thema der folgenden Untersuchung: die sprachliche Erschließung eines
neuen Mediums durch Metaphern. In keiner dieser Zeilen wird es explizit genannt,
und doch dürfte jeder medienerfahrene Leser sofort erkennen, daß es sich hier um das
Internet handelt.1 Dieser Effekt wird dadurch erzeugt, daß in dem Text zahlreiche
Metaphern verwendet werden, die jedem Internet-Nutzer geläufig sind. Noch vor
wenigen Jahren hätte derselbe Wortlaut völliges Unverständnis hervorgerufen;
niemand hätte den Sinn dieser Zeilen erschließen können, da das Internet noch bis
zum Beginn der 90er Jahre nur einem relativ begrenzten Kreis von Wissenschaftlern
und Computer-Experten bekannt und zugänglich war. Erst als das Internet durch
verschiedene technische Neuentwicklungen ‘nutzerfreundlicher’ wurde, begann es
auch für den Computer-Laien interessant zu werden. Das neue Medium verbreitete
sich innerhalb kürzester Zeit in weiten Kreisen der westlichen Welt – und mit ihm
zahlreiche neue Metaphern, wie etwa die des Cyberspace oder der Datenautobahn.
1
Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, daß der Begriff „Medium“ in der Literatur sehr
unterschiedlich definiert wird. So ist es keineswegs klar, ob das Internet überhaupt als ‘Medium’
oder lediglich als ‘neue Technologie’ zu sehen ist. Vgl. hierzu z.B. Weischenberg (1998). In der
vorliegenden Arbeit soll der Medienbegriff an die Definition von Rössler (1998b) angelehnt
werden, der zwischen „Medien 1. Ordnung“ und „Medien 2. Ordnung“ (ebd., S. 19) unterscheidet.
Das Internet als Computernetzwerk ist nach dieser Definition ein Medium 1. Ordnung, d.h. ein
technischer Gegenstand mit verschiedenen Nutzungsmöglichkeiten. Die einzelnen Anwendungen
des Internet, wie E-Mail, Internet Relay Chat, World Wide Web etc. sind danach Medien 2.
Ordnung, denn: „Zu den Medien im Sinne einer ‘sozialen Bedeutungsproduktion und -vermittlung’
werden die technischen Medien erst durch die Art und Weise ihres Gebrauchs“ (ebd.).
5
Am Beispiel der deutschen und der französischen Sprache sollen diese ‘InternetMetaphern’ in der vorliegenden Arbeit analysiert werden. Ziel dieser Untersuchung
ist es herauszufinden, wie diese Metaphern verwendet werden: In welchen Kontexten
sind sie hauptsächlich anzutreffen? Werden sie synonym gebraucht oder in jeweils
spezifischen Zusammenhängen? Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede lassen
sich hier für die beiden betrachteten Sprachen feststellen?
Um diesen Fragen nachgehen zu können, muß zunächst ein Blick auf den
Metaphernbegriff geworfen werden. In Abkehr von den klassischen Theorien, die in
der Metapher ein rein sprachliches Phänomen sahen, das ausschließlich ästhetischen
Zwecken dient und somit nur in poetisch-rhetorischen Texten anzutreffen ist, wurde
der Metaphernbegriff in der Sprachwissenschaft des 20. Jahrhunderts grundlegend
erweitert, als die kognitiven und kommunikativen Funktionen der Metapher erkannt
wurden: Sie ist keineswegs nur Zierat poetischer Texte, sondern vielmehr ein
fundamentaler Bestandteil des alltäglichen Sprachgebrauchs. Dieses kognitive
Metaphernverständnis liegt der vorliegenden Arbeit zugrunde. Es basiert auf der
Theorie des Linguisten George Lakoff und des Philosophen Mark Johnson, die in der
Metapher das Ergebnis eines kognitiven Prozesses sehen und sich mit ihrem
Metaphernbegriff deutlich vom traditionellen Verständnis absetzen. Metaphern
strukturieren zum einen die alltäglichen Wahrnehmungen und Handlungen, zum
anderen veranschaulichen sie abstrakte Sachverhalte und erklären komplexe
Zusammenhänge. Es erscheint daher einleuchtend, daß ein von vielen Menschen als
sehr abstrakt und wenig ‘greifbar’ empfundenes Medium wie das Internet mit einer
Vielzahl von Metaphern sprachlich erschlossen wird.
Im folgenden Kapitel wird zunächst das von Aristoteles und Quintilian vertretene
klassische Metaphernverständnis vorgestellt und zu neueren Ansätzen wie der
Interaktionstheorie von Max Black in Beziehung gesetzt. Im Anschluß daran werden
die Grundzüge der kognitiven Metapherntheorie von George Lakoff und Mark
Johnson2
dargestellt.
Entstehungsgeschichte
2
Das dritte Kapitel gibt einen Überblick über die
und
Entwicklung
Im folgenden mit ‘Lakoff/Johnson’ abgekürzt.
des
Internet,
denn
die
6
Kenntnis des historischen und technischen Hintergrundes ist für die Analyse und das
Verständnis von Metaphern grundlegend. In Anlehnung an die onomasiologische
Metaphern-Analyse von Jäkel3 wird im vierten Kapitel die Internet-Fachterminologie
auf metaphorische Ausdrücke hin untersucht, da gerade die Fachsprache zahlreiche
Metaphern aufweist. Im Gegensatz zu diesen von Computer-Experten geprägten
metaphorischen Fachtermini bilden im fünften Kapitel die Internet-Metaphern des
Laien, also des Nutzers ohne profunde Fachkenntnisse, den Untersuchungsgegenstand. Drei sehr verbreitete Metaphern werden auf ihre Herkunft sowie auf die
mit
ihnen
verknüpften
Assoziationen
und
Konnotationen
hin
analysiert:
Cyberspace / cyberespace, Datenautobahn / autoroute de l’information, globales
Dorf / village global. Ziel der Analyse ist die Klärung der Frage, ob diese Metaphern
synonym verwendet werden oder aber aufgrund der ihnen zugeschriebenen
Eigenschaften in einem jeweils spezifischen Kontext anzutreffen sind. Darüber
hinaus wird untersucht, ob die einzelnen Metaphern in den beiden betrachteten
Sprachen unterschiedlich konnotiert sind und es somit zu einem divergenten
Gebrauch kommt.
Zu diesem Zweck werden im sechsten Kapitel exemplarisch französische und
deutsche Pressetexte analysiert, um eventuelle Regelmäßigkeiten in der Verwendung
der betrachteten Internet-Metaphern festzustellen. Hier erscheint eine auf der
semasiologischen
Metaphern-Untersuchung4
basierende
Korpusanalyse
als
sinnvollste Methode: Ausgehend von einer spezifischen Metapher (wie etwa dem
Cyberspace) wird die Fragestellung verfolgt, in welchen Kontexten sie hauptsächlich
auftritt. Das zugrundeliegende Korpus setzt sich aus Artikeln der überregionalen
Zeitungen Le Monde (bzw. deren Internet-Ausgabe Le Monde Interactif ),
L’Humanité, Libération sowie Die Welt, Süddeutsche Zeitung und die tageszeitung
zusammen. Die Verfügbarkeit bildet einen wichtigen Grund für die Auswahl gerade
dieser Zeitungen: Es handelt sich im wesentlichen um Texte aus den kostenlos
zugänglichen Online-Archiven der jeweiligen Zeitung; bei der Süddeutschen Zeitung
standen die Jahresausgaben 1995 und 2000 als CD-ROMs zur Verfügung.5 Das
siebte Kapitel bildet den Abschluß der Untersuchung: Hier werden die Ergebnisse
3
4
5
Vgl. Jäkel (1997), S. 141ff.
Vgl. ebd., S. 143.
Eine ausführliche Beschreibung des untersuchten Textkorpus sowie der Analysemethode erfolgt im
6. Kapitel.
7
der Arbeit zusammengefaßt und ein Ausblick auf mögliche weiterführende Studien
gegeben.6
2.
Grundzüge einer kognitiven Metapherntheorie
2.1
Der klassische Metaphernbegriff
Das klassische, seit der Antike geltende Metaphernverständnis betrachtete die
Metapher (von griech. metaphorá - „Übertragung“) als rein sprachliches Phänomen,
das der poetisch-rhetorischen Ausschmückung der Rede dienen und somit in erster
Linie ästhetischen Ansprüchen genügen sollte. Diesem klassischen Verständnis
zufolge weichen metaphorische Äußerungen von der sprachlichen Norm ab und
wirken auf diese Weise oftmals „erkenntnisverhindernd“7 – weshalb sie in
‘alltäglicher Rede’8 und informativen Texten angeblich nicht vorkommen.
„Charakteristisch [...] für das vorherrschende Metaphernverständnis ist die Überzeugung,
eine Metapher sei ein stets auf literale Bedeutung reduzierbares, rein ästhetischen Zwecken
dienendes, sprachliches Phänomen, welches an feststellbare Ähnlichkeiten objektiv
existierender Sachverhalte oder Dinge in der Welt gebunden sei.“9
Die Metapher wird als ein auf objektiven Ähnlichkeiten basierender Vergleich
angesehen, bei dem das eigentlich gemeinte Wort durch einen ‘uneigentlichen’,
metaphorischen
Begriff
ersetzt
Ausdrucksform
eines
letztlich
wird.
auch
Sie
dient
damit
nicht-metaphorisch
als
künstlerische
beschreibbaren
Sachverhaltes. Begründer dieser Substitutions- und Vergleichstheorie sind Aristoteles
6
7
8
9
Ein Hinweis zur Literaturangabe: Internet-Dokumente werden in der Fußnote wie folgt angegeben:
Name des Autors (Erscheinungsjahr), Internet-Adresse. Die Adresse ersetzt die sonst übliche
Seitenzahl, die bei Webseiten naturgemäß entfällt, da es sich hier um ‘fließende Dokumente’
handelt. Nicht immer sind der Name und das Erscheinungsjahr in der jeweiligen Internet-Quelle
vermerkt, so daß in einem solchen Fall nur die Internet-Adresse in die Fußnote aufgenommen
werden kann.
Pielenz (1993), S. 61.
Mit Jäkel (1997, S. 20) sollen die Begriffe ‘alltägliche Rede’ bzw. ‘Alltagssprache’ hier und im
folgenden als Abgrenzung zu ‘künstlerisch-literarischer Sprache’ dienen, ohne daß damit eine
soziolinguistische Einordnung verbunden wäre.
Baldauf (1997), S. 14.
8
und Quintilian.10 Festzuhalten bleibt, daß solche als nicht-konstruktivistisch
bezeichneten Theorien11 in der Metapher ein bewußt eingesetztes, schmückendes,
rein rhetorisches – und somit verzichtbares – Element sehen und keinen
Zusammenhang zwischen der Kognition und dem Erzeugen und Verstehen von
Metaphern herstellen.
2.2
Das ‘neuere’ Metaphernverständnis
Eine deutliche Abkehr von diesem über Jahrtausende geltenden Metaphernbegriff
findet erst im 20. Jahrhundert statt.12 Ein wichtiger Vertreter des ‘neueren’
Metaphernverständnisses ist Max Black mit seiner Interaktionstheorie, die sich
bewußt gegen die „main defects of substitution and comparison views“13 richtet und
der Metapher „eine wesentliche wirklichkeitsstrukturierende Rolle“14 zuweist.15
Demgemäß werden durch eine Metapher zwei verschiedene Gegenstände
miteinander verbunden, die am besten als „Systeme“16 zu sehen sind. Bei diesem
Vorgang werden auf den ersten Gegenstand (das „principal subject“17) bestimmte
„Wissensbestände“18 übertragen, welche in der jeweiligen Sprachgemeinschaft
allgemein mit dem zweiten Gegenstand (dem „subsidiary subject“19) assoziiert
werden – ganz gleich, ob diese Wissensbestände einer objektiven Wahrheit
entsprechen oder lediglich auf Hypothesen basieren. Black wählt als Beispiel den
Satz „Man is a wolf“20: Auf das principal subject „man“ werden hier die dem
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wird auf eine differenzierte Darstellung dieser Theorie
verzichtet. Ausführlichere Betrachtungen finden sich zum Beispiel bei Jäkel (1997), S. 89ff.,
Osthus (2000), S. 77ff. sowie Pielenz (1993), S. 61ff.
Vgl. Pielenz (1993), S. 59f.
Allerdings weist Baldauf (1997, S. 286) darauf hin, daß sich bereits „im Rahmen der historischvergleichenden Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts [...] Grundgedanken des neuen
Metaphernverständnisses wiederfinden [lassen] [...].“ Und auch Jäkel (1997, S. 121f.) benennt
Vorläufer aus dem 19. Jahrhundert zu dem im 20. Jahrhundert entwickelten Metaphernbegriff, so
zum Beispiel Franz Wüllner (1827), Johann Adam Hartung (1831) und Hermann Paul (1880).
Black (1962), S. 38.
Pielenz (1993), S. 63, Hervorhebung im Original.
Jäkel (1997, S. 99) weist allerdings darauf hin, daß Blacks Theorie eine Weiterentwicklung des
bereits 1936 von Ivar Armstrong Richards begründeten metapherntheoretischen Ansatzes darstellt.
Black (1962, S. 44) spricht hier von „‘systems of things’, rather than ‘things’“.
Ebd.
Jäkel (1997), S. 101. Black (1962, S. 40) spricht hier von einem „system of associated commonplaces“.
Black (1962), S. 44.
Ebd., S. 39f.
9
subsidiary subject „wolf“ zugeschriebenen Merkmale projiziert. Bei dieser
metaphorischen Übertragung kommt es zu einer Veränderung in der Wahrnehmung:
„Man“ erscheint jetzt in einem anderen Licht, da nun die Eigenschaften des „wolf“ in
ihm gesehen und andere Charakteristika verdeckt werden. Eine metaphorische
Aussage kann demnach zu einer veränderten Sichtweise führen.
Somit weist die Interaktionstheorie im Gegensatz zur klassischen Substitutions- und
Vergleichstheorie schon „starke kognitive Ansätze“21 auf. Sie betrachtet die
Metapher nicht mehr als rein sprachliches Phänomen, sondern sieht in ihr ein
einflußreiches Instrument zur Gestaltung und Strukturierung unserer Wirklichkeit.22
Mit der Substitutions- und Vergleichstheorie hat die Interaktionstheorie jedoch
gemeinsam, daß sie sich in erster Linie auf kreative und innovative Metaphern
bezieht und dabei die durch den alltäglichen Sprachgebrauch konventionalisierten
Metaphern weitestgehend vernachlässigt.23
Dies ändert sich erst mit Lakoff und Johnson, die bei der Entwicklung ihrer
Metapherntheorie
Fragen
nach
der
Allgegenwart,
nach
dem
Grad
der
Konventionalisierung und vor allem nach dem kognitiven Status der Metapher ins
Zentrum rücken.
2.3
Die kognitive Metapherntheorie nach Lakoff und Johnson
2.3.1 Die Metapher als alltägliches Phänomen und konzeptuelles
Instrument
Das Buch Metaphors we live by (1980) von George Lakoff und Mark Johnson
bezeichnet einen Wendepunkt in der Metaphernforschung.24 Die Autoren entwickeln
darin eine Theorie, die in der Metapher ein konzeptuelles Instrument sieht, das von
allen Menschen im alltäglichen Sprachgebrauch unbewußt genutzt wird:
21
22
23
24
Jäkel (1997), S. 102.
Ausführlichere Betrachtungen der Interaktionstheorie finden sich zum Beispiel bei Jäkel (1997),
S. 99ff., Osthus (2000), S. 83ff. sowie Pielenz (1993), S. 63f.
Vgl. hierzu Jäkel (1997), S. 105f.
Darüber hinaus wird im folgenden auf weitere wichtige Werke der beiden Theoriebegründer Bezug
genommen: Johnson (1987), Lakoff (1987) sowie Lakoff/Turner (1989).
10
„[...] metaphor is pervasive in everyday life, not just in language but in thought and action.
Our ordinary conceptual system, in terms of which we both think and act, is fundamentally
metaphorical in nature.“25
In Abkehr vom traditionellen Metaphernverständnis werden Metaphern hier nicht nur
als Teil der Sprache, sondern als ein das menschliche Denken und Handeln
umfassendes Phänomen gesehen. Dieser Metaphernbegriff legt ein konzeptuell
metaphorisches System zugrunde, das den Menschen dazu befähigt, seine
alltäglichen Wahrnehmungen und Handlungen zu strukturieren:
„The concepts that govern our thought are not just matters of the intellect. They also govern
our everyday functioning, down to the most mundane details. Our concepts structure what
we perceive, how we get around in the world, and how we relate to other people. Our
conceptual system thus plays a central role in defining our everyday realities. If we are right
in suggesting that our conceptual system is largely metaphorical, then the way we think,
what we experience, and what we do every day is very much a matter of metaphor.“26
Der Mensch ist demnach metaphorisch konzeptuell strukturiert, und seine täglichen
Erfahrungen, sein Denken und Handeln werden durch dieses metaphorische System
bestimmt. Pielenz führt diese Gedanken weiter:
„[...] da das konzeptuelle System des Menschen fundamental ist, also ein Raster aller
menschlichen kognitiven Fähigkeiten vorstellt, muß auch die Sprache als eine zentrale
kognitive Fähigkeit konzeptuell determiniert sein. Und da das konzeptuelle System, so die
These, metaphorisch ist, müssen die metaphorischen Strukturen in der Sprache aufzufinden
sein.“27
Sprache reflektiert also das metaphorisch strukturierte Konzeptsystem des Menschen
und ist somit ebenfalls grundlegend metaphorisch strukturiert – Metaphern können
als humanes Konstruktionsprinzip betrachtet werden.
Lakoff/Johnson bringen den Kern ihrer Theorie in einem mittlerweile vielzitierten
Satz auf den Punkt: „The essence of metaphor is understanding and experiencing one
kind of thing in terms of another.“28 Das Wesen der Metapher besteht demnach darin,
daß der Mensch durch sie eine Sache oder einen Vorgang mit Hilfe von Begriffen
einer anderen Sache bzw. eines anderen Vorgangs verstehen und erfahren kann. Daß
es im alltäglichen Diskurs überhaupt zu sprachlichen Metaphern kommt, ist allein der
Tatsache zu verdanken, daß der Mensch über ein metaphorisch strukturiertes
25
26
27
28
Lakoff/Johnson (1980), S. 3.
Ebd.
Pielenz (1993), S. 67, Hervorhebung im Original.
Lakoff/Johnson (1980), S. 5, Hervorhebung im Original.
11
Konzeptsystem verfügt.29 Aus diesem Grund unterscheiden Lakoff/Johnson zwischen
der sprachlichen und der konzeptuellen Metapher. Der Begriff „Metapher“ ist somit
prinzipiell mehrdeutig und kann sich sowohl auf die sprachliche als auch auf die
konzeptuelle Ebene beziehen. Im Zweifel muß die jeweilige Bedeutung aus dem
Kontext erschlossen werden. Jäkel resümiert:30
„Konzeptuelle Metaphern bestehen in der systematischen Verbindung zwischen zwei
verschiedenen konzeptuellen Domänen, von denen die eine (X) als Zielbereich (target
domain) und die andere (Y) als Ursprungsbereich (source domain) der metaphorischen
Übertragung (metaphorical mapping) fungiert. Auf diese Weise wird X als Y verstanden,
die eine konzeptuelle Domäne durch Rückgriff auf einen anderen Erfahrungsbereich
kognitiv verfügbar gemacht [...] .“31
Die metaphorische Übertragung findet nicht etwa auf der sprachlichen, sondern auf
der konzeptuellen Ebene zwischen zwei unterschiedlichen Konzeptbereichen statt.
Auf der sprachlichen Ebene schlägt sich dieser Vorgang dann in „verschiedenen
konventionell-metaphorischen Redewendungen“32 nieder. Diese auf den ersten Blick
sehr komplex erscheinende Theorie erläutern Lakoff/Johnson mit Hilfe zahlreicher
Beispiele, von denen einige im folgenden vorgestellt werden.33
2.3.1.1 Konzeptuelle vs. sprachliche Metaphern – ein Beispiel
Was genau ist nun ein metaphorisches Konzept? Auf welche Weise strukturiert es
alltägliche Wahrnehmungen und Handlungen? Zur Verdeutlichung wählen
Lakoff/Johnson u.a. das Konzept ZEIT und die konzeptuelle Metapher ZEIT IST
29
30
31
32
33
Vgl. ebd., S. 6.
Jäkel (1997), S. 21, Hervorhebungen im Original.
Die Terminologie der source und target domain sowie des mapping führen Lakoff und Johnson
erst 1987 ein: „Each metaphor has a source domain, a target domain, and a source-to-target
mapping“ (Lakoff 1987, S. 276); vgl. auch Johnson (1987), S. 116.
Jäkel (1997), S. 22.
Anmerkung: Jäkel (1997, S. 132ff.) weist darauf hin, daß der deutsche Sprachwissenschaftler
Harald Weinrich bereits 1958 und 1976 „quasi eine europäische Vorwegnahme der Theorie
Lakoffs und Johnsons“ (ebd., S. 139) vornimmt, die in der anglophonen Welt jedoch kaum
rezipiert wurde. Weinrich prägt in seiner Theorie andere Termini, die jedoch durchaus
Entsprechungen in der Theorie von Lakoff/Johnson finden: Die konzeptuelle Metapher entspricht
Weinrichs „Bildfeld“, der Ursprungsbereich (source domain) ist Weinrichs „bildspendendes Feld“,
der Zielbereich (target domain) das „bildempfangende Feld“ (vgl. ebd.).
12
GELD.34 Diese schlägt sich in unserer Alltagssprache in einer ganzen Reihe
sprachlicher Metaphern nieder:35
(1a)
ZEIT IST GELD
Du vergeudest/verschwendest meine Zeit.
Dies wird Ihnen viel Zeit ersparen.
Dieser platte Reifen kostete mich eine Stunde.
Lohnt sich das zeitlich für dich?
Der Zeitgewinn ist enorm.
Ich habe keine Zeit zu verlieren.
Danke, daß Sie sich für uns Zeit genommen haben.
(1b)
LE TEMPS, C’EST DE L’ARGENT
Tu me fais perdre mon temps.
Cela vous fera gagner des heures et des heures.
Réparer ce pneu crevé m’a coûté une heure.
Cela vaut-il la peine que tu y consacres ton temps?
Le gain de temps est énorme.
Je n’ai pas de temps à perdre.
Merci de nous avoir donné de votre temps.
Auch andere Sprachen unseres Kulturraumes verfügen über metaphorische
Ausdrücke dieser Art (englisch z.B. time is money, to spend time, this costs me an
hour, to waste time; spanisch z.B. el tiempo es oro, perder el tiempo, me falta
tiempo). Das abstrakte Konzept der Zeit wird in der abendländischen Kultur also
offensichtlich mit der Terminologie des Geldes metaphorisiert, was darauf hindeutet,
daß hier die Zeit (wie das Geld) als knappe Ressource und wertvolles Gut betrachtet
wird. Dies verdeutlicht schon allein die Tatsache, wie vielfältig die konzeptuelle
Metapher ZEIT IST GELD in unserem Kulturkreis angewendet wird36:
Telefongebühren werden pro Zeiteinheit gezahlt, Arbeit wird in Stunden-, Monatsoder Jahreslöhnen vergütet, Hotelpreise gelten pro Übernachtung (auch dies ist eine
Zeiteinheit), Unternehmen stellen einen Jahresetat auf etc. Im Juli 2001 wird unter
deutschen Politikern gar über die Einführung von „Lebensarbeitszeitkonten“ für
Arbeitnehmer diskutiert.
34
35
36
Im folgenden wird die Notierungsweise von Lakoff/Johnson übernommen, die KONZEPTUELLE
METAPHERN zur besseren Unterscheidung von sprachlichen Metaphern in VERSALIEN
darstellt.
Vgl. Lakoff/Johnson (1980), S. 7f. Da sich die vorliegende Arbeit im wesentlichen auf deutsches
und französisches Sprachmaterial beziehen soll, wird hier und im folgenden auf die englischen
Originalbeispiele verzichtet und auf deutsche und französische Sprachbeispiele zurückgegriffen.
Bei ersteren handelt es sich um eigene Übersetzungen, während letztere der französischen
Übersetzung von Metaphors we live by (Les métaphores dans la vie quotidienne, Paris 1985)
entnommen wurden.
Vgl. Lakoff/Johnson (1980), S. 8.
13
So strukturiert das metaphorische Konzept ZEIT IST GELD (bzw. die daraus
folgenden metaphorischen Konzepte ZEIT IST EINE KNAPPE RESSOURCE und
ZEIT IST EIN WERTVOLLES GUT) tatsächlich ganz alltägliche Aktivitäten. Wir
handeln in der Tat so, als ob die Zeit (wie das Geld) ein wertvolles Gut sei, und dies
schlägt sich in der Art und Weise nieder, wie wir mit ihr umgehen: Zeit ist für uns
etwas, das man verschenken, sparen, investieren, verschwenden oder verlieren
(französisch: donner, épargner, investir, gaspiller, perdre) kann. Wir greifen bei der
Konzeptualisierung der Zeit auf unsere alltäglichen Erfahrungen im Umgang mit
Geld, knappen Ressourcen und Wertgegenständen zurück.
„Somit liefert die konzeptuelle Metapher ZEIT IST GELD die semantische Motivation für
eine ganze Reihe konventioneller Redeweisen, sprachlicher Metaphern und idiomatischer
Ausdrücke, die ansonsten als arbiträr angesehen werden müßten. [...] Einzelne
metaphorische Ausdrücke sind nicht isoliert zu sehen, sondern als sprachliche
Realisierungen konzeptueller Metaphern.“37
2.3.2 Idealisierte kognitive Modelle nach Lakoff
George Lakoff entwickelt die kognitive Metapherntheorie noch weiter.38 Er geht
davon aus, daß einzelne konzeptuelle Metaphern oftmals miteinander vernetzt sind
und somit komplexe Strukturzusammenhänge bilden, mit deren Hilfe wir unser
Wissen organisieren:
„The main thesis [...] is that we organize our knowledge by means of structures called
idealized cognitive models, or ICMs, and that category structures and prototype effects are
by-products of that organization. [...] Each ICM is a complex structured whole, a gestalt
[...].“39
Diese kognitiven Modelle beruhen auf menschlichen (physischen wie kulturellen)
Erfahrungen und bilden ein „gestalthaftes Hintergrundwissen“40, welches unbewußt
das Weltbild – und somit auch das Denken und Handeln – einer Sprachgemeinschaft
bestimmt.41 In der Sprache schlagen sich solche kognitiven Modelle in
37
38
39
40
41
Jäkel (1997), S. 23f.
Vgl. Lakoff (1987), S. 68ff.
Ebd., S. 68, Hervorhebung im Original.
Baldauf (1997), S. 72.
Lakoff (1987, S. 68f.) wählt zur Verdeutlichung das christlich-abendländische Modell der 7-TageWoche. Obwohl es sich nur um ein idealisiertes Modell handelt („Seven-day weeks do not exist
objectively in nature. They are created by human beings“, ebd., S. 69), organisieren wir unser
14
metaphorischen Ausdrücken nieder – weshalb Lakoff/Johnson davon ausgehen, daß
„the way we think, what we experience, and what we do every day is very much a
matter of metaphor.“42
Auf eine eingehendere Betrachtung der Theorie der idealized cognitive models soll
im Rahmen dieser Arbeit verzichtet werden.43 Festzuhalten bleibt jedoch, daß die
kognitive Metapherntheorie weit über die Beschreibung sprachlicher Phänomene
hinausgeht, denn mit der Annahme komplexer kognitiver Modelle, die aus einem
System zusammenhängender konzeptueller Metaphern bestehen, leistet sie „auch im
übergeordneten Rahmen der Kognitionswissenschaften einen eigenständigen Beitrag
zur Erfassung kognitiver Strukturen der Wissensorganisation.“44
2.3.3 Ursprungs- und Zielbereiche der metaphorischen Übertragung
Wie funktioniert nun die metaphorische Übertragung? Welcher Natur sind die bereits
erwähnten Ursprungs- und Zielbereiche, und wie werden diese miteinander
verbunden? Die kognitive Metapherntheorie geht davon aus, daß ein abstrakter und
komplexer Gegenstandsbereich (die Zieldomäne) durch „den metaphorischen
Rückgriff“45 auf einen konkreteren, einfacher strukturierten und erfahrungsnäheren
Gegenstandsbereich (die Ursprungsdomäne) konzeptualisiert wird:
„The metaphors come out of our clearly delineated and concrete experiences and allow us
to construct highly abstract and elaborate concepts [...].“46
Der Mensch hat demnach die Tendenz, das weniger Konkrete in den
Begrifflichkeiten des Konkreteren zu verstehen47 und drückt deshalb in der Regel
einen abstrakten Sachverhalt in der Terminologie eines für ihn ‘greifbareren’ (weil
erfahrungsnäheren und somit vertrauteren) Gegenstandsbereiches aus. Um bei dem
bereits erwähnten Beispiel der konzeptuellen Metapher ZEIT IST GELD zu bleiben:
42
43
44
45
46
Leben nach ihm. In anderen Kulturkreisen existieren zum Teil völlig andere kalendarische
Strukturen, so daß es dort auch zu anderen ICM’s kommt.
Lakoff/Johnson (1980), S. 3.
Ausführlichere Darstellungen finden sich außer bei Lakoff (1987), S. 68ff. zum Beispiel bei
Baldauf (1997), S. 71ff. sowie Osthus (2000), S. 126ff.
Jäkel (1997), S. 26, Hervorhebung im Original.
Ebd., S. 27.
Lakoff/Johnson (1980), S. 105.
15
Das abstrakte Konzept ZEIT bildet den Zielbereich, auf den die Strukturen und
Begrifflichkeiten des als konkreter und ‘greifbarer’ empfundenen Ursprungsbereiches
GELD projiziert werden. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, daß die Übertragung
dabei zumeist „unidirektional“48 verläuft, das heißt vom Konkreten zum Abstrakten –
nicht umgekehrt oder bidirektional, wovon beispielsweise die Interaktionstheorie
ausgeht.49
2.3.4 Klassifikation der konzeptuellen Metaphern
Lakoff/Johnson unterscheiden bei den Metaphernkonzepten und -systemen drei große
Gruppen alltäglicher Metaphorik: Metaphern der räumlichen Orientierung,
ontologische und strukturelle Metaphern. Diese werden im folgenden näher
dargestellt.
2.3.4.1 Orientierungsmetaphern
Die „orientational metaphors“50 ergeben sich aus den Grunderfahrungen des
Menschen vom Raum, in dem er sich in verschiedene Richtungen bewegen kann und
den er sich mit Hilfe von horizontalen und vertikalen Achsen strukturiert. Der
Mensch orientiert sich also an seinen körperlich motivierten räumlichen Gegensätzen
wie oben-unten, innen-außen, vor-hinter, vor-zurück, über-unter etc. und überträgt
diese
47
48
49
50
51
durch
einen
metaphorischen
Prozeß
auf
abstrakte
Sachverhalte.51
Vgl. ebd., S. 109.
Vgl. Jäkel (1997), S. 28f.
Zum Aspekt der bidirektionalen Metaphorisierung ist jedoch auf eine neuere Arbeit von Settekorn
(1997) hinzuweisen. Settekorn kann am Beispiel der Bereiche SPORT und WIRTSCHAFT
belegen, daß eine gegenseitige Metaphorisierung zweier Domänen durchaus möglich ist und auch
praktiziert wird: „Il s’agit de la métaphorisation mutuelle de domaines qui est pratiquée de plus en
plus intensément dans les discours de mass-médias. Les domaines sources et les domaines cibles y
sont utilisés par substitution mutuelle. [...] Sport et économie sont les deux domaines, dans lesquels
les processus de métaphorisation mutuelle sont particulièrement appréciés“ (ebd., S. 206,
Hervorhebung im Original). Die beiden Bereiche stehen sich also gegenseitig als source und target
domain zur Verfügung.
Lakoff/Johnson (1980), S. 14.
Eine erweiterte Untersuchung hierzu findet sich in Johnson (1987).
16
Lakoff/Johnson nennen hierfür zahlreiche Beispiele52, von denen einige im folgenden
aufgeführt werden:
(2a)
GLÜCKLICH SEIN IST OBEN; TRAURIG SEIN IST UNTEN
sich obenauf fühlen
den Geist beflügeln
im siebten Himmel sein
niedergeschlagen sein
die Stimmung sank
(2b)
LE BONHEUR EST EN HAUT; LA TRISTESSE EST EN BAS
être aux anges
cela m’a remonté la morale
être au septième ciel
être déprimé
il est retombé dans la dépression
(3a)
MEHR IST OBEN; WENIGER IST UNTEN
die Zahl der Bücher, die jedes Jahr gedruckt werden, steigt stetig
die künstlerischen Aktivitäten dieses Staates sind letztes Jahr gesunken
mein Einkommen ist gestiegen/gefallen
unter 18 sein
(3b)
LE PLUS EST EN HAUT; LE MOINS EST EN BAS
le nombre de livres imprimés chaque année ne cesse de s’élever
mes revenus ont grimpé/chuté l’année dernière
le volume des activités artistiques a baissé
il est en-dessous de la limite d’âge
(4a)
GUT IST OBEN; SCHLECHT IST UNTEN
die Entwicklung zeigt nach oben
letztes Jahr haben wir eine Spitze/einen Höhepunkt erreicht, aber jetzt geht es bergab
die Lage hat einen Tiefpunkt erreicht
er verrichtet hochwertige Arbeit
(4b)
LE BON EST EN HAUT; LE MAUVAIS EST EN BAS
l’espoir remonte
nous avons atteint un sommet l’année dernière, mais les choses sont sur le déclin depuis
les choses en sont au point le plus bas jamais atteint
il fait un travail de haute qualité
Diese Beispiele zeigen, wie der Mensch sich mit Hilfe eines metaphorischen
Übertragungsprozesses einen abstrakten Vorstellungsbereich erschließt, indem er
sich eine Orientierung analog zu seiner räumlichen Erfahrung verschafft. Er macht
sich also bei der Darstellung und Vergegenwärtigung eines abstrakten Sachverhaltes
seine alltäglichen Erfahrungen im physischen Raum zunutze.
52
Vgl. Lakoff/Johnson (1980), S. 14ff.
17
2.3.4.2 Ontologische Metaphern
Ebenso wie die Orientierungsmetaphern nutzen die „ontological metaphors“53
elementare Alltagserfahrungen des Menschen. Diese beziehen sich jedoch auf die
Erfahrungen mit konkreten Objekten und Substanzen in seiner Umwelt, die auf
abstrakte Vorstellungen projiziert werden und ihnen die Eigenschaften von Objekten
bzw. Substanzen verleihen. Wenn eine Erfahrung erst einmal als Entität oder
Substanz identifiziert wurde, kann man sich auf sie beziehen, sie kategorisieren, sie
quantifizieren und letztlich über sie reflektieren.
„Just as the basic experiences of human spatial orientation give rise to orientational
metaphors, so our experiences with physical objects (especially our own bodies) provide the
basis for an extraordinarily wide variety of ontological metaphors, that is, ways of viewing
events, activities, emotions, ideas, etc., as entities and substances.“54
Die einzelnen ontologischen Metaphern dienen dabei unterschiedlichen Zwecken,
und die verschiedenen Arten von Metaphern spiegeln die Zielsetzungen wider, für
die sie gebraucht werden können. Sie sind daher äußerst vielfältig und häufig im
Sprachgebrauch
Lakoff/Johnson
anzutreffen.
zahlreiche
Auch
für
55
Beispiele ,
diese
von
Metaphern-Gruppe
denen
einige
im
nennen
folgenden
herausgegriffen werden.
(5a)
DER MENSCHLICHE GEIST IST EINE MASCHINE
Meine Denkmaschine ist heute nicht in Betrieb/funktioniert heute nicht.
Jetzt kommen meine Gedanken in Fahrt.
Ich bin/mein Gehirn ist etwas eingerostet.
Wir haben schon den ganzen Tag an diesem Problem gearbeitet und haben nun keine Kraft
mehr/sind nun kaputt.
(5b)
L’ESPRIT EST UNE MACHINE
Mon esprit est incapable de fonctionner aujourd’hui.
Ça tourne rond maintenant.
Je suis un peu rouillé aujourd’hui.
J’ai bien travaillé toute la journée mais maintenant je suis en panne.
Seit
der
immer
größeren
Verbreitung
des
Computers
läßt
sich
dieser
Metaphernbereich sogar noch um metaphorische Ausdrücke aus einem Bereich
erweitern, den man am besten mit DER MENSCHLICHE GEIST IST EIN
53
54
55
Ebd., S. 25.
Ebd.
Vgl. ebd., S. 26ff.
18
COMPUTER beschreiben könnte. In der alltäglichen Sprache schlägt sich dieses
Konzept in Ausdrücken wie „Hast du das abgespeichert?“, „Meine Festplatte
streikt.“ oder „Ich brauche mehr Input.“ nieder.56
Zu den ontologischen Metaphern zählen Lakoff/Johnson auch die sogenannten
Behältermetaphern.57 Mit ihrer Hilfe erhalten abstrakte Sachverhalte (seien es
Ereignisse, Tätigkeiten, Emotionen oder Zustände) klare Grenzen und somit ein
„Inneres“ und ein „Äußeres“. So werden die verschiedensten Emotionen und
Zustände als Behältnisse metaphorisiert, zum Beispiel:
(6a)
Er ist in Liebe entbrannt.
Wir sind aus den Schwierigkeiten heraus.
Er wacht aus dem Koma auf.
Er ist in Form.
Er verfiel in Euphorie.
Er fiel in eine tiefe Depression.
(6b)
Il est en plein désespoir.
Il sort du coma.
Je suis en forme.
Il est entré dans une phase d’euphorie.
Il a plongé dans la dépression.
Als eine besonders bemerkenswerte Form ontologischer Metaphern betrachten
Lakoff/Johnson das Phänomen der Personifizierung:
„Perhaps the most obvious ontological metaphors are those where the physical object is
further specified as being a person. This allows us to comprehend a wide variety of
experiences with nonhuman entities in terms of human motivations, characteristics, and
activities.“58
Hierbei werden abstrakte Sachverhalte und Gegenstandsbereiche nach dem eigenen
menschlichen ‘Vorbild’ konzeptualisiert, gewissermaßen ‘vermenschlicht’, um sie
für den Menschen zu konkretisieren:
56
57
58
Vgl. zu den unterschiedlichen Metaphern für das Denken auch Draaisma (1999).
Vgl. Lakoff/Johnson (1980), S. 29ff.
Ebd., S. 33.
19
(7a)
Seine Theorie erklärte mir das Verhalten der Fabrikhühner.
Diese Tatsache spricht gegen die klassischen Theorien.
Das Leben hat mich enttäuscht.
Die Inflation frißt unsere Gewinne auf.
Seine Religion verbietet ihm den Genuß von Wein.
Die Krankheit warf ihn nieder.
(7b)
Sa théorie m’a fait comprendre le comportement des poulets élevés de manière industrielle.
Ce fait plaide contre les théories classiques.
La vie m’a trompé.
L’inflation dévore tous nos profits.
Sa religion lui interdit de boire du vin.
La maladie l’a frappé.
Die Tatsache, daß ontologische Metaphern (mit ihren ‘Unterklassen’ der
Behältermetaphern und Personifizierungen) in unserem alltäglichen Sprachgebrauch
so
häufig
vorkommen,
in
verschiedensten
Zusammenhängen
praktisch
allgegenwärtig sind und dabei kaum als Metaphern wahrgenommen werden, verweist
auf ihre Funktion als
„[...] wichtige Hilfsmittel der Kognition, die es ermöglichen, Erfahrungen des Alltags
begreifbar und rational wie sprachlich verfügbar zu machen. Eine Anpassung abstrakter,
vager Vorstellungen an die Welt der Konkreta erleichtert ihre Charakterisierung und
ermöglicht eine den Konkreta analoge Strukturierung von Erfahrungen, die weniger klar
umrissen sind.“59
2.3.4.3 Strukturelle Metaphern
In die von Lakoff/Johnson als „structural metaphors“60 bezeichnete MetaphernGruppe fallen jene Metaphern, die einen komplexen Erfahrungsbereich durch einen
vertrauteren Bereich konzeptualisieren. Ein abstrakter Sachverhalt wird durch einen
konkreteren metaphorisch strukturiert: „one concept is metaphorically structured in
terms of another.“61 Ein Beispiel für diese Art von Metaphern ist das bereits oben
erwähnte metaphorische Konzept ZEIT IST GELD.
Als ein weiteres Beispiel wählen Lakoff/Johnson das Konzept ARGUMENTIEREN
und die konzeptuelle Metapher ARGUMENTIEREN IST KRIEG.62 Auch diese
59
60
61
62
Baldauf (1997), S. 22.
Lakoff/Johnson (1980), S. 14.
Ebd.
Vgl. ebd., S. 4ff.
20
schlägt sich in unserer Alltagssprache in einer ganzen Reihe metaphorischer
Ausdrücke nieder:
(8a)
ARGUMENTIEREN IST KRIEG
Ihre Behauptungen sind unhaltbar.
Er griff jeden einzelnen Schwachpunkt meiner Argumentation an.
Seine Kritik traf ins Schwarze.
Ich schmetterte sein Argument ab.
Ich habe noch nie eine Auseinandersetzung mit ihm gewonnen.
Du bist anderer Meinung? Okay, schieß los!
Wenn Du nach dieser Strategie vorgehst, wird er dich vernichten.
Er machte alle meine Argumente nieder.
(8b)
LA DISCUSSION, C’EST LA GUERRE
Vos affirmations sont indéfendables.
Il a attaqué chaque point faible de mon argumentation.
Ses critiques visaient droit au but.
J’ai démoli son argumentation.
Je n’ai jamais gagné sur un point avec lui.
Tu n’es pas d’accord? Alors, défends-toi!
Si tu utilises cette stratégie, il va t’écraser.
Les arguments qu’il m’a opposés ont tous fait mouche.
Auch bei diesem Beispiel wird die Struktur des einen Konzeptes (KRIEG) auf das
andere Konzept (ARGUMENTIEREN) übertragen; das eine läßt sich exakt in der
Terminologie des anderen ausdrücken. Man kann also davon ausgehen, daß wir in
unserem Kulturkreis das Argumentieren als eine Art Krieg oder Kampf auffassen –
wenn auch nicht physisch, so doch zumindest verbal. Unsere Argumentationsstruktur
spiegelt das ‘Kriegsgeschehen’ durch metaphorische Ausdrücke wie Argumente
angreifen/abschmettern, Argumentationsstrategie etc. (französisch: attaquer une
affirmation, démolir l’argumentation, stratégie de l’argumentation etc.) wider. Die
konzeptuelle Metapher ARGUMENTIEREN IST KRIEG bzw. LA DISCUSSION,
C’EST LA GUERRE ist demzufolge eine strukturelle Metapher, nach der wir in
unserer Kultur leben – sie strukturiert unser argumentatives Handeln. Zweifellos
empfinden wir Diskussionen tatsächlich oft als Kampf, bei dem man gewinnen oder
verlieren kann – was darauf hindeutet, daß auch diese konzeptuelle Metapher nicht
nur in unseren Worten präsent ist, sondern in unserem ganzen Denken und Handeln.
Sicherlich gibt es Kulturgemeinschaften, in denen eine gänzlich andere Vorstellung
vom Argumentieren herrscht und deren Mitglieder demzufolge mit unseren
Metaphorisierungen nur schwer etwas anfangen könnten. So weisen Lakoff/Johnson
darauf hin, daß es Kulturen geben mag, in denen das Argumentieren nicht als
21
„Krieg“, sondern als „Tanz“ aufgefaßt wird63 – die Argumentierenden wären hier
Partner und handelten nach rein ästhetisch-künstlerischen Maßstäben. Argumente
wären wohlgeformte und harmonische sprachliche Äußerungen mit dem einzigen
Ziel, sowohl den Argumentierenden selbst als auch dem Publikum Vergnügen zu
bereiten – anstatt wie häufig in unserer Kultur den „Gegner“ mit Hilfe einer klugen
„Strategie“ „niederzumachen“ und die Diskussion zu „gewinnen“. In der Sprache
einer solchen Kultur schlüge sich das Argumentieren in ganz anderen
metaphorischen Begrifflichkeiten nieder, da das argumentative Handeln hier von
einer völlig anderen konzeptuellen Metapher strukturiert würde. Metaphern sind also
Träger von Wertvorstellungen und gelten als Nachweis für soziokulturelle
Phänomene und Prozesse.
2.3.5 Die kognitiven Funktionen der Metapher
Nachdem die drei Metaphern-Gruppen nach Lakoff/Johnson vorgestellt wurden,
sollen nun im folgenden die funktionalen Aspekte untersucht werden. Es lassen sich
im wesentlichen drei kognitive Funktionen der Metapher herausstellen: die
Erklärungs-
bzw.
Verständnisfunktion,
das
kreative
Potential
sowie
der
Fokussierungseffekt.64
2.3.5.1 Erklärungs- und Verständnisfunktion
Wie bereits gesehen, besteht die vielleicht wichtigste Funktion der Metapher darin,
abstrakte Sachverhalte zu konkretisieren. Durch den metaphorischen Rückgriff auf
einen einfacheren, erfahrungsnäheren Ursprungsbereich wird ein als komplex
empfundener Zielbereich verständlich gemacht. Konzeptuelle Metaphern stellen
erklärende
Denkmodelle
bereit,
mittels
derer
Gegenstandsbereiche überhaupt erst zugänglich werden.
63
64
Vgl. ebd.
Vgl. Jäkel (1997), S. 31ff.
einige
hoch
abstrakte
22
„Eine regelrechte kognitive Erschließungsfunktion übernimmt die Metapher daher
prinzipiell für abstrakte Begriffsdomänen, theoretische Konstrukte und metaphysische
Ideen. Konzeptuelle Metaphern sorgen durch Rückbindung des abstrakt-begrifflichen
Denkens an die sinnliche Anschauung für die körperlich-biophysische Fundierung der
Kognition und gewährleisten die Kohärenz und Einheit unserer Erfahrung.“65
Dies gilt für wissenschaftliche Theorien und philosophische Ideen ebenso wie für
vermeintlich einfache, dem Menschen aber ähnlich schwer zugängliche Domänen
wie ZEIT oder LIEBE66, die sich kaum nicht-metaphorisch ausdrücken lassen.
„Jede Metapher hat die Eigenschaft, eine erklärungskräftige Struktur aus einem bekannten
Erfahrungsbereich in einem anderen anzuwenden, der entweder noch erklärungsbedürftig ist
oder den es neu zu verstehen gilt. Auf diese Weise gibt die Metapher einem unvertrauten
oder unzureichend strukturierten Erfahrungsbereich eine neue Klarheit, Offensichtlichkeit
und greifbare Gestalt. Metaphern bieten sogar eine sehr viel größere Experimentierfreiheit
als physikalische Modelle.“67
Was dies im Zusammenhang mit dem Verständnis neuer Technologien oder Medien
wie dem Internet bedeuten kann, wird in den Kapiteln 4 bis 6 ausführlich behandelt.
2.3.5.2 Das kreative Potential
Neben ihrer wichtigen Funktion als erklärendes Instrument ist das kreative Potential
der Metapher zu erwähnen. Einzelne konzeptuelle Metaphern bieten ganze Paletten
von Möglichkeiten zur Konzeptualisierung abstrakter Zieldomänen an. Lakoff/Turner
verdeutlichen dies am Beispiel der strukturellen konzeptuellen Metapher DAS
LEBEN IST EINE REISE.68 Wir konzeptualisieren das Leben oftmals als Reise, was
sich an ganz alltäglichen metaphorischen Ausdrücken wie Lebensweg, Lebensziel,
am Scheideweg stehen, Weg- bzw. Lebensgefährte, Durststrecke, in eine Sackgasse
geraten, die falsche Richtung einschlagen, auf Abwege geraten, gute/schlechte
Startbedingungen haben etc. (französische Beispiele: avoir un but dans la vie, se
trouver à la croisée des chemins, s’engager dans une impasse, atteindre le point de
non-retour, s’écarter du droit chemin, être sur la bonne voie etc.) erkennen läßt.
Neben diesen konventionell-metaphorischen Ausdrücken wäre es durchaus möglich,
innerhalb desselben Konzeptes (der REISE) andere Metaphern für den Zielbereich
65
66
67
Ebd., S. 42, Hervorhebung im Original.
Vgl. Lakoff/Johnson (1980), S. 85ff.
Krippendorff (1994), S. 80.
23
LEBEN zu bilden. Jäkel wählt hier das Beispiel eines uns durch das Leben führenden
„himmlischen Reiseleiters“69 – dieser Ausdruck ist allgemein verständlich, obwohl er
nicht zu den üblichen Metaphern der deutschen Alltagssprache gehört.
„Die Grenze [...] zwischen den konventionell genutzten Optionen einer Metapher und den
nicht realisierten, aber potentiell nutzbaren ist völlig offen und unbefestigt.“70
Dieses kreative Potential konzeptueller Metaphern wird natürlich vor allem in der
Poesie ausgenutzt, findet sich jedoch offensichtlich auch häufig im alltäglichen
Diskurs. Durch metaphorische Neubeschreibung eines Gegenstandsbereiches wird es
sogar möglich, „eingefahrene Denkmuster umzustrukturieren“71. Eine neue Metapher
bzw. die Ausweitung eines bekannten Metaphernbereiches kann dazu führen, daß wir
etwas in einem ganz anderen Licht sehen. Lakoff/Johnson nehmen gar an, daß neue
Metaphern (bzw. Metaphernkonzepte) die „Macht“ haben, unsere Wirklichkeit zu
verändern – nämlich dann, wenn wir beginnen, nach diesen neuen Konzepten zu
handeln:
„Many of our activities [...] are metaphorical in nature. The metaphorical concepts that
characterize those activities structure our present reality. New metaphors have the power to
create a new reality. This can begin to happen when we start to comprehend our experience
in terms of a metaphor, and it becomes a deeper reality when we begin to act in terms of it.
If a new metaphor enters the conceptual system that we base our actions on, it will alter that
conceptual system and the perceptions and actions that the system gives rise to. Much of
cultural change arises from the introduction of new metaphorical concepts and the loss of
old ones.“72
Daß das Auftauchen bzw. die Einführung neuer Metaphernkonzepte gar zu
kulturellen Veränderungen führen kann, erläutern Lakoff/Johnson am Beispiel der
‘Verwestlichung’ von Gesellschaftssystemen in der ganzen Welt. Diese sei zum Teil
auf die ‘Einführung’ des Metaphernkonzeptes ZEIT IST GELD zurückzuführen73 –
eine These, die auf den ersten Blick etwas weit gegriffen erscheint, jedoch durchaus
Sinn macht, wenn man sich zum Beispiel die gesellschaftlichen Folgen von
Kolonialherrschaften in den jeweiligen Ländern vergegenwärtigt.
68
69
70
71
72
73
Vgl. Lakoff/Turner (1989), S. 3ff. sowie 60ff.
Jäkel (1997), S. 34.
Ebd.
Ebd., S. 35, Hervorhebung im Original.
Lakoff/Johnson (1980), S. 145, meine Hervorhebungen.
Vgl. ebd.
24
2.3.5.3 Der Fokussierungseffekt
Eine weitere wichtige Funktion der Metapher ist eine Eigenschaft, die Jäkel als
„Fokussierungseffekt“74 bezeichnet. Lakoff/Johnson verwenden hierfür die Begriffe
„highlighting and hiding“75. Was damit gemeint ist, erläutern sie u.a. am Beispiel des
Konzeptes ARGUMENTIEREN. Sie betonen, daß das Konzept KRIEG hierfür nicht
die einzig mögliche metaphorische Repräsentation darstellt.76 So gibt es zum
Beispiel genügend sprachliche Ausdrücke für die strukturelle konzeptuelle Metapher
EINE ARGUMENTATION IST EINE REISE/UNE DISCUSSION EST UN
VOYAGE, die hervorhebt, daß wir mit dem Argumentieren einen Weg beschreiten
und ein Ziel verfolgen: Wir gehen von etwas aus, fahren in unserer Argumentation
Schritt für Schritt fort, gelangen zum nächsten Punkt, folgen der Argumentation oder
drehen uns im Kreis (französische Beispiele: Il s’est écarté de la ligne de son
argumentation. Est-ce que tu suis mon raisonnement? Nous nous sommes de nouveau
engagés dans la mauvaise direction. J’ai perdu mon chemin. Tu tournes en rond.).
Wenn wir unser Augenmerk dagegen auf den Inhalt richten, so bedienen wir uns der
ontologischen konzeptuellen Metapher EINE ARGUMENTATION IST EIN
BEHÄLTNIS/UNE DISCUSSION EST UN CONTENANT: Wir verstehen den Kern
eines Argumentes nicht, entdecken etwas in einem Argument, sehen viel/wenig
Substanz in einem Argument und halten es für wasserdicht oder auch lückenhaft
(französische Beispiele: Ton argumentation n’a pas beaucoup de contenu. Cette
argumentation-là est creuse. Vous n’avez pas grand-chose comme argument, mais
les objections de vos adversaires ont encore moins de substance. J’en ai assez de ces
arguments vides. Vous ne trouverez pas cette idée dans son argumentation.).
Ein Konzept kann also aus unterschiedlichen Perspektiven erfaßt und sprachlichmetaphorisch realisiert werden. Es werden jeweils adäquate Aspekte eines Konzeptes
hervorgehoben – die anderen bleiben dabei zwar immer latent erhalten, werden
jedoch durch diesen Vorgang der Fokussierung verborgen. Auf diese Weise wird die
menschliche Wahrnehmung eines Sachverhaltes beeinflußt, wenn nicht sogar
manipuliert – was vor allem im Zusammenhang mit der Verwendung von Metaphern
74
75
76
Vgl. Jäkel (1997), S. 37 ff.
Lakoff/Johnson (1980), S. 10f.
Vgl. ebd., S. 89ff. sowie Pielenz (1993), S. 70ff.
25
in Medien interessant ist.77 Die Systematik, aufgrund derer wir den Aspekt eines
Konzeptes in Strukturen eines anderen Konzeptes erfassen können, verstellt uns den
Blick auf alle anderen Aspekte. Wenn wir uns also beim Argumentieren nur auf die
kriegerischen Facetten dieses Konzeptes konzentrieren, können wir leicht die
anderen, letztlich positiveren Aspekte aus den Augen verlieren und somit den
Argumentationsvorgang wirklich als Kampfhandlung betrachten – der Gesprächspartner gerät zum Gegner oder gar Feind, den es zu zerstören gilt.
Metaphern reflektieren also eine ganz bestimmte Weltsicht; mit ihnen werden
gewisse Aspekte – bewußt oder unbewußt – hervorgehoben bzw. ausgeblendet.
„In allowing us to focus on one aspect of a concept [...], a metaphorical concept can keep us
from focusing on other aspects of the concept that are inconsistent with that metaphor.“78
Wird dieser Effekt bewußt ausgenutzt, kann dies durchaus zu einer einseitigen
Wahrnehmung führen, wie Jäkel eindrucksvoll am Beispiel der konzeptuellen
Metapher POLITISCHE FLÜCHTLINGE SIND EINE NATURKATASTROPHE79
zeigt. Diese schlägt sich in Metaphern wie „Asylantenflut“ nieder, deren „Zustrom“
man „eindämmen“ müsse oder gegen die man das „volle Boot“ Deutschland
„abzuschotten“ habe.
2.4
Zusammenfassung
In ihrem Buch Metaphors we live by und weiterführenden Arbeiten entwickeln
Lakoff und Johnson eine kognitive Metapherntheorie, die sich deutlich vom
klassischen Metaphernverständnis abhebt. Die Metapher kann nicht als rein
sprachliches Phänomen betrachtet werden, das lediglich der poetischen und
rhetorischen Ausschmückung dient. Lakoff/Johnson sehen in der Metapher das
Ergebnis eines kognitiven Prozesses und begreifen sie als konzeptuelles Instrument,
das dem Menschen dabei hilft, seine alltäglichen Wahrnehmungen und Handlungen
zu strukturieren – weshalb Metaphern im täglichen Sprachgebrauch allgegenwärtig
77
78
79
Vgl. hierzu den Aufsatz von Lakoff (1992), in dem er darlegt, wie die US-Regierung den Golfkrieg
1991 mit Hilfe von bestimmten Metaphern nicht nur rechtfertigte, sondern – so die These – gar
ermöglichte („Metaphors can kill. The discourse over whether to go to war in the gulf was a
panorama of metaphor“, ebd., S. 463).
Lakoff/Johnson (1980), S. 10.
Jäkel (1997), S. 39.
26
sind. Lakoff/Johnson unterscheiden zwischen sprachlichen und konzeptuellen
Metaphern: Die metaphorische Übertragung findet auf der konzeptuellen Ebene statt
und schlägt sich dann auf der sprachlichen Ebene in konventionell-metaphorischen
Redewendungen nieder. Die Übertragungsrichtung verläuft dabei zumeist vom
Konkreten zum Abstrakten.
Metaphern erfüllen wichtige kognitive Funktionen: Sie dienen der Erklärung und
dem besseren Verständnis abstrakter oder neuer Sachverhalte, können aufgrund ihres
kreativen Potentials Denkmuster umstrukturieren und auf diese Weise zu neuen
Sichtweisen führen und haben darüber hinaus die Eigenschaft, bestimmte Aspekte
eines Konzeptes hervorzuheben bzw. auszublenden und damit unterschiedliche
Perspektiven auf einen Sachverhalt zu eröffnen.
Nachdem nun die Grundzüge der kognitiven Metapherntheorie von Lakoff/Johnson
vorgestellt wurden, soll im folgenden auf den Untersuchungsgegenstand der
vorliegenden Arbeit eingegangen werden: das Internet. Nach der Theorie von
Lakoff/Johnson ist zu vermuten, daß Metaphern bei der sprachlichen Erschließung
dieses neuen und von den meisten Menschen als sehr komplex und abstrakt
empfundenen Mediums eine grundlegende Rolle spielen.
3.
Das Internet – seine Geschichte und Entwicklung
Vor einer Untersuchung der im Zusammenhang mit dem Internet auftretenden
Metaphern erscheint es sinnvoll, zunächst einen Blick auf die Entstehungsgeschichte
und die wichtigsten Dienste dieses Mediums zu werfen. Es ist davon auszugehen,
daß die Kenntnis des historischen und technischen Hintergrundes zu einem besseren
Verständnis und Urteilsvermögen darüber führt, warum bei der sprachlichen
Erfassung des Internet bestimmte Metaphern verwendet werden. Daher soll dieses
Kapitel einen kurzen Überblick über die Entwicklung des Mediums geben.80
80
Die nachfolgenden Ausführungen basieren im wesentlichen auf Hafner/Lyon (2000), Kreuzberger
(1997), Runkehl et al. (1998) sowie Zehnder (1999).
27
3.1
Der militärisch-wissenschaftliche Hintergrund
Das Internet wird gemeinhin als ‘neues’ Medium gesehen, obwohl seine Wurzeln bis
in die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts zurückreichen. Im Oktober 1957 schoß die
Sowjetunion – für die westliche Welt völlig unerwartet – den ersten künstlichen
Satelliten Sputnik ins All und versetzte den USA damit förmlich einen Schock.
Mitten im Kalten Krieg mußten die Vereinigten Staaten plötzlich befürchten,
technologisch und militärisch ins Hintertreffen zu geraten. Aus diesem Grunde rief
Präsident Dwight D. Eisenhower schon kurze Zeit später die ARPA (Advanced
Research Projects Agency) ins Leben,
„um den technologischen Vorsprung und damit die Sicherheit der westlichen Welt in der
Zeit des eskalierenden Rüstungswettlaufs zwischen den USA und der Sowjetunion sowie
dem damit verbundenen Szenario einer weltweiten nuklearen Vernichtung zu
gewährleisten.“81
Die neue Behörde wurde im Verteidigungsministerium angesiedelt und beschäftigte
sich in der ersten Zeit mit Fragen der Raketenabwehr und ähnlichen militärisch
ausgerichteten Projekten, später dann mehr und mehr mit der Entwicklung neuer
Techniken im Bereich Kommunikation und Datenübertragung. Dabei arbeitete sie
sowohl mit Universitäten als auch Unternehmen der Computerindustrie eng
zusammen, um das gesamte Wissenspotential zu bündeln. Die Kooperation wurde
jedoch
erheblich
dadurch
erschwert,
daß
jede
Institution
mit
eigenen
Computersystemen und Programmen arbeitete, die zumeist nicht mit denen der
anderen kompatibel waren – weshalb oftmals an mehreren Universitäten gleichzeitig
ähnliche Forschungsprojekte liefen. Aus diesem Problem entwickelte sich nach und
nach
„die Idee, ein ‘integriertes Netzwerk’ zu schaffen, um teure Hardwareressourcen und
akademische Schaffenskraft ökonomischer einzusetzen.“82
Denn wenn man die Rechner mehrerer Forschungsstätten elektronisch miteinander
verbinden würde, könnten sich Wissenschaftler, die in verschiedenen Institutionen
und Landesteilen an ähnlichen Projekten arbeiteten, nicht nur Rechnerkapazitäten
81
82
Runkehl et al. (1998), S. 9.
Ebd., S. 10.
28
teilen, sondern auch auf die Daten ihrer Kollegen zurückgreifen und Ergebnisse
austauschen.83
Neben dieser ‘zivilen’ Idee der Schaffung eines Netzwerkes gab es jedoch schon seit
längerem Überlegungen, wie man die nationalen Kommunikationssysteme so
miteinander vernetzen könnte, daß Militär und Behörden im Falle eines kriegerischen
Angriffs dennoch kommunikations- und handlungsfähig blieben. Ein zentral
gesteuertes Netz wäre extrem verwundbar; bedeutete es doch bei der Zerstörung der
Zentrale den totalen Ausfall des gesamten Systems und den Verlust aller zentral
gespeicherten Daten. Ein sicheres Netzwerk müßte also dezentral organisiert sein, so
daß „Teilbereiche auch nach einer größeren Zerstörung anderer Teile noch als
zusammengehörige Einheit funktionierten.“84 1968 vergab die ARPA an das
Unternehmen Bolt, Beranek and Newman (BBN) den Auftrag zur Entwicklung
entsprechender Großrechner, die in einem solchen dezentralen Netzwerk als ‘Knoten’
(d.h. Rechner zur Übertragung und Verteilung von Daten) dienen sollten. Bereits im
Jahr 1969 war es soweit: Vier Universitäten85 wurden elektronisch miteinander
verbunden – ihre Rechner bildeten die ersten vier Knoten des ‘ARPANET’. Das Netz
wuchs in der Folgezeit stetig: 1971 verfügte es bereits über 15 Knoten, 1972 waren
es schon 37. Im selben Jahr entwickelte Ray Tomlinson von BBN das erste
Programm zur elektronischen Postzustellung – und schuf mit dem @-Zeichen (zur
Trennung von Nutzernamen und Server in der E-Mail-Adresse) das „Symbol für die
vernetzte Welt schlechthin“.86 Ein Jahr später bestanden bereits 75 Prozent des
Datenverkehrs im ARPANET aus E-Mails.87
Als erste außeramerikanische Organisationen schlossen sich 1973 das University
College of London und die seismologische Forschungsgemeinschaft Norsar in
Norwegen dem ARPANET an. Inzwischen war es jedoch nicht mehr das einzige
existierende Netzwerk. Seit dem Beginn der 70er Jahre entstanden weitere Netze88,
wie das Funknetzwerk ‘Packet Radio Network’ und das digitale Satellitennetzwerk
‘SATNET’. Letzteres blieb nicht auf die Vereinigten Staaten beschränkt, auch
83
84
85
86
87
88
Vgl. Hafner/Lyon (2000), S. 48.
Ebd., S. 65.
Es handelte sich um die University of California in Los Angeles (UCLA), das Stanford Research
Institute (SRI), die University of California in Santa Barbara und die State University of Utah.
Hafner/Lyon (2000), S. 228.
Vgl. Runkehl et al. (1998), S. 12.
Vgl. Hafner/Lyon (2000), S. 262f.
29
Großbritannien,
Norwegen,
Italien
und
Deutschland
erhielten
Satellitenverbindungen. Ferner wurden in immer mehr Staaten nationale Versionen
des ARPANET entwickelt, so z.B. das französische ‘Cyclades’.
3.2
Einflüsse aus der alternativen Computer-Szene
Als erstes nicht forschungsorientiertes Netz entstand 1979 das ‘Usenet’: Studenten
der Duke University und der University of North Carolina verknüpften per Modem89
mehrere Unix-Rechner ihrer Universitäten miteinander und schufen auf diese Weise
eine erschwingliche Alternative zum teuren ARPANET. Es entwickelte sich eine Art
Gegenbewegung
zu
den
staatlich
unterstützten,
auf
militärische
und
wissenschaftliche Zwecke ausgerichteten Netzen:
„[...] in parallel to the efforts by the Pentagon and Big Science to establish a universal
computer network with public access, within ‘acceptable use’ norms, a sprawling computer
counterculture emerged in the United States, often mentally associated with the aftershocks
of the 1960s movements, in their most libertarian/utopian version. An important element of
the system, the modem, was one of the technological breakthroughs emerging from the
pioneers of this counterculture, originally labeled ‘the hackers’ before the term took on its
malignant connotation.“90
Die Entwicklung des Netzes wurde also entscheidend von den sogenannten
Hackern91
mitgetragen,
die
an
einer
‘Demokratisierung’
dieses
neuen
Kommunikationssystems interessiert waren. Sie wollten die Nutzung nicht einer
kleinen, elitären Gruppe von Spitzenforschern und Militärs überlassen, sondern auch
selbst davon Gebrauch machen, es nach ihren eigenen Bedürfnissen mitgestalten und
möglichst breiten Bevölkerungsschichten Zugang verschaffen:
89
90
91
Modem – gebildet aus „Modulator-Demodulator“; auch dies ist eine Erfindung zweier Studenten,
nämlich Ward Christensen und Randy Suess aus Chicago, die 1978 ein System zum Austausch von
Computerprogrammen via Telefonleitung entwickelten, um sich den Weg durch das winterlichkalte Chicago zu ersparen. Vgl. hierzu Castells (1996), S. 353.
Ebd.
Zu jener Zeit hatte die Bezeichnung ‘Hacker’ noch keine negative Bedeutung. Es handelte sich um
hochqualifizierte Computerspezialisten (darunter sehr viele Studenten), die ihre Kreativität in
umfangreichen Programmierarbeiten auslebten – und dabei auf der Tastatur ‘herumhackten’. Erst
als ‘schwarze Schafe’ unter ihnen ihr Wissen zum unbefugten Eindringen in fremde Rechner
(zwecks Manipulation oder Spionage) mißbrauchten, erhielt der Begriff seine negative
Konnotation. Vgl. hierzu Hafner/Lyon (2000), S. 225 sowie Kreuzberger (1997), S. 31. Die
Bezeichnung ‘Cracker’ für jene bewußt kriminell agierenden Personen setzt sich bisher nur
langsam durch. Vgl. Mandel/Van der Leun (1998b), S. 266.
30
„Die Entstehung [...] verdankt sich einer wirklichen sozialen Bewegung – mit ihren
Anführern, ihren Schlüsselwörtern und ihren kohärenten Zielen. [...] Ausgebaut haben [...]
[das Internet] überwiegend anonyme, unentgeltlich arbeitende Menschen, die beständig die
Kommunikationsmittel verbesserten, und nicht die großen Namen, die Regierungen oder
Firmenchefs, von denen uns in den Medien bis zum Überfluß erzählt wird. [...] Man muß an
die Techniker denken, die zum Funktionieren der ersten elektronischen Briefe und Foren
beitrugen, an die Studenten, die die Kommunikationssoftware für die Computer
unentgeltlich entwickelten, verteilten und verbesserten, an die Millionen Nutzer und
Verwalter von Mailbox-Systemen.“92
Die Schaffung neuer Netzwerke blieb nicht auf diese ‘alternative Hacker-Szene’
beschränkt; auch private Unternehmen begannen mit der Entwicklung eigener
Systeme, so daß sich die Anzahl der nebeneinander existierenden Netze ständig
vergrößerte.93
3.3
Die Erfindung des Internet als ‘Netz der Netze’
Die meisten der bis dahin vorhandenen Netzwerke arbeiteten mit unterschiedlichen
Technologien und waren in sich geschlossen, d.h. von den anderen isoliert. Ein
Kommunizieren der Netze untereinander war aufgrund der Vielzahl der Systeme
unmöglich. Aus diesem Umstand erwuchs die Idee, die bestehenden Netze
miteinander zu einem großen Netzwerk zu verbinden – ein ‘Netz der Netze’ zu
schaffen, in dem alle Rechner problemlos miteinander kommunizieren können.
Vorreiter dieser Idee waren Robert Kahn von BBN und Vinton C. Cerf von der
University of California Los Angeles. Sie entwickelten zwischen 1973 und 1974
gemeinsam das TCP/IP-Protokoll94, das die zu versendenden Daten in kleine Pakete
aufteilt und nach der Übermittlung am Bestimmungsort wieder zusammensetzt. Mit
Hilfe dieses Protokolls war es nun erstmals möglich, Daten von einem Netzwerk auf
ein anderes zu übertragen – das Internet war geboren; und Vinton C. Cerf und Robert
Kahn gelten bis heute als dessen Väter. Ihr Protokoll setzte sich immer weiter durch
und wurde schließlich 1983 zum offiziellen Standard des ARPANET.95 Noch heute
bildet es die Grundlage des Internet, d.h. „jeder Rechner, der daran teilnehmen will,
muß es [das Protokoll] verstehen.“96 Zum Zeitpunkt der Umstellung auf TCP/IP war
92
93
94
95
96
Lévy (1998), S. 75f.
Vgl. Kreuzberger (1997), S. 10f.
TCP = Transmission Control Protocol, IP = Internet Protocol.
Vgl. Hafner/Lyon (2000), S. 294.
Kreuzberger (1997), S. 11.
31
das ARPANET bereits so groß, daß der militärische Teil des Netzes aus
Sicherheitsgründen abgespalten und als ‘MILNET’ weitergeführt wurde.
Die ständige Ausdehnung des Netzes hatte zur Folge, daß es immer mehr Rechner
gleichen Namens gab, wodurch ein gezieltes Anwählen bald nicht mehr möglich war.
Aus diesem Grunde wurde 1984 das Domain Name System (DNS) eingeführt, das
mit Hilfe von Zusätzen wie .org, .com oder Länderkürzeln wie .de, .fr die
Adressierung regelte.97 Ein Jahr später finanzierte die amerikanische Stiftung
National Science Foundation (NSF) zur Förderung des wissenschaftlichen
Austausches den Aufbau eines sogenannten Backbone-Netzwerkes, das fünf
„Supercomputerzentren“98 in den gesamten Vereinigten Staaten miteinander verband.
Es erhielt den Namen ‘NSFNET’ und ermöglichte den angeschlossenen Hochschulen
einen schnellen Zugang.
„Das NSFNET entwickelte sich sehr schnell zum ‘Rückgrat’ des Internet, da seine
Leitungen mehr als 25mal schneller waren als die ARPANET-Leitungen.“99
Immer mehr Institutionen und Länder traten dem NSFNET bei. 1988 wurde
Frankreich, ein Jahr später Deutschland angeschlossen. Im Jahr 1990 wurde das
ARPANET schließlich offiziell aufgelöst. Seither spricht man nur noch vom
‘Internet’.
3.4
Die zweite Geburtsstunde des Internet: das World Wide Web
Als „zweite Geburtsstunde“100 des Internet gilt die Entwicklung des World Wide
Web (WWW) durch Tim Berners-Lee und Robert Cailliau vom Genfer
Kernforschungszentrum CERN im Jahr 1991. Dank ihres Hypertext Transfer
Protocol (HTTP) und einer graphischen Benutzeroberfläche wurde es möglich, per
Mausklick problemlos von einer Seite zur anderen zu springen, nicht-lineare Texte
zu lesen, Bilder anzusehen und zwischen einzelnen Datenquellen ‘herumzusurfen’101.
97
98
99
100
101
Vgl. Hafner/Lyon (2000), S. 299f.
Ebd., S. 290.
Ebd., S. 301.
Runkehl et al. (1998), S. 14.
Zur Herkunft der Metapher „surfen“ siehe Abschnitt 4.2.1.
32
Was dem World Wide Web jedoch endgültig zum Durchbruch – auch in der nichtwissenschaftlichen Welt – verhalf, war die Erfindung des Informatik-Studenten Marc
Andreesen vom National Center for Supercomputing Applications (NCSA) in
Illinois102: Er entwickelte 1993 den ersten benutzerfreundlichen Browser (den
‘NCSA Mosaic’ – ein Jahr später als ‘Netscape Navigator’ auf den Markt gebracht),
der die im World Wide Web gespeicherten Seiten für jedermann sichtbar machte.
War das Netz bis dahin vor allem Informatik-Fachleuten und Wissenschaftlern
vorbehalten, so wurde es jetzt aufgrund der leichten Bedienbarkeit und optischen
Aufbereitung auch für den Computer-Laien interessant:
„Plötzlich konnte man mit der Maus in der Hand durchs Web surfen, statt wie bisher
endlose Befehle über die Tastatur einzugeben. Das Datenmeer bestand nicht mehr nur aus
lauter Buchstaben und Ziffern, sondern aus grafischen Welten [...].“103
Seit diesem Zeitpunkt war der Aufstieg des Internet nicht mehr aufzuhalten.104 Immer
mehr Menschen bekamen Zugang zum Netz und begannen, es nicht nur für
berufliche und universitäre Zwecke, sondern auch in ihrer Freizeit zu nutzen. Und
auch die Wirtschaft wurde auf das Internet aufmerksam – inzwischen gibt es kaum
noch ein Unternehmen ohne eigenen ‘Web-Auftritt’.
3.5
Die jüngste Entwicklung
Die jüngste Geschichte des Internet wird durch folgende Ereignisse bestimmt105:
1998 wird die private Organisation Icann (Internet Corporation for Assigned Names
and Numbers) gegründet, der die US-Regierung die Kontrolle und Vergabe neuer
Domain-Namen überträgt. Ein Jahr später startet an 37 US-Universitäten
Internet2 Abilene106, das – hundertmal schneller als das heutige Internet – bisher nur
102
103
104
105
106
Vgl. Runkehl et al. (1998), S. 15.
Zehnder (1999), S. 61.
Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, daß das World Wide Web oft fälschlicherweise mit dem
Internet gleichgesetzt wird. Es handelt sich jedoch nur um einen Teil, eine Anwendung des Internet.
Weitere wichtige Anwendungen sind folgende: E-Mail zum Austausch elektronischer Post, FTP
(File Transfer Protocol) zum elektronischen Austausch von Dateien, Newsgroups als eine Art
elektronisches ‘Schwarzes Brett’ und der Internet Relay Chat als synchrones
Kommunikationsforum.
Die folgenden Ausführungen basieren im wesentlichen auf Simon (2001), S. 85.
Der Projektname ‘Abilene’ geht auf den Eisenbahnknotenpunkt Abilene in Kansas zurück, von wo
aus im 19. Jahrhundert die Erschließung des nordamerikanischen Kontinents begann. Die an der
zweiten Internet-Generation beteiligten Forscher sehen hier Parallelen: „The links of last century’s
33
in der Spitzenforschung genutzt wird. Wenig später beginnen die Planungen für
Internet3, das eines Tages die Datenübertragung zwischen von Menschen besiedelten
Planeten übernehmen soll.
Im selben Jahr richten zwei über das Internet verbreitete Computer-Viren107
(‘Melissa’ und ‘Explore-Zip’) erstmals millionenschweren Schaden an. Seitdem
werden immer wieder mehr oder minder gefährliche Viren über das Internet in
Umlauf gebracht, in jüngster Zeit zum Beispiel die Viren ‘I love you’ und ‘Red
Code’. Waren 1989 noch weniger als 20 Viren bekannt, zählt man im Jahr 2001
bereits mehr als 50.000.108 Zum Teil werden sie in harmloser und spielerischer
Absicht programmiert und versandt, doch stehen inzwischen hinter vielen Viren
durchaus bewußt kriminell agierende Urheber. Da die Viren über das Internet sehr
schnell weltweit verbreitet werden und die Computernetzwerke ganzer Firmen und
Behörden für Stunden oder gar Tage lahmlegen können, wird mittlerweile auf
internationaler Ebene an Frühwarnsystemen gearbeitet und die Urheber strafrechtlich
verfolgt.
Im Oktober 2000 findet die erste Internet-Wahl statt: Per Mausklick können
registrierte Internetnutzer über die Direktoren der inzwischen häufig als ‘InternetWeltregierung’ bezeichneten Icann abstimmen. Vorsitzender wird einer der InternetVäter: Vinton C. Cerf.109 Wenig später läßt Icann zum ersten Mal seit 1984 neue
Domain-Namen zu (zum Beispiel .aero, .biz, .museum), da die meisten der
bisherigen Kürzel inzwischen so ausgeschöpft sind, daß kaum noch neue InternetAdressen möglich sind.
107
108
109
railway changed the way people worked and lived. The Abilene Project will transform the work of
researchers and educators into the next millennium“ (http://www.ucaid.edu/ abilene/html/faqgeneral.html; UCAID = University Corporation for Advanced Internet Development, die
Dachgesellschaft des Abilene-Projektes).
Bei einem Virus handelt es sich um ein mehr oder weniger komplexes Computer-Programm, das
via Internet oder ‘verseuchter’ Diskette in andere Programme eingeschleust wird und sich dort
selbst vervielfältigt. Die Folgen reichen von harmlosen Darstellungen auf dem Computerbildschirm
(z.B. ein kleines Feuerwerk wie beim Virus ‘Millennium’) bis hin zu irreparablen Schäden an
einzelnen Dateien oder gar ganzen Festplatten. Schutz bieten sogenannte Antiviren-Programme.
Zur Herkunft der Virus-Metapher siehe Abschnitt 4.2.
Vgl. Crouzet (2001), S. 190.
Als Repräsentant für Europa wird übrigens Andy Müller-Maguhn gewählt, Sprecher des
Hamburger Chaos Computer Clubs, der in den 80er Jahren mit spektakulären Hacker-Angriffen
auf die Rechenanlagen großer Institutionen wie der NASA Schlagzeilen gemacht hatte.
34
Im Laufe seiner Geschichte hat sich das Internet von einem auf militärische und
universitäre Zwecke beschränkten, staatlich kontrollierten Computernetzwerk zu
einer Art globalem ‘Volksnetz’ entwickelt, das von immer mehr Menschen in der
westlichen Welt genutzt wird. Das Besondere an diesem Netzwerk ist, daß es
weiterhin dezentral organisiert ist und weder über eine fixe Struktur noch einen
Besitzer oder eine Kontrollinstanz verfügt (abgesehen von Icann, die jedoch nur über
die Vergabe von Domain-Namen, nicht über die Inhalte von Webseiten
entscheidet110):
„Das Netz funktioniert so, wie es funktioniert, nicht weil irgendeine zentrale Regierung es
so bestimmt hat, sondern weil die User selbst es entsprechend ihren jeweiligen Bedürfnissen
geformt und aufgebaut haben.“111
Es ist aufgrund fehlender Hierarchien und relativ leichter Bedienbarkeit theoretisch
jedermann zugänglich (das heißt, jeder kann Informationen im Internet abrufen und
verbreiten) – wenn es auch praktisch bislang in erster Linie den Mitgliedern der
‘entwickelten’ westlichen Welt vorbehalten bleibt.
Gemäß den Zahlen der Organisation ‘NUA Internet Surveys’, die regelmäßig
nationale Internet-Studien vergleicht und auf dieser Basis Statistiken über die
Benutzer des Internet erstellt, waren im Mai 2002 weltweit insgesamt
580,78 Millionen Menschen online.112 Die in der vorliegenden Arbeit betrachteten
Länder Deutschland und Frankreich verzeichnen einen starken Anstieg der
Internetnutzer-Zahlen: Waren Ende 1997 in Deutschland noch 4,4 Millionen
Personen im Alter zwischen 14 und 69 Jahren (10% der deutschsprachigen
Bevölkerung) regelmäßig online, so stiegen die Zahlen bis Juni 2002 auf
31,92 Millionen (49,8%)113 an. In Frankreich wuchs die Zahl der Nutzer im gleichen
Zeitraum von 400.000 (0,9% der französischsprachigen Bevölkerung) auf
110
111
112
113
Es sollte allerdings nicht verschwiegen werden, daß sich die kritischen Stimmen gegenüber Icann
mehren. Vor allem die Internet-Pioniere der ersten Stunde befürchten, daß diese Institution
langfristig zuviel Macht im Internet ausüben könnte, da sie es ist, die über die Vergabe – oder eben
Nicht-Vergabe – von Internet-Adressen entscheidet und durchaus in der Lage ist, Webseiten zu
sperren. Die Bezeichnung der „Internet-Weltregierung“ ist somit nicht aus der Luft gegriffen, und
die Zukunft wird zeigen, ob sich die Befürchtungen bewahrheiten.
Mandel/Van der Leun (1998a), S. 16.
Vgl. NUA (2002), http://www.nua.net/surveys/how_many_online/index.html.
Vgl. SevenOne Interactive (2002), http://www.SevenOneInteractive.de [regelmäßige Befragungen im
Auftrag des deutschen Marktforschungsinstitutes Forsa].
35
16,97 Millionen (33,4%).114 Es sei an dieser Stelle allerdings ausdrücklich darauf
hingewiesen, daß die Ermittlung wirklich exakter Zahlen schwierig bis unmöglich
ist. Aufgrund der Vielzahl möglicher Untersuchungsmethoden können die Ergebnisse
verschiedener Studien mehr oder weniger stark differieren und somit letztendlich
wohl nur eine Tendenz wiedergeben. Es kann jedoch mit Sicherheit gesagt werden,
daß immer mehr Menschen vom Internet Gebrauch machen und sich die ‘InternetGemeinde’ somit ständig vergrößert.
Immer mehr Dinge des täglichen Lebens lassen sich über das Internet erledigen, seien
es Bankgeschäfte, Korrespondenz, Bibliotheks-Recherchen, Einkäufe jedweder Art
oder das Buchen von Reisen. Es werden psychologische und medizinische OnlineSprechstunden angeboten, Behörden stellen Formulare zum Herunterladen ins Netz,
immer mehr Online-Zeitungen erscheinen, und es gibt auch schon virtuelle Seminare
und Vorlesungen. In Chatrooms (Online-Diskussionsforen) ‘treffen’ sich Menschen,
um miteinander in Echtzeit zu kommunizieren, wobei der Vielfalt der Themen hier
keine Grenzen gesetzt sind. Für nahezu jedes Interessengebiet lassen sich inzwischen
solche Gesprächsforen finden – die Bandbreite reicht vom ‘alltäglichen Geplauder’
bis zum wissenschaftlichen Diskurs. So hält das Internet in immer mehr
Lebensbereiche Einzug, und viele Menschen möchten es nicht mehr missen, erspart
es ihnen doch so manchen lästigen Weg.
3.5.1 Das Internet als Kommunikations- und Informationsmedium in
Krisenzeiten und Notsituationen: der 11. September 2001
In welchem Maße das Internet bereits genutzt wird, zeigen die Ereignisse des
11. September 2001, als die USA zum Ziel von Terroranschlägen bisher nicht
gekannten Ausmaßes wurden: Die Nachricht verbreitete sich innerhalb weniger
Minuten nicht nur über die ‘konventionellen’ Medien, sondern auch über das Internet
in alle Welt, und schon nach kurzer Zeit waren die Server vieler Online-Zeitungen
durch die massenhaften Zugriffe so überlastet, daß sich ihre Webseiten nicht mehr
aufrufen ließen. Einige Zeitungen, wie zum Beispiel Die Welt Online, entschieden
114
Vgl. Médiamétrie (2002), http://www.mediametrie.fr/web/resultats/barometre/resultats.php?id=569
und AFA (2002), http://www.afa-france.com/html/chiffres/bas.html [AFA = Association des Fournisseurs
d’Accès et de Services Internet].
36
sich daraufhin zu ‘Notausgaben’ – statt ihres üblichen Online-Angebots mit
sämtlichen Tagesereignissen, Archiv- und Suchfunktionen sowie Werbebannern
stellten sie eine einzelne Seite ins Netz, auf der sie die jüngsten Ereignisse kurz
darstellten. In dieser Situation erwiesen sich die ‘alten’ Medien Rundfunk und vor
allem das Fernsehen als die besseren und schnelleren Informationsvermittler, da
überlastungsbedingte Ausfälle hier nahezu ausgeschlossen sind und Nachrichten
sowie Bildmaterial ohne nennenswerte Verzögerungen übermittelt werden können.
Darüber hinaus werden sie von einem Moderator bzw. Kommentator präsentiert.
Neben den Webseiten der Online-Zeitungen und Nachrichtendienste ließen sich in
den Stunden nach dem Attentat auch viele andere Seiten nur sehr langsam aufrufen.
Dazu gehörten vor allem vielgenutzte Suchmaschinen wie google oder yahoo, aber
auch die Seiten vieler Anbieter, die SMS-Nachrichten115 versenden, wie web oder
freenet. Daneben waren auch viele Chatrooms durch den großen Andrang überlastet
– es herrschte offensichtlich ein großes Kommunikationsbedürfnis.
In den Stunden und Tagen nach der Katastrophe gewann das Internet eine zusätzliche
Bedeutung: Angehörige stellten Suchaufrufe mit Fotos von Vermißten ins Netz, und
umgekehrt erschienen immer mehr Meldungen von Vermißten, die ihre Angehörigen
beruhigten. Wenige Tage nach den Attentaten hatten sich bereits über 6200
Menschen in eine offizielle „I’m okay-List“116 eingetragen – was eine wirkliche Hilfe
für jene Menschen darstellte, die aufgrund der tagelang überlasteten Telefonleitungen
ihre Angehörigen nicht erreichen konnten.
Diese Ereignisse zeigen, wie sehr die Menschen in der westlichen Welt das Internet
bereits ganz selbstverständlich für die unterschiedlichsten Zwecke nutzen: Es dient
neben dem Handel vor allem der Kommunikation und Information – und in
Notsituationen sogar offensichtlich als wichtiges Hilfsmittel. Tatsache ist allerdings
auch, daß die Kapazitäten des Internet heute noch nicht einem millionenfachen
gleichzeitigen Zugriff gewachsen sind, da sich weltbewegende Geschehnisse sofort
auf die Schnelligkeit des Netzes auswirken.
Trotz des immer größer werdenden Einflusses, den der Gebrauch des Internet auf das
alltägliche Leben ausübt, erscheint es den meisten Menschen als etwas sehr
115
116
SMS = Short Message Service (Kurzmitteilungen, die entweder von einem Mobiltelefon zum
anderen, oder aber per Internet zum Mobiltelefon gesandt werden können).
Vgl. http://okay.prodigy.net/ (17.09.2001).
37
Abstraktes, in seiner Struktur nicht Greifbares. Gemäß den in Kapitel 2
herausgearbeiteten kognitiven Funktionen der Metapher ist daher zu vermuten, daß
die Sprache, mit der über das Internet gesprochen wird, einen hohen Anteil
metaphorischer Ausdrücke aufweist, durch die wir uns das neue Medium erschließen.
In den folgenden Kapiteln soll deshalb untersucht werden, welche Metaphern es zur
Konzeptualisierung des Internet gibt und welche Auswirkungen sie auf den Umgang
mit dem Internet haben.
4.
Metaphern in der Fachterminologie: die technische
Einordnung des Internet
4.1
Allgemeines zum Gebrauch von Metaphern in Fachsprachen
Bereits im vorigen Kapitel fielen im Zusammenhang mit dem Internet eine ganze
Reihe metaphorischer Ausdrücke ins Auge. So ist zum Beispiel von „Viren“ die
Rede, von Web-„Seiten“, „Knoten“ und Internet-„Adressen“. Bei näherer
Betrachtung der von Informatikern, Software-Entwicklern und anderen ComputerExperten geprägten Fachterminologie des Internet stößt man insgesamt auf ein
Vokabular, das ganz wesentlich von metaphorischen Ausdrücken bestimmt ist. Und
schon lange vor der Verbreitung des Internet wies die Computer-Fachterminologie
zahlreiche Metaphern auf.117
„Der Benutzer eines Macintosh Computers etwa hat den Eindruck, er öffne Dateien,
wandere durch Dokumente, reorganisiere, redigiere, schreibe Textdateien und werfe die
unerwünschten Textteile in einen elektronischen Papierkorb. Der Computer arbeitet jedoch
nach einer Logik, die nur wenig mit solchen Benutzervorstellungen gemein hat. Im
Computer gibt es keine Dateien, keine Papierkörbe, keine Zeichen des Alphabets, nicht
einmal physikalische Objekte, die bewegt würden – es gibt nur komplexe Felder binärer
Zustände, die sich angesichts anderer binärer Zustände ändern. Der Erfolg des Macintosh
Computers liegt zum einen darin begründet, daß er von seinem Benutzer nicht einmal ein
entferntes Verständnis davon verlangt, was in ihm vorgeht, und zum anderen darin, daß er
Schnittstellen bietet, die an die vertraute Welt des Benutzers sinnvoll anschließen.“118
117
118
Vgl. hierzu Busch (1998) sowie Weingarten (1989 und 1997).
Krippendorff (1994), S. 96, meine Hervorhebungen. Die Ausführungen Krippendorffs sind
mittlerweile nicht mehr auf den Macintosh-Computer beschränkt; sie gelten heute ebenso für den
PC.
38
Der hohe Anteil metaphorischer Ausdrücke in dieser Fachterminologie ist kein
Einzelfall, wie zahlreiche Untersuchungen von Fachsprachen der verschiedensten
Gebiete (neben dem Bereich Computer/Informatik zum Beispiel die Bereiche
Naturwissenschaften, Technik oder Wirtschaft)119 belegen. Dies gilt sowohl für das
Deutsche als auch für die romanischen Sprachen. Bei den genannten Bereichen
handelt es sich zumeist um sehr abstrakte und komplexe Wissensgebiete, die
zunächst nur einem kleinen Kreis von Experten zugänglich sind. Erst mit Hilfe von
sprachlichen Bildern – also Metaphern – aus vertrauten Erfahrungsbereichen werden
die Zusammenhänge verständlich gemacht – womit sich die These von der kognitiven
Erschließungsfunktion der Metapher bestätigt. Und nicht nur neuere Untersuchungen
räumen der Metapher in der Sprache der Wissenschaften und komplexen Fachgebiete
eine große Bedeutung ein. Schon 1936 schrieb Ortega y Gasset:
„Dos usos de rango diferente tiene en la ciencia la metáfora. Cuando el investigador
descubre un fenómeno nuevo, es decir, cuando forma un nuevo concepto, necesita darle un
nombre. Como una voz nueva no significaría nada para los demás, tiene que recurrir al
repertorio del lenguaje usadero, donde cada voz se encuentra ya adscrita una significación.
De esta manera, el término adquiere la nueva significación a través y por medio de la
antigua, sin abandonarla. Esto es la metáfora.“120
Welche Metaphern finden sich nun speziell in der von Fachleuten geprägten Sprache
des Internet? Aus welchen Erfahrungs- bzw. Ursprungsbereichen stammen sie?
Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede lassen sich für das Deutsche und
Französische feststellen? In Anlehnung an die onomasiologische Metaphernanalyse
von Jäkel121 wird diesen Fragen anhand einiger Beispiele nachgegangen.122
119
120
121
122
Vgl. hierzu zum Beispiel die fachsprachlichen Untersuchungen von Alameda Nieto (1998) [spanische
Internet-Terminologie], Biere/Liebert (1997) [Wissenschaft], Busch (1998) [Informatik],
Habscheid (1998) [Computer], Jakob (1991) [Technik], Schmitt (1988 und 1993) [französische
Wirtschafts- bzw. spanische Computerterminologie], Seewald (1998) [deutsche und romanischsprachige
Internet-Terminologie] sowie Weingarten (1989 bzw. 1997) [Technik bzw. Computer].
Ortega y Gasset (1936), S. 123, zitiert nach Alameda Nieto (1998), S. 274f.
Vgl. Jäkel (1997), S. 141ff.
Die im folgenden genannten Fachtermini basieren im wesentlichen auf den deutsch-französischen
Glossaren von Bruns (2001), Cheval/Huber (1998), Reinart (1997), dem französischen InternetHandbuch von Crouzet (2001), der französischen Internet-Einführung von Alberganti/Eudes
(2000) sowie den deutschsprachigen Internet-Handbüchern von Kreuzberger (1997) und Zehnder
(1999).
39
4.2
Metaphern in der Fachsprache des Internet
Im Gegensatz zur Computer-Hardware kann das Internet in seiner Form und Struktur
weder optisch noch haptisch erfaßt werden. Folglich erscheint es den meisten
Menschen als etwas Abstraktes und schwer Greifbares.
„Es erschließt sich den Benutzern lediglich unter Rückgriff auf eine Vielzahl von
Metaphern vermittels der am eigenen Computerbildschirm beobachtbaren Funktionen und
Wirkungen.“123
Die Metaphern entstammen dabei erfahrungsnahen Ursprungsbereichen, von denen
einige im folgenden beispielhaft herausgegriffen werden.124
DAS NETZ
Ein zentrales Metaphernkonzept des Internet ist dabei natürlich das NETZ oder das
aus dem Englischen entlehnte WEB (frz. LE RÉSEAU / LA TOILE, oder die
englischen Entlehnungen LE NET / LE WEB), mit dessen Hilfe wir uns eine
Vorstellung von der Beschaffenheit und Form dieses Systems von miteinander
verbundenen Computern verschaffen. Innerhalb dieses Netzes gibt es Knoten (frz.
nœuds) und als Verbindungen die Links125 (frz. liens). Zwar fallen unter das NETZKonzept somit nur sehr wenige metaphorische Fachausdrücke, jedoch treten diese so
häufig auf, daß es durchaus berechtigt ist, von einem für das Internet zentralen
Metaphernkonzept zu sprechen.
123
124
125
Seewald (1998), S. 364.
Der Bereich des Internet läßt sich nicht immer klar vom „allgemeinen“ Computer- bzw.
Informatik-Bereich abgrenzen, so daß es bei einigen der im folgenden genannten Fachtermini zu
Überschneidungen kommt. Es wurden jedoch bewußt jene Termini ausgewählt, die hauptsächlich
für das Internet verwendet werden bzw. hier von besonderer Bedeutung sind, selbst wenn sie schon
vor dessen Verbreitung in der Fachsprache der Informatik existierten.
Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, daß das Deutsche in der Fachsprache des Internet einen
deutlich größeren Anteil an Anglizismen aufweist als das Französische. Vgl. hierzu Bruns (2001),
S. 24 sowie Cheval/Huber (1998), S. 169.
40
TECHNIK / WERKSTATT
„Zur Erklärung und Veranschaulichung von neuer Technik werden [...] Metaphern
älterer Technik verwendet.“126 Dies läßt sich auch für das Internet feststellen: In der
Fachterminologie finden sich eine Reihe metaphorischer Ausdrücke, die sich unter
einem Konzept TECHNIK / WERKSTATT zusammenfassen lassen. So gibt es zum
Beispiel die Suchmaschine (frz. moteur/outil de recherche oder moteur
d’interrogation), die Werkzeugleiste (frz. barre d’outils), die Toolbox (frz. boîte à
outils) und den Knopf/Button (frz. bouton), der mit dem Mauspfeil ‘gedrückt’ wird,
um eine bestimmte Funktion auszulösen.127 Auch den metaphorischen Fachterminus
herunterladen (frz. télécharger) von Seiten bzw. Informationen aus dem Internet
könnte man im weitesten Sinne diesem Konzept zuordnen.
POSTWESEN / EMPFANGEN UND VERSENDEN VON POST
Die Art und Weise der Informationsübertragung im Internet wird durch das Konzept
POSTWESEN / EMPFANGEN UND VERSENDEN VON POST metaphorisiert.
Dieses Konzept schlägt sich in der Fachsprache zum Beispiel in folgenden
metaphorischen Ausdrücken nieder:
(dt.)
126
127
128
elektronische Post, (E-) Mail
(frz.)
courrier électronique, message électronique,
mél, e-mail, courriel [québ.]128
Mail versenden / empfangen, mailen
envoyer / recevoir un message électronique,
poster, câbler
(Internet- / Mail-) Adresse
adresse Internet / électronique
(Daten-) Paket
paquet
Empfangsbestätigung
accusé de réception
Adressbuch
carnet d’adresses
Mailbox / Briefkasten
boîte aux lettres
Debatin (1997), http://www.uni-leipzig.de/~debatin/German/NetMet.html.
Bei der französischen Zeitung L’Humanité stellt man sich unter einem bouton allerdings
interessanterweise keinen Knopf im technisch-maschinellen Sinne vor: In ihrer Online-Ausgabe
(vgl. http://www.humanite.presse.fr/journal) werden die boutons durch verschiedenfarbige
Kleidungs-Knöpfe symbolisiert – was eine interessante Wort-Bild-Spielerei darstellt.
Das Französische in Québec weist im Bereich der Internet-Fachsprache zum Teil Abweichungen
von der französischen Sprache in Frankreich auf. Diese Québecismen werden im folgenden mit
[québ.] markiert.
41
Anhang
annexe, fichier attaché, fichier joint
Schneckenpost, Snail Mail
courrier postal, courrier escargot,
l’escargotique
Junk Mail, Bulk Mail
pollupostage, publipostage sauvage,
courrier poubelle
Bei vielen Mail-Programmen wird dieses Konzept zusätzlich mit Hilfe von
Symbolen visualisiert: So wird zum Beispiel der Button ‘Neue E-Mail’ häufig durch
das Symbol einer leeren Seite vor einem beschrifteten und frankierten Briefumschlag
ergänzt, der Button ‘Adressen’ durch ein aufgeschlagenes Adressbuch.
BÜROORGANISATION / LESEN UND SCHREIBEN
Ein
weiteres
metaphorisches
Konzept
kann
unter
dem
Begriff
BÜROORGANISATION / LESEN UND SCHREIBEN zusammengefaßt werden.129
Schon die Computer-Fachterminologie weist hierzu zahlreiche metaphorische
Ausdrücke auf, wie zum Beispiel Schreibtisch/Desktop, Ordner, Datei, Papierkorb
(frz. bureau, dossier, fichier, poubelle), die ebenfalls zusätzlich zum sprachlichen
Bild mit anklickbaren Symbolen visualisiert werden. In der Fachsprache des Internet
werden aus diesem Konzept noch zahlreiche weitere Metaphern aktiviert, wie die
folgenden Beispiele zeigen:
(dt.) Lesezeichen / Bookmark
129
(frz.) signet, marque-page
Web- / Internet-Seite
page Web / page Internet
Homepage
page d’accueil
Startseite
page de départ / d’ouverture
Protokoll
protocole
Dokument
document (électronique)
Formular
formulaire (électronique)
Unterschrift / Signatur
signature
Zwischen-Ablage
presse-papiers [=Briefbeschwerer]
Verteilerliste
liste de distribution
Archiv
(site) archive
Vgl. Seewald (1998), S. 370.
42
Einen interessanten Unterschied im deutschen und französischen Sprachgebrauch
bildet hier die Bezeichnung für den Browser. Im Deutschen wurde auf den englischen
Ausdruck zurückgegriffen, und dieser fällt eindeutig unter das Konzept LESEN UND
SCHREIBEN (to browse through = blättern130). Im Französischen kennt man zwar
auch den feuilleteur, jedoch hat sich in der Fachwelt die Bezeichnung navigateur
bzw. logiciel de navigation durchgesetzt, die (wie das Internet-Surfen) einem
Konzept WASSER oder FORTBEWEGUNG AUF DEM WASSER zugeordnet
werden muß. Dies ist vermutlich darauf zurückzuführen, daß der erste auf dem Markt
verfügbare Browser (wie in Kapitel 3 erwähnt) „Netscape Navigator“ hieß und diese
Bezeichnung
von
den
französischen
Computer-Experten
ins
Französische
übernommen wurde.
Eine ganz besondere Abweichung findet sich im Französischen Québecs: Hier heißt
der Browser butineur [butiner = Honig sammeln (Biene)] und verweist damit auf ein
Konzept aus der Tierwelt. Ein anderer frankokanadischer Terminus für den Browser
ist der fureteur [fureter = fig. herumschnüffeln, -stöbern, -schmökern], der dann
wiederum der wörtlichen Bedeutung des Browsers nahekommt. Allen vier genannten
Termini ist jedoch ein gemeinsames Konzept übergeordnet, das man im weitesten
Sinne mit SUCHE umschreiben könnte – zum einen die zielgerichtete (butineur,
navigateur), zum anderen die eher ziellose Suche (browser, fureteur).
130
Vgl. Oxford Advanced Learner’s Dictionary of Current English (1983), S. 108: „to browse: to read
parts of a book or books without any definite plan, for interest or enjoyment“. Es muß allerdings
darauf hingewiesen werden, daß diese Bedeutung im deutschen Sprachgebrauch wohl von den
wenigsten Nutzern wahrgenommen wird und die metaphorische Wirkung folglich zumeist verloren
geht. Und tatsächlich können sich deutschsprachige Internet-Anfänger häufig zunächst nichts unter
dem Browser vorstellen – durch die Homophonie mit dem deutschen Verb „brausen“ kommt es
zuweilen sogar zu Ausdrücken wie „schnell durch das Internet browsen“. Zum besseren
Verständnis ist deshalb in vielen Internet-Glossaren eine deutsche Übersetzung des englischen
Lexems hinzugefügt. Dagegen kann davon ausgegangen werden, daß die wörtliche Bedeutung der
meisten anderen genannten englischen Direktentlehnungen der Mehrheit der Nutzer geläufig ist, da
es sich bei ihnen um relativ ‘gängige’, sprich allgemein bekannte oder leicht zu übersetzende
Lexeme handelt (z.B. Mailbox, Homepage, Firewall) – was auch daran erkennbar ist, daß hier in
den Glossaren zumeist auf eine Übersetzung verzichtet wird. Bei diesen Direktentlehnungen geht
der metaphorische Effekt nicht verloren, und die (in diesem Fall bereits konventionalisierte)
Metapher erfüllt damit tatsächlich die Funktion der sprachlichen Erschließung der Zusammenhänge
im Internet.
43
GEFAHREN / BEDROHUNGEN
Ein weiteres Beispiel für ein metaphorisches Konzept ist der Bereich GEFAHREN /
BEDROHUNGEN, der ebenfalls zu zahlreichen fachsprachlichen Metaphern geführt
hat. Insbesondere fällt der bereits genannte metaphorische Ausdruck Virus131 (frz.
ebenfalls virus) ins Auge. Ein solcher Virus ist – wie das ‘Original’ aus der Medizin
– in der Lage, einen Organismus bzw. ein System (in diesem Fall: Programme oder
Dateien) zu infizieren oder gar zu verseuchen (frz. infecter, contaminer, parasiter).
Vor ansteckenden Viren (frz. virus virulents) kann man sich mit Hilfe von AntivirenProgrammen (frz. programmes antivirus) schützen und bereits vorhandene Viren
entfernen. Zwei bekannte Antiviren-Programme tragen dann auch entsprechende
medizinische Namen: „Aspirine“ bzw. „Dr. Solomon“.132 Die Bezeichnungen für
Untergruppen des Virus entstammen zwar nicht dem Bereich der Krankheiten,
wirken jedoch ähnlich beängstigend: Sie heißen Logische Bombe (frz. bombe
logique), Wurm (frz. ver) und Trojanisches Pferd (frz. cheval de Troie), wobei
letzteres – ähnlich dem Original Homers – ein scheinbar nützliches Programm ist,
das jedoch unbemerkt einen ‘Eindringling’ (in Form einer Programmfunktion)
‘einschleppt’, der sich dann auf der Festplatte ‘einnistet’ und wichtige Nutzerdaten
wie Passwörter oder Kreditkartennummern ‘ausspäht’ und über das Internet
versendet.
Zum selben Konzept GEFAHREN / BEDROHUNGEN gehört auch der
metaphorische Fachterminus Flame [Nachricht mit beleidigendem Inhalt in
131
132
Zur Herkunft der Metapher ‘Computer-Virus’ gibt es unterschiedliche Theorien. Sehr häufig
findet sich in der Literatur jedoch folgende Entstehungsgeschichte: Die Metapher wurde in den
frühen 80er Jahren von Len Adleman, Professor für Informatik an der University of Southern
California, geprägt. Er betreute die Dissertation von Fred Cohen über sich selbst
reproduzierende Computerprogramme und stellte dabei deren Ähnlichkeit zu biologischen Viren
fest: „Adleman pointed out the similarity to a biological virus, which uses the resources of the
cell it attacks to reproduce itself, and the term ‘computer virus’ began its journey into everyday
English“ (Mullens 1997, http://www.sciam.com/askexpert/computers/computers9.html; Sciam =
Scientific American). Vgl. hierzu auch Busch (1998), S. 55f. sowie Lotter (2000),
http://www.brandeins.de/ magazin/archiv/2000/ausgabe_05/kolumnen/artikel5_1.html.
Im Internet herunterladbar unter http://www.aspirine.altasecu.com bzw. http://www.drsolomon.com.
Interessanterweise weicht die Fachsprache beim Entfernen des Virus aus einer Datei jedoch vom
medizinischen Konzept ab und bedient sich hier wiederum eines technischen Terminus: Die Datei
wird nicht ‘geheilt’, sondern ‘repariert’ (frz. ebenfalls réparer). Beim Antiviren-Programm Norton
Antivirus erscheint bei diesem ‘Reparatur’-Vorgang dann auch anstelle eines ‘Arztes’ ein mit
Schraubenziehern ausgestatteter ‘Handwerker’ auf dem Bildschirm – nach erfolgreichem Abschluß
erhält man allerdings wiederum die Meldung, der Computer sei jetzt gegen den Virus ‘geimpft’.
Hier wird also zwischen zwei Konzepten (MEDIZIN und TECHNIK/WERKSTATT) gewechselt.
44
Newsgroups und Chatrooms] (frz. coup de feu, torpille), der sich zu einem wahren
Flame War bzw. Flame Krieg (frz. fusillade, bataille, guerre d’insultes) ausweiten
kann. Das Feuer als Bedrohung schlägt sich auch bei der Bezeichnung einer
Schutzmaßnahme metaphorisch nieder: Interne Netze von Firmen werden durch eine
Firewall (frz. pare-feu, coupe-feu) vor eindringenden Hackern aus dem Internet
geschützt.
SOZIALE INTERAKTION / SPRACHLICHE KOMMUNIKATION
Im Internet kommen Menschen zusammen, die miteinander kommunizieren und
anderweitig interagieren. Auch dieser Umstand hat zu einer Reihe metaphorischer
Fachtermini geführt, die man unter dem Konzept SOZIALE INTERAKTION /
SPRACHLICHE KOMMUNIKATION zusammenfassen kann.133 Beispiele für
metaphorische Fachausdrücke aus diesem Konzept sind folgende:
(dt.)
Newsgroup
(frz.) forum / groupe de discussion
Server
serveur
Client
client
[einzelner Rechner, der auf den Server
zugreift, also als eine Art „Kunde“ von
diesem bedient wird]
Sprache (zum Beispiel HTML)
langage (HTML)
Begrüßungsseite
page d’accueil / de bienvenue
Chat; Chatroom
bavardage, causette, chat; bavardoir,
salon
Netikette, Netiquette
nétiquette, netiquette, Net’iquette
[Verhaltensregeln für den Umgang im
Internet; eine Art „Knigge“]
RAUM / BAUWERK
Das Internet wird häufig als Raum gedeutet, in dem man sich analog zum
physikalischen Raum bewegen kann, was sich schon an alltagssprachlichen
Ausdrücken wie im Internet sein, auf eine Seite gehen, vor/zurück gehen/springen
133
Vgl. Seewald (1998), S. 371.
45
bzw. nach oben/unten gehen (französische Beispiele: se promener/se balader sur
Internet, sauter de page en page, parcourir une page, revenir en arrière, aller en
avant, remonter)134 erkennen läßt. Doch auch die Fachsprache weist zu einem
Konzept RAUM / BAUWERK eine Reihe metaphorischer Ausdrücke auf, wie die
folgenden Beispiele zeigen:135
(dt.) Portal
Gateway
(frz.) portail
passerelle, porte
[Verbindung zwischen 2 Netzen]
Chatroom
bavardoir, salon
Pfad
chemin d’accès, chemin
Kanal, Channel
canal
Plattform
plateforme
Rollbalken, Bildlaufleiste
barre de déplacement / de défilement,
ascenseur (horizontal, vertical)
Firewall
pare-feu, coupe-feu, barrière de sécurité,
garde-barrière, guérite, écluse
[Server zum Schutz des Intranet eines
Unternehmens gegen eindringende Hacker
aus dem Internet]
Fenster / Fenster öffnen
fenêtre / ouvrir une fenêtre
Passwort
mot de passe
Zugangsberechtigung
droit d’accès
umleiten
rediriger
4.2.1 Die Entstehung der Metapher ‘Internet-Surfen’
Die Metapher des Internet-Surfens bildet in der Fachsprache des Internet einen
Sonderfall. Zwar handelt es sich um einen Ausdruck, der Eingang in die
Fachterminologie gefunden hat, jedoch wurde er im Gegensatz zu den bereits
genannten nicht von Informatikern oder sonstigen Computer-Experten geprägt. Es
war die New Yorker Bibliothekarin Jean Armour Polly, die 1992 den Begriff
einführte, als sie für die Fachzeitschrift Wilson Library Bulletin einen speziell für
134
135
Eine interessante Studie, wie sich englischsprachige Nutzer das Internet als Raum vorstellen und
entsprechende sprachlich-metaphorische Ausdrücke verwenden, legen Maglio/Matlock (1998) vor.
Vgl. insbesondere die Abschnitte „HOW PEOPLE TALK ABOUT THE WEB“ (ebd., S. 138f.)
sowie „STUDY: LANGUAGE USE UPON THE WEB“ (ebd., S. 140ff.).
Das vorliegende Kapitel beschränkt sich auf fachsprachliche Ausdrücke. Die von den ComputerLaien geprägten Metaphern zum RAUM-Konzept werden in den Kapiteln 5 und 6 ausführlich
behandelt.
46
Anfänger konzipierten Artikel zur Internetbenutzung schrieb. Zu jener Zeit gab es
noch kaum Literatur zum Internet; Einführungen für Anfänger fehlten fast völlig. Da
Pollys Aufsatz „Surfing the Internet“136 kurz und überblicksartig gehalten war,
verbreitete er sich sehr schnell über das Internet und wurde in viele Sprachen
übersetzt, so daß der Begriff Internet-Surfen nahezu weltweit in viele Sprachen
einging.137 Wie kam Jean Polly selbst auf diese Metapher? Auf ihrer Homepage
schreibt sie:
„In casting about for a title for the article, I weighed many possible metaphors. I wanted
something that expressed the fun I had using the Internet, as well as hit on the skill, and yes,
endurance necessary to use well. I also needed something that would evoke a sense of
randomness, chaos, and even danger. I wanted something fishy, net-like, nautical.“138
Laut Polly sprachen zu jener Zeit noch viele Menschen im Zusammenhang mit dem
Internet vom ‘Graben’ oder ‘Fischen’, doch drückte dies für sie nicht den „fun“ aus,
den sie selbst bei der Benutzung des Internet empfand. Sie suchte nach einem
adäquaten sprachlichen Bild, das sowohl Spaß als auch Ausdauer, Können und eine
gewisse Gefahr transportierte. Bei ihren Überlegungen fiel ihr Blick auf das von ihr
benutzte Mousepad, das einen Surfer auf einer riesigen Welle darstellte139 – für Polly
bildeten die Eigenschaften dieser Sportart ein exaktes Äquivalent zu ihren
Erfahrungen bei der Internet-Nutzung.
„Also Surfen: Inbegriff der Freiheit, der Gefahr und der Fähigkeit, die Kontrolle zu
behalten. Polly sah das Internet als Ozean ‘mit all seinen Irrwegen und all seinen
Schätzen’.“140
Mit ihrem Aufsatz verbreitete sich diese Metapher sehr schnell weltweit und ging auf
diese Weise nicht nur in den allgemeinen Sprachgebrauch, sondern auch in die
Internet-Fachterminologie vieler Sprachen ein – und die Internet Society weist in
ihrer Zeitleiste zur Geschichte des Internet Jean Polly als offizielle Urheberin des
Begriffes Internet-Surfen aus.141
136
137
138
139
140
141
Vgl. Polly (1994), http://www.netmom.com/about/surfing.shtml.
Vgl. Volkery (1999), http://www.spiegel.de/netzwelt/netzkultur/0,1518,43453,00.html.
Polly (1994), http://www.netmom.com/about/birth.shtml.
Auch dieses Mousepad ist auf der Homepage von Jean Polly zu sehen (vgl. ebd.).
Volkery (1999), http://www.spiegel.de/netzwelt/netzkultur/0,1518,43453,00.html.
Vgl. ISOC (2001), http://www.isoc.org/internet/history.
Ganz unumstritten ist dieses ‘Urheberrecht’ allerdings nicht. So weist zum Beispiel McKeown darauf hin,
daß Polly als offizielle Begründerin der Metapher Internet-Surfen gilt, „though surfing analogies had
been applied to various aspects of computing and information technology prior to this“ (McKeown 2001,
47
Daß diese Metapher jedoch zunächst nicht von allen Menschen akzeptiert wurde,
beweist die Gründung einer Newsgroup mit dem Namen „A Pox Upon Jean Polly“
durch ‘echte’ Surfer, also Wassersportler. Sie wünschten Polly in dieser Newsgroup
„die Pocken oder gar Schlimmeres“142, weil ihr Hobby ihrer Meinung nach mit „dem
vermeintlich stumpfen Starren auf den Bildschirm gleichgesetzt wurde.“143
Mittlerweile sind diese Stimmen jedoch verstummt. Die Metapher des Surfens hat
sich allgemein durchgesetzt und ist einer der wenigen Fachtermini, die von einem
Computer-Laien geprägt und in die Fachsprache aufgenommen wurden. Heute ist das
Internet-Surfen sowohl im fachlichen als auch im allgemeinen Sprachgebrauch eine
konventionalisierte Metapher.
Diese Entstehungsgeschichte ist darüber hinaus ein gutes Beispiel für die Funktion
des highlighting and hiding bzw. des Fokussierungseffektes von Metaphern: Polly
suchte explizit nach einem metaphorischen Ausdruck, der die für sie selbst wichtigen
Charakteristika des Internet – Spaß, Ausdauer, Können, Gefahr – hervorhob. Die bis
dahin vielfach benutzten Metaphern des ‘Grabens’ oder ‘Fischens’ fokussierten ihrer
Meinung nach offensichtlich nicht auf die wirklich wesentlichen Aspekte, so daß
eine neue, ‘passendere’ Metapher geprägt werden mußte. Die Tatsache, daß diese
von den ‘echten’ Surfern zunächst vehement abgelehnt wurde, weist einmal mehr auf
den großen Stellenwert von Metaphern hin: Die Surfer erkannten in dem neuen
Medium zu jener Zeit offensichtlich nur negative Seiten – für sie wiesen source und
target domain demnach keinerlei Ähnlichkeiten auf. Sie sahen ihren Sport allein
durch die Metapher verunglimpft. Mit der zunehmenden Verbreitung des Internet
schwanden die Vorbehalte gegenüber diesem Medium – und die Surf-Metapher
wurde schließlich auch von den echten Surfern akzeptiert. Metaphern üben also
tatsächlich einen großen Einfluß auf die menschliche Wahrnehmung aus und können
somit durchaus wirklichkeitsstrukturierend wirken.
142
143
http://mypage.uniserve.ca/~ttrevor/cyber/cyberetymology.html). Dennoch führt auch McKeown sie in
seiner Cyberetymology unter dem Eintrag „Surfing“ als Urheberin auf (vgl. ebd.).
Volkery (1999), http://www.spiegel.de/netzwelt/netzkultur/0,1518,43453,00.html.
Ebd.
48
4.3
Schlußfolgerungen
Wie im vorliegenden Kapitel gezeigt wurde, weist die von Computer-Experten
geprägte Fachterminologie des Internet sowohl im Deutschen als auch im
Französischen einen hohen Anteil metaphorischer Ausdrücke auf. Diese stammen in
der Regel aus Erfahrungsbereichen, die dem Nutzer sehr viel vertrauter und
‘lebensnäher’ sind als das komplexe und in seiner Form und Funktionsweise nicht
greifbare Internet. Die Ursprungsbereiche sind dabei in beiden Sprachen bis auf
wenige Ausnahmen (z.B. „Browser“ vs. „navigateur/butineur/fureteur“) nahezu
identisch. Es werden nur zu einem relativ geringen Teil unterschiedliche Metaphern
aus demselben Konzept aktiviert (zum Beispiel „Zwischen-Ablage“ vs. „pressepapiers“ aus dem gemeinsamen Konzept BÜROORGANISATION); zum größten
Teil handelt es sich um direkte Entsprechungen – was vor allem darauf
zurückzuführen ist, daß die meisten Internet-Termini aus dem Englischen stammen
und als direkte Übersetzungen Eingang in die Terminologie anderer Sprachen fanden
(bzw. noch immer finden).
Metaphorische Fachtermini tragen ganz wesentlich dazu bei, die Zusammenhänge
und Strukturen des Internet sprachlich zu verdeutlichen und auf diese Weise kognitiv
verfügbar zu machen. Damit erfüllen Metaphern insbesondere in komplexen
Wissensgebieten ihre vielleicht wichtigste Funktion der kognitiven Erschließung
abstrakter Bereiche durch den sprachlichen Rückgriff auf erfahrungsnahe
Ursprungsdomänen.
„Voraussetzung für die Bildung von Metaphern gerade in den Fachsprachen ist, daß sich die
Wissenschaft als Erkennungsprozeß versteht und mit Hilfe der Analogie neu erkannte
Vorgänge verdeutlicht.“144
Nachdem die Bedeutung metaphorischer Ausdrücke in der Fachterminologie des
Internet dargestellt wurde, sollen nun im folgenden Kapitel jene Metaphern
untersucht werden, die der Computer-Laie für das Internet prägt. Es ist zu vermuten,
daß es hier zu gänzlich anderen Metaphern kommt, die weniger auf die Technologie
als vielmehr auf die sozialen und kulturellen Aspekte des neuen Mediums
fokussieren und somit möglicherweise andere Vorstellungen transportieren als die
fachsprachlichen Metaphern.
49
5.
Die Metaphorisierung des Internet: soziale und
kulturelle Aspekte
Der
Begriff
„Internet“
bezeichnet
zunächst
nur
die
Technologie,
das
Computernetzwerk als solches, mit dem Daten zwischen den miteinander
verbundenen Computern übertragen werden können. Es ist eine Bezeichnung, die aus
der Fachwelt der Internet-Entwickler stammt. Technik besteht immer nur in
Wechselwirkung mit den jeweiligen Nutzern, und so ist es ganz natürlich, daß mit
der zunehmenden Verbreitung des Internet in der Welt des ‘normalen’ Anwenders
mit begrenztem Computer-Fachwissen neue Begrifflichkeiten entstehen, die von der
Expertensprache stark abweichen. An das Internet „knüpfen sich [...] vielfältige
soziale Phantasien“145, so daß sich zu seiner Beschreibung die Verwendung
sprachlicher Bilder geradezu anbietet. Wie in Kapitel 2 dargestellt, bedient man sich
bei der Erschließung neuer und komplexer Sachverhalte einer Vielzahl von
Metaphern, die das abstrakte Neue (in der Terminologie von Lakoff/Johnson also die
target domain) in den Begrifflichkeiten des Altbekannten (der source domain)
erfahrbar und somit verständlich machen. Es ist also zu erwarten, daß auch im
Zusammenhang mit dem Internet zahlreiche Metaphern auftreten.
Im folgenden soll das Internet – bzw. die Sprache, mit der über dieses neue Medium
gesprochen wird – auf Metaphern hin untersucht werden. Beim Verständnis der
technischen Zusammenhänge helfen, wie in Kapitel 4 dargestellt, metaphorische
Fachtermini. Soziale und kulturelle Aspekte finden sich jedoch in ganz anderen
Metaphern wieder; und so soll es hier im Unterschied zum vorangegangenen Kapitel
um jene Metaphern gehen, die von den ‘Laien’ geprägt werden, also von Menschen,
die sich nicht professionell mit der Technologie des Internet auseinandersetzen und
es nur in seiner Eigenschaft als Medium sehen.
Zu diesem Zweck soll zunächst die Entstehungsgeschichte dreier zentraler ‘InternetMetaphern’ näher betrachtet und die mit ihnen verknüpften Assoziationen und
Konnotationen herausgearbeitet werden. Im Anschluß daran soll eine Analyse von
144
145
Schmitt (1988), S. 115.
Neverla (1998), S. 18.
50
deutschen und französischen Zeitungsartikeln Aufschluß darüber geben, in welchen
Kontexten diese Metaphern verwendet werden.
5.1
Zur Herkunft der zentralen Internet-Metaphern ‘Cyberspace’,
‘Datenautobahn’ und ‘globales Dorf’
Sowohl im Deutschen als auch im Französischen gibt es zentrale Metaphern, mit
denen über das Internet gesprochen und geschrieben wird. So dürften wohl jedem,
der
sich
mit
diesem
Medium
beschäftigt,
die
Metaphern
Cyberspace,
Datenautobahn, oder globales Dorf (frz. cyberespace, autoroute de l’information,
village global) vertraut sein. Gerade jene Metaphern, die sehr häufig im
Zusammenhang mit dem Internet gebraucht werden, haben oftmals eine interessante
Entstehungsgeschichte; zum Teil wurden sie sogar bewußt lanciert. Im folgenden
werden daher diese drei häufig vorkommenden Metaphern hinsichtlich ihrer
Herkunft und der mit ihnen verknüpften Assoziationen und Konnotationen näher
beleuchtet.
5.1.1 Die Metapher ‘Cyberspace’
Die Metapher Cyberspace (im Französischen cyberespace) stammt aus der ScienceFiction-Literatur. Sie wurde Anfang der 80er Jahre von dem US-amerikanischen
Autor William Gibson geprägt. Populär wurde sie mit seinem 1984 erschienenen
Roman Neuromancer. Der Cyberspace ist hier ein computergenerierter Raum hinter
dem Bildschirm, in den sich die Romanfiguren (mittels Elektroden und Implantaten
in ihrem Gehirn) begeben. Das Eintauchen in den Cyberspace hat für die Figuren eine
bewußtseinserweiternde, jedoch zugleich zerstörerische Wirkung (ähnlich einer
Droge), weshalb hier mit diesem Begriff düstere Zukunftsvisionen verbunden
werden.146
In
einer
folgendermaßen:
146
Vgl. Bühl (1996), S. 19f.
Schlüsselstelle
beschreibt
Gibson
den
Cyberspace
51
„Cyberspace. Eine Konsens-Halluzination, tagtäglich erlebt von Milliarden
zugriffsberechtigter Nutzer in allen Ländern, von Kindern, denen man mathematische
Begriffe erklärt... Eine grafische Wiedergabe von Daten aus den Banken sämtlicher
Computer im menschlichen System. Unvorstellbare Komplexität. Lichtzeilen im NichtRaum des Verstands, Datencluster und -konstellationen. Wie die zurückweichenden Lichter
einer Stadt... [...] Wie ein Origamitrick in flüssigem Neon entfaltete sich seine distanzlose
Heimat, sein Land, ein transparentes Schachbrett in 3-D, das sich in die Unendlichkeit
dehnte.“147
Der Begriff „Cyberspace“ ist ein von Gibson geprägter Neologismus. Die erste
Komponente „cyber“ stammt aus dem Griechischen und bedeutet dort soviel wie
„navigieren, steuern“ (kybernetike = griech. Steuermannskunst148). Die zweite
Komponente „space“ (engl. Raum) leitet sich vom lateinischen „spatium“ (Raum,
Weite) ab.149 Es wird mit dieser Metapher also ausdrücklich der Raum in den
Vordergrund gestellt, und zwar nicht der geschlossene Raum (der im Englischen mit
„room“ übersetzt würde), sondern ein grenzenloser Raum ähnlich dem Weltall. Ein
wesentliches Charakteristikum dieser Metapher liegt folglich in der Unendlichkeit,
Grenzenlosigkeit und im Unbekannten.
Bollmann weist darauf hin, daß es nicht Gibson selbst, sondern der USamerikanische Autor und Bürgerrechtler John Perry Barlow war, der den CyberspaceBegriff aus dem Bereich der Science Fiction herauslöste und mit dem Internet in
Verbindung brachte:
„Barlow beharrte darauf, daß Cyberspace als eine qualitativ neue Welt betrachtet werden
sollte, als eine ‘Grenze’. Laut Barlow konnte die Welt der elektronischen Kommunikation,
wie sie nun durch den Computer-Bildschirm einsehbar wurde, sinnvollerweise nicht länger
als ein Wirrwarr von Hightech-Kabeln betrachtet werden. Statt dessen war sie zu einem Ort,
einem Platz, einem ‘Technotop’ geworden, der nach einer Reihe neuer Metaphern, neuer
Regeln und Verhaltensmuster verlangte. Der Ausdruck, wie ihn Barlow gebrauchte, traf den
richtigen Ton, und sein Begriff von ‘Cyberspace’ wurde von Time, Scientific American,
Datenschützern, Hackern und selbst bestallten Wissenschaftlern aufgegriffen. Mittlerweile
ist ‘Cyberspace’ wohl zu einer dauerhaften sprachlichen Bildung geworden.“150
Die Tatsache, daß diese Metapher inzwischen allgemein mit dem Internet in
Zusammenhang gebracht wird, läßt darauf schließen, daß es hier offensichtlich
wirklich die Vorstellung eines Raumes ‘hinter dem Bildschirm’ gibt. Dabei handelt
es sich, wie der Wortteil „space“ bereits ausdrückt, um einen grenzenlosen, nahezu
unendlichen und unbekannten Raum, den es – ähnlich dem Weltraum – zu erforschen
147
148
149
Gibson (1996), S. 73ff.
Auf dem griechischen „kybernetike“ basiert auch die Kybernetik (engl. cybernetics), die
Wissenschaft von den Steuerungs- und Regelungsvorgängen verschiedener Systeme natürlicher
und künstlicher Art. Vgl. Bühl (1996), S. 19.
Vgl. ebd.
52
gilt. Die Assoziation mit dem Weltraum läßt sich auch aus weiteren Begrifflichkeiten
ersehen: In Anlehnung an die Raumfahrt werden Internet-Nutzer häufig als
„Cybernauten“ (im Französischen „internautes“ – seltener „cybernautes“) bezeichnet.
Kleinsteuber sieht darüber hinaus Parallelen zu einer amerikanischen Erfahrung, die
zeitlich sehr viel früher liegt als die Erforschung des Weltraums. Er bringt die
‘Eroberung’ des Cyberspace in Verbindung mit der Besiedelung Nordamerikas:
„Mit Cyberspace wird zudem an uralte amerikanische Erfahrungen angeknüpft. Der
nordamerikanische Kontinent wurde lange Zeit als grenzenloser und damit offener Raum
interpretiert, in dem das Individuum auf sich gestellt und ohne reglementierende
Staatsmacht überleben konnte und mußte. Diese als glorreich verklärte Zeit bietet z.B. den
Hintergrund für die amerikanische Metaphern-Welt des Western-Films.“151
Wie einst der nordamerikanische Kontinent ein unbekanntes Gebiet war, in dem es
für die Pioniere weder Grenzen noch Gesetze gab und somit die Freiheit und der
Überlebenswille des Einzelnen zählten, so wird mit der Metapher Cyberspace das
Internet
als
unbekannter,
weitläufiger
und
nicht
reglementierter
Raum
wahrgenommen, den sich der Nutzer erobern muß.152 Und schon sehr viel früher
segelten Seefahrer wie Christoph Kolumbus unbekannten Zielen entgegen und
entdeckten auf diese Weise neue Gebiete, die sie für sich (bzw. die jeweilige Krone)
in Besitz nahmen. Der Wortteil „cyber“ lehnt sich damit nicht zufällig an die
Seefahrt als ‘Steuermannskunst’ an. Und auch die Metapher Netzpirat153 (frz. pirate
du Net oder pirate de l’Internet) bringt den Cyberspace mit den in den Weiten des
Meeres lauernden Gefahren in Verbindung.
So unterschiedlich die beschriebenen Missionen auch sein mögen, sie haben eines
gemeinsam: Die Erschließung bzw. Eroberung neuer Räume ist nur mit Hilfe der
jeweils modernsten Technik möglich. Seefahrer waren (und sind bis heute) auf
Navigationsinstrumente angewiesen; für die Erschließung des nordamerikanischen
Kontinents war die Eisenbahn von großer Bedeutung; und ohne modernste
Raumfahrttechnik wäre die Erkundung des Weltraums unmöglich. Es überrascht
150
151
152
Bollmann (1998b), S. 164.
Kleinsteuber (1996b), S. 32, Hervorhebung im Original.
Daß auch William Gibson bei seiner Wortschöpfung den Cyberspace mit diesem ‘Wilden Westen’
assoziierte, zeigt die Bezeichnung, die er seinen Protagonisten gab: Sie nennen sich
„Consolencowboys“.
53
daher nicht, wenn sich die in Verbindung mit dem Cyberspace verwendeten
Begrifflichkeiten an jene Erfahrungen aus der älteren wie jüngsten Geschichte
anlehnen und diese somit im Sinne von Lakoff/Johnson als source domain für die
target domain Internet dienen.
Was dem Seefahrer das Schiff, dem Pionier die Eisenbahn und dem Kosmonauten
die Raumfähre, ist dem Internet-Nutzer der Browser: ein ‘Vehikel’, mit dem man
sich einen unbekannten Raum erschließt. Bezeichnenderweise tragen die beiden
bekanntesten Browser entsprechende Namen: Netscape Navigator bzw. Internet
Explorer154. Der Projektname Abilene für die zweite Internet-Generation weist
ebenfalls auf diese Parallele hin, geht er doch auf den Eisenbahnknotenpunkt Abilene
in Kansas zurück, von wo aus im 19. Jahrhundert die Erschließung des
nordamerikanischen Kontinents begann.155 Insgesamt wird mit dem Internet als
Cyberspace also offensichtlich ein gewisser Pioniergeist assoziiert – was sich zum
Beispiel auch in den Metaphern Netzpionier bzw. Internetpionier niederschlägt (frz.
pionnier de l’Internet). Die Metapher des Cyberspace ist damit eng an die Begriffe
von Freiheit und Unabhängigkeit geknüpft. Hier findet der amerikanische Traum
seine Fortsetzung: Ein noch nicht erschlossener und unbesiedelter Raum hat
natürlicherweise weder einen Besitzer noch eine Kontrollinstanz und unterliegt somit
keinerlei Reglementierungen. Dies bedeutet jedoch gleichzeitig, daß jeder auf sich
gestellt und damit auch unberechenbaren Gefahren ausgesetzt ist. „Diese
Herrschaftslosigkeit [...] [findet] ihre politische Parallele in der Anarchie“156 – und
tatsächlich wird die Cyberspace-Metapher vor allem von jener Gruppe von Hackern
und anderen Netzpionieren der ersten Stunde (gern auch „Cyberpunk“-Bewegung
genannt) befürwortet, die sich einst mit dem Aufbau von unabhängigen Bürgernetzen
gegen das staatlich geförderte ARPANET stellten und somit eine Art rechtsfreien
Raum schufen. Sie wenden sich bis heute gegen die zunehmende ‘Besetzung’ des
Internet durch Wirtschaft und Politik, und vor allem auch gegen die reglementierende
Funktion der ‘Internet-Weltregierung’ Icann.
153
154
155
156
Mit dieser Bezeichnung ist jemand gemeint, der sich unter Umgehung der anfallenden Gebühren
kostenpflichtige Angebote aus dem Internet lädt (z.B. Musik, Spiele, Programme) – sprich: stiehlt
– und sie weiterverbreitet.
Zusätzlich zum sprachlichen Bild bewegt sich bei beiden Browsern während des Suchvorganges
ein passendes bildliches Symbol über den Monitor: In früheren Versionen des Netscape Navigators
war dies ein historisches Schiffssteuerrad, in neueren Versionen dann ein Leuchtturm. Beim
Internet Explorer dreht sich während des Suchvorganges eine Weltkugel.
Vgl. Abschnitt 3.5 der vorliegenden Arbeit, Fußnote 106.
Kleinsteuber (1996b), S. 33.
54
Neben den positiven Assoziationen von Freiheit und Unabhängigkeit schwingen bei
der Cyberspace-Metapher auch negative Merkmale mit. Mit dem Cyberspace eng
verbunden ist der Begriff der Virtuellen Realität157 (frz. realité virtuelle), der in den
80er Jahren von dem amerikanischen Computerwissenschaftler Jaron Lanier geprägt
wurde. Er entwickelte Datenhandschuhe und -brillen, mit denen es möglich ist, in
computersimulierte Welten einzutauchen und sich darin scheinbar zu bewegen, da
jede reale Hand- und Kopfbewegung im virtuellen Raum umgesetzt wird.158
„Virtuell“ bedeutet laut Duden „der Kraft oder Möglichkeit nach vorhanden,
scheinbar“159, weist also auf etwas letztlich nicht real Vorhandenes hin; und so ist der
Begriff der Virtuellen Realität semantisch ein Widerspruch in sich. Genau darin
sehen viele Netzkritiker die Gefahr: Sie befürchten, daß das Internet eines Tages für
viele Menschen die Wirklichkeit ersetzen und zur Realitätsflucht in den nur virtuell
existierenden Raum Cyberspace führen könnte.160 Bühl hält daher die Metaphern
Cyberspace und Virtuelle Realität aus zweierlei Gründen für geeignet:
„Zum einen die Tatsache, daß etwas wirklich da ist, das wir erkunden können, weil es auf
unsere Sinne wirkt und durch unsere Handlungen verändert werden kann, und zum anderen
die Feststellung, daß ein Teil dieser Wirkungen auf einer Täuschung oder einer idealisierten
Annahme beruht. [...] Die Metaphern vom Cyberspace und der virtuellen Welt [erfassen]
damit ein wesentliches Phänomen des Prozesses: die Virtualisierung gesellschaftlicher
Verhältnisse, die Dopplung der Realität [...] sowie die sich aus der Dopplungsstruktur
ergebenden sozialen, kulturellen und subjektbezogenen Konsequenzen. [...] [So erfaßt] die
Cyberspace-Metapher gerade auch die Gefahren der technologischen Entwicklung.“161
Nach Betrachtung der beim Cyberspace mitschwingenden Assoziationen ist zu
vermuten, daß diese Metapher vor allem in jenen Kontexten auftritt, in denen es um
die individuelle Freiheit und unbegrenzten Möglichkeiten des Internet-Nutzers geht:
Jeder kann das Internet für seine Zwecke nutzen, sich jegliche Information
beschaffen bzw. eigene verbreiten, jeder kann mit jedem überall auf der Welt
kommunizieren. Auf der anderen Seite könnte die Metapher verstärkt dort
auftauchen, wo von den Gefahren, die von dem neuen Medium ausgehen, die Rede
ist – und zwar nicht nur den Gefahren der Realitätsflucht, sondern auch jenen, die in
157
158
159
160
161
Virtual Reality, häufig mit VR abgekürzt.
Vgl. zum Beispiel Bollmann (1998b), S. 165.
Vgl. Duden (2000), S. 1043.
Tatsächlich wird heute immer häufiger über Fälle von Internet-Sucht berichtet, und Mediziner und
Psychologen warnen bereits vor den Folgen der zunehmenden Verbreitung dieses
Krankheitsbildes.
Bühl (1996), S. 21.
55
der Freiheit selbst liegen: Grenzenlose Freiheit bedeutet schließlich auch die Freiheit,
ungehindert gefährliche oder kriminelle Informationen und Inhalte verbreiten bzw.
abrufen zu können (Kinderpornographie, Vernetzung terroristischer Gruppierungen,
Neonazi-Propaganda etc.).
Als Raum- und Bewegungsmetapher müßte sie darüber hinaus vor allem in jenen
Zusammenhängen erscheinen, in denen das Internet als ‘neue Welt’, als ‘Raum hinter
dem Bildschirm’ wahrgenommen wird, in dem man sich analog zum realen Raum
bewegen kann.162 Ferner könnte sie dort auftreten, wo von Konflikten zwischen
Hackern und den reglementierungswilligen Institutionen die Rede ist.
Es ist also zu erwarten, daß die Cyberspace-Metapher sowohl in Verbindung mit
positiv-schwärmerischen als auch düsteren Zukunftsvisionen gebraucht wird. Die
Korpusanalyse in Kapitel 6 soll Aufschluß darüber geben, ob diese Vermutungen
zutreffen.
5.1.2 Die Metapher ‘Datenautobahn’
Die Metapher Datenautobahn (frz. autoroute de l’information) stammt im Gegensatz
zum Cyberspace nicht aus der Science Fiction, sondern aus der Politik. Es war der
damalige US-amerikanische Vizepräsident Al Gore, der im September 1993 in einer
Regierungserklärung vor dem nationalen Presseclub den Ausbau einer nationalen
Informations-Infrastruktur (‘National Information Infrastructure NII’) ankündigte, die
eine Vernetzung aller Universitäten, Schulen, Krankenhäuser und Bibliotheken der
USA zwecks Förderung wirtschaftlicher und sozialer Interessen vorsah. In diesem
Zusammenhang sprach Gore von ‘information highways’163:
162
163
Daß das Internet tatsächlich häufig als Raum wahrgenommen wird, beweist die relativ neue
Disziplin der Cybergeographie, die sich damit beschäftigt, die ‘virtuelle Welt’ mittels ‘Landkarten’
zu visualisieren. So sammelt zum Beispiel der britische Wissenschaftler Martin Dodge Pläne der
Internet-Provider, Karten der großen Telekommunikationsfirmen sowie wissenschaftliche
Untersuchungen und faßt die darin enthaltenen Informationen (wie Netzknoten, Rechenzentren,
Datenleitungen, Anzahl der Internet-Nutzer etc.) zu ‘Cyberlandkarten’ zusammen. Auf diese Weise
entstand ein ‘Atlas’ des Cyberspace, der regelmäßig aktualisiert wird. Vgl. Dodge (2001),
http://www.cybergeography.org.
Bühl weist darauf hin, daß Al Gore mit der Highway-Metapher auch versucht, „an den Mythos
seines Vaters, des Highway-Gores, des allseits geachteten Schöpfers eines Schnellstraßennetzes,
anzuknüpfen.“ (Bühl 1996, S. 14). Gores Vater hatte 1956 mit dem ‘Federal Aid Highway Act’ den
Ausbau des US-amerikanischen Interstate-Highway-Netzes vorangetrieben.
56
„One helpful way is to think of the National Information Infrastructure as a network of
highways much like the Interstates begun in the ‘50-s. These are highways carrying
information rather than people or goods. And I’m not talking about just one eight-lane
turnpike. I mean a collection of Interstates and feeder roads made up of different materials
in the same way that roads can be concrete or macadam – or gravel. Some highways will be
made up of fiber optics.“164
In den deutschen Medien tauchte diese Metapher erstmals Anfang 1994 auf165,
allerdings wurde hier aus dem information highway eine Datenautobahn. Wer der
deutsche Urheber dieser Metapher war, ist unklar. Vielfach wird hier auf den
sogenannten ‘Bangemann-Report’166 verwiesen, den Bericht einer Europäischen
Kommission unter Vorsitz von Martin Bangemann, der sich an die Gore-Initiative
anlehnt und für Europa die Schaffung eines modernen transeuropäischen Netzes von
Hochschulen, Forschungszentren und sozialen Einrichtungen als Basis für die
Entwicklung
der
Informationsgesellschaft
empfiehlt
und
Vorschläge
zu
kommerziellen Bereichen wie Home-Shopping oder Telebanking unterbreitet.
Canzler et al.167 können jedoch belegen, daß bereits vor Erscheinen des BangemannReports in etlichen Presseberichten und Werbeanzeigen die Metapher der
Datenautobahn auftauchte.
Im Französischen wurde der ‘information highway’ direkt mit autoroute de
l’information übersetzt. Auch hier ist unklar, von wem die Metapher erstmals
verwendet wurde, und vielfach wird auch hier auf einen offiziellen politischen
Bericht verwiesen. So soll es der ‘Rapport Théry’ von Gérard Théry an den
französischen Premierminister gewesen sein, in dem 1994 erstmals von ‘autoroutes
de l’information’ die Rede war.168
Bei allen Zweifeln an der deutschen bzw. französischen ‘Urheberschaft’ scheint
jedoch eines klar zu sein: Die Datenautobahn-Metapher hat einen politischen
Hintergrund. Sie wurde in den USA von einem Politiker lanciert und in Europa
ebenfalls von der Politik aufgenommen und verwendet. Damit dürfte sie schon allein
164
165
166
167
168
Microsoft Encarta Enzyklopädie, Eintrag „Datenautobahn“, http://www.encarta.msn.de/find.
Vgl. Canzler et al. (1995), http://duplox.wz-berlin.de/texte/caheho/, Abschnitt 3.1.
Vgl. Bangemann (1994). Dieser vielbeachtete Bericht des FDP-Politikers und damaligen EUKommissars veranlaßte u.a. die Abschaffung der nationalen Telekommunikations-Monopole
innerhalb der EU und damit die Öffnung des Telekommunikations-Marktes für private Anbieter.
Vgl. Canzler et al. (1995), http://duplox.wz-berlin.de/texte/caheho/, Abschnitt 2.1.
Vgl. z.B. Gauron (1998), S. 24 und 41. Gérard Théry, ehemals Vorsitzender von France Télécom,
unter Präsident Giscard d’Estaing directeur général des télécommunications und von 1995-97
Leiter der Cité des sciences et de l’industrie (La Villette), gilt als einer der ‘Väter’ des in
Frankreich weitverbreiteten und sehr erfolgreichen Minitel (dessen deutsches Äquivalent BTX –
Bildschirmtext – sich hierzulande nicht durchsetzen konnte) und engagierte sich ebenfalls sehr für
die Verbreitung des Internet in Frankreich.
57
aufgrund ihrer Herkunft gänzlich andere Konnotationen aufweisen als die Metapher
des Cyberspace.
Welches sind nun die Assoziationen, die sich an die Datenautobahn-Metapher
knüpfen? Es ist zu vermuten, daß ihre Urheber vor allem die positiven Aspekte im
Blick
hatten.
Hier
ist
zunächst
der
hohe
Wiedererkennungswert
und
Vertrautheitsgrad zu nennen: Jeder Bewohner eines industrialisierten Landes kennt
Autobahnen und weiß um ihre Vorzüge. Es handelt sich (idealerweise) um gut
ausgebaute, mehrspurige Straßen, die schnelles Fahren erlauben und somit die
schnelle Beförderung von Personen und Gütern ermöglichen. Autobahnen stellen
folglich wichtige Lebensadern für einen Industriestaat dar. Beim Vergleich des
Internet mit einer Autobahn wird also zunächst die Geschwindigkeit in den
Vordergrund gestellt.169 Statt Personen und Waren werden hier Daten schnell von
einem Ort zum anderen transportiert. Eng damit verbunden sind weitere positive
Aspekte, wie ‘hohe Effizienz’, ‘Gradlinigkeit’ und ‘gute Infrastruktur’. Nicht zu
unterschätzen
ist
auch
die
Assoziation
der
stetigen
Vorwärtsbewegung.
Rückwärtsfahren ist auf der Autobahn nicht möglich, und so wird suggeriert, daß es
auch auf der Datenautobahn stets ‘nach vorn’ geht, was – in Anlehnung an die
Ausführungen
von
Lakoff/Johnson
in
ihrem
Kapitel
über
„orientational
metaphors“170 – im Gegensatz zu Rückwärtsbewegungen als positiv angesehen wird
(man beachte allein die Konnotationen der Ausdrücke vorankommen, nach vorn
streben vs. Rückschritte machen bzw. avancer vs. faire un pas en arrière). In
unserem Sprach- und Kulturraum liegt die Zukunft vor uns, während wir die
Vergangenheit hinter uns lassen, so daß bei der Datenautobahn-Metapher sicherlich
auch das Bild vom ‘Weg in die Zukunft’ mitschwingt.
Auf den ersten Blick scheinen diese positiven Aspekte die Autobahn zu einer idealen
‘Metaphern-Lieferantin’ für das Internet zu machen:
„Autobahnen sind etwas lange Bekanntes, Vertrautes. Durch ihre unübersehbare,
unüberhörbare physische Beschaffenheit und massenhafte Nutzung eignen sie sich als
anschauliches Funktionsmodell für Dinge, die noch unbekannt oder noch gar nicht realisiert
sind oder sich aufgrund ihrer physischen Beschaffenheit der direkten Anschauung
entziehen. All dies trifft zu für die Computernetzwerke.“171
169
170
171
Bühl nennt die Datenautobahn dann auch eine „Geschwindigkeitsmetapher“ (Bühl 1996, S. 14).
Vgl. Lakoff/Johnson (1980), S. 14ff. sowie Abschnitt 2.3.4.1 der vorliegenden Arbeit.
Canzler et al. (1995), http://duplox.wz-berlin.de/texte/caheho/, Abschnitt 5.4.
58
Doch mit der Autobahn verbinden sich auch eine ganze Reihe negativer
Assoziationen. Jeder Autobahn-Benutzer weiß, daß es auf diesen Straßen keineswegs
immer schnell geht – es kommt aus den unterschiedlichsten Gründen (Rush Hour,
Urlaubszeit, Baustellen, schlechte Straßenverhältnisse, Unfälle) regelmäßig zu
stockendem Verkehr und Staus. So mancher Urlaub beginnt mit stundenlangem
Stillstand auf der Autobahn. Dagegen ist ein beabsichtigtes Anhalten oder gar
Verweilen nicht nur unmöglich, sondern sogar verboten. Darüber hinaus gibt es
vielfach Geschwindigkeitsbegrenzungen, die den Autofahrer in seiner Freiheit
einschränken – selbst in Deutschland, wo eigentlich das vom ADAC geprägte Motto
‘freie Fahrt für freie Bürger’ gilt. Auf der anderen Seite verbinden viele gerade den
Hang zum Geschwindigkeitsrausch und zur rücksichtslosen ‘Raserei’ sowie die
daraus resultierende Unfallgefahr negativ mit der Autobahn; und viele Menschen
denken auch an die negativen ökologischen Folgen wie Landschaftszerstörung und
Umweltbelastung durch Abgase. Hinzu kommen Assoziationen von Lärm, Gestank,
Streß oder auch monotoner Langeweile durch stundenlanges Geradeausfahren. Und
nicht zuletzt wird auch die Flexibilität eingeschränkt, denn das Auffahren bzw.
Verlassen der Autobahn ist nur an den Autobahnauf- bzw. -abfahrten möglich. Auf
das Internet übertragen, ergibt sich aus der Summe dieser negativen Assoziationen
das Bild einer unflexiblen, ungesunden, regelmäßig überlasteten, langsamen – und
somit wenig brauchbaren Technologie.
Aufgrund dieser relativ großen Anzahl negativer Konnotationen wird die
Datenautobahn-Metapher von vielen Seiten kritisiert und für den Vergleich mit dem
Internet häufig als wenig geeignet angesehen. So weist zum Beispiel Bill Gates
darauf hin, daß man mit dem realen Highway immer auch die Notwendigkeit
verbindet, sich von einem Ort zum anderen bewegen zu müssen, was beim Internet
gerade nicht der Fall ist. Gates unterstreicht außerdem, daß das Internet nicht wie der
Highway aus einer einzelnen ‘Straße’ (also Datenleitung) von A nach B besteht,
sondern aus einem Netz unzähliger Verbindungen:
„Einer der bemerkenswertesten Aspekte dieser neuen Kommunikationstechnik ist aber, daß
sie die Entfernung aufhebt. Es spielt keine Rolle, ob derjenige, mit dem Sie kommunizieren,
sich im Zimmer nebenan oder auf einem anderen Kontinent befindet, weil Meilen oder
Kilometer für dieses hochgradig vermittelte Netzwerk belanglos sind. Beim Begriff
Highway stellt man sich zudem vor, daß alle auf derselben Strecke unterwegs sind. Dieses
59
Netzwerk erinnert jedoch mehr an eine Vielzahl von Landstraßen, wo jeder sich umschauen
oder seinen persönlichen Interessen folgen kann.“172
Andere Gegner dieser Metapher weisen auf die großen funktionellen und technischen
Unterschiede zwischen realen Autobahnen und der Datenautobahn hin. Vielfach wird
auch die politische Herkunft – und somit Besetzung – des Begriffes kritisiert.
„Politisch verwertete Metaphern wollen das Denken der Menschen in bestimmte
Richtungen lenken, wollen dominieren und andere Leitbilder verdrängen. [...] Die HighwayMetapher [...] hinterläßt ein Gefühl von polizeilichem Ordnen, von einschneidenden
Verkehrsbestimmungen und einer Überwachung durch die Staatsmacht.“173
Es gibt mittlerweile eine ganze Reihe von Studien, die sich kritisch mit dieser
Metapher auseinandersetzen. Als Beispiele seien hier die Untersuchungen von Bühl,
Canzler et al., Helmers et al. sowie Kleinsteuber174 genannt, deren Betrachtungen
aber aufgrund ihrer weniger linguistischen als vielmehr soziologischen Ausrichtung
im Rahmen dieser Arbeit nicht näher dargestellt werden. Doch schon die Tatsache,
daß die Adäquatheit einer Metapher derart heftig diskutiert wird, es sogar
ausgesprochene ‘Gegner’ gibt, unterstreicht die Bedeutung, die dieses sprachliche
Phänomen auch außerhalb der Sprach- und Literaturwissenschaften genießt. Man ist
sich offensichtlich allgemein des großen Einflusses von Metaphern auf die
Wahrnehmung eines Sachverhaltes bewußt und weiß um ihr auf dem
‘Fokussierungseffekt’ beruhendes Manipulationspotential.175
Festzuhalten bleibt, daß die Metapher der Datenautobahn ein äußerst ambivalentes
Bild transportiert. Dies wirft für die Analyse der deutschen und französischen
Presseartikel interessante Fragestellungen auf. So ist zum Beispiel zu überlegen, ob
diese Metapher aufgrund ihrer Herkunft und der beschriebenen Konnotationen
hauptsächlich in politischen, wirtschaftlichen und technischen Zusammenhängen
verwendet wird. Tritt sie vor allem in jenen Kontexten auf, in denen es um die
Geschwindigkeit und die Entwicklung der Infrastruktur des Internet geht? Ist sie eher
positiv oder negativ besetzt?
172
173
174
175
Gates (1995), S. 21.
Kleinsteuber (1996b), S. 31.
Vgl. Bühl (1996), S. 13-19, Canzler et al. (1995), Helmers et al. (1994), Kleinsteuber (1996a), hier
insbesondere S. 17-47. Von amerikanischer Seite sind hier insbesondere die Kritiker John Perry
Barlow, George Gilder und Alvin Toffler zu nennen. Vgl. Barlow (1998) sowie
Dyson/Gilder/Keyworth/Toffler (1998).
Vgl. Abschnitt 2.3.5.3 der vorliegenden Arbeit.
60
Interessant ist auch die Frage, ob die deutsche Datenautobahn anders konnotiert ist
und somit in anderen Zusammenhängen auftritt als die französische autoroute de
l’information. Dies erscheint durchaus möglich, da deutsche und französische
Autobahnen in der jeweiligen Gesellschaft einen unterschiedlichen Stellenwert
besitzen. Sie unterscheiden sich nicht nur in ihrer Geschichte176, sondern auch in
ganz praktischen Eigenschaften. So sind die französischen Autobahnen im Gegensatz
zu den deutschen gebührenpflichtig, weshalb in Frankreich mit der autoroute de
l’information unter Umständen die Sorge vor hohen Internet-Kosten assoziiert
werden könnte. Darüber hinaus gibt es auf deutschen Autobahnen vergleichsweise
wenig Geschwindigkeitsbeschränkungen; das Motto von der ‘freien Fahrt für freie
Bürger’ trifft hier eher zu als in Frankreich oder auch in anderen Ländern. Selbst in
den ‘autofreundlichen’ USA gelten auf den Highways fast aller Bundesstaaten
strenge Tempolimits.177 Es ist also möglich, daß die deutsche Datenautobahn mit
mehr ‘Freiheitsgefühl’ verbunden wird als die französische autoroute de
l’information und somit eine ‘freiere’ Sichtweise des Internet evoziert. Zudem könnte
bei der Datenautobahn eher die Geschwindigkeit des Internet im Vordergrund stehen
als bei der autoroute de l’information. Diesen Vermutungen und Fragen wird in der
Korpusanalyse nachgegangen.
5.1.3 Die Metapher ‘globales Dorf’
Im Zusammenhang mit dem Internet wird neben den bereits beschriebenen
Begrifflichkeiten auch die Metapher globales Dorf (frz. village global, zuweilen auch
176
177
Vgl. hierzu Canzler et al. (1995), http://duplox.wz-berlin.de/texte/caheho/, Abschnitt 3.2 „Die
deutschen Autobahnen: ‘Pyramiden des Dritten Reiches’“.
Auf einen Vergleich mit der amerikanischen information-highway-Metapher soll im Rahmen dieser
Arbeit zwar verzichtet werden, doch wäre es sicherlich lohnend, diesen an anderer Stelle mittels
englischsprachiger Texte in die Analyse miteinzubeziehen, da der Highway in den USA sehr
‘mythenumrankt’ ist (man denke an die legendäre Route 66, die amerikanische Trucker-Romantik
oder an das Film-Genre der Road Movies) und der information highway unter Umständen in
anderen Kontexten auftritt als seine europäischen Äquivalente. Vgl. hierzu Bühl (1996), S. 14
sowie Kleinsteuber (1996a). Die relativ uneingeschränkte ‘freie Fahrt’ auf deutschen Autobahnen
ist auch in den USA bekannt, so daß in der amerikanischen Presse neben dem information highway
vielfach der sich an das deutsche Lexem anlehnende Begriff infobahn verwendet wird. Auch hier
böte sich eine vergleichende Untersuchung an. Denkbar wäre sogar ein Vergleich mit Textmaterial
aus Québec, um zu untersuchen, ob die ‘französische’ autoroute de l’information anders konnotiert
61
village planétaire) verwendet. Bei dieser Metapher läßt sich die Herkunft ebenfalls
zurückverfolgen. Sie wurde bereits in den 60er Jahren von dem US-amerikanischen
Mediensoziologen Marshall McLuhan geprägt178 – also lange vor der Verbreitung
des Internet. Schon damals hatte er die Vorstellung, daß durch elektronische Medien
neue Gemeinschaftsformen entstehen könnten.
„McLuhan hatte dabei wohl an die Kultur eines ‘primitiven’ Dorfs gedacht, dessen
Zusammenhalt sich durch ein flexibles System aus oraler Poesie, dem Erzählen von
Geschichten, der Rechtsprechung usw. herstellt. Er hat die Annahme nahegelegt, daß die
neuen Medien auch eine neue Ära der Oralität einleiten.“179
Mit dem globalen Dorf verknüpfen sich natürlicherweise andere Assoziationen als
mit dem Cyberspace oder der Datenautobahn. Ein Dorf ist ein kleiner,
überschaubarer Ort, in dem – im Gegensatz zu einer Stadt – relativ wenige Menschen
leben. Die meisten kennen sich persönlich, man sieht sich fast täglich, kommuniziert
miteinander, teilt ‘Freud und Leid’. Anonymität ist hier ein Fremdwort, und im
Unterschied zur Hektik der Städte geht es in einem Dorf ruhiger zu.180 Negative
Assoziationen liegen allerdings gerade in der Enge – sowie darin, daß man sich nicht
zurückziehen kann und ‘jeder alles von jedem’ weiß. Junge Menschen beklagen hier
häufig eine gewisse Langeweile durch das Fehlen einer vielfältigen Freizeitkultur.
Wenn man vom Internet als globalem Dorf spricht, hat man folglich weniger die
Infrastruktur, die Geschwindigkeit oder die Erschließung neuer Räume im Blick. Das
Internet wird als sozialer Ort wahrgenommen, in dem Menschen zusammenkommen
und miteinander kommunizieren, so daß die räumlich weite Welt zu einem „Dorf“
zusammenrückt.181 Hier steht also eindeutig die Gemeinschaft im Vordergrund. Bühl
spricht dann auch von einer „Sozietäts-Metapher“182. Debatin wählt hier den Begriff
178
179
180
181
182
ist als die ‘frankokanadische’, die unter Umständen eher Ähnlichkeiten mit dem US-information
highway aufweist.
Vgl. McLuhan/Powers (1995).
Bolter (1997), S. 53.
Diese Assoziationen beziehen sich allerdings eher auf das traditionelle, gewachsene Dorf, weniger
auf die zahlreichen modernen Neubaugebiete im Umkreis größerer Städte. Solche ‘neuen’ Dörfer
verfügen nicht über eine gewachsene Struktur von Menschen, die sich seit ihrer Kindheit kennen,
und oftmals geht es dort ähnlich anonym zu wie in einer Stadt. Orte dieser Art werden aber
üblicherweise nicht mit dem Dorf-Begriff assoziiert, und McLuhan dürfte in der Tat eher an das
traditionelle Dorf gedacht haben – wie es ja auch Bolter in seiner Definition vom ‘primitiven’ Dorf
vermutet.
In diesem Zusammenhang wird in jüngster Zeit häufig von der „Glokalisierung“ (gegenüber der
Globalisierung) der Welt gesprochen.
Bühl (1996), S. 23.
62
„Siedlungsmetaphorik“183 und faßt darunter auch ausdrücklich Raum-Metaphern wie
digitale Stadt oder Chatroom zusammen.
„Das Internet ist darüber hinaus ein sozialer Raum, [...] ein vieldimensionales Gebilde also,
das durch Interaktionen, Emotionen, persönliche Nähe und Distanz, sowie durch gemeinsam
geteilten Sinn definiert wird.“184
Eng mit der Metapher des globalen Dorfes verbunden ist der Begriff der virtuellen
Gemeinschaft, der auf den US-amerikanischen Wissenschaftsjournalisten Howard
Rheingold zurückgeht:
„Eine virtuelle Gemeinschaft ist eine Gruppe von Menschen, die miteinander
kommunizieren, die sich zu einem gewissen Grad untereinander kennen, in gewissem Maß
Wissen und Information teilen und sich bis zu einer gewissen Grenze als menschliche
Wesen umeinander kümmern, sich treffen und in erster Linie über Computernetzwerke
miteinander kommunizieren.“185
Auch Rheingold rückt den Menschen mit seinen sozialen Beziehungen und
persönlichen Emotionen in den Vordergrund. Das Internet als modernes
Kommunikationsmedium besteht nur in Wechselwirkung mit den Menschen, die es
nutzen; die Technologie als solche ist lediglich Mittel zum Zweck. Durch das
Internet werden Gemeinschaften konstituiert, es entsteht „ein Geflecht persönlicher
Beziehungen“186, das sich über den ganzen Globus erstreckt – eben ein globales Dorf.
Mit der Metapher vom globalen Dorf werden also hauptsächlich die kommunikativen
Aspekte des Internet beleuchtet. Es ist mit ihr die positive Auffassung verbunden,
daß sich durch das neue Medium Menschen über geographische Grenzen hinweg
näherkommen und Gemeinschaften bilden. Im Gegensatz zur Datenautobahn weckt
das globale Dorf Assoziationen einer gewissen Ruhe und Gemütlichkeit; im
Unterschied zum Cyberspace verbindet man mit dieser Metapher weder
Aufbruchstimmung noch Gefahren. Insgesamt evoziert sie eine positive, fast
idyllische Sicht des Internet. Gerade deshalb ist jedoch zu fragen, inwieweit sie
überhaupt Chancen hat, sich langfristig im allgemeinen Sprachgebrauch über das
Internet durchzusetzen. Mit ihrer Reduktion auf kommunikative Aspekte hebt diese
Metapher in erster Linie die positiven Eigenschaften des Mediums hervor und
183
184
185
186
Debatin (1997), http://www.uni-leipzig.de/~debatin/German/NetMet.html.
Ebd., Hervorhebung im Original.
Rheingold (1998), S. 271.
Ders. (1994), S. 16.
63
verstellt damit den Blick auf seine negativen Charakteristika bzw. Gefahren. Sie
dürfte folglich nur in Kontexten auftreten, in denen das Internet schwärmerisch als
menschenverbindendes und gemeinschaftsförderndes Medium dargestellt wird – oder
gerade in solchen Zusammenhängen, in denen sich der Sprecher kritisch mit den
negativen Folgen der weltweiten Vernetzung auseinandersetzt, die die Menschen
eben nicht zu einem großen Dorf zusammenschweißt (denn schließlich ist das
Internet bisher nur in der westlichen Welt wirklich verbreitet, und auch hier nur in
bestimmten sozialen Schichten).
Im Gegensatz zur Datenautobahn-Metapher sind hier für das Deutsche und
Französische keine größeren Differenzen in den Konnotationen zu erwarten, da mit
einem Dorf wohl ähnliche Assoziationen verknüpft werden. Insofern dürften sich die
Verwendungsarten der Dorf-Metapher kaum unterscheiden.
Zu einer Klärung dieser Thesen und Vermutungen soll auch hier die Korpusanalyse
beitragen.
5.2
Zusammenfassung
Die drei hier analysierten Metaphern unterscheiden sich wesentlich darin, welche
Charakteristika des Internet hervorgehoben werden sollen:
Mit dem Cyberspace / cyberespace als Raum- und Bewegungsmetapher werden jene
Aspekte des Internet beleuchtet, die das neue Medium als einen grenzen- und
hierarchielosen Raum sehen, in dem jeder Einzelne die Freiheit hat, ihn nach seinen
eigenen Wünschen zu nutzen, das heißt Inhalte jedweder Art zu verbreiten und
abzurufen – und das von jedem Ort der ‘vernetzten Welt’ aus. Gleichzeitig
schwingen hier jedoch auch negative Assoziationen wie die Gefahr durch HackerAngriffe, Verbreitung krimineller Inhalte oder Realitätsflucht mit. Die wesentlichen
Charakteristika der Cyberspace-Metapher lassen sich also mit ‘Freiheit und Gefahr’
umschreiben.
Die Datenautobahn / autoroute de l’information fokussiert auf einen ganz anderen
Aspekt des Internet: Nicht der Raum und die ‘unbegrenzten Möglichkeiten’ des
neuen Mediums stehen im Vordergrund, sondern die Geschwindigkeit, Technologie
und eine – im Gegensatz zum unreglementierten Cyberspace – geordnete
64
Infrastruktur. Dies gilt vor allem für die deutsche Datenautobahn. Es ist zu fragen, ob
die französische autoroute de l’information ähnlich konnotiert ist oder ob es hier
aufgrund
der
unterschiedlichen
soziokulturellen
Verankerung
der
‘echten’
Autobahnen zu Differenzen kommt. So ist es denkbar, daß die französische Metapher
weniger häufig im Zusammenhang mit Geschwindigkeit auftritt und eher in
Kontexten verwendet wird, die die Kosten des Internet in den Vordergrund stellen.
Da die Metapher von Politikern lanciert wurde, ist darüber hinaus zu fragen, ob sie
verstärkt in politischen Kontexten auftaucht.
Wird das Internet schließlich als globales Dorf / village global beschrieben, so hat
man hier in erster Linie positive Aspekte wie ‘Gemeinschaftsgefühl’ und
‘Kommunikation’ im Blick.
Im folgenden Kapitel soll nun anhand einer Korpusanalyse geklärt werden, ob die
einzelnen Metaphern wirklich hauptsächlich in den jeweils vermuteten Kontexten
auftreten. Im Sinne von Jäkel würden sie somit nur auf bestimmte Aspekte des
Internet fokussieren bzw. in der Terminologie von Lakoff/Johnson die Funktion des
highlighting and hiding erfüllen und damit – so die These – nicht synonym
verwendet werden.
6.
Korpusanalyse
6.1
Zum Textkorpus und zur Methode
Das analysierte Korpus umfaßt insgesamt 63 Artikel aus folgenden überregionalen
französischen und deutschen Tageszeitungen: Le Monde (bzw. deren ebenfalls
täglich erscheinender Internet-Ausgabe Le Monde Interactif), L’Humanité und
Libération sowie Die Welt, Süddeutsche Zeitung und die tageszeitung.187 Ein
wichtiger Grund für die Auswahl dieser Zeitungen liegt in ihrer Verfügbarkeit: Es
handelt sich im wesentlichen um Texte, die den kostenlos zugänglichen OnlineArchiven der jeweiligen Tageszeitungen entnommen wurden; bei der Süddeutschen
65
Zeitung standen die Jahresausgaben 1995 und 2000 als CD-ROMs zur Verfügung.
Das relative Übergewicht zugunsten der links bzw. linksliberal ausgerichteten Presse
gegenüber
einer
einzigen
konservativen
Zeitung
(Die
Welt)
ist
also
‘umständebedingt’ – für eine eventuelle weiterführende Untersuchung wäre es
aufgrund der Vergleichbarkeit wünschenswert, auch die (kostenpflichtigen) OnlineArchive bzw. CD-ROMs der konservativen französischen Presse in die Analyse
miteinzubeziehen.
Die Online-Archive unterscheiden sich in ihren Suchmodi zum Teil erheblich188, so
daß eine einheitliche Begrenzung auf eine bestimmte Zeitspanne schwierig ist.
Soweit möglich, wurden in erster Linie Texte aus den Jahren 2000 und 2001 in das
Korpus aufgenommen, da dieser Zeitraum von der Mehrheit der Archive abgedeckt
wird; vereinzelt finden sich jedoch auch Artikel aus früheren Jahren.
Um den im vorangegangenen Kapitel aufgestellten Thesen nachgehen zu können,
erscheint hier eine auf der semasiologischen Metaphern-Untersuchung von Jäkel189
basierende Korpusanalyse als sinnvollste Methode: Ausgehend von einer
spezifischen Metapher wird die Fragestellung verfolgt, in welchen Kontexten sie
hauptsächlich auftritt. Sowohl bei den Online-Archiven als auch bei den CD-ROMs
besteht die Möglichkeit, Artikel nach Schlüssellexemen zu selektieren, was eine
semasiologische Metaphern-Analyse unterstützt: Es konnten auf diese Weise Texte
herausgegriffen werden, in denen die im vorangegangenen Kapitel dargestellten
Metaphern Cyberspace / cyberespace, Datenautobahn / autoroute de l’information
oder globales Dorf / village global vorkommen. Im folgenden werden diese Texte
auf die herausgearbeiteten Assoziationen und Konnotationen der jeweiligen
Metaphern hin analysiert. Es wird untersucht, in welchen Kontexten sie auftreten und
welcher Art das sie umgebende sprachliche Umfeld ist – kommt es zum Beispiel zu
187
188
189
In der Korpusanalyse werden diese Zeitungen wie folgt abgekürzt: Le Monde: LM, Le Monde
Interactif: LMI, L’Humanité: H, Libération: Lib, Die Welt: W, Süddeutsche Zeitung: SZ, die
tageszeitung: taz.
Bei der Welt und der tageszeitung sind die jeweiligen Gesamtausgaben seit 1995 (Welt) bzw. der
jeweils letzten 12 Monate (die tageszeitung) kostenlos im Netz abrufbar; die Auswahl läßt sich
darüber hinaus auf bestimmte Zeiträume begrenzen. L’Humanité und Libération stellen ebenfalls
kostenlos ihre Gesamtausgaben seit 1996 (L’Humanité) bzw. 1999 (Libération) ins Netz, jedoch
kann nur bei L’Humanité der Zeitraum eingegrenzt werden. Le Monde Interactif stellt lediglich
einen ausgewählten – und modifizierten – Teil seiner Ausgabe aus den Jahren 1999 bis 2001 zur
Verfügung, der ebenfalls zeitlich begrenzt werden kann. Hier finden sich auch ausgewählte Artikel
aus der Internet-Hauptausgabe von Le Monde, deren Archiv ansonsten kostenpflichtig ist und daher
im Rahmen dieser Arbeit keine Verwendung findet. Bei den für das Korpus verwendeten Le
Monde-Artikeln handelt es sich also um Texte, die bei Le Monde Interactif veröffentlicht wurden.
Vgl. Jäkel (1997), S. 143.
66
Isotopieketten? Werden stets ähnliche Bilder transportiert? Für eine sinnvolle
Analyse erscheint es daher notwendig, nicht nur jene Sätze aus dem Korpus
herauszugreifen, die die jeweilige Metapher enthalten, sondern auch die
Schlüssellexeme des isotopischen Gerüstes zu beleuchten, da diese ganz wesentlich
zum Gesamtbild des Textes beitragen. Darüber hinaus werden die beiden
betrachteten Sprachen auf Konvergenzen und Divergenzen hinsichtlich des
Gebrauchs der einzelnen Metaphern untersucht – stehen diese im Deutschen
grundsätzlich in einem ähnlichen Kontext wie im Französischen, oder kommt es hier
zu Differenzen?
Insgesamt liegt der Schwerpunkt weniger auf quantitativen Auswertungen (wie etwa
statistische Verteilungen der Metaphern) als vielmehr auf einer qualitativen Analyse.
Es sei an dieser Stelle ausdrücklich darauf hingewiesen, daß es sich im Rahmen der
vorliegenden Arbeit nur um eine exemplarische Untersuchung handeln kann. Die
daraus resultierenden Thesen erheben daher keinen Anspruch auf Repräsentativität,
können aber durchaus Tendenzen widerspiegeln.
67
6.2
Der Cyberspace – ein Raum der unbegrenzten Möglichkeiten, der
Freiheit und Gefahren?
Eine der zu untersuchenden Thesen lautet, daß die Cyberspace-Metapher vor allem in
jenen Kontexten auftaucht, in denen das Internet als eine ‘freie und unreglementierte
neue Welt’ gesehen wird, für deren Erschließung ein gewisser Pioniergeist notwendig
ist, also Eigenschaften wie Mut, Kreativität und Intelligenz. Es müßten sich
demzufolge
im
Umfeld
der
Cyberspace-Metapher
Schlüssellexeme
und
Isotopieketten finden lassen, die genau dieses Bild vom zu erobernden Raum mit all
seinen Freiheiten und Gefahren transportieren. Tatsächlich lassen sich hierfür sowohl
im französischen als auch im deutschen Korpus zahlreiche Belege nachweisen.
Betrachten wir zunächst drei französische Textbeispiele: 190
(1) [Entdeckung neuer Einsatzfelder im Internet, Beispiel Architektur] L’utilisation du numérique et
la prise en compte du cyberespace dans l’architecture sont explorées par quelques
expérimentateurs géniaux. [...] L’informatique appliquée à l’architecture libère la forme, ouvre la
discipline aux autres pratiques créatrices et lui donne les moyens de conquérir le cyberespace.
[...] Davantage, ils colonisent l’espace Internet, en prolongeant systématiquement le bâti par un
site web ou en le concevant en référence à ses futurs habitants, tous internautes. Les œuvres de
ces pionniers sont encore rarissimes dans le paysage réel. [...] Ceux qui décrochent une
commande, et construisent, se comptent sur les doigts de la main. Les autres, la grande majorité,
s’inquiètent [...]. En effet, l’architecture mondiale prend tout juste conscience de l’espace du
réseau et n’a pas encore «trouvé sa grammaire spatiale du cyberespace», remarque joliment
Pierre Bohrer, cofondateur de l’agence d’architectes [...]. (LMI 14.06.00)
In diesem Text wird der Cyberspace als Raum dargestellt, den es zu erforschen und
zu erobern gilt, was an Schlüssellexemen wie „explorer“, „conquérir“ und „coloniser
l’espace“ deutlich wird. Man fühlt sich hier unweigerlich an die Pioniere erinnert, die
seinerzeit unbekannte Räume wie etwa den amerikanischen Kontinent erkundeten;
und so wundert es nicht, daß explizit von „pionniers“ gesprochen wird. Es paßt zum
Pioniergeist, daß es sich bei ihnen um „expérimentateurs géniaux“ mit „pratiques
créatrices“ handelt, denn Kreativität, Experimentierfreude und ein gewisses Maß an
Genialität bilden Grundvoraussetzungen für die Erschließung unbekannter Räume für
künftige Bewohner („futurs habitants“) – im Cyberspace also die „internautes“. Die
Pioniere tragen einen wesentlichen Teil zur ‘Befreiung’ von alten Konventionen bei
190
Im folgenden wird die Notierungsweise von Polzin (1999, S. 214ff.) übernommen: Die jeweiligen
Schlüsselmetaphern sind in den Beispieltexten fett, die weiteren Elemente des isotopischen
Gerüsts kursiv gedruckt, die Antonyme unterstrichen. Das Thema des jeweiligen Artikels ist dem
Textbeispiel in [eckigen Klammern] vorangestellt.
68
(„libère la forme“) und eröffnen den Nachfolgenden neue Möglichkeiten („ouvre la
discipline“). Und wie in den ‘alten Zeiten’ sind die Pioniere noch in der Minderheit –
„se comptent sur les doigts de la main“; die große Mehrheit hat Vorbehalte und
Ängste („Les autres, la grande majorité, s’inquiètent“). Der Hinweis, daß solche
Pionierarbeiten im „paysage réel“ noch sehr rar sind, ist ein weiterer Beleg dafür, daß
der Cyberspace offensichtlich ebenfalls als eine Art Raum, hier also als „Landschaft“
wahrgenommen wird.
Auch das folgende Textbeispiel bringt den Cyberspace mit Pioniertaten in
Verbindung:
(2) [Diskussion über die Vorteile für Unternehmen, das Internet sinnvoll zu nutzen] [...] Un énorme
fossé sépare les entreprises ancrées dans le passé de celles qui inventent l’avenir: il tient à la
capacité de se servir d’Internet pour innover. [...] Toutes les entreprises ont accès à la
technologie de l’Internet, mais la question cruciale est de savoir quelles sont celles qui ont les
capacités intellectuelles, le courage et la créativité nécessaires pour en tirer profit. [...] Les
entreprises les plus intelligentes passent à un niveau supérieur. [...] Chez les pionniers, la
question de savoir si le terrible saut dans le cyberespace doit être accompli ne se pose plus. La
réponse est évidente. [...] A la base de ces stratégies audacieuses, on trouve souvent une crise
qui a forcé au changement. [...] Utiliser le Web pour la première fois reste cependant plus
difficile qu’on ne le pense. De nombreux projets déçoivent – ou n’aboutissent tout simplement
pas. [...] D’après une enquête [...], 69% des PDG interrogés se disent inquiets de n’avoir pas
suffisamment réfléchi à leurs projets avant de se lancer sur le Web et 34% disent avoir peur que
leurs efforts échouent. Pourtant, le risque d’aller de l’avant et de se tromper est nettement moins
important que celui d’en faire trop peu. [...] Cela nécessite de l’intelligence, du courage et de
l’imagination. Mais il n’est pas trop tard pour fabriquer vos propres balles Web. Ce n’est pas
parce que votre société existe depuis cent ans qu’elle ne pourra pas prospérer durant les cent
prochaines années. Alors, s’agit-il d’être prudent? Pour faire partie du Top 50 du Web, il n’en est
pas question. [...] (LMI 19.10.00)
Auch hier erscheint der Cyberspace als ein Raum, den ein Unternehmen nur mit
Pioniergeist für sich erobern kann. Dazu gehören „capacités intellectuelles“,
„courage“, „créativité“, „intelligence“, „stratégies audacieuses“ und „imagination“.
Dennoch bleibt dieser Schritt ein großes Risiko, ja sogar ein „terrible saut dans le
cyberespace“. Oftmals werden die „pionniers“ durch eine Krise dazu gezwungen,
dieses Wagnis einzugehen („une crise qui a forcé au changement“) – auch dies
erinnert an die ‘echten’ Pioniere, die aufgrund schlechter wirtschaftlicher
Bedingungen ihre Heimat verließen, um ihr Glück in der neuen Welt zu suchen. Und
wie den ‘echten’ Pionieren gelingt es nur „les entreprises les plus intelligentes“,
Nutzen aus dem Cyberspace zu ziehen („tirer du profit“) und ein „niveau supérieur“
zu erreichen. Die weniger Begabten versagen: „de nombreux projets déçoivent – ou
69
n’aboutissent tout simplement pas“, weshalb viele von sich sagen, sie seien
„inquiets“ und hätten „peur que leurs efforts échouent“. Der Rat des Autors an die
Unternehmen ist dennoch, daß es besser ist, das Risiko auf sich zu nehmen („le
risque d’aller de l’avant et de se tromper“) und nicht zuviel Vorsicht walten zu
lassen, wenn das Geschäft „prosperieren“ soll und man ganz nach oben will: „être
prudent? Pour faire partie du Top 50 du Web, il n’en est pas question.“ Die Zukunft
wird nur denen gehören, die sich des Internet zu bedienen wissen und auf diese
Weise „inventent l’avenir“. Jene Unternehmen, die die Möglichkeiten des
Cyberspace nicht nutzen, werden immer „ancrées dans le passé“ bleiben; es entsteht
gar ein „énorme fossé“. Das müssen selbst Großkonzerne wie Walt Disney erkennen,
wie ein anderes Beispiel zeigt:
(3) [Disney hat es im Gegensatz zu seinen Konkurrenten bisher versäumt, seine Produkte auch über
das Internet zu vermarkten] Mais aussi puissante que soit la marque Walt Disney dans
«l’économie traditionelle», elle est une épée de bois pour la conquête du cyberespace.
(LMI 30.05.00)
Sprich: mit „traditionellen“ Methoden mag man in der ‘alten’ Welt sehr erfolgreich
sein und Macht besitzen, jedoch reichen diese für die „conquête“ der ‘neuen’ Welt
des Cyberspace nicht aus – sie wirken dort wie ein stumpfes Holzschwert. Die
Verwendung dieses „épée de bois“ impliziert darüber hinaus, daß man zur Eroberung
der neuen Welt auf gute Waffen angewiesen ist – wie sicherlich auch viele der
‘echten’ Pioniere erfahren mußten.
Daß die Cyberspace-Metapher im deutschen Sprachgebrauch ein ähnliches Bild
transportiert, belegen die beiden folgenden Textbeispiele:
(4) [Porträt über Bernd Kolb, Erfinder neuer Formen der Werbung im Internet] Mit digitalen
Doppelgängern menschelt es im Cyberspace [Überschrift] [...] Kolb [machte] etwas, woran
keiner glauben wollte: Werbung im Netz. Und künstliche Menschen. [...] Nichts von dem ist so
geworden, wie es sich die Eltern gedacht hatten. Er wurde einer von den neuen Vagabunden. [...]
[Seine Firma I-D Media] hilft dabei, neue Märkte zu finden und neue Produkte ins Laufen zu
kriegen. [...] Der guten Ordnung halber machte er noch das [juristische Staats-] Examen. Dann
wechselte er in die Welt, die sein Zuhause bleiben sollte. „Der Unruheherd zieht mich magisch
an. Tolle Umgebung. [...] Ich bin Unternehmer, ich packe gern an.“ [...] Eine Laufbahn als
Angestellter wäre für den agilen Vielarbeiter undenkbar gewesen. [...] Verrückter hätte seine
Idee [...] nicht sein können. [...] Nur einer kapierte es [Kolbs Konzept der Internet-Werbung]:
West wollte ins Web. Die Zigarettenmarke, die sich marketingmäßig dem Zusammenbringen von
Welten verschrieben hat, wagte sich mit Kolb ins Internet. Was damals revolutionär und eine
Pioniertat war, würde heute nur noch ein Gähnen auslösen: Die Zigarette bot ihren Fans unter
west.de einen Chatroom an [...]. Dass Kolb den richtigen Riecher hatte, zeigten die Reaktionen.
[...] Fortan konnte Kolb seine Pionierarbeit kapitalisieren [...]. Kolb will weg vom anonymen
70
Suchmaschinen- und Chatroom-Internet. Er stellt sich eine Schnittstelle zur digitalen Welt vor,
die nicht vom PC und Texten bestimmt ist. Es soll menscheln. Um das zu erreichen, hat Kolb
Cyber-Wesen geschaffen. Wieder war er einer der Ersten. [...] „Das ist die Zukunft des
Marketing. [...] Konventionelle Werbewege nutzen sich immer mehr ab.“ [...] Das Geschäft mit
Cycosmos wird [jedoch] erst dann laufen, wenn das Netz schneller geworden ist, noch mehr
Menschen drin sind und auch der letzte Technophobe überzeugt ist. Bernd Kolb wird also noch
eine Weile bei Gegenwind durchhalten müssen. Aber Visionäre hatten es noch nie leicht.
(W 01.03.00)
Auch hier erscheint der Cyberspace als eine neue Welt, die nur mit „Pioniertaten“
bzw. „Pionierarbeit“ zu meistern ist. Diese Welt ist ein „Unruheherd“, eine „tolle
Umgebung“ und verlangt einen „Unternehmer“, einen „agilen Vielarbeiter“, der
„anpacken“ kann, den „richtigen Riecher“ besitzt und „verrückte Ideen“ hat – auch
hier fühlt man sich an die ‘echten’ Pioniere erinnert. Der in dem Artikel porträtierte
Bernd Kolb war stets „einer der Ersten“ und besitzt soviel Überzeugungskraft, daß
viele Unternehmen die „konventionellen (Werbe-) Wege“ verlassen und sich in die
neue Welt – den Cyberspace – „wagen“. Das konventionelle juristische Studium
absolvierte er „nur der guten Ordnung halber“; seitdem „vagabundiert“ er im
„Unruheherd“ Cyberspace und erschließt sich hier mit „neuen Produkten“ „neue
Märkte“, auch wenn seine Ideen zunächst „revolutionär“ waren und keiner so recht
an ihn glauben wollte. Der Erfolg gelingt mit Hilfe von Gleichgesinnten (wie dem
Tabak-Unternehmen der Zigarettenmarke West), die einen ähnlichen Mut besitzen
und die „alte“ mit der „neuen“, also der „digitalen Welt“ verbinden wollen. Neue
Welten brauchen offensichtlich eine neue Art von Bewohnern – Kolb nennt seinen
Teil der neuen Welt folgerichtig „Cycosmos“ (der Vergleich mit dem Kosmos weist
auf die Grenzenlosigkeit hin) und setzt „Cyber-Wesen“ in sie hinein (die aber über
menschliche Eigenschaften verfügen, denn durch sie „menschelt“ es im Cyberspace).
Doch er hat noch ein gutes Stück Arbeit vor sich; seine neuen Ideen müssen sich
immer wieder durchsetzen. Trotzdem glaubt er an die „Zukunft“, selbst wenn ihm –
wie einem Seefahrer – stetig der „Gegenwind“ entgegenbläst. Doch als „Pionier“ und
„Visionär“ besitzt er dafür das nötige Durchhaltevermögen.
Auch das folgende Beispiel erzählt von einem solchen Pionier:
(5) [Geschäftsidee ‘Books on Demand’] Mit seinem „Verlag der Criminale“ will Wolfram Göbel
ganz groß in das Zukunftsgeschäft mit Büchern auf Abruf einsteigen. [...] Gutenberg trifft
Cyberspace. Die Buchdruck-Kunst geht online, und immer mehr namhafte Verleger weisen den
Weg. [...] Wolfram Göbel preist dieses Verfahren als Schatzkarte zur Erschließung des
Worldwide-Web-Universums, als Erwiderung auf die Globalisierung, als Forum für unentdeckte
Talente und neue Erzählformen, kurz als Chance, [...] alles zu machen, das möglich ist und nicht
viel Geld kostet. [...] Libri ist ein Pionier der „Books on Demand“-Technik [...]. (SZ 07.01.00)
71
Der in diesem Artikel vorgestellte Wolfram Göbel nutzt den Cyberspace ebenfalls als
Raum für die Beschreitung neuer Wege in die „Zukunft“. Er will die alte mit der
neuen Welt verbinden, die Vorteile der ‘alten’ Buchdruck-Kunst mit denen des neuen
Raumes zusammenbringen: „Gutenberg trifft Cyberspace“. Göbel sieht seine Idee gar
als „Schatzkarte zur Erschließung des Worldwide-Web-Universums“, geht also
offensichtlich davon aus, daß die neue Welt – wie das Universum – ein unendlicher
Raum ist, in dem wahre Schätze zu finden sind, wenn man über eine entsprechende
„Karte“ (hier in Form einer guten Geschäftsidee) verfügt. Er ist eine Chance für
„unentdeckte Talente“ und bietet auch demjenigen die Möglichkeit, „alles zu
machen“, der nicht über große finanzielle Mittel verfügt. Auch in diesem Text
erscheint der Cyberspace also als Raum der unbegrenzten Möglichkeiten, der zuerst
von ideenreichen Pionieren erschlossen wird; und so wird auch hier explizit vom
„Pionier“ gesprochen.
Daß in der neuen Welt des Cyberspace tatsächlich ‘Schätze’ vermutet werden,
belegen folgende Textbeispiele:
(6) [Bericht über die Musiktauschbörse Napster] [...] Les internautes disposent ainsi d’un moyen
simple de devenir des producteurs et d’apporter leur contribution à l’enrichissement de la Toile.
D’où une augmentation vertigineuse de la richesse potentielle du cyberespace. (LM 27.02.01)
(7) [Bericht über die Zukunft des Internet] Bienvenue dans le monde du libre [Überschrift] Qui n’a
pas rêvé d’un monde aux richesses inépuisables où l’on pourrait donner à tous, sans pour autant
restreindre l’appétit d’aucun, un monde où partage équitable entre tous ne limiterait en rien
l’abondance pour chacun? Cette utopie, jusqu’ici inaccessible, est en passe de devenir réaliste,
tout au moins sur ce nouveau continent que constitue le cyberespace. [...] Dans le cyberespace,
l’idée de rareté est techniquement absurde [...]. (H 15.03.00)
In beiden Beispielen wird der Cyberspace fast schwärmerisch als eine Welt der
Reichtümer dargestellt, Beispiel (7) spricht gar von einer Welt mit unerschöpflichen
Schätzen, von der jeder geträumt hat: einer „monde du libre“ mit „richesses
inépuisables“, einem „nouveau continent“, auf dem schon die „idée de rareté“ nahezu
„absurde“ ist. Es ist fast verwunderlich, daß der Begriff des Paradieses nicht fällt,
denn als solches erscheint der Cyberspace hier.
72
Der Cyberspace als Raum der unbegrenzten Möglichkeiten ist jedoch nicht durchweg
positiv besetzt. So finden sich vor allem im deutschen Korpus zahlreiche Texte, in
denen mit der Cyberspace-Metapher eher negative Assoziationen verknüpft werden:
(8) [Abwärtstrend der New Economy] An den Aktienmärkten ist Ernüchterung zu spüren, wo noch
vor wenigen Monaten Euphorie dominierte. [...] Doch eines ist der Cyberspace eben nicht: eine
Gelddruckmaschine für Erfinder noch so absurder Geschäftsideen und Business-Evangelisten,
die dem digitalen Goldrausch verfallen sind. [...] Den meisten denkenden Menschen ist es sogar
ein Gräuel, sich durch den „gigantischen digitalen Müllberg“ zu wühlen, wie der ComputerPionier und Buchautor, Joseph Weizenbaum, das World Wide Web genannt hat. [...]
(SZ 30.10.00)
Die „euphorische“ Goldgräberstimmung (hier gar als „digitaler Goldrausch“
diffamiert) ist inzwischen der „Ernüchterung“ gewichen: Man hat erkannt, daß auch
die neue Welt des Cyberspace nicht allen Erwartungen gerecht wird. Hatte man eine
Zeitlang geglaubt, es genüge eine „absurde Geschäftsidee“ bzw. ein nahezu religiöser
Glaube an das Business („Business-Evangelisten“), um aus dem Cyberspace eine
„Gelddruckmaschine“ zu machen, so muß man jetzt einsehen, daß die potentiellen
Kunden ausbleiben, weil die meisten „denkenden Menschen“ die vielen Angebote
des Cyberspace gar nicht nutzen, ihn gar als „gigantischen digitalen Müllberg“ sehen.
Auf diese Weise bleibt das erhoffte schnelle Geld natürlich aus – die Erwartungen
der Pioniere an die Chancen in der ‘neuen Welt’ werden enttäuscht. Auch hier steht
die Cyberspace-Metapher in einem sprachlichen Umfeld, das eine Reihe weiterer
Bilder evoziert, die an die ‘echten’ Pioniere erinnern, deren Hoffnungen oftmals
ebenfalls nicht erfüllt wurden.
Der Cyberspace wird häufig als Raum mit eigenen, ganz besonderen Regeln gesehen,
wie das folgende Textbeispiel zeigt:
(9) [Negative Seiten des Internet] [...] Der Durchbruch des digitalen Prinzips, von Internet und
Cyberspace, lässt einen „sechsten Kontinent“ erstehen, dessen Besonderheit nicht allein darin
besteht, dass er entterritorialisiert ist, sondern auch von der Unmittelbarkeit gelenkt und
beherrscht wird. Gegenwärtig verlagert sich – in erschreckender Regellosigkeit – eine
menschliche Tätigkeit nach der anderen auf diesen seltsamen Kontinent: Handel und Finanzen,
Kultur, Kommunikation, Wirtschaft usw. [...] Zur Zeit stehen die Nationalstaaten wie die
Demokratie als solche machtlos vor diesem neuen digitalen Kontinent, der voller Gefahren ist
und insofern einem wilden Dschungel gleicht. (taz 10.08.01)
Hier wird gleich dreimal vom Cyberspace als „Kontinent“ gesprochen; allerdings ist
es ein „seltsamer Kontinent“, zeichnet er sich doch dadurch aus, daß er
73
„entterritorialisiert“ ist – folglich paradoxerweise gar kein Territorium besitzt. Hier
gelten völlig andere Regeln als auf den ‘alten’ fünf Kontinenten; er wird „von der
Unmittelbarkeit gelenkt und beherrscht“, hat also seine eigenen Gesetze. Er ist
„voller Gefahren“ und gleicht „einem wilden Dschungel“, in dem vertraute Werte
wie die Demokratie „machtlos“ sind. Dennoch übt er eine starke Anziehungskraft
aus, da sich „eine menschliche Tätigkeit nach der anderen“ auf ihn verlagert – und
dies sogar in „erschreckender Regellosigkeit“. Sämtliche bekannten Gesetze und
Regeln scheinen auf dem neuen Kontinent ihre Gültigkeit zu verlieren. Diese düstere
Schilderung zeichnet das beängstigende Bild eines seltsamen und gefährlichen
Kontinents – und läßt darüber fast vergessen, daß es hier lediglich um ein neues
Medium, nämlich das Internet, geht.
Daß es jedoch Möglichkeiten gibt, sich den Gefahren des Cyberspace
entgegenzusetzen, zeigen die beiden folgenden Textbeispiele:
(10) [Streit zwischen einer Internetkünstler-Gruppe und einem Großkonzern über die Nutzung des
Domain-Namens ‘etoy.com’] [...] Krieg im Internet [...] Sieben Wochen lang tobte eine
Übernahmeschlacht, deren Ausgang das Lamento von der völligen Kommerzialisierung des
Cyberspace zumindest ein klein wenig korrigieren könnte. [...] Die Kraftprobe der
Netzaktivisten mit dem schier übermächtigen Feind sollte unter Beweis stellen, dass die
kommerziellen Anbieter sich in ihrem börsenfinanzierten Goldrausch nicht alles erlauben
können. [...] es [geht] darum, einen bedrohten Frei- und Lebensraum vor parasitärer Profitlogik
zu bewahren. [...] Je realistischer sich im Netz aber die Machtverhältnisse aus der echten Welt
abbilden [...], desto attraktiver oder anfälliger wird das Netz für Interessenskonflikte, die in den
kalifornischen Träumen der utopistischen Pioniere [...] einfach nicht vorkamen. Bald dürfte sich
endgültig herausstellen, dass die Projektionsfläche des Cyberspace nichts anderes ist als ein
neuer öffentlicher Raum, der genauso umkämpft ist wie der städtische der bürgerlichen
Gesellschaft von einst. [...] Die Ökos des Cyberspace [Zwischenüberschrift; gemeint sind die
vorgenannten ‘Netzaktivisten’] [...] (SZ 19.02.00)
Auch hier erscheint der Cyberspace als ein Raum außerhalb der ‘echten Welt’. Doch
handelt es sich hier nicht wie im vorigen Beispiel um einen gefährlichen Kontinent,
in dem völlig eigene Gesetze gelten, sondern um einen „Frei- und Lebensraum“, der
von ähnlichen Regeln beherrscht wird wie die reale Welt. Es finden sich hier
dieselben
„Machtverhältnisse“
wieder:
„Netzaktivisten“
„kämpfen“
wie
Umweltschützer der „echten Welt“ gegen den „übermächtigen Feind“ in seinem
„börsenfinanzierten Goldrausch“, nämlich die Großkonzerne mit ihrer „parasitären
Profitlogik“. Und so „toben“ wie in der realen Welt auch hier wahre „Kriege“ und
„Schlachten“ gegen die „Kommerzialisierung“, so daß der Cyberspace letztendlich
doch „nichts anderes ist als ein neuer öffentlicher Raum“, in dem ähnliche Regeln
74
gelten wie im altbekannten städtischen Raum: „Öko“ gegen „bürgerliche
Gesellschaft“. Die „Träume der utopistischen Pioniere“ vom Cyberspace als einer
anderen Welt, in der Gleichheit, Demokratie und Partizipation herrschen, haben sich
offensichtlich nicht erfüllt. Und auch der folgende Text berichtet von einem Kampf
dieser Art:
(11) [Die Gewerkschaft der Telekommunikationsarbeiter kappte aus Protest gegen die
Arbeitsbedingungen des US-Telekommunikationskonzerns Verizon dessen Leitungen mit Hilfe
simpler Kneifzangen und verursachte damit einen vorübergehenden Zusammenbruch des
gesamten Telekommunikationssystems an der amerikanischen Ostküste] [...] Die
durchgeklemmten Kabel [...] sind der Beweis dafür, dass die Cyberwelt so virtuell denn auch
nicht ist. [...] Die Arroganz mit der man, vom Neuen Markt aus, über die Realitäten der
menschlichen Existenz außerhalb der Cybermetropolen hinweggesehen hat, muss zu einem bösen
Ende führen. [...] Es hat den euphorisch in die Zukunft stürmenden Pionieren des digitalen
Zeitalters gezeigt, dass es an der New Frontier des Cyberspace ganz reale, altmodisch analoge
Grenzen gibt. [...] (SZ 12.08.00)
Wie in Beispiel (10) ist der Cyberspace auch hier ein Raum, der zwar „virtuell“ ist,
sich jedoch nicht sehr von der „realen“ Welt unterscheidet. Mit nahezu
„altmodischen“ Mitteln (nämlich simplen Kneifzangen) kann sich ‘der kleine Mann’
gegen einen Großkonzern zur Wehr setzen und damit diesen „euphorisch in die
Zukunft stürmenden Pionieren“ zeigen, daß es auch zur Eroberung der ‘neuen Welt’
eine Grenze zu überwinden gilt.191
Diese Grenze zwischen dem Cyberspace und der realen Welt wird auch in den beiden
folgenden Textbeispielen thematisiert:
(12) [Geschichte des Internet] [...] Après la conquête de l’Ouest et de l’espace – sidéral –, le
cyberespace devient la nouvelle frontière à repousser, le nouvel eldorado. [...] (LMI 29.11.00)
(13) [Interview mit David Post, Direktor des Cyberspace Law Institute an der Universität
Temple/Philadelphia] [...] Thomas Jefferson voulait explorer l’Amérique, mais beaucoup de
gens, y compris George Washington, étaient inquiets à l’idée d’aller à l’Ouest. Ils pensaient qu’il
n’y aurait pas de lois, que ces nouvelles terres seraient difficiles à contrôler. L’Internet suscite le
191
Interessant ist in diesem Zusammenhang die Verwendung des Begriffes „New Frontier“. Die
„frontier“ ist ein zentraler Begriff des amerikanischen Paradigmas von der Eroberung des Westens
– gemeint ist jene Grenze, die den von ‘Indianern’ besiedelten ‘wilden’ Westen von dem bereits
eroberten Gebiet des ‘weißen Mannes’ trennte. Diese „inner frontier“ wurde Ende des 19.
Jahrhunderts geschlossen, als das gesamte Land zwischen der Ost- und der Westküste erobert und
verteilt war. Der „frontier spirit“ ist in der US-amerikanischen Gesellschaft bis heute fest verankert
und beinhaltet Begriffe wie ‘Freiheit und Unabhängigkeit’. Vgl. hierzu z.B. Sieper (1988), S. 197f.
Eine heute sehr einflußreiche Organisation zur Verteidigung des Internet vor staatlichen
Reglementierungen knüpft an eben diesen „frontier spirit“ an: Sie nennt sich Electronic Frontier
Foundation (EFF) und sieht eine neue, elektronische Grenze zwischen der realen Welt und der
noch zu erobernden Welt des Cyberspace. Vgl. z.B. Kleinsteuber (1996b), S. 32f.
75
même genre d’interrogations. Je suis du côté de Jefferson: il aurait exploré le cyberespace. Une
société a besoin d’une frontière vers laquelle lorgner. [...] Nous sommes sur le rivage de
l’Internet, un nouvel endroit sauvage, intéressant, où les gens peuvent redémarrer de zéro et
penser l’impensable. [...] (Lib 19.12.00)192
In beiden Beispielen wird die Erforschung bzw. Eroberung des Cyberspace explizit
mit der Eroberung Amerikas gleichgesetzt. Wie einst die Grenze zum Westen
Amerikas muß heute jene zum neuen Raum des Cyberspace überwunden werden –
noch befinden wir uns erst an dessen „rivage“. Der „nouvel endroit“ ist „sauvage“
und „intéressant“ und bietet wie einst der unentdeckte amerikanische Westen die
Chance, noch einmal von vorne zu beginnen und das Unmögliche möglich zu
machen („redémarrer de zéro et penser l’impensable“) – er ist gar ein neues
Eldorado. In Beispiel (12) wird der Cyberspace darüber hinaus mit dem Weltraum
verglichen: Nach dessen Eroberung steht nun die Erforschung des ähnlich
grenzenlosen Cyberspace auf dem Plan.
In allen bisher betrachteten Texten wird der Cyberspace als ein Raum, eine neue
Welt oder gar als neuer Kontinent wahrgenommen, in dem jeder die Möglichkeit hat,
seine Ziele zu verwirklichen, wenn er einen gewissen Pioniergeist besitzt. Auffallend
ist, daß sehr häufig Parallelen zur Eroberung des amerikanischen Kontinents gezogen
werden, ja sogar das Paradigma des „frontier spirit“ auf den Cyberspace übertragen
wird – und dies sowohl in französischen als auch deutschen Texten, also auch
außerhalb des anglo-amerikanischen Sprach- und Kulturraumes. In beiden Sprachen
steht der Cyberspace in einem Umfeld ähnlicher Schlüssellexeme wie etwa
„Pioniere, Raum, neue Welt, Freiheit, Eroberung, Erforschung, Unendlichkeit,
Zukunft, Reichtum/Goldrausch, Chancen, Regellosigkeit, Risiken, Gefahren“. Wie
vermutet, scheint die Metapher des Cyberspace sowohl im Deutschen als auch im
Französischen verstärkt dort verwendet zu werden, wo das Internet als ein Raum der
‘unbegrenzten Möglichkeiten’, der individuellen Freiheit, aber auch der Gefahren
dargestellt werden soll. Häufig kann man beim Lesen eines solchen Textes sogar
vorübergehend vergessen, daß hier ein neues Medium beschrieben wird – und eben
kein realer Raum.
192
Es ist bei diesem Text allerdings darauf hinzuweisen, daß es sich hier um eine Übersetzung aus
dem Englischen handelt; er kann also streng genommen nur mit Einschränkungen als französisches
Sprachbeispiel gelten.
76
Es ist schwer vorstellbar, daß in den betrachteten Texten die Metapher des
Cyberspace durch eine der beiden anderen in dieser Arbeit behandelten Metaphern
ersetzt werden könnte – Formulierungen wie ‘die Eroberung der Datenautobahn
durch Pioniere’ oder ‘die Gefahren des unendlichen globalen Dorfes’ sind doch eher
unwahrscheinlich.
Wie sieht es nun mit der These aus, die der Cyberspace-Metapher negative und
bedrohliche Assoziationen wie Terrorismus, Kriminalität oder Realitätsflucht
zuweist? Auch hierfür finden sich in beiden Korpora Belege:
(14) [Hacker-Attacken und Viren bedrohen Wirtschaft und Politik] Cybercrime, que fait la police?
[Überschrift] La Toile serait-elle devenue un repaire de malfrats en tout genre menaçant la
sécurité des Etats pour que le G8 [...] décide de consacrer à la cybercriminalité une réunion
spéciale [...] ? Pour que le Conseil de l’Europe projette de mettre sur pied une convention sur la
criminalité dans le cyberespace? Pour que [...] la ministre de la justice américaine appelle [...] la
création d’une police de l’Internet dont les cybershérifs pourraient délivrer des mandats d’arrêt
internationaux? [...] Car les premières victimes des délinquants de la Toile, ce sont les
entreprises. [...] L’actualité a montré que même les sites des géants de la Netéconomie que sont
Yahoo! et Amazon étaient vulnérables [...]. [...] les Etats ne sont pas pour autant à l’abri de
cyberattaques. [...] le cyberterrorisme est devant nous [...]. Après les frappes «chirurgicales», la
guerre cybernétique! [...] Car la lutte contre la cybercriminalité en est encore à ses
balbutiements, particulièrement en France. [...] Chaque Etat invoque la souveraineté nationale
alors qu’Internet est un espace transfrontalier [...]. Faute d’un accord multilatéral, la lutte contre
la cybercriminalité tant annoncée pourrait tourner à la guerre... des polices. (LMI 10.05.00)
(15) [Hacker-Attacken auf Webseiten der US-Regierung] Les sites gouvernementaux américains
victimes d’attaques musclées [Überschrift] [...] le site principal de l’US Army sur Internet était
victime des hackers. [...] Cette nouvelle intrusion s’inscrit dans la vague de terrorisme
cyberspatial qui a sévi aux Etats-Unis pendant le mois de mai. [...] Le simple fait de pénétrer
dans le système informatique gouvernemental sans autorisation peut être sanctionné par une
peine d’un an d’emprisonnement. Cela ne semble guère refroidir les ardeurs des hackers, qui
multiplient leurs raids. [...] Le même jour, le site du Sénat était victime du même type d’attentat.
[...] Une vingtaine d’autres sites Internet auraient également souffert d’attaques se traduisant par
l’affichage de messages hostiles au FBI et précisant que son récent coup de filet avait déclenché
une «véritable révolution» dans le milieu du piratage. [...] Au lieu de ne viser que l’exploit
technique, les pirates pratiquent désormais des actions de représailles. De quoi inaugurer un
terrorisme organisé dans le cyberespace. Longtemps solitaires, les hackers s’organisent en
groupuscules [...]. (LMI 02.07.99)
In beiden Texten scheint der Cyberspace ein ‘Hort des Bösen’ zu sein, ein „repaire de
malfrats“, in dem sich Piraten, Hacker, Terroristen und andere Kriminelle
organisieren, um – länderübergreifend – Wirtschaft und Politik zu bedrohen. Der
Staat und die Polizei scheinen bisher machtlos gegen den sich anbahnenden „guerre
cybernétique“, der immer mehr „victimes“ fordert. Sogar „géants“ wie Amazon oder
Yahoo sind „vulnérables“ und „leiden“ unter den Attacken. In Beispiel (14) fällt eine
Häufung
von
mit „cyber“ gebildeten Komposita ins Auge: cybercrime,
cybercriminalité, cybershérifs, cyberattaques, cyberterrorisme, guerre cybernétique –
77
der Cyberspace ist hier ganz eindeutig Leitmetapher. In beiden Beispielen wirkt der
Cyberspace bedrohlich und gefährlich; er ist hier in erster Linie ein Raum der
unbegrenzten Möglichkeiten für Kriminelle.
Auch im deutschen Korpus lassen sich hierfür Belege finden:
(16) [Hacker legen die Webseiten großer Firmen lahm] Terroristen im Cyberspace [Überschrift] Im
Grunde ist das ein Albtraum, [...] man kann das zu Recht als Cyber-Terrorismus bezeichnen. [...]
Am Montag war die weltgrößte Internet-Suchmaschine Yahoo für drei Stunden von ComputerEindringlingen außer Gefecht gesetzt worden. [...] [Auch andere große Firmen] wurden Opfer
unbekannter Computer-Piraten. [...] Der Angriff kam aus der Datenleitung [...]. [...] Auch das
FBI, das in die Ermittlungen eingeschaltet wurde, hatte bereits im Dezember vor derartigen
Überfällen gewarnt. [...] Überrascht zeigte sie [die Pressesprecherin von Yahoo] sich von der
ungewöhnlichen Massivität des Angriffs: „Das war einfach nicht zu erwarten.“ (W 10.02.00)
(17) [Kampf gegen Hacker-Attacken] Ausgehackt. Das attackierte Internet [Überschrift]
Frühlingserwachen im Cyberspace. [...] Jedes Jahr, so ab Mitte Februar zeigen sich [neben den
Hackern] die „Cyber-Hunter“ auch wieder an der Erdoberfläche. [...] Das Reagansche „Reich des
Bösen“ aus dem Kalten Krieg hat dann in den kaum begreifbaren Gefilden des Virtuellen einen
adäquaten Nachfolger gefunden. [...] Man kann sagen, wir sind im Krieg. Im Cyberkrieg. Es sei
schon das „Vorspiel für ein elektronisches Pearl Harbor“ gewesen. In diesem Februar sind die
Internet-Vandalen nun über kommerzielle Seiten hergefallen. [...] Seit dem 98er Hack gilt die
Landesverteidiung im Cyberspace als Chefsache: Der [US-amerikanische] Präsident persönlich
kümmert sich darum. [...] [Doch] die frisch eingerichteten kybernetischen Vereitelungseinheiten,
die versuchen sollen, Hacker-Angriffe zurückzuverfolgen, [tappen] wie in jedem Februar im
Dunkeln. (SZ 11.02.00)
In beiden Beispielen wird von einem „Krieg“ gesprochen: Terroristen, Hacker,
Vandalen, Eindringlinge und Piraten attackieren aus dem Cyberspace heraus „mit
ungewöhnlicher Massivität“ die reale Welt, indem sie über deren Verbindungen in
den Cyberspace (nämlich die Webseiten) „herfallen“. Die Angriffe gehen so weit,
daß der Cyberspace analog zur Zeit des Kalten Krieges als neues, virtuelles „Reich
des Bösen“ gesehen wird. Die Attacken und Überfälle bewirken gar einen ähnlichen
Schock wie der japanische Angriff auf Pearl Harbor im 2. Weltkrieg – heute gibt es
ein „elektronisches Pearl Harbor“. Noch stehen die „Cyber-Hunter“, die
„kybernetischen Vereitelungseinheiten“ dem Hacker-Treiben relativ machtlos
gegenüber, obwohl die „Landesverteidigung“ bereits zur „Chefsache“ des
Präsidenten erhoben wurde. Doch die Ermittler geben nicht auf:
(18) [Bericht über einen US-amerikanischen Ermittler gegen Hacker] Die Jagd nach Beezwax und
Mafiaboy. [...] John Vranesevich, Ermittler im Cyberspace [Überschrift und Unterüberschrift]
[...] „So stellt man sich einen Cyberterroristen wohl nicht vor“, auf dem ausgedruckten Foto ist
ein Junge zu sehen [...]. [...] Ab und zu hat er die Cyberunterhaltung mit dem Jungen, dessen
Foto er gerade ausgedruckt hat, kommentiert: „Asshole“ – „what the fuck“. [...] Dass man auf der
Suche nach der Hackerpsyche in die amerikanische Pampa vordringen muss, ist bezeichnend in
einem Krieg, der im Cyberspace stattfindet. [...] Auch er [John Vranesevich] hat im Cyberspace
78
mehrere Identitäten. [...] Doch in dieser Welt gilt nur eines: Traue keinem, niemals. Es ist eine
Welt der falschen Identitäten und falschen Freunde. [...] (SZ 06.05.00)
Auch hier ist der Cyberspace eine andere Welt, und zwar „eine Welt der falschen
Identitäten und falschen Freunde“, in der sich Hacker und Cyberterroristen tummeln
und von Ermittlern gejagt werden – die sich wie die Hacker selbst hinter mehreren
Identitäten verstecken. Auch die Kommunikations- und Umgangsformen scheinen im
Cyberspace rauher zu sein als in der realen Welt: Beleidigungen und Flüche sind in
„Cyberunterhaltungen“ offensichtlich an der Tagesordnung.
Sowohl in den französischen als auch in den deutschen Beispielen wird mit der
Cyberspace-Metapher häufig ein gefährlicher Raum assoziiert, in dem sich vor allem
Terroristen, Hacker, Kriminelle und Piraten aufzuhalten scheinen. Die ‘reale Welt’
ist diesen Feinden nicht gewachsen, selbst große Konzerne und staatliche
Institutionen halten den Angriffen aus dem Cyberspace nicht stand – es herrscht
Krieg zwischen zwei Welten.
Daß jedoch umgekehrt auch der Cyberspace selbst als eine bedrohte Welt
wahrgenommen wird, belegen folgende Textbeispiele:
(19) [Wahl des europäischen Icann-Vertreters Andy Müller-Maguhn] [...] Pour défendre ses intérêts
au sein de la très fermée Icann, l’Europe a choisi Andy Mueller-Maguhn [...]. [...] cet expert en
informatique entend bien user de sa nouvelle position pour imposer sa vision du cyberespace. A
commencer par « lutter contre l’influence excessive des intérêts commerciaux sur la Toile » [...].
(LMI 25.10.00)
(20) [Icann-Wahl] [...] Contrairement au mythe selon lequel le Réseau des réseaux serait
incontrôlable, il s’est de lui-même organisé et structuré autour de nombreuses associations
privées ou publiques. [...] Créée en 1998 sur initiative du gouvernement américain, l’Icann a pour
mission de prendre le contrôle, à partir de l’automne 2000, du cœur technique du Réseau. [...]
Quiconque contrôle les noms de domaine possède une influence sur l’utilisation du cyberespace
par les internautes [...]. [...] (LMI 28.06.00)
(21) [Kritik an Icann] [...] Ein Mysterium, das die einen als kosmopolitische Internet-Regierung loben
und andere als tödliche Bedrohung der Freiheit im Cyberspace sehen. [...] Angst vor Regulation
und Dominanz ökonomischer Interessen hat die Netzgemeinde erfasst. [...] Er [Jon Postel] war
einer der Gründungsväter des Internet und sein Chef-Verwalter, er war der Herr über die
Nummern und Namen des Domain-Name-Systems, die im Cyberspace alles bedeuten. [...] Die
so harmlos-technische Domainverwaltung ist ein machtvolles Instrument und zentral für jeden,
der an der Kontrolle der Netzaktivitäten interessiert ist. Wer unliebsam ist, kann einfach
„ausgeschaltet“ werden. Und dann geht es natürlich um Geld, viel Geld. [...] (SZ 25.07.00)
(22) [Hacker-Proteste gegen die Kommerzialisierung des Internet] Heckenschützen gegen digitalen
Kommerz [Überschrift] [...] Was einer Atombombe standhält, ist jedoch nicht unbedingt gegen
Partisanen gefeit, die mit Guerrilla-Taktik aus dem Hinterhalt kämpfen. Als solche sehen sich
viele Computerhacker: als aufrechte Krieger im Kampf um den Erhalt des demokratischen, nichtkommerziellen Cyberspace. [...] (SZ 12.02.00)
79
Hierzu paßt auch das bereits erwähnte Beispiel (10), in dem der Cyberspace als ein
„bedrohter Frei- und Lebensraum“ bezeichnet wird, den es „vor parasitärer
Profitlogik zu bewahren“ gilt. Allen hier genannten Beispielen ist gemeinsam, daß
die Cyberspace-Metapher die Vorstellung eines gefährdeten Raumes evoziert. Gefahr
droht von zweierlei Seiten: der Kontrolle und der Kommerzialisierung. Zum einen ist
der Cyberspace von Regulierungsbestrebungen seitens der ‘Internet-Regierung’ Icann
bedroht. In den Beispielen (20) und (21) wird vor dem großen Einfluß und der Macht
dieser Institution gewarnt – die Unkontrollierbarkeit des Netzes sei schlicht ein
„Mythos“.
In
den
anderen
Beispielen
geht
es
um
die
zunehmende
Kommerzialisierung, die den Cyberspace als freien Lebensraum bedroht. Beispiel
(20) sieht in den Aktivitäten einiger Hacker keinen kriminellen Akt, sondern einen
„Kampf um den Erhalt des demokratischen, nicht-kommerziellen Cyberspace“. Als
„Heckenschützen“, „Partisanen“ und „Krieger“ kämpfen sie „mit Guerrilla-Taktik
aus dem Hinterhalt“ gegen die sich immer weiter im Cyberspace ausbreitenden
Konzerne, bieten ihnen also wie die „Netzaktivisten“ aus Beispiel (10) erbitterte
Gegenwehr.
Die genannten Beispiele scheinen also die These zu bestätigen, daß mit der
Cyberspace-Metapher neben positiven auch eine Reihe negativer Assoziationen
verknüpft werden. Zum einen erscheint der Cyberspace als eine von Hackern,
Kriminellen und Terroristen besetzte Welt, zum anderen aber auch als ein Raum,
dem selbst Gefahr droht. Dagegen läßt sich im gesamten Korpus nur ein einziger
Beleg für die These finden, daß der Cyberspace als ein Ort der Realitätsflucht
wahrgenommen wird:
(23) [Bericht über internetsüchtige Studenten] Sie chatten, sie surfen und verschicken E-Mails in die
ganze Welt. [...] Was lockt, ist einzig der Cyberspace – eine virtuelle Welt mit virtuellen
Freunden. [...] Für Online-Junkies wird alles andere zur Nebensache. [...] (SZ 13.04.00)
Die Cyberspace-Metapher scheint sich in diesem Zusammenhang also (noch) nicht
durchgesetzt zu haben; die Internet-Sucht wird vermutlich zumeist auf andere Weise
versprachlicht. Dennoch ist auch dieses Beispiel ein Beleg dafür, daß der Cyberspace
als eine andere, nämlich „virtuelle Welt“ gesehen wird.
Daß der Cyberspace nicht nur als ein von Pionieren zu erobernder Raum
wahrgenommen, sondern bereits häufig als ein Ort betrachtet wird, dessen
80
unbegrenzte Möglichkeiten schon vielfältig genutzt werden, belegen folgende
Textbeispiele:
(24) [Bericht über die Nutzung des Internet für politische Zwecke, glossenhaft formuliert als
‘Nachhilfestunde’ für die ältere Generation] [...] Or le Net, dont le produit d’appel est
précisément la liberté d’expression, peut t’aider à user de celle-ci sans effort, rapidement et à
toute heure! [...] On est plus en 1936, Mamie! Ce site Web aurait été votre bunker: les autorités
n’auraient franchement pas pu continuer d’ignorer votre détermination devenue soudain très
encombrante pour eux dans le cyberespace. De là, vous auriez mené l’offensive [...]. [...]
(Lib 23.02.01)
Hier ist der Cyberspace ein Ort des Widerstands, aus dem heraus man „sans effort“
für seine Rechte kämpfen, ja sogar eine Offensive führen kann. Jeder kann hier
problemlos von seinem demokratischen Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch
machen. Darüber hinaus dient er als „Bunker“, bietet also Schutz vor den „autorités“.
Auch im folgenden Beispiel steht die Cyberspace-Metapher in einem ähnlichen
politischen Kontext:
(25) [Im Internet gibt es bereits einen Palästinenser-Staat (in Form offizieller Webseiten)] La
Palestine libre sur le Net [Überschrift] [...] Dans un pays encore largement occupé et morcelé, le
réseau fait office de fenêtre ouverte sur l’extérieur. Yasser Arafat a réalisé son rêve
d’indépendance, mais uniquement dans le cyberespace. [...] (Lib 13.06.97)
In der Welt des Cyberspace ist schon verwirklicht, was in der realen Welt noch
unmöglich ist: Hier gibt es bereits einen unabhängigen Palästinenser-Staat. Mit Hilfe
des Netzes wird das „Fenster nach außen“ geöffnet, eine Verbindung zur wirklichen
Welt geschaffen. Als eine solche Verbindung zweier Welten wird der Cyberspace
auch in folgendem Beispiel gesehen:
(26) [Internetprojekt im Berliner Gefängnis Tegel] [...] Die Website gibt Außenstehenden per
virtueller „Einlassverfügung“ einen wirklich gut gemachten Einblick in die Gefängniswelt. Die
Idee damals war, der Welt draußen per Cyberspace einen Einblick in die von Mauern umgebene
Gefängniswelt zu geben. [...] (taz 13.12.00)
Hier ist der Cyberspace offensichtlich ein Raum zwischen zwei Welten: der
„Gefängniswelt“ und der „Welt draußen“. Er bietet den Gefängnisinsassen die
Chance, den Kontakt zur Außenwelt zu wahren – und den „Außenstehenden“ die
Möglichkeit, einen „Einblick“ in das Leben einer für sie unbekannten, von Mauern
umgebenen Welt zu erhalten.
Im Cyberspace sind auch Reisen in die Vergangenheit möglich:
81
(27) [Bericht über eine neu entwickelte Museums-Software] Im Cyberspace wird Troja wieder
aufgebaut [Überschrift] Das was Schliemann an der türkischen Südküste einst entdeckt hat, soll
nun im Cyberspace virtuelle Realität (VR) werden – unter dem Namen Troja VR. Ein Projekt,
das alle bisher bekannten archäologischen VR-Modelle weit übertreffen soll, da nicht nur die
urbanen Anlagen virtuell begehbar sein werden, sondern auch die jeweilige Landschaft. [...] Das
Besondere an diesen Cyberspace-Welten sind die enormen Datenmengen, die in Echtzeit
aktiviert, geordnet und je nach Anforderung umgruppiert werden müssen. [...] Mit Unterstützung
des Deutschen Archäologischen Institutes in Kairo soll die VR-Applikation so weit „aufgerüstet“
werden, dass virtuelle Zeitreisende sich auch in die angrenzenden Kulturen des Pharaonenreiches
zoomen können. [...] (W 13.02.01)
Der Cyberspace bietet die Möglichkeit, „virtuelle Zeitreisen“ zu unternehmen. Er
erscheint hier als ein Raum, der regelrecht bebaut werden kann: Troja wird wieder
„aufgebaut“, und seine Anlagen sowie die Landschaft der Umgebung werden
„virtuell begehbar“ sein, als handele es sich hier wirklich um eine Welt, in der man
sich wie in der realen Welt bewegen kann. Diese Möglichkeit des Sich-Bewegens im
Cyberspace wird auch im folgenden Beispiel beschrieben, hier allerdings aus einem
kritischen Blickwinkel:
(28) [Interview mit Philippe Breton, französischer Soziologe und Internet-Kritiker] [...] Un culte se
développe à l’intérieur des milieux d’Internet. Je ne parle pas des personnes pour qui Internet est
un outil de travail, mais d’un petit groupe qui a vu dans Internet une occasion de fétichiser la
technique et d’affirmer d’autres idées [...]. [...] Le cyberespace permettrait de se débarrasser de
la «lourdeur» du corps. [...] Pour eux, Internet n’est pas un simple outil qui s’ajoute à d’autres,
mais une révolution globale [...]. [...] (LMI 29.11.00)
Hier wird genau jene fast euphorische Sichtweise des Internet kritisiert, die den
Cyberspace als einen Raum betrachtet, in dem man sich bewegen könne, weil man
von der „Schwere seines Körpers“ befreit sei. Dies gehe soweit, daß das Internet von
einem kleinen Teil der Gesellschaft („un petit groupe“) als ein Kult fetischisiert und
als „révolution globale“ verstanden werde. Es ist einer der wenigen Texte im Korpus,
die sich kritisch mit eben dieser Auffassung vom Cyberspace als Parallelwelt
auseinandersetzen und dafür plädieren, das Internet schlicht als „Werkzeug“, als
Medium zu sehen.
Dagegen ist der folgende Textausschnitt wiederum ein Beispiel für die vielfach
vertretene, nahezu schwärmerische Sicht des Cyberspace als einer anderen, besseren
Welt:
(29) [Interview mit dem kanadischen Philosophen und Internet-Befürworter Pierre Lévy] [...] Je veux
dire qu’aujourd’hui, le cyberespace est le ferment de la civilisation, comme l’imprimerie le fut à
la fin du XVe siècle. [...] Notre culture devient plus sophistiquée. Toutes les traditions de pensé,
82
toutes les lignées de pratiques se retrouvent aujourd’hui dans le cyberespace. [...] L’éthique de
l’intelligence collective, qui consiste à entrelacer les points de vue différents, se manifeste
largement dans le cyberespace. [...] Un nouvel espace public émerge. [...] Le débat social et
politique est extrêmement vif et animé dans le cyberespace. C’est vraiment l’invention d’une
nouvelle forme d’agora, d’une nouvelle façon de faire de la politique. (LMI 29.11.00)
Der Cyberspace wird hier als „ferment de la civilisation“ idealisiert, mit dessen Hilfe
sich die Kultur – wie seinerzeit mit der Erfindung der Druckkunst – weiterentwickeln
werde. Im Cyberspace finden sich nach dieser Auffassung sämtliche Traditionen des
Denkens, ja sogar „l’éthique de l’intelligence collective“ wieder. Einmal mehr wird
er als ein neuer Raum betrachtet, und zwar als ein öffentlicher Raum, in dem ein
lebhafter sozialer und politischer Austausch stattfindet. Der Cyberspace wird hier mit
der antiken griechischen Agora verglichen, bildet also das Zentrum des politischen
und geschäftlichen Lebens. Wie in zahlreichen der bisherigen Beispiele wird die
Cyberspace-Metapher auch hier in einer Weise verwendet, die den Leser fast
vergessen läßt, daß nicht von einem neuen Raum die Rede ist, sondern von einem
neuen Medium.
Genau dieses Phänomen wird im folgenden Beispiel thematisiert:
(30) [Besprechung eines Internet-Sachbuches] [...] Die digitale Welt hinter dem Computerbildschirm
ist für unzählige Internet-Benutzer Alltag geworden, und damit das Bewusstsein eines neuen
Raums, der Schätzungen zufolge alle drei Monate sein Volumen um 25 Prozent vergrößert.
Tatsache ist auch, dass das physikalisch nicht zu verortende Net von den Benutzern als ein „Ort“
empfunden wird, an den man sich, zumindest mit einem Teil seines Selbst, hinbegibt: der
Cyberspace. [...] [Es] entstand mit dem Cyberspace ex nihilo ein gänzlich neuer Raum, der sich
der physikalischen Erfassbarkeit entzieht. [...] (SZ 18.10.00)
Dieser Textausschnitt faßt im Grunde das zusammen, was viele Internet-Nutzer in
dem neuen Medium sehen: einen sich ständig vergrößernden Raum ‘hinter dem
Bildschirm’, eine digitale Welt, die zwar physikalisch nicht zu lokalisieren ist, in die
man sich jedoch trotzdem hineinbegeben kann. In einem solchen Text erscheint die
Verwendung der Cyberspace-Metapher logisch, evoziert sie doch offensichtlich, wie
auch die Beispiele (1) bis (29) zeigen, das Bild eines „gänzlich neuen Raumes“.
Alle behandelten Textbeispiele scheinen in der Tat die These zu belegen, daß mit der
Cyberspace-Metapher sowohl im Deutschen als auch im Französischen die
Vorstellung eines weiten, zumeist sogar grenzenlosen Raumes assoziiert wird.
Diesem Raum werden sowohl positive als auch negative Eigenschaften
zugeschrieben: Zum einen ist es eine neue, freie Welt der unbegrenzten
83
Möglichkeiten und Chancen, zum anderen drohen hier jedoch Gefahren. Umgekehrt
wird hier aber auch häufig ein Raum beschrieben, der selbst in seiner Freiheit
gefährdet ist – sei es durch die zunehmende Kommerzialisierung oder durch
übermäßige Kontrollbestrebungen und Machtinteressen diverser Institutionen. Die
relativ große Bandbreite der Kontexte, in denen die Cyberspace-Metapher
Verwendung findet, weist sie als eine vielfältig einsetzbare Metapher aus. Daraus
resultierende Vermutungen, es handele sich hier um eine Universal-Metapher, die
mittlerweile generell als Synonym für ‘das Internet’ gebraucht werde, sind jedoch
zurückzuweisen: Sie scheint fast ausschließlich in jenen Kontexten aufzutauchen, in
denen das Internet als ein neuer Raum bzw. eine neue Welt gesehen wird – sei es als
chancenreiche oder gefährliche Welt. Häufig steht die Cyberspace-Metapher in einem
isotopischen Umfeld von Schlüssellexemen, das den Leser fast vergessen läßt, daß
hier eigentlich ‘nur’ ein Medium beschrieben wird. Und wie vermutet, ist der
Cyberspace in beiden betrachteten Sprachen ähnlich konnotiert; es scheint hier keine
nennenswerten Differenzen in der Verwendung zu geben.
Auffallend ist die Tatsache, daß in keinem der behandelten Texte gleichzeitig die
Metaphern der Datenautobahn oder des globalen Dorfes auftauchen. Diese scheinen
also offensichtlich in anderen Kontexten verwendet zu werden. Ob die in Kapitel 5
aufgestellten Thesen auch für diese beiden Metaphern zutreffen, wird im folgenden
näher beleuchtet.
6.3
Die
Datenautobahn
–
eine
schnelle
und
leistungsfähige
Technologie in einer guten Infrastruktur?
Im Gegensatz zur Cyberspace-Metapher ist bei der Metapher der Datenautobahn
bzw. autoroute de l’information nicht zu erwarten, daß sie hauptsächlich in
Kontexten auftritt, in denen es um eine ‘neue, grenzenlose Welt’ geht. Die in
Kapitel 5 herausgearbeiteten Assoziationen und Konnotationen lassen eher vermuten,
daß die Datenautobahn vor allem mit Geschwindigkeit, Leistungsfähigkeit und
Zukunftstechnologie in Verbindung gebracht wird. Darüber hinaus ist zu erwarten,
daß sie aufgrund ihrer Herkunft verstärkt in politischen und wirtschaftlichen
Zusammenhängen verwendet wird. Interessant ist bei dieser Metapher die Frage, ob
84
es angesichts des unterschiedlichen Stellenwertes der ‘echten’ Autobahnen in der
jeweiligen Gesellschaft zu Differenzen in der Konnotation kommt und sich der
Gebrauch der Datenautobahn somit von dem der autoroute de l’information
unterscheidet.
Ein Ergebnis kann bereits an dieser Stelle vorweggenommen werden: Es lassen sich
im Korpus tatsächlich zahlreiche Belege dafür finden, daß diese Metapher im
Deutschen und Französischen unterschiedlich eingesetzt wird. Dies gilt sowohl für
den Kontext als auch für die rein sprachliche Verwendung. So tritt die autoroute de
l'information zum Beispiel weitaus häufiger in politischen Zusammenhängen auf als
ihr deutsches Äquivalent:
(1) [Bericht über eine französische Tagung zur Zukunft der Informationsgesellschaft unter Vorsitz
von Präsident Jacques Chirac im Januar 2001] Jacques Chirac à Autrans: pour un réseau sécurisé
et rapide pour tous [Überschrift] Pas d’Internet rapide sans Internet pour tous. Tel est le mot
d’ordre [...]. «Comment faire en sorte que l’accès à l’Internet soit garanti à tous les territoires?»
et «comment assurer la sécurité des réseaux?» demandait le chef de l’Etat. L’inquiétude de «voir
le progrès profiter exclusivement aux grands pôles urbains», celle pour les zones rurales «de ne
pas être désservies par les autoroutes de l'information comme certaines ont été tenues à l’écart
des grands axes routiers et ferroviaires» ne seraient pas sans fondement pour Jacques Chirac.
[...] (LMI 15.01.01)
(2) [Bericht über ‘Cœur de réseau’, eine von der französischen Regierung geplante,
hochleistungsfähige 2. Internet-Generation] [...] C’est un projet très ambitieux, présenté comme
une sorte d’Internet II à la française, plus fiable, plus rapide. Cité Cœur de réseau [...] se veut
l’embryon des futures autoroutes de l'information. [...] Près de 23 millions de francs, dont 10
millions de subventions au titre du programme Autoroutes de l’information du ministère de
l’Industrie, ont été dépensés pour bâtir un réseau informatique s’appuyant sur des technologies
dernier cri [...]. [...] (Lib 19.12.97)
(3) [Bericht über den im Vergleich zu den USA verspäteten Durchbruch des Internet in Frankreich]
[...] «L’entrée de la France dans la société de l’information constitue un enjeu décisif pour
l’avenir.» Lionel Jospin, premier ministre. [...] Al Gore, qui ne s’est pas privé de rappeler durant
sa campagne qu’il était le «père» d’Internet, est le premier à construire un programme politique
qui intègre les technologies de l’information. C’est pour une autre campagne [...] que ce fils d’un
des principaux architectes du réseau autoroutier américain sort de son chapeau [...] le concept
d’«autoroutes de l’information». [...] Les autoroutes de l’information mettront tout de même
cinq ans à trouver un pont pour traverser l’Atlantique. [...] [Lionel Jospin:] «L’essor des
nouveaux réseaux d’information et de communication offre des promesses sociales, culturelles
et, en définitive, politiques [...].» [...] (LMI 29.11.00)
In allen genannten Beispielen wird die autoroute de l'information in einem
politischen Zusammenhang verwendet, und zwar in einer Weise, wie es gemäß ihrer
Herkunft zu erwarten ist: Sie wird von hochrangigen französischen Politikern
gebraucht, wenn es um offizielle Regierungsprogramme zur Entwicklung des Internet
bzw. zur Verbreitung des Mediums in ganz Frankreich geht. So ist es nicht
verwunderlich, daß ein Programm des Industrieministeriums zum Aufbau eines
85
Hochleistungs-Internet den Titel „Programme Autoroutes de l’information“ trägt. Die
autoroutes de l'information werden von der Politik als Zukunftschance begriffen,
weshalb es von größter Wichtigkeit ist, allen Menschen im Land Zugang zum
Internet zu verschaffen: „Internet pour tous“ lautet die Parole – „le mot d’ordre“ –,
die vom französischen Präsidenten, also von ‘ganz oben’ lanciert wird. Die
autoroutes de l'information werden mit den ‘echten’ Verkehrswegen verglichen, doch
im Gegensatz zu diesen „grands axes routiers et ferroviaires“ sollen mit ihnen
diesmal auch die ländlichen Gebiete Frankreichs erschlossen werden, damit diese
nicht wieder „à l’écart“ bleiben. Die autoroute de l'information erscheint hier
wirklich als ‘Chefsache’ der französischen Politik – schließlich bildet der Eintritt
Frankreichs in die Informationsgesellschaft nach Auffassung des Premierministers
Lionel Jospin „un enjeu décisif pour l’avenir“. Der Geschwindigkeits-Aspekt ist zwar
auch von Bedeutung („pour un réseau sécurisé et rapide“, „Internet II à la française,
plus fiable, plus rapide“), er scheint jedoch dem der ‘sozialen Gerechtigkeit’
nachgeordnet zu sein: „Pas d’Internet rapide sans Internet pour tous“. Es ist
überhaupt auffallend, daß die französische Metapher verstärkt in Kontexten
auftaucht, in denen es um soziale Belange geht:
(4) [Bericht über die hohen Kosten des Internet] Les oubliés de la Toile [Überschrift] Il y a ceux qui
ont fait le choix de se déconnecter. Et puis il y a ceux, nombreux, qui assistent au développement
d’Internet et des nouvelles technologies sans pouvoir y participer, faute de moyens financiers ou
de connaissances. [...] Est-il pour autant logique de laisser définitivement sur le bord des
autoroutes d l’information les personnes en grande difficulté sociale? [...] (LMI 31.10.01)
(5) [‘Multimediales Nord-Süd-Gefälle’ zwischen den reichen Industriestaaten und den armen
Entwicklungsländern] [...] l’accès aux autoroutes de l’information creuse au Nord et au Sud,
entre le Nord et le Sud, le gouffre des disparités économiques, sociales, culturelles. [...]
(H 18.11.99)
(6) [Konferenz der nicht-kommerziellen und nicht-staatlichen Internet-Akteure in Barcelona] Les
réseaux citoyens tentent de se rassembler [Überschrift] [...] «Les Etats ne font pas de place aux
réseaux citoyens, qui véhiculent d’autres valeurs que celles du secteur marchand», se plaint
Valérie Peugeot, coorganisatrice du congrès et membre de Vecam (Veille européenne et
citoyenne sur les autoroutes de l’information et le multimédia) [...]. Alors que faire?
«Rassembler nos forces et nous organiser pour faire pression sur le pouvoir politique et défendre
notre vision d’un Internet citoyen et solidaire.» [...] (LMI 15.11.00)
Bei der in Beispiel (6) genannten Vecam (Veille européenne et citoyenne sur les
autoroutes de l’information et le multimédia) handelt es sich um eine 1995
gegründete, nicht-staatliche europäische Organisation mit Sitz in Frankreich, die es
sich zum Ziel gesetzt hat, den Menschen aller Gesellschaftsschichten Zugang zu den
86
neuen Medien zu verschaffen, um soziale Benachteiligungen zu verhindern. Zu
diesem Zweck sollen sogenannte Bürgernetze entstehen.193 Es ist bezeichnend, daß
eine Organisation, die sich für eine gerechte und flächendeckende Verbreitung der
neuen Medien einsetzt, die autoroute-Metapher in ihrem Namen trägt. Mit dieser
Metapher scheint, wie auch die vorigen Beispiele zeigen, im Französischen vor allem
der Aspekt eines ‘Internet für alle’ assoziiert zu werden – und dies gilt sowohl für
Politiker als auch für Bürgerbewegungen. So paßt es ins Bild, daß die Metapher auch
in Pressetexten vor allem dort verwendet wird, wo es um die für viele
Gesellschaftsschichten zu hohen Internet-Kosten (Beispiel 4) oder das ‘multimediale
Nord-Süd-Gefälle’
zwischen
den
Industriestaaten
und
Entwicklungsländern
(Beispiel 5) geht.
Bei der Betrachtung deutscher Zeitungsartikel ergibt sich dagegen ein ganz anderes
Bild. Es lassen sich im Korpus keinerlei Belege dafür finden, daß die Datenautobahn
in einem ähnlichen sozialen oder politischen Kontext auftritt wie die autoroute de
l'information. Wenn sie in einem politischen Zusammenhang gebraucht wird, ist das
Thema zumeist weniger brisant:
(7) [Der Regierende Bürgermeister Berlins, Eberhard Diepgen, absolviert eine Internet-Schulung]
[...] Ganz demonstrativ beschritt Diepgen gestern nun offiziell die Datenautobahn. In einer
IBM-Schulung – ein Geburtstagsgeschenk von Kollegen – absolvierte er einen so genannten
Internetführerschein. [...] Kurz vor dem Start ins Netz hatten Fernsehvertreter die Gelegenheit,
investigative Fragen zu stellen. [...] Kurzzeitig verirrte sich Diepgen doch auf der
Datenautobahn und mutierte zum Geisterfahrer. Bei seiner Irrfahrt streifte er eine junge
Journalistin mit der Gegenfrage: „Wann haben Sie denn mal den letzten Zehn-Seiten-Brief
geschrieben? Das gabs doch nur noch bei Ihrer Großmutter.“ [...] (taz 03.02.01)
Zwar ist der in diesem Beispiel genannte „Internetführerschein“ ein offizielles
Zertifikat, das von der Europäischen Union konzipiert wurde und mit seiner
Bezeichnung ausdrücklich auf die Datenautobahn-Metapher verweist, doch im
Grunde dient der Führerschein in diesem Text nur als ‘Aufhänger’. Die
Datenautobahn wird hier eher spielerisch verwendet – Eberhard Diepgen „verirrt“
sich auf ihr, wird zum „Geisterfahrer“ und „streift“ eine Journalistin. Es werden also
Lexeme aktiviert, die zum Konzept der ‘echten’ Autobahn gehören. Der politische
193
Auf ihrer Homepage schreiben sie: „L’association Veille européenne et citoyenne sur les
autoroutes de l’information et le multimédia (Vecam) est à la fois un lieu de réflexion sur les
impacts des nouveaux multimédias, un réseau d’échange d’expériences sur l’utilisation des
nouvelles technologies de l’information pour lutter contre l’exclusion sociale et un organisme de
formation pour démocratiser l’usage de ces technologies.“ (Vecam 2001, http://www.vecam.org).
87
Kontext steht hier im Gegensatz zu den französischen Beispielen eindeutig nicht im
Vordergrund.
Die Datenautobahn-Metapher scheint weitaus häufiger mit der realen Autobahn in
Verbindung gebracht zu werden als ihr französisches Äquivalent. Dies gilt sowohl
für den Aspekt der Geschwindigkeit als auch für andere autobahntypische
Assoziationen:
(8) [Internet-Nutzung im Geschäftsleben] [...] Die großen Business-Provider wie Uunet, Xlink,
Nacamar oder die Deutsche Telekom bieten für jede Anforderung die geeignete Auffahrt zur
Datenautobahn. Von der einfachen Wählverbindung über Standleitung und
Hochgeschwindigkeitsanbindung bis zur Satellitenverbindung ist fast alles erhältlich. [...]
(SZ 23.02.00)
(9) [Bedeutung von Logistik-Unternehmen für den E-Commerce] [...] Und während der UPS-Laster
in den Feierabendstau auf der A 43 aufbricht, hat die E-Bestellung ihre Reise auf der
Datenautobahn längst beendet. Nächste Station, online wie offline: das UPS-Umschlagzentrum
in Herne. [...] (W 13.12.00)
(10) [UMTS-Technik] Von unterwegs ein schneller Ausflug auf die Datenautobahn [Überschrift]
Mobile Datenreisen mit Höchstgeschwindigkeit bietet ab 2002 die dritte Mobilfunkgeneration
[...] an. [...] (W 01.12.00)
(11) [UMTS-Technik im Auto] Der Verkehr auf der Daten-Autobahn nimmt zu [Überschrift] [...]
Telematik heißt die Technik, die das Auto überhaupt erst auf die Datenautobahn bringen soll.
[...] (SZ 21.10.00)
(12) [technische Neu-Entwicklungen im Internet-Bereich] Sichere Abfahrten auf der Datenautobahn
[Überschrift] [...] Die Staus auf den Datenautobahnen kommen jedoch nicht nur durch
überlastete Übertragungsleitungen zustande. Sie werden auch durch die Verbindungsstellen
verursacht, in denen Schalter den Signalfluss steuern: quasi den Auf- und Abfahrten auf die
Autobahnen. [...] (SZ 23.02.00)
(13) [überlastete Leitungen] [...] Oft sind die Leitungen aber hoffnungslos überlastet, und wenn eine
Verbindung zustande kommt, entpuppt sich die Datenautobahn eher als digitale Tempo-30Zone. [...] (SZ 14.04.00)
(14) [neuer Mobilfunkstandard GPRS] [...] Bis die Netze komplett mit den breiten Auffahrten auf die
Datenautobahn ausgestattet sind und endlich Vollgas mit 112 Kbits/s gegeben werden kann,
wird es wohl noch ein paar Monate länger dauern. [...] (SZ 03.11.00)
(15) [Vorteile von Glasfaserkabeln] [...] Ohne Glasfaserkabel läuft im Internet nichts. Müssten sich
die Bits und Bytes durch Kupferkabel quälen, stünden die Surfer noch viel häufiger im Datenstau
als jetzt schon. Für die meisten Nutzer endet die Datenautobahn allerdings in Sichtweite der
eigenen Wohnung oder des Büros. [...] Doch das könnte sich bald ändern. [...] (SZ 01.08.00)
Diese Beispiele sind charakteristisch für die Verwendung der DatenautobahnMetapher im deutschen Sprachgebrauch. Sie steht meistens in einem isotopischen
Umfeld von Lexemen, die dem Konzept der realen Autobahnen entstammen. So gibt
es sichere und breite Auf- und Abfahrten, man kann Vollgas geben (wobei die
88
üblichen
km/h
einfach
durch
„Kbits/s“
ersetzt
werden),
erreicht
Höchstgeschwindigkeiten – oder steht im Stau. Man kann hier sogar Geisterfahrern
begegnen (siehe Beispiel 7). Mit der Datenautobahn-Metapher wird also auf
Erfahrungswerte referiert, die der Sprecher mit dem wirklichen Befahren von
Autobahnen assoziiert. Zuweilen werden auch direkte Vergleiche zwischen ihnen
gezogen, wie Beispiel (9) belegt („Feierabendstau auf der A 43“ vs. „Reise auf der
Datenautobahn“). Der „Stau auf der Datenautobahn“ ist eine häufig gebrauchte
Metapher, wenn es um überlastete Datenleitungen geht – was nicht überrascht, wenn
man sich das als ‘typisch deutsches Autofahrer-Ärgernis’ empfundene Stau-Problem
auf den Autobahnen vergegenwärtigt.194 Auf ein ähnlich charakteristisches Ärgernis
wird in Beispiel (13) Bezug genommen: Hier wird das Internet gar zur „digitalen
Tempo-30-Zone“ – man kommt also nur sehr langsam voran.
Belege dieser Art sind im französischen Sprachgebrauch dagegen sehr rar. Im
gesamten Korpus läßt sich nur ein einziges Beispiel ausmachen, in dem ebenfalls auf
das Stau-Problem referiert wird:
(16) [Überlastete Internet-Leitungen] [...] Tous les internautes le savent, le principal problème
d’Internet, c’est sa lenteur. Victime de son succès, le réseau des réseaux connaît parfois des
embouteillages. Deux raisons à cela: le nombre toujours croissant d’internautes et des données de
plus en plus volumineuses (images, sons, animations) congestionnent les autoroutes de
l’information, constituées de lignes téléphoniques, de câbles et de liaisons satellites. [...]
(H 06.05.00)
Das Stau-Phänomen scheint sich also hauptsächlich im deutschen Sprachgebrauch
niederzuschlagen. Ähnliches gilt für den Geschwindigkeits-Aspekt: Während die
deutsche Datenautobahn vor allem in Kontexten auftaucht, in denen es um die
Leistungsfähigkeit und Schnelligkeit des Internet geht, finden sich hierfür im
Französischen nur sehr wenige Belege. Hier scheinen bei der Verwendung der
autoroute-Metapher eher die Kosten des Internet und die damit verbundenen sozialen
Aspekte im Vordergrund zu stehen, wie die Beispiele (1) bis (6) belegen. Es ist zu
vermuten, daß dies tatsächlich am unterschiedlichen Stellenwert der Autobahn in der
jeweiligen Gesellschaft liegt. Während auf deutschen Autobahnen – zumindest
theoretisch – das Recht auf schnelles und kostenfreies Fahren herrscht, wird auf den
französischen Schnellstraßen nicht nur die Geschwindigkeit beschränkt, sondern
194
Dies wird übrigens auch in anderen Bereichen deutlich: So war das alljährlich von der Gesellschaft
für deutsche Sprache gewählte ‘Wort des Jahres’ 1997 der „Reformstau“ (vgl. Duden 2000,
S. 1155), während bei der Hamburger Justiz häufig der „Verfahrensstau“ beklagt wird.
89
darüber hinaus eine Benutzungsgebühr erhoben (was finanziell schwächer gestellte
Bürger von der regelmäßigen Nutzung ausschließt). Somit unterscheiden sich die
‘Autobahn-Erfahrungen’ in den beiden Gesellschaften grundlegend. Folgerichtig ist
die Metapher der Datenautobahn anders konnotiert als ihr französisches Pendant.
Dies zeigt auch der folgende Textausschnitt, in dem explizit auf den „péage“
verwiesen wird:
(17) [Abschaffung der Internet-Gebühren bei einigen französischen Providern] Internet sans péage
[Überschrift] [...] Fin des péages sur les autoroutes de l’information? Dès cet été, c’est fait! Il
faudra, bien sûr, continuer à payer le carburant, c’est-à-dire les consommations téléphoniques.
Toutefois, le coût du surf, de la balade sur Internet, sera moindre. [...] (H 24.06.99)
Die unterschiedliche Konnotierung wirkt sich auf die Verwendung der Metapher aus.
So kann es passieren, daß die deutsche Datenautobahn sogar in Kontexten auftaucht,
in denen es gar nicht um das Internet geht. Das Stau-Problem scheint ein im
deutschen Sprachgebrauch internalisiertes Phänomen zu sein, wie eine Glosse aus der
taz zeigt. Sie handelt vom Berliner Verkehrssenator, dem das allgemeine
Verkehrschaos auf den Straßen der Hauptstadt angelastet wird. Als es einmal völlig
unerwartet nicht zum Stau kam, entstand folgender Artikel:
(18) Nix los auf der Avus. Stau-Senator versagt [Überschrift] Seit Monaten hat die Stadt gezittert.
Und jetzt das. Stau-Senator Peter Strieder [...] versagt auf der ganzen Avus. Nicht einmal ein
ordentliches Verkehrschaos am Dreieck Funkturm kriegt der zuständige SPD-Senator hin.
Warum das Nadelöhr unverstopft blieb – niemand weiß es. Sind die Autofahrer auf die
Datenautobahn geflüchtet, um virtuell zur Internet World aufs Messegelände zu rasen? Haben
sie in der S-Bahn aus Angst vor Kontrollettis gezittert, oder heizten die Potsdamer Pendler über
Zehlendorfer Kopfsteinpflaster-Nebenstraßen? [...] (taz 23.05.00)
Hier dient die Datenautobahn-Metapher als Wortspiel in einem Artikel, der ein reales
Verkehrsproblem, und eben nicht den ‘Datenverkehr’ im Internet thematisiert. Ein
Vergleich bietet sich an, weil zur selben Zeit zufällig eine Internet-Messe in Berlin
stattfindet. Es ist auffallend, daß sich die spielerische Verwendung dieser Metapher
im deutschen Sprachgebrauch weitaus häufiger findet als im französischen:
(19) [Zwei Jura-Studenten hatten Gutachten per Internet angeboten] Ausgebremste Juristen
[Überschrift] [...] Für zwei Freiburger Studenten führte die Datenautobahn rasch auf den
Rechtsweg: Die beiden Jungjuristen boten im Internet Gutachten an, wurden aber per
einstweiliger Verfügung von einer Anwaltskanzlei gestoppt. [...] (SZ 07.11.00)
(20) [Bericht über die ‘Münchner Mädchencomputertage’] Mädchen und Mäuse auf der
Datenautobahn [Überschrift] [...] Bewerbungen via Internet, Homepage basteln, mailen,
90
chatten, recherchieren, surfen – der Schwerpunkt liegt klar auf dem Fahren auf der
Datenautobahn. [...] (SZ 12.07.00)
(21) [hohe Beliebtheit von Autorennsport-Webseiten] [...] Doch bei den sportlich interessierten
Internet-Freaks ist alles rund um die Formel 1 trotzdem der Renner auf der Datenautobahn. [...]
(W 08.04.00)
(22) [private Homepages] [...] Und wie kriegt man Besucher auf die Homepage? Indem man sich in
Suchmaschinen einträgt. [...] So wird auch die selbstgebaute Homepage gefunden, selbst wenn
sie nur eine kleine Hütte irgendwo an der Datenautobahn ist. (W 24.12.00)
(23) [Glosse über den Untergang ‘altmodischer’ deutscher Wörter zugunsten von modischen
Neologismen wie ‘Frühstücks-Cerealien’] [...] Ich vermisse in letzter Zeit so dies und jenes. Vor
allem Wörter. „Aufschneider“ zum Beispiel scheint es im Sprachgebrauch der Slasher-gestählten
nachwachsenden Generation nicht mehr zu geben. [...] Oder das schöne Bild von der
„Zwickmühle“. [...] Aber letztlich sei das doch alles nicht so schlimm, [...] ein jegliches habe
eben seine Zeit. A propos: „Schnelllebig“ ist in Zeiten der Datenautobahn wohl auch schon
wieder zu langsam. (taz 12.08.00)
In all diesen Beispielen wird die Datenautobahn-Metapher als sprachspielerisches
Element verwendet und bildet Isotopien mit anderen metaphorischen Ausdrücken.
Juristen werden „ausgebremst“ und „gestoppt“ und landen via Datenautobahn auf
dem „Rechtsweg“, Mädchen „fahren“ auf der Datenautobahn, die Formel 1 ist nicht
nur auf der Piste ein „Renner“, und die private Homepage wird zur „Hütte“ an der
Datenautobahn. Der Textausschnitt (23) ist ein weiteres Beispiel für die Verwendung
in einem Kontext, der nicht das Internet behandelt: In einer Glosse, die sich
ausdrücklich
mit
dem
Niedergang
‘altmodischer
Wörter’
zugunsten
von
Neologismen auseinandersetzt, darf die Metapher der Datenautobahn offensichtlich
nicht fehlen. Daß sie zu dem als altmodisch empfundenen Lexem „schnelllebig“ in
Beziehung gesetzt wird, weist einmal mehr auf die Bedeutung des GeschwindigkeitsAspektes hin.
Während der spielerische Gebrauch der Datenautobahn-Metapher im Deutschen sehr
verbreitet ist, finden sich im Französischen hierfür kaum Belege. Im französischen
Korpus läßt sich nur ein Artikel nachweisen, in dem die autoroute-Metapher als
Wortspiel verwendet wird:
(24) [Kritik an der Kommerzialisierung] Le Net, c’est l’apothéose du frivole et du mercantile, des
autoroutes de la consommation plus que de l’information. [...] Bienvenue sur les autoroutes de
la consommation: vous êtes prié d’acquérir, au premier péage, un ordinateur équipé du
processeur Intel Pentium. [...] (Lib 21.05.98)
91
In einer ironisch formulierten, kritischen Auseinandersetzung mit der zunehmenden
Kommerzialisierung des Internet werden die autoroutes de l’information zu
„autoroutes de la consommation“. Und auch hier wird wieder auf die Kosten Bezug
genommen: Zum Befahren der autoroute ist gleich an der ersten péage-Station die
Gebühr zu entrichten – in Form eines Computers mit Intel-Pentium-Prozessor.
Daß die Metapher der autoroute de l’information offensichtlich relativ selten zu
Wortspielen herausfordert, erscheint auf den ersten Blick atypisch für die
französische Sprache, in der jeux de mots eigentlich seit jeher sehr verbreitet sind. Es
ist zu vermuten, daß dies an dem bereits mehrfach erwähnten Stellenwert der realen
Autobahnen liegt – sie scheinen in der französischen Gesellschaft weitaus weniger
fest verankert zu sein als hierzulande. Die relativ große Bedeutung der Autobahnen
in der deutschen Gesellschaft führt im deutschen Sprachgebrauch offensichtlich zu
einer Fülle weiterer metaphorischer Ausdrücke aus dem Autobahn- bzw.
Automobilkonzept. Dieser Unterschied scheint in der Tat die These von
Lakoff/Johnson zu belegen, nach der Metaphern soziokulturelle Phänomene
widerspiegeln
und
es
demzufolge
zu
Differenzen
zwischen
zwei
Sprachgemeinschaften kommen kann.195 Das quantitative Übergewicht deutscher
Datenautobahn-Beispiele
gegenüber
französischen
autoroute-de-l’information-
Texten (15 vs. 9) ist kein Zufall: Tatsächlich wird die deutsche Metapher in
Presseberichten deutlich häufiger verwendet als ihr französisches Pendant.
Dennoch scheint es sich in beiden Sprachen um eine bereits konventionalisierte
Metapher zu handeln, wie der folgende Abschnitt zeigt.
6.3.1 Non-verbaler Gebrauch der Datenautobahn-Metapher
Daß eine Metapher sogar dann wirken kann, wenn sie gar nicht explizit genannt wird,
beweist ein Werbeplakat des Hamburger Telekommunikations-Anbieters HanseNet
(siehe Abbildung 1 im Anhang). Unter der Überschrift „Mouse-Tuning!“ ist das Bild
einer Maus mit einem Rennfahrer-Helm zu sehen. Die Bildunterschrift lautet „Ihr
Turbo zum Surfen und Freistunden zum Abtelefonieren“.
Jeder Internet-Nutzer dürfte sofort die intendierte Botschaft verstehen: Mit HanseNet
wird der Internet-Anschluß ‘getunet’, also leistungsfähiger gemacht (to tune = mot.
die Leistung erhöhen), das Internet wird ‘schneller’ – das heißt, Webseiten bauen
195
Vgl. Lakoff/Johnson (1980), S. 7ff. sowie Kapitel 2.3.4.3 der vorliegenden Arbeit.
92
sich schnell auf, Informationen können in kürzester Zeit heruntergeladen werden etc.
Dieser Effekt wird durch den hohen Bekanntheitsgrad der Datenautobahn-Metapher
erzielt. Wenn sie nicht im allgemeinen Sprachgebrauch über das Internet vorkäme,
verfehlte diese Werbung völlig ihr Ziel: Niemand wüßte, warum hier mit Elementen
aus der Welt des Autorennsports gearbeitet wird, denn man verbindet üblicherweise
weder die Begriffe ‘Tuning’ und ‘Turbo’ noch einen Rennfahrer-Helm mit dem
Internet. Der Transfer gelingt dennoch, und zwar allein aufgrund der Existenz und
des hohen Bekanntheitsgrades der Datenautobahn-Metapher, die diese Assoziationen
ermöglicht.
Daneben wird noch mit weiteren Metaphern gespielt, die jedoch im Unterschied zur
Datenautobahn explizit genannt bzw. sogar bildlich dargestellt werden: das Surfen –
und nicht zu vergessen die Maus, denn auch hierbei handelt es sich um einen
metaphorischen Ausdruck. Dieses Gerät gehört heute zu jedem Computer und ist für
die Nutzung des Internet unverzichtbar. Somit dürfte sich die Fotomontage einer
‘echten’ Maus mit Rennfahrer-Helm, die von den sprachlichen Elementen ‘Tuning’,
‘Turbo’ und ‘Surfen’ umrahmt wird, bei jedem Internet-Nutzer sofort zu einem
Gesamtbild bzw. der intendierten Botschaft fügen: ‘HanseNet beschleunigt das
Internet’. Vor der Verbreitung des Internet und der mit ihm verbundenen Metaphern
wäre ein solches Werbeplakat völlig unverständlich gewesen. Dieses Beispiel zeigt,
wie stark Metaphern in unserem Bewußtsein verankert sind und welchen Einfluß sie
auf unsere Wahrnehmung ausüben. Es verdeutlicht darüber hinaus, daß es sich bei
der Datenautobahn um eine bereits konventionalisierte Metapher handeln muß, die
von den meisten Sprechern verstanden wird, da sie sogar ohne explizite Nennung,
allein aufgrund der sie umgebenden verbalen und non-verbalen Elemente assoziiert
wird.
Auch im französischen Sprachgebrauch scheint die Metapher der autoroute de
l’information bereits konventionalisiert zu sein, was sich ebenfalls durch eine
Werbeanzeige beweisen läßt (siehe Abbildung 2 im Anhang). Allerdings geht es hier
weniger um Schnelligkeit als vielmehr um den ‘sparsamen Verbrauch’: Der InternetProvider LibertySurf wirbt mit dem Bild eines stilisierten Armaturenbrettes; der
Betrachter sieht eine große Benzinuhr, einen Ölstandsanzeiger (beide zusätzlich
visualisiert durch eine Tanksäule bzw. eine Ölkanne) sowie eine Art Tachometer mit
93
Digitalanzeige. Letzterer sieht auf den ersten Blick nicht anders aus als ein normaler
Geschwindigkeitsmesser im Auto; man sieht Zahlen und Buchstabenkombinationen,
die spontan an die übliche Abkürzung ‘km/h’ für ‘Kilometer pro Stunde’ denken
lassen. Erst auf den zweiten Blick erkennt der Betrachter die wirkliche Bedeutung:
‘30 h 145F/mois’ steht für ‘30 Stunden Internetnutzung für 145 Francs pro Monat’.
Durch die Überschrift „Pour faire le plein d’Internet, difficile de faire plus
économique“ wird diese Aussage zusätzlich gestützt. Auch hier wird ein Ausdruck
aus dem Automobilbereich verwendet bzw. auf das Internet angepaßt: „faire le plein
(d’essence)“ bedeutet „volltanken“ – der Internet-Nutzer „tankt“ also preisgünstig
„voll“. Die Botschaft dieser Werbeanzeige ist somit folgende: ‘Niedrige InternetKosten durch LibertySurf’.
Auch im französischen Sprachgebrauch ist es also offensichtlich problemlos
möglich, das Internet mit sprachlichen und bildlichen Elementen aus dem
Automobilbereich darzustellen – und zwar auch hier, ohne daß die Metapher der
autoroute de l’information explizit genannt wird. Dies legt die Vermutung nahe, daß
diese Metapher auch im Französischen konventionalisiert sein muß. Es ist zumindest
schwer vorstellbar, daß die intendierte Botschaft spontan verstanden würde, wenn die
autoroute-Metapher nicht im allgemeinen Sprachgebrauch über das Internet
vorkäme.
Und nicht nur die Konventionalisierung der Autobahn-Metapher läßt sich durch die
beiden Werbeanzeigen belegen: Neben den analysierten Zeitungsartikeln können sie
als weiterer Beweis für die These dienen, daß bei der deutschen Datenautobahn in
der Tat die Geschwindigkeit des Internet im Vordergrund steht, während mit der
französischen autoroute de l’information offensichtlich eher hohe Internet-Kosten
assoziiert werden.
Zusammenfassend läßt sich folgendes festhalten: Sowohl im französischen als auch
im deutschen Sprachgebrauch wird das Internet häufig durch die Datenautobahn bzw.
autoroute de l'information metaphorisiert. Doch während die Datenautobahn
Assoziationen wie ‘Geschwindigkeit’, ‘gute Infrastruktur’ oder ‘Spitzentechnologie’
hervorruft, evoziert die autoroute de l'information eher die Sorge vor sozialer
Benachteiligung durch hohe Kosten. Folglich wird die Metapher in den beiden
Sprachen unterschiedlich verwendet: Im Deutschen taucht sie zumeist in Kontexten
94
auf, die die Geschwindigkeit und technische Entwicklung des Internet thematisieren;
im Französischen wird sie dagegen häufiger in politischen und sozialen
Zusammenhängen gebraucht. Auffallend ist darüber hinaus, daß die Datenautobahn
sehr häufig in einem Umfeld weiterer Lexeme aus dem Automobilbereich steht,
während es hierfür bei der autoroute de l'information nur wenige Belege gibt. Die in
Kapitel 5 aufgestellten Thesen lassen sich also auch bei dieser Metapher weitgehend
bestätigen: Die Datenautobahn ist anders konnotiert und wird folglich in anderen
Zusammenhängen verwendet als ihr französisches Äquivalent. Dagegen läßt sich nur
für das Französische bestätigen, daß sie vorwiegend in politischen Kontexten
auftaucht. Aufgrund ihrer Herkunft war eine solche Verwendung auch für das
Deutsche zu erwarten, doch ließ sich diese Vermutung durch die Korpusanalyse nicht
belegen.
Als letzte ‘Internet-Metapher’ soll nun schließlich das globale Dorf bzw. village
global näher betrachtet werden.
6.4
Das globale Dorf – ein Ort der Kommunikation und des
Gemeinschaftsgefühls?
Die für die Metapher des globalen Dorfes zu untersuchende These besagt, daß das
globale Dorf als „Sozietäts-Metapher“ hauptsächlich in jenen Kontexten auftaucht, in
denen die kommunikativen Aspekte des Internet hervorgehoben werden – und dies
entweder aus einer positiv-schwärmerischen oder aber einer negativen Perspektive.
Zwar sollen quantitative Auswertungen in dieser Analyse weiterhin der qualitativen
Untersuchung nachgeordnet sein, doch muß an dieser Stelle erwähnt werden, daß das
globale Dorf im Vergleich zu den beiden anderen betrachteten Metaphern sowohl im
französischen als auch im deutschen Textkorpus relativ selten anzutreffen ist, wie die
Anzahl der ausgewählten Beispiele zeigt. Somit scheint eine Vermutung bereits
bestätigt: Das globale Dorf hat sich als Metapher für das Internet nicht in derselben
Weise durchsetzen können wie der Cyberspace oder die Datenautobahn.
Tritt die Metapher nun wirklich vor allem dort auf, wo das Internet als ein
kommunikativer und gemeinschaftsfördernder – also dorfähnlicher – Ort wahrgenommen wird? Die folgenden Beispiele scheinen dies zu belegen:
95
(1) [Bericht über die Website des französischen Internet-Künstlers Nicolas Frespech] Nicolas a deux
maisons. Une dans le «village global», celle des Immondes Pourceaux, un site web «bancal,
cheap, limite kitsch et dérisoire»; l’autre, à Montélimar, où il est né. Une maison banale avec son
jardin où rouille une voiture, ses deux chiens et quelques canaris. [...] (Lib 02.10.98)
(2) [Bericht über das Internet als Hilfe zur Aufrechterhaltung der Kontakte zwischen Emigranten und
ihren Familienmitgliedern in der Heimat] Ma famille habite sur la Toile [Überschrift] D’aucun
parle de village global pour l’Internet. Si on trouve tout et n’importe quoi dans un joyeux
capharnaüm HTML sur la Toile, il y a une famille qui a trouvé ces marques: celles des expatriés.
[...] Ils sont des centaines comme lui à avoir élu domicile sur le Web et laissé ainsi une porte
toujours ouverte à des parents restés à l’autre bout du monde. [...] L’Internet est vraiment devenu
un réseau de solidarité pour ceux qui sont partis de chez eux. [...] (Lib 28.06.01)
(3) [Interview mit der Sängerin Courtney Love über die Verbreitung von Musik über das Internet]
[...] Künstler können ihre CDs direkt an die Fans verkaufen, mit Tausenden von Websites
zusammenarbeiten und ihre Musik Millionen Menschen vorstellen, die die alten Plattenfirmen nie
erreichen. Ich suche Menschen, die mir helfen, mehr Fans zu erreichen, weil ich glaube, dass die
Fans ein Trinkgeld für das Vergnügen bezahlen werden, das ich ihnen bereite. Es wird ein
globales Dorf entstehen, wo eine Milliarde Menschen einen Künstler erreichen und ihm ein
Trinkgeld hinterlassen können. Wir erleben eine radikale Demokratisierung. Jeder Künstler kann
jeden Fan erreichen und jeder Fan jeden Künstler [...] (W 21.06.00)
(4) [künftige gesellschaftliche Folgen des Internet und der New Economy] [...] les nouvelles
technologies sont un piège pour les riches. Elles sont révolutionnaires. Parce qu’elles créent une
transparence et une proximité, qui rendra [...] les inégalités plus insupportables, parce que plus
fortes et plus visibles. Dans le village global, on ne peut pas édifier de murs pour cacher
définitivement la pauvreté. Les riches essaieront de tenir les pauvres à distance par la distraction.
Mais les pauvres s’uniront, avec ou sans l’aide de riches, et ils viendront prendre leur part du
formidable festin qui s’annonce. La distraction n’a jamais empêché la révolution. (Lib 05.05.00)
In allen Beispielen ist das Internet als globales Dorf positiv besetzt: Man hat dort eine
Art zweites Zuhause, kann über alle Grenzen hinweg die Verbindung zu seinen
Angehörigen halten (ihnen „eine Tür offen lassen“) oder mit seiner Musik „eine
Milliarde Menschen“ erreichen. Der Mensch als kommunizierendes und soziales
Wesen steht hier eindeutig im Vordergrund: Wie in einem Dorf kann jeder mit jedem
leicht Kontakt aufnehmen und diesen auch aufrechterhalten. Darüber hinaus wird
durch das globale Dorf eine „radikale Demokratisierung“ möglich – in Beispiel (4)
wird gar prophezeit, daß sich durch die dörfliche „transparence“ und „proximité“ die
Armen in geradezu revolutionärer Weise zusammenschließen und ihren Teil vom
„formidable festin“ der Reichen einfordern werden. Schließlich könne man im
globalen Dorf ja keine Mauern zur Abschottung gegen die Armen errichten; alles sei
hier sichtbar und transparent – eben wie in einem Dorf. Wie die avisierte Revolution
aussehen wird, läßt der Autor dieser etwas nebulösen Zeilen zwar völlig offen, doch
96
sieht auch er im Internet offensichtlich in erster Linie den menschenverbindenden
Aspekt.
Neben diesen doch sehr glorifizierenden Schilderungen des Internet als eines großen
Dorfes, in dem ‘jeder für jeden da ist’, werden mit dem globalen Dorf jedoch auch
negative Assoziationen verknüpft:
(5) [Bill Clintons ‘Praktikantinnen-Affäre’ 1998: weltweite Verbreitung des ‘Starr-Reports’ via
Internet] Irréductible village global [Überschrift] [...] Que dans la notion de village global, si
chère à McLuhan, il fallait non pas s’attarder sur l’adjectif «global», qui finalement ne dit pas
grand-chose, si ce n’est qu’on est tous ensemble dans la même galère, mais surtout privilégier la
notion de «village», son atmosphère tellement mortifère, ses rues aussi étroites que l’esprit de
ses habitants, ses habitudes qu’aurait si bien dépeintes un Clouzot. C’était – imparfait, mais aussi
présent, mais aussi futur – le règne des rideaux qui se soulèvent, [...] des rumeurs sans autre
fondement que la volonté de nuire. [...] (Lib 18.09.98)
Zwar wird mit dem Titel „Irréductible village global“ auf die in Frankreich sehr
populären
Asterix-Comics
referiert
und
somit
eigentlich
eine
positive
Erwartungshaltung beim Leser erzeugt.196 Im weiteren Verlauf des Artikels werden
jedoch eindeutig die negativen Aspekte eines Dorfes auf das Internet übertragen: Die
„rues“ sind ebenso „étroites“ wie der Geist der Dorfbewohner, die Atmosphäre
ebenso „mortifère“. Hier stehen nicht die positiven menschenverbindenden und
kontaktfördernden Eigenschaften im Vordergrund, sondern gerade die negativen
Charakteristika einer solchen Dorfgemeinschaft. Hinter ihren „Vorhängen“
beobachten die Bewohner das Geschehen und sind von dem einzigen Wunsch
beseelt, ihre Nachbarn durch die Verbreitung von Gerüchten zu schädigen. Und
tatsächlich verfolgte der Chef-Ermittler Kenneth Starr in der Clinton-Affäre 1998
genau dieses Ziel: Durch die massenhafte Verbreitung seines Berichtes über das
Internet sollte der Ruf von Bill Clinton auf der ganzen Welt – in der großen globalen
Dorfgemeinschaft – so geschädigt werden, daß er schließlich als Präsident der USA
untragbar würde und seines Amtes enthoben werden könnte (was allerdings letztlich
nicht gelang). Und tatsächlich wurde der Starr-Report auf der ganzen Welt gelesen
und in unzähligen Chatrooms diskutiert – die ‘Gerüchteküche brodelte’ wie in einem
Dorf.
Die folgenden Beispiele stellen das globale Dorf ebenfalls negativ dar:
196
Bei dem „irréductible village“ handelt es sich um das Dorf der beiden Helden Asterix und Obelix.
Als einziges Dorf in ganz Gallien widersetzt es sich immer wieder erfolgreich der Eroberung durch
die römischen Besatzer.
97
(6) [Bericht über das ‘Festival der Kulturen’, eine Veranstaltungsreihe mit dem Titel ‘Future
Communities’] Die maschinelle Dorfgemeinschaft [Überschrift] Die Zeiten, da die digitalen
Kommunikationsmittel als allein selig machendes Wundermittel im Globalisierungsprozess
galten, sind wohl vorüber. Selbst bei ausgesprochenen Aposteln der neuen
Informationstechnologien hat die naive Global-Village-Gläubigkeit einem kritischen
medienphilosophischen Diskurs Platz gemacht. An der grundlegenden Veränderung der
Gesellschaften und der Weltwirtschaft durch die Kommunikationsnetze aber zweifelt niemand
mehr. [...] (SZ 10.11.00)
(7) [Reflexion über die Art der durch das Internet entstehenden Beziehungen und Gemeinschaften]
[...] Sur l’Internet, les relations se font et se défont à la vitesse de l’éclair. Dès lors, on doit se
poser une question: existe-t-il des communautés sans mémoire (je ne dis pas sans histoire)? Je
n’ai aucune réponse définitive à cette question, mais il me paraît clair que l’on doit interroger des
expressions comme celles de «village planétaire» ou de «village global», qui laissent croire que
l’Internet ne ferait que porter sur un plan nouveau, élargi, une réalité ancienne. Ce qui se passe
dans cet espace, est-ce bien la même chose que ce qui se passait et se passe toujours sur la place
du marché? Je ne le crois pas et je ne suis pas sûr que Marshall McLuhan aurait conservé
pareilles expressions pour désigner le monde des communications d’aujourd’hui et les
«communautés» qu’il crée, puis efface. (Lib 11.06.99)
(8) [weltweite Verbreitung des Internet: Kluft zwischen armen und reichen Ländern] Im globalen
Dorf stehen noch viele Häuser leer [Überschrift] [...] Ägypten und Südafrika: zwischen beiden
Ländern liegt ein ganzer Erdteil, der im virtuellen Raum nicht existiert – ein Tal der
Ahnungslosen von kontinentalen Ausmaßen. [...] Das World-Wide-Web ist alles andere als
weltumspannend und grenzenlos. Auf der globalen Ebene ist es vielmehr eine äußerst exklusive
Angelegenheit der wohlhabenden Industrienationen. [...] Internet, E-Commerce, E-mail und
WAP haben die Welt nicht in ein globales Dorf verwandelt – zumindest stehen noch ganze
Häuserreihen leer. [...] (W 31.03.01)
(9) [Reflexion über Qualität und Wahrheitsgehalt der über das Internet erhältlichen Informationen]
[...] Informationen über Informatikkanäle zu erhalten, wie über Internet, birgt die Gefahr einer
tatsächlichen oder sogar beabsichtigten Desinformation. Die traditionelle Presse bot eine Art
Sicherheitsnetz, indem sie ihre Informationen überprüfte und Fehler normalerweise korrigierte.
Die Informatik-Freaks von heute hingegen bieten nicht mehr Sicherheit als die Radio-Amateure
von gestern. Wer glaubt, wir steuern direkt auf ein globales Dorf zu, wie es Marshall McLuhan
vor 30 Jahren prophezeit hatte, unterschätzt die Probleme, die unsere Informations-Infrastruktur
aufweist. Die Hauptstraße des globalen Dorfes, von dem McLuhan spricht, wird vielleicht eines
Tages erleuchtet sein, doch seine Gassen und Nebenstraßen werden wohl noch eine zeitlang im
Dunkeln liegen. (SZ 23.02.95)
Im Gegensatz zu Beispiel (5) setzen sich diese Texte kritisch mit der Übertragbarkeit
der Dorf-Metapher auf das Internet auseinander. Zwar ist auch hier von den Straßen
und Häusern eines Dorfes die Rede (Beispiele 8 und 9), doch wird eher über die
Adäquatheit der von McLuhan geprägten Metapher reflektiert. Alle Autoren sind der
Ansicht, daß das Internet nicht mit einem Dorf verglichen werden könne, weil sich
hier ganz andere Formen der Gemeinschaft und Kommunikation konstituierten: In
Text (6) wird diese Gemeinschaft als eine „maschinelle Dorfgemeinschaft“
diffamiert und die „naive Global-Village-Gläubigkeit“ kritisiert, in Beispiel (7) ist
diese Gemeinschaft eine flüchtige und vergängliche „communauté sans mémoire“
und der Vergleich mit einem traditionellen Dorf somit nicht passend. Beispiel (8)
98
setzt sich mit der Tatsache auseinander, daß die Entwicklungsländer weitestgehend
von den neuen Medien ausgeschlossen sind und die Welt auf diese Weise eben nicht
zu einem großen globalen Dorf zusammenwächst. Beispiel (9) beleuchtet schließlich
kritisch die Qualität der Informationen, die über das Internet verbreitet werden: Da
jede Information ungeprüft ins Netz gestellt werden könne und der Wahrheitsgehalt
somit fraglich sei, werde allenfalls eine „beleuchtete Hauptstraße“ (wahrer und
qualitativ guter Informationen) entstehen, während viele „Gassen und Nebenstraßen“
im „Dunkeln“ blieben.
Wie vermutet, wird die Metapher des globalen Dorfes in beiden Sprachen sowohl in
positiv-schwärmerischen Beschreibungen des Internet als eines dorfähnlichen
Gebildes verwendet als auch in jenen Kontexten, die die kommunikations- und
gemeinschaftsfördernde Wirkung des Mediums in Frage stellen. Die Konnotationen
und Assoziationen scheinen sich im Französischen und Deutschen nicht wesentlich
voneinander zu unterscheiden, da die Metapher in ähnlichen Zusammenhängen
eingesetzt wird. Die in Kapitel 5 aufgestellte These, daß das ‘globale Dorf’
langfristig kaum Chancen hat, sich im allgemeinen deutschen und französischen
Sprachgebrauch durchzusetzen, scheint durch die im Vergleich zu den anderen
betrachteten Metaphern relativ geringe Anzahl der Belege ebenfalls bestätigt zu sein.
Und auch die Tatsache, daß häufig über ihre Adäquatheit reflektiert wird, deutet
darauf hin, daß die positiven Aspekte ‘Kommunikation’ und ‘Gemeinschaftsgefühl’
hinter den bereits behandelten Charakteristika des Internet zurückzutreten.
6.5
Ergebnisse der Korpusanalyse
Durch die Korpusanalyse konnten die in Kapitel 5 aufgestellten Thesen weitgehend
bestätigt werden. In beiden betrachteten Sprachen wird das Internet häufig mit Hilfe
der drei untersuchten Metaphern Cyberspace / cyberespace, Datenautobahn /
autoroute de l’information und globales Dorf / village global beschrieben, doch
werden diese nicht synonym verwendet – was schon allein daran erkennbar ist, daß in
keinem der behandelten Texte gleichzeitig alle drei Metaphern auftauchen. Jede
dieser Metaphern evoziert spezifische Vorstellungen, die sowohl semantisch als auch
etymologisch begründet sind. Das durch die jeweilige Metapher hervorgerufene Bild
99
wird sehr häufig mit Hilfe weiterer sprachlicher Elemente (metaphorischer wie nichtmetaphorischer Art) aus demselben konzeptuellen Bereich verstärkt – auf diese
Weise entstehen Isotopieketten, die sich zu einem homogenen Gesamtbild fügen.
Durch die mit den Metaphern verknüpften Assoziationen und Konnotationen werden
jeweils unterschiedliche Aspekte des Internet hervorgehoben; folglich tauchen sie in
verschiedenen Kontexten auf – und erfüllen damit tatsächlich die von
Lakoff/Johnson postulierte Funktion des highlighting and hiding.
Und auch eine weitere These läßt sich anhand der Korpusanalyse belegen: Metaphern
spiegeln laut Lakoff/Johnson neben elementaren menschlichen Erfahrungen auch
soziokulturelle Phänomene wider – somit sind die Datenautobahn und die autoroute
de l'information aufgrund des unterschiedlichen gesellschaftlichen Stellenwertes der
‘echten’ Autobahnen verschieden konnotiert und führen in den beiden Sprachen zu
einem divergenten metaphorischen Gebrauch. Dagegen besteht eine weitgehende
Konvergenz hinsichtlich der Verwendung der Metaphern des Cyberspace und des
globalen
Dorfes;
hier
scheinen
die
Assoziationen
und
Konnotationen
übereinzustimmen.
Zwar wurden quantitative Aspekte im Rahmen dieser Korpusanalyse zugunsten einer
qualitativen Untersuchung zurückgestellt, doch sei an dieser Stelle auf eine von Bühl
aufgestellte These eingegangen:
„Die Metapher von der Datenautobahn, als eine der eher jüngeren Metaphern [...] hat [...]
ein weiteres wesentliches Ziel: die Verdrängung anderer Metaphern, welche als
Sozietätsmetaphern bezeichnet werden können, wie die Metapher vom globalen Dorf [...];
Metaphern, die im Unterschied zur Datenautobahn die soziale Seite des Prozesses in den
Vordergrund stellen. Verdrängt wurde aber auch die Metapher vom Cyberspace, die in
Anlehnung an die Science Fiction Literatur auch düstere Zukunftsvisionen zur Sprache
bringt.“197
Anhand der zahlenmäßigen Verteilung im Korpus198 läßt sich Bühls Vermutung nur
für die Sozietätsmetapher des globalen Dorfes bestätigen. Die sozialen Aspekte des
Internet scheinen in der Tat eine untergeordnete Rolle zu spielen, so daß das globale
Dorf in beiden Sprachen relativ selten verwendet wird. Bei der Cyberspace-Metapher
ergibt sich dagegen ein ganz anderes Bild: Sie kommt in beiden Sprachen häufiger
vor als die der Datenautobahn – gemäß den herausgearbeiteten Assoziationen und
197
198
Bühl (1996), S. 16.
30 x Cyberspace, 24 x Datenautobahn, 9 x globales Dorf.
100
Konnotationen scheint das Internet heute also vor allem als eine Art ‘Parallelwelt’
hinter dem Bildschirm wahrgenommen zu werden, und zwar sowohl eine Welt der
Chancen als auch der Risiken. Ob sich diese Sichtweise des Internet langfristig
durchsetzen wird, werden in den kommenden Jahren vor allem die Metaphern zeigen.
7.
Schlußbetrachtung und Ausblick
Neue Medien bringen neue Metaphern mit sich – diese These konnte in der
vorliegenden Arbeit am Beispiel des Internet belegt werden. Sowohl im
französischen als auch im deutschen Sprachgebrauch werden im Zusammenhang mit
dem Internet zahlreiche Metaphern verwendet. Dies liegt in den kognitiven
Funktionen von Metaphern begründet: Gemäß Lakoff/Johnson dienen sie der
Veranschaulichung
Zusammenhänge,
abstrakter
indem
sie
Sachverhalte
auf
und
vertrautere,
der
Erklärung
erfahrungsnähere
komplexer
Konzepte
zurückgreifen. Das läßt sich zum Beispiel an der hohen Anzahl metaphorischer
Termini in der Fachsprache des Internet erkennen – Begriffe aus allgemein bekannten
Bereichen wie dem Postwesen oder der Büroorganisation werden auf die komplexen
Vorgänge der Internet-Technologie übertragen und diese somit metaphorischsprachlich erschlossen.
Doch nicht nur die technischen Zusammenhänge werden durch Metaphern
veranschaulicht, auch die kulturellen und sozialen Aspekte des Internet schlagen sich
in metaphorischen Begrifflichkeiten nieder. Drei metaphorische Ausdrücke werden
dabei in beiden betrachteten Sprachen besonders häufig verwendet: der Cyberspace
bzw. cyberespace, die Datenautobahn bzw. autoroute de l’information sowie das
globale Dorf bzw. village global. Diese Internet-Metaphern weisen sehr
unterschiedliche Entstehungsgeschichten auf – so stammt der Cyberspace aus der
Science Fiction, die Datenautobahn aus der Politik und das globale Dorf aus der
Soziologie. Es war also zu vermuten, daß die drei Metaphern aufgrund ihrer Herkunft
und der mit ihnen verknüpften Assoziationen und Konnotationen in jeweils
spezifischen Kontexten auftreten und nicht etwa synonym für ‘das Internet’
verwendet
werden.
Darüber
hinaus
war
anzunehmen,
daß
die
deutsche
101
Datenautobahn anders konnotiert ist als die französische autoroute de l’information,
da die ‘echten’ Autobahnen in der jeweiligen Gesellschaft einen unterschiedlichen
Stellenwert besitzen. Für beide Thesen konnten bei der Analyse von französischen
und deutschen Zeitungsartikeln zahlreiche Belege nachgewiesen werden: Die
Cyberspace-Metapher wird sowohl im Französischen als auch im Deutschen vor
allem in jenen Kontexten verwendet, die das Internet als einen Raum hinter dem
Bildschirm wahrnehmen, in dem jeder Nutzer über ‘unbegrenzte Möglichkeiten’
verfügt, sich aber auch Gefahren ausgesetzt sieht. Häufig sind in diesen Texten
Parallelen zur Eroberung des nordamerikanischen Kontinents zu finden. Als globales
Dorf wird das Internet dagegen dann metaphorisiert, wenn die kommunikativen und
gemeinschaftsfördernden Aspekte des Internet hervorgehoben werden sollen – in
beiden Sprachen geschieht dies im Vergleich zur Cyberspace-Metapher relativ selten.
Für die Datenautobahn / autoroute de l’information konnte ein divergenter Gebrauch
bestätigt werden: Während sie im Deutschen vor allem mit Geschwindigkeit und
Technologie in Verbindung gebracht wird, taucht sie im Französischen hauptsächlich
in politischen und sozialen Kontexten auf. Darüber hinaus wird die Datenautobahn
weitaus häufiger sprachspielerisch eingesetzt als ihr französisches Äquivalent.
Anhand der Korpusanalyse konnten zwei weitere kognitive Funktionen der Metapher
belegt werden: Zum einen heben Metaphern immer nur bestimmte Aspekte eines
Sachverhaltes hervor; die anderen Aspekte werden dabei verdeckt – diese Funktion
wird
von
Lakoff/Johnson
als
highlighting
and
hiding,
von
Jäkel
als
Fokussierungseffekt bezeichnet. So erscheint es logisch, daß der Cyberspace in
anderen Zusammenhängen auftaucht als die Datenautobahn oder das globale Dorf,
weil hier stets auf unterschiedliche Aspekte des Internet fokussiert wird. Darüber
hinaus dienen Metaphern häufig als Nachweise für soziokulturelle Phänomene, was
am Beispiel des divergenten Gebrauchs der Datenautobahn bzw. autoroute de
l’information bewiesen werden konnte.
Für eine weiterführende Untersuchung erscheint ein Vergleich mit angloamerikanischen Texten lohnenswert, da der US-amerikanische information highway
aufgrund der gesellschaftlichen Verankerung des realen Highways unter Umständen
noch weitere Konnotationen aufweist. Darüber hinaus wäre es interessant, auch
frankokanadische Texte in die Untersuchung einzubeziehen, da die dortigen
102
Autobahnen möglicherweise mit anderen Assoziationen verknüpft werden als die
französischen und die Metapher der autoroute de l'information demzufolge anders
verwendet werden könnte als in Frankreich.
Im Rahmen dieser Arbeit wurden hauptsächlich Texte aus den vergangenen zwei
Jahren analysiert; die Untersuchung bezieht sich also im wesentlichen auf den
aktuellen Stand. Für eine anschließende Arbeit wäre es sicherlich lohnenswert, auch
Texte aus früheren Jahren einer eingehenden Betrachtung zu unterziehen. Es könnten
dabei unter Umständen Entwicklungen in der Metaphernverwendung festgestellt
werden. So könnte zum Beispiel der Frage nachgegangen werden, ob das globale
Dorf zu Beginn der 90er Jahre häufiger für das Internet verwendet wurde als heute –
was durchaus denkbar ist, wenn man sich die anfänglich großen Erwartungen an die
weltweite Kommunikations- und Gemeinschaftsförderung des neuen Mediums vor
Augen führt. Es wäre auch interessant zu fragen, ob die Datenautobahn kurz nach
ihrem Erscheinen im deutschen Sprachgebrauch 1994 häufiger in politischen
Kontexten verwendet wurde als heute, also seinerzeit aufgrund ihrer politischen
Herkunft ähnlich konnotiert war wie ihr französisches Äquivalent.
Neben den drei exemplarisch analysierten Metaphern existieren natürlich noch
weitere Internet-Metaphern, wie etwa der Datendschungel oder das Datenmeer. Auch
hier böte sich eine vergleichende Analyse an, zumal gerade die Wasser- und
Seefahrtsmetaphorik für das Internet bedeutsam zu sein scheint – man denke an
bekannte metaphorische Ausdrücke wie surfen, navigieren, Piraterie oder Datenfluß.
103
Auch die weitere Metaphern-Entwicklung dürfte interessant sein: Wird sich im Zuge
der fortschreitenden Verbreitung und Entwicklung des Internet eine einzige Metapher
zu Lasten der beiden anderen im allgemeinen Sprachgebrauch durchsetzen? Werden
neue Metaphern auftauchen und die anderen verdrängen? Wird das Internet eines
Tages von einem anderen Medium abgelöst werden und mit ihm auch seine
Metaphern?
Alles scheint möglich, doch die Antworten auf diese Fragen liegen noch in den
Weiten des Cyberspace verborgen.
104
8.
Literaturverzeichnis
8.1
Korpus
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8.2
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110
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Die Angabe des Abrufdatums ist insofern von Bedeutung, als daß Webseiten zuweilen verändert oder
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Paris 1993.
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9.
Anhang
Abbildung 1:
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