Religion und Migration

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Religion und Migration
Amt für multikulturelle Angelegenheiten der Stadt Frankfurt am Main – Helga Nagel
Hessische Landeszentrale für politische Bildung – Mechtild M. Jansen (Hrsg.)
Religion und Migration
Signale der Veränderung:
Rückblick — Ausblick — Perspektiven
Erweiterte Dokumentation der Tagung
Religion und Migration
Signale der Veränderung: Rückblick – Ausblick – Perspektiven
am 30. Oktober 2010
in Frankfurt am Main
Herausgegeben von:
Mechtild M. Jansen
Hessische Landeszentrale für politische Bildung
Helga Nagel
Leiterin des Amtes für multikulturelle Angelegenheit
Redaktion und Lektorat:
Dr. Susanna Keval
Satz und Gestaltung:
Tilmann Gempp-Friedrich
www.text-und-strich.de
Titelbild:
www.rixgrafix.de
Druck:
Dinges & Frick , Wiesbaden
1. Auflage
Wiesbaden 2011
ISBN: 978-3-927127-95-1
Schriftliche Bestellungen über:
HLZ – Hessische Landeszentrale für politische Bildung:
Taunusstr. 4–6, 65183 Wiesbaden
Telefon: 0611 32-4053
Telefax: 0611 32-4055
E-Mail: hlz@hlz.hessen.de
Mechtild M. Jansen, Helga Nagel
Vorwort
5
Prof. Dr. Dr. Peter Antes
Hat Europa Angst vor der Religion?
Religiöser Pluralismus und Säkularisierung
9
Prof. Dr. Mathias Rohe
Religion und Zuwanderung: Rechtliche und gesellschaftliche
Perspektiven am Beispiel des Islam in Deutschland
17
Dr. Brigitta Sassin
Interreligiöse Vernetzung als Voraussetzung für die Frankfurter
Imamefortbildung. Bemerkungen zur katholischen Mitarbeit
29
Vera Klinger, Magdalena Modler
„Imame für Frankfurt – Würden- und Verantwortungsträger“
Die Frankfurter Imamefortbildung – ein übertragbares Modell für andere Seelsorgerinnen und Seelsorger?
32
Podiumsgespräch 1
Veränderungen auf der Gemeindeebene
39
Khushwant Singh
Von Entfremdung und Orientierung. Religiöse Unterweisung in der
zweiten Generation der Sikhs in Deutschland
54
Podiumsgespräch 2
Veränderungen in der pädagogischen Arbeit
64
Magdalena Modler
Die Chance zwischen Tradition und Aufbruch.
Potenziale und Herausforderungen außerschulischer Jugendarbeit
in religiösen Gemeinden mit Migrationsgeschichte
80
Christina Bender und Vera Klinger
Die Frankfurter „Juleica interkulturell“
85
Saskia Schneider, Jörg Walther und Dietmar Will
Die ökumenische Jugendleiter-Card in Frankfurt am Main –
ein Zukunftsthema für die ganze Gesellschaft ...
Ein Gespräch mit den „Machern“ des Projektes
89
Autorinnen und Autoren
94
Mechtild M. Jansen, Helga Nagel
Mechtild M. Jansen, Helga Nagel
Vorwort
Religion und Migration, Signale
der Veränderung: Rückblick – Ausblick – Perspektiven.
Unter diesem Motto stand die
sechste Fachtagung zum Thema
Religion und Migration, die vom
Amt für multikulturelle Angelegenheit, der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung,
Römer9 Evangelische Stadtakademie Frankfurt am Main und der
Katholischen Erwachsenbildung
Bildungswerk Frankfurt am Main
durchgeführt wurde.
Wir freuen uns, Ihnen hier die erweiterte Dokumentation der Tagung vorlegen zu können.
Als wir mit dem Tagungszyklus
2002 begannen, ahnten wir nicht,
dass die Aktualität des Themas
uns so lange begleiten würde,
denn wenn man Feuilletons, Nachrichten und Polittalk im Fernsehen
betrachtet und die allgemeine
gesellschaftliche Debatte, auch
nur am Rande verfolgt, wird Eines
deutlich: Die Themen Migration
und Integration, Religion und reli-
giöse Institutionen scheinen nicht
an Popularität zu verlieren. Im Gegenteil: Immer wieder sind sie Anlass für hitzige, mehr oder weniger
sachlich geführte Debatten und
Emotionalität scheint diesen Themen auf besondere Weise innezuwohnen. Sei es die Volksabstimmung zu den Minaretten in der
Schweiz, der Missbrauchsskandal
in der Katholischen Kirche, die
überwiegend affektbetonte, auf
allen Ebenen geführte Diskussion über Thilo Sarrazins Buch
„Deutschland schafft sich ab“, die
Debatte über Deutschenfeindlichkeit auf den Schulhöfen der
Republik oder die kurz vor der Tagung im Oktober 2010 erfolgten
Statements von Bundeskanzlerin
Merkel und Ministerpräsident Seehofer: „Multikulti ist absolut gescheitert.“ (suedeutsche.de/politik
16.10.2010) oder die Rede des
Bundespräsidenten Wulff zum Tag
der deutschen Einheit am 3. Oktober 2010: „Aber der Islam gehört
inzwischen auch zu Deutschland.“
Als wir vor einen Jahr begannen,
diese Tagung zu planen, waren die
5
Religion und Migration: Signale der Veränderung
Aktualität der Debatten noch nicht
abzusehen und trotz immer wiederkehrender Nachrichten über
Schulen in sozialen Brennpunkten
und die fallenden Zahlen deutscher Schülerinnen und Schüler in
Schulen dieser Stadtteile, waren
wir der Meinung, dass die Integrationsbemühungen und die Integrationspolitik vieler Kommunen
und Bundesländer im Vergleich
zu anderen europäischen Ländern
und vor allem an der Basis recht
gut und ohne viel Reibungsverluste funktionieren. Umso besser,
dass wir gerade in einer Zeit, in
der die Diskussion wieder einmal
so hohe Wellen schlägt, hier eine
Veröffentlichung vorlegen können.
Unsere Veranstaltung, wie schon
die fünf vorangehenden Veranstaltungen, die wir seit 2002 durchgeführt haben, unterscheidet sich in
einigen Punkten von den allgemeinen Diskussionen: Es ist ein
anderer Grundtenor, der unsere
Veranstaltungen prägt. Er ist sachlich und informierend, was nicht
bedeuten muss, dass es kühl und
emotionslos zugeht. Gerade eine
starke Ausrichtung auf einzelne
Fallbeispiele und konkrete Projekte weiß dies zu verhindern.
6
Zwei Dinge sind uns wichtig: Zum
einen geht es uns darum die beiden Begriffe „Religion und Migration“ sowie die beiden Diskussionen
zusammenzudenken, Wechselwirkungen und Bedingungen der
beiden Themen zueinander stärker aufzudecken, zu betonen und
zu untersuchen. Wie beeinflusst
Religion die Migration? Hilft sie bei
einer Neuorientierung oder ist sie
eher behindernd oder kommt es
zu Adaptierungen? Auch gilt es zu
fragen, wie sich die Religion und
der Glauben in ihrer Ausübung
verändern, sich verändern in einer
globalisierten, vernetzten Welt, als
deren deutliches Kennzeichen die
Migration zu sehen und aufzufassen ist. Weltumspannende, schnelle Kommunikation wird immer einfacher, was zu einer Annäherung
und größeren Abstimmung in den
auch früher schon Kontinente umspannenden Institutionen der einzelnen Glaubensrichtungen führt
oder führen kann. Gleichzeitig ist
dieser Prozess der Verbreitung natürlich nicht abgeschlossen und ist
nach wie vor diversen Veränderungen unterworfen. Dies bedeutet,
dass sich Gläubige, Gemeinden
und Institutionen immer auch neuen spezifischen, individuellen Anforderungen in den jeweiligen Gesellschaften stellen müssen. Eine
Isolation scheint immer weniger
möglich und sicherlich nicht wün-
Mechtild M. Jansen, Helga Nagel
schenswert. Wir sind überzeugt,
dass sich so zu einer Versachlichung der Debatte beitragen lässt.
Zweitens wollen wir betonen, dass
sich unsere Fachtagungen zu Religion und Migration natürlich
auch mit dem Verhältnis Islam und
Christentum beschäftigen, sich
aber ganz bestimmt nicht darauf
beschränken. Die Fortbildungsreihe „Imame für Frankfurt“ kann
mittlerweile in einem größeren
gesellschaftlichen Kontext eingeordnet werden, seit die Bundesregierung beschlossen hat, Zentren
für Islam-Studien an den Universitäten Tübingen und Münster/Osnabrück sowie seit neuestem auch
in Frankfurt am Main finanziell zu
fördern und zu unterstützen.
Weiterhin war uns bei dieser Tagung auch das Gespräch untereinander wichtig. Das Podium
„Veränderungen auf der Gemeindeebene“ setzt sich mit den
Problemen der muttersprachlich-christlichen Gemeinden im
Spannungsfeld zwischen kirchlichem Meltingpot oder „Heimatgefühl“ auch noch für die zum Teil
schon vierte Generation auseinander. Dieses Podium machte deutlich, wie viele Facetten das Thema
Religion und Migration enthält
und weit über den allzu oft zitierten Islam hinausweist.
Welchen Stellenwert die Jugendarbeit in und mit den Migrantengemeinden als auch für die kommunale Jugendarbeit hat, spiegelte
sich im zweiten Podium „Veränderungen in der pädagogischen
Arbeit“ wider. Es ging um die Auseinandersetzung, Einbindung und
Akzeptanz der religiös orientierten migrantischen Jugendlichen.
Hier wurde die Jugendarbeit der
Sikh ebenso wie die jüdische, die
christliche und die muslimische
Jugendarbeit näher beleuchtet.
So wurde z.B. deutlich, dass auch
die kommunale Jugendarbeit erkannt hat, dass sowohl interreligiöse wie auch interkulturelle Aspekte ein integraler Bestandteil jeder
Fortbildung für Jugendleiter und
Leiterinnen sein muss.
Signale der Veränderung haben
sich auf dieser Tagung in vielfältiger Weise gezeigt. Trotz der heftig und kontrovers geführten Debatten: die Vielfalt der Religionen
ist in unsrer Stadt nicht nur schon
lange angekommen, sondern wird
auch immer sichtbarer - nicht nur
der Islam gehört inzwischen zu
Deutschland.
Unsere Gesellschaft ist in mehrerer Hinsicht differenzierter und
vielfältiger geworden und wir
müssen lernen, mit dieser Vielfalt
zu leben. Es ist ein Lernprozess auf
7
Religion und Migration: Signale der Veränderung
allen Seiten. Die Ambivalenz der
Moderne und des Menschlichen
ist nicht zurück zu drehen. Brücken
sind gebaut worden und wir hoffen, dass die Fundamente stabil
sind und viele Bewegungen über
die Brücken statt finden.
In Frankfurt sind annähernd 190
Gemeinden und Zentren der unterschiedlichsten Glaubens- und
Religionsgemeinschaften vertreten. In Frankfurt haben fast 40%
der Einwohner einen Migrationshintergrund, daher ist hier auch
der ideale Ort für Begegnung mit
der Vielfalt!
Mechtild M. Jansen
Hessische Landeszentrale
für politische Bildung,
Wiesbaden
8
Die Tagung wurde konzipiert und
durchgeführt von: Mechtild M. Jansen, Dr. Susanna Keval, Vera Klinger, Ute
Knie und Dr. Kornelia Siedlaczek.
Hinweisen möchten wir an dieser
Stelle auch noch auf die vorhergegangenen Veröffentlichungen:
„Religion und Migration“ (2007)
sowie „Religion, Migration und
Gesellschaft“ (2010), beide herausgegeben von Mechtild M.
Jansen und Helga Nagel und
beide im VAS-Verlag Frankfurt erschienen.
Wir wünschen Ihnen eine spannende und erkenntnisreiche Lektüre.
Helga Nagel
Leiterin des Amtes für multikulturelle Angelegenheiten,
Frankfurt am Main
Prof. Dr. Dr. Peter Antes
Prof. Dr. Dr. Peter Antes
Hat Europa Angst vor der Religion?
Religiöser Pluralismus und Säkularisierung
Im Jahre 1950 war – statistisch gesehen – die Religionszugehörigkeit
in der Bundesrepublik Deutschland so, dass 50,6 % der Bevölkerung evangelisch, 45,8 % römischkatholisch und 3,6 % Sonstige waren. Im Jahre 2008 waren 29,9 %
evangelisch (Freikirchen nicht mitgerechnet), 30,0 % römisch-katholisch und 34,1 % konfessionsfrei.
Die restlichen 6 % verteilen sich
auf die Muslime und die Sonstigen, wobei der tatsächliche Anteil der Muslime umstritten ist.1
Fowid tendiert dazu, den Prozentanteil eher niedriger anzusetzen,
während die Veröffentlichung der
Deutschen Islam Konferenz2 die
Zahl nach oben korrigiert. Wie immer dies auch sei, der prozentuale
Anteil liegt zwischen 2 % und 4 %,
auf jeden Fall unter 5 %. Damit ist
die gesellschaftliche Veränderung
in Deutschland innerhalb der letzten sechzig Jahre klar: Es gab eine
gewisse Zunahme hinsichtlich des
religiösen Pluralismus, vornehmlich durch Einwanderung von Muslimen und es gab eine drastische
Zunahme bei den konfessionsfrei-
en Deutschen, d.h. ein beträchtliches Voranschreiten der Säkularisierung in unserem Lande. Ähnlich
verlief die Entwicklung in anderen
westeuropäischen Ländern. Im
Vergleich dazu sieht die öffentliche
Debatte ganz anders aus. Was die
meisten Deutschen fürchten, hat
Thilo Sarrazin im August 2010 so
formuliert: „Ich möchte nicht, dass
das Land meiner Enkel und Urenkel zu großen Teilen muslimisch
ist, dass dort über weite Strecken
Türkisch und Arabisch gesprochen
wird, die Frauen ein Kopftuch tragen und der Tagesrhythmus vom
Ruf der Muezzine bestimmt wird.“3
Die Angst vor einer Islamisierung Europas ist in vielen westeuropäischen Ländern verbreitet. Sie
ist verbunden mit der Sorge, Muslime seien nicht integrationsfähig
bzw. nicht integrationswillig, ja sie
wollten in Westeuropa die Scharia,
das Gesetz Allahs einführen. José
Casanova hat dieser Angst ein
kleines Buch gewidmet. Er zeigt
darin, dass der heutige Diskurs in
der europäischen Debatte über
Vgl. dazu http://www.fowid.de
Vgl. dazu Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Hrsg.): Muslimisches Leben in
Deutschland im Auftrag der Deutschen Islam Konferenz. Nürnberg: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2009 S. 59ff (Forschungsbericht 6)
3
Zitiert aus ZEIT-Magazin Nr. 38 vom 16.9.2010 S. 19
1
2
9
Religion und Migration: Signale der Veränderung
den Islam erstaunliche Parallelen
zum protestantischen Diskurs über
den Katholizismus vor einhundert
Jahren aufweist. Und er zeigt, dass
die Angst vor der Religion von einem bestimmten, für Europäer typischen Verständnis von Religion
und Säkularisierung herrührt, das
sich durch die real existierenden
Fakten in unserer Gesellschaft in
Frage gestellt sieht. Beide Argumentationsstränge werden im Folgenden nachgezeichnet und am
Schluss in einer Synthese als Fazit
zusammengefasst.
Religion, Politik und Geschlecht
im Katholizismus und im Islam4
Eine erste bedeutsame Parallele
zwischen dem antikatholischen Diskurs in protestantischen Ländern
im 19. Jahrhundert und dem antiislamischen Diskurs in Europa am
Ende des 20. Jahrhunderts sieht
Casanova in dem Vorwurf an beide
Religionen, ein „Haupthindernis
für Reformen“5 zu sein. In den USA
führte die Ablehnung des Katholizismus unter progressiven Protestanten zu einem massiven Kulturkampf, der es bis zur Wahl von
John F. Kennedy zum Präsidenten
der USA im Jahre 1960 für undenkbar erscheinen ließ, dass ein
Katholik das höchste Staatsamt in
den Vereinigten Staaten von Amerika übernehmen könne. Ähnliche
Kulturkämpfe – wenn auch weniger virulent – gab es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in
den protestantischen Ländern Europas, in England, den Niederlanden und Deutschland. „Alle zeigten die gleiche Kombination von
protestantisch-konfessionellen,
modern-liberalen und nationalistischen Vorurteilen gegenüber dem
Katholizismus als eine rückschrittliche, fundamentalistische, fremde
und ultramontanistische Religion.
Ähnliche anti-katholische Karikaturen erschienen regelmäßig in den
populären Zeitungen in allen vier
Ländern, die oft katholische religiöse Praktiken neben magischen
und abergläubischen Praktiken
»orientalischer« oder »primitiver«
Völker abbildeten. Der Katholizismus wurde offensichtlich als der
innere Orient, als ein primitives
und atavistisches Überbleibsel
innerhalb der westlichen Zivilisation angesehen.“6 Einen kleinen
Nachgeschmack von dieser Art
Kulturkampf konnte man in der
englischen Presse im Zusammenhang mit dem Besuch von Papst
Benedikt XVI. im Vereinigten Königreich im September 2010 finden, obwohl die in diesen Vorurteilen bedienten Klischees durch
Vgl. dazu José Casanova: Europas Angst vor der Religion. Berlin: Berlin University Press
2009 S. 31–81; eine ähnliche Studie hat Samuel-Martin Behloul an der Universität Luzern
2009 in seiner Habilitationsschrift vorgelegt, in der er u. a. den heutigen Islam-Diskurs in
der Schweiz mit den Katholizismus-Diskursen des 19. Jahrhunderts in den USA und im
deutschen Kaiserreich vergleicht.
5
Casanova, a.a.O. S. 42
6
Casanova, a.a.O. S. 43f
4
10
Prof. Dr. Dr. Peter Antes
die politischen Entwicklungen der
letzten Jahrzehnte gegenstandslos geworden sind. Zu Recht weist
Casanova darauf hin, dass der Kalte Krieg und das Militärbündnis
der NATO zu einer Aussöhnung
zwischen Washington und Rom
geführt haben, dass der Prozess
der europäischen Einigung die
Kluft zwischen katholischen und
protestantischen Ländern überbrücken half und dass schließlich
auch innerhalb der katholischen
Kirche bedeutsame Veränderungen (Aggiornamenti) im Zuge der
Erneuerung durch das Zweite Vatikanische Konzil stattgefunden haben, die durch neuere Tendenzen
restaurativer Politik im Umkreis des
Papstes7 sicher nicht mehr ganz
zurückgenommen werden können. Solche Aggiornamenti sind
nach Casanova auch im Islam der
Gegenwart, vor allem unter den
Muslimen in der europäischen
Diaspora, aber nicht nur dort zu
verzeichnen. Casanova sieht sie
vor allem in den internen und externen Debatten über die Vereinbarkeit von Islam und Demokratie:
„1) In den Debatten über »Islamismus«, die transnationale Struktur der islamischen Welt und den
vermeintlichen Kampf der Kulturen zwischen dem Islam und dem
Westen auf geopolitischer Ebene, mit offensichtlichen Parallelen
zu früheren Debatten über den
Kampf zwischen »Republikanismus« und »Romanismus«;
2) in den Debatten über den politischen Islam und die demokratische Legitimität muslimischer Parteien in der Türkei und anderswo,
die – wie ihre anfangs ähnlich verdächtigen katholischen Gegenstücke – neue Formen muslimischer
Demokratie, ähnlich der Christdemokratie, etablieren könnten, und
3) in den Debatten über die
angemessene Artikulation einer
muslimischen ummah in Einwanderungszusammenhängen außerhalb des Dar el Islam.“8
Die zweite Parallele zwischen
den Debatten über den Katholizismus in den protestantischen Ländern im 19. Jahrhundert und über
den Islam in Europa heute, die
hier erwähnt werden soll, betrifft
das Bild der Frau. Festzuhalten ist
dabei, dass Christentum und Islam
Männern wie Frauen den Zugang
zum Heil (Himmel, Paradies) ohne
Unterscheidung zwischen den
Geschlechtern anbieten, dass es
somit in den Augen Gottes eigentlich keine Geschlechterunterschiede gibt. Doch diese theologische
Grundwahrheit entspricht nicht
der Rangordnung innerhalb der
menschlichen Gesellschaft. Hier
ist die patriarchalische Hierarchie
bestimmend und über Jahrhunderte verinnerlicht worden. Im Katholizismus wird dies vor allem bei
Vgl. dazu z.B. Hanspeter Oschwald: Im Namen des heiligen Vaters. Wie fundamentalistische Kräfte den Vatikan steuern. München: Heyne 2010
8
Casanova, a.a.O. S. 48
7
11
Religion und Migration: Signale der Veränderung
der kirchlichen Hierarchie deutlich. Das Priesteramt ist den Männern vorbehalten. Durch die Unterscheidung zwischen Priestern
und Laien wird dieser Unterschied
zur unüberbrückbaren Kluft, an
der auch die Vielzahl von männlichen und weiblichen Orden und
die große Zahl männlicher wie
weiblicher Heiliger nichts ändert.
Tatsächlich war der männliche
Charakter des Priestertums in der
Geschichte der Kirche eine für so
selbstverständlich gehaltene kulturelle Prämisse, dass es unnötig
schien, eine ernsthafte theologische Rechtfertigung dafür anzubieten. Erst als die moderne demokratische Revolution jede Art
der Geschlechterdiskriminierung
in Frage stellte, war eine theologische Rechtfertigung vonnöten,
und es wurde klar, dass die Grundlage für eine diskursive theologische Argumentation in der katholischen Kirche sehr dünn ist.9 Was
für den Zugang zum Priesteramt
für die katholische Kirche festgestellt wurde, gilt in ähnlicher Weise
auch für die Ämter innerhalb des
Islam, obwohl die fehlende sakramentale Struktur sowie die eigentlich eher egalitär organisierte
islamische Gemeinde den Konflikt
weniger zutage treten lässt als in
der katholischen Kirche. Dennoch
wird heute auch im Islam über
den Zugang von Frauen zu Ämtern wie dem des Mufti oder des
Vorbeters in der Moschee beim
Freitaggebet diskutiert, möglicherweise sogar noch schärfer
innerhalb des schiitischen Islam,
wo es ein stärker hierarchisch ausgeprägtes Amtsverständnis bezüglich der Führungsriege der
Mullahs und Ayatollahs als bei den
Sunniten gibt. Dank feministischer
Forschung besteht heute weitestgehend Konsens darüber, dass Jesus ebenso wie die prophetische
Offenbarung und die Sunna des
Propheten Mohammed eine Verbesserung der Lage der Frauen
begründeten, obwohl diese schon
recht schnell wieder durch stark
frauenfeindliche Züge in der jeweiligen Tradition überlagert wurde. Daher gilt für die islamische
Tradition insgesamt, wie Angelika Neuwirth in einem Interview
feststellt: „Im Zeitvergleich war sie
über weite Strecken nicht puritanischer oder frauenfeindlicher als die
westliche Kultur. Allerdings wurde
mit der Öffnung des öffentlichen
Raumes für die Frau, die in Europa im 17./18. Jahrhundert stattfand, im Nahen Osten bis ins
19. Jahrhundert gewartet. Auch
setzte sie sich nicht überall durch,
und vor allem kam es Mitte des
20. Jahrhunderts zu einer fundamentalistischen Gegenbewegung,
die einen gravierenden Rückschritt
gegenüber den Errungenschaften
des 19. Jahrhunderts markierte.“10
Heute erleben wir eine lebhafte
Casanova, a.a.O. S. 73
Angelika Neuwirth: Ein europäischer Islam ist möglich. Interview in Hannoversche
Allgemeine Zeitung Nr. 236 vom 9. Oktober 2010, S. 9
9
10
12
Prof. Dr. Dr. Peter Antes
Diskussion unter Musliminnen sowie zwischen muslimischen und
nichtmuslimischen Frauen in Europa, in der es um ein neues Verständnis der Rolle der Frau in der
Gesellschaft geht, wobei sich traditionelle religiöse Vorstellungen
und moderne Interpretationen gegenüberstehen.
Die Parallele von Katholizismus
und Islam in Auseinandersetzung
mit der Moderne kann sogar noch
um eine weitere Facette angereichert werden, wenn wir die Entstehung des modernen Judentums in
Europa hinzunehmen. Dann ergibt
sich ungefähr dieses Bild: alle hundert Jahre geht es um die Modernisierung einer anderen Religion
in Europa: Im 18./19. Jahrhundert
geht es um die Modernisierung
des Judentums, woraus das moderne, liberale europäische Judentum hervorgeht11; im 19./20.
Jahrhundert geht es um die Modernisierung des Katholizismus,
woraus das Aggiornamento des
Zweiten Vatikanischen Konzils und
der heutige Katholizismus in Europa hervorgehen; und im 20./21.
Jahrhundert geht es um die Modernisierung des Islam, aus der
möglicherweise ein europäischer
Islam hervorgehen wird.
Westliche christliche Säkularisierung und Globalisierung12
In der gängigen fachwissenschaftlichen Literatur wird Säkularisierung als eine einheitliche Theorie
verstanden, die nach Meinung
von Casanova „analytisch in drei
verschiedene und nicht notwendigerweise in Wechselbeziehung
stehende Komponenten zu unterteilen [ist], nämlich a) die Theorie
der institutionellen Differenzierung der sogenannten säkularen
Sphären wie Staat, Wirtschaft und
Wissenschaft von religiösen Institutionen und Normen, b) die
Theorie eines fortschreitenden
Niedergangs religiöser Überzeugungen und Praktiken in Übereinstimmung mit dem Grad der Modernisierung, und c) die Theorie
der Privatisierung der Religion als
einer Voraussetzung für moderne,
säkulare und demokratische Politik.“13 Herzstück der These ist dabei „das Verständnis von Säkularisierung als einem einzigen Prozess
der funktionalen Differenzierung
der vielfältigen säkularen institutionellen Sphären“.14 Casanova
fragt dazu, ob es angemessen ist,
die mannigfachen und sehr unterschiedlichen historischen Modelle
von Differenzierung „unter einen
einzigen teleologischen Prozess
der modernen funktionalen Differenzierung zu subsumieren.“15 An-
Vgl. auch dazu das zitierte Interview mit Angelika Neuwirth
Vgl. dazu Casanova, a.a.O. S. 83–119
13
Casanova, a.a.O. S. 83
14
Casanova, a.a.O. S. 84
15
Casanova, a.a.O. S. 84
11
12
13
Religion und Migration: Signale der Veränderung
gesichts der säkularen Realität der
„real existierenden“ europäischen
Demokratien und mit Blick auf die
USA fällt seine Antwort negativ
aus.16 Er sieht weder diese Einheitlichkeit noch einen einzigen
teleologischen Prozess, von dem
das europäische Denken ausgeht.
Mehr noch, „Tatsache ist, dass sich
in den meisten kontinental-europäischen Gesellschaften zu dem
einen oder anderen Zeitpunkt konfessionelle Parteien herausbildeten, die eine entscheidende Rolle
für die Demokratisierung ihrer Gesellschaften spielten. Selbst diejenigen konfessionellen Parteien,
die sich ursprünglich als anti-liberale und zumindest weltanschaulich als anti-demokratische entwickelten – wie es der Fall bei den
meisten katholischen Parteien im
neunzehnten Jahrhundert war –,
spielten letzten Endes eine sehr
wichtige Rolle für die Demokratisierung ihrer Gesellschaften.“17
Mit Blick auf die Frage einer vermeintlichen Unvereinbarkeit von
Islam und Demokratie und der angeblich anti-demokratischen Natur muslimischer Parteien zitiert
Casanova folgende Schlussfolgerung aus einer Studie von Stathis
Kavyvas über die Christdemokraten:
„Christlich-demokratische und
sozialdemokratische Parteien [...]
waren ursprünglich gebildet worden, um die liberalen Demokratien
Casanova, a.a.O. S. 16ff
Casanova, a.a.O. S. 20
18
Casanova, a.a.O. S. 21f
16
17
14
zu untergraben; beide entwickelten sich zu Volksparteien und entschieden sich nach schmerzhaften
und entzweienden Debatten, am
Wahlprozess teilzunehmen. Ihre
Entscheidung hatte enorme Konsequenzen: beide Parteien integrierten Massen von neuen Wählern
[sic!] in die bestehenden liberalen
parlamentarischen Regierungsformen, und beide wurden durch den
Prozess entradikalisiert, ein Teil genau jener Institutionen zu werden,
die sie ursprünglich abgelehnt
hatten. [...] Die Demokratie in Europa wurde oft von ihren Feinden
ausgeweitet und konsolidiert. Diese Lektion sollte nicht vergessen
werden, vor allem nicht von jenen,
die die Herausforderungen studieren, vor denen der demokratische
Wandel und seine Konsolidierung
in der heutigen Welt stehen.“18
Der Vergleich ist mit Bedacht
gewählt und brisant seit dem
überwältigenden Wahlsieg von
Recep Tayyip Erdogans AKP im
November 2002. Wer europäische Moderne mit Säkularisierung
gleichzusetzen gewohnt ist, muss
mit Blick auf die heutige Türkei in
Verwirrung geraten. „Je »moderner«, oder zumindest demokratischer, die türkische Politik wird,
desto öffentlich muslimischer und
weniger säkular scheint sie zu werden. In ihrem Willen der EU beizutreten, verteidigt die Türkei eisern
Prof. Dr. Dr. Peter Antes
ihren Anspruch, ein ökonomisch
und politisch voll anerkanntes
Land zu sein, oder ihr Recht es zu
werden, während sie gleichzeitig
ihr eigenes Modell einer muslimischen kulturellen Moderne gestaltet. Es ist genau dieser Anspruch,
gleichzeitig ein modernes europäisches und ein kulturell muslimisches Land zu sein, der die europäischen bürgerlichen Identitäten
verblüfft, die säkularen genauso
wie christlichen. Dieser Anspruch
widerspricht sowohl der Definition
eines christlichen wie auch der Definition eines säkularen Europas.“19
Im Zuge der Globalisierung spielen die Weltreligionen als „global
players“ eine besondere Rolle. Sie
sind durch Migration und Mission
entterritorialisiert und zugleich im
steten Austausch mit den unterschiedlichen kulturellen Milieus,
in denen ihre Anhänger leben.
Vielfach findet ein kultureller Austausch statt und hat schon früher
zu regionalen Ausformungen der
jeweiligen Religion geführt, weshalb wir im Falle des Islam zu
Recht von einem türkischen, einem indischen, einem indonesischen oder einem subsaharischen
Islam sprechen. Es ist von daher
nur recht und billig, in Zukunft
auch von einem europäischen Islam diesbezüglich zu sprechen.
Zu diesen Formen von kulturellem
Austausch gehört auch die politische Ausrichtung einzelner Grup19
20
pen innerhalb eines jeden Typs
von Islam. Und so unterschiedlich
wie die Kulturen sind auch die Säkularisierungstypen, die jeweils
praktiziert werden. Konkret heißt
dies: „Eine muslimische Demokratie ist heute genauso gut möglich
und auch lebensfähig, wie es eine
christliche Demokratie vor einem
halben Jahrhundert in Westeuropa war. Säkulare Europäer, die
muslimischen politischen Parteien,
oder auch jeder anderen religiösen politischen Partei skeptisch
gegenüber stehen, scheinen vergessen zu haben, dass das anfängliche Projekt einer europäischen
Union eigentlich ein christlichdemokratisches war, das vom Vatikan gebilligt wurde, in einer Zeit
allgemeiner religiöser Wiederbelebung im Nachkriegseuropa, im
geopolitischen Kontext des Kalten
Krieges, als »die freie Welt« und
»christliche Zivilisation« Synonyme
geworden waren. Aber das ist eine
vergessene Geschichte, an die säkulare Europäer, die stolz darauf
sind, aus ihrer religiösen Vergangenheit herausgewachsen zu sein
und von der sie sich befreit fühlen,
sich lieber nicht erinnern.20
Fazit
Die hier vorgetragenen Überlegungen haben gezeigt, dass
durch den Islam in Europa der religiöse Pluralismus so sehr zugenommen hat, dass die gefühlte is-
Casanova, a.a.O. S. 60
Casanova, a.a.O. S. 57
15
Religion und Migration: Signale der Veränderung
lamische Präsenz weit höher ist als
die reale, ja dass sie als Gefühl zur
Bedrohung für die Säkularisierung
geworden ist. Besonders bedrohlich und störend ist dabei, dass die
Muslime, je moderner sie werden,
sie desto religiöser zu werden
scheinen, so dass das Religiöse
den säkularen Diskurs maßgeblich mit beeinflusst und ernsthaft
damit zu rechnen ist, dass ähnlich
wie in der Nachkriegszeit christliche Parteien die Demokratie in
Europa geprägt haben, in Zukunft
vielleicht auch muslimische Parteien zur Stärkung der Demokratie
beitragen werden. José Casanova
jedenfalls schließt diese Möglichkeit nicht aus und verweist auf das
US-amerikanische Beispiel, wo
freie Religionsausübung, Gleichberechtigung der Religionen und
Gleichberechtigung aller Bürger
miteinander vereinbar sind21, so
dass religiöser Pluralismus und
Säkularisierung koexistieren und
dadurch die Angst vor der Religion als unbegründet erscheinen
lassen. Diesbezüglich kann und
muss Europa noch viel von Amerika lernen.
21
16
Vgl. Casanova, a.a.O. S. 17f
Prof. Dr. Mathias Rohe
Prof. Dr. Mathias Rohe
Religion und Zuwanderung:
Rechtliche und gesellschaftliche Perspektiven
am Beispiel des Islam in Deutschland
Rahmenbedingungen
Bei einer Meinungsumfrage nach
der „fremdesten“ Religion in
Deutschland hätte der Islam angesichts der öffentlichen Debatte gewiss beste Chancen auf Platz eins.
Das gilt ungeachtet des Umstandes, dass Muslime in Deutschland
nach den Christen die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe bilden.
Vorbei sind die Zeiten, in denen
islamische Religion und Kultur als
exotisches Accessoire geschätzt
wurden – Bauten wie die barocke
Schwetzinger Moschee, die Berliner Moschee am Columbiadamm
und moscheeähnliche Gebäude
von einer früheren Tabakfabrik in
Dresden bis zum Kraftwerk in Potsdam künden davon. Muslime sind
nicht mehr wie im späten 17. Jahrhundert als Sklaven eingeführte
„Beutetürken“ oder vereinzelte
Gäste, sondern seit einigen wenigen Jahrzehnten ein nach Millionen zählender Teil der deutschen
Gesellschaft.
Vielleicht zählt zur Normalität
eines weitgehend von Migration
verursachten und noch stark da-
von geprägten Zusammenlebens
in Deutschland der Umstand, dass
erst jetzt auch gesellschaftlich relevante Besonderheiten und Unterschiede deutlich werden, die
„Fremdheit“ hervorrufen. Das gilt
für alle Beteiligten. Auch noch zur
Normalität mag es zählen, dass
bestehende Unterschiede gegenüber vielerlei menschlichen Gemeinsamkeiten eher überbetont
werden – Selbstdefinition gelingt
ja meist am einfachsten durch Abgrenzung. Problematisch ist die
Debatte über das Zusammenleben
mit Muslimen in Deutschland vor
allem in der Folge der Attentate
vom 11.9.2001 und den späteren
in Madrid, London und andernorts geworden. Seither hat sich in
weiten Teilen der Bevölkerung europäischer Staaten eine abstrakte
Angst vor „dem Islam“ entwickelt,
einhergehend mit einer breiten
medialen Aufmerksamkeit, in welcher schlechte Nachrichten die
Tagesordnung bestimmen. Korrespondierend hierzu finden sich
unter Muslimen verbreitete Vorurteile gegenüber einer angeblich
moralisch orientierungslos gewordenen westlichen Gesellschaft, für
17
Religion und Migration: Signale der Veränderung
die nur noch materielle Werte zählten, und eine ebenso verbreitete
Opferhaltung mit pauschaler Verurteilung westlicher Politik und
geringer Bereitschaft zu selbstkritischer Reflexion. Dennoch darf
nicht übersehen werden, wie viel
nicht von Problemen beherrschtes
Miteinander oder doch freundlichdistanziertes Nebeneinander bereits Alltag geworden ist. „NichtProbleme“ – also doch: ein guter
Umgang miteinander – sind die
Regel und nicht die Ausnahme.
Nur wer den Blick vor solcher Normalität nicht verschließt, wird in
der Lage sein, die möglicherweise
bestehenden Spannungen auf gesellschaftlicher wie auf rechtlicher
Ebene in einer Weise anzugehen,
welche den Beteiligten gerecht
wird.
Wo Probleme tatsächlich bestehen, sind sie vor allem in spezifischen Migrationsfragen wie mangelnder Sprachbeherrschung und
entsprechenden Schwierigkeiten
beim Zugang zu Bildung und
Arbeit, aber auch in korrespondierenden Diskriminierungen zu
suchen. Dies alles kann sachlich
beschrieben und mit passgenauen
Lösungen angegangen werden,
und das geschieht auch seit Jahren in erheblichem Umfang und
mit einigem Erfolg. Deshalb erstaunt der faktenarme Alarmismus
kleinstbürgerlicher Angstphantasien, wie er in dem wissenschaftlich in den wenigen „neuen“ Teilen weitgehend unseriösen Werk
18
eines Erfolgsautors unserer Tage
zelebriert wird (Sarrazin: „Deutschland schafft sich ab“, Berlin 2010).
Nur beispielhaft sei darauf hingewiesen, dass der Autor in abenteuerlicher Weise mit Zahlenangaben
zu Muslimen in Deutschland jongliert und die Angst vor der (angeblich) großen Zahl mobilisiert. Die
bislang verlässlichsten Angaben
aus der Publikation im Auftrag der
Deutschen Islam Konferenz, Muslimisches Leben in Deutschland,
Nürnberg 2009, 57 ff. ignoriert er
souverän. Stattdessen unternimmt
er höchst angreifbare Rechenübungen auf Grundlage des für
Religionsfragen sehr unpräzisen
Mikrozensus von 2007, aus dem er
eine Zahl von 4,0 auf 5,7 Millionen
hochrechnet (S. 261). Auf wundersame Weise („sehr hohe Kinderzahl“) erhöht sich diese Zahl dann
durch Umblättern auf S. 262 auf
6–7 Millionen – weit entfernt von
den 3,8 bis 4,3 Millionen, die in
der erstgenannten Studie belegt
sind. Falls der Autor als Berliner
Finanzsenator in vergleichbarer
Weise mit Zahlen umgegangen
sein sollte, erklärt sich die desolate
Berliner Finanzlage unschwer.
In der Aufregung unserer Tage
ist es nicht immer leicht, die Sachanalyse in den Vordergrund zu
stellen. Symptomatisch sind einige Reaktionen auf die im Grunde
selbstverständliche und begrüßenswerte Feststellung des Bundespräsidenten Christian Wulff,
wonach auch der Islam mittler-
Prof. Dr. Mathias Rohe
weile zu Deutschland gehört. Alles andere wäre ein Schlag in das
Gesicht der übergroßen Mehrheit
von Musliminnen und Muslimen,
die sich längst und zu Recht als
Teil der deutschen Gesellschaft
sehen. Den Fragen sozialer und
wirtschaftlicher Integration kann
hier nicht weiter nachgegangen
werden, auch wenn sie für das Zusammenleben wohl weitgehend
die prägenden Umstände darstellen. Vielmehr werde ich mich nun
den rechtlichen Fragen zuwenden,
die mit der Präsenz von Muslimen
in Deutschland und nicht zuletzt in
Großstädten wie Frankfurt verbunden sind.
Kann es aus der Sicht einer säkularen Rechtsordnung „fremde“
Religionen geben, die anderen
rechtlichen Maßstäben unterliegen könnten als die Mehrheitsreligion? Hiervon ist zunächst der
kulturelle Aspekt der Religion abzuschichten: Dass beispielsweise
dem Christentum im Geschichtsunterricht vergleichsweise breiter
Raum gegeben wird, reflektiert
schlicht die historischen Fakten.
Anders verhält es sich im Hinblick auf den Geltungsanspruch
als Religion. Deutschland kennt
aus guten Gründen kein Staatskirchensystem. Der Anspruch einer
säkularen Rechtsordnung wird nur
dann eingelöst, wenn alle Religionen gleich behandelt werden, wie
es der deutschen Verfassungslage
entspricht. Das gilt auch für den
Islam.
Umfang und Grenzen rechtlichen Wirksamwerdens religiöser Überzeugungen
1. Rechtliche Grundlagen
Jede geltende Rechtsordnung beansprucht einen uneingeschränkten Anwendungsvorrang in ihrem
Zuständigkeitsbereich und bestimmt autonom darüber, ob und
in welchem Umfang „fremde“ Normen Anwendung finden können.
Auf der Ebene des Geltungsanspruchs herrscht kein Normenpluralismus im Sinne rechtlicher
Multikulturalität.Vielmehr entscheidet alleine die territorial geltende und mit staatlichen Mitteln
durchgesetzte Rechtsordnung darüber, inwieweit sie im Einzelfall
Normenvielfalt zulässt. Wer also
eine Parallel- oder Gegenrechtsordnung einrichten wollte, würde
mit den Worten von Heiner Bielefeldt ein verfassungsfeindliches
Projekt verfolgen, das der säkulare Rechtsstaat nicht dulden kann.
Die Rechtsordnung eines demokratischen, den Menschenrechten
verpflichteten Rechtsstaats muss
stabile und im Kern unveränderliche Rahmenbedingungen für ein
gedeihliches Miteinander bereithalten und diese nötigenfalls auch
mit staatlichen Sanktionen durchsetzen.
19
Religion und Migration: Signale der Veränderung
Andererseits kann sie als Freiheitsordnung nicht dazu dienen,
ohne weiteres alles zu verbieten,
was einzelnen oder vielen nicht
gefällt, was sie moralisch oder gesellschaftspolitisch ablehnen und
was deshalb einem gesellschaftlichen Diskurs unterzogen werden
sollte. Zudem ist immer zu beachten, inwieweit die „außerrechtliche“ – z.B. religiöse – Begründung
von Normen sich gegen das geltende Recht stellt oder aber sich
innerhalb dieses bestehenden
Rechtskontexts positioniert, also
gerade keinen Gegensatz dazu
bildet. Das gilt auch für weite Teile
islamischer Normen.
Zunächst sind religiöse und rechtliche Normen systematisch zu trennen; die Überlegungen zur Anwendung und ihrer Begrenzung
lassen sich indes auf gemeinsame
Grundgedanken zurückführen. Die
Anwendung religiöser Normen
– z.B. Gebets- oder Fastenvorschriften – genießt den Schutz der
Religionsfreiheit, welche auch die
aktive, in der Öffentlichkeit sichtbare religiöse Betätigung einschließt. Dasselbe gilt für die im
Grundsatz völlig normale Errichtung einer religiösen Infrastruktur
(Moscheebau etc.). Aus solcher
Sicht sind auch Normen aus anderen als den seit langem etablierten
jüdisch-christlichen und a(nti)religiösen Normenkomplexen nicht
„fremd“, sondern genießen gleichberechtigten Schutz durch die Verfassung. In abgeschwächter Form
20
gilt solcher Schutz auch in privaten
Rechtsbeziehungen, z.B. im Arbeitsrecht.
Begrenzt wird diese Freiheit
durch
andere
kollidierende
Grundrechte einschließlich des in
Art. 1 GG verfassungsrechtlich gebotenen Schutzes der Menschenwürde. Hier besteht ein mögliches
Konfliktpotential zwischen (manchen) muslimischen Vorstellungen
insbesondere im Hinblick auf das
Geschlechterverhältnis und den
Umgang mit Nicht-Muslimen einschließlich des Abfalls vom Islam.
Auch das Verhältnis zur demokratischen rechtsstaatlichen Ordnung
kann im Einzelfall klärungsbedürftig werden. Eine Anwendung fremder rechtlicher Normen – auch
solcher mit religiöser Selbstlegitimation – kommt nach deutschem
Recht in zwei Erscheinungsformen
in Betracht. Zum einen findet im
Rahmen des Internationalen Privatrechts (IPR), also aufgrund eines
im deutschen Recht verankerten
Rechtsanwendungsbefehls, eine
echte „Fremdrechtsanwendung“
statt. Zum anderen können solche Normen im Rahmen der Anwendung deutschen Bürgerlichen
Sachrechts erfolgen, soweit dieses inhaltliche Gestaltungsfreiheit
eröffnet (sog. „dispositives Sachrecht“). Grenzen für die direkte
Anwendung fremder Normen im
Rahmen des IPR als auch für die
„indirekte“ Anwendung durch Privatrechtsgestaltung im Rahmen
des deutschen Sachrechts zieht
Prof. Dr. Mathias Rohe
der sog. „ordre public“, welcher
der Wahrung fundamentaler inländischer Rechtsüberzeugungen
gegen jede sie angreifende Normenanwendung dient.
Generell gilt sowohl für Reichweite und Grenzen der Religionsfreiheit als auch der Anwendung
fremden Rechts, dass umso mehr
einheitliche
Rechtsanwendung
auch in Sachnormen notwendig
wird, je mehr das öffentliche Interesse bzw. das Interesse Dritter
tangiert wird und je weniger gewichtig das individuelle Anliegen
zu bewerten ist, welches auf einer
religiösen oder anderen Sondernorm beruht. Umgekehrt kommt
individuellen, auf solchen Sondernormen beruhenden Anliegen
umso größeres Gewicht zu, je gewichtiger sie sind und je weniger
öffentliche Interessen oder solche
Dritter davon betroffen werden.
Eine äußere Grenze der Anwendung fremder Normen auch
bei hoher individueller Dringlichkeit wird durch den ordre public
im weiteren Sinne gezogen. Die
Grenzziehung erfolgt durch den
Gesetzgeber nach Maßgabe einer
Abwägung zwischen dem Interesse an Einheitlichkeit der Rechtsanwendung/Sicherung allgemeinen Rechtsfriedens einerseits und
dem Interesse an privatautonomer
Freiheit und Vielfalt. Diese Grenzziehung muss und wird in einem
rechtsstaatlichen, den Menschenrechten verpflichteten Gemein-
wesen im Kernbereich statisch
bleiben. An den Rändern, also bei
weniger gewichtigen Anliegen,
mögen außerrechtliche Erwägungen und Vorverständnisse im Laufe der Zeiten zu unterschiedlichen
Akzentsetzungen gelangen. Ein
Beispiel hierfür kann die in den
vergangenen fünfzehn Jahren geführte Debatte um die Befreiung
von Schülerinnen und Schülern
von Teilen des Schulunterrichts
aus religiösen Gründen sein, oder
auch das zweifellos zulässige Verbot einer Gesichtsverhüllung (sog.
Niqab oder Burka), dort – und nur
dort – wo Sicherheitsbelange oder
Kommunikationsbedürfnisse dies
erfordern.
2. Umsetzung
Zunächst ist zu beachten, dass
es „den Islam“ als empirische Erscheinung sowenig gibt wie „das
Christentum“. Unter Muslimen
finden sich alle Schattierungen
unterschiedlicher religiöser Prägung, Sunniten, Schiiten, Aleviten
und Ahmadis, Fromme und weniger Fromme, Schriftgläubige, eher
mystisch Orientierte oder einem
starken Volksglauben Verhaftete,
Menschen unterschiedlichster Bildungsniveaus, kultureller Prägungen und individueller Überzeugungen. Dieser Vielfalt steht ein
gelegentlich eher einförmiges Bild
in der öffentlichen Wahrnehmung
in Deutschland gegenüber, das im
Wesentlichen den eher traditionell ausgerichteten sunnitischen
21
Religion und Migration: Signale der Veränderung
Islam vieler türkischer oder arabischstämmiger Zuwanderer im
Blick hat. Die säkulare Ausrichtung
vieler Muslime, gerade solcher
iranischer und türkischer Herkunft
oder vom Balkan und insbesondere die der Aleviten, wird vielleicht
gerade wegen ihrer Unauffälligkeit im normalen täglichen Leben
oft übersehen. Zudem werden
Muslime zusehends nur noch aus
dem religiösen Blickwinkel wahrgenommen, obgleich auch sie
sich wie alle anderen Menschen
von unterschiedlichsten Erfahrungen und Überzeugungen leiten
lassen. Dialog und Kooperation
setzen einen vorurteilsfreien Blick
auf die konkret Beteiligten voraus. Gerade in dieser Hinsicht
hat die kommunale Ebene große Vorteile und Zugangsmöglichkeiten: menschliches Zusammenleben ist in aller Regel eine
lokale, auf persönlicher Kenntnis
beruhende Angelegenheit. Kooperationsprojekte setzen Kenntnisse von typischerweise zu erwartenden Vorverständnissen und
Interessen des Kooperationspartners voraus. Hier ist nochmals
zu betonen, dass Religion – die
ihrerseits sehr unterschiedliche
Ausprägungen hat – in wichtigen
Fragen eine eher untergeordnete
Rolle spielt. Hier sind insbesondere allgemeine kulturelle Rahmenbedingungen zu nennen, die aus
den Herkunftsländern mitgenommen wurden.
22
Sehr verbreitet ist beispielsweise das Phänomen, dass Vertrauen und Loyalität nicht gegenüber Ämtern und Institutionen
besteht, sondern nur gegenüber
konkreten Personen, und dass
dieses Vertrauen nur in längerem
kontinuierlichem Kontakt aufgebaut werden kann. Häufige und
womöglich noch unvorbereitete
Personalwechsel auf Staatsseite
wirken kontraproduktiv. Gerade in
schwierigen Situationen – z.B. den
Tagen nach dem 11.9.2001 – konnte dort besonders gut eine entspannte Atmosphäre geschaffen
werden, wo Sicherheitsbehörden
und andere staatliche Stellen, gesellschaftliche Gruppen, muslimische Organisationen und Einzelpersonen einander kannten und
wussten, wen man zu kontaktieren
hat, um etwa öffentlichkeitswirksame Aktivitäten zu entwickeln oder
Sicherheitsmaßnahmen ohne Aufregung durchzuführen.
Im Hinblick auf den Migrationshintergrund ist mit besonderen
„Aufsteigerinteressen“ zu rechnen,
die bei entsprechender Eignung
und Befähigung sehr positiv wirken können. „Vermittler“ können
aufgrund ihrer Kenntnis von Sprache und Sitten Zugänge gewinnen,
die auch gutwilligen Alteingesessenen verschlossen bleiben. Andererseits ist sicherzustellen, dass
der Einsatz solcher Mittler in einem
klaren institutionellen Rahmen mit
ebenso klarer Aufgabenstellung
erfolgt, welche die Verfolgung
Prof. Dr. Mathias Rohe
persönlicher Interessen bei der
Arbeit ausschließt. Zu den Bedingungen für gelingende Kooperation zählen schließlich auch
Kenntnisse über unterschiedliche
Kommunikationsstile.
Orientalische Kommunikation ist indirekt,
meidet offene sachliche Kritik zur
„Gesichtswahrung“ und kann auf
Europäer und insbesondere auf
Deutsche, die sich an z.T. drastisch
direkte Konfrontation in der Sache
gewöhnt haben, unaufrichtig wirken. Andererseits wird eben diese
Direktheit vielfach als verletzend
empfunden. Zudem zeichnen sich
Menschen orientalischer Prägung
häufig durch eine recht offene
Herzlichkeit im zwischenmenschlichen Umgang aus, solange die
vertrauten Formen (insbesondere
im Geschlechterverhältnis) gewahrt bleiben. Ablehnung führt
zu Verletzungen. Die mittlerweile
z.B. unter manchen jungen Türken
oder Albanern herausgebildete,
teils betont aggressive Jugendkultur findet hier eine (nicht die
einzige) Ursache. Minderwertigkeitsgefühle, Machobewusstsein
und übersteigerter Nationalismus
gehen dabei ineinander über.
Muslime sollten ihrerseits in
Rechnung stellen, dass auf staatlicher Seite bestimmte Interessen und Rahmenbedingungen
bestehen, die entweder unverzichtbar sind oder doch nur
langsam geändert werden können. Insbesondere im Sicherheitsbereich dürfte ein Präventi-
onsdenken unvermeidbar sein,
das dazu führen kann, dass eine
übersehene Gefahrensituation negativer bewertet wird als die Gefahr
unzutreffenden Verdachts. Hier
dürfte es oft schon helfen, die damit verbundenen Anliegen transparent zu machen und erforderliche Sicherheitsmaßnahmen mit
der jeweils größtmöglichen Sensibilität auszuführen. Die Notwendigkeit, einem Anfangsverdacht
nachzugehen bzw. einen Gefahrerforschungseingriff vorzunehmen
ist auch den meisten Muslimen
unschwer verständlich zu machen.
Vertrauen kann dann gestärkt werden, wenn nach Abschluss entsprechender Ermittlungen dann,
wenn kein Verdacht zurückbleibt,
dies auch den Betroffenen deutlich und im Falle von Medienwirksamkeit auch angemessen publik
gemacht wird.
Im Umgang mit den Bürgern
wird das Handeln staatlicher Stellen von dem weitestgehend zutreffenden Vorverständnis einer
Kooperation zwischen Bürger und
Staat in einem positiv aufeinander
bezogenen Verhältnis geprägt, bei
aller Kritik in Einzelheiten. Strukturelles Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen (vielleicht von
der Finanzverwaltung abgesehen)
dürfte eher selten sein. Bei Migranten nicht zuletzt aus vielen Regionen am Rande oder außerhalb
Europas verhält es sich anders: Sie
haben den jeweiligen Herkunftsstaat als korrupte Maschinerie der
23
Religion und Migration: Signale der Veränderung
Unterdrückung erlebt, zu der man
– einschließlich ihrer Repräsentanten – aus guten Gründen möglichste Distanz hält. Hierzulande übertrieben wirkende Angstreaktionen
lassen sich teilweise hieraus erklären. Integrationsförderlich wird
dann schlichte Aufklärung über
Struktur und Wirkungsweise rechtsstaatlicher Institutionen wirken. Beispielsweise gibt es erfolgversprechende erste Projekte auch hier
in Frankfurt, Imame als gerade in
der Diaspora besonders wichtige
Ansprechpartner entsprechend zu
schulen. Unter Muslimen mit Migrationshintergrund wird man
häufig mit besonderen Loyalitäten
innerhalb von Großfamilien und
gegenüber Menschen aus der
gleichen Herkunftsregion rechnen
müssen. Auch die Mitwirkung in
Organisationen ist hiervon gelegentlich stärker geprägt als von
inhaltlichen Ausrichtungen. Besondere Sympathie für Schicksale
anderer Migranten und ihrer Angehörigen ist verbreitet. Dies kann
dazu führen, dass die Kooperation
mit staatlichen Stellen in Zweifelsfragen erschwert wird, wenn bei
Weitergabe von Informationen die
Befürchtung vorhanden ist, dass
darunter auch nicht verantwortliche Angehörige des Betreffenden
zu leiden hätten, etwa aufgrund
ausländerrechtlicher Konsequenzen. Der Migrationshintergrund
kann schließlich auch zu einem
stark kulturell geprägten Religionsverständnis führen, das wohl
erst in ein bis zwei Generationen
24
einem von deutschen Muslimen
und Muslimen in Deutschland geprägten Verständnis breitflächig
abgelöst werden wird. Es wäre
deshalb verfehlt, die bestehenden
Ausprägungen muslimischer Religiosität als für den Islam wesensmäßig und unveränderlich anzusehen.
Besonders heikel kann sich das
Problem des Antisemitismus unter
manchen Muslimen auswirken. Es
wäre realitätsfremd, dieses Phänomen mit dem Satz abzutun, dass
(arabische) Muslime als Semiten
nicht antisemitisch sein könnten. Im Umgang mit Äußerungen
wird sorgfältig danach zu unterscheiden sein, ob es etwa um im
Rahmen des geltenden Rechts
zulässige Kritik an Maßnahmen israelischer Institutionen zu Lasten
von Palästinensern und anderen
geht, mit denen Muslime möglicherweise eine besonders enge
innere Verbindung empfinden – so
wie sich Christen besonders für
die Lage ihrer Glaubensgeschwister in der islamischen Welt interessieren (sollten) – oder ob nicht
hinzunehmende anti-jüdische Ressentiments gepflegt werden, bis
hin zu offener Gewalt gegen Juden. Zugewanderte Muslime müssen erkennen, dass angesichts des
Holocaust die Rahmenbedingungen für derartige Debatten andere
sind als in vielen anderen Staaten.
Andererseits ist darauf zu achten,
dass die rechtlichen Grenzen zulässiger Äußerungen deutlich ge-
Prof. Dr. Mathias Rohe
macht und auch unter dem Aspekt
der Meinungsfreiheit respektiert
werden. Dies ist schon deshalb
bedeutsam, weil islamischer Extremismus einen Teil seines Rekrutierungspotentials auf Grundlage
anti-jüdischer Ressentiments und
Verschwörungstheorienbezieht.Besonders hilfreich für die Gegensteuerung mögen Projekte unter
Einbeziehung jüdischer Organisationen oder Einzelpersonen sein.
Gerade orthodoxes Judentum
und traditioneller Islam haben ja
z.B. in religionspraktischen Fragen einige gemeinsame Anknüpfungspunkte und Interessen. So
sollte man sich auch davor hüten,
die Abneigung gegen den Antisemitismus alleine auf Muslime
zu projizieren: Der Skandal, dass
jüdische Einrichtungen in diesem
Land immer noch besonderer Sicherungsmaßnahmen bedürfen,
ist ja erheblich älter als die Zuwanderung von Muslimen.
Schluss
Zusammenleben vollzieht sich
lokal, es gelingt oder scheitert
also auch lokal. Die „Großwetterlage“ kann durch Initiativen wie
die Deutsche Islam Konferenz beeinflusst werden, letztlich geht es
aber um konkrete Menschen in
konkreten Lebenszusammenhängen meist lokalen Zuschnitts.
Die These vom „clash of civilizations“ ist schlichter Unfug. Zu tun
haben wir es – über Kultur- und
Religionsgrenzen hinweg – mit einem „clash of minds“. Nur mit dieser Erkenntnis wird es gelingen,
die Unterstützer gemeinsamer
Werte zusammenzubringen und
damit Integration zu befördern
und zugleich reale Gefahren für
den nötigen gesellschaftlichen Zusammenhalt abzuwehren. Hier
sind unter anderem noch einige
Bildungsdefizite (Grundlagen des
religionsoffenen säkularen Rechtsstaats) sowohl im Hinblick auf
Muslime als auch im Hinblick auf
die „Mehrheitsgesellschaft“ (Stichwort Religionsfreiheit und Moscheebau) aufzuarbeiten. Ideologisierte Krisengewinnler auf allen
Seiten dürfen nicht das letzte Wort
behalten. Im Hinblick auf Sicherheitsfragen gilt: Angesichts eines
zahlenmäßig marginalen, aber
erwiesenermaßen gefährlichen religiös begründeten Extremismus
unter Muslimen und einem nicht
restlos geklärten Umfeld muss es
ein Anliegen der gesamten Gesellschaft sein, Sicherheitsfragen realistisch zu erörtern und zu lösen.
Andererseits muss die notwendige Integration scheitern, wenn
die übergroße Mehrheit friedliebender und verständigungsbereiter Muslime unter Sicherheitsaspekten gesehen wird. Staat und
Muslime sind gleichermaßen aufgerufen, aufeinander zuzugehen
und auf gesicherter inhaltlicher
Grundlage im Rahmen unseres
freiheitlichen Gemeinwesens auszuloten, wo Kooperation sinnvoll
oder schlicht notwendig ist.
25
Religion und Migration: Signale der Veränderung
Zusammenfassend lässt sich
feststellen, dass die rechtlichen
Rahmenbedingungen für eine angemessene Abwägung zwischen
Religionsfreiheit einerseits und
Schutz Dritter sowie der Grundlagen der demokratischen rechtstaatlichen Ordnung andererseits
in Deutschland günstig sind. Weder „laissez faire“ noch übergroße
Uniformität und Religionsferne gibt
die Rahmenbedingungen ab, sondern eine religionsoffene säkulare
Verfassung. Die Verfassungsordnung des demokratischen Rechtsstaats wird indes auf Dauer nur
Bestand haben, wenn sie von
wichtigen Teilen der Bevölkerung
auch aus innerer Überzeugung
mitgetragen wird. Im Hinblick auf
religiöse Minderheiten ergibt sich
daraus die besondere Bedeutung
des Gleichbehandlungsgrundsatzes, der auch real erfahrbar sein
muss. Etwas anderes gilt nur dort,
wo beispielsweise Mindestzahlen aus Zumutbarkeitsgründen
erforderlich sind (Schulunterricht,
Militärseelsorge), oder wo sich ursprüngliche Privilegien mit anderen, die Allgemeinheit betreffenden Erwägungen auf eben diese
Allgemeinheit erstrecken lassen
(z.B. Feiertagsregelungen). Zu beachten ist die in der Verfassung
selbst angelegte Dynamik, die es
alleine ermöglicht, in verlässlicher
Weise auf geänderte Tatsachen zu
reagieren, ohne die Grundlagen
der bestehenden Ordnung anzutasten.
26
Zwischen der inländischen Situation und Entwicklungen weltweit
muss unterschieden werden. Das
Retorsionsargument – etwa Aufrechnung von Moschee-Bauten
gegen Kirchen im Orient – mag
zwar psychologisch naheliegen,
kann jedoch keinesfalls einen
rechtlichen Maßstab abgeben.
Dies ist zum einen deshalb zurückzuweisen, weil demokratische
Rechtsstaaten sich nicht die Maßstäbe von Diktaturen zu Eigen machen dürfen. Zum anderen wäre es
verfehlt, die hier lebenden Muslime auf solche Weise in Sippenhaft
zu nehmen und damit zwangsweise in eine künstliche, monistische
muslimische Gesamtidentität zu
treiben.
Ebenso ist wissenschaftlich nicht
seriös belegten Behauptungen
entgegenzutreten, im Islam gebe
es eine Theorie der „taqiya“ im
Sinne einer generellen Erlaubnis
zur Unaufrichtigkeit gegenüber
Andersgläubigem zum Nutzen
der eigenen Religion. Nachweisbar gibt es eine solche Theorie
vor allem im schiitischen Islam, allerdings mit völlig anderem Inhalt,
nämlich der Befugnis, die eigene
spezifische religiöse Ausrichtung
bei Lebensgefahr verbergen zu
dürfen. Auch äußern sich einzelne
Muslime , auch Vertreter von Organisationen in hohem Maße intransparent – man könnte gelegentlich
auch von schlichten Lügen sprechen. Dies gibt allen Anlass zum
Misstrauen gegenüber den Betref-
Prof. Dr. Mathias Rohe
fenden, darf aber nicht grundlos
verallgemeinert werden. Auf dem
Feld plumper Islam-Feindschaft
tummelt sich eine merkwürdige
Koalition rechtspopulistischer bis
rechtsradikaler Initiativen und unseriöser Autoren, angereichert um
sich christlich gebende Splittergrüppchen und einzelne gewendete Alt-Linke und ideologisierte
Feministinnen. Gewisse religiöse
Riten etwa bei Speise- oder Kleidungsvorschriften, wie sie manche
Muslime, aber auch Juden pflegen,
mögen auf andere befremdlich
wirken und müssen sich selbstverständlich auch der Kritik im gesellschaftlichen Diskurs stellen. Es
wäre aber verantwortungslos, sie
schlechthin aus einem zivilisatorischen Standard hinauszudefinieren, und nachgerade menschenrechtsfeindlich, ihre Ausübung einer Mehrheitsentscheidung unterwerfen zu wollen.
Die verbreiteten Ängste vor der
Präsenz des Islam in Deutschland
finden teilweise ihre Ursache auch
in einer pessimistischen Einschätzung der Kraft des Christentums.
Seine Musealisierung mit Hilfe
rechtlicher Privilegien ist aber weder rechtlich zulässig noch aus
christlicher Sicht selbst zu wünschen. Auch das Überleben des
Christentums hängt davon ab,
eine hinreichende Zahl von Menschen von seiner Richtigkeit stets
neu zu überzeugen.
Für westliche Gesellschaften ist
die sichtbare Präsenz von Muslimen offenbar auch Anlass für eine
neue Positionsbestimmung: Welche gemeinsamen „Normen und
Werte“ halten uns im Innersten zusammen? Kann, ja muss Religionsverschiedenheit zu Inkompatibilität führen? Wie positionieren sich
Musliminnen und Muslime selbst
in ihrer eigenen Religion und in
der Gesellschaft? Weder Angstnoch Beschwichtigungsdebatten
führen hier weiter. Profilbildung
mag darüber hinaus auch die
schlichte Begegnung mit „dem
anderen“ erzeugen: Im Spiegel
des anderen kann auch das eigene Bild deutlicher werden.
Bei alledem ist zu beachten,
dass Religionszugehörigkeit auch
bei Muslimen nur einen Teil ihrer
Identität ausmacht. Abgesehen
vom Religionsunterricht dürften
religiöse Fragestellungen im wichtigen Bereich von Bildung und Arbeit nur eine geringe Rolle spielen.
Ähnliches gilt für Fragen alltäglichen Zusammenlebens. Positiv
oder auch negativ können religiöse
Überzeugungen aber dort wirken,
wo es um die Selbstpositionierung
gegenüber den Grundlagen gesellschaftlichen Zusammenlebens,
dem säkularen demokratischen
Rechtsstaat geht.
Hieran zeigt sich, dass eine Verengung auf religiöse Problemstellungen ebenso unangebracht
wäre wie deren Ausblendung.
27
Religion und Migration: Signale der Veränderung
Weniger bloßes Nebeneinander
und mehr Miteinander mag aber
dann entstehen, wenn „wechselnde Identitäten“ je nach Lebensbereich den Blick auf das Individuum
lenken, das in der einen Frage zum
Mitstreiter werden und in der anderen Frage ablehnend reagieren
kann. Je weniger Bevölkerungsgruppen homogene, abgrenzende Identitäten entwickeln, desto
geringer dürfte die Bereitschaft
ausfallen, in schwierigen Zeiten
übereinander herzufallen, wie wir
es in den vergangenen Jahrzehnten in Europa und anderen Teilen
der Welt sattsam erlebt haben. So
sehr es zur westlichen Normalität
gehört oder gehören sollte, dass
Religionsgruppen sich eine Infrastruktur geben, die Handlungsfähigkeit innerhalb der Gruppe und
in der Gesamtgesellschaft erzeugt,
so sehr ist es wünschenswert, dass
im Hinblick auf gesamtgesellschaftlich bedeutsame Entwicklungen gemeinsame Initiativen
ergriffen werden, die nicht an den
vermeintlichen Religionsgrenzen
Halt machen. Das Potential hierfür
ist vorhanden.
Abschließend sei festgehalten,
dass muslimische Präsenz in westlichen Staaten und Gesellschaften
auch eine Fülle von Chancen mit
sich bringt: Muslime können anders als in weiten Teilen der sogenannten islamischen Welt frei
über ihren Glauben debattieren,
auch Konzepte eines freiheitlichen
Islam im Rahmen demokratischer
28
rechtsstaatlicher Ordnung entwickeln und sein positives Potential in
die gesellschaftliche Entwicklung
einbringen. Europäische Staaten
werden neu ausloten müssen, wie
Religionsfreiheit gleichberechtigt
mit anderen Religionen und Weltanschauungen auch für Muslime
durchgesetzt werden kann. Die
einschlägigen Regelungen unterscheiden zwar grundsätzlich nicht
zwischen den Religionen; sie weisen jedoch eine spezifische, an der
Struktur christlicher Institutionen
orientierte Ausprägung auf. Für
die Rechtsordnung ist deshalb ein
Wandel vom „Staatskirchenrecht“
zum „Religionsverfassungrecht“
unabdingbar. Der demokratische
Rechtsstaat kann seine Überzeugungskraft auf Dauer nur aus einer
gelebten Praxis gewinnen.
Weiterführende Literatur des Verfassers:
Rohe, Mathias, Islamisches Recht:
Geschichte und Gegenwart, 3.
Aufl. München 2011
Rohe, Mathias, Der Islam – Alltagskonflikte und Lösungen, 2. Aufl.
Freiburg/Br. 2001
Weiterführende Hinweise finden
sich auf der Website des Erlanger Zentrums für Islam und Recht
in Europa EZIRE (www.ezire.unierlangen.de) und des Lehrstuhls
des Verfassers (www.zr2.jura.unierlangen.de)
Dr. Brigitta Sassin
Dr. Brigitta Sassin
Interreligiöse Vernetzung als Voraussetzung für die
Frankfurter Imamefortbildung.
Bemerkungen zur katholischen Mitarbeit*
Im Juni 2010 ist die erste Frankfurter Imamefortbildung zu Ende
gegangen, ein in vieler Hinsicht
beachtenswertes Projekt, für das
der Stadt Frankfurt als Träger und
vor allem dem Amt für multikulturelle Angelegenheiten viel Lob
gebührt. Mit der Auswertung des
Projekts sind die begleitende
Rolle der Projektgruppe und die
Vorarbeit darzustellen, die die besondere Frankfurter Situation charakterisiert. Anders als in anderen
deutschen Städten ging der Impuls zu dieser Fortbildung von einer interreligiösen Dialoggruppe
aus, die bereits andere Projekte
durchgeführt hatte.
dert Prozent Stellenumfang, Dialog mit anderen Religionen und
Geschäftsführung des Rates der
Religionen, die katholische Kirche
eine fünfzig Prozent Referentin
für den christlich-islamischen Dialog mit pastoraler Ausrichtung.
Auf muslimischer Seite gibt es
zwei Männer, einen Schiiten und
einen Sunniten, die persönliche
Autorität in ihren Gemeinschaften haben. Diese Kerngruppe aus
vier Personen hat seit 2005 viele
Dialogprojekte initiiert und durchgeführt, von denen einige als Vorbereitungsschritte für die Imamefortbildung im Folgenden skizziert
werden.
Frankfurt ist eine bunte Stadt,
in der die Vielzahl der Religionen
nicht zu übersehen ist. Neben den
vielen evangelischen, orthodoxen
und katholischen Gemeinden gibt
es mittlerweile vierzig muslimische
Gemeinden. Die christlich-muslimische Dialogarbeit ist in den
letzten Jahren intensiviert worden.
Die evangelische Seite stellt dafür
eine Pfarrerin für den interreligiösen Dialog zur Verfügung mit hun-
Seit 2005 führen wir alle zwei
Jahre eine Christlich-Islamische
Woche der Begegnung durch, die
in einem Frankfurter Stadtteil muslimische, evangelische und katholische Gemeinden miteinander
in Kontakt bringt. Die Woche der
Begegnung wird knapp ein Jahr
lang durch monatliche Treffen einer größeren Arbeitsgruppe vorbereitet, zu denen alle Gemeinden einen Delegierten entsenden.
* Der vorliegende Text wurde bereits veröffentlicht in: CIBEDO-Beiträge zum Gespräch
zwischen Christen und Muslimen 4/2010, 194f.
29
Religion und Migration: Signale der Veränderung
Damit wächst ein Miteinander im
Stadtteil, in dem Arbeitsabläufe
und Kommunikationswege neu
ausprobiert werden. Bewährt hat
sich hierbei die Projektleitung
durch die evangelische Pfarrerin
für den interreligiösen Dialog.
Im Blick auf die muslimischen,
evangelischen und katholischen
Theologen der Frankfurter Gemeinden entstanden Begegnungen speziell für diese Personengruppe. Erstmals fand im Mai
2008 eine Domführung statt, zu
der fünfzig Imame und Moscheevorstände kamen und von katholischen und evangelischen Theologen begleitet wurden. Beim
anschließenden festlichen Abendessen wurde deutlich, wie wichtig
solche Räume des Kennenlernens
sind. Daran schlossen sich zwei
weitere Abende an: die Muslime
waren Gastgeber für ein gemeinsames Fastenbrechen aller Frankfurter Moscheegemeinden anlässlich des Ramadans im Jahr 2008
und die evangelische Stadtakademie war der Ort für einen Abend
der Begegnung zum Thema „Was
ist Seelsorge?“ im März 2009.
Neben diesen offiziellen Veranstaltungen gab es eine Vielzahl
von informellen Begegnungen mit
den Imamen, besonders zwei Ausflüge, bei denen deutlich wurde,
dass „etwas fehlt“. Ein neu angekommener Imam zeigte Interesse
– und es ergab sich im Sommer
2008 eine Stadtführung, kurz dar30
auf ein Ausflug in den Hessenpark
im kleinen Kreis von drei Muslimen und zwei Christen. Wie können muslimische Verantwortungsträger, die im Ausland ausgebildet
wurden und neu nach Deutschland
kommen, für ihren Beruf spezifische Hintergründe Deutschlands
lernen, „Ein-Sichten“ sammeln und
zu „Brückenbauern“ werden?
Im Kontext dieser Frankfurter
Dialogerfahrungen bekam die Autorin im Oktober 2007 Kenntnis
von der neuen Pariser Imamefortbildung, die seitdem als einjährige akademische Einführung in
Staat, Gesellschaft und Geschichte
Frankreichs am Institut Catholique
durchgeführt wird. Anfang 2009
bildete die Autorin daher eine Projektgruppe, die aus den vier Personen der oben beschriebenen
Kerngruppe und einer Vertreterin
des Kompetenzzentrums muslimischer Frauen bestand. In mehreren Treffen wurde die Idee einer
möglichen Frankfurter Imamefortbildung diskutiert. Informationen
über bereits angelaufene Fortbildungen (München, Berlin, Paris)
wurden eingeholt, für Frankfurt angepasst und die Frage nach einem
möglichen Träger diskutiert. Die
langjährige, sehr gute Zusammenarbeit und Vernetzung vieler Aktivitäten zwischen der Kerngruppe
und der zuständigen Referentin
im Amt für multikulturelle Angelegenheiten legten es nahe, mit der
Stadt Frankfurt auch diese Idee
zu besprechen. Im Spätsommer
Dr. Brigitta Sassin
2009 stellte die Projektgruppe der
Amtsleiterin des AmkA das bisher
erarbeitete Konzept einer Imamefortbildung vor und bat sie, dass
die Stadt Frankfurt die Trägerschaft übernehmen möge. Dieser
Bitte wurde positiv entsprochen.
Von da an hatte die Stadt die
Verantwortung für das gesamte
Projekt und die Projektgruppe
eine diskrete, dennoch wichtige
Rolle im Hintergrund. Bei den beiden Treffen vor Beginn der Fortbildung, sowohl dem ersten Treffen
mit einer kleinen Gruppe von Imamen und Vorstandsmitgliedern
repräsentativ aus verschiedenen
Sprachgruppen und Richtungen
als auch dem Informationsabend
im Dezember 2009 traten Stadt
und Projektgruppe gemeinsam
auf, um das Projekt allen Imamen
und Moscheevorständen vorzustellen.
In dieser Phase vor Beginn der eigentlichen Imamefortbildung hat
sich gezeigt, dass die guten Kontakte zum AmkA eine entscheidende Rolle zum Gelingen des
Projektes beigetragen haben. Begegnung braucht Beziehung. Das
über Jahre gewachsene Vertrauen
zwischen Christen und Muslimen,
zwischen Stadt und den Religionen hat den Erfolg der Imamefortbildung in Frankfurt ermöglicht.
Die Stadt hat in Zusammenarbeit
mit der Hessischen Landeszentrale für Politische Bildung die Verantwortung für die Fortbildung
übernommen und Räume des Lernens und der Begegnung mit Ämtern und Institutionen eröffnet. Die
Projektgruppe hat begleitet und
reflektiert und manchen religiösen
Aspekt ergänzt, insbesondere das
Modul „Was ist Seelsorge?“ mit
dem Besuch einer Synagoge.
Was bleibt nach dem Abschluss
der Fortbildung? Die Erfahrungen
der Imamefortbildung erlauben
einen neuen Blick auf andere ethnische und religiöse Multiplikatoren: Was ist mit einem Hindu Pandit, einem orthodoxen Pfarrer aus
Eritrea, einem evangelischen Gemeindeleiter aus Korea und einem
katholischen Priester aus Lateinamerika? Wo erhalten diese eine
Einführung in deutsche Geschichte und Politik, in Strukturen der Beratung und des Rechtssystems, um
für ihre Gemeinden Agenten der
Vernetzung zu werden, damit ihre
Gemeindemitglieder zu mehr Integration begleitet sind? Dies sind
spannende Fragen über das Ende
der ersten Imamefortbildung hinaus.
31
Religion und Migration: Signale der Veränderung
Vera Klinger, Magdalena Modler
„Imame für Frankfurt –
Würden- und Verantwortungsträger“
Die Frankfurter Imamefortbildung – ein übertragbares Modell
für andere Seelsorgerinnen und Seelsorger?
Vorlauf und Durchführung der
Imamefortbildung
Die Frankfurter Imamefortbildung
fand von Dezember 2009 bis Juni
2010 statt. Projektträger waren die
Stadt Frankfurt am Main, Amt für
multikulturelle Angelegenheiten
(AmkA) in Kooperation mit der
Hessischen Landeszentrale für Politische Bildung und der „Projektgruppe Imamefortbildung Frankfurt“. Letztere setzt sich zusammen
aus Vertreterinnen und Vertretern
der Evangelischen Pfarrstelle für
den interreligiösen Dialog, des
IIS – Islamische Informations- und
Serviceleistungen e.V., der IRH –
Islamische Religionsgemeinschaft
Hessen, der Katholischen Stadtkirche Frankfurt, Referat Christlich-Islamischer Dialog und des Kompetenzzentrums muslimischer Frauen. Gefördert wurde die Fortbildungsreihe als flankierende Maßnahme der Deutschen Islamkonferenz durch das Bundesministerium
des Innern.
sich Anfang 2009 eine interreligiöse „Projektgruppe Imamefortbildung“ gebildet die von Anfang
an in Kontakt zum AmkA stand.
Mitte 2009 wurde die Stadt Frankfurt – das AmkA – offiziell von der
Projektgruppe angefragt, eine
Fortbildung für die Frankfurter
Imame zu konzipieren und durchzuführen. Das AmkA selbst verfügte über langjährig aufgebaute
Kontakte mit den Frankfurter Moscheegemeinden, wobei aber bis
zu diesem Zeitpunkt immer die
Vorstände und weniger die Imame im Fokus standen. Das Amt sah
den Bedarf, sagte die Durchführung zu, entwickelte das Curriculum und übernahm die inhaltliche
sowie organisatorische Projektleitung und die Antragstellung gegenüber dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Bedingung
für die Realisierungsmöglichkeit
war aufgrund des zusätzlichen hohen Arbeitsaufkommens die Finanzierung einer projektbezogenen Koordinationsstelle.
Durch die langjährige interreligiöse Vernetzung in Frankfurt hatte
So wurde – u.a. auf der Grundlage
der Vorarbeiten der Projektgrup-
32
Vera Klinger, Magdalena Modler
pe und der bereits durchgeführten Maßnahmen in München und
Berlin – ein an den Bedingungen
in Frankfurt angepasstes Konzept
entwickelt. Das Frankfurter Projekt
ist durch eine im Vergleich besonders gute Vernetzung der Gemeinden vor allem im interreligiösen
Dialog und im Bereich der Jugendarbeit gekennzeichnet. Diese Vernetzung in der Stadtgesellschaft wurde als Nachhaltigkeitskriterium in der Förderung durch
das Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge (BaMF) besonders
hervorgehoben.
Folgende Projektziele wurden entwickelt:
•Vertiefung von Kenntnissen über
Deutschland und Frankfurt als
Lebens- und Arbeitsmittelpunkt.
(Die Imame und SeelsorgerInnen entdecken Frankfurt als
„ihre Stadt“)
•Vermittlung von Kontakten (z.B.
Ämter und weitere stadtweit tätige Institutionen), die für eine
Beratungsarbeit in den Gemeinden wichtig sind
•Unterstützung bei der Aneignung und Erweiterung von Vermittlungs- und Beratungskompetenzen für die Gemeindearbeit
•Sensibilisierung für Fragen der
außerschulischen Jugendarbeit
•Vermittlung von Informationen
zur religiösen Struktur Frankfurts
und zur Förderung des interreligiösen Dialogs
•Beidseitiger Multiplikatoren-Effekt: Über die Fortbildung sollten
sowohl die interkulturelle Öffnung auf Seiten der Gemeinden
als auch der in das Projekt eingebundenen Institutionen gefördert werden.
•Als mittelbarer Effekt (z.B. über
Presseberichterstattung) war die
Information der Öffentlichkeit
über die Rolle von Imamen und
die Situation in den Gemeinden
angestrebt.
Ab Januar 2010 fanden elf Fortbildungs-Module statt, davon neun
Ganztags- und zwei Halbtagsangebote – nach Möglichkeit in einer
Mischung aus Theorie und Praxis:
Vormittags „Theorie“ in Form von
Vorträgen und Präsentationen,
nachmittags „Praxis“ in Form von
Exkursionen und Gesprächsterminen mit Kontaktpartnern und/oder
VertreterInnen wichtiger Institutionen. Den Abschluss bildete eine
feierliche Abendveranstaltung mit
Überreichung der Teilnahmebescheinigungen durch die Dezernentin für Integration. Während
der Fortbildung wurde mit Übersetzung (simultan und schriftliche
Vorlagen in Türkisch und Arabisch)
gearbeitet, da diesbezüglich bei
einem Großteil der Teilnehmenden ein Bedarf bestand.
Von Anfang an stieß das Weiterbildungsangebot auf große Resonanz. Die Gruppe der Teilnehmenden pendelte sich nach einiger Zeit auf schließlich zwanzig
33
Religion und Migration: Signale der Veränderung
Männer und sechs Frauen ein. Von
den vierzig bekannten Frankfurter Moscheevereinen, deckte die
Fortbildung neunzehn Moscheen
ab. Folgende Herkunftsländer waren dadurch vertreten: Albanien,
Afghanistan, Ägypten, Bosnien,
Marokko, Montenegro, Pakistan
und die Türkei. Zudem gibt es Gemeinden mit einem hohen Anteil
an deutschen Konvertiten.
Die in der Fortbildung behandelten Themenschwerpunkte:
– Deutschland als Arbeits- und
Lebensmittelpunkt
Die Entstehung der Bundesrepublik/das politische und das
Rechtssystem/Verhältnis Staat –
Kirche/Religion in der säkularen
Gesellschaft
– Grundgesetz und Menschenrechte
Grundgesetz, Menschenrechte,
Gleichheit von Mann und Frau,
Religions- und Meinungsfreiheit,
Geschichte der Frauenbewegung in Deutschland
– Ankommen in Frankfurt
Strukturdaten, Strukturen von
Politik und Verwaltung, Stadtgeschichte – auch als Geschichte
von Migrationsprozessen/strukturelle Entwicklung des Islam in
Frankfurt/u.a. christliche-islamische Dialoginitiativen
– Bildung und Arbeitsmarkt
Bildungssystem, Angebote und
Bedeutung der frühen Förderung/Schulsystem und Fragen
der Übergänge/Rolle der Eltern
34
im Schul- und Ausbildungssystem/Arbeitsmarktstrukturen und
Berufsberatung/Rhein-MainJobcentren/Fragen der Grundsicherung/Deutschkurse
– Beratung und Begleitung
wichtige Ämter der stadtverwaltung/Beratungsstellen/Formen
der Seelsorge/Unterstützung bei
Notfällen
– Zusammenleben im Stadtteil
Stadtteilstrukturen und wichtige Ansprechpartner/Nachbarschaftspflege/Möglichkeiten der
Vernetzung und Kooperation
– Interreligiöser und interkultureller Dialog
Religionen in Frankfurt/interreligiöser Dialog auf Stadt und
Stadtteilebene/der Frankfurter
Rat der Religionen/Kennenlernen der jüdischen Gemeinde –
Synagogenbesuch
– Jugendarbeit
u.a. die Bedeutung der Pubertät
und die Herausforderungen an
das soziale Umfeld/Sensibilisierung für die eigene Schlüsselrolle in der Jugendarbeit
Aspekte der Auswertung und
Perspektiven
Neben Auswertungen zu den einzelnen Veranstaltungen wurde mit
der Gruppe am Ende eine Gesamtauswertung gemacht. Dabei
sind folgende Punkte festzuhalten:
• Alle Themen wurden von den
Teilnehmenden für wichtig befunden
Vera Klinger, Magdalena Modler
• Als besonders bereichernd wurden die Einheiten zum politischen
System, Grundgesetz, Menschenrechten, Schulsystem sowie den Ausbildungsstrukturen
genannt
• Der Wunsch nach Unterstützung
beim Deutschlernen wurde thematisiert
• Insgesamt wünschte man sich
für zukünftige Veranstaltungen
noch mehr Zeit zum Verstehen
und Diskutieren und eher Halbtagesveranstaltungen in größeren Abständen.
Das Projektteam hatte während
der Veranstaltungsreihe den Eindruck, dass die Curriculumsinhalte
den Imamen und SeelsorgerInnen
halfen, mit den politischen, gesellschaftlichen und rechtlichen Strukturen in Deutschland vertrauter zu
werden. Ihr Repertoire an Basisinformationen und Handlungsoptionen für Beratung und Begleitung
wurde merklich erweitert. Insgesamt können Männer und Frauen,
die der Gemeinde als seelsorgerische Ansprechpartner gelten, nun
die Lebenssituation, die Lebensbedingungen und die Anforderungen der Gemeindemitglieder
besser einschätzen und ihre Arbeit
verstärkt danach ausrichten. Mehr
Wissen über die Strukturen und
das Leben in Deutschland können
ebenfalls helfen, selbst besser in
Deutschland und Frankfurt anzukommen und somit auch der Gemeinde ein „inneres Ankommen“
zu erleichtern und dieses positiv
zu begleiten. Nicht zuletzt war die
bessere Vernetzung untereinander, speziell unter den Imamen,
aber auch mit Vertretern und Vertreterinnen anderer Religionen ein
weiterer Schritt hin zu einer tragfähigen, nachhaltigen Zusammenarbeit, mehr Dialoginteresse und
einem gelungenen Miteinander
im Stadtteil/der Stadtgesellschaft.
Als besonders wichtig wurde
die Sensibilisierung der Imame
wie auch der SeelsorgerInnen für
die eigene Rolle und Verantwortung im Feld der Jugendarbeit
(Demokratiebildung oder Präventionsarbeit mit Jugendlichen,
Entwicklung neuer Formen der
Jugendarbeit) empfunden. Aufgrund der Entwicklung in der
Gruppe wurde ein Block zum Thema „Entwicklung in der Pubertät“
zusätzlich einbezogen, um diese
spezifische Entwicklungsphase für
Jugendliche, die „zwischen zwei
Kulturen“ sozialisiert werden, zu
verdeutlichen. An diesem Thema
weiterzuarbeiten ist aus Sicht der
Veranstalter sehr wichtig.
Es wurde deutlich, dass die Motivation, Deutsch zu lernen, im Laufe
der Fortbildung zunahm. Auch der
Symbolwert, der mit der Durchführung der Veranstaltungsreihe für
die „communities“ verbunden war,
darf nicht unterschätzt werden. Die
Teilnehmenden äußerten sich sehr
positiv über das Angebot und verbanden damit ein Gefühl erhöhter
Akzeptanz und Wertschätzung.
35
Religion und Migration: Signale der Veränderung
Verschiedene Frankfurter Institutionen und Gruppen beteiligten
sich am curricularen Ablauf. Für
die ReferentInnen der Behörden
oder im Stadtteil vorhandener
Gremien wie z.B. die Ortsbeiräte
war dies oftmals der erste Kontakt
mit muslimischen Vertretern.
Die Aufnahme der weiblichen
Teilnehmenden und die gemeinsame Arbeit in der Gruppe war
für die Männer und Frauen ein
anfangs ungewohntes Setting, hat
sich aber schnell eingespielt und
unseres Erachtens bewährt. Die
verstärkte Bemühung um weibliche Teilnehmende ist unbedingt
notwendig, da die Kommunikationswege in diesen Teilen der
Moscheevereine teilweise anders
strukturiert sind (viel stärker über
mündliche Verbreitung und Bekanntmachung als über informelle
Kanäle). Die Arbeit mit Frauen- und
Mädchengruppen ist ein wichtiger
Bereich, der für Multiplikatorinnen
in die Familienstrukturen hinein
sorgen und damit eine nachhaltige Wirkung der Weiterbildung
und ihrer Themen innerhalb der
Zielgruppe begünstigen kann.
Der im Laufe der Fortbildung
immer wieder formulierte Wunsch,
die Möglichkeit zu haben, sich gesellschaftlich einzubringen, mit zu
gestalten und Deutsch zu lernen,
ist sicherlich auch der Tatsache
geschuldet, dass von den ReferentInnen dazu ganz konkrete und daher direkt in die Praxis umsetzbare
36
Anregungen gegeben wurden.
So wurden eigene Kooperationsund Partizipationsmöglichkeiten
angesprochen und dabei vermittelt, dass eben diese den Vereinen
Möglichkeiten eröffnen können,
sich konstruktiv und selbstbewusst
in gesellschaftliche Prozesse einzubringen.
„Die Fortbildung hat uns eine
weitere Tür in diese Gesellschaft
geöffnet“ sagte ein Teilnehmer –
diese Botschaft gilt es lebendig
zu halten für die bereits Beteiligten, aber ebenso für mögliche
Folgeveranstaltungen. Denn: für
Seelsorger und Seelsorgerinnen
aus Gemeinden anderer Bekenntnisse, die ebenfalls eine Zuwanderungsgeschichte aufweisen, gelten oftmals vergleichbare Ausgangsbedingungen.
Rahmung einer Fortbildung für
Seelsorger und Seelsorgerinnen
anderer Bekenntnisse
Die Ausgangsbedingungen für
SeelsorgerInnen beispielsweise
aus dem christlichen Spektrum
oder auch in buddhistischen Gemeinden können ähnlich sein: in
vielen Fällen kommen sie aus Ländern mit völlig anderen kulturellen
und gesellschaftlichen Strukturen,
verfügen in manchen Fällen über
keine klar formalisierte Ausbildung, wissen wenig über das Leben in Deutschland und ebenso
wenig über die Bedingungen, unter denen ihre Gemeindemitglie-
Vera Klinger, Magdalena Modler
der in Deutschland leben. Soweit
man sich als Verein organisiert,
muss vieles ähnlich wie in den
muslimischen Gemeinden ehrenamtlich geleistet werden – oftmals
sind SeelsorgerInnen die einzigen
Angestellten eines Vereins, der
sich vorwiegend aus Spenden und
Mitgliedsbeiträgen finanziert. Eine
weitere Ähnlichkeit ist häufig ein
vergleichbar hohes Maß an Einfluss und Autorität, das die SeelsorgerInnen in ihren Gemeinden
und bei den Gläubigen genießen.
Durch die Eingebundenheit in
kirchliche Strukturen oder durch
deren Unterstützung können SeelsorgerInnen aus evangelisch/freikirchlichen, katholischen und orthodoxen Gemeinden teilweise
zwar auf schnellere strukturelle und
praktische Hilfestellungen (Wohnung, Sprachkurs, etc.) gerade in
der Anfangsphase zurückgreifen.
Jedoch wird trotzdem ein ähnlicher Bedarf für folgende Bereiche
von ihnen selbst formuliert:
• Vertrauter werden mit gesellschaftlichen, politischen und
rechtlichen Strukturen
• Erweiterung des Repertoires an
Basisinformationen und Handlungsoptionen für Beratung und
Begleitung
• Fähigkeit zu einer besseren Einschätzung der Lebenssituation,
der Lebensbedingungen und
-anforderungen der Gemeindemitglieder, bzw. eine verstärkte
Ausrichtung der seelsorgerischen Arbeit danach
•Das eigene Ankommen im deutschen Leben und deutschen
Strukturen, um seelsorgerisch
adäquat begleiten zu können.
Im Rahmen der Abschlussevaluation der Imamefortbildung
wurden von den Teilnehmenden
folgende Themen formuliert, die
für weitere Fortbildungsmodule
interessant sein könnten:
•Konkrete Vereinsprobleme/
Konfliktmanagement
•Pädagogische Fragen
•Interkulturelle Kommunikation/
„deutsche Kultur“
•Jugend und Sport
•Interreligiöser Dialog in
Deutschland
•Presselandschaft und Umgang
mit den Medien
•Deutschkurse
•Seelsorge/Kontakt zu SeelsorgerInnen aus anderen Gemeinden
Die hier genanntenThemen könnten allesamt ebenfalls für den Alltag, die Weiterbildung und Orientierung von SeelsorgerInnen auch
anderer Bekenntnisse von Nutzen
und Interesse sein.
Fazit
Das Projektteam empfiehlt die
Sondierung von Möglichkeiten
für die Weiterbildung auch nichtmuslimischer SeelsorgerInnen, die
Zuwanderergemeinden betreuen.
Gerade in Großstädten wie Frank37
Religion und Migration: Signale der Veränderung
furt scheint es einen Mangel an
Bedarf nicht zu geben: Dies hat
auch die Diskussion während
der hier dokumentierten Tagung
deutlich gemacht. Für ein solches
Fortsetzungsprojekt könnte auf
Bausteine des bereits erarbeiteten
und evaluierten Curriculums zurückgegriffen, manches auch ohne Veränderung übernommen
werden. In verschiedenen Unterpunkten wäre es sinnvoll Themen
für eine neue Zielgruppe spezifisch anzupassen und erweitert
aufzubereiten. Dies wäre eine zukunftsweisende Perspektive, da
sich die Imamefortbildung in vielerlei Hinsicht als „Zweibahn-Straße“ erwiesen hat: nicht nur für die
Teilnehmenden und die von ihnen
betreuten Gemeinden, sondern
auch für die ReferentInnen und
die beteiligten Institutionen ergab
sich ein breites Feld von Lern-, Begegnungs- und Öffnungseffekten.
38
Podium 1: Veränderungen auf der Gemeindeebene
Podiumsgespräch 1
Veränderungen auf der Gemeindeebene
In dieser Podiumsdiskussion wollten wir der Frage nach der Pluralität innerhalb der Religionen nachgehen und zwar nicht, wie es derzeit vorwiegend geschieht, innerhalb des Islam, sondern innerhalb des Christentums, als der bei uns etablierten kulturbildenden Religion. Auch hier gibt
es Pluralitäten, die in unsere Kultur und Geschichte eingegangen sind, die
uns aber oft gar nicht mehr bewusst sind. Es gibt den Katholizismus, den
Protestantismus, die Christen in ihren muttersprachlichen Gemeinden,
ob portugiesisch oder afrikanisch und es gibt die Orthodoxie mit ihren jeweils nationalen Ausprägungen, ob russisch, rumänisch oder griechisch.
Die Fragen, die sich dabei stellen, betreffen die Gemeinsamkeiten und
die Unterschiede, wie sie sich in den letzten Jahren in den verschiedenen
Gemeinden in Frankfurt entwickelt haben. Wo sind die Schnittmengen, in
denen sich die Religion und die Kultur in den Gemeinden näher kommen
können und wo sind die Grenzen, in denen die Gemeinden für sich selbst
bestehen bleiben wollen?
Podiumsteilnehmerinnen und -teilnehmer:
Dietmar Will
Pfarrer für Ökumene in Frankfurt/M bei den Dekanaten Mitte-Ost und Süd
Brigitta Sassin
Referentin für die Katholiken anderer Muttersprache und für Christlich-Islamischen Dialog für
das Bistum Limburg in Frankfurt/M
Paulo Caldeira Pereira
Pastoralreferent der portugiesischsprachigen Gemeinde Frankfurt/M und Wiesbaden
Karl Schermuly
Pfarrerbeauftragter der Gemeinde St. Lioba auf dem Ben-Gurion-Ring in Frankfurt/M - Bonames
Athenagoras Ziliaskopoulos
Archimandrit des Ökumenischen Patriarchats, Pfarrer der Kirchengemeinde Prophet Elias in
Frankfurt/M (Griechisch-orthodoxe Metropolie von Deutschland), Vorsitzender im Rat der Religionen
Moderation:
Karin Fuhrmann
Hessischer Rundfunk
39
Religion und Migration: Signale der Veränderung
Herr Caldeira Pereira, erzählen Sie
uns doch, warum es eine eigene
portugiesischsprachige Gemeinde gibt und Sie ihren portugiesischsprachigen Gottesdienst in
einer befreundeten Kirche abhalten?
Paulo Caldeira Pereira:
Weil mein Glaube und meine Identität, meine Gefühle und Wurzeln in
der portugiesischsprachigen Gemeinde sind. Wir sind nicht mehr
eine traditionell portugiesische
Gemeinde, wir sind eine portugiesischsprachige Gemeinde. Was
uns verbindet, ist die Sprache.
Natürlich ist es auch die Religion
und der Glaube, es ist aber vor
allem die portugiesische Sprache,
über die wir versuchen, auch zu
anderen portugiesischsprachigen
Gemeinden, wie den Angolanern
oder Brasilianern Brücken zu bauen.
Ich will das an meinem Beispiel
illustrieren. Ich bin 1991 als Aufbaustudent und Gastarbeiter nach
Frankfurt gekommen. Als ich mit
meinem Studium in Lissabon fertig
war, brauchte man hier jemanden,
der die portugiesisch-katholische
Gemeinde und die Mission betreute. Das heißt, am Anfang war
ich selber ein Ausländer und Gastarbeiter. Jetzt bin ich zu fünfzig
Prozent Portugiese und der Rest
ist ein bisschen offen. Ich kann
auf Deutsch, aber auch auf brasilianisch und italienisch träumen
und fühlen. Ich spreche Deutsch
mit portugiesischem Akzent und
40
vielen Fehlern, aber das gehört zu
meiner bikulturellen oder multikulturellen Identität, zu meiner
Persönlichkeit. Das sehe ich als
eine Bereicherung und hoffe, dass
es auch für die Menschen, die ich
betreue, eine Bereicherung ist.
Die ersten Jahre hier waren
schwierig. Sich an die deutsche
Sprache und Kultur anzupassen
und eine ganz fremde Welt zu erleben, war nicht einfach. Ich hatte
aber das Glück, eine große Unterstützung zu bekommen, und wenn
ich an meine Geschichte denke, ist
das auch die Geschichte meiner
Gemeinde. Mitte der sechziger
Jahre sind die Gastarbeiter, die
Portugiesen, die Italiener, auch die
Griechen hierher gekommen und
haben gedacht, sie werden nur ein
paar Jahre bleiben. Die ersten Jahre waren auch sie hier noch nicht
angekommen. Sie gehörten noch
zu Portugal, zu Spanien oder zu
Griechenland. Inzwischen gehören wir alle zu dieser Gesellschaft.
Aber in einer eigenen Gemeinde?
Paulo Caldeira Pereira:
Ein Drittel meiner Arbeit ist, Menschen zu betreuen, die noch auf
dem Weg der Integration sind,
ob in der Kirche, oder in der Gesellschaft. Leute, die erst vor zehn,
fünfzehn Jahren nach Deutschland gekommen sind. Vor allem
die brauchen unsere Begleitung,
denn sie kommen in dieser Gesellschaft noch nicht zurecht. Das betrifft auch die zweite und die dritte
Podium 1: Veränderungen auf der Gemeindeebene
Generation. Auch wenn diese Jugendlichen bereits hier geboren
und aufgewachsen sind und hier
in die Schule gehen, wenn man
sie fragt, was für ein Landsmann
bist du, dann sagen sie: ich bin ein
Portugiese. Um diese Identität zu
stärken, brauchen wir unsere portugiesischsprachige Gemeinde.
Die katholische Lehre sagt zwar,
dass wir alle gleich sind, dass jeder Mensch das Ebenbild Gottes
ist, egal ob er gläubig ist oder
nicht, ob er muslimisch, jüdisch
oder evangelisch ist. Diese Universalitätslehre bzw. dieser Einheitsanspruch der katholischen Kirche
ist mir aber zu allgemein und geht
mir zu weit, denn wir sind doch
alle auch sehr verschieden – aber
darüber vielleicht später mehr.
Wie öffnen Sie sich, Herr Schermuly, als Gemeinde den Nationalitäten oder vielleicht auch den
unterschiedlichen christlichen Ausprägungen in der Gemeinde St.
Lioba auf dem Ben-Gurion-Ring?
Karl Schermuly:
Das ist schwierig zu sagen. Ich bin
1989 in die Gemeinde gekommen
und wurde gleich gefragt: „Schermuly ist aber nicht unbedingt ein
deutscher Name?“ Das war mein
Einstieg. Da habe ich gesagt,
natürlich ist das kein deutscher
Name, der kommt aus dem Französischen. Also väterlicherseits
komme ich vor vierhundert Jahren
aus Frankreich und mütterlicherseits vor fünfzig Jahren aus dem
Sudetenland. Ich bin also auch
Immigrant. Das ist zwar schon ein
bisschen länger her, aber das gehört auch zu meiner Geschichte.
Wenn ich mir heute meine Gemeinde anschaue, dann ist das
immer die Frage, wer öffnet sich
heute den anderssprachigen Gemeindemitgliedern. Dann habe
ich das Gefühl, ich bin einer der
wenigen Deutschen, die überhaupt noch in unserer Gemeinde
sind. Wenn ich durch die Reihen
schaue, dann sind das zu achtzig
bis neunzig Prozent Leute, die einen Migrationshintergrund haben, die sich in unserer Gemeinde
sonntäglich treffen und miteinander eine Gemeinde sind. So ist
das heute, es war nicht immer so.
Noch 1989 war St. Lioba eine Gemeinde, die aus dem mittelständischen Bereich kam und man spürte, dass wir zunehmend Migranten
auch in solche problematischen
Siedlungen bekamen. Ich habe
damals gesagt, wenn es irgendwo
in der Welt rappelt, dann hören wir
es drei, vier Jahre später am BenGurion-Ring. Als es also in Chile
problematisch war, kamen die
Chilenen, dann kamen die Eritreer, dann gingen die Grenzen zum
Ostblock auf und es kamen die
Einwanderer aus Osteuropa und
die vietnamesischen Boat-People,
also in gewisser Weise wurde es
auf dem Ben-Gurion-Ring immer
mehr ein kirchlicher Melting-Pot,
der die Aufgabe hatte, ankommende Leute zu integrieren, oder
ich sage es ein bisschen vorsich41
Religion und Migration: Signale der Veränderung
tiger, ihnen wieder ein Stückchen
Heimat zu bieten.
Ich denke, dass es vor allem darum geht, den Menschen, die aus
irgendwelchen Gründen irgendwo aus dieser Welt in diese Gemeinde an diesen Ort kommen,
ein Stückchen Heimat zu bieten.
Dabei spielt das Andocken an
Sprache eine sehr wichtige Rolle,
dass nämlich Menschen da sind,
die die gleiche Sprache sprechen.
Das ist ein wichtiger Punkt in der
Gemeinde. Aber ich denke, die
Tatsache, dass wir alle Katholiken
sind und ein gemeinsames Glaubensbekenntnis, ein gemeinsames Menschenbild und eine gemeinsame Liturgie haben, die sich
in irgendeiner Form für alle ganz
leicht beten und feiern lässt, das ist
ein ganz wichtiger Integrationsfaktor. Eine heilige Messe ist für die
Vietnamesen genauso bedeutsam
wie für die Chilenen, für die Eritreer genauso wie für die Italiener,
denn man kommt irgendwie mit.
Wenn ich im Ausland bin, gehe
ich ebenfalls gern in einen katholischen Gottesdienst, weil ich weiß,
ich komme da mit und ich habe da
ein Stück Heimat. Das ist für mich
ein wichtiger Punkt, Wege zu finden, dass Menschen an einem Ort
an Menschen andocken und dort
ein Stückchen Heimat finden können.
Hier haben wir also doch eher das
Bild „ein Dach für alle“. Frau Sassin, wenn man das jetzt im Blick
auf ganz Frankfurt ausweitet, über
42
die portugiesischsprachige Gemeinde und St. Lioba hinaus, wie
weit bewegen sich da die muttersprachlichen Gemeinden aufeinander zu und wie weit ist der
Gedanke der Integration unter
einem Dach, wie Herr Schermuly
es geschildert hat, in den anderen
Gemeinden präsent?
Brigitta Sassin:
Wir haben in Frankfurt ungefähr
140.000 Katholiken, davon sind
ein Drittel Katholiken anderer Muttersprache, das heißt, Katholiken,
die irgendwie eine Migrationsgeschichte oder eine Migrationsidentität haben. 40.000, das ist ein
Drittel. Wir haben schon seit Ende
des Zweiten Weltkriegs angefangen, hier im Bistum Limburg für
sie Orte des Glaubens zu schaffen,
um ihnen Heimat zu geben. Das
fing nach dem Zweiten Weltkrieg
an mit der ukrainischen Gemeinde, die ein Ort für die ehemaligen
Zwangsarbeiter aus der Ukraine
wurde, die hier geblieben sind,
und ging dann weiter mit der Gründung der Gastarbeitergemeinden, wie der spanischen und der
portugiesischen Missionen und
weiteren Gemeinden, wie der Kroatischen, die die neuen Migranten
aufgenommen haben. Wir haben
heute 23 Gemeinden mit Katholiken anderer Muttersprache plus
drei weitere Gottesdienstgruppen, die sich neu gebildet, bzw.
die sich zusammengeschlossen
haben und auf dem Weg zu einer
Anerkennung als Gemeinde sind.
Podium 1: Veränderungen auf der Gemeindeebene
Diese 23 Gemeinden sind sehr unterschiedlich. Es sind zum Teil sehr
große Gemeinden, wie die schon
erwähnte portugiesischsprachige
oder die kroatische Gemeinde,
mit bis zu fünfzehntausend Katholiken, wie bei den Kroaten oder
den Polen, und es sind ganz kleine
Gemeinden, wie die Vietnamesen,
die Tamilen oder die Ukrainer. Es
sind Orte, die Heimat bieten, ich
würde sogar sagen, Orte der Heilung sind, wo Menschen mit zum
Teil traumatischen Erfahrungen
in ihrer Biografie da sein dürfen,
ohne aufpassen zu müssen, wie
sie sprechen, wie sie sich verhalten, einfach da sein dürfen und
Kontakte finden.
Zu dem, was Herr Schermuly
sagte, will ich ergänzen, dass die
katholische Vielfalt weit größer
ist, als sie im Bewusstsein von uns
deutschen Katholiken verankert
ist. Wir haben auch unterschiedliche Riten, wir kennen nicht nur die
lateinische Messe, die römische
Messe, sondern wir haben hier in
Frankfurt auch die Maroniten, die
arabisch feiern, wir haben den
Gheez-Ritus aus Eritrea, Ukrainer
mit dem griechisch-katholischen
Ritus, die Rumänen, die Syro-Malabaren und die Syro-Malankaren
– also eine große Bandbreite an
unterschiedlicher Weise im Ritus
katholisch zu sein. Teilhabe, Teil
werden ist für uns Katholiken eigentlich klar, aber dann doch nicht
im Bistum, wenn es um dieses Miteinander in der Frankfurter Stadtkirche geht. Wie können solche
Migrantengemeinden und gleichzeitig die Realität der Gemeinden
vor Ort, die ja auch multikulturell
zusammengesetzt sind, wie kann
das funktionieren? Ich begleite auf
meiner Stelle seit fünf Jahren die
Katholiken anderer Muttersprache
und erlebe hier diese große Vielfalt. Auf die Wege, die jetzt vor uns
liegen, wo mehr Gespräch, mehr
Teilhabe auch in den Strukturen
stattfinden wird, bin ich sehr gespannt.
Es gibt auch verschiedene orthodoxe Gemeinden in Frankfurt. Herr
Ziliaskopoulos, worin liegen die
Gemeinsamkeiten und gleichzeitig die Unterschiede innerhalb der
Orthodoxie?
Athenagoras Ziliaskopoulos:
Die Orthodoxe Kirche ist von Natur aus vielfältig, das heißt, sie
war nie eine „Großmacht“, wenn
ich das so sagen darf. Wir haben
keinen Papst, wie die RömischKatholische Kirche, der über der
ganzen Kirche steht und das ist
auch der Weg, wie die Orthodoxen denken. Wir haben Ehrfurcht
vor der Katholischen Kirche und
vor ihrer Macht. Da sind in der
Vergangenheit tiefe Wunden entstanden. Die Orthodoxe Kirche
besteht aus vielen Nationalkirchen
oder Lokalkirchen. Es gab und
gibt es immer noch, die vier alten
Patriarchate Konstantinopel, heute
Istanbul, Alexandrien, Antiochien
und Jerusalem. Dann haben sich
im Zuge der Bildung von National43
Religion und Migration: Signale der Veränderung
staaten neue Patriarchate gegründet, meistens im 19. Jahrhundert
nach der Befreiung vom Osmanischen Reich, und so haben wir
die neueren Patriarchate, Moskau,
Belgrad, Rumänien, Bulgarien und
so weiter. Dann gibt es noch die
Erzbistümer Zypern und Griechenland, kleine autokephale oder autonome Kirchen, wie in Albanien,
Polen, Finnland, Tschechien, in der
Slowakei und in Estland.
Das Problem war, dass nach den
Migrationswellen in die USA, nach
Deutschland oder nach Schweden
sich anfangs kleine Gemeinden
gegründet haben, aus denen dann
größere Gemeinden entstanden
sind, die national geprägt waren.
Sie unterstehen dann den jeweiligen Jurisdiktionen des Herkunftslandes, die sie annahmen. Alle
diese nationalen und autokephalen Kirchen, diese Patriarchate und
Erzbistümer und so weiter bilden
weltweit die eine Orthodoxe Kirche. Diese Kirchen sind aber selbständig und haben ein eigenes
Oberhaupt und eine eigene Synode. Wenn es der Fall sein sollte
und ein pan-orthodoxes Problem
auftaucht, gibt es ein Treffen der
Oberhäupter dieser Kirchen. Alle
orthodoxen Kirchen, unabhängig
davon, wie sehr national sie geprägt sind, haben dieselben Dogmen, dieselbe Struktur, denselben
Ritus, dieselbe Liturgie, nur die
Sprache ist anders. Aufgrund der
Herkunft und der Sprache haben
sich auch hier in Deutschland orthodoxe Gemeinden gegründet,
44
die national geprägt sind. Nicht
nur der Sprache wegen, sondern
auch des Zusammenkommens,
auch der kleinen, feinen Unterschiede im Ritus oder in den Gebräuchen und Traditionen und
wie auch schon meine Vorredner
gesagt haben, weil man mit der
Gründung einer Kirchengemeinde auch ein Stück Heimat gewinnen wollte.
Immer noch kommen sehr viele Pfarrer, die hier in Deutschland
tätig sind, aus den Herkunftsländern für zwei, fünf oder mehrere
Jahre, und die meisten von ihnen
sprechen kaum deutsch. Es gibt
wenige, die hier geboren und
aufgewachsen sind. Das ist natürlich ein Problem. Sie kennen
nur das Eigene und können nicht
nach außen auftreten. Auch die
Kommunikation innerhalb der Orthodoxen ist meistens schwierig,
weil man die gemeinsame Sprache Deutsch nicht benutzen kann.
Die meisten Pfarrer sprechen nur
ihre eigene Sprache und wie bei
vielen Muslimen ist es auch bei
uns keine Pflicht, dass die Pfarrer auch Theologen sind. Es gibt
Pfarrer in Deutschland, die Automechaniker, Bäcker oder andere
Berufe haben. Das macht natürlich die Kommunikation untereinander sehr schwer. 1994 wurde
die Kommission der Orthodoxen
Kirche in Deutschland gegründet.
Das war die Initiative einiger Laien
und Geistlichen, aber die Bischöfe
haben das begrüßt, und es ist so
weit gekommen, dass im Februar
Podium 1: Veränderungen auf der Gemeindeebene
2010 in Deutschland eine Orthodoxe Bischofskonferenz gegründet wurde. Jetzt wird angestrebt,
dass man auch lokale Verbände
oder Arbeitsgemeinschaften der
Orthodoxen bildet, wenn es auch
recht schwierig ist.
Ich komme zu Frankfurt. Ich bin
einer der wenigen orthodoxen
Pfarrer in Frankfurt, der einigermaßen gut deutsch spricht, weil
ich hier geboren und aufgewachsen bin. Es gibt zwei russische Gemeinden und einer der russischen
Kollegen spricht kaum deutsch.
Es gibt andere, die etwas deutsch
sprechen. Das erschwert die Kommunikation natürlich sehr. Wir sind
jetzt dabei, in Frankfurt einen Verband oder eine Arbeitsgemeinschaft der orthodoxen Gemeinden zu gründen, denn in Frankfurt
leben ungefähr dreißigtausend
orthodoxe Christen. Das ist eine
enorme Zahl, die täglich durch
die Einwanderung aus Rumänien,
Russland, der Ukraine und auch
aus Georgien wächst. Was die
eigenen Gemeinden angeht: Jeder hat die eigene Sprache mitgebracht. Bei den Griechen ist es
besonders schwierig, weil wir eine
sehr alte Sprache benutzen, die
Koine, das ist die Sprache, in der
das Neue Testament geschrieben
worden ist, das ist unsere BibelSprache. Wenn ein Grieche in einen russischen Gottesdienst geht,
dann fühlt er sich nicht wohl, genauso wie ein Portugiese, der zu
einem deutschen katholischen
Gottesdienst geht, weil der Got-
tesdienst anders ist. Man versucht
deswegen das Eigene zu bewahren und nach außen zu zeigen,
dass man sich hier integrieren und
hier bleiben, dass man hier Wurzeln schlagen möchte. Ein Aspekt
noch: Die Jugend ist diejenige,
die am meisten heute die Traditionen neu entdeckt und an die alten
Bräuche und Traditionen und auch
an der alten Sprache festhält.
Bei dem Gesamtbild, das sich hier
abzeichnet, möchte ich Herrn Will
in die Diskussion einbeziehen. Wir
haben gehört, es gibt viele Unterschiede, die mit den Herkunftsländern zu tun haben, aber teilweise
auch mit den Riten. Die Gottesdienste zum Beispiel werden oft
unterschiedlich gefeiert. Inzwischen haben wir es längst nicht
mehr mit der zweiten Generation
der Einwanderer zu tun, sondern
oft schon mit der dritten oder der
vierten Generation. Kann man
denn jetzt in der Gesamtsicht sagen, bei allem, was man an Unterschieden erkennen oder benennen kann, wir müssen uns nun
noch viel stärker auf den Weg zu
gemeinsamen Gemeinden begeben?
Dietmar Will:
Als Pfarrer für Ökumene der Evangelischen Kirche in Frankfurt bin
ich abgeordnet, den Internationalen Konvent christlicher Gemeinden Rhein-Main e.V. mit zu betreuen. Ich denke, wir müssen hier
prozesshaft denken, also sehen
45
Religion und Migration: Signale der Veränderung
und akzeptieren, dass es ein allmähliches Hineinwachsen in eine
Gesellschaft gibt. Ein kleines Beispiel in der Frankfurter Stadtgeschichte zeigt das ganz gut. Die
Französisch-reformierte Gemeinde, ist eine Flüchtlingsgemeinde,
die sich aus Glaubensflüchtlingen
zusammensetzt, die aus Belgien
und Holland hierher gekommen
sind. Sie haben bis in die letzten
Jahre hinein einmal im Monat einen französischsprachigen Gottesdienst gefeiert. Sie mussten
dafür sogar einen Prediger aus
Straßburg einfliegen lassen. An
der Stelle denke ich, ist es ganz
gut, nicht in Entweder-Oder-Kategorien zu denken, sondern diese
Berechtigungen, wie sie hier formuliert wurden zu akzeptieren.
Sprache ist ein wichtiger Faktor
der Beheimatung. Deshalb ist es
wichtig, die Herkunftssprache und
die Zweisprachigkeit zuzulassen.
Ich kenne viele Gemeinden in
Frankfurt, da wachsen in der zweiten und in der dritten Generation
Menschen heran, die neugierig
sind auf das, was die Elterngeneration mitbringt, und da gehört
die Sprache dazu. Das ist ein Stück
ihrer Identität. Ein Beispiel ist die
Griechisch-orthodoxe Gemeinde,
dass jetzt auch dort denkbar wird,
dass auch deutschsprachige Elemente in die Liturgie integriert
werden. Dieses Allmählichhineinwachsen, diese Geduld und diese Zeit müssen wir uns nehmen.
Deswegen denke ich, wir haben
da als Stadtgesellschaft, aber auch
46
als Kirche, als protestantische Kirche an der Stelle ein Stück weit zu
lernen, was es heißt, Teil einer Einwanderungsgesellschaft zu sein,
also das je Eigene zu sehen und
zu akzeptieren und auch dazuzustehen, aber dann auch das andere wahrzunehmen. Wie wir heute
Morgen gehört haben, ist ja das
Ganze auch sehr viel mit Angst
besetzt, das heißt doch auch, mit
Emotionalität verbunden. Emotionalität und Angst und was auch
immer noch dazu kommt, kann
man nicht wegrationalisieren.
Dem kann ich nicht argumentativ
begegnen, sondern muss Zwischenräume bzw. geschützte Räume des Sich-begegnens und des
Sich-aufeinander neugierig machens schaffen.
Stehen Sie da als Protestant vor einer anderen Herausforderung als
die Katholische Kirche?
Dietmar Will:
Wir stehen da an der Stelle ganz
klar als Evangelische Kirche. Wir
sind eine territorial verfasste Kirche
und für uns ist diese Frage anders
als bei der Katholischen Kirche
noch lange nicht institutionell oder
von der Verfasstheit her geklärt. Ein
kleines Beispiel: Wir als Evangelische Kirche Hessen-Nassau, diese
Territorialkirche die wir sind, hat
2001 eine koreanische Gemeinde
und 2005 eine indonesische Gemeinde aufgenommen. Das heißt,
wir selbst müssen für uns als Landeskirche definieren, was es denn
Podium 1: Veränderungen auf der Gemeindeebene
heißt, Teil einer Einwanderungsgesellschaft zu sein. Ich begleite diesen Prozess und merke auf einmal,
wie wichtig Sprache ist, aber auch,
wie wichtig es ist, die Menschen
auf diese Reise mitzunehmen. Wir
können nicht meinen, dass das,
was in Prozessen von zwei- oder
dreihundert Jahren geschehen
ist, in einem Schnelldurchlauf von
zehn oder fünfzehn Jahren getan
ist. Wir müssen die Geduld aufbringen und das Ganze entschleunigen. Das ist gewissermaßen meine Aufgabe: Brücken zu bauen,
neugierig zu machen, immer wieder zu sagen, was ist uns gemeinsam, sich dabei aber auf keinen
Schmusekurs begeben, sondern
auch zu sagen: was trennt uns. Zu
erkennen, wo auch harte Diskurse
zu führen sind und die dann produktiv nicht in den Medien, sondern unter vier Augen in den kleinen, geschützten Gruppen führen.
Ich habe ähnlich wie Magdalena
Modler in ihrem Beitrag zur Islamfortbildung berichtet hat, bereits
2004 eine Fortbildung für Gemeindeleiter in den Migrationsgemeinden, die im Großen und Ganzen überwiegend Laien sind, die
das nebenamtlich machen, angeboten. Da haben wir zum Beispiel
im ersten Durchgang das Thema
Homosexualität diskutiert. Das ist
innerhalb der Christen auch immer noch ein umstrittenes Thema.
Da war es dann produktiv, auch
für das je Eigene zu stehen, aber
auch den Anderen so zu sehen,
wie er/sie ist und das akzeptieren
zu lernen. Ab einem bestimmten
Punkt gibt es dabei nur noch das
Aushalten. Das ist ein Punkt, wo es
an die Schmerzgrenze geht, aber
das auch gegenseitig aushalten
und klar zu definieren, was unser
Common Sense ist, also auf welchem Boden wir stehen, ist wichtig. Das sind die eigentlichen Lernprozesse auch in der Ökumene, zu
sagen bzw. zu definieren, was uns
gemeinsam ist, was uns verbindet.
An den Rändern gibt es natürlich
auch Gruppen, von denen wir uns
abgrenzen müssen. Das ist mein
Plädoyer für die Kirchen und da
könnten wir auch ein produktives
Beispiel für die Gesellschaft sein.
Ich würde hier gern die Frage nach
der seelsorgerische Tätigkeit mit
einschließen. Wie ist da die Rolle
der Kirche?
Paulo Caldeira Pereira:
Auch hier ist die Rolle der Kirche
sehr vielfältig. Wir haben Konflikte
und Probleme wie jede Gemeinde, aber wir sind nicht uniform, da
stimme ich mit Ihnen voll überein.
In der katholischen Lehre ist die
Universalität ein wichtiges Thema. Der Papst muss Pontifex sein,
er sollte aber auch ein Brückenbauer, der erste Brückenbauer
überhaupt sein. Zur Lehre der
Katholischen Kirche gehört, dass
die Kirche universal ist, aber neben der Universalität gibt es auch
den Pluralismus und das ist etwas
Gesundes und Gutes. Es funktioniert nicht so, wie Sie das, mein
47
Religion und Migration: Signale der Veränderung
evangelischer Mitbruder, gesagt
haben, nach in diesen EntwederOder oder Weder-Noch Mustern.
Wir können unseren Kindern, die
hier geboren sind, sagen, was für
einer bist du, du bist weder Türke
noch Deutscher, also was für einer
bist du. Das ist eine Abwertung
von Jemandem, denn es ist gut,
vieles zu sein. Wir haben nichts
dagegen, wenn einer aus England
kommt und mehrere Sprachen
spricht und wir sagen toll, er kann
mehrere Sprachen. Aber einer, der
hier lebt und mehrere Sprachen
spricht und in mehreren Kulturen
lebt, dem machen wir Schwierigkeiten und sagen, du bist „weder/
noch“. Das finde ich schlimm. Ich
glaube, dieses „Inter“, die Begegnung zwischen Menschen aus
verschiedenen Kulturen, zwischen
verschiedenen Religionen ist eine
sehr wertvolle Sache. Deshalb
soll man dem Raum geben und
es pflegen. Ich kann meine Geschichte und meine Wurzeln nicht
verstecken oder verbergen. Wenn
ich das nicht tue, fühle ich mich in
dieser großen Gesellschaft verloren. Wenn ich meine Geschichte,
Identität und Sprache nicht pflege
und akzeptiere, dann bin ich ein
Nichts.
Ich will noch einmal die Rolle der
Muttersprache näher betrachten.
Herr Ziliaskopoulos, Sie haben
gesagt, dass es innerhalb der Orthodoxie sehr viele Verständnisprobleme gibt. Man ist oft in einer
anderen Sprache zu Hause. Wenn
48
jetzt darüber gesprochen wird,
dass man sich im Gottesdienst
ohne jedes Wort zu verstehen, aufgehoben fühlen kann. Wie ist das
mit den anderen Aufgaben der
Gemeinden, zum Beispiel mit der
Seelsorge? Wie wichtig ist da eine
muttersprachliche Betreuung und
wie wichtig ist dabei die integrative Arbeit? Die Frage geht aber
auch an die anderen Podiumsteilnehmer.
Athenagoras Ziliaskopoulos:
Das ist auf jeden Fall sehr wichtig
und es ist von Familie zu Familie
unterschiedlich. Es gibt Familien,
in denen hauptsächlich Deutsch
gesprochen wird oder vielleicht
eine andere Sprache. Es gibt Familien, in denen nur Griechisch
oder Russisch gesprochen wird.
Es ist von Situation zu Situation
verschieden. Bei der pastoralen
Tätigkeit ist der Pfarrer nicht nur
für den Gottesdienst zuständig,
er muss ein ganzes Spektrum von
Aufgaben bedienen können. Das
fängt mit der Krankenhausseelsorge an, geht von Übersetzer und
Dolmetscher bis hin zu Problemen
in der Familie, wenn Konflikte da
sind. Der Priester wird auch oft in
Häuser und Familien eingeladen,
um ein Gebet zu sprechen oder
ein Haus zu segnen. Was die Seelsorge in Bezug auf die Sprache
betrifft, ist es so, dass, obwohl man
im sonntäglichen Gottesdienst die
eigene Sprache hören möchte, es
zum Beispiel bei Hochzeiten oder
Taufen anders ist. Da wünschen
Podium 1: Veränderungen auf der Gemeindeebene
sich die Eltern oder die Paare,
dass auch etwas auf Deutsch oder
überwiegend auf Deutsch gesagt
wird, damit die deutschen Gäste das verstehen. Hier sieht man,
dass es den Wunsch gibt, den eigenen Glauben und die Riten zu
zeigen, aber der Mehrheitsgesellschaft oder den Freunden gegenüber auch gastfreundlich zu sein.
Ein Problem, das ich bei vielen
Orthodoxen kenne, ist, man sucht
natürlich die Integration, man fühlt
sich hier wohl und integriert, aber
man möchte nicht die deutsche
Staatsangehörigkeit annehmen,
denn man verbindet den Pass mit
einem gewissen nationalen Stolz.
Das ist ein großes Thema.
Brigitta Sassin:
Ich glaube, die Kunst liegt in der
Begrenzung. Unser Thema ist Religion und Integration auf die christlichen Zuwanderergemeinden hin
und auf die Mischung in den ehemals deutschsprachigen Gemeinden. Daran haben wir uns bisher
gehalten. Sprache ist mehr als
nur das gesprochene Wort. Meine
Erfahrung ist, dass auch das Nonverbale dazu gehört. Dazu gehört
das Gesprochene, das Unausgesprochene und das Unaussprechbare, nämlich auch die Tiefendimension, die Werte hervorbringt
und der Bedeutungshorizont. Das
alles gehört dazu. Deshalb ist es
für unsere katholischen muttersprachlichen Gemeinden wichtig,
dass sie beides reflektieren, die
Herkunftskultur und die deutsche
Umgebung zum Beispiel im Umgang mit Konflikten. Wir haben
mit Seelsorgern und Seelsorgerinnen darüber nachgedacht, mit
welchen Fragen die Paare oder
Ehepaare zu uns kommen. Welchen Umgang mit Krisen sie aus
ihrer Herkunftskultur kennen, mit
welchen Modellen werden sie hier
konfrontiert, um dann kulturspezifisch etwas Neues zu entwickeln.
Was könnten gute Antworten sein
und auch eine Vernetzung zu unserem Beratungsangebot.
Karl Schermuly:
Man muss dennoch fragen, ob
man für jedes seelsorgerische
Einzelgespräch das in der Muttersprache anders zu handhaben ist
als in der deutschen Sprache, weil
man die Feinheiten der Gefühle
und Emotionen anders gewichtet,
eine muttersprachliche Gemeinde
braucht. Das würde ich bezweifeln.
Meine Position ist, wir sollen als Katholische Kirche überlegen, ob wir
nicht für Kinder und Jugendliche
der zweiten und dritten Generation unter Umständen damit Strukturen aufrecht erhalten, die wieder
einer Trennung Vorschub leisten.
Ich habe da große Sorge, dass
Jugendliche auf ihre Herkunft, z.
B. auf ihr Portugiesisch- oder Griechischsein, festgelegt werden. Genau das wollen wir ja nicht mehr.
Ich habe in der zwölften Klasse
dreißig Schüler, davon sind zwölf
Muslime, alle anderen kommen
aus allen möglichen Religionen.
Wenn ich sage: „Jasmin vom Na49
Religion und Migration: Signale der Veränderung
men her sind Sie Portugiesin“,
dann antwortet sie: „Nein, ich bin
Deutsche und gehe in Ober-Eschbach in die Katholische Kirche“.
Die Jugendlichen wollen nicht
mehr darauf festgelegt werden.
Ich denke, es gibt Ungleichzeitigkeiten von Integration, denen
müssen wir gerecht werden. Wir
müssen diese Ungleichzeitigkeiten benennen und nicht meinen,
wir hätten das gleiche Konzept
für die portugiesische Großmutter und für die Abiturientin, die
deren Enkelin ist. Es gibt nicht
nur muttersprachliche orthodoxe Gottesdienste in Frankfurt. Bei
uns in der Gemeinde läuft derzeit
ein deutschsprachiger eritreischer
Gottesdienst. Es ist ein interessantes Projekt der Eritreischen Orthodoxen Kirche, die für Jugendliche
in unseren Gemeindehäusern einen Gottesdienst macht, der sehr
gut besucht ist und der in Deutsch
stattfindet. Pater Paulus sagt, ich
mache das bewusst auf Deutsch,
weil das die Sprache ist, die uns
hier verbindet und die die Jugendlichen sprechen.
Paulo Caldeira Pereira:
Mein Bischof ist der Nachfolger
von Franz Kamphaus und ich bin
ein Teil dieser Gesellschaft und ein
Teil dieser Kirche. Als ich hier hergekommen bin, hat mir einer gesagt, Paulo, in der Kirche brauchst
du keinen Pass, du bist hier ein
Christ, und ich wurde aufgenommen als einer, der hier gleichberechtigt ist. Wo ich mich ausge50
schlossen fühle als Portugiese
nach fast zwanzig Jahren, ist von
der Politik, weil ich hier nicht wählen darf. Ich könnte Deutscher sein,
aber ich kann nicht ein Deutscher
sein, weil ich zuerst ein Portugiese
bin. Da fühle ich mich mit acht Millionen Menschen in Deutschland
ausgeschlossen. Das ist die Grenze der Integration. Da kommen wir
im Moment leider nicht weiter und
das wäre auch eine andere, eine
politische Diskussion.
Die Religion bzw. die Gemeinden helfen auf jeden Fall auf dem
Weg der Integration. Deswegen
sind mir meine Gemeinde und
die Gemeinden von meinen Mitbrüdern wichtig, weil ohne diese
Gemeinden 10.000 oder 15.000
Portugiesen in dieser Gesellschaft
verloren wären. Sie würden nicht
zu Herrn Schermuly gehen. Meine portugiesischen Jugendlichen
sind jetzt dreißig Jahre alt, ihre
Muttersprache ist Deutsch, aber
sie brauchen die Gemeinde noch.
Wenn ich sagen würde, „Abschaffen, braucht man nicht, alle sollten
jetzt deutsch sprechen und zu dem
deutschsprachigen Gottesdienst
gehen“, das würden sie nicht machen. Deswegen sind wir als Vermittlungsgemeinde wichtig, denn
fünfzig Prozent unserer Arbeit ist
die Betreuung und die Pflege der
Wurzeln dieser Leute. Die anderen
fünfzig Prozent sind zu sagen, du
hast das Recht, hier zu sein, versuche hier gut zu leben.
Podium 1: Veränderungen auf der Gemeindeebene
Athenagoras Ziliaskopoulos:
Natürlich ist Religion ein wichtiger
Faktor für Integration. Ich spreche
jetzt nur für das Christentum und
wie wir es als christliche Migranten kennen. Unsere Eltern kamen
hierher als Gastarbeiter. Das einzige was sie mitbrachten, waren
die Sprache und die Religion und
sie haben Kirchengemeinden gegründet, weil das für sie wichtig
war. Sie haben dieses Land mit
aufgebaut. Bis heute gibt es parallel zu den Kirchengemeinschaften
bzw. zu den Kirchengemeinden
auch säkulare Gemeinden von
vielen Nationalitäten oder Heimatvereine. Aber da gehen immer
weniger Menschen hin als in die
Kirchengemeinden. Die Kirchengemeinden verbindet mehr als nur
die Nationalität und sie sind gerade deshalb ein wichtiger Faktor
für die Integration. Das Problem
ist, das die Mehrheitsgesellschaft
oft erwartet, dass wir unsere Sprache, vielleicht auch unsere Sitten
und Kultur ändern und dass wir ein
deutsches Denken, eine andere
Leitkultur annehmen. Das ist natürlich sehr schwierig, das können wir
nicht so schnell und das wollen wir
auch nicht. Ich habe da als Vorbild
die Jüdischen Gemeinden. Deren
Mitglieder sind Deutsche, aber sie
haben sich ihre Sprache, ihre Bräuche, ihre Sitten seit Jahrhunderten
bewahrt. Und ich glaube, das ist
ein sehr gutes Bild oder Symbol,
woran man sich orientieren kann.
Damit wären wir ganz nah an dem
Thema der Integration dran. Wenn
wir über Religion sprechen, dann
höre ich ganz klar heraus, dass
wenn es diese Gemeinden nicht
gäbe, diese Menschen für die Kirche oder für die Religion verloren
wären, abgesehen davon, dass sie
sich vielleicht bei bestimmten Fragen an die Gemeinden wenden
würden. Ist das so, Frau Sassin?
Brigitta Sassin:
Ja, ich sage immer, Gott spricht
zu jedem in seiner Muttersprache
und Gott spricht im Herzen. Diese Vielfalt müssen wir zulassen,
wir müssen nicht so uniform sein.
Wir dürfen sie zulassen und uns
daran sogar freuen. Wir sind auf
dem Weg dies als Katholisches
Bistum deutlicher wahrzunehmen
und auch deutlicher miteinander
darüber ins Gespräch zu kommen,
welche unterschiedlichen Modelle es gibt, damit die Territorialgemeinden für viele ein Ort der Heimat werden können. Wir sind aber
auch auf dem Weg, die Wertschätzung von gewachsenen Strukturen mehr zu verbreiten. Damit das
klar ist: Diese Strukturen sind ein
Schatz für unsere Kirche.
Ist es wirklich so, dass wenn das
nicht alles unter einem Dach ist,
die Leute der Kirche verloren gehen?
Karl Schermuly:
Ich denke, die Fragestellung ist
verkehrt. Diese Leute, mit denen
51
Religion und Migration: Signale der Veränderung
wir es zu tun haben, die gehen
nicht in irgendeine imaginäre Kirche, diese Leute sind die Kirche.
Sie sind Subjekte des Glaubens,
um die es uns gehen muss. Das
Evangelium sagt, die Sorgen und
die Nöte der Menschen sind die
Sorgen und die Nöte der Gemeinde Christi. Also die Sorgen und
Nöte sind nicht irgendein Potential, das ich bearbeiten muss, sondern sie sind ein Wert an sich. Zwei
biblische Impulse sind mir dabei
wichtig. Das Volk Israel ist vierzig
Jahre durch die Wüste gewandert, bis es ankam und eine neue
Heimat hatte. Das ist für mich ein
wichtiger biblischer Impuls: Menschen brauchen Zeit, um anzukommen, und sie brauchen Begleitung
durch viele Wüsten hindurch. Das
ist ein Wert an sich. Aber irgendwann ist es wichtig, dass die Menschen ankommen und dass sie ein
Zuhause haben. Ein biblisches Bild
von Paulus illustriert die Frage, ob
es um Gott oder nur um Integration geht, sehr gut. Er sagt: „Es gibt
nicht mehr Juden und Griechen,
Sklaven und Freie sondern ihr
seid einer in Christus“. Den Menschen, die zu uns kommen, dieses
Bewusstsein zu geben, das ist mir
wichtig. Zum Schluss noch ein aktueller Satz einer vietnamesischen
Frau, die bemerkte, als ich bei einem Gemeindefest sagte: „Diesen Teil übernehmen die Vietnamesen“, da bemerkte sie: „Stopp,
Herr Schermuly, wir sind der vietnamesische Teil der Gemeinde St.
Lioba“. Das ist das, was mir gefällt.
52
Wir haben jetzt an vielen Punkten gehört, dass es Unterschiede
und Gemeinsamkeiten gibt. Kann
man abschließend sagen, dass die
Gemeinschaft auf dem Weg ist?
Können Sie, Herr Will, einen Blick
in die Zukunft wagen? Können Sie
uns eine Perspektive zeichnen, wo
wir in zehn Jahren stehen werden?
Dietmar Will:
Das kann ich gerne tun, kann dabei allerdings nur für die Evangelische Kirche sprechen. Ich hoffe,
dass es ein Stück selbstverständlicher geworden ist, dass sich Christen und Christinnen aus anderen
Ländern in der Evangelischen Kirche beheimatet fühlen aus sprachlichen oder aus anderen Gründen
heraus. Ich denke, viele Christen,
die aus anderen Ländern kommen, suchen zuerst eine Heimat
über die Sprache, und ich glaube,
das ist nach wie vor ein wichtiger
Faktor, den man auch so stehen
lassen sollte. Für die Kirche würde ich mir wünschen, dass sie sich
mehr interkulturalisiert. So wie es
jetzt eine indonesische, eine koreanische oder eine Franzöischreformierte Gemeinde gibt, die im
übrigen auch frankophone Afrikaner integriert hat, dass wir lernen,
auch verschiedene Modelle zu leben und auszuprobieren und dass
wir es als Kirchen, und da würde
ich auch die Katholische Kirche mit
einbeziehen, dass wir es lernen,
den Migranten und Migrantinnen
ein Stück Eigenständigkeit und
Selbständigkeit zu lassen und sie
Podium 1: Veränderungen auf der Gemeindeebene
selbst formulieren zu lassen, was
sie brauchen und was sie wollen.
Der Internationale Konvent Christlicher Gemeinden ist so ein Organ,
wo Migranten und Migrantinnen
für sich selbst sprechen sollen. Ich
glaube, dass es auch wichtig ist,
Organe aus den Strukturen heraus
zu bilden, dass dieser Dialog jeweils in die eigenen Gemeinden,
in die eigenen religiösen Gruppen
hinein möglich wird, um das konstruktiv steuern zu können. Ich denke, Religion und Migration, das ist
immer nur ein Faktor bei der Integration. Denn über Schule, über
Arbeitsplatz, über die Viertel oder
Stadtteile da passiert auch sehr
viel. Interessant ist zu sehen, dass
Religion, ob islamisch, ob Sikh
oder ob christlich, eine ähnliche
Funktion hat. Das zu sehen und zu
stützen und auch an der Stelle als
Stadtgesellschaft wahrzunehmen
und zu helfen, das finde ich wichtig.
Hier würde ich mir wünschen,
die Debatte über Integration nicht
nur aus einem Defizit heraus zu
betrachten, sondern aus einer Ressourcendebatte heraus. Wir verlieren mit den Menschen, die wir
nicht für uns gewinnen, große Ressourcen. Mir geht es darum, das
nicht nur unter einem negativen
Vorbehalt zu diskutieren, sondern
zu sagen, dass gerade die Frankfurter Stadtgesellschaft es gelernt
hat, dass Zweisprachigkeit und
Interkulturalität ganz großartige
Ressourcen für eine Gesellschaft
bieten. Diese Schätze muss man
heben, und dazu braucht man
Instrumentarien wir es z. B. die
Kirchen, aber auch die Stadtgesellschaft sein können. Darin läge
dann der Beitrag der religiösen
Gruppen und zwar aller religiöser
Gruppen in einer Gesellschaft.
Eines ist wohl in diesem, Podiumsgespräch klar geworden: Es
gibt viele Brückenbauer, die am
Werk sind, aber, wenn man aus
zwei Richtungen eine Brücke baut,
muss das gut koordiniert und
kommuniziert sein, sonst stimmt
es in der Mitte nicht.
53
Religion und Migration: Signale der Veränderung
Khushwant Singh
Von Entfremdung und Orientierung.
Religiöse Unterweisung in der zweiten Generation
der Sikhs in Deutschland
„Sikhi ist ja cooler als ich dachte!“
„In der Schule sagen sie, ich hätte
einen Döner auf dem Kopf.“
(Zitate von Schülerinnen und Schülern des SikhReligionsunterrichts im Frankfurter Gurdwara)
Religiöse Unterweisung spielt in
allen bedeutenden Religionen
eine zentrale Rolle. Sie besteht
aus dem Vorleben bestimmter
Haltungen sowie der schriftlichen
und mündlichen Weitergabe religiöser Einsichten und Praktiken.
Das Leben vieler Menschen verändert sich jedoch stetig durch
technische Entwicklungen, Migration und Globalisierungsprozesse.
Indem der Grad an Individualität
und Pluralismus wächst, verändert sich auch das Verhältnis zur
Religion sowie ihrer Tradierung.
Am Beispiel der Sikh-Religion, im
Original als „Sikhi“ bekannt, wird
exemplarisch gezeigt, welchen
Herausforderungen vor allem
Sikhs der zweiten Generation in
Deutschland beim Erwerb religiöser Inhalte begegnen. Dabei werden historische Aspekte religiöser
Tradierung sowie gesellschaftliche
Herausforderungen der Sikh-Gemeinschaft beleuchtet.
54
Entstehung religiöser Überlieferungen
In den verschiedenen Religionen
haben sich unterschiedliche Unterweisungsstile und Tradierungsverständnisse entwickelt. In der
Regel spielen Schriften und religiöse Lehrer eine entscheidende
Rolle, da ihnen eine herausgehobene Autorität zuerkannt wird. Sie
vermitteln Inhalte und Praktiken,
die auf einen oder auf mehrere
religiöse Verkünder und deren
Anhänger zurück gehen. Zugleich
sind Lehrer Wächter und (Neu-)
Interpreten der Überlieferungen
in einem spezifischen historischen
Kontext.
Je nach kulturellen, sprachlichen, geographischen, wirtschaftlichen und technischen Einflüssen
sowie Interessen der Religionsbewahrer und -anhänger entwickelten sich die Religionen und ihre
Tradierungsformen auf je charakteristische Weise. Auch Kriege und
Missionierung spielen bei der
Verbreitung und Entwicklung von
Religionen und religiösen Tradierungsformen bis heute eine Be-
Khushwant Singh
deutung. Da in vielen Fällen die
Einsichten der Religionsbegründer
nicht persönlich niedergeschrieben, sondern überwiegend mündlich weiter gegeben wurden, entstanden erst im Laufe der Zeit
durch Verschriftlichung, Kommentierung sowie Kanonisierung kodifizierte Doktrinen. Es entwickelten
sich unterschiedliche, teilweise
auch konkurrierende religiöse Interpretationen und Schulen – auch
dort, wo die Begründer mit Bedacht auf dogmatische Auffassungen und Abgrenzungstendenzen
verzichteten. In einigen wenigen
Fällen, wie bei dem Meister Nanak
und seinen neun Nachfolgern, den
Stiftern der Sikh-Religion, hielten
die Begründer bereits zu Lebzeiten ihre Einsichten schriftlich fest.
Religionsunterricht durch Lehrer
Im Allgemeinen ist intellektuell geprägter Religionsunterricht in institutionalisierter Form von vorgelebter Unterweisung durch einen
Meister zu unterscheiden. Beim
Unterricht ist die Person des Lehrers eher sekundär. Das Wissen
und das Studium des Stoffes dominieren. Grundlage des teilweise
verpflichtenden Unterrichtes ist
ein auf der Theorie des Lehrens
und des Lernens aufgebauter
Lehrplan mit Lernzielvorgaben.
Bisweilen wird diese Form politisch privilegiert. Ein Beispiel ist
der christliche Religionsunterricht
an deutschen Schulen, der auf
die Katechese zurückgeht. In allen
Bundesländern mit Ausnahme der
bekenntnisfreien Schulen ist Religionsunterricht nach dem Grundgesetz Artikel 7, Absatz 3, ordentliches Lehrfach.
Unterweisung durch Meister
Die Unterweisung durch einen
Meister nimmt einen besonderen
Platz in den antiken mystischen
Traditionen ein. Auch in den bis
heute einflussreichen Weltreligionen wie dem Buddhismus oder
der Sikh-Religion spielt das Meister-Schüler-Verhältnis eine zentrale und jeweils spezifische Rolle. Bei
der Unterweisung ist neben der
Vermittlung religiöser Einsichten
der Vorbildcharakter des Meisters
bedeutsam. Hier stehen Schüler
und Meister in einem engen Verhältnis. Die Schüler sind neben der
Erlangung von umfassendem religiösem Wissen vor allem bestrebt,
die vorgelebte Lebensweise ihres
Meisters zu verinnerlichen. Anders
als beim Lehrer-Schüler-Verhältnis
steht beim persönlich geprägten
Meister-Schüler-Verhältnis Weisheit im Fokus. Während ein Lehrer
eher versucht Fakten und Werte zu
vermitteln, geht es einem Meister
darum, die Schüler so individuell
anzuleiten, dass diese durch praktische Erfahrungen selbstständig
zu inneren Einsichten gelangen.
Ausgangspunkt ist nicht ein vorher gesetztes Lernziel oder Glaubenskodex, sondern der Entwicklungsstand der Schüler. Dabei
wird davon ausgegangen, dass
55
Religion und Migration: Signale der Veränderung
die Weisheiten, die der Meister in
sich trägt, nicht ohne weiteres weitergegeben werden können. Der
Meister spielt eher die Rolle eines
ermöglichenden Helfers. Entsprechend finden sich kaum curricular
aufbereitete Inhalte bei der Unterweisung, sondern es dominieren
Metaphern, Gleichnisse und Dialoge, die zeitlos wirken.
Der Meister Nanak und die
Sikh-Religion
Ein bedeutenderVertreter der Meister-Schüler-Beziehung war Guru
Nanak (1469–1539). Die auf ihn
zurückgehende Sikh-Religion gilt
heute mit über 20 Millionen Menschen, die sich ihr zugehörig fühlen, als fünftgrößte Weltreligion.
Der Religion liegt eine religionsübergreifende, Einheit stiftende
und zugleich Pluralität wahrende
spirituelle Lebensweise zu Grunde. Die Inhalte zeugen von einer
intensiven Beschäftigung mit den
unterschiedlichsten religiösen Traditionen. Unter anderem finden
sich Bezüge zu Überlieferungen,
die dem Brahmanismus, Vaisnavismus, Saivismus, Yoga, Siddhismus,
Jinismus, Sufismus und Islam zugeordnet werden. Dabei werden
die Vorstellungen dieser Traditionen aber immer im Lichte der Einsichten der Gurus spirituell reinterpretiert.
Das Leben sowie die bis heute erhaltenen Originalkompositionen
von Nanak, der von seinen Schü56
lerinnen und Schülern, den Sikhs,
respektvoll „Guru“ (Meister der
inneren Erkenntnis) genannt wird,
legt Zeugnis von einem besonderen Meister-Schüler-Verständnis ab. Dabei stehen Guru Nanak
und seine neun Nachfolger ursprünglich für eine weisheits- und
sozialorientierte Tradition, bei der
das Verhältnis zwischen der Weisheit in Schriftform, und dem
Schüler eine herausragende Bedeutung erhält. Die zehn Meister
sehen sich dabei nicht als Gurus,
sondern als Diener der Schöpfung, durch die die Weisheit des
einen allumfassenden und unbegreiflichen Schöpferwesens in
poetischer Form spricht. Heute
dominiert allerdings oft ein eher
dogmatisches und ritualisiertes Religionsverständnis, auch in
deutschsprachigen Ländern. Dies
hat komplexe Gründe.
Religiöse Entfremdung durch
Invasion und Kolonisierung
Die Sikhs blicken auf eine äußerst
ereignisreiche und mitunter sehr
gewalttätige Geschichte zurück.
Die junge Religion konnte sich im
15. Jahrhundert zu Zeiten der ersten Gurus unter weitgehend friedlichen Bedingungen entwickeln.
Die nachfolgenden zwei Jahrhunderte wurden jedoch von zunehmender Diskriminierung durch
brahmanisch dominierte lokale Eliten sowie Verfolgung durch muslimische Invasoren geprägt. Nicht
nur das ausgesprochen eigen-
Khushwant Singh
ständige Selbstverständnis der
Sikhs stieß auf Misstrauen. Vor allem die scharfe Kritik am Kastensystem, an der Vormachtstellung
brahmanischer Priester und Unterdrückung von Frauen sowie an
den extremistischen Tendenzen
der islamischen Eroberer schürten
die Feindseligkeiten gegenüber
der Minderheit der Sikhs. In Verteidigungsschlachten, in welche die
späteren Gurus verwickelt waren,
starben nicht nur viele tausend
Sikhs. Es gingen auch bedeutsame
Originalmanuskripte verloren. Der
fünfte und neunte Guru wurden
auf Befehl der Mogulherrscher Jahangir und Aurangzeb ermordet.
Der zehnte Guru verlor alle vier
Söhne und starb im Jahr 1708 an
den Folgen eines Attentates.
Während der Kriegswirren, bei
denen die Sikhs sich immer wieder in den Untergrund begeben
und ihre Gemeindezentren verlassen mussten, stockte auch die Tradierung religiöser Inhalte. Da die
junge Religion ihrem Wesen gemäß einen qualitativen Ansatz verfolgte, dem Missionierung fremd
war, traf sie die Verfolgung zahlenmäßig besonders hart. Bereits
nach dem Tode des zehnten und
letzten Meisters und insbesondere
im Zuge der Gründung des vermeintlichen Sikh-Reiches im Gebiet des Panjab durch Ranjit Singh
im Jahr 1799 war eine erhebliche
Entfremdung von den ursprünglichen religiösen Einsichten zu beobachten. Diese verstärkte sich
zusehends nach dem Verfall des
Reiches. Im Jahr 1849 wurde der
Panjab durch die britischen Kolonisatoren annektiert. Inzwischen
hatten die Sikhs weitgehend die
Kontrolle über ihre religiösen
Schulstätten (Gurdwara) verloren.
So wurden beispielsweise hinduistische Götterstatuen in die Gurdwara gebracht und verehrt sowie
Verse gegen Bezahlung rezitiert.
Diese Praxis sowie andere ritualisierte und professionalisierte
Formen der Religionsausübung
standen und stehen im deutlichen
Gegensatz zu den Einsichten der
Begründer. Obwohl die Religionsstifter ihre originären Einsichten
sowie die anderer Heiliger (Bhagat und Bhatt) in dem 1430seitigem Werk (Adi) „Guru Granth Sahib“ zusammen fassten, fehlte es
an frommen und gelehrten Sikhs,
die die Inhalte hätten angemessen
verstehen, einordnen und weitergeben können. Erst gegen 1873
nahmen Sikhs wieder den Versuch
auf, sich auf ihre Ursprünge zu
besinnen. Allerdings führten komplexe koloniale Interdependenzen
zu weiteren Verwerfungen. Diese
mündeten einerseits in einem mitunter einseitigen Tradierungsverständnis, welches zunehmend von
festgelegten Curricula und einem
fixierten Verhaltenskodex geprägt
wurde. Zudem entstanden bis heute einflussreiche Kommentierungen und englische Übersetzungen
des „Guru Granth Sahib“, mit hinduistischen und christlichen Konnotationen. Andererseits bildeten
57
Religion und Migration: Signale der Veränderung
sich gegenläufige Gruppen, die
die enge Beziehung zwischen der
Schrift und den Schülern sowie
das Gebot der Schlichtheit weiter
zugunsten eines pompösen Personenkultes und profitorientierten
ritualisierten Religionsverständnisses umdeuteten.
Sikhs in Deutschland
– Desillusionierung in der ersten
Generation
Seit der Teilung Indiens im Jahr
1947 und später in den 1980er
Jahren verließen viele Sikhs aufgrund politischer Unruhen ihre
Heimatregion und wanderten aus.
In Großbritannien, Nordamerika
und Australien leben heute insgesamt über zwei Millionen Sikhs.
Sie verfügen dort in bestimmten
Metropolen über eine sichtbare
religiöse und politische Lobby. In
Deutschland, ähnlich wie auf dem
restlichen Festland Europas, ist die
Sikh-Religion kaum bekannt. Nur
wenige Menschen wissen einen
Mann, der einen wallenden, ungeschnittenen Bart und einen kunstvoll gebundenen Turban trägt, als
Sikh einzuordnen. Zum einen liegt
es an der relativ geringen Zahl der
Sikhs, zum anderen kommen die
Sikhs erst in den letzten Jahren
verstärkt in der Mitte der Mehrheitsgesellschaft an und sind allmählich in der Lage, sich entsprechend zu artikulieren.
Viele Sikhs, die in den letzten
Jahrzehnten nach Deutschland
58
immigriert sind, haben Asylverfahren durchlaufen. Waren es in den
1970er Jahren nur einige hundert
Sikhs, leben heute schätzungsweise zehntausend Sikhs in Deutschland. Wie auch in anderen deutschen Ballungszentren verfügt die
erste Generation der Sikhs im
Rhein-Main Gebiet über ein geringes Bildungsniveau und stammt
vornehmlich aus ländlichen Gebieten im Panjab. Viele von ihnen haben sich aufgrund der instabilen rechtlichen Perspektive,
fehlender legaler Zugänge zum
Arbeitsmarkt und zu Bildungsinstitutionen weder sprachlich noch
gesellschaftlich wunschgemäß integrieren können. Die inzwischen
über 60-Jährigen der ersten Generation sind zum Teil gekennzeichnet durch Frustration und
dem Gefühl der Ausgrenzung. Damit einher geht ein Autoritätsverfall dieser Elterngeneration, die es
gewohnt war, ein Familienleben
entsprechend der patriarchalisch
dominierenden Vorstellungen im
ländlichen Panjab zu führen. Ihre
in der Regel sehr gut integrierten
und fließend Deutsch sprechenden Kinder hinterfragen die althergebrachten Einstellungen, die
ihnen teilweise überholt erscheinen.
Eltern, die die Möglichkeit hatten zu arbeiten, waren wiederum
oft so mit existenzsichernden Aktivitäten befasst, dass sie nur wenig
Zeit für die schulische und religiöse Bildung ihrer Kinder aufbrin-
Khushwant Singh
gen konnten. Die Kinder haben
sich dann entsprechend wenig mit
ihren religiösen und kulturellen
Wurzeln befasst und sich in Richtungen entwickelt, die die Eltern
als „enttäuschende Fehlentwicklung“ ansehen.
Desorientierung in der zweiten
Generation
Weltweit ist vor allem in der zweiten Generation vielen Sikhs eine
religiöse Verunsicherung gemeinsam. Auch im Rhein-Main Gebiet
sind Sikhs mit internen und externen Herausforderungen im Hinblick auf ihre Religion konfrontiert.
Allmählich sind aber Sikh-Jugendliche, insbesondere junge Mädchen, hervorragend in der Lage,
die verschiedenen Lebenswelten
in Einklang zu bringen. Auffällig
ist, dass sie sich nur dann nicht heimisch fühlen, wenn sie Ausgrenzung in der Schule oder bei der
Arbeitssuche erfahren. Gleichwohl
hat sich eine hohe Frustrationsgrenze gegen Diskriminierungen
entwickelt. Viele Schüler zeigen
überdurchschnittlich gute Schulleistungen.
Der religiöse Bildungsstand ist
allerdings gering ausgeprägt. Ein
Grund sind mangelnde institutionalisierte Formen des Religionsunterrichts über „Sikhi“. Zudem gibt
es kaum jugendgerechte religiöse Literatur in deutscher Sprache.
Junge Sikhs berichten durchgängig, dass sie nur schwer in der
Lage sind, Mitschüler und Lehrer
fundiert über ihre Religion zu informieren. Fragt man manche Sikhs
der Oberstufe, warum sie ihr Haar
ungeschnitten lassen und einen
Turban tragen, kommt oft nicht die
Erklärung, dass sie dadurch der
Tradition entsprechend ihre natürliche und würdevolle Lebensweise
und ihren Respekt für die Schöpfung ausdrücken. Stattdessen werden einsilbige Sätze wie „Das ist
wegen der Religion“ oder „Das
muss ein Sikh machen“ vorgetragen. Aufgrund fehlender Kenntnisse fühlen sich die Jugendlichen
auch kaum in der Lage, falsche
Informationen über die Sikh-Religion, auf die sich Lehrer oder Mitschüler aus Unwissenheit berufen,
zu korrigieren. Umso rhetorisch
hilfloser stehen männliche Sikhs
da, wenn sie wegen ihrem Dutt
und der Kopfbedeckung mit Sprüchen wie „Der hat einen Döner auf
dem Kopf!“ oder „In Deckung! Da
kommt Osama“ beleidigt werden.
Gründe für die Desorientierung
Die Elterngeneration bemüht sich
zum Teil trotz der vielfältigen Herausforderungen, die Migration
mit sich bringt, bestmöglich um
die schulische und religiöse Ausbildung ihrer Kinder. Gleichwohl
wissen sie selbst nur wenig über
deutsche Institutionen und ihre
Religion. Und das obwohl viele
Sikhs seit Jahrzehnten regelmäßig
in den Gurdwara gehen und diese
durch Spenden finanzieren. Enga59
Religion und Migration: Signale der Veränderung
gierte Sikhs der zweiten und inzwischen dritten Generation sind
daher mit dem Problem konfrontiert, dass sie widersprüchliche
Erklärungen zu religiösen Fragen
bekommen. Dies betrifft nicht nur
Inhalte, die im Gurdwara – oft auch
durch aus Indien angereiste Sprecher – vermittelt werden. Auch die
Antworten, die junge Sikhs in ihren Familien, im Internet und über
Sikh-Fernsehsender bekommen,
erscheinen ihnen oft unbefriedigend und inkonsistent. Hier spielen auch die Langzeitwirkungen
der bereits dargestellten historischen Gründe der religiösen Entfremdung eine Rolle.
Vor allem interessierte Jugendliche beklagen die mangelhafte Vermittlungsleistung religiöser Inhalte und Werte in den Gurdwara. Ein
generationenübergreifendes Angebot mit einem Bezug zum Leben in Deutschland wird vermisst.
Inzwischen herrscht unter jungen
Sikhs in vielen Ländern die Wahrnehmung, dass die Schulstätten
von religiös fragwürdigen Auslegungen und politisierten Debatten sowie Führungsstreitigkeiten
beherrscht werden. Die religiös
und schulisch wenig gebildeten
Verantwortlichen der Gurdwara,
die überwiegend aus der ersten
Generation stammen, seien vor
allem von machtpolitischen und
finanziellen Interessen sowie Seilschaften geleitet, so die Meinung
junger Sikhs. Sie würden, so die
Einschätzung von in Deutschland
60
aufgewachsenen Sikhs, ihren Asylhintergrund trotz veränderter Realitäten für politische Zwecke instrumentalisieren. Die vermehrte
Zuwanderung von Arbeitsmigranten, die an den religiösen Inhalten
und Traditionen kaum interessiert
sind und wohl eher aus sozialen
und kulinarischen Gründen in
großer Anzahl die Gurdwara besuchen, steigert die ohnehin vorhandene Unzufriedenheit unter
praktizierenden jungen Sikhs.
Fehlende Vorbilder
Insgesamt kann festgestellt werden, dass überzeugende Vorbilder in den nachfolgenden Generationen noch fehlen, die weltlich
und zugleich religiös gut gebildet
sind, die ihre Religion im Alltag
ausüben und die notwendigen
sprachlichen Fähigkeiten im Deutschen und auf Panjabi besitzen.
Auffällig ist, dass sich die wenigen
erfolgreichen und frommen Sikhs,
die zudem in der Lage sind, Verse
in Begleitung von Instrumenten
zu rezitieren, zusehends privat für
den religiösen Austausch treffen.
Sie begründen dies mit den oben
beschriebenen Unzulänglichkeiten in den Gurdwara sowie ritualisierten und kapitalisierten Formen
der Religionsausübung. Zwar können Sikhs inzwischen im Internet
auf ein sehr vielfältiges Angebot
an religiösen Texten, Videos und
Audiobeiträgen zurückgreifen und
sich vernetzen. Allerdings kann
das unübersichtliche zumeist eng-
Khushwant Singh
lische oder panjabische Angebot
ohne angemessene Filterung und
Kommentierung Orientierungslosigkeit verstärken oder gar hervorrufen. Insbesondere dann, wenn
religiösen aber auch politischen
Inhalten vertraut wird, die aufgrund mangelnder Kenntnis inhaltlich fragwürdig sind.
Neue Unterrichtsform mit Unterweisung
Um die historisch und durch die
Migrationserfahrung herleitbare
Entfremdung zu überwinden, sind
innovative Formen der religiösen
Tradierung notwendig, die sich
von den ursprünglichen Einsichten
leiten lassen. Das ehrenamtliche
Angebot der „Religiös orientierten Lebenskunde“, die der Autor
im Frankfurter Gurdwara für junge
Sikhs und Interessierte an ausgewählten Sonntagen anbietet, versucht diesem Anspruch näher zu
kommen. Das Konzept entspricht
einer Mischung aus freiwilligem
Unterricht und Unterweisung in
der Altersklasse von zehn bis etwa zwanzig Jahren. Dabei werden nicht primär Fakten vermittelt, sondern ausgehend von den
Interessen und Kenntnissen der
Schülerinnen und Schüler Inhalte
ganzheitlich diskutiert, hinterfragt
und eingeordnet. Der Grundton
besteht aus herausfordernden Inhalten und Methoden sowie spontanen, humorvoll angelegten Übertreibungen, die zum Nachfühlen
und Denken anregen. Der Unter-
richt ist dabei bemüht, weniger
Antworten vorzugeben und stattdessen persönliche Einsichten zu
fördern sowie eine Grundorientierung für den Alltag mitzugeben.
Insgesamt wird versucht, die religiösen und historischen Kenntnisse und das Selbstbewusstsein der
Schüler ausgehend von aktuellen
Realitäten zu stärken.
Alle Inhalte werden aus den
schriftlich festgehaltenen Weisheiten der Begründer abgeleitet und
vereinfacht erklärt. Dabei werden
auch immer Bezüge zu Schulfächern wie Geschichte oder Biologie hergestellt. Um die inhaltliche
und sprachliche Übersetzungsfähigkeit zu fördern, wird der Unterricht zweisprachig auf Deutsch
und auf Panjabi gehalten. So lernen die Jugendlichen etwa, dass
die Bezeichnung „Götter“ für die
„Meister“ unangebracht ist. Gleichzeitig werden wichtige Begriffe in
der Sikh-Schrift „Gurmukhi“ sowie
Fremdwörter visualisiert. Videos
und Comics lockern den Unterricht auf und helfen auch jüngere
Kinder anzusprechen. Auch werden alltägliche Herausforderungen wie Diskriminierung in der
Schule oder auf dem Arbeitsmarkt
besprochen. Interessante Besucher wie der wohl älteste Marathonläufer der Welt Fauja Singh
dienen als Inspiration. Zusätzlich
zum Unterricht werden Jugendcamps organisiert, die von Sikhs
aus den verschiedensten Ländern
geleitet werden. Dadurch sollen
61
Religion und Migration: Signale der Veränderung
Netzwerke und die Teamfähigkeit
gestärkt, Freundschaften aufgebaut und respektvolle Lernarrangements jenseits von alltäglicher
Routine gefördert werden.
Unterrichtserfolge
Im Ergebnis ist zu vermerken, dass
die meisten Schüler, die den Unterricht besuchen, ein Grundinteresse an ihrer Religion haben und
die partizipative Lernform begrüßen. Vor allem einige Schülerinnen
sind sehr engagiert. Sie sind nach
eigenen Aussagen durch den Unterricht selbstbewusster geworden. Viele haben sich erstmalig
genauer mit „Sikhi“ und Themen
wie Gleichberechtigung, Schönheit, Namenstradition oder Kastensystem auseinandergesetzt und
mit anderen Jugendlichen darüber
diskutiert. Auch verstehen die
meisten Schüler nun, dass ihre Religion nicht wie gepredigt,auf Regeln
und das Äußerliche zu reduzieren
ist, sondern vor allem tiefgründige spirituelle Weisheiten enthält, die für existentielle und alltägliche Fragen Orientierung bieten.
Manche Schüler bemerken, dass
„Sikhi“ doch „cooler“ ist, als sie
dachten. Die religiösen Inhalte
bieten zudem Argumentationshilfen, wenn sich bspw. Mitmenschen
oder Familienmitglieder unangemessen verhalten. Gleichwohl hat
dies im Einzelfall zu Diskussionen
in der Familie geführt, weil kultu62
relle Traditionen durch die Kinder
auf Basis religiöser Einsichten in
Frage gestellt wurden.
Herausforderungen
Es soll hier nicht der Eindruck entstehen, dass der beschriebene
Unterricht die Lösung für die zuvor
beschrieben Herausforderungen
darstellt. Vielmehr handelt es sich
um einen bescheidenen Versuch
der Verbesserung, der migrationssoziologisch und biografisch
verortbar ist. Die freiwillige Unterrichtsform stößt an zahlreiche
Grenzen.
Zunächst einmal ist festzustellen, dass nur ein Bruchteil der
Jugendlichen den Unterricht besucht. Die Klassenstärke reicht im
Schnitt von zehn bis 25 Schüler.
Die hohe Altersspanne sowie das
sehr unterschiedliche inhaltliche
und sprachliche Niveau erfordern
einen Spagat zwischen Unter- und
Überforderung. Der vorhandene
Raum ist nicht ausreichend ausgestattet. Aufgrund mangelnder Isolierung herrscht in dem Gebäude
ein enormer Lärmpegel. Teilweise
werden die Räume während der
Unterrichtszeit von Erwachsenen
belegt, die sich unterhalten, oder
von ehrenamtlich tätigen Müttern,
die kleinen Kindern engagiert die
Gurmukhi-Schrift beibringen. Von
Seiten der Leitung des Gurdwara
wird der Unterricht gutgeheißen
aber kaum aktiv gefördert oder
beworben. Auch zeigen nur man-
Khushwant Singh
che Eltern ein tiefer gehendes Interesse am Unterricht ihrer Kinder.
Vor allem unter den männlichen Schülern herrscht ein hohes
Ablenkungspotential z.B. durch
Handys und einen erheblichen
Gruppenzwang. Entscheidet sich
ein tonangebender Jugendlicher
gegen den Unterricht, so bleibt
die ganze Clique abwesend. Die
Schüler kommen und gehen in der
Regel gemeinsam mit ihren Eltern.
Sind diese verhindert, bleiben
auch die Kinder dem Gurdwara
und dem Unterricht fern. Verlassen die Eltern den Gurdwara frühzeitig, werden sie von den Kindern
begleitet. Die Fluktuation unter
den anwesenden Schülern macht
ein kontinuierliches Arbeiten unmöglich und produziert Unruhe.
Anvisierte Projekte wie z.B. ein
Video-Theaterstück zu intergenerationellen Fragen konnten nicht
abgeschlossen werden.
reduziert werden können. Dabei
ist es wichtig, bereits eingeübte und etablierte Praktiken sowie
Führungsstile in den Gurdwara so
weiterzuentwickeln, dass traditionelle Vorgehensweisen mit neuen
sinnvoll ergänzt werden und die
Unterstützung der Gemeinschaft
erhalten. Hier werden gut ausgebildete und in Deutschland aufgewachsene religiöse Vorbilder
in der Zukunft eine wichtige Rolle
spielen. Gesellschaftlich muss es
besser als bisher gelingen, die
vielfältigen Potentiale von zugewanderten Religionsgemeinschaften zu fördern – auch in den Schulen. Dabei ist eine visionsgeleitete
gegenseitige Willkommenskultur,
die konsequent gegen diskriminierende und stereotypisierende
Verhaltensweisen vorgeht, unerlässlich.
Fazit
Diese kursorische Darstellung
zeigt, dass sich die Sikhs nach einer langen Periode der historisch
bedingten Entfremdung nun in einer Phase des Suchens befinden.
Migration und technische Entwicklungen wie das Internet eröffnen
dabei bisher nicht dagewesene
Freiräume. Gleichzeitig bergen
sie auch Risiken, die durch zeitgemäße Unterrichtsformen, die
sich an den ursprünglichen Weisheiten der Begründer orientieren,
63
Religion und Migration: Signale der Veränderung
Podiumsgespräch 2
Veränderungen in der pädagogischen Arbeit
Auf dem zweiten Podium dieser Tagung wollten wir darüber sprechen,
wie eine interkulturelle bzw. interreligiös orientierte pädagogische Arbeit
aussehen kann. Wie gehen christliche, jüdische und muslimische Gemeinden mit den Unterschieden in der eigenen Glaubensgemeinschaft
um und wie treten sie in den Dialog mit anderen Religionen? Diese Fragen standen im Mittelpunkt des Podiumsgesprächs und zwar immer mit
Blick auf die Jugendlichen und die Kinder.
Podiumsteilnehmerinnen und -teilnehmer:
Dietmar Will
Pfarrer für Ökumene in Frankfurt am Main bei den Dekanaten Mitte-Ost und Süd
Christina Bender
Jugendbildungsreferentin für Interkulturelle Arbeit, Kultur und politische Bildung beim
Jugendbildungswerk der Stadt Frankfurt/M
Hafida Allouss
Sozialarbeiterin und Therapeutin beim Internationalen Familienzentrum Frankfurt/M
Alexej Tarchis
Jugendzentrum der Jüdischen Gemeinde Frankfurt/M
Moderation:
Karen Fuhrmann
Hessischer Rundfunk
64
Podium 2: Veränderungen in der pädagogischen Arbeit
Frau Bender, Sie sind im Jugendbildungswerk der Stadt Frankfurt
damit beschäftigt, auch Jugendleiter, also die Multiplikatoren
auszubilden. Wie bekommt man
dabei den interkulturellen Blick in
die Köpfe?
Christina Bender:
Die Jugendleiterausbildung ist
ein neues Projekt, das wir durchführen. Ich will es zunächst allgemein erörtern. Diese Ausbildung
findet bei verschiedenen Trägern,
zum Beispiel bei christlichen Gemeinden oder bei der Jugendfeuerwehr statt. Es handelt sich um
Träger, die im Frankfurter Jugendring organisiert sind. Dazu gibt es
verschiedene Angebote und die
Ausbildungsinhalte sind bundesweit zu achtzig Prozent einheitlich. Die übrigen zwanzig Prozent
können inhaltlich trägerspezifisch
besetzt werden. Bisher war es so,
dass wir vom Jugend- und Sozialamt diesbezüglich keine Angebote hatten. Nachdem aber das Amt
für multikulturelle Angelegenheiten (AmkA) hier einen Bedarf
festgestellt hat, ist es durch einige
Umwege zu einer Kooperation gekommen.
Es gab zum Beispiel im Jahr 2008
die Veranstaltung „Jugendarbeit
in muslimischen Gemeinden“. Das
war ein Workshop, der in Zusammenarbeit mit dem AmkA, dem
Hessischen Islamforum und dem
Jugend- und Sozialamt veranstaltet wurde. Hier wurde zum ersten
Mal deutlich, dass es Jugendliche
gibt, die wir als Jugend- und Sozialamt bisher gar nicht erreicht
haben. Wir sehen natürlich, dass
es diese gesellschaftlichen Veränderungen gibt und dass wir in
einer Gesellschaft leben, die von
Vielfalt geprägt ist, aber wir haben
das bei unseren Angeboten bisher
nicht berücksichtigt. Das lag auch
daran, dass wir mit vielen anderen
gesellschaftlichen Problemen konfrontiert sind und zu wenig Mitarbeiter haben. Auf der anderen
Seite haben wir erkannt, dass es
notwendig ist, mehr zusammen zu
arbeiten. Auf diesem Weg haben
wir eine fruchtbare Kooperation
mit dem AmkA gefunden, die mir
persönlich die Augen für Bereiche
geöffnet hat, die ich bisher nicht
gesehen habe, die aber von Jugendlichen aus den Zuwanderergemeinden an das AmkA herangetragen wurden.
Ich will kurz zurückblicken, damit man das besser versteht. Es
gab einen Arbeitskreis im AmkA,
an dem Herr Will, der Frankfurter
Jugendring und auch muslimische Gemeinden beteiligt waren,
in dem dann erkannt wurde, dass
es auch Jugendliche mit einem
Migrationshintergrund gibt, die
die Jugendleiter-Card machen
wollen. Da es diesbezüglich bei
uns relativ wenig bestehende
Strukturen gab, ging es zunächst
darum, Strukturen zu schaffen, in
denen sich die Jugendlichen ehrenamtlich engagieren und sich
begegnen können um dann entsprechend ausgebildet zu werden.
65
Religion und Migration: Signale der Veränderung
Wir haben in diesem Arbeitskreis
lange darüber diskutiert, wer das
machen könnte, und sind zu dem
Ergebnis gekommen, dass wir als
Jugend- und Sozialamt am besten
dafür geeignet waren, weil wir aufgrund dessen, dass wir nicht religiös gebunden sind, die neutralsten Vertreter waren. Da es bis dahin nur die Möglichkeit gab, eine
Jugendleiterausbildung bei Einrichtungen mit einem spezifischen
Trägerprofil, wie den Katholiken
oder den Protestanten zu machen,
hat diesen Jugendlichen den Zugang dazu sicher erschwert.
Am Anfang haben wir überlegt,
eine muslimische JugendleiterCard anzubieten, weil gerade aus
diesen Gemeinden der Bedarf angemeldet wurde. Dann aber haben
wir festgestellt, dass der Bedarf
weit darüber hinaus geht und so
kamen wir zu dem Entschluss, eine
interkulturelle Jugendleiter-Card
anzubieten, bei der der Schwerpunkt auch auf eine interkulturelle
Kompetenz gelegt wird, wie wir
das zum Beispiel auch beim Personal der Stadt Frankfurt einfordern
und die inzwischen durchgängig in allen Berufen zum Tragen
kommt. In diesem Kontext hat die
Zusammenarbeit mit dem AmkA
wunderbar geklappt, und im Oktober dieses Jahres haben wir das
erste Wochenende durchgeführt.
Es gab sehr viele Anmeldungen
und wir haben da eine ganz bunte Mischung von Teilnehmerinnen
und Teilnehmern. Vertreten ist der
Bildungs- und Kulturverein Frank66
furt e.V., die Katholische Gemeinde
Unterliederbach, die Alevitische
Jugend, die Fatima-Moschee, das
Paritätische Bildungswerk, die Kroatisch-Europäische Kulturgesellschaft, der Grüne Halbmond, und
das IIS – der Verein Islamische Sozial- und Serviceleistungen e.V.,
um nur einige der Teilnehmenden
zu nennen.
Sie haben gesagt, Sie haben zuerst überlegt, eine muslimische
Juleica zu machen. Kann man
überhaupt davon sprechen, dass
es eine muslimische Jugendarbeit
in Frankfurt gibt? Wie weit sind
sich die Moscheegemeinden darin
einig oder stimmen sich dabei ab?
Frau Allouss, Sie sind neben dem
Kompetenzzentrum muslimischer
Frauen, auch mit der Jugendarbeit in den Moscheegemeinden
befasst. Wie sehen Sie das?
Hafida Allouss:
Diesem Arbeitskreis, von dem
Frau Bender berichtet hat, gehöre
ich auch an. Ganz am Anfang haben wir eine Art Bestandsaufnahme gemacht, in dem Sinne, dass
wir den Bedarf der Gemeinden
und den Bedarf der Jugendlichen
erhoben haben. Dabei haben wir
festgestellt, dass hier Bedarf an
Qualifikation besteht und haben
den Arbeitskreis beim AmkA gegründet, in dem der Herr Will und
auch ich dabei waren und es dann
zu dem bereits erwähnten Workshop kam. Hier kamen dann schon
die verschiedenen Gemeinden
Podium 2: Veränderungen in der pädagogischen Arbeit
zusammen. Die bosnische und
die afghanische, die arabischen
und die türkischen Gemeinden
haben dabei ihre Jugendarbeit
vorgestellt. Es war sehr beeindruckend, zu erfahren, was in den Gemeinden bereits vorhanden war.
Gleichzeitig war aber bei allen ein
Bedarf nach einer weiteren Qualifikation da. Die Teilnehmer dieses
Workshops waren unter anderem
Sozialarbeiter der jeweiligen Gemeinden, andere waren Laien, die
gesagt haben, wir brauchen Qualifikation, wir wollen aber auch eine
Vernetzung zu anderen Jugendgruppen, um zu sehen, wie die das
machen.
Bis jetzt lief das also alles eher nebeneinander her?
Hafida Allouss:
Bis dahin gab es Jugendarbeit in
den Moscheen, teilweise in größeren oder in kleineren Gruppen.
Die einen hatten qualifiziertes Personal, die anderen hatten Ehrenamtliche angesprochen und die
dritten hatten gar nichts. Der Bedarf war aber da und wir wollten
dafür neue Strukturen schaffen.
Die Jugendlichen, die in die Moscheen kommen und denen wir
etwas anbieten wollten, waren da,
wir wussten nicht wie und was wir
anbieten könnten.
Wichtig bei diesem Workshop
war, dass, als es um die muslimische Juleica ging, die Jugendlichen sagten, dass es ihnen nicht
um die an die Juleica gebundenen
Vergünstigungen gehe. Es gehe
darum, was sie brauchen, um eine
gute Jugendarbeit zu machen.
Das war das Ergebnis dieses Workshops. Es wurde klar, dass es nicht
primär islamische Inhalte braucht.
Die Jugendlichen, die aus den verschiedenen Moscheen kommen,
haben gesellschaftliche Probleme. Sie kommen damit in die Gemeinden und fragen sich, wie es
denn kommt, dass ich denselben
Abschluss habe wie mein Freund,
aber nicht die gleichen Chancen
auf dem Arbeitsmarkt. Auch rechtliche Fragen spielen eine Rolle,
auch das deckt diese Juleica ab.
Außerdem ist der Wunsch nach
Vernetzung da. Deswegen sagen
wir, dass von einer interkulturellen
Juleica alle profitieren. Die muslimischen Jugendleiter können
dabei sehen, wie das funktioniert,
denn die christlichen Gemeinden
sind schon etwas länger dabei und
sie können daraus lernen, wie die
anderen das machen und wie das
funktioniert. Sie können daraus für
sich Schlüsse ziehen, wie sie das
machen können, wo es die Ressourcen gibt, wie die Jugendhilfe
funktioniert. Denn es geht letztendlich nicht um muslimische Inhalte, sondern um allgemeine Fragen, die zur Integration führen. Wir
sind jetzt dabei, einen Baustein für
die Arbeit mit muslimischen Kindern und Jugendlichen zu entwickeln, ein Baustein der interkulturellen Juleica, denn dieser Ansatz
ist besser und umfassender als der
einer muslimischen Juleica.
67
Religion und Migration: Signale der Veränderung
Auch in der Jüdischen Gemeinde
gibt es verschiedene Nationalitäten, Herkunftsländer und Kulturen.
Spielt für die Jugendlichen, die ja
oft nachgeborene der Shoah-Generation sind, die eigene Herkunft
noch eine Rolle und wie werden
Sie dem, Herr Tarchis, in der Jugendarbeit gerecht?
Alexej Tarchis:
In der Jüdischen Gemeinde ist das
ein bisschen anders als bei dem,
was wir hier bis jetzt gehört haben. In Frankfurt gibt es nur eine
Jüdische Gemeinde und da muss
man nicht versuchen, die verschiedenen Richtungen miteinander zu
verbinden, sondern sie sind alle
bereits im Haus. Der religiöse Hintergrund ist in unserem Programm
eher weniger vertreten. Das Problem der verschiedenen religiösen
Richtungen haben wir da weniger,
weil die meisten Jugendlichen,
die ins Jugendzentrum kommen,
von der Religion und von der Tradition eher wenig wissen. Der kulturelle Hintergrund ist wichtiger
und interessanter. Ich war zwei
Jahre Jugendleiter in Frankfurt
und habe festgestellt, dass sich
die Jugendlichen weniger mit den
kulturellen Unterschieden befassen als es noch ihre Eltern oder
Großeltern taten. Dazu muss man
sagen, dass unsere Jugendlichen
zu achtzig oder neunzig Prozent
russischsprachig sind. Sie sind
entweder als kleine Kinder nach
Deutschland gekommen oder
wurden bereits hier geboren. Aber
68
die Eltern sprechen immer noch
russisch und zu Hause wird russisch gesprochen. Im Jugendzentrum ist das aber mittlerweile kein
Problem, denn im Jugendzentrum
sprechen wir alle deutsch. Ich gehöre selber dieser Generation an,
ich bin vor fünfzehn Jahren aus
Weißrussland nach Deutschland
gekommen. Im Büro erlebe ich
das aber immer öfter, dass die
Kinder und Jugendlichen reinkommen und kein Problem haben, Deutsch zu sprechen, aber
die Eltern das Problem haben. Der
Grund, warum mich die Gemeinde nach Frankfurt holte, war, weil
ich zweisprachig war und damit
auch die Eltern mit ins Boot holen
konnte, wenn sie noch Probleme
mit der deutschen Sprache hatten.
Da war ich dann so etwas wie ein
Vermittler zwischen der Gemeinde, zwischen unserer Arbeit im
Jugendzentrum und den Eltern,
um denen zu erklären, warum unsere Arbeit wichtig ist. Für die russischen Eltern ist es immer noch
schwer nachzuvollziehen, was so
ein Jugendzentrum macht und
wozu das gut ist. Viel wichtiger für
sie ist die Ausbildung, die Schule
und so weiter. Dass auch eine außerschulische Aktivität wichtig ist,
um ein Verständnis von Gruppenbildung und Gemeinschaft zu gewinnen, da müssen wir noch sehr
viel investieren, um das den Eltern
verständlich zu machen.
Podium 2: Veränderungen in der pädagogischen Arbeit
Aber Sie haben dann nicht einen
russischen, einen polnischen oder
einen israelischen und deutschen
Nachmittag, sondern alle Angebote sind für alle gleich und auf
Deutsch?
neue Migranten, bei den anderen
waren es vielleicht die Eltern oder
die Großeltern. Deswegen behandeln wir dieses Thema allgemein
und nicht nur bezogen auf etwas
Bestimmtes.
Alexej Tarchis:
Alle Angebote sind für alle gleich
und alles, was wir anbieten, bieten
wir in Deutsch an. In der Gemeinde gibt es zum Beispiel auch ein
Seniorenclub, da wird noch überwiegend russisch gesprochen.
Auch einige Feiertage wurden innerhalb der Gemeinde neu eingeführt, so zum Beispiel der 9. Mai,
der Tag der Kapitulation. Heute
ist das ganz normal, dass in der
Jüdischen Gemeinde der 9. Mai
gefeiert wird, weil das für neunzig
Prozent der Gemeindemitglieder
ein Feiertag ist, den sie seit ihrer
Kindheit kennen. Im Jugendzentrum ist es dagegen anders, da
findet alles auf Deutsch statt und
da machen wir auch keine Unterschiede. Wir haben jetzt zum Beispiel ein Projekt aufgebaut, in dem
wir über das Thema „60 Jahre Juden in Deutschland“, arbeiten wollen. Da werden wir uns an einem
Sonntag auch mit dem Thema der
Einwanderung beschäftigen. Dabei haben wir uns aber bewusst
von den letzten zwanzig Jahren
abgegrenzt. Wir wollen nicht nur
über die russische Einwanderung
sprechen, sondern über die ganze
Gemeinde, die, wenn man so will,
insgesamt einen Migrationshintergrund hat. Die einen sind halt
Wir haben eben gehört, dass sich
durch die Generationen auch immer etwas verändert. Kann man
sich, Herr Will, darauf verlassen,
dass, wenn Menschen verschiedenen Glaubens oder Menschen des
gleichen Glaubens, aber anderer
Herkunft nur lange genug zusammen leben, dass die Anpassungsprozesse automatisch stattfinden
bzw. dass eine Generation weiter
automatisch ein Stück näher beieinander ist, oder muss man das
aktiv angehen?
Dietmar Will:
Das sind Prozesse, die man nicht
planen kann, die aber ohnehin geschehen. Sie brauchen eine gewisse Beförderung und ein gewisses
Bewusstsein. Für mich ist eine der
Kernkompetenzen dieser Arbeit
ganz banal: nämlich erstmal nur zuzuhören. Ich habe 2003 das Projekt
mit dem ökumenischen Jugendleiterkurs damit begonnen, dass
ich die Gemeinden, auch die Migrantengemeinden besucht und
zunächst nur zugehört und erfragt
habe, was sie brauchen und was
deren Bedarf ist. Dann hatten wir
ein Erzählcafé zum Thema der
zweiten Generation, wir nannten
es „The next generation“. In der
Vorbereitung ist mir dabei klar ge69
Religion und Migration: Signale der Veränderung
worden, dass in den Gemeinden
eine ganz wichtige Nahtstelle liegt.
Das heißt, die Frage, welche Informationen gebe ich an die erste
Generation weiter, aber gleichzeitig auch die Angst davor, die Kinder an den „Westen“, an Frankfurt
oder an Deutschland zu verlieren.
Auf der anderen Seite, die zweite
Generation, die das Gefühl hatte,
die Elterngeneration, die versteht
uns nicht mehr. Die wollen uns nur
das aufzwingen, was sie kennen,
aber wie wir hier leben, das verstehen sie nicht mehr.
Nach diesem Erzählcafé ist zunächst nichts weiter passiert, aber
einige Zeit später haben wir ein
Werkstattgespräch initiiert, mit betroffenen Vertretern aus den Gemeinden aus der ersten und aus
der zweiten Generation und aus
den verschiedenen Konfessionen.
Das waren seinerzeit christliche
Gruppen: Methodisten und Protestanten, aber auch orthodoxe
und charismatische Gruppen, von
denen wir erfahren wollten, was
sie machen, wo sie stehen, was
sie brauchen. Dabei ist mir das
Stichwort „bedarfsorientiert“ sehr
wichtig, denn bei den vielen Angeboten, die wir machen, will ich
halbwegs das Gefühl haben, dass
es den Bedarf abdeckt.
Nach drei Runden Werkstattgespräch haben wir dann ein Curriculum entwickelt, bei dem meine
Aufgabe darin bestand, die jeweiligen Akteure zusammenzubringen: Die traditionellen Anbieter,
die die Jugendleiter-Card ohne70
hin schon anbieten, wie z.B. das
Stadtjugendpfarramt und andere
Jugendverbände und den Kontakt
zu den Migrantengemeinden herzustellen, die sich daran beteiligen
wollten.
Dabei ging es, wie wir schon
gehört haben, auch um Methodenfragen. Achtzig Prozent der
Inhalte sind ja festgelegt, aber bei
den restlichen zwanzig Prozent
hatten wir Gestaltungsfreiräume.
Dabei war es wichtig, mit den Migrantengemeinden ins Gespräch
kommen. Teilnehmer waren zum
Beispiel die Griechisch-Orthodoxe und eine Vietnamesische Gemeinde, Gemeinden aus Eritrea,
Ghana und Indonesien. Es ist also
eine Art „Instrument“ entstanden,
in dem Raum, Zeit und viele andere Ressourcen zur Verfügung gestellt wurden, damit die Jugendlichen der zweiten Generation
im Alter von sechzehn Jahren bis
etwa Ende zwanzig einen Raum
finden, in dem sie sich treffen können. Es ging zunächst nicht nur um
Inhalte, sondern darum, ihnen ein
Stück Raum anzubieten, in dem sie
einfach nur neugierig aufeinander
sein konnten. Bei der Auswertung
kam heraus, dass eine griechischorthodoxe Teilnehmerin sagte:
„Ich habe mit einer anderen Christin oder einem anderen Christen
bewusst noch nie an einem Tisch
gesessen“. Das Ziel also war, sich
über sich selber, über die eigene
Rolle bewusst zu werden und das
im Austausch mit dem Anderen.
Denn wenn ich im Austausch bin,
Podium 2: Veränderungen in der pädagogischen Arbeit
dann lerne ich auch sehr viel über
mich selbst, und das sollte der tiefere Sinn von diesem Dialog sein.
Was für mich dabei wichtig ist, ist
die Tatsache, dass wir dies nicht
von oben herab formuliert haben,
sondern dass dieses Bedürfnis
auch von der zweiten Generation
formuliert wurde. Hier müssen wir
also bereit sein, Verantwortung
abzugeben.
Wenn man von der interkulturellen
oder der ökumenischen Jugendleiter-Card hört, könnte man sich
vorstellen, dass die Jugendlichen
aus allen Gemeinden, also aus
den Mosche-Gemeinden, aus der
Jüdischen Gemeinde, aus christlichen Gemeinden zusammen kommen und sich dazu ausbilden lassen. Aber sie haben ja alle einen
anderen religiösen Hintergrund.
Wie sieht das dann praktisch aus?
Wenn ich zum Beispiel wissen will,
wie ich mit den Jugendlichen in
meiner Gemeinde umgehen soll,
ist das dann so, dass man mir antwortet, deine Religion lassen wir
jetzt bei Seite, wir reden erst einmal darüber, wie man eine Stunde mit Jugendlichen so verbringt,
dass es ihnen Spaß macht, ob wir
dabei Musik machen oder etwas
für eine Freizeit planen, spielt dabei keine Rolle? Wie wichtig ist in
so einer interkulturellen Jugendleiterausbildung noch die Religion?
Christina Bender:
Natürlich haben wir versucht, das
zu berücksichtigen. Es war unsere
Absicht, bei der interkulturellen
Juleica die Religion nicht allzu
sehr in den Vordergrund zu stellen. Ich muss aber dazu sagen,
dass die interkulturelle Juleica
nur ein Baustein davon ist, was wir
mit dem AmkA entwickelt haben.
Dabei ging es vor allem darum,
diejenigen auszubilden, die ehrenamtlich in der Jugendarbeit in
den Zuwanderergemeinden tätig
werden wollten, dieses Angebot
aber noch nicht kannten.
Dafür mussten wir zunächst die
Strukturen der Jugendarbeit in
den Gemeinden kennenlernen
und haben festgestellt, dass es in
den meisten muslimischen Gemeinden gar keine gewachsenen
Strukturen wie in anderen Gemeinden, gab. Es mussten also
zunächst neue Strukturen aufgebaut werden. Dazu haben wir zusammen mit Frau Klinger, ähnlich
wie es Herr Will bereits dargestellt
hat, angefangen, die Gemeinden
zu befragen und zu hören, was die
erste Generation möchte, wie weit
die Wünsche der Jugendlichen
und der ersten Generation, die die
Vorstände der Gemeinden bilden,
auseinander liegen. Oft haben wir
eine Hilflosigkeit erfahren, denn
die Vorstellungen über mögliche Angebote waren völlig unklar. Deswegen haben wir neben
der interkulturellen Juleica einen
zweiten Baustein in Form eines
Jugendforums errichtet, in dem es
71
Religion und Migration: Signale der Veränderung
um den Aufbau von Strukturen für
die Jugendarbeit ging und auch
darum, wie diese finanziert werden könnten. Das war zunächst ein
Nachmittag bzw. Abend, den wir
im Jugendamt angeboten haben
und die wir auch fortführen wollen, weil sich sehr viele Jugendliche dafür interessiert haben. Wir
haben zunächst Beispiele für den
Aufbau von Jugendarbeit vorgestellt und dann ein breites Spektrum von Finanzierungsmöglichkeiten erörtert. Dabei könnten sich
das AmkA, das Jugendamt und
das Jugendbildungswerk beteiligen, weil es hier Gelder für Partizipationsprojekte gibt.
Darüber hinaus ist mir noch etwas anderes klar geworden. Sie
hatten gefragt, welche Rolle bei
der interkulturellen Juleica die
Religion spielt. Nachdem wir die
interkulturelle Juleica begonnen
hatten, ist mir klar geworden, dass
wir völlig vergessen hatten, dass
auch Jugendliche dabei sein können, die Zeit und Raum für ihr Gebet brauchen. Das hatten wir nicht
eingeplant, weil wir damit noch nie
konfrontiert waren. Wir haben es
dann eher spontan untergebracht,
in der ursprünglichen Konzeption
war das aber nicht berücksichtigt.
Im Nachhinein würde ich sagen,
dass wir das künftig von vorne
herein einplanen müssen. Genauso wie wir immer Barrierefreiheit
garantieren, müssen wir auch Zeit
und Raum für das individuelle Gebet garantieren. Bei dem nächsten
Jugendforum hatten wir im Ju72
gend- und Sozialamt für einen Gebetsraum gesorgt, bekamen dann
aber das ganz profane Problem
mit der Alarmanlage, weil wir bei
Abendveranstaltungen nur einen
gewissen Trakt benutzen können.
Wir haben dann eine längere Pause gemacht und diejenigen, die
wollten, sind zum Beten gegangen. Als sie dann zurückkamen
haben sie gefragt: „Habt ihr jetzt
auf uns gewartet?“ Das war für diejenigen, die diese Zeit brauchten,
nicht selbstverständlich. Auch für
sie war das ein Lernprozess.
Was Religion anbelangt, möchte ich noch eine Sache erwähnen.
Uns war dann schon klar, dass auch
Religion bei dieser Weiterbildung
im Vordergrund stehen sollte, weil
das für die Identität der Jugendlichen wichtig ist. Dazu entwickeln
wir jetzt ein Projekt mit dem Rat
der Religionen. Das Ziel ist, dass
Jugendliche sich zeigen können,
wo sie in der Stadtgesellschaft stehen. Dazu soll unter anderem eine
interreligiöse Stadttour entwickelt
werden, die man zum Beispiel
Schulen anbieten kann. Jeweils
zwei Jugendliche einer Gemeinde
entwickeln einen Baustein, in dem
sie ihre Religion und ihre Gemeinde vorstellen und sich den Fragen
der Schüler stellen. Die verschiedenen Bausteine können dann zu
einer interreligiösen Stadtführung
beliebig kombiniert werden, je
nach Interessen der jeweiligen
Schule.
Podium 2: Veränderungen in der pädagogischen Arbeit
Heißt das, dass man der gesamten
Frankfurter Bevölkerung bewusst
macht, dass diese Religionen hier
in Frankfurt und zwar an diesen
Orten stattfinden?
Hafida Allouss:
Aus meiner Sicht als Außenstehende kann ich sagen, dass es
auch für die Moscheen schwierig
ist, die Jugendlichen zu erreichen.
So wie die religiöse Praxis von der
ersten Generation gelebt oder erklärt wird, das kommt bei den Jugendlichen oft nicht mehr an. Die
Jugendlichen in den Moscheengemeinden nutzen die Gruppen
auch zur Neudefinition für sich
selbst, um zu schauen, wie das für
sie richtig ist. Gilt für mich noch
das, was meine Eltern leben? Auch
die Rolle der Frau, die Bildung, all
das können sie mit den Jugendleitern diskutieren und für sich
klären, ob das, was die Tradition
der Eltern betrifft, noch ihre Tradition sein kann. Deshalb sind diese
Gruppen für die Jugendlichen so
wichtig.
Obwohl die Jugendarbeit auf diesem Podium unser Thema ist, will
ich doch noch einmal die Frage
nach dem muttersprachlichen
Gottesdienst aufgreifen. Herr Tarchis, wie erleben Sie das? Sie haben gesagt, es ist völlig selbstverständlich, dass bei Ihnen im Jugendzentrum deutsch gesprochen wird. Aber ist das auch das
Bedürfnis der jüdischen Jugendlichen unterschiedlicher Herkunft?
Wir haben heute Morgen gehört,
dass es in der portugiesischsprachigen Gemeinde das Bedürfnis
gibt, auch in der zweiten und dritten Generation über die eigene
Sprache Wurzeln und Identität zu
suchen.
Alexej Tarchis:
Ich glaube, in der Jüdischen Gemeinde ist es weniger der Fall.
Ich höre bei den Jugendlichen,
die noch als Kinder eingewandert
und jetzt schon Erwachsene sind,
inzwischen sehr selten Russisch.
Man hört auch, wenn sie vom Jugendzentrum aus mit ihren Eltern
telefonieren und sagen, dass sie
später kommen, dass sie nicht
mal mehr wirklich gut Russisch
sprechen können. Das ist die Generation, die hier aufgewachsen
ist. Natürlich gibt es Ausnahmen.
Schimpfwörter zum Beispiel benutzt man immer noch in der Muttersprache, das kennt man. Aber
auf jeden Fall ist Deutsch eher da
und die Bereitschaft, russisch zu
sprechen, ist weniger da. Man hört
es noch, aber inzwischen immer
weniger.
Verbindet sich damit ein Interesse
an anderen Religionen? Also dass
man sagt, ich lebe hier in Deutschland und schaue, wie die christlichen oder die muslimischen Jugendlichen leben? Gibt es im Jugendzentrum der Jüdischen Gemeinde eine Offenheit für eine
interkulturelleökumenischeJugendleiter-Card?
73
Religion und Migration: Signale der Veränderung
Alexej Tarchis:
Ich muss ehrlich sagen, das ist
nicht in erster Linie ein Schwerpunkt in unserer Arbeit. Ich muss
als Jugendleiter bestimmen, was
wir machen. Meine Meinung diesbezüglich war immer, dass es
noch genug Nachholbedarf an
Wissen über das Judentum gibt.
Bevor man nach außen geht und
die anderen Religionen kennen
lernt und hinterfragt, muss man
seine eigene Religion gut kennen.
Auf der anderen Seite erleben die
Jugendlichen das Andere in der
Schule und bei den Freunden, die
aus anderen Religionen kommen.
Das heißt, man erlebt das schon.
Ich würde aber nicht sagen, dass
man da sehr tief nachforscht.
Wie ist das in den Moscheegemeinden? Auch hier haben wir ja
ganz unterschiedliche Herkunftsländer und Gemeinden, die schon
nach den Herkunftsländern organisiert sind. Wir haben schon gehört, dass sich da untereinander
einiges tut, um aufeinander zuzugehen und sich auszutauschen
bzw. sich zu vernetzen. Wie groß
ist in den muslimischen Gemeinden die Offenheit, sich mit der
jüdischen, der katholischen oder
der evangelischen Religion zu befassen?
Hafida Allouss:
Meine Gemeinde ist auch eine
deutschsprachige Gemeinde. Dort
finden das Freitagsgebet und alles
andere in der deutschen Sprache
74
statt. Im interreligiösen Dialog
sind wir sehr aktiv. Dadurch, dass
uns z.B. beim Freitagsgebet immer
wieder Schulklassen oder andere
Gäste besuchen, befinden wir uns
in einer ständigen Auseinandersetzung. Auch beim Tag der offenen Moschee kommen viele Gäste
und es wird viel diskutiert. Also in
dieser Hinsicht findet ein intensiver
Austausch statt. Aber auch bei uns
ist es so, dass die Mitglieder unserer Moschee von sich aus nicht
unbedingt nach außen gehen. Sie
sind viel zu sehr mit sich und mit
ihren alltäglichen Problemen beschäftigt. Was die Sprache anbetrifft, auch das erlebe ich so, dass
sich die Jugendlichen der zweiten oder der dritten Generation
vielmehr in der deutschen Sprache beheimatet fühlen. Das ist
die Sprache, in der sie sich in den
Jugendgruppen, zumindest in denen, die ich kenne, verständigen.
Inwieweit wird daran gedacht, bei
der ökumenischen JugendleiterCard auch jüdische oder muslimische Jugendliche mit reinzuholen?
Dietmar Will:
Im Kopf ist es schon, nur ich denke, dass das Sichselbstfinden, das
Untereinander-Austauschen seine Zeit braucht und im nächsten
und übernächsten Schritt auch
das Auseinandersetzen mit den
anderen Religionen, auch dafür
muss man sich Zeit nehmen. Deswegen gibt es für mich nicht dieses „Entweder-Oder“. Es braucht
Podium 2: Veränderungen in der pädagogischen Arbeit
eine halbwegs gesicherte eigene
Identität, um in den Dialog zu treten. Wenn ich keine eigene Identität, keine eigene Rollensicherheit
habe, dann bewege ich mich im
Dialog auf sehr dünnem Eis. Deswegen ist das zwar wichtig, aber im
Kopf erst in der zweiten oder dritten Phase möglich. Wichtig ist es,
weil das die gelebte Normalität in
Frankfurt ist. Aber das Bewusstsein
dafür, das zu reflektieren, ist noch
eher spärlich vorhanden. Gerade
bei der interkulturellen Jugendleiter-Card ist zum Beispiel auch ein
Mitglied von der Französisch-reformierten Gemeinde dabei, also
auch ein Christ oder eine Christin.
Deswegen hat das hat auch seine
Berechtigung. Ich konnte es gut
nachvollziehen, was Sie von dem
jüdischen Jugendzentrum gesagt
haben, würde aber trotzdem sagen, von der Zielsetzung her muss
deutlich werden, dass wir uns da
interkulturell auch in einem religiösen Feld bewegen und das wir das
entsprechend reflektieren und in
unsere Überlegungen und Arbeit
mit aufnehmen müssen.
Wenn man sagt, wir machen alle
zusammen eine Jugendleiter-Ausbildung und alle machen dann in
ihren Gemeinden dasselbe, worin
liegt dann der Unterschied, ob ich
als Jugendliche in eine Gemeinde
gehe mit meinem religiösen Hintergrund, oder in eine ganz andere Gemeinde, oder gar in das städtische Jugendzentrum?
Christina Bender.
Ich würde das jetzt nicht nur auf
die Gemeinden beziehen. Wir haben zum Beispiel eine Jugendfeuerwehr. Wenn man eine Jugendleiter-Ausbildung macht, trifft man
auch auf ganz unterschiedliche Jugendliche mit ganz unterschiedlichen kulturellen und religiösen
Prägungen. Dann reicht es nicht,
vorher mit Christen zusammen gewesen zu sein und sich da ein bisschen auszukennen, sondern dann
ist es wichtig, diese Erfahrungen in
die Ausbildung mit einzubringen.
Dann kann nämlich über Erfahrungen berichtet werden, wie z.B.
Ich hatte noch nie mit Kopftuchträgerinnen zu tun und das war eine
ganz tolle Erfahrung. Wir haben in
einem Raum geschlafen und ich
war dabei, als sie gebetet haben.
Also einfach so etwas.
Beitrag aus dem Publikum
Dr. Brigitta Sassin:
Also für unsere Jugendlichen, die
Jugendlichen der katholischen Gemeinden hier aus Frankfurt, ist es
wichtig, dass sie sich untereinander vernetzen und erfahren, sie
sind alle Jugendliche in dieser gemeinsamen Kirche, aber leben ihren Glauben sehr unterschiedlich,
leben ihn in unterschiedlichen
Sprachen und kommen aus unterschiedlichen kulturellen Traditionen. Und wenn dann indische
Jugendliche mit eritreischen und
deutschen Jugendlichen zusammen einen Jugendgottesdienst
vorbereiten, dann ist das span75
Religion und Migration: Signale der Veränderung
nend für alle. Uns von der Katholischen Kirche ist es wichtig, dass
diese Vernetzung passiert und
diese Vernetzung, diese Verständigung zunächst in unserem Rahmen passiert. Wir sind glücklich,
dass wir das anbieten können und
wir ermutigen unsere Leute, das
zunächst in diesem Rahmen zu tun.
Das Angebot der Stadt schätzen
wir sehr, aber wir haben auch die
Möglichkeit, diese Vernetzungen,
diese Verortung und das Wachsen
der eigenen Identität selber anzubieten.
Dann ist also die eigene Kirche
doch wichtiger?
Dietmar Will:
Ich würde nicht sagen wichtiger,
aber ich würde sagen, die Grundlage, die Basis, die Zugehörigkeit zu
einer eigenen Gruppe ist wichtig.
Wir leben ja religiös nicht global.
Religion ist immer sehr konkret,
verbunden mit Bekenntnissen und
Riten. Das finde ich auch gut und
das sollte man nicht gegeneinander ausspielen. Es ist wichtig, eine
eigene Identität zu haben, dann
aber auch zu sagen, ich bin nicht
allein, wie gehe ich jetzt mit dem
anderen um, also auch das miteinander lernen.
Für die Schlussrunde will ich die
Frage aufnehmen, was genau
unter interreligiösen bzw. interkulturellen Kompetenzen zu verstehen ist. Was brauchen wir für
die Begegnung. Herr Tarchis, Sie
76
haben beschrieben, dass Sie auch
Programme und Projekte haben,
in denen Sie die jüdischen Jugendlichen über ihre Wurzeln,
ihre Herkunftsreligionen oder Herkunftsländer informieren und über
die Besonderheiten, die es in der
Ausübung der Religion gibt. Andererseits haben Sie gesagt, dass
auch die Einheitsgemeinde stark
im Mittelpunkt steht, und dass
Deutsch die Sprache in den Projekten ist. Das heißt, Sie haben innerhalb der Jüdischen Gemeinde
Aufklärung über die Unterschiede aber auch die Begegnungen.
Wenn Sie jetzt nach vorne schauen, wo meinen Sie, könnte beides
aus der Jüdischen Gemeinde heraus in die andere Öffentlichkeit in
Frankfurt stattfinden?
Alexej Tarchis:
Was den Dialog angeht, ist das
schwierig. Da war der Vorschlag,
dass man selber viel über sich
lernt, wenn einem Fragen gestellt
werden, dass die Jugendlichen
das unmittelbar erleben. Das stimmt auf jeden Fall. Das Problem dabei ist nur, dass man oft nicht die
Fragen erlebt, sondern eher Anfeindungen, und dadurch verschließt man sich eher als etwas
über sich zu lernen oder zu erzählen. Ein Projekt aus Heidelberg
bzw. Baden-Württemberg könnte hier für die Zukunft interessant
sein. Da werden jüdische Jugendliche für den Dialog vorbereitet.
Man kann ja die Jugendlichen
nicht einfach irgendwo in eine an-
Podium 2: Veränderungen in der pädagogischen Arbeit
dere Gemeinde schicken, damit
sie etwas über sich oder über ihre
Religion und Identität erzählen.
In diesem Projekt werden die Jugendlichen darauf vorbereitet, um
dann in die Klassen zu gehen. Sie
werden oft von Schulen eingeladen, um zu zeigen, dass jüdische
Jugendliche genauso normale Jugendliche sind, dass sie hier leben und deutsch sprechen und
die gleichen Probleme haben wie
Jugendliche aus anderen Kulturen
oder Religionen. Das Projekt läuft
jetzt seit zwei Jahren und es trägt
positiv zu diesem Dialog bei. Vor
allem für die jüdischen Jugendlichen ist es glaube ich positiv, weil
sie erleben können, dass man sich
für sie interessiert und sie sich darauf vorbereiten können.
Wenn Sie sich das für die muslimischen Jugendlichen anschauen, vielleicht auch für die muslimischen Frauen, mit denen Sie in
dem Kompetenzzentrum zusammen arbeiten. Wo sehen Sie, Frau
Allouss, die nächsten möglichen
Schritte?
Hafida Allouss:
Ich sehe das auch so, dass der interreligiöse oder der interkulturelle Dialog ein Stück weit begleitet
werden muss. Während der Diskussion kam mir der Gedanke,
dass die Jugendleiter, die an der
interkulturellen Juleica teilnehmen, diesen Dialog ein Stück weit
begleiten könnten. Gerade die
Jugendlichen müssen sich mit ih-
rem Glauben auseinandersetzen,
in dem Sinne, wie und was will
ich praktizieren, was habe ich von
meinen Eltern mitbekommen, was
möchte ich selbst daraus machen
bzw. weitergeben. Die Adoleszenz ist eine sehr sensible Phase
und die müsste begleitet werden.
Wenn man später den Dialog eröffnet, dann muss das zuerst in einem kleinen, geschützten Rahmen
stattfinden.
Es geht also um kleine Schritte,
die aber passieren müssen. Mit
Blick auf die Jugendarbeit, Herr
Will, was ist mit interreligiöser
Kompetenz gemeint?
Dietmar Will:
Ich will noch einmal wiederholen,
dass in der Juleica, in der Jugendleiter-Card, die Inhalte zu achtzig
Prozent festgelegt sind. Die bildet
Mitarbeiter aus, die in der Jugendarbeit tätig sind. Achtzig Prozent
der Methoden und der Inhalte sind
dort festgelegt. Deswegen will ich
davor warnen, diese JugendleiterCard zu überfrachten. Über die
zwanzig Prozent, die da noch offen
sind, sollte man verhandeln und
für Themen reservieren, die den
jeweiligen Bedürfnissen entsprechen. Ob es dabei um die eigenen
Rollen geht, die Rolle der Religionen in der Gesellschaft oder um
die Grenzen und Möglichkeiten
des Dialogs, das sollten wir den jeweiligen Bedürfnissen der Teilnehmenden überlassen. Ich möchte
jetzt nicht definieren müssen, was
77
Religion und Migration: Signale der Veränderung
interreligiöse Kompetenzen sind.
Da begeben wir uns nach wie vor
auf Glatteis. Ich würde aber sagen,
dass wir dazu Module anbieten,
und zwar dort, wo es uns sinnvoll
erscheint, interreligiös zu agieren.
Dazu können wir zum Beispiel Vertreter aus den jeweiligen Religionen einladen, um punktuell und
praktisch zusammen zu arbeiten.
Das war jetzt keine echte Antwort
auf Ihre Frage, aber ich wollte das
auf diese Weise zusammenfassen.
Ich will damit den Erwartungsdruck für die Jugendleiter-Card
zurücknehmen und eher erläutern,
was sie leisten und was sie nicht
leisten kann. Es ist ein Handwerkszeug, um die Rollensicherheit, das
Reflexionsvermögen und vieles
mehr mit praktischen Übungen zu
lernen.
Heißt das dann aber auch, dass
mit der interkulturellen oder der
ökumenischen Jugendleiter-Card
die Jugendarbeit perspektivisch
gesehen in zehn Jahren nicht nur
ökumenisch sein wird?
Dietmar Will:
Die Jugendarbeit wird immer
an die jeweiligen Gemeinden
oder Vereine gebunden bleiben.
Es muss aber möglich sein, diese Netzwerke, den gesicherten
Raum herzustellen, damit die Begegnung möglich wird. Das betrifft die Vermittlung von Inhalten
genauso, wie das gegenseitige
sich Entdecken und sich Erleben. Beides gehört zusammen,
78
damit eine interkulturelle bzw.
eine multikulturelle Stadtgesellschaft heranwächst. Das ist für
mich auch eine Aufgabe derer,
die jetzt in Verantwortung stehen,
dazu brauchen wir diese Instrumentarien.
Wie sehen Sie das Frau Bender?
Sie arbeiten mit der interkulturellen Juleica und haben gesagt,
früher hat uns das Thema Religion
nicht gekümmert, jetzt sind wir da
aber eingestiegen. Sicher haben
auch Sie eine Vorstellung davon,
wo Sie damit hin wollen. Was ist
Ihr Wunsch?
Christina Bender:
Mein Wunsch ist auf jeden Fall,
dass die Juleica, die wir jetzt als
Ausbildung anbieten, in Zukunft
nicht mehr interkulturelle Juleica heißen sollte, sondern dass es
selbstverständlich wäre, wenn in
diesen achtzig Prozent, die bundesweit gelten, interkulturelle Anteile schon mit enthalten wären,
sodass wir das nicht gesondert
entwickeln müssen. In der Zukunft
sollte es selbstverständlich sein,
dass es zu so einer Ausbildung
dazu gehört, um auf diese gesellschaftlichen Veränderungen,
mit denen wir es in der pädagogischen Arbeit zu tun haben, zu
reagieren. Mein Wunsch wäre,
dass man sich im Sozialministerium dazu Gedanken machen und
Konzepte entwickeln sollte. Das
ist meine Vision. Die andere Vision
ist, dass der Aufbau der Jugend-
Podium 2: Veränderungen in der pädagogischen Arbeit
arbeit in den Zuwanderergemeinden gelingt, so dass wir dann gemeinsam mit diesen Jugendlichen
partizipatorische Projekte machen
können. Unser Ansatz ist, dass wir
partizipatorisch arbeiten, dass wir
das mit einfließen lassen können,
wohin wollen sie, was wollen sie,
und dann gemeinsam Projekte
entwickeln. Das ist meine Vision.
Wir haben auch auf diesem Podium
wieder viel über Brücken gesprochen und auch hier ist noch einmal klar geworden, dass man nicht
nur gut koordinieren und kommunizieren muss, sondern dass
auch die Fundamente an all den
Seiten, von denen aus die Brücken gebaut werden, stabil sein
müssen, damit eine stabile Brücke
zustande kommt. Wenn es uns gelingt, diese Brücke zu bauen, dann
können unsere Kinder und auch
die Jugendlichen vielleicht leichter darüber gehen.
79
Religion und Migration: Signale der Veränderung
Magdalena Modler
Die Chance zwischen Tradition und Aufbruch.
Potenziale und Herausforderungen außerschulischer Jugendarbeit in religiösen Gemeinden mit Migrationsgeschichte*
Die Bedeutung der außerschulischen Jugendarbeit erfährt in den
letzten Jahren einen Aufschwung.
Hier wird nicht nur ein ganz pragmatischer Bedarf „vor Ort“ angemeldet, sondern auch fern von der
kommunalen, stadtgesellschaftlichen Sphäre, zum Beispiel auf EUEbene verstärkt ein Fokus auf die
„non-formal education“ gelegt. Am
Beispiel von Frankfurt lässt sich
beobachten, dass sich gerade in
den letzten Jahren vieles in dieser
Hinsicht neu formiert hat. Das liegt
nicht nur an den freien Trägern der
Jugendhilfe oder städtischen Institutionen, die diese Entwicklung
teilweise gezielt vorangetrieben
haben und langsam in das Blickfeld der Öffentlichkeit rücken. Es
liegt selbstverständlich zunächst
an der Situation innerhalb der Zuwanderergemeinden selbst. Sie
unterscheidet sich überraschenderweise in nur sehr geringem
Maße. Ob koptisch-orthodox, protestantisch mit Ursprüngen in Kamerun oder polnisch-katholisch,
schiitische Gruppen aus der Türkei,
sunnitische Muslime aus Marok-
ko oder bei afghanischen Hindus
– sowohl die (neue) Aufbruchsstimmung in den Gemeinden, als
auch die vielschichtige Problematik, der sich ihre Mitglieder stellen
müssen, sind sich oft sehr ähnlich.
Die Lebenswirklichkeiten sind
verschieden
Man hat erkannt, dass nach neuen Wegen gesucht werden muss,
um als religiöse Gemeinde länger
zu bestehen. Der Elan, dafür etwas zu tun, kann jedoch Hand in
Hand gehen mit Konfliktsituationen, mit denen sich die Gemeinden konfrontiert sehen und die
das Gemeindeleben belasten. Der
Generationenkonflikt, der auch unabhängig von diesen äußeren Bedingungen schon ein fester Bestandteil der Lebensphase „Jugend“ ist, wird in diesen Gruppen
überdeutlich spürbar. Ein Grund
dafür sind sicherlich die so fundamental verschiedenen Lebenswirklichkeiten. Kontexte, in denen noch
die Älteren aufgewachsen sind
und jene, die sich nun der nach-
* Dieser Beitrag ist bereits erschienen in: Jörg Walther und Dietmar Will (Hrsg.): Ökumenische Jugendleiter-Card. Frankfurt am Main 2011
80
Magdalena Modler
wachsenden Generation hier vor
Ort präsentieren, variieren stark.
Die kulturellen Codes, denen die
Jüngeren sich anpassen, oder sie
gar als die eigenen empfinden,
sind der ersten Generation von
Zuwanderern oft nicht nur fremd,
sondern gelten ihr auch nicht unbedingt als nachahmens- und
erstrebenswert. Die Gemeinden
sehen sich dem Dilemma gegenüber, einerseits einen heimatverbundenen Rückzugsort zu
schaffen, andererseits weiterhin
bestehen bleiben zu wollen. So
müssen sie auch Raum bieten, an
dem die nachkommende Generation sich mit den hiesigen Realitäten auseinandersetzen kann und
darf.
In der Vergangenheit standen
meist ganz pragmatisch die Überlebensprioritäten der ersten Einwanderergeneration im Vordergrund: Wo feiern wir Gottesdienst?
Wie helfen wir unseren Mitgliedern
bei Behördengängen? Wie regeln
wir unsere Finanzen? Tragfähige
Strukturen für eine lebendige Jugendarbeit waren zunächst in vielen Fällen nicht angelegt. Sie sind
aber jetzt eine Voraussetzung für
das Fortleben der Gemeinde. Das
bedeutet nicht unbedingt, dass es
den Gemeinden an Nachwuchs
fehlt. Woran es vielmehr mangelt,
sind Perspektiven, am Gemeindeleben teilzunehmen und dieses
mitzugestalten. Das heißt Perspektiven, die für Jugendliche und junge Erwachsene attraktiv sind und
ihnen die Chance und die Freiheit
bieten, ihre eigenen Zukunftsvorstellungen einzubringen. Wichtig
ist, in den Gemeinden zu vermitteln, dass dies im Umkehrschluss
nicht bedeutet, dass „die Alten die
Bühne räumen müssen“. Sie haben
in Bezug auf die Gemeindejugend
oftmals Angst, dass die jüngere Generation ihre Religion oder
„Heimat“ vergisst. Andererseits
kann gleichzeitig die Sorge, dass
Jugendliche und junge Erwachsene aus ihnen nicht ersichtlichen
Gründen den gemäßigten Boden
religiöser Überzeugungen verlassen und sich radikalen Einstellungen und Gruppen außerhalb der
Gemeinde zuwenden, eine Rolle
spielen. Beide Extreme sind teilweise vorhanden, zeigen aber zunächst den Bedarf nach eigenen
Strukturen, um beiden Phänomenen angemessen zu begegnen.
Stärken entdecken – Verantwortung übernehmen – Konflikte
lösen
Ein verstärkter Fokus auf die Kinder- und Jugendarbeit seitens
der Gemeinden mit Migrationsgeschichte und deren institutionellen
Partnern kann eine Chance für alle
Beteiligten sein. Einerseits kann
so die religiöse Identitätsbildung
von jungen Menschen auf sie zugeschnitten, konstruktiv begleitet
und unterstützt werden. Andererseits wäre dies aber auch ein aktiver Beitrag zur Gewährleistung
und Tragfähigkeit basisdemokrati81
Religion und Migration: Signale der Veränderung
scher Strukturen. Jugendgruppen
und selbstverantwortliche Gestaltung von Projekten durch Jugendliche können einen idealen und
geschützten Rahmen bieten für
zivilgesellschaftliches
„empowerment“ im weitesten Sinne. Die
Entwicklung einer selbstreflektierten Persönlichkeit, Erprobung
eigener Stärken und Schwächen,
erste Erfahrungen von Teamarbeit
und Konfliktlösungsstrategien und
ein Bewusstsein für Verantwortung
gegenüber gesellschaftlichen Prozessen werden hier ermöglicht
und unterstützt. Demokratie und
Partizipation können als erfahrbare Lebenswirklichkeit und nicht
als entfernt bekannte Regierungsform erlernt werden. Klassische
Formen der Jugendarbeit bieten Erfahrungswerte, die auf die
spezielle Zielgruppe übertragen
oder aber zu neuen Strategien
weiterentwickelt und angepasst
werden können. Bedingungen für
die oben erwähnten Lern- und
Entwicklungsprozesse sind in gegenwärtiger Jugendarbeit in den
verschiedensten Kontexten gegeben. Zu nennen wären hier kooperative Handlungsweisen und die
Reflexion der Jugendleiter und
Leiterinnen über Methoden und
ihre eigene Rolle in der Jugendarbeit. Jugendliche erleben sich innerhalb von Jugendarbeitsstrukturen als „Lehrende“ und werden
als Repräsentanten und Vorbilder
ernst genommen und gefordert.
Erfolge der partizipativen Jugendarbeit sind u.a. auf eben diesen
82
Rollenwechsel zurückzuführen, Leitungs- und Organisationsverantwortung werden freiwillig und
gern übernommen, da eine Art
„empowerment“ Effekt entsteht.
Ihnen eröffnen sich außerdem
Möglichkeiten zum Einüben von
eigenen Handlungsoptionen und
des Umgangs mit Gruppenprozessen und -dynamiken.
Diese Grundfesten der Jugendarbeit können insbesondere an
Bedeutung gewinnen, wenn es
sich bei der Zielgruppe um Kinder
und Jugendliche handelt, die teilweise aus sogenannten „bildungsfernen“ Milieus stammen und/
oder in ihrem Leben mit Erfahrungen sozialer Benachteiligung konfrontiert waren. Es kann eine Chance sein, schulische Versäumnisse
oder Diskriminierung struktureller
Art positiv ergänzen zu können.
Es ist daher wichtig, Strukturen zu
schaffen und weiter zu unterstützen, die Identitätsentwicklung in
einer fördernden, zu eigenen Positionen anregenden und wertschätzenden Atmosphäre ermöglichen.
Zukunft gemeinsam erarbeiten
Für die bereits etablierten Institutionen und Verbände der Mehrheitsgesellschaft stellen sich verschiedene Aufgaben, um diese
Prozesse konstruktiv mitzugestalten und zu unterstützen. Dabei ist
es wünschenswert, Bemühungen
und Austausch von Erfahrungen
möglichst ohne eine paternali-
Magdalena Modler
sierende Haltung anzugehen. Zunächst sollte eine Bestandsaufnahme von schon vorhandenen
Strukturen der Jugendarbeit in
Gemeinden mit Zuwanderergeschichte vorgenommen werden,
die den Status quo möglichst realitätsnah beschreibt. Daran anschließen sollte sich die Frage,
welche Möglichkeiten es gibt,
Bedürfnisse aufzunehmen und bereits begonnene Prozesse weiter
zu unterstützen. In Frankfurt geschah dies in einigen Fällen bereits
erfolgreich (Internationaler Konvent/evangelische muttersprachliche Gemeinden mit der ÖkJuleica; Hessisches Islamforum, Amt
für multikulturelle Angelegenheiten, Frankfurter Moscheegemeinden mit einem Forum zu „Jugendarbeit in Moscheegemeinden“).
Anschließend sollten die „human
resources“ sondiert werden, d.h.
Multiplikatoren und Multiplikatorinnen aus den Gemeinden sollten
identifiziert und mit bedarfsorientierten Informationsveranstaltungen, Professionalisierungsangeboten und Überblicksbroschüren
für die Praxis in den eigenen Kontexten unterstützt werden (Kontext
Frankfurt: Entwicklung der „Interkulturellen Juleica“ und eines „Jugendforums“ seitens des AmkA,
des Frankfurter Jugendbildungswerks und des Jugendrings Frankfurt).
Zukunftsorientiert gedacht, wäre
es durchaus lohnenswert, sich
mit der Arbeit in anderen euro-
päischen Großstädten besser zu
vernetzen und über Gemeinsamkeiten und Unterschiede, „good
practice“ usw. zu sprechen. Teilnehmen an solch vernetztem Arbeiten sollten Institutionen, Initiativen und Jugendliche/junge
Erwachsene. Dies kann sowohl
gelten für die Arbeit in den großen Kirchen, für Kommunen wie
auch für Vereine und NGOs. Es
gilt, wie in einigen Beispielen auf
kommunaler Ebene bereits erfolgreich geschehen, zusammengeführte Initiativen und Projekte
auch länderübergreifend in europäischen Großstädten zu evaluieren und voneinander zu lernen.
Es gibt bekanntermaßen viel mehr
Ähnlichkeiten z.B. zwischen Frankfurt und Mailand oder London als
zwischen einigen deutschen Großstädten. Gerade in Fragen, die die
Jugendarbeit betreffen, kann es
also von großem Gewinn für alle
Beteiligten sein, diese Ähnlichkeiten aufzugreifen und gemeinsam
an Zukunftsstrategien zu arbeiten.
Ausgewählte Literatur zum Weiterlesen
Non-Formale/Informelle Bildung:
Rauschenbach, Th./Düx, W./Sass,
E. (Hg.) (2006): Informelles Lernen
im Jugendalter: vernachlässigte
Dimensionen der Bildungsdebatte. München, Weinheim.
83
Religion und Migration: Signale der Veränderung
Sozialisationsphase Jugend:
Hurrelmann, K. (2007): Lebensphase Jugend. Eine Einführung
in die sozialwissenschaftliche Jugendforschung, 9. Aktualisierte
Auflage. Weinheim, München.
Peer-Trainings:
Nörber, M. (2003): Peer Education – Ein Bildungs- und Erziehungsangebot? In: ders. (Hg.):
Bildung und Erziehung von Gleichaltrigen durch Gleichaltrige. Weinheim et al., S. 79–93.
84
Christina Bender, Vera Klinger
Christina Bender, Vera Klinger
Die Frankfurter „Juleica interkulturell“
Um die Arbeit von ehrenamtlich
in der Kinder- und Jugendarbeit
tätigen jungen Menschen zu unterstützen und zu professionalisieren, bieten verschiedene Träger
in Frankfurt erstmals seit 2010 in
einer Trägerkooperation eine Jugendleiterausbildung an. Diese
wird verbunden mit dem Erwerb
der bundeseinheitlich anerkannten Jugendleiter bzw. Jugendleiterin-Card. Diese beinhaltet eine
amtliche Legitimation, die in allen
Bundesländern gleichermaßen anerkannt wird und eine Reihe von
Vergünstigungen (z.B. freie Eintritte) ermöglicht. In Frankfurt bieten derzeit folgende Frankfurter
Jugendverbände die Ausbildung
an: Deutsche Jugend aus Russland e.V., Evangelisches Stadtjugendpfarramt, Jugendfeuerwehr,
Katholische Jugend, Naturfreundejugend, SJD – Die Falken und
Solidaritätsjugend Frankfurt. Speziell für die Gruppe der Jugendlichen aus christlichen Zuwanderergemeinden hat die Evangelische
Pfarrstelle für Ökumene zusammen mit weiteren evangelischen
Trägern die „Ökumenische-Juleica“ entwickelt . Zuständig für die
Vergabe der Jugendleiter-Card
ist das Jugend- und Sozialamt der
Stadt Frankfurt.
Etwa achtzig Prozent der Ausbildungsinhalte der Jugendleiterausbildung sind inhaltlich festgelegt.
Sie umfassen folgende Schwerpunkte: Arbeit in und mit Gruppen/Rechts- und Versicherungsfragen/Organisation und Planung/
Entwicklungsprozesse/Lebenssituation sowie Informationen zum
Rollen- und Selbstverständnis von
Kindern und Jugendlichen. Weitere zwanzig Prozent der Inhalte
werden trägerspezifisch ausgestaltet – diese orientieren sich vornehmlich am Trägerprofil und unterschiedlichen Zielgruppen. Für
Frankfurt bedeutet dies, dass es
ein Angebot für eine große Gruppe eher trägerorientierter junger
Interessierter gibt, wobei zu bemerken ist, dass der Qualifizierungsbedarf ehrenamtlich tätiger
junger Leute aus den zahlreichen
Zuwanderergruppen bisher kaum
speziell berücksichtigt wurde. Eine
Ausnahme bildet dabei die „Deutsche Jugend aus Russland“ und
die „Ökumenische-Juleica“.
Hier setzt das interkulturelle
Frankfurter Projekt an, das im Rahmen einer Arbeitsgruppe entwickelt wurde. Koordiniert vom Amt
für multikulturelle Angelegenheiten (AmkA) trafen sich in einem
85
Religion und Migration: Signale der Veränderung
Arbeitskreis Vertreterinnen und
Vertreter des Jugend- und Sozialamtes, der evangelischen Kirche/
Jugendarbeit, des Frankfurter Jugendrings, des Verbandes „Deutsche Jugend aus Russland“, des
muslimischen Verbandes „Grüner
Halbmond“, des Hessischen Islamforums, der Moscheegemeinde
„IIS“ und das „Kompetenzzentrum
Muslimische Frauen Rhein-Main“.
Der Ansatz ging von dem Bedarf
für eine Jugendleiter-Ausbildung
speziell für junge Leute in den
Moscheegemeinden aus. Dieser
Bedarf wurde durch Gespräche
mit Vorständen von Moscheegemeinden deutlich, die ihre Frage
„was können wir den jungen Leuten heute anbieten“ wiederholt
in Gesprächen mit dem AmkA
thematisiert wurde. Da es keine
Kenntnis und keine entsprechend
ausgebildeten Mitarbeiter in den
Gemeinden gab, war oftmals –
gerade bei Vorständen der ersten Zuwanderergeneration – der
„gut Deutsch sprechende junge
Prediger“ aus Sicht der Vorstände
die einzig vorstellbare personelle
Wahl. Ein erster Workshop zum
Thema „Jugendarbeit in den Moscheegemeinden“ machte in einzelnen Gemeinden beeindruckende Entwicklungen sichtbar, dabei
wurden aber Qualifizierungsbedarfe und Wünsche bei den im
Jugendbereich Engagierten mehr
als deutlich.
In einer optional denkbaren
„Muslimischen Juleica“ sollten die
86
spezifischen Erfahrungen muslimischer Kinder und Jugendlicher
angemessen aufgegriffen und thematisiert werden. Im Laufe des Arbeitsprozesses des Arbeitskreises
wurde deutlich, wie groß der Bedarf auch bei Gruppen aus anderen Zuwanderermilieus ist. Dabei
wurde ebenfalls deutlich, dass die
oben beschriebene Grundqualifikation, die die bereits angebotenen „Juleicas“ sicherstellen, durch
weitere Aspekte ergänzt werden
muss. Thematisiert werden sollten
vor allem die spezifischen Lebenswelten in den unterschiedlichen
Zuwanderermilieus, die jeweiligen
religiösen und kulturellen Prägungen, das Verhältnis der Generationen untereinander und die Erfahrungen in unserer Gesellschaft,
die von einzelnen Gruppen immer
noch als ausgrenzend oder diskriminierend erlebt werden.
2010 wurde erstmals vom kommunalen Jugendbildungswerk Frankfurt in Kooperation mit dem Amt
für multikulturelle Angelegenheiten und dem Frankfurter Jugendring ein neues Konzept einer
„Jugendleiterausbildung interkulturell“ entwickelt, die durch spezifische Bausteine (z.B. zur Arbeit
mit muslimischen Kindern und
Jugendlichen) ergänzt wird. Die
Ausbildung, die neben notwendigen Basisinformationen auch
methodische Hilfen zu den pädagogischen Grundsätzen der Kinder- und Jugendarbeit enthält,
vermittelt demokratische Grundla-
Christina Bender, Vera Klinger
gen der Bundesrepublik Deutschland und befähigt Jugendliche in
ihren jeweiligen Strukturen zielgruppenorientiert zu arbeiten. Die
interkulturelle Jugendleiterausbildung soll junge Menschen unterstützen, offen für eine multikulturelle Gesellschaft zu sein, für die
plurale Gesellschaft einzutreten
sowie gleichzeitig die eigene religiöse und kulturelle Identität zu
bewahren und zu leben. Aus diesem Grund wurde dem Erwerb
interkultureller Kompetenz ein hoher Stellenwert in der Ausbildung
beigemessen.
Der erste Ausbildungslauf der
„Juleica interkulturell“ startete
im März 2011 in der Jugendherberge Wiesbaden. Der interkulturelle Ansatz zeigte sich bereits
in der Zusammensetzung der
Gruppe. Die sechzehn Jugendlichen und jungen Erwachsenen,
die daran teilnahmen, kamen aus
verschiedenen Gemeinden und
Kulturvereinen im Stadtgebiet. Vertreten waren die Evangelische Kirchengemeinde Sindlingen, der
Bildungs- und Kulturverein Frankfurt e.V., die Alevitische Jugend
Frankfurt e.V., die Kroatisch-Europäische Kulturgesellschaft, der
Grüne Halbmond e.V., der islamische
Sozialdienst-Deutschland
e.V., der Marokkanisch-IslamischeKulturverein e.V., die Katholische
Gemeinde Unterliederbach, der
Verein Islamische Informationsund Serviceleistungen e.V. sowie
die Hazrat Fatima Moschee e.V.
Neben einem ersten Kennenlernen standen die Entwicklung und
Förderung interkultureller Kompetenz sowie die Herausforderungen einer von Vielfalt geprägten
Gesellschaft im Vordergrund. Die
Begegnung war von Toleranz und
gegenseitigem Interesse geprägt,
sodass die ersten Rückmeldungen
der Teilnehmerinnen und Teilnehmer durchweg positiv ausfielen.
Am zweiten Ausbildungswochenende, das im Mai 2011 in der Naturschule Hessen stattfand, war
eingebettet in erlebnispädagogische Module. Die Arbeit mit Gruppen bildete dabei einen Schwerpunkt.
Einen Abschluss wird die Ausbildung nach den Sommerferien finden, in denen das Ferienkarussell
der Stadt Frankfurt den Teilnehmenden der Juleica-Ausbildung
Möglichkeiten für Praktika und
Hospitationen bietet, um erworbene Kenntnisse unter pädagogischer Anleitung erproben zu können. Das Abschlusswochenende
wird vom 2. bis 4. September 2011
im Haus der Jugend stattfinden
und wird sich schwerpunktmäßig
mit Kinder- und Jugendschutz sowie der Rolle von Jugendleiterinnen und Jugendleitern auseinandersetzen.
Aufgrund des großen Interesses
und da nicht allen Interessentinnen und Interessenten ein Ausbildungsplatz angeboten werden
konnte, wird voraussichtlich im
87
Religion und Migration: Signale der Veränderung
kommenden Jahr ein zweiter Ausbildungsdurchgang angeboten.
Zusätzlich ist eine erste Fortbildung mit interkulturellen Inhalten,
die auf Jugendarbeit mit muslimischen Kindern und Jugendlichen
bezogen sein wird, für September
2011 geplant.
88
Saskia Schneider, Jörg Walther, Dietmar Will
Saskia Schneider, Jörg Walther und Dietmar Will
Die ökumenische Jugendleiter-Card
in Frankfurt am Main – Ein Zukunftsthema für
die ganze Gesellschaft ...
Ein Gespräch mit den „Machern“ des Projektes*
Was war für Sie der Anlass, ein
Projekt gezielt für Jugendliche aus
Gemeinden nicht-deutscher Herkunft und Sprache anzubieten?
Jörg Walther:
Der Ausgangspunkt war, dass uns
eine Tatsache immer deutlicher
wurde: Im Rhein-Main-Gebiet gibt
es eine Vielzahl Gemeinden unterschiedlicher christlich-konfessioneller Herkunft, die sich regelmäßig zu Gottesdiensten treffen
und dabei meist in Kirchen und
Gemeindehäusern zu Gast sind.
Ihre Mitglieder kommen aus Ostoder Südost-Europa, Asien oder
aus Afrika. Zu ihrem sonntäglichen Programm gehört vielfach
auch die Begleitung von Kindern
und Jugendlichen. Doch die Ehrenamtlichen, die verschiedene
Altersgruppen betreuen, haben
in der Regel keine pädagogische
Vor- oder Ausbildung.
Dietmar Will:
Das geht bereits auf das Jahr 2003
zurück. Da gab es Interviews mit Jugendlichen aus Gemeinden fremder Sprache und Herkunft. Viele
aus dieser Zweiten Generation
sind hier geboren und fühlen sich
als Frankfurter, werden aber von
außen mit ihrer Herkunft und vermeintlichen Andersartigkeit konfrontiert und identifiziert.
Was war der erste Schritt in Richtung eines speziellen Angebotes
für diese Zielgruppe?
Jörg Walther:
Wir haben zunächst zu einem Erzählcafé eingeladen, damit sich
die Jugendlichen einmal kennenlernen und austauschen können.
Beim ersten Treffen haben wir
dann noch einmal richtig gemerkt,
wie wichtig es ist, ein spezielles
Angebot für diese Jugendlichen
* Das Interview ist entnommen aus: Ökumenische Jugendleiter-Card. Dokumentation.
(Hrsg.): Pfarrstelle Ökumene in Frankfurt am Main, Pfr. Dietmar Will. Zentrum Bildung
der EKHN, Fachbereich Kinder- und Jugend, Jörg Walter Evangelisches Jugendwerk in
Hessen, Frankfurt am Main 2011
89
Religion und Migration: Signale der Veränderung
zu machen. Es gab viele Fragen,
Ideen und Vorschläge und wir haben bereits dort die Gelegenheit
genutzt, über die Kriterien zur Erlangung der Jugendleiter-Card zu
informieren.
Welche Themen brannten den
Jugendlichen besonders auf den
Nägeln?
Saskia Schneider:
Zum Beispiel der Spagat, den die
Jugendlichen in ihren Gemeinden
zwischen den Kulturen machen
müssen – der des Herkunftslandes mit ihren Traditionen einerseits und dem alltäglichen Leben
in Deutschland andererseits. Aber
auch Klagen der Ersten Generation wie: Es gibt in unserer Gemeinde zwar viele Jugendliche, aber
wir erreichen sie nicht, wurden
geäußert. Und vor solchen Fragen
standen die Jugendlichen dann
ziemlich ratlos.
Dietmar Will:
Uns wurde sehr deutlich, welche
persönliche Leistung eigentlich
dahinter steckt, in zwei Welten zu
leben. Die zweite Migranten-Generation muss ja die Hauptintegrationsarbeit leisten und ist für den
weiteren Prozess gerade auch in
den Gemeinden ungemein wichtig. Wenn wir da nicht einen Fuß
in die Tür bekommen, ist die dritte Generation dann ganz aus dem
Gemeindeleben verschwunden.
Natürlich muss die Erste Generation in diesem Prozess auch lernen,
90
Dinge abzugeben, und das ist
auch mit Trauerarbeit verbunden.
Wie haben Sie dann nach den ersten Treffen weitergemacht?
Jörg Walther:
Unser Grundziel war ja, Mitarbeiterinnen aus Migrationsgemeinden für die Arbeit mit Kindern
und Jugendlichen zu qualifizieren.
Daher haben ganz gezielt Module
für die nächsten Mitarbeiterschulungstage erarbeitet und dabei
neben dem üblichen Kanon von
Angeboten in der Jugendleiterinnenausbildung starken Wert auf
Methoden der Gruppenarbeit gelegt. Dies stärkte die MethodenKompetenz und förderte gleichzeitig Gruppenbildung sowie gute
Beziehungen untereinander und
zueinander. Ich tue etwas für andere – aber auch für mich, diese
Haltung ist wichtig, um eine gute
Balance zwischen Engagement für
andere und Vorteilen für die eigene Entwicklung hinzubekommen.
Wo lagen die besonderen Herausforderungen?
Dietmar Will:
Die unterschiedlichen familiären
Herkünfte und religiös-konfessionellen Sozialisationen stellten besondere Herausforderungen für
die Konzeption dar. So haben wir
der Darstellung des jeweiligen
Gemeindelebens viel Zeit eingeräumt. Unser Ziel war dabei, die
unterschiedliche religiöse Praxis,
Saskia Schneider, Jörg Walther, Dietmar Will
deren Riten und jeweiligen nationalen Besonderheiten gegenseitig zu verstehen und nachzuvollziehen.
Saskia Schneider:
Auch im Hinblick auf eine Selbstvergewisserung ist das immens
wichtig, denn es ging uns ja auch
um einen Dialog. Und den kann
ich nur führen, wenn ich einen eigenen Standpunkt habe und meine eigenen Wurzeln und Traditionen kenne.
Was war für die Gestaltung der
Treffen entscheidend?
Jörg Walther:
Da die Teilnehmenden Angehörige der ersten und zweiten Einwanderer-Generation oder Studierende im Raum Rhein-Main
waren, stellten wir die Arbeit an
der eigenen Biographie in den
Mittelpunkt eines Wochenendes.
Es ging um die Reflexion der eigenen Sozialisation in der deutschen
Gesellschaft. Die Traditionsabbrüche von einer Generation in die
nächste sorgen für einen entscheidenden Konfliktpunkt innerhalb
der Gemeinden nicht-deutscher
Herkunft und Sprache. Die Kinder
und Jugendlichen müssen den
Spagat zwischen Familie und ihren
Lebenswelten aushalten.
Saskia Schneider:
Die Fragestellung „Wie leben wir
in dieser Gesellschaft und behalten unsere Tradition bei?“, be-
stimmt vielfach ihre Lebenssituation. Für Gruppenleiterinnen und
Gruppenleiter ist es daher wichtig,
sich dieser Frage zu stellen. Und
was wir auch feststellen konnten
ist, dass die Spiritualität eine große
Rolle spielte. Wenn Jugendliche
sich zum Beispiel bei einer selbst
gestalteten Andacht darüber austauschten, ging das unglaublich
tief. Wir haben sie als in ihrem
Glauben sehr gefestigt erlebt. Der
Umgang mit der Bibel wirkte um
vieles natürlicher, als man es bei
Jugendlichen in Deutschland
sonst gewohnt ist. Da wurde zum
Beispiel ganz selbstverständlich
ein Psalm gelesen ...
Haben Sie ihre Ziele erreicht?
Dietmar Will:
Das erste Teilziel auf jeden Fall.
Aber das kann nur ein Anfang sein,
der insgesamt überaus ermutigend
war. Bei den Treffen gab es eine
gute Mischung aus konzentriertem Arbeiten, Spaß und viel Kommunikation untereinander. Eine
gute Atmosphäre ist sehr wichtig
– gerade, wenn Menschen aus so
unterschiedlichen Gruppen zusammentreffen. Sie ist quasi die
Grundlage, andere wirklich zu verstehen. Die Jugendlichen konnten
hier die Erfahrung machen, dass
ihre Offenheit und ihr Vertrauen
nicht ausgenutzt, sondern honoriert werden. Das hat allgemein
zu einer großen Gelassenheit geführt.
91
Religion und Migration: Signale der Veränderung
Was haben die Teilnehmer vor allem mitgenommen?
Saskia Schneider:
Viele sind um einiges selbstsicherer im Umgang mit der eigenen
Rolle geworden – nicht nur, was
ihre Arbeit in den Gemeinden
betrifft. Sie haben Handlungsoptionen kennengelernt: Wie kann
ich reagieren, wie intervenieren?
Neben neuen Arbeitstechniken,
Wissen und kreativen Ideen ging
es uns immer auch um Persönlichkeitsbildung. Ein anderer wichtiger Punkt sind Netzwerke, die
durch die Treffen entstanden. So
können Ressourcen gegenseitig
genutzt werden. Schön war zu erleben, wie Kontinuität und Zusammenhalt in der Gruppe von Treffen
zu Treffen wuchsen ...
Jörg Walther:
Insgesamt haben wir hier Mitarbeiter kennengelernt, wie man sie
sich wohl in jeder Gemeinde wünschen würde...
Was steht für die nahe Zukunft an?
Dietmar Will:
Wir müssen den eingeschlagenen
Weg konsequent weitergehen,
denn die Qualifizierung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus
Gemeinden nicht-deutscher Sprache und Herkunft ist ein immens
wichtiges Element, um Ökumene
in Frankfurt und dem Rhein-MainGebiet zu bauen. Integration ist
eine der größten Herausforderun92
gen für die gesamte Gesellschaft.
Und die Kirche muss sich fragen.
Wie gehen wir damit um? Wir verstehen uns als eine Volkskirche
und das Volk ist eben heute nicht
nur deutsch. Oftmals werden Migranten viel zu stark unter einem
diakonischen Aspekt betrachtet,
anstatt sie darin zu unterstützen,
etwas für sich selbst zu tun. Wie
viele Ressourcen und Kompetenzen es da gibt, ist gerade auch bei
unseren Treffen sehr deutlich geworden.
Jörg Walther:
Solange Jugendliche mit Migrationshintergrund noch einen
verschwindenden Prozentsatz in
der Ausbildung zur JugendleiterCard ausmachen, könnte die Ausbildung in dieser Form ein erster
Schritt sein, Migrantengemeinden
an das reguläre System heranzuführen. Ein neuer Kurs ist daher
im Herbst gestartet. Ziel bleibt jedoch, möglichst viele MigrantenJugendliche für die bestehenden
Kurse zu gewinnen.
Saskia Schneider:
Nicht zuletzt geht es ja um ein Zukunftsthema, nämlich Religion als
Potenzial für Integration. Welche
Rolle Religion im Rahmen der Globalisierung spielt ist schon eine
sehr entscheidende Frage. Es geht
um die Visionen, die wir als Christinnen und Christen in dieser Hinsicht haben.
Saskia Schneider, Jörg Walther, Dietmar Will
Was ist für ein solch erfolgreiches
Projekt wie das Ihre besonders
entscheidend?
Jörg Walther:
Eine gute Vernetzung ist das A und
O. Insgesamt konnte das Projekt
nur aufgrund einer guten Vernetzung realisiert werden, weil sich
Verantwortliche von drei Trägern
gezielt den Herausforderungen
gestellt haben. Es gilt, das Thema
aus drei verschiedenen Perspektiven zu betrachten: einer religiösen, einer sozialpädagogischen
und auch einer politischen. Unsere Erfahrungen teilen wir gerne
mit anderen und freuen uns über
Interesse und neue Kontakte.
Das Gespräch führte Jörn Dietze
Gesprächspartner:
Dietmar Will
Pfarrer für Ökumene in Frankfurt/M
bei den Dekanaten Mitte-Ost und
Süd.
Jörg Walther
Zentrum Bildung der Evangelischen Kirche Hessen und Nassau,
Fachbereich Kinder- und Jugendarbeit, Darmstadt
Saskia Schneider
Evangelisches Jugendwerk
Frankfurt/M
93
Religion und Migration: Signale der Veränderung
Autorinnen und Autoren
Hafida Allouss
Diplom Sozialarbeiterin und
systemische Paar- und Familientherapeutin. Mitarbeiterin beim
Internationalen Familienzentrum
Frankfurt/M mit den Arbeitsschwerpunkten sozialräumliche
Koordination (Familienbildung)
und Beratung. Mitbegründerin
des Kompetenzzentrums muslimischer Frauen.
Prof. Dr. Dr. Peter Antes
Professor für Religionswissenschaft an der Universität Hannover. Arbeitsschwerpunkte:
Methodenfragen in den Religionswissenschaften, aktuelle
Probleme der islamischen Ethik
sowie der Religionen und religiösen Gemeinschaften im heutigen
Europa. Gastprofessuren u.a. in
Japan, Italien (Gregoriana) und
der Schweiz. Präsident und Ehrenmitglied der „Association for the
History of Religions" sowie der
„Deutsch-Italienischen Kulturgesellschaft e.V. Hannover". Träger
zahlreicher Auszeichnungen.
Publikationen: „Einführung in das
Christentum“ 2004 sowie „Der
Islam als politischer Faktor“ 2001.
94
Christina Bender
Jugendbildungsreferentin für Interkulturelle Arbeit, Kultur und politische Bildung beim Jugendbildungswerk der Stadt Frankfurt/M.
Diplom in Sozialwesen, MA in
Beratung und Sozialrecht.
Paulo Caldeira Pereira
Diplom Theologe, Aufbaustudium
Sozialtherapie und Psychodrama, Pastoralreferent der portugiesischsprachigen Gemeinde
Frankfurt/M und Wiesbaden.
Mechtild M. Jansen
Erziehungswissenschaftlerin, Leiterin des Referates Frauen/Gender Mainstreaming/geschlechtsbezogene Pädagogik/Migration
der Hessischen Landeszentrale für
politische Bildung.
Vera Klinger
Diplom-Soziologin. Bis März
2011 Referentin für Religion und
Interkulturelle Arbeit im Amt für
multikulturelle Angelegenheiten
der Stadt Frankfurt/M.
Magdalena Modler
selbständige Religionswissenschaftlerin. Promoviert derzeit
zum Thema religionsbezogener
Autorenverzeichnis
Sozialisation im Jugendalter an
der Philipps-Universität Marburg.
Helga Nagel
Politologin und Germanistin,
Leiterin des Amtes für multikulturelle Angelegenheiten der Stadt
Frankfurt/M.
Prof. Dr. Mathias Rohe
Jurist und Islamwissenschaftler.
Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung
an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Leiter
des Zentrums für Islam und Recht
in Europa in Erlangen.
Dr. Brigitta Sassin
Seit 2005 Referentin für die Katholiken anderer Muttersprache
und für Christlich-Islamischen
Dialog für das Bistum Limburg in
Frankfurt/M. Arbeitschwerpunkte: Interkulturelle Dialogarbeit,
Vernetzung von Migranten untereinander und mit der deutschen
Mehrheitsgesellschaft, christlichislamischer Dialog auf Stadtteilebene, Vernetzung von Imamen
und christlichen Seelsorgern,
Initiierung und Mitarbeit bei dem
Fortbildungsprogramm für Imame
„In Frankfurt ankommen“.
Karl Schermuly
Pastoralreferent, Pfarrbeauftragter
der Gemeinde St. Lioba auf dem
Ben-Gurion-Ring in Frankfurt/M Bonames.
Khushwant Singh
Ethnologe und Erziehungswissenschaftler. Forschungsschwerpunkte: Migration, Interkulturalität und
die Sikh-Religion in Deutschland
sowie im indischen Panjab. Vorstandsmitglied im Frankfurter „Rat
der Religionen“.
Alexej Tarchis
Jugendzentrum der Jüdischen
Gemeinde Frankfurt/M.
Dietmar Will
Pfarrer für Ökumene in Frankfurt am Main bei den Dekanaten
Mitte-Ost und Süd.
Athenagoras Ziliaskopoulos
Archimandrit des Ökumenischen
Patriarchats, Pfarrer der Kirchengemeinde Prophet Elias in
Frankfurt/M (Griechisch-orthodoxe Metropolie von Deutschland),
Vorsitzender im Rat der Religionen sowie Mitglied in zahlreichen
anderen interreligiösen Organisationen in Frankfurt, darunter dem
Internationalen Konvent Christlicher Gemeinden anderer Muttersprache, dem Organisationskomitee der Christlich-Islamischen
Woche sowie dem Christlich-Islamischen Dialog.
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Veranstaltet von:
Hessische Landeszentrale
für politische Bildung