Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen
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Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen
Stefan Loubichi Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen oder Elf kurze Beiträge, damit wir aus der Vergangenheit für die Zukunft lernen und sich eine Barbarei wie das NS Regime nie mehr wiederholt Vorwort: Bis in die Mitte der 1980er Jahre erfolgte maximal eine rudimentäre Aufarbeitung der Schrecken der Nazi-Verbrechen. Und erst am Ende des 20. Jahrhunderts wurde wirklich in wissenschaftlicher Art und Weise für weite Teile unserer Bevölkerung das Thema NS-Diktatur aufgearbeitet. Gewollt oder ungewollt gerät die Aufarbeitung des Naziterrors immer mehr in Vergessenheit, obgleich im Jahr 2015 das Ende dieser Schreckensherrschaft erst siebzig Jahre her ist. Nun mag man vielleicht einwenden, dass Antisemitismus der Vergangenheit angehöre und es keine antisemitischen Straftaten mehr gäbe. Hierzu eine aktuelle Statistik der Amadeu Antonio Stiftung bzgl. der antisemitischen Straftaten 2014 in Deutschland nach Quartal: I. Quartal 2014: 191 Straftaten II. Quartal 2014: 159 Straftaten III. Quartal 2014: 302 Straftaten IV. Quartal 2014: 212 Straftaten Quelle:http://www.amadeu-antonio-stiftung.de/aktuelles/antisemitismus-in-deutschland-ein-lagebild-2015/ Wir reden hier von 864 [!] gemeldeten antisemitische Straftaten. Die Dunkelziffer ist hier gar nicht mit eingerechnet. Interessant ist aber auch der tendenziell eher zurückhaltende Verfassungsschutzbericht vom 30. Juni 2015, der für das Jahr 2014 von 10.500 gewaltorientierten Rechtsextremisten spricht. Mit aller Entschiedenheit müssen alle demokratischen Kräfte versuchen, ein Erstarken aller derjenigen zu verhindern, die auch nur ansatzweise etwas Gutes in der Hitler-Diktatur sehen. Dieses Kölner Lesebuch präsentiert elf kurze Beiträge, die aufzeigen wollen, wie verbrecherisch das NS-Regime wirklich war und verweist zum Ende jeden Abschnitts auf spezielle Literaturquellen oder Internetquellen, in der noch weitere Informationen zu dem Themengebiet zu finden sind. Mit diesem Lesebuch soll erreicht werden, dass sich vor allem jüngere Menschen mit dieser Thematik beschäftigen und sich einfach ihren Beitrag aussuchen, der Ihnen zeigt, wie das System damals wirklich war. Durch die Zahlen, Daten und Fakten kann dann jeder in seinem persönlichen Umfeld dafür sorgen, dass „Rechte“ in ihrer Agitation entlarvt werden. Bei diesem Werk geht es aber nicht nur um das Entlarven der „rechten“ Agitation. Vielleicht gelingt es auch in verschiedenen Einzelfällen, Verirrte auf den Weg der Demokratie und des Rechtsstaates zurück zu bringen. Lassen Sie uns doch an das in Deutschland im Jahr 2008 gezeigte deutsche Filmdrama „Die Welle“ denken, welches mehr als 2 ½ Millionen Kinobesuchern aufzeigte, wie leicht manipulierbar wir alle letztlich doch sind. Sicherlich gibt es auch bei „rechten Jugendlichen“ einige manipulierte junge Menschen, die es nicht besser wissen, die aber umkehren würden, wenn sie die wahren Fakten kennen würden. An diesem Werk will der Autor nichts verdienen. Wenn Sie der Auffassung sind, das Ihnen das Werk etwas gebracht hat, dann können Sie natürlich gerne spenden, zum Beispiel an: Zukunft braucht Erinnerung e.V.; www.zukunft-braucht-erinnerung.de Yad Vashem; www.yadvashem.org/yv/de/index.asp Stiftung Erinnerung Verantwortung Zukunft; www.stiftung-evz.de/ Dokumentations- und Kulturzentrum Sinti und Roma; www.sintiundroma.de Zentralrat der Juden in Deutschland, www.zentralratjuden.de Und natürlich gäbe es noch viele weitere Organisationen, die es wert wären, mit Spenden bedacht zu werden. Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 2 von 78 Über den Autor: Der Autor, Jahrgang 1966, ist Migrant [Vater Deutscher, Mutter Italienerin] und wuchs in einem multikulturellen Umfeld auf. Über das Thema Nationalsozialismus wurde in seiner Familie aber genauso wenig gesprochen wie über das Thema II. Weltkrieg. Lediglich am Rande erfuhr der Autor, dass er einen Onkel hatte, der am 30. April 1945 im II. Weltkrieg als Mitglied der Luftwaffe der Deutschen Wehrmacht gestorben sei. Auf Nachfragen wurde dem Autor nie näheres mitgeteilt. Folglich interessierte den Autor das Unterrichtsfach Geschichte sehr und so kam es nicht von ungefähr, dass Geschichte ein Prüfungsfach im Abitur war. Interessanter Weise schien es jedoch zwischen 1933 und 1945 nichts geschichtsrelevantes gegeben zu haben, denn an den Geschichtsunterricht bzgl. dieses Zeitraums kann sich der Autor nicht erinnern. Der Geschichtsunterricht endete mit der Machtergreifung Hitlers im Jahr 1933 und der Politik-Unterricht reflektierte die Zeit nach Ende des II. Weltkrieges. Nach dem Abitur waren für den Autor dann erst einmal Themen wie Ausbildung, Studium und erste Berufserfahrungen von prioritärem Gewicht. Erst im Alter von knapp 30 Jahren erwachte beim Autor wieder das Interesse an der deutschen Geschichte von 1933 – 1945. Steven Spielbergs Film „Schindlers Liste“ aus dem Jahr 1993 bewegte ihn damals sehr und er begann wieder bei der Familie nachzufragen, wie das denn eigentlich wirklich war. Heute weiß der Autor, dass er damals die üblichen Schutzbehauptungen hörte, wie: - Wir haben von nichts gewusst, woher auch. Aber irgendwie gab es damals für alle Arbeit. Und eine Frau konnte nachts auf die Straße gehen, ohne Angst zu haben. Nach und nach erschloss sich der Autor dann aber selbst die Thematik der Verbrechen des Nationalsozialismus. Als Autor der Online-Plattform www.zukunft-braucht-erinnerung.de engagiert er sich mit diversen Artikeln über Themen aus der Schreckensherrschaft der NS-Diktatur. Mit diesem Werk will er einen Beitrag dafür liefern, dass die Verbrechen der NS Diktatur methodischdidaktisch aufbereitet werden, damit man an verschiedenen Themenbereichen ersehen kann, dass die NS-Diktatur zweifelsfrei der dunkelste Fleck der Menschheitsgeschichte war und dass wir hieraus lernen müssen. Gleichheitsbekenntnis: In diesem Werk findet sich oftmals bei unspezifischen Formulierungen die männliche Form. Dies soll kein Ausdruck irgendeiner Benachteiligung oder Diskriminierung darstellen. Der Autor bekennt sich an dieser Stelle ausdrücklich zum Gender Mainstreaming, den Aspekten des Diversity Management sowie der im Grundgesetz garantierten Gleichheit aller Menschen sowie den gesetzlichen Bestimmungen des AGG. Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 3 von 78 INHALTSVERZEICHNIS: Vorwort Über den Autor Gleichheitsbekenntnis Inhaltsverzeichnis: 01 02 02 04 20.01.1942 Wannseekonferenz – der dunkelste Tag der deutschen Geschichte 05 Stille Hilfe – eine „Hilfsorganisation“ für NS-Mörder 12 Militärprostitution im Dritten Reich 19 Systematische Verbrechen der Wehrmacht 24 Die IG Farben-Industrie und ihre Rolle im III. Reich 32 SS-Mitglied Prof. Dr.-Ing. von Braun – leider mehr als ein Wissenschaftler 39 Die unrühmliche Rolle der Evangelischen Kirche im Dritten Reich 47 Thule Gesellschaft – ein Ideengeber der NS-Ideologie 54 Der Holocaust an Sinti und Roma 59 Der Naumann Kreis: Der missglückte Versuch von ehemaligen Nazis, in den 1950ern die FDP in Nordrhein-Westfalen zu übernehmen 64 Aktion T4 – Systematischer Mord der Nazis an behinderten Menschen 69 Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 4 von 78 20.01.1942 Wannseekonferenz – der dunkelste Tag der deutschen Geschichte Rom hatte Unmenschen wie einen Nero, in der Sowjetunion wütete Stalin und in Deutschland war Hitler zweifelsfrei das Maß aller Unmenschlichkeit. Die Perversität der Nazis in ihren Morden unterscheidet sich aber von anderen Untaten zweifelsfrei dadurch, dass noch niemals in der bekannten Geschichte so systematisch ein Völkermord geplant wurde wie bei den Nazis. Und wenn es ein spezielles Datum gibt, aus dem die Systematik des Völkermordes der Nazis ersichtlich wird so ist dies der 20. Januar 1942, der Tag der Wannseekonferenz. Aus diesem Grunde muss und wird dieser Tag leider als der dunkelste Tag der deutschen Geschichte in die entsprechenden Annalen eingehen. Am 20. Januar 1942 kamen in einer Villa am Berliner Wannsee 15 hochrangige Vertreter der NS Regierung und der NS Behörden zusammen, um den Holocaust im Detail zu planen. Welchen Völkermord die Nazis am 20. Januar 1942 planten, lässt sich daran erkennen, dass man in der historischen Aufarbeitung später ein Dokument mit dem Titel „Liste der jüdischen Bevölkerung in Europa“ fand, aus der hervorgeht, dass die Nazis am 20. Januar 1942 den Mord an über 11.000.000 Menschen planten! Dass wir in der historischen Aufarbeitung überhaupt so genaue Kenntnisse über die Wannseekonferenz haben, ist im Übrigen einem Zufall zu verdanken. Denn nur durch Zufall entging das 15seitige Exemplar des Wannseeprotokolls von AA-Unterstaatssekretär Martin Luther der Vernichtung. Besagter Martin Luther verlor einen internen Machtkampf im Auswärtigen Amt gegen seinen Vorgesetzten Reichsaußenminister Ribbentrop und wurde 1943 ins KZ Sachsenhausen verbracht. Dort erhielt er eine Sonderbehandlung, d.h. seine Haft erfolgte unter relativ guten Bedingungen. Als Ursache hierfür ist der „nachvollziehbare“ Grund zu sehen, dass man Luther in einem besonderen Schauprozess später vorführen wollte. Im Zuge dessen wurden alle Akten Luthers, auch sein persönliches Exemplar des Protokolls der Wannseekonferenz ausgelagert. Als die Alliierten dann 1945 vor Berlin standen, glaubten SS und Auswärtiges Amt alle Protokolle der Wannseekonferenz vernichtet zu haben, vergasen dabei aber wohl das ausgelagerte Protokoll Martin Luthers. Anfang März 1947, d.h. mitten in der Vorbereitung auf den „Wilhemstraßen-Prozess“ fand sich ein dickes Paket mit der Aufschrift „D“, was für die Deutschland – Abteilung des Auswärtigen Amtes stand. In diesem dicken Paket fand sich dann durch Zufall das Protokoll der Wannseekonferenz. Der Inhalt dieses Protokolls war für den Chefankläger im Wilhelmstraßenprozeß, Telford Taylor, auch erst einmal so unglaublich, dass es um Haaresbreite nicht verwendet worden wäre. Die Aussagen des Protokollanten Adolf Eichmann zur Wannseekonferenz Interessant sind in diesem Zusammenhang die Ausführungen des Protokollanten der Wannseekonferenz (Adolf Eichmann) in seinem Prozess, hier speziell in seiner Prozessvernehmung am 24.07.1961 zur Wannseekonferenz: Richter: Jetzt wegen des Wannseeprotokolls - wegen der Wannseetagung – hier haben Sie meinem Kollegen, dem Richter Raven, geantwortet, dass in dem Teil, der nicht im Protokoll erwähnt ist - über Tötungsmethoden gesprochen wurde. Eichmann: Jawohl. Richter: Wer hat über dieses Thema gesprochen? Da? Eichmann: Im Einzelnen ist mir diese Sache heute nicht mehr gegenwärtig, Herr Präsident, aber ich weiß, dass die Herren beisammen gespannt und beisammen gesessen sind und da haben sie eben in sehr unverblümten Worten - nicht in den Worten, wie ich sie dann ins Protokoll geben musste, sondern in Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 5 von 78 sehr unverblümten Worten die Sache genannt - ohne sie zu kleiden. Ich könnte mich dessen auch bestimmt nicht mehr erinnern, wenn ich nicht wüsste, dass ich mir damals gesagt hätte: schau, schau der Stuckart, den man immer als einen sehr genauen und sehr heiklen Gesetzesonkel betrachtete und da hier wars eben der Ton und die ganzen Formulierungen waren hier sehr unparagraphenmäßig gewesen … Richter: Was hat er über dieses Thema gesagt? Eichmann: Im Einzelnen, Herr Präsident, möchte ich Richter: Nicht im Einzelnen - im Allgemeinen! Eichmann: Es wurde von Töten und Eliminieren und Vernichten gesprochen. Ich selber hatte ja meine Vorbereitungen zu machen für die Protokollangelegenheit - ich konnte nicht dastehen und einfach zuhorchen - aber die Worte drangen eben zu mir herein - zu mir ran, denn das Zimmer war ja nicht zu groß gewesen, als dass man in dem Wortschwall nicht einzelne Worte hätte aufgeschnappt Richter: Aber auch diese Sachen wurden von den Stenographen oder der Stenographin aufgenommen? Eichmann: Von den Stenographen. Jawohl. Richter: Und Sie haben anscheinend dann den Auftrag bekommen, das nicht in das offizielle Protokoll hineinzuschreiben. Eichmann: Jawohl, das war so gewesen. Die Stenotypistin saß neben mir und ich hatte dafür zu sorgen, dass das alles aufgenommen wird. Und nachher hatte dann die Stenotypistin das abgeschrieben und Heydrich hat dann bestimmt, was in das Protokoll hineinkommen soll und was nicht. Und dann hatte er es gewissermaßen noch abgeschliffen und damit war die Sache fertig. Es ist im Übrigen mehr als seltsam, dass man sich dieses Protokolls in der historischen Aufarbeitung nur so rudimentär bedient. Durch die glaubwürdigen Ausführungen des Protokollanten zur Wannseekonferenz ist eindeutig, dass die Nazis den größten Völkermord in der Geschichte der Menschheit systematisch planten. Interessant ist aber auch, dass die Teilnehmer an der Wannseekonferenz (alles hochrangige NS-Funktionäre) im Januar 1942 wohl durchaus schon Zweifel an ihrem Sieg hatten, denn nur so lässt sich ernsthaft erklären, dass wesentliche Aspekte nicht im offiziellen Protokoll erwähnt wurden. Kommen wir nun aber zu dem Papier, welches die Wannseekonferenz erst auslöste. Görings Auftrag an Heydrich vom 31. Juli 1941 Mittelbarer Ausgangspunkt der systematischen Planung des Völkermordes ist ein Schriftsatz von Hermann Göring vom 31. Juli 1941 an SS Obergruppenführer Heydrich (in seiner Funktion als Chef der Sicherheitspolizei und des SD), aus dem wie folgt zitiert wird: „In Ergänzung der Ihnen bereits mit Erlass vom 24.1.1939 übertragenen Aufgabe, die Judenfrage in Form der Auswanderung oder Evakuierung einer den Zeitverhältnissen entsprechend möglichst günstigen Lösung zuzuführen, beauftrage ich Sie hiermit, alle erforderlichen Vorbereitungen in organisatorischer, sachlicher und materieller Hinsicht zu treffen für eine Gesamtlösung der Judenfrage im deutschen Einflussgebiet in Europa. Sofern hierbei die Zuständigkeiten anderer Zentralinstanzen berührt werden, sind diese zu beteiligen. Ich beauftragte Sie weiter, mir in Bälde einen Gesamtentwurf Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 6 von 78 über die organisatorischen, sachlichen und materiellen Vorausmaßnahmen zur Durchführung der angestrebten Endlösung der Judenfrage vorzulegen.“ Dass Göring diese Beauftragung ohne Kenntnis und / oder Weisung Hitlers vornahm ist absolut unwahrscheinlich. Warum die Wannseekonferenz verschoben wurde Ursprünglich übersandte Heydrich am 29. November 1941 die Einladungen für die Konferenz, welche am 9. Dezember 1941 hätte stattfinden sollen. Da jedoch der sowjetische General Schukow am 5. Dezember 1941 seine Gegenoffensive gestartet hatte, die Japaner zwei Tage später am 7. Dezember 1941 Pearl Harbour angriffen und somit den USA den Krieg erklärten, benötigten die Nazis einige Zeit, um diese Ereignisse zu bewerten. Aus diesem Grunde musste die Wannseekonferenz verschoben werden. Hitlers Bewertung dieser Ereignisse gipfelte im Übrigen darin, dass er am 11. Dezember 1941 vor dem Reichstag den Vereinigten Staaten von Amerika den Krieg erklärte. Einen Tag später, d.h. am 12. Dezember 1941 berief er dann die Spitzen der NSDAP in die Reichskanzlei ein und erklärte den NSDAP – Vertretern unter Bezug auf seine „Prophezeiung vom 30. Januar 1939“ folgendes: „Wenn es zu einem Weltkrieg kommt, so werden die Urheber dieses blutigen Krieges mit ihrem Leben bezahlen müssen.“ Für Hitlers eigene Logik waren damit die Juden gemeint. Es existiert ein weiterer glaubwürdiger Beweis dafür, was Hitler an diesem 12. Dezember 1941 gesagt haben mag. Schließlich schrieb Joseph Goebbels am 12. Dezember 1941 folgendes in sein Tagebuch: „Der Führer ist entschlossen, reinen Tisch zu machen. Er hat den Juden prophezeit, dass, wenn sie nochmal einen Weltkrieg herbeiführen würden, sie dabei ihre Vernichtung erleben würden. Das ist keine Phrase gewesen. Der Weltkrieg ist da, die Vernichtung des Judentums muss die notwendige Folge sein. Diese Frage ist ohne jede Sentimentalität zu betrachten.“ Wenige Tage später kam es dann zu einem Gespräch zwischen Hitler und Himmler bezüglich der Judenfrage. Hiernach fanden dann wiederum Gespräche zwischen Himmler und Heydrich statt und dann war auch schon der 20. Januar 1942 angebrochen. Durch diese Kausalkette lässt sich eindeutig belegen, dass Menschen wie Himmler, Hitler, Goebbels oder Göring – auch wenn diese nicht persönlich an der Wannseekonferenz teilnehmen- Initiatoren dieses geplanten Massenmordes waren, den es vorher in der Menschheitsgeschichte ob seines Umfanges noch nie gab. Inspiration im Vorfeld durch das Gedankengut von Henry Ford? Gegenstand der Wannseekonferenz war die Organisation eines „effizienten Massenmordes industrieller Prägung“. Von vielen Historikern wird in diesem Zusammenhang im Übrigen argumentiert, dass die Nazis sich im Vorfeld der Wannseekonferenz von der Fließbandmethode eines Henry Ford hatten inspirieren haben lassen, welcher seine Anregungen wiederum aus den Chicagoern Schlachthöfen bezog. Dass Henry Ford seit 1920 ein überzeugter Antisemit war und dass sein Buch „Der internationale Jude“ von antisemitischem Gedankengut geprägt sind, dürfte ebenso unstrittig sein wie der Umstand, dass in Hitlers Büro in München ein Bild von Henry Ford hing und dass Hitler im Jahr 1938 den USIndustriellen Henry Ford mit dem Großkreuz des Adlerordens auszeichnen ließ. In wie weit die Fließbandmethode von Fords Autoherstellung Modellcharakter für die Fließbandmethode in den Konzentrationslagern hatte, lässt sich aber ebenso wenig verifizieren wie die von einigen Historikern geäußerte Vermutung, dass Henry Ford die NSDAP mit finanziert hätte. Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 7 von 78 Wie „effizient“ die Fließbandmethode in den Konzentrationslagern aber war, lässt sich daran ersehen, dass von der Wannseekonferenz Mitte Januar 1942 bis zum Ende 1942 fast vier Millionen Juden aus West- und Mitteleuropa sowie aus der Sowjetunion ermordet wurden. Letztlich mag es für das Ergebnis des Massenmordes sekundär sein, woher die Inspiration der Fließbandmethode wirklich kam. Von Relevanz für die historische Bedeutung der Wannseekonferenz ist jedoch, dass man an diesem 20. Januar 1942 plante, wie man mit industriellen Möglichkeiten in möglichst kurzer Zeit auf kostengünstigem Wege Millionen Menschen töten kann. Etwas Vergleichbares an Perversität gab es in der Menschheitsgeschichte nicht. Die Rolle des Auswärtigen Amtes bei der Vorbereitung der Wannseekonferenz Bevor wir uns nun aber mit der Wannseekonferenz und ihren Teilnehmern beschäftigen, sollte nicht unerwähnt bleiben, dass das nach dem II. Weltkrieg so sehr auf seinen guten Ruf bedachte Auswärtige Amt sowohl bei der Vorbereitung des Holocaust als auch bei der Durchführung in großem Umfang beteiligt war. Wie sehr im Übrigen das Auswärtige Amt auch in der Planung des Holocaust im Vorfeld der Wannseekonferenz beteiligt war, lässt sich aus der Vortragsnotiz des Unterstaatssekretärs des Auswärtigen Amtes Martin Luther zum Empfang des bulgarischen Außenministers Popoff durch den Reichaußenminister vom 24. November 1941 ersehen: „Nach Ausführung des Entschlusses des Führers, dass am Ende des Krieges sämtliche Juden Europa werden verlassen müssen, werden die vom bulgarischen Außenminister Popoff zur Sprache gebrachten Schwierigkeiten mit Juden ungarischer, rumänischer, spanischer und sonstiger Nationalität wegfallen. Bis dahin würde es nach Auffassung von Abteilung Deutschland zur Behebung der Schwierigkeiten dienen, wenn mindestens die im Antikomintern-Pakt vereinigten europäischen Staaten dazu gebracht werden könnten, eine der deutschen angepasste Judengesetzgebung bei sich einzuführen. Sodann wird bei sämtlichen europäischen Mächten darauf hinzuwirken sein, dass sie die deutschen Judengesetze adoptieren. Schwierigkeiten werden in dieser Hinsicht nur zu erwarten sein bei Ungarn, Italien, Spanien, Schweden und der Schweiz, bei denen sich infolge der – soweit Italien und Spanien in Frage kommen – schon bisher zu Tage getretenen klerikalen Einflüsse voraussichtlich Widerstände zeigen werden.“ Es bedarf eigentlich keiner weiteren Ausführungen um zu belegen, dass auch hochrangige Vertreter des Auswärtigen Amtes nicht nur bei der operativen Durchführung sondern auch bei der systematischen Vorbereitung mithalfen. Die Teilnehmenden an der Wannseekonferenz Vergegenwärtigen wir uns aber einmal, wer an der Wannseekonferenz teilnahm und was aus diesen Menschen wurde: 1. Reinhard Heydrich (1904-1942), SS-Obergruppenführer, Hauptredner und Vorsitzender der Wannseekonferenz, wurde am 27. Mai 1942 bei einem Attentat in Prag schwer verletzt und starb am 4. Juni 1942. Als Leiter des Reichssicherheitshauptamtes und stellvertretender Reichsprotektor in Böhmen und Mähren war er für zahlreiche Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantwortlich. Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 8 von 78 2. Adolf Eichmann (1906-1962), SS-Obersturmbannführer, Protokollführer der Wannseekonferenz. Als Leiter des Eichmannreferats des Reichssicherheitshauptamtes war er zentral mitverantwortlich für die Ermordung von sechs Millionen Menschen. Mit Hilfe des österreichischen Bischofs Hudal gelang ihm über die Rattenlinie die Flucht nach Südamerika. 1960 wurde er von israelischen Agenten von Argentinien nach Israel verbracht, wo ihm der Prozess gemacht wurde, er zum Tode verurteilt und im Mai 1962 hingerichtet wurde. 3. Josef Bühler (1904-1948), Staatssekretär im Amt des Generalgouverneurs in Krakau, 1948 wegen seiner Kriegsverbrechen von einem polnischen Gericht zum Tode verurteilt und am 21.08.1948 hingerichtet 4. Roland Freisler (1893-1945), Staatssekretär im Reichsjustizministerium, seit August 1942 Präsident des Volksgerichtshofes, kam am 3.2.1945 während eines schweren Luftangriffs auf Berlin ums Leben 5. Otto Hofmann (1896-1982), SS-Gruppenführer, Chef des Rasse- und Siedlungshauptamtes der SS), im März 1948 wurde er im Prozess gegen das Rasse- und Siedlungshauptamt zu 25 Jahren Haft verurteilt, jedoch am 7. April 1954 begnadigt und aus der Haftanstalt Landsberg entlassen. 6. Gerhard Klopfer (1905-1987), SS-Oberführer, Ministerialdirektor in der Parteikanzlei der NSDAP, Leiter der Staatsrechtlichen Abteilung III. Nach der Entlassung aus dem Internierungslager wurde Klopfer 1949 durch eine Nürnberger Hauptspruchkammer für „minderbelastet“ erklärt. Er erhielt eine Geldstrafe und eine dreijährige Bewährungsfrist, während der er keine verantwortungsvolle berufliche Tätigkeit aufnehmen durfte. Ab 1952 war er dann Helfer in Steuersachen, und ab 1956 als Rechtsanwalt in Ulm tätig. 7. Friedrich Wilhelm Kritzinger (1890-1947), Ministerialdirektor in der Reichskanzlei, im Dezember 1946 inhaftiert, wurde er kurze Zeit später aus gesundheitlichen Gründen aus der Haft entlassen und verstarb tatsächlich kurze Zeit später 8. Rudolf Lange (1910-1945), SS-Sturmbannführer, Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD für Lettland in Vertretung seines Befehlshabers, Suizid 1945 9. Georg Leibbrandt (1899 – 1982), Reichsamtsleiter, Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete, neben Rosenberg wichtigster NS-Ideologe im außenpolitischen Amt der NSDAP, im Januar 1950 wurde das Verfahren vor dem Landgericht Nürnberg-Fürth eröffnet, am 10. August 1950 wurde das Verfahren eingestellt. Später wurde er Leiter des Bonner Büros der Salzgitter AG 10. Martin Luther, (1895 – 1945), Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt, am 13. Mai 1945 durch Herzinfarkt verstorben 11. Alfred Meyer (1891 – 1945), Staatssekretär im Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete), begann am 11. April 1945 Selbstmord 12. Heinrich Müller (1900 - ???), SS-Gruppenführer, Chef des Amtes IV (Gestapo) des Reichssicherheitshauptamtes, seit Kriegsende verschollen 13. Erich Neumann (1892 – 1951), Staatssekretär im Amt des Beauftragten für den Vierjahresplan, 1945 wurde er interniert, Anfang 1948 wegen Krankheit entlassen. 14. Karl Eberhard Schöngarth (1903 – 1946), SS-Oberführer, Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD im Generalgouvernement. 1946 wurde er von einem britischen Militärgericht wegen Kriegsverbrechen zum Tode verurteilt und 16.05.1946 hingerichtet. 15. Wilhelm Stuckart (1902 – 1953), Staatssekretär im Reichsministerium des Innern. Stuckart wurde 1950 als „Mitläufer“ entnazifiziert eingestuft und zu einer Geldstrafe von 500 DM verurteilt. 1952 war er bereits Geschäftsführer des „Instituts zur Förderung der niedersächsischen Wirtschaft“. Auch war er eine Zeit lang Kämmerer der Stadt Helmstadt. Er verstarb 1953 im Alter von 51 Jahren bei einem Verkehrsunfall Die Beispiele der Herren Stuckart, Leibbrandt, Klopfer oder Hofmann belegen (leider), wie wenig NS Täter oftmals in der jüngeren deutschen Nachkriegsgeschichte für ihre Taten zur Verantwortung gezogen wurden. Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 9 von 78 Der eindeutige Inhalt der Wannseekonferenz Seite 5 Absatz 3 ff. des Protokolls der Wannseekonferenz ist mehr als eindeutig und wird hier wie folgt widergegeben: „Anstelle der Auswanderung ist nunmehr als weitere Lösungsmöglichkeit nach entsprechender vorheriger Genehmigung durch den Führer die Evakuierung der Juden nach dem Osten getreten. Diese Aktionen sind jedoch lediglich als Ausweichmöglichkeiten anzusprechen, doch werden hier bereits jene praktischen Erfahrungen gesammelt, die in Hinblick auf die kommende Endlösung der Judenfrage von Bedeutung sind. Im Zuge dieser Endlösung der europäischen Judenfrage kommen rund 11 Millionen Juden in Betracht. ……… Unter entsprechender Leitung sollen nun im Zuge der Endlösung die Juden in geeigneter Weise im Osten zum Arbeitseinsatz kommen. In großen Arbeitskolonnen, unter Trennung der Geschlechter, werden die arbeitsfähigen Juden straßenbauend in diese Gebiete geführt, wobei zweifelsfrei ein Großteil durch natürliche Verminderung ausfallen wird. Der allfällig endlich verbleibende Bestand wird, da es sich bei diesen zweifellos um den widerstandsfähigsten Teil handelt, entsprechend behandelt werden müssen, da dieser, eine natürliche Auslese darstellend, bei Freilassung als Keimzelle eines neues jüdischen Aufbaues anzusprechen ist (siehe die Erfahrung der Geschichte). Im Zuge der praktischen Durchführung der Endlösung wird Europa von Westen nach Osten durchgekämmt. ………. Die evakuierten Juden werden zunächst Zug um Zug in sogenannte Durchgangsghettos verbracht, um von dort weiter nach dem Osten transportiert zu werden.“ Diese Aussagen sind eindeutig und belegen, dass die Nazis im Rahmen der Wannseekonferenz den größten Völkermord aller Zeiten planten. Wer dies nicht wahrhaben möchte oder leugnen möchte, der kann in keinster Weise ernst genommen werden. Was wusste der Durchschnittsdeutsche wirklich von der Wannseekonferenz? Nun wird oftmals in rechten Kreisen kolportiert, dass doch nur sehr wenige Deutschen wussten, was in der Wannseekonferenz geplant und besprochen wurde. Dies kann jedoch eindeutig widerlegt werden: In seiner berühmt-berüchtigten „Posener Rede“ vom Oktober 1942 bezeichnete Himmler den durch die Wannseekonferenz eingeleiteten „industriellen Holocaust“ als ein „niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt der deutschen Geschichte“. Und dass viele Deutsche von der durch die Wannseekonferenz initiierten systematischen Ermordung wussten, lässt sich am Beispiel der Deutschen Reichsbahn ersehen. Die Deutsche Reichsbahn war 1942 mit 1,4 Millionen Beschäftigten nach der Wehrmacht das größte Unternehmen im III. Reich. Und die Reichsbahn profitierte von den Folgen der Wannseekonferenz in beträchtlichem Umfang. Durch die Beschlüsse der Wannseekonferenz, Juden in die Konzentrationslager zu verbringen, musste man sich eines Transportmittels bedienen und dieses Transportmittel war die Deutsche Reichsbahn. Im Rahmen des Holocaust wurden Juden in Güter- und Viehwagons zum selben Preis befördert wie Fahrgäste mit einer Fahrkarte für eine Hinfahrt. Auffällig gewesen sein musste für die Bediensteten der Deutschen Reichsbahn, dass immer nur Hinfahrten geordert wurden und dass die GeStaPo die Fahrkarten aus dem Vermögen der jüdischen Bevölkerung bezahlte. Es muss als absolut unglaubwürdig angesehen Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 10 von 78 werden, dass die Bediensteten der Deutschen Reichsbahn sich hierüber keine Gedanken machten oder über diesen Sachverhalt nicht mit Dritten sprachen. Und wenn dieser Sachverhalt den Mitarbeitenden der Deutschen Reichsbahn bekannt war, so ist davon auszugehen, dass auch deren Familien hierüber Bescheid wussten. Hoffentlich werden wir diesen 20. Januar 1942 niemals vergessen, denn dieser Tag erinnert uns daran, zu welchen Morden Menschen fähig sein können. Niemals darf sich jemals so etwas wiederholen. Alle Deutsche haben eine besondere Verantwortung, dass sich diese Geschichte niemals wiederholen darf! Literatur: Eckart Conze, Norbert Frei, Peter Hayes und Moshe Zimmermann: Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, Karl Blessing Verlag, München 2010, ISBN 978-3-89667-430-2. Hans-Jürgen Döscher: Martin Luther – Aufstieg und Fall eines Unterstaatssekretärs. In: Die braune Elite II. Hrsg. v. Ronald Smelser, Enrico Syring und Rainer Zitelmann. WBG, Darmstadt 1993. ISBN 3-534-80122-9, S. 179–192. Mario R. Dederichs: Heydrich. Das Gesicht des Bösen. Piper, München 2005, ISBN 3-492-04543X Christian Gerlach: Die Wannseekonferenz, das Schicksal der deutschen Juden und Hitlers politische Grundsatzentscheidung, alle Juden Europas zu ermorden, in: Christian Gerlach: Krieg, Ernährung, Völkermord – Deutsche Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg, PendoVerlag, Zürich/München 2001, ISBN 3-85842-404-8 Heiner Lichtenstein, Otto R. Romberg (Hrsg.): Täter – Opfer – Folgen, Der Holocaust in Geschichte und Gegenwart, Bonn 1997, ISBN 3-89331-257-9 Norbert Kampe, Peter Klein: Die Wannseekonferenz am 20. Januar 1942 – Planung und Beginn des Genozids an den europäischen Juden, Edition Hentrich, Berlin, 1998, ISNM 3-89468-250-7 Mark Roseman: Die Wannsee-Konferenz – Wie die NS-Bürokratie den Holocaust organisierte, Ulstein, München, 2002, ISBN 3-548-364-09 Peter Longerich: Politik der Vernichtung: Eine Gesamtdarstellung der nationalsozialistischen Judenverfolgung, München, 1988, ISBN 3-492-03755-0 Internetquellen: http://www.welt.de/kultur/history/article13808004/Durchfuehrung-der-Endloesung-derProtokollfund.html http://www.ghwk.de http://www.h-ref.de/vernichtung/wannsee/wannsee-konferenz.php http://www.ifz-muenchen.de/archiv/zs/zs-0988.pdf http://www.zeit.de/1987/08/ein-wohltaeter Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 11 von 78 Stille Hilfe – eine „Hilfsorganisation“ für NS-Mörder Die „Stille Hilfe für Kriegsgefangene und Internierte“ wurde1951 von Helene Elisabeth Prinzessin von Isenburg gegründet. Es handelt sich um eine Organisation, die vor allem in der Unterstützung von NSMördern engagierte, leider erst jedoch sehr spät der Öffentlichkeit und nur rudimentär bekannt wurde. Das Erschreckende an der Hilfsorganisation war jedoch neben ihrer nicht nachzuvollziehenden Intention auch der Umstand, welche Personen sich in oder für diese Organisation engagierten. Zumindest bis 2011 war die Organisation immer noch sehr aktiv. Wie aktiv diese Organisation bis in unsere Gegenwart war/ist, zeigte sich unter anderem im Fall Anton Malloth. DER FALL ANTON MALLOTH – DIE STILLE HILFE WIRD DER ÖFFENTLICHKEIT BEKANNT Anton Malloth (geboren 1912) war von 1940 bis 1945 Aufseher im GeStaPo – Gefängnis Theresienstadt. Im September 1948 wurde er von einem tschechoslowakischen Gericht in Litoměřice zu Tode verurteilt, nachdem durch Zeugenaussagen bewiesen wurde, dass er nahezu 100 Menschen zu Tode geprügelt hat. Von 1948 bis 1988 lebte er in Meran / Italien, wobei ihm interessanter Weise vom deutschen Konsulat in Mailand trotz mehrere Auslieferungsgesuche deutscher und österreichischer Behörden der deutsche Pass verlängert wurde. 1988 besorgte ihm dann Gudrun Burwitz, eine Tochter Heinrich Himmlers im Auftrag der oben genannten Organisation „Stille Hilfe“ ein Zimmer in einem Pullacher Seniorenheim gehobenen Niveaus. Erst am 15. Dezember 2000 wurde Malloth [dann im Alter von 88 Jahren und 52 Jahre nach dem Urteil des tschechoslowakischen Gerichtes in Litoměřice] von der Staatsanwaltschaft München angeklagt und am 30. Mai 2001 vom Landgericht München I wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Allein schon an diesem Fall kann ersehen werden, um welche Art von Organisation es sich bei der „Stillen Hilfe“ handelt. Kehren wir aber nun zu den Anfängen der Stillen Hilfe zurück: DIE GRÜNDERIN UND DER „ERFOLG“ DES JAHRES 1951: Die Organisation wurde 1951 von Helene Elisabeth Prinzessin von Isenberg (6.4.1900 – 24.1.1974) gegründet. Vergegenwärtigen wir uns erst einmal, um welche Person es sich hier handelt: Prinzessin von Isenburg wuchs in einer stark katholisch sozialisierten Familie auf. Am 30.04. 1930 heiratete sie Wilhelm Prinz von Isenburg und Büdingen (1903–1956), welcher 1937 Professor für Sippen- und Familienforschung wurde und die Rassenideologie des Nationalsozialismus vertrat (Interessanter Weise wurde er 1946 seines Amtes enthoben, aber im Folgejahr wieder in sein Amt wieder eingesetzt). Prinzessin von Isenburg selbst wurde von der NSDAP als „politisch zuverlässig“ eingestuft. Bekannt wurde sie als „Mutter der Landsberger“. Was hatte es aber mit dem Begriff „Landsberger“ auf sich? 1947 richtete die US-Militärverwaltung in Landsberg das Kriegsverbrechergefängnis Landsberg ein. Die Stadt Landsberg wurde unter anderem deshalb ausgewählt, weil 1923 Adolf Hitler dort knapp 9 Monate Festungshaft verbüßte und auch die Nazi-Größen Rudolf Heß, Julius Streicher sowie Gregor Strasser dort inhaftiert waren. Fast alle in den Nürnberger Nachfolgeprozessen angeklagten und verurteilten Beschuldigten saßen im Kriegsverbrechergefängnis Landsberg ein, wobei dort bis 1951 288 Todesurteile vollstreckt wurden. Mit Schriftsatz vom 4. November 1950 wandte sich Prinzessin von Isenburg wie folgt an Papst Pius XII: „Ich kenne jeden, um den es geht. Niemand kann mehr von Schuld und Verbrechen reden, der in ihre Seelen geschaut hat… Es bittet Dich, heiliger Vater, ganz im Vertrauen, die Mutter der Landsberger.“ Am 10. November 1950 versprach der ohnehin sehr umstrittene Papst Pius XII. Prinzessin von Isenburg, „dass von Rom aus alles getan wird, um den Landsbergern das Leben zu retten.“ Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 12 von 78 Prinzessin von Isenburg war dann wohl Mitinitiatorin der Aktion „Weihnachten in Landsberg“ des Jahres 1950, mit der versucht wurde, Druck auf den amerikanischen Hohen Kommissar John McCloy mittels Protestbriefen auszuüben. Fakt ist, dass John McCloy am 31.01.1951 seine endgültige Entscheidung über die Gnadengesuche von 89 deutschen Kriegsverbrechern bekannt gab, die in Landsberg verweilten. Fünf der insgesamt fünfzehn Todesurteile wurden bestätigt, von denen die meisten gegen Mitglieder der Einsatzgruppen wegen Tötung tausender Juden in Osteuropa verhängt worden waren. Auch fünf weiteren Wehrmachtsoffizieren, die der Erschießung von Geiseln und Kriegsgefangenen in der damaligen Sowjetunion und auf dem Balkan angeklagt worden waren, wurden nicht begnadigt. In weiteren 79 Fällen änderte John McCloy seine Meinung. Aufgrund der Anrechnung von Untersuchungshaft und guter Führung führten die Urteilsminderungen zur sofortigen Entlassung von über 30 Gefangenen, darunter auch die sofortige Freilassung des Industriellen Alfred Krupp, dem sogar das enorme Industrievermögen zurückgegeben wurde. In gewisser Form muss jedoch als Entlastung für Prinzessin von Isenburg geltend gemacht werden, dass es auch viele andere gab, welche sich zu dieser Zeit für die Landsberger einsetzten: PROMINENTE KIRCHLICHE UNTERSÜTZER FÜR DIE „LANDSBERGER“ Prominente Unterstützer der katholischen Kirche: Kardinal Jochen Frings [1887 – 1978] von 1942 bis 1969 Erzbischof von Köln sowie von 1945 bis 1965 Vorsitzender der Bischofskonferenz Kardinal Frings, welcher ein Freund von Bundeskanzler Adenauer war und darüber hinaus auch Vorsitzender der einflussreichen Fuldaer Bischofkonferenz war, setzte sich vehement für eine Umwandlung der Todesstrafen in Haftstrafen ein, weil viele Taten der Angeklagten „nicht aus einer kriminellen Disposition heraus geschehen seien“. Gegenüber General Handy machte Kardinal Frings für eine Überprüfung der Urteile „die durch die Kriegsverhältnisse, unter welchen die Taten stattgefunden hat, bedingte Schwierigkeit der Urteilsfindung“ geltend. Weihbischof Johannes Neuhäusler [1888 – 1973] ab 1947 Weihbischof im Erzbistum München und Freising Der Münchner Weihbischof Johannes Neuhäusler erklärte in diversen Briefen an amerikanische Kongressabgeordnete, dass sich das Gericht Berufszeugen bedient habe, die gegen die Angeklagten (von Landsberg) ausgesagt hätten, um dafür als Gegenleistung von den Amerikanern gut behandelt zu werden. Auch verwies Neuhäusler darauf, dass man bei der Erlangung von Geständnissen Zwang angewandt habe und dass es nicht rechtsstaatlich sei, dass den Kriegsverbrechern nicht die Möglichkeit von Rechtsinstanzen durch Berufungsgerichte ermöglicht wurde. Am 20.01.1951 teilte Neuhäusler im Übrigen McCloy folgendes mit: „Da die Bundesrepublik Deutschland dazu aufgerufen ist, sich zusammen mit den anderen westlichen Mächten zu einem starken Verteidigungsblock gegen den Bolschewismus im Osten zu formieren, sollten die Vereinigten Staaten Gnade gegenüber den Landesberger Häftlingen walten lassen und alle verbliebenen Todesurteile in Haftstrafen umzuwandeln.“ Es stellt sich die Frage, ob solche Worte wirklich von einem Geistlichen kommen. Prominente Unterstützer der evangelischen Kirche: Landesbischof Hans Meiser [1881 – 1956] Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 13 von 78 von 1933 (durchgängig) bis 1955 erster Landesbischof der evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern, negativ bekannt geworden durch folgenden 1926 (!) erschienen Schriftsatz, aus dem wie folgt zitiert wird: „Die kulturellen und wissenschaftlichen Leistungen, die wir den Juden zu verdanken haben, sollen voll anerkannt werden … Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass der jüdische Geist für uns etwas Wesensfremdes hat und dass sein Umsichgreifen zum allergrößten Schaden für unser Volk wäre. Es ist oft betont worden, dass der jüdische Verstand etwas Zerfressendes, Ätzendes, Auflösendes an sich hat. Er ist kritisch zersetzend, nicht kontemplativ, konstruierend, produktiv. Das ist von jüdischer Seite selbst anerkannt, wenn der Jude Abraham Geiger im Hinblick auf Börne und Heine schreibt: ‚Es ist jüdischer Geist, der in ihnen lebendig ist, der sprudelnde, zersetzende, witzige, weniger positiv aufbauende, aber Ferment hineinbringende in den stockphiliströsen, zähen, trockenen, deutschen Geist‘." Landesbischof Theophil Wurm [1868 - 1953] von 1926 bis 1948 Landesbischof der evangelischen Kirche in Württemberg, von 1945 – 1949 (erster) Ratsvorsitzender der EKD, negativ bekannt geworden dadurch, dass er im März 1938 die Gemeinden in Württemberg anwies, mit einem einstündigen Glockenläuten den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich als „göttliche Fügung zu begrüßen“ sowie negativ bekannt als Mitglied im Gründungsvorstand der oben genannten Stillen Hilfe. In einer durch Wurm und Meiser geprägten Denkschrift der EKD von 1949 wurde sich gegen „das Handicap der Verteidigung gegenüber der Anklagebehörde, die Beeinflussung von Zeugen, die Anwendung eines neuen Rechts, das nicht allgemein verbindlich ist, die willkürliche Auswahl der Angeklagten, die Aburteilung von Soldaten durch ein Gericht, das in Wahrheit kein Militärgericht ist“ gewandt und man erbat die Nachprüfung der Urteile durch eine Berufungsinstanz. Die Denkschrift schloss mit den Worten, „dass höchster Ausdruck der Gerechtigkeit nicht Urteil und Vollstreckung der Strafe sein muss.“ Als Diener Christi bat man (, d.h. die EKD) darum, in geeigneten Fällen Gnade walten zu lassen. Sehr bedenklich stimmen auch die Äußerungen des ersten EKD Ratsvorsitzenden Wurm nach McCloys Urteilsumwandlungen für die Landesberger: „Die Nachrichten über die Kriegsführung in Korea lassen vielfach die Frage auftauchen, ob nicht die ersten Urteile gegen die Generale auf unzulänglicher Kenntnis der heutigen Partisanenkriegsführung beruht haben und ob deshalb nicht eine stärkere Reduktion der Strafen hätte eintreten sollen.“ (WEITERE) VORSTANDSMITGLIEDER DER ERSTEN HILFE ZU GRÜNDUNGSZEITEN: Schauen wir uns nun einmal an, mit welchen Personen Prinzessin von Isenberg und der erste EKD Ratsvorsitzende Wurm im Vorstand der ersten Hilfe saßen: Heinrich Malz SS-Obersturmbannführer und persönlicher Referent im RSHA von Ernst Kaltenbrunner Malz trat 1930 der NSDAP und auch der SS bei. Im Mai 1940 übernahm er die Leitung des Referats III A 2 (Rechtsleben) des Reichssicherheitshauptamtes. Am 30. Januar 1941 wurde er zum SSSturmbannführer befördert und avancierte 1944 als SS-Obersturmbannführer schließlich zum persönlichen Referenten des RSHA-Chefs Kaltenbrunner. Bei Ernst Kaltenbrunner handelt es sich um den Chef der Sicherheitspolizei, des Sicherheitsdienstes SD und des GeStaPo-Amtes sowie für die Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 14 von 78 Einsatzgruppen verantwortlich, die im Rücken der Ostfront bis Kriegsende rund 1.000.000 Menschen ermordeten. Zwar wurde Malz nach Kriegsende interniert, jedoch 1948 wieder entlassen. Der persönliche Referent einer der Hauptangeklagten im Nürnberger Prozess soll nichts von den Taten seines Vorgesetzten gewusst haben. Wie wahrscheinlich dies ist, mag der Leser selbst beurteilen. Wilhelm Spengler SS-Standartenführer und Abteilungsleiter im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) Noch vor der Machtergreifung der Nazis publizierte der promovierte Germanist Spengler in der Zeitschrift „Volk im Werden“, herausgegeben von Ernst Krieck, dem führenden Interpret der nationalsozialistischen Pädagogik. Spengler war jedoch nicht nur als Germanist am Schreibtisch tätig, sondern gemäß Heydrichs Losung von der „kämpfenden Verwaltung“ im März 1942 auch bei der Partisanenbekämpfung im Nordabschnitt der Ostfront eingesetzt worden. Im Mai 1942 war er drei Wochen bei der „Einsatzgruppe D“ auf der Krim. Von 1945 bis 1947 war Spengler in Internierungshaft, danach lebte er in München. Wenn es den vorstehend genannten Vertretern der Kirche sowie der sich auf ihre christlichen Wurzeln berufenden Prinzessin von Isenberg nur um ihren caritativen Auftrag ging, so stellt sich die Frage, warum NS-Funktionäre wie Malz und Spengler in den Gründungsvorstand berufen wurden. Eine hinreichende Erklärung kann hier nicht ersehen werden. WEN DIE STILLE HILFE SONST NOCH UNTERSTÜTZTE: Vergegenwärtigen wir uns an dieser Stelle aber auch, welche Personen die Stille Hilfe sonst noch unterstützte und man wird an den nachstehenden vier Beispielen kaum glauben können, für wen sich eingesetzt wurde: Hildegard Lächert (1920 – 1995) Lächert war Aufseherin in den Konzentrationslagern Ravensbrück, Majdanek und Auschwitz und wurde wegen ihrer Brutalität auch „Blutige Brigitte“ genannt. Im Krakauer Auschwitz Prozess wurde sie am 22. Dezember 1947 zwar zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt, gleichwohl aber 1956 vorzeitig entlassen. Erst viel später erkannte man oder wollte man erkennen, wofür Hildegard Lächert wirklich verantwortlich war. In dem am 26. November 1975 vor dem Landgericht Düsseldorf begonnenen Majdankek-Prozess wurde sie wegen Mordbeihilfe in 1.196 Fällen (!!!) angeklagt und am 30. Juni 1981 wegen gemeinschaftlicher Beihilfe zum Mord an mindestens hundert Menschen zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Ihre Strafe mussten sie jedoch nicht absitzen, da die Haft in Polen angerechnet wurde. Klaus Barbie (1913 – 1991) SS Hauptsturmführer, der vor allem in Frankreich, rudimentär aber auch in den Niederlanden unsägliche Verbrechen begann. Barbie folterte Geistliche in Frankreich mit Elektroschocks, hängte sie an den Füßen auf und vergriff sich sogar an Kindern, indem er diese hungern ließ und diese auch noch prügelte. Ebenso mussten sich Frauen zuerst völlig entkleiden, wurden hiernach bis zur Bewusstlosigkeit geprügelt, vergewaltigt sowie missbraucht. Viele Mitglieder der Résistance wurden von Barbie gefoltert und ermordet. Als Folterinstrumente benutzte er unter anderem Schneidbrenner, glühenden Schürhaken, kochendes Wasser sowie diverse Peitschen, Werkzeugen und Knüppel. Von 1945 bis 1955 genoss Barbie den Schutz britischer sowie US-amerikanischer Geheimdienste. 1951 emigrierte er auf der sogenannten Rattenlinie unter dem Namen Klaus Altmann nach Bolivien und betätigte sich dort als Geschäftsmann. In Bolivien agierte er später als Berater und Ausbilder der Sicherheitskräfte unter dem Diktator Hugo Banzer Suarez. Im November 1952 wurde Kriegsverbrecher Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 15 von 78 Barbie in Lyon wegen Gräueltaten gegen die Zivilbevölkerung und die Widerstandsbewegung im Jura in Abwesenheit der Prozess gemacht, und er wurde ein zweites Mal in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Nach einem weiteren Prozess in Abwesenheit im November 1954 wurde Barbie wegen des Massakers von Saint-Genis-Laval und zahlreicher Erschießungen im Gefängnis Montluc in Lyon erneut zum Tode verurteilt. Genau so wenig wie man verstehen kann, dass man sich für einen Menschen wie Klaus Barbie einsetzen kann, kann man nicht verstehen, dass Barbie 1966 für den Bundesnachrichtendienst als Informant unter dem Decknamen Adler angeworben wurde und mindestens ein Jahr für den BND tätig war. Im Alter von 70 Jahren wurde er am 4. Februar 1983 von Bolivien nach Frankreich ausgeliefert und dort vor Gericht gestellt. Am 4. Juli 1987 wurde Barbie dann der Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gesprochen und zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Barbie verstarb am 1991 im Alter von 77 Jahren in Haft. Erich Priebke (1913-2013): Priebke war SS-Hauptsturmführer und negativ bekannt durch seine führende Rolle bei den Geißelerschießungen in den Ardeatinischen Höhlen. Als Reaktion auf ein Attentat der italienischen Resistenza am 23.03.1944, bei der 33 deutsche Soldaten ums Leben kamen, beschloss die deutsche Armeeführung in Rom, für jeden getöteten Deutschen 10 italienische Geiseln zu erschießen. Daraufhin überstellte die italienische Kommandantur 335 italienische Zivilisten, die von deutschen Erschießungskommandos unter maßgeblicher Leitung Priebkes erschossen wurden, wobei Priebke ebenfalls persönlich Zivilisten erschoss. Nach Kriegsende verblieb Priebke 20 Monate in englischer Kriegsgefangenschaft in Italien, bis ihm die Flucht gelang. Auf Ersuchen des österreichischen Bischofs Alois Hudal versteckten ihn die Franziskaner hiernach in ihrem Kloster in Bozen. Die katholische Kirche beschaffte Priebke einen Reisepass des Internationalen Roten Kreuzes und mit Hilfe der katholischen Kirche konnte auch Priebke im Rahmen der „Rattenlinie“ von Genua nach Italien entkommen. Über die Rattenlinie und den Bischof Hudal (der von den Päpsten Pius XII. und Paul VI. mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattet wurde), sind 180 (!!!) bekannte NS-Verbrecher nach Argentinien gelangt, unter anderem: Klaus Barbie Gerhard Bohne Adolf Eichmann Berthold Heilig Josef Mengele Ante Pavelić Erich Priebke Walter Rauff Eduard Roschmann Josef Schwammberger Franz Stangl Friedrich Schwend Gustav Wagner Friedrich Warzok Johann von Leers Welche Rolle die Stille Hilfe im Rahmen der „Rattenlinie“ wirklich hatte, kann bis heute nicht abschließend geklärt werden, da bei den NS Verbrechern oftmals das Gelübde des Schweigens sehr groß war. Martin Sommer (1915-1988) Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 16 von 78 Sommer, war als Mitglied der SS (Hauptscharführer) Aufseher in den Konzentrationslagern von Sachsenburg sowie Buchenwald und ging als „Henker von Buchenwald“ in die Geschichte ein. Sein hauptsächlicher Verantwortungsbereich in Buchenwald war dabei das Arrestgebäude, in der er Insassen besonders qualvoll tötete und/oder folterte. Dabei ließ er die KZ-Insassen verhungern, erhängte sie in ihrer Zelle, vergiftete das Essen oder injizierte den Häftlingen Phenol, Evipan oder Luft in die Venen. Andere grauenvolle Morde begann er dadurch, dass er einmal einem Insassen den Kopf mit einer Schraubzwinge zerquetschte oder im Winter einen Häftling außen an das Arrestgebäude kettete, mit kaltem Wasser übergoss und dann zusah, wie dieser erfror. Für alle diese Taten gibt es hinreichend glaubwürdige Zeugenaussagen. 1955 kam es zur Anklage gegen Sommer, welche jedoch wegen Verhandlungsfähigkeit abgebrochen wurde, so dass er freigelassen wurde. 1958 kam er zu einer erneuten Anklage vor dem Bayreuther Landgericht. Er wurde zwar zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt, erhielt aber bereits 1971 Haftverschonung und lebte hiernach 17 weitere Jahre praktisch auf freiem Fuß in den Rammelsberger Anstalten. GUDRUN BURWITZ – LETZTER STILLER STAR DER STILLEN HILFE Wie engagiert die „Stille Hilfe“ auch noch bis heute agiert, lässt sich am Beispiel von Gudrun Burwitz, des einzigen, 1929 geborenen Kindes vom Reichsführer-SS und Reichsinnenminister Heinrich Himmler ersehen. Wie der Kölner Express in seiner Ausgabe vom 19.06.2011 zum Beispiel berichtete, engagierte sich die rüstige 81 jährige im Jahr 2011 für den 90 jährigen, ehemaligen SS Obersturmführer Søren Kam, der für die Tötung eines Zeitungsjournalisten von der dänischen Justiz zur Verantwortung gezogen werden soll. Zuvor hatte sie dafür gekämpft, dass der niederländische SS-Scherge Klaas Carel Faber wegen der Morde an Juden während des Zweiten Weltkrieges nicht ausgeliefert wird. Und dies ist nur eine Auflistung für die Aktivitäten in den Jahren 2010 und 2011. Was von Frau Burwitz und ihren Aktivitäten für die „Stille Hilfe“ wirklich zu halten ist, kann man daran erkennen, wie sich ein Verfassungsschützer im Kölner Express im Jahr 2011 über sie äußerte: „Sie ist über 80, aber bei klarem Verstand. Ihr gefällt es, wenn man sie als eine »Mrs Doubtfire«, als eine Art stacheliges, aber liebenswürdiges Kindermädchen sieht – das ist sie aber ganz und gar nicht.“ ABSCHLIESSENDES FAZIT ZUR STILLEN HILFE: Es ist mehr als erschreckend, wie viele so genannte „Gut-Menschen“ NS-Mördern geholfen haben, dass diese entkommen konnten und sich für ihre Morde nicht verantworten mussten bzw. sich erst in sehr hohem Alter verantworten mussten. Genau so unglaublich ist es aber auch, dass die „Stille Hilfe“ zumindest bis 2011 (!!) existieren und wirken konnte bzw. für ihr Wirken so viele Erfolge erzielen konnte. Literatur: Oliver Schröm, Andrea Röpke: Stille Hilfe für braune Kameraden. Das geheime Netzwerk der Alt- und Neonazis. Christoph Links Verlag, Berlin 2002, ISBN 3-86153-231-X Ernst Klee: Persilscheine und falsche Pässe. Wie die Kirchen den Nazis halfen (FischerTaschenbuch; 10956). 5. Aufl. Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt/M. 1991, ISBN 3-59610956-6. Thomas A. Schwarz: Die Begnadigung Deutscher Kriegsverbrecher: John J. McCloy und die Häftlinge von Landsberg, Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Jahrgang 38 (1990), Heft 3, Seite 375 ff. Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland zur Frage der Kriegsverbrecher vor amerikanischen Militärgerichten, 1949, in: EZA Berlin, Bestand 2/261] Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 17 von 78 Peter Hammerschmidt: Deckname Adler - Klaus Barbie und die westlichen Geheimdienste. S. Fischer, Frankfurt am Main 2014, ISBN 978-3-10-029610-8 Joachim Staron: Fosse Ardeatine und Marzabotto. Deutsche Kriegsverbrechen und Resistenza. Geschichte und nationale Mythenbildung in Deutschland und Italien (1944–1999). Schöningh, Paderborn u. a. 2002, ISBN 3-506-77522-7 Gerald Steinacher: Nazis auf der Flucht. Wie Kriegsverbrecher über Italien nach Übersee entkamen Studienverlag, Innsbruck 2008, ISBN 978-3-7065-4026-1 Andrej Angrick & Klaus-Michael Mallmann Hgg.: Die Gestapo nach 1945. Karrieren, Konflikte, Konstruktionen. Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ludwigsburg, 14. WBG, 2009 ISBN 978-3-534-20673-5 Buchenwald. Ein Konzentrationslager. Bericht der ehemaligen KZ-Häftlinge Emil Carlebach, Paul Grünewald, Helmut Röder, Willy Schmidt, Walter Vielhauer. Hrsg. im Auftrag der Lagergemeinschaft Buchenwald-Dora der Bundesrepublik Deutschland. Röderberg im PahlRugenstein-Verlag, Köln; 2. Auflage, 1991; ISBN 978-3876827865 Internetquellen: http://www.hagalil.com/archiv/2001/04/malloth.htm http://www1.jur.uva.nl/junsv/brd/Gericht01fr.htm http://www.wienerzeitung.at/nachrichten/archiv/208563_Rechenschaft-statt-Rache.html http://books.google.de/books?id=6toyVjk07UMC&pg=PA407&lpg=PA407&dq=Sippen+und+Familienforschung+in+M%C3%BCnchen&source=bl&ots=mRngvXH4Q&sig=TsMkxjmgueu6_2JASdlIf2Xmxww&hl=de&sa=X&ei=iCZ4UMaNJrH54QSciYGgDQ&ved=0 CD0Q6AEwBQ http://www.sonntagsblatt-bayern.de/news/aktuell/2009_33_09_01.htm http://www.express.de/politik-wirtschaft/mit-81-jahren-himmlers-tochter-sammelt-fuer-diess,2184,8575990.html http://www.lisa.gerda-henkel-stiftung.de/content.php?nav_id=1073 http://www.justice.gov/criminal/hrsp/archives/1983/08-02-83barbie-rpt.pdf http://www1.jur.uva.nl/junsv/brd/files/brd464.htm http://www.tagesspiegel.de/politik/gudrun-burwitz-und-die-stille-hilfe-die-schillernde-naziprinzessin/233116.html Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 18 von 78 Militärprostitution im Dritten Reich Eines der von den Nationalsozialisten selbst über sich verbreiteten Märchen bestand darin, dass gerade sie selbst erst die Prostitution verboten und entschieden bekämpft hätten. Unglaublich, aber wahr ist der Sachverhalt, dass die Nationalsozialisten nach der totalen Überwachung der Prostitution im Deutschen Reich als auch in den besetzten Territorien trachteten. Im Bereich der Militärprostitution ist es hierbei mehr als interessant, wie sehr sich die Nationalsozialisten bei der Errichtung und des Betriebs von Bordellen mit Zwangsprostituierten bei der Wehrmacht und den Konzentrationslagern engagierten. Wie wir hier noch sehen werden, waren letztlich die größten Zuhälter im III. Reich: Walther von Brauchitsch (1881 – 1948), Generalfeldmarschall und Oberbefehlshaber des Heeres von 1938 – 1941 Wilhelm Frick (1876 – 1946), Reichsminister des Inneren von 1933 – 1943, einer von 24 im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher angeklagten Personen Heinrich Himmler (1900 – 1945), Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei, ab 1943 auch Reichminister des Inneren Betrachten wir nun den Bereich der Wehrmachtsbordelle. Wehrmachtsbordelle Am 9.9.1939 gab der Reichsinnenminister Wilhelm Frick einen Erlass heraus, der die polizeiliche Behandlung der Prostitution im „Operationsgebiet“ der deutschen Wehrmacht neu regeln sollte. Durch Untersagung und Verfolgung wilder Prostitution sollten gesundheitliche Schädigungen der Wehrmachtsangehörigen verhindert werden. Die Prostitution durfte „nur in besonderen Häusern“ unter Aufsicht des deutschen Sanitätswesens unterhalten werden. Ein grundsätzliches Verbot der geschlechtlichen Betätigung hielt man für „inopportun, weil dadurch die Zahl der Notzuchtverbrechen und die Gefahren von Verstößen gegen § 175 RStG (Verbot homosexueller Handlungen unter Männern) steigen würde.“ Auf operativer Ebene wurde dies von Walther von Brauchitsch, dem Oberbefehlshaber des Heeres umgesetzt. Hierzu heißt es in einem Befehl von ihm: „Der Geschlechtsverkehr mit gesundheitlich nicht kontrolliertem weiblichen Personal muss unterbunden werden, soweit das möglich ist“. Gleichzeitig forderte er von den deutschen Soldaten „auf geschlechtlichem Gebiet Selbstzucht“ zu üben, „Vor allem für die verheirateten Soldaten ist dieses Gebot eine Selbstverständlichkeit.“ Auf Anweisung des Oberbefehlshaber des Heeres von Brauchitsch gaben der Heeresarzt und der Generalquartiermeister im Juli 1940 zwei einander Erlasse heraus, die die Errichtung von Bordellen für die Soldaten und die Verfolgung wilder Prostitution für das besetzte Frankreich in die Wege leiteten. Die Anordnung lautete, ausgewählte Bordelle für die Besatzungsmacht zu beschlagnahmen. Die Umsetzung der Direktiven ist in einem Lagebericht des Leitenden Sanitätsoffiziers beim Bezirkschef B vom 23. September 1940 dokumentiert: „Bordelle für Soldaten sind in fast allen größeren Orten eingerichtet und werden laufend überwacht; außerdem sind in Biarritz, Bordeaux, La Rochelle, Nantes, Angers, Vannes, La Baule und Lorient ‘Absteigehotels’ eingerichtet. Razzien bezüglich der freien Prostitution wurden auf Veranlassung der Kommandaturärzte in fast allen größeren Orten durch die französische Sittenpolizei, die anscheinend gut arbeitet, durchgeführt. Es wurden dabei eine Anzahl wilder Prostituierter als geschlechtskrank erfasst und der Behandlung zugeführt.“ Kommen wir nun dazu, wer im operativen Bereich hier hauptsächlich verantwortlich war Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 19 von 78 Für die Kontrolle der Prostitution war das Wehrmachtssanitätswesen maßgeblich. Mit dem Waffenstillstand im Juni 1940 wurden etwa zwei Drittel des französischen Territoriums, die sogenannte Nordzone, deutscher Militärverwaltung unterstellt. Das besetzte französische Gebiet gliederte sich in vier, zwischenzeitlich fünf Militärverwaltungsbezirke, die wiederum in Feldkommandanturen unterteilt waren, deren Zuständigkeitsbereich ein oder mehrere Departements umfassten. Auf allen Ebenen der Militärverwaltung - beim Militärbefehlshaber, den Bezirkschefs und den Feldkommandanten - wurden leitende Sanitätsoffiziere bzw. Kommandaturärzte angesiedelt. Diese Sanitätseinheiten waren neben den Spitzen der Sanitätsabteilungen im OKH und OKW die hauptverantwortlichen Instanzen für die Prostitutionsüberwachung. Dass die Wehrmachtsmediziner somit administrative Funktionen gegenüber der Zivilbevölkerung wahrnahmen, ist auch deshalb zu unterstreichen, weil das Sanitätswesen der Wehrmacht bis heute unzureichend erforscht ist. Keineswegs auf die medizinische Versorgung der deutschen Truppen beschränkt, beschäftigten sich die Kommandaturärzte in Frankreich vielmehr schwerpunktmäßig mit dem Betrieb von Wehrmachtsbordellen und der Einleitung von Repressalien gegenüber prostitutionsverdächtigen Frauen. Das Beispiel Frankreich Die quantitative Dimension des Wehrmachtsbordellsystems war alles andere als unbedeutend. Ende 1941 beispielsweise verfügte die deutsche Besatzungsmacht nach eigenen Angaben allein im Militärverwaltungsbezirk A - ein Gebiet, das etwa ein Drittel der deutschbesetzten Nordzone einschloss - über 143 Wehrmachtsbordelle, in denen 1166 Frauen arbeiteten. Der Massencharakter des Bordellsystems zeigt sich ebenso am Beispiel der Hafenstadt La Rochelle, wo im Verlauf des Jahres 1942 mindestens 250 Französinnen in den für deutsche Truppen reservierten Bordellen tätig waren, wie die Auswertung zeitgenössischer Unterlagen der örtlichen französischen Gesundheitsbehörden ergibt. Man kann davon ausgehen, dass es im besetzten Frankreich Frauen gab, die sich um die Tätigkeit in einem Wehrmachtsbordell beworben haben, sei es aus eigenem Antrieb oder infolge der Gewalt eines privaten Zuhälters, und auch die polizeiliche Repression der Straßenprostitution spielte in diesem Zusammenhang eine nicht zu unterschätzende Rolle. Zugleich gründete sich die Bordellarbeit jedoch auf direkte, administrativ ausgeübte Zwangsmaßnahmen. So belegen die überlieferten Quellen, dass Französinnen aus Internierungslagern in Wehrmachtsbordelle überwiesen wurden. Die im Kontext der Prostitutionsüberwachung verhängten Internierungsmaßnahmen, deren nähere Untersuchung bis heute aussteht, lassen sich am Beispiel des Lagers Jargeau im Departement Loiret in Zentralfrankreich beleuchten, in das zwischen Oktober 1941 und November 1944 mindestens 303 als Prostituierte klassifizierte Frauen aus der umliegenden Region eingeliefert wurden. Aus den bei der Einweisung maßgeblichen Motiven und Begründungen erschließt sich die Willkür, mit der die Wehrmacht über Französinnen verfügte, die deutschen Soldaten ihre Gesellschaft gewährten. So befahl der Sanitätsoffizier der Feldkommandantur Orléans der französischen Polizei im Oktober 1941, alle außerhalb der Wehrmachtsbordelle arbeitenden "filles soumises", deren Dienste die deutschen Soldaten bis dahin in Anspruch genommen hatten, zu verhaften und in das Lager zu überführen. Die Internierung so genannter Prostituierter in Jargeau wurde auf direkte Weise mit dem Wehrmachtsbordellsystem verbunden. Ab Dezember 1941 ließen die Besatzungsbehörden Französinnen aus dem Lager durch Polizeikräfte in verschiedene, für die Wehrmacht reservierte Bordelle überstellen. Die Rekrutierung zur Bordellarbeit geschah in formaler Hinsicht mit Einverständnis und auf Antrag der Internierten. Faktisch handelte es sich um eine der wenigen Möglichkeiten, das Lager zu verlassen. Dass die in Wehrmachtsbordelle überführten Frauen zum Teil vor ihrer Meldung zur Bordellarbeit erfolglos versucht hatten, dem Lager mit Hilfe individueller Entlassungsgesuche oder mittels Flucht zu entkommen, deutet darauf hin, unter welchem Druck die Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 20 von 78 Einwilligung zum Abtransport in ein Wehrmachtsbordell erfolgte. Hervorzuheben ist weiterhin, dass die Feldkommandantur durchaus nicht allen Anträgen stattgab, sondern unter den betreffenden Frauen selbst ihre Auswahl traf. Mit den Ergebnissen ihres Einstiegs ins Geschäft mit dem käuflichen Sex war die Wehrmachtsführung zufrieden. In einem Bericht vom 27. Januar 1943 jedenfalls heißt es: “In den besetzten Gebieten hat sich die Einrichtung von Bordellen durch die Wehrmacht bewährt, soweit ein sorgfältige Kontrolle des Bordellbetriebs und … Kontrolle der Insassen durch deutsche Sanitätsoffiziere erfolgte.” In größeren Städte gab es getrennte Etablissements für Mannschaften und für Unteroffiziere. Allein in Paris waren im April 1941 zum Beispiel 29 Wehrmachtsbordelle zugelassen, in Caen elf. Natürlich existierten ebenfalls spezielle Offiziersbordelle, doch darüber findet sich in den fragmentarisch erhaltenen Unterlagen zum Sanitätswesen sehr viel weniger. Offiziell sollten sie als Vorbilder “Selbstzucht” üben. Dennoch wurden “Absteigehotels für durchreisende Offiziere” eingerichtet, in denen die gleichen Vorschriften wie in gewöhnlichen Wehrmachtsbordellen galten. Allein in Paris gab es drei davon. Ebenfalls nur punktuell erhalten haben sich Angaben über den Betrieb der Wehrmachtsbordelle. Offiziell sollte jedes eine Hausordnung bekommen, in der Öffnungszeiten, Verhaltensregeln und Preise festgehalten waren. Im Normalfall kostete Sex offenbar zwei bis drei Reichsmark, in besser ausgestatteten Bordellen manchmal auch fünf Reichsmark. Jeder Freier hatte sich nach dem Geschlechtsverkehr von einem deutschen Sanitätsdienstgrad “sanieren” zu lassen. Auch wenn sich dieses Beispiel auf Frankreich bezieht, so sei an dieser Stelle darauf verwiesen, dass es derartige Wehrmachtsbordelle in allen von den Nationalsozialisten besetzten Ländern gab. Lagerbordelle Im Zeitraum 1942 bis 1945 wurden in den Konzentrationslagern Auschwitz, Ravensbrück, Neuengamme, Sachsenhausen, Mittelbau-Dora, Buchenwald, Flossenbürg, Dachau, Gusen und Mauthausen circa 200 weibliche Häftlinge von der SS für Lagerbordelle eingesetzt, wobei mittlerweile 174 namentlich bekannt sind. Die Idee der Lagerbordelle geht auf einen Besuch Himmlers im KZ Mauthausen zurück. Hierzu heißt es in einem Brief Heinrich Himmlers an Oswald Pohl am 23. März 1942: „Für notwendig halte ich allerdings, dass in der freiesten Form den fleißig arbeitenden Gefangenen Weiber in Bordellen zugeführt werden.“ Die Frauen, welche zur Prostitution gezwungen wurden, kamen ausschließlich aus den Konzentrationslagern Ravensbrück sowie Auschwitz-Birkenau. Unter Vorspielung der wahrheitswidrigen Aussage, dass die Frauen nach sechsmonatiger Bordelltätigkeit entlassen würden, versuchte die SS, dass sich die Frauen freiwillig meldeten. Nachdem bald bekannt wurde, dass die SS hier ihr Wort nicht hielt, wurden die Frauen einfach ohne irgendwelche Versprechen zu dieser Prostitution gezwungen. Die meisten der Frauen waren Deutsche, die als „Asoziale“ in ein Konzentrationslager verschleppt worden waren und von der SS weiterhin so bezeichnet wurden. Andere waren Polinnen, Ukrainerinnen, Weißrussinnen, aber auch Roma und Sinti. Jüdische Frauen gab es in den Lagerbordellen nie. Himmlers Menschenschinder ließen ausgesuchte Häftlinge, die wichtig waren für die Rüstungsproduktion und sich durch "Fleiß, Umsichtigkeit, gute Führung und besondere Arbeitsleistung auszeichnen" als Belohnung in das Bordell - wenn sie "eine Gebühr von Reichsmark 2" entrichteten. Von dem Betrag behielt die SS 1,50 Reichsmark ein, fünf Reichspfennig erhielt der Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 21 von 78 "aufsichtsführende weibliche Häftling", die übrigen 45 Pfennige sollten an die zum Sex gezwungenen Frauen gehen. Die Frauen sollten das Geld nach der Entlassung bekommen, die man ihnen in Aussicht stellte und die freilich nie kam. Häftlinge, die zu den Prostituierten wollten, mussten ein Antragsformular ausfüllen. Der Besuch im Bordell durfte nicht länger als 20 Minuten dauern, Geschlechtsverkehr war nur im Liegen erlaubt. In den Zimmertüren waren Löcher eingelassen, damit Wachmänner das Geschehen von außen verfolgen konnten. Nach jedem Geschlechtsakt mussten die Frauen zum Häftlingsarzt, welcher dann die Vagina einer „Reinigung durch Milchsäure“ unterzog. Entschädigung der Zwangsprostituierten Vergegenwärtigen wir uns hierzu zuerst einmal wer Opfer des Nationalsozialismus nach dem Bundesentschädigungsgesetzes ist: „Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung ist, wer aus Gründen politischer Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus oder aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen verfolgt worden ist und hierdurch Schaden an Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit, Eigentum, Vermögen, in seinem beruflichen oder in seinem wirtschaftlichen Fortkommen erlitten hat (Verfolgter).“ Es ist mehr als beschämend, dass Zwangsprostituierte bis in die 1990er Jahre nicht als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt wurden und auch keine Entschädigung erhielten. Es stellt sich aufgrund des vorstehenden Sachverhaltes die Frage, ob denn damals sexuelle Gewalt nicht als verbotene Kriegshandlung gewertet wurde. Hinsichtlich der Vergewaltigung als Kriegshandlung lässt sich seit Jahrhunderten ein gewohnheitsrechtliches Verbot nachweisen. Der Lieber-Code von 1863, mit dem die USA ihr Landkriegsrecht kodifizierten und der als Grundlage für die späteren internationalen Abkommen zum humanitären Völkerrecht diente, verbot in Art. 44 die Vergewaltigung bei Todesstrafe. In das IV. Haager Abkommen (Haager Landkriegsordnung, HLKO) von 1907 wurde hingegen kein ausdrückliches Verbot sexueller Gewalt aufgenommen. Art. 46 HLKO, der die Achtung der Ehre und der Rechte der Familie vorschreibt, wird in Anbetracht des damals vorherrschenden Verständnisses von „Familienehre“ jedoch ein Verbot sexueller Übergriffe auf die Frau entnommen. Die vier Genfer Konventionen von 1949, die die Hauptquellen des humanitären Völkerrechts darstellen und nahezu universelle Geltung haben, behandeln sexuelle Gewalt explizit nur in einem einzigen Artikel. Nach Art. 27 Abs. 2 der Vierten Genfer Konvention (über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten) sollen Frauen „besonders vor jedem Angriff auf ihre Ehre und namentlich vor Vergewaltigung, Nötigung zur gewerbsmäßigen Unzucht und jeder unzüchtigen Handlung geschützt“ werden. Auch wenn Art. 27 Abs. 2 nicht als Verbot formuliert ist, soll er nach dem IKRK-Kommentar zur Konvention von Pictet (1958) so verstanden werden. Der gemeinsame Artikel 3 der Genfer Konventionen, der Mindestanforderungen auch für den nichtinternationalen bewaffneten Konflikt aufstellt, enthält keinen auf sexuelle Gewalt gemünzten Tatbestand, verbietet aber „Angriffe auf Leib und Leben, namentlich […] „grausame Behandlung und Folterung“ sowie jede „Beeinträchtigung der persönlichen Würde, namentlich erniedrigende und entwürdigende Behandlung“. Vergegenwärtigt man sich diese vorstehenden Sachverhalte, so fallen Zwangsprostituierte zu Zeiten des III. Reiches nach diesseitiger Sicht unter Artikel 46 Haager Landkriegsordnung, welche vom Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 22 von 78 Deutschen Reich anerkannt worden war und welche im Zeitraum 1933 – 1945 auch Rechtskraft hatte. Aus diesem Sachverhalt heraus hätte es eigentlich logisch sein müssen, dass die Zwangsprostituierten hätten entschädigt werden. Dass es so lange dauerte bis die Entschädigung kam, ist kein Ruhmesblatt. Literatur: Christa Paul: Zwangsprostitution: Staatlich errichtete Bordelle im Nationalsozialismus, Edition Hentrich, ISBN 978-3894681418 Baris Alakus: Sex-Zwangsarbeit in nationalsozialistischen Konzentrationslagern, MandelbaumVerlag, ISBN 978-3854762058 Patrick Buisson: 1940 – 1945 Années érotiques: Vichy ou les infortunes de la vertu, Verlag Albin Michel, ISBN 978-222618394 Robert Sommer: Das KZ-Bordell – Sexuelle Zwangsarbeit in nationalsozialistischen Konzentrationslagern, Schöningh-Verlag, ISBN 978-3506765246 Birgit Beck: Wehrmacht und sexuelle Gewalt. Sexualverbrechen vor deutschen Militärgerichten 1939–1945, Schöningh, Paderborn 2004, ISBN 3-506-71726-X Internetquellen: http://www.zeit.de/online/2009/27/lagerbordelle http://www.buchenwald.de/599/ http://www.sueddeutsche.de/politik/nationalsozialismus-himmlers-zwangsprostituierte-1.532668 http://library.fes.de/fulltext/afs/htmrez/80470.htm http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-40749007.html Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 23 von 78 Systematische Verbrechen der Wehrmacht Lassen Sie uns erst einmal Äußerungen wichtiger Vertreter der deutschen Wehrmacht zur Kenntnis nehmen, bevor wir uns konkret mit den systematischen Verbrechen der deutschen Wehrmacht auseinander setzen: EINDEUTIGE ÄUSSERUNGEN DER WEHRMACHT 1938 – 1941: Generalfeldmarschall und Oberbefehlshaber des Heeres Walther von Brauchitsch in seinem Erlass des Jahres 1938 über die Erziehung des Offizierskorps: „Wehrmacht und Nationalsozialismus sind desselben geistigen Stammes. Sie werden weiter Großes für die Nation leisten, wenn sie dem Vorbild und der Lehre des Führers folgen, der in seiner Person den echten Soldaten und Nationalsozialisten verkörpert.“ Generalquartiermeister Eduard Wagner Anfang Oktober 1941: „Nichtarbeitende Kriegsgefangene in den Gefangenenlagern haben zu verhungern. Arbeitende Kriegsgefangene können im Einzelfalle auch aus Heeresbeständen ernährt werden.“ Befehl des Generaloberst von Manstein vom 20. November 1941: „Dieser Kampf wird nicht in hergebrachter Form gegen die sowjetische Wehrmacht allein nach europäischen Kriegsregeln geführt. […] Das Judentum bildet den Mittelsmann zwischen dem Feind im Rücken und den noch kämpfenden Resten der Roten Armee und der Roten Führung […] Das jüdischbolschewistische System muss ein für alle Mal ausgerottet werden.“ Befehl des Generalfeldmarschalls Walther von Reichenau vom 10. Oktober 1941: „Der Soldat ist im Ostraum nicht nur ein Kämpfer nach den Regeln der Kriegskunst, sondern auch ein Träger einer unerbittlichen, völkischen Idee und der Rächer für alle Bestialitäten, die deutschem und artverwandtem Volkstum zugefügt wurden. Deshalb muss der Soldat für die Notwendigkeit der harten aber gerechten Sühne am jüdischen Untermenschentum volles Verständnis haben. Sie hat den weiteren Zweck, Erhebungen im Rücken der Wehrmacht, die erfahrungsgemäß stets von Juden angezettelt wurden, im Keime zu ersticken. […] Immer noch werden heimtückische, grausame Partisanen und entartete Weiber zu Kriegsgefangenen gemacht […] und wie anständige Soldaten behandelt und in die Gefangenenlager abgeführt. […] Ein solches Verhalten der Truppe ist nur noch durch völlige Gedankenlosigkeit zu erklären. Es ist dies im Übrigen nur eine kleine Auswahl von eindeutigen Befehlen hochrangiger Wehrmachtsvertreter, die belegen, dass große Teile der Wehrmacht eindeutig hinter der NS-Ideologie standen. Wie sehr die oberste Führung der Nationalsozialisten und die oberste Führung der Wehrmacht auf einer Linie in Sachen Verbrechen gegen die Menschheit waren, zeigen unmissverständlich die folgenden drei Erlasse: KRIEGSGERICHTBARKEITSERLASS VOM 13.05.1941: 1.Abschnitt des Erlasses Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 24 von 78 Behandlung von Straftaten feindlicher Zivilpersonen: Für Straftaten feindlicher Zivilpersonen sind Kriegsgerichte oder Standgerichte bis auf weiteres nicht zuständig. Freischärler sind im Kampf oder auf der Flucht „schonungslos zu erledigen“. Zivilpersonen, die Wehrmachtsangehörige angreifen, sind sofort „niederzukämpfen“. Tatverdächtige können auf Geheiß eines Offiziers erschossen werden. Gegen Ortschaften können nach Anordnung eines Bataillonskommandeurs „kollektive Gewaltmaßnahmen“ durchgeführt werden. Ausdrücklich verboten wird die Festsetzung und Verwahrung von Verdächtigen, um diese später einem Gericht zuzuführen. Erst wenn das besetzte Gebiet „ausreichend befriedet“ ist, können die Oberbefehlshaber die Wehrmachtsgerichtsbarkeit über Zivilpersonen einführen. 2.Abschnitt des Erlasses Straftaten, die von Wehrmachtsangehörigen gegen Einwohner des besetzten Gebietes verübt werden Es besteht kein Verfolgungszwang gegen den Wehrmachtsangehörigen, selbst wenn es sich um ein militärisches Verbrechen handelt. Bei der Beurteilung solcher Taten sind Rachegedanken und Leiderfahrungen zu berücksichtigen, die dem deutschen Volk durch „bolschewistischen Einfluss“ zugefügt worden sind. Nur schwere Sexualstraftaten, Taten aus verbrecherischer Neigung, sinnlose Vernichtung von Unterkünften und Beutegut sind kriegsgerichtlich zu ahnden, da dieses zur „Aufrechterhaltung der Manneszucht“ diene. Bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit feindlicher Zivilpersonen ist „äußerste Vorsicht“ zu beachten. Dieser völkerrechtswidrige Erlass stammt von Wilhelm Keitel, Chef des Oberkommandos der Wehrmacht. Gesunder Menschenverstand hätte ausgereicht, damit jeder Soldat erkennen konnte, dass dieser Erlass gegen das Völkerrecht verstößt. KOMMISSARBEFEHL VOM 6. JUNI 1941: In diesen Richtlinien, die von Alfred Jodl als Chef des Wehrmachtführungsstabes beim Oberkommando der Wehrmacht unterzeichnet wurden und die weitestgehend von Generalstabschef Franz Halder formuliert wurden, heißt es: „In diesem Kampfe ist Schonung und völkerrechtliche Rücksichtnahme diesen Elementen gegenüber falsch. ….. Politische Kommissare als Organe der feindlichen Truppe sind kenntlich an besonderen Abzeichen – roter Stern mit golden eingewebtem Hammer und Sichel auf den Ärmeln. […] Sie sind aus den Kriegsgefangenen sofort, d. h. noch auf dem Gefechtsfelde, abzusondern. Dies ist notwendig, um ihnen jede Einflussmöglichkeit auf die gefangenen Soldaten abzunehmen. Diese Kommissare werden nicht als Soldaten anerkannt; der für die Kriegsgefangenen völkerrechtlich geltende Schutz findet auf sie keine Anwendung. Sie sind nach durchgeführter Absonderung zu erledigen.“ Es wird in diesem Erlass deutlich, dass jeder Leser dieser „Richtlinien für die Behandlung politischer Kommissare“ wissen musste, dass er bei Anwendung der Richtlinien gegen das Völkerrecht verstößt. Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 25 von 78 DER KUGEL ERLASS VOM 2. MÄRZ 1944: Wie wenig sich die Wehrmacht um das internationale Kriegsrecht scherte, lässt sich auch aus dem auf den 4.3.1944 datierten Erlass „Maßnahmen gegen wiederergriffene flüchtige kriegsgefangene Offiziere und nichtarbeitende Unteroffiziere“ [später als Kugel Erlass bekannt] ersehen. Das OKW hatte in diesem Erlass folgendes angeordnet: Jeder wiederergriffene Offizier oder „nichtarbeitende Unteroffizier“ mit Ausnahme britischer und amerikanischer Kriegsgefangener sind dem „Chef der Sipo und dem SD“ mit dem Kennwort „Stufe III“ zu übergeben sei. Diese Überstellung darf „unter keinen Umständen offiziell bekannt werden“. An die Wehrmachtauskunftstelle sind diese Kriegsgefangenen als „geflohen und nicht wiederergriffen“ zu melden, bei Anfragen des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz ist dieselbe Auskunft zu gegeben. Die Überstellten werden nach dem bisher üblichen Verfahren“ in das Konzentrationslager Mauthausen überführt. Beim Transport sind die Gefangenen zu fesseln, dies ist aber vor unbeteiligten Zuschauern zu verbergen. Dem Lagerkommandanten in Mauthausen ist mitzuteilen, dass „die Überstellung im Rahmen der Aktion ‚Kugel’ erfolgt. Im Rahmen der Aktion Kugel sind diese Gefangen zu erschießen. Dieser Befehl verstieß gegen die „Genfer Konvention über die Behandlung von Kriegsgefangenen“ von 1929, der bei Flucht von Kriegsgefangenen lediglich disziplinarische Strafen vorsah. Im Rahmen des Kugel Erlasses verloren im Übrigen im Konzentrationslager Mauthausen mehr als 5.000 Menschen ihr Leben. KRIEGSVERBECHEN DER WEHRMACHT AN KONKRETEN BEISPIELEN: Vergegenwärtigen wir uns nun, dass es sich bei den Taten der Wehrmacht nicht um einzelnen Aktionen weniger handelte, sondern dass die Wehrmacht systematisch Kriegsverbrechen verübte und sich auch am Holocaust beteiligte. Die nachfolgenden Beispiele mögen dies belegen: ÜBERFALL AUF POLEN – DIE MASSAKER VON CIEPELOW UND PRUESYSL Mehr als 3.000 polnische Soldaten wurden abseits der Kampfhandlungen von deutschen Soldaten zu Beginn des II. Weltkriegs im September 1939 ermordet. Allein zwischen dem 1.9.1939 und dem 25.10.1939 wurden mehr als 16.000 Zivilisten hingerichtet, wobei mehr als die Hälfte dieser Morde von der Wehrmacht begangen wurden. Besonders verabscheuungswürdig sind dabei sicherlich: das Massaker von Ciepelow am 8. September 1939 das Massaker von Pruesysl in der Zeit vom 15.-19. September 1939 Gerade das Beispiel des Polen Überfalls zu Beginn des II. Weltkrieges und die nachgewiesene Beteiligung der Wehrmacht an der Ermordung von Zivilisten belegt eindeutig, dass die Wehrmacht von Anfang an in die NS-Verbrechen eingebunden war. Es stellt sich an dieser Stelle natürlich die Frage, ob man nicht bereits 1939 die entsprechenden Lehren aus diesen Verbrechen der Wehrmacht hätte ziehen müssen und die Nazis mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln hätte bekämpfen müssen. Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 26 von 78 NIEDERLANDE – DER FALL PUTTEN Nachdem niederländische Partisanen in der Nacht zum 1.10.1944 nahe der der holländischen Stadt Putten vier deutsche Offiziere in einem Auto beschossen hatten und dabei einer von diesen ums Leben kam, befahl der damalige General Friedrich Christiansen, dass am Folgetag, d.h. am 2.10.1944 661 Puttener Männer ab 16 Jahre bei einer großen Razzia gefangen genommen und zunächst in das Lager Amersfoort und anschließend in die KZ Neuengamme, KZ Bergen-Belsen, KZ Auschwitz-Birkenau und KZ Ladelund verschleppt wurden. Die Frauen, Kinder und alten Menschen der Gemeinde mussten das Dorf verlassen, ihre Häuser wurden niedergebrannt. Dabei wurden über 100 Gebäude und Wohnungen zerstört. In den sieben Monaten bis Kriegsende kamen die meisten der gefangenen und deportierten Männer in deutschen Konzentrationslagern um, alleine 111 im KZ Ladelund. Nur 49 der Deportierten überlebten. In keinster Weise war diese Vorgehensweise der Wehrmacht, die leider systematisch war, mit dem internationalen Kriegsrecht vereinbar. DER KEITEL BEFEHL VOM 16.09.1941 Die Perversität der Wehrmachtsführung mag man an dem nachfolgenden Befehl erkennen: Der Keitel-Befehl vom 16. September 1941 besagte, dass für jeden ermordeten Deutschen bis zu 100 Geiseln und für jeden Verwundeten 50 Geiseln zur Sühne erschossen werden sollten. Basierend darauf hatte der Wehrmachtbefehlshaber Südost am 19. März 1942 Weisung an seine Truppenkommandeure „betreffend Bekämpfung von Aufständischen“ erlassen. Die von Jodl unterzeichnete „Kampfanweisung für die Bandenbekämpfung im Osten“ vom 11. November 1942 fasste alle vorherigen Einzelverfügungen zusammen und forderte unerbittliche Härte auch gegen Frauen und Kinder ein. Dieser Befehl wurde im Rahmen des Überfalls von Nazi-Deutschland auf die Sowjetunion von Beginn an vollumfänglich umgesetzt. Diese Morde, zusammen mit dem Verhungernlassen der Kriegsgefangenen führten auch dazu, dass mehrere Millionen von Kriegsgefangenen von der deutschen Wehrmacht in juristischem Sinne ermordet wurden. Es mag an dieser Stelle sehr überraschen, wie schnell man all dies nach Kriegsende vergas. ITALIEN – DAS MASSAKER VON KEFALONIA Das Massaker von Kefalonia war ein Kriegsverbrechen der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg zu Lasten des ehemaligen Verbündeten Italien. Deutsche Truppen erschossen 5.200 Soldaten der italienischen Division „Acqui“, die sich am 21. und 22. September 1943 Teilen der deutschen 1. Gebirgs-Division auf der griechischen Insel Kefalonia ergeben hatten. Erst im Jahr 2013, d.h. nach mehr als 70 Jahren, wurde ein deutscher Wehrmachtssoldat in Italien zu lebenslanger Haft wegen der Beteiligung an der Ermordung von 117 italienischen Offizieren in Abwesenheit verurteilt. Interessant ist dabei zweifelsfrei, wie unterschiedlich die Taten von deutscher und italienischer Justiz bewertet wurden. 2006 wurde das Massaker von Kefalonia von dem Landgericht München untersucht. Diese sahen in dem Massaker von Kefalonia -im Gegensatz zur italienischen Justiz- keinen Mord sondern nur mittlerweile verjährten Totschlag. In diesem Zusammenhang darf nicht vergessen werden, dass sich Italien am 8. September 1942 den Alliierten ergab und ab dem 9. September 1943 auf der Seite der Alliierten gegen Nazi-Deutschland kämpfte. Nachstehend nun die Begründung der Oberstaatsanwaltschaft München aus dem Jahr 2006, warum kein Mord vorlegen würde: „Aus Verbündeten wurden sie zu heftig kämpfenden Gegnern und damit im Sprachgebrauch des Militärs zu ‚Verrätern‘. Damit liegt der Fall nicht wesentlich anders, als wenn Teile der deutschen Truppe desertiert und sich dem Feind angeschlossen hätten. Eine daran anschließende Hinrichtung wäre wohl ebenfalls nicht als Tötung aus niedrigen Beweggründen im Sinne von § 211 StGB anzusehen.“ Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 27 von 78 Es war dies im Übrigen nicht das einzige Verbrechen, dass die deutsche Wehrmacht an dem ehemaligen Verbündeten Italien verübte. Aber auch in vielen anderen Fällen war man nicht sehr an einer nachhaltigen Aufarbeitung dieser Kriegsverbrechen interessiert und noch heute gibt es viele böswillige Witze über die mangelnde Loyalität und Kampfbereitschaft der Italiener im II. Weltkrieg. BETEILIGUNG DER WEHRMACHT AM HOLOCAUST: DIE 707. INFANTERIE DIVISION: Die 707. Infanterie Division wurde am 2.5.1941 aus Ersatzeinheiten des Wehrkreises VII aufgestellt. Die Division bestand bis zur sowjetischen Sommeroffensive 1944 fort und wurde am 3.8.1944 offiziell aufgelöst. Die Division wurde nach dem Beginn des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion im August 1941 von der im Reich befindlichen Bereitstellung in die hinteren Bereiche der Ostfront zur „Sicherung und Befriedung“ in Marsch gesetzt. Ihre Hauptaufgaben waren Sicherungen hinter der Front und die Partisanenbekämpfung. Kommandeur der 707. Infanterie-Division in den Jahren 1941–1943 war Generalmajor Gustav Freiherr von Bechtolsheim. Er war bekannt als ausgewiesener Antisemit und regimetreuer Nationalsozialist im Sinne der NS-Propaganda. Unter diesem Befehlshaber kam es nachweislich unter den Juden und der weißrussischen Zivilbevölkerung zu Tötungen und Massenmorden, deren geschätzte Gesamtzahl in die Zehntausende geht. In ihrem Besatzungsgebiet kam es zu einer „Arbeitsteilung“ mit der SS; die SS machte die größeren Städte „judenfrei“, die Einheiten der Division kümmerte sich um Juden, „Zigeuner“ und „sonstiges Gesindel“ auf dem flachen Land. Das der Division unterstellte Reserve-Polizei-Bataillon 11 (mit litauischer Schutzmannschaft) ermordete 5.900 Juden im Raum Sluzk-Kleck. Allein für den Oktober 1941 meldete die Division in ihrem Monatsbericht, innerhalb von vier Wochen 10.940 „Gefangene“ gemacht und davon 10.431 erschossen zu haben. Ihre eigenen Verluste beliefen sich auf 2 Tote und 5 Verwundete. Man mag allein aus diesen Zahlen hochrechnen, wie viele Menschen hier getötet wurden. Es geht hier um einen nachweislichen Massenmord der Wehrmacht im Rahmen des Holocausts. Interessant ist, was aus Generalmajor Gustav Freiherr von Bechtolsheim nach Kriegsende wurde. Hierzu wird aus Hannes Heer: Gustav Freiherr von Mauchenheim, genannt Bechtolsheim – ein Wehrmachtsgeneral als Organisator des Holocaust. In: Klaus-Michael Mallmann, Gerhard Paul (Hrsg.): Karrieren der Gewalt. Nationalsozialistische Täterbiographien. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2004, S. 33 wie folgt zitiert: „Nach Kriegsende wurde 1961 aufgrund der Aussage eines ehemaligen Polizeikommandeurs, der Bechtolsheim beschuldigte Judenmorde befohlen zu haben, gegen Bechtolsheim ermittelt. Bechtolsheim stritt die Anschuldigungen mit dem Argument ab, seine Division hätte weder an Judenmorden teilgenommen noch diese an Polizeieinheiten delegiert. Der Untersuchungsrichter sowie die Staatsanwaltschaft meinten, dass nach allgemeiner Erfahrung die Wehrmacht nicht an Judenaktionen beteiligt gewesen wäre und so wurde das Ermittlungsverfahren gegen Bechtolsheim im März 1962 eingestellt.“ Eigentlich kann man so etwas nicht glauben. Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 28 von 78 STRAFVERFOLGUNG DER WEHRMACHTSVERBRECHEN NACH ENDE DES II. WELTKRIEGES: Zu Beginn der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit durch die Alliierten im Nürnberger Prozess widmeten sich diese auch der Verbrechen der Wehrmacht. Die deutschen Justizorgane, die man ob der Vielzahl der Verbrechen der Wehrmacht besser an der Aufarbeitung und Strafverfolgung mit berücksichtigt hätte, wurden jedoch von den Alliierten außen vor gelassen. Die Alliierten bestimmten im Kontrollratsgesetz Nr. 4 des Jahres 1945, dass deutsche Justizorgane nur solche Straftaten von Wehrmachtangehörigen verfolgen dürften, die gegen deutsche Soldaten oder Zivilisten begangen worden waren. Auch das Kontrollratsgesetz Nr. 10 von 1945 beschränkte die deutsche Justiz auch in ihrer Zuständigkeit bei der Verfolgung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Gleichwohl konnten die Alliierten aber deutsche Gerichte ermächtigen, wenn die Straftaten an Deutschen oder Staatenlosen verübt worden waren. Erst durch das Kontrollratsgesetz Nr. 13 aus dem Jahr 1950 war die deutsche Gerichtsbarkeit bei Kriegsverbrechen im Allgemeinen wieder hergestellt. In der Zwischenzeit hatte sich aber aufgrund einer viel zu geringen Aufarbeitung der Verbrechen der Wehrmacht durch die alliierte Gerichtsbarkeit in der Öffentlichkeit auch aufgrund des medialen Umgangs- ein Bild des anständigen deutschen Soldaten sowie das Bild der sauberen Wehrmacht etabliert. Für den Biedermeier galt und gilt eben: „Es kann nicht sein, was nicht sein darf.“ TEILWEISER SICHTWECHSEL DURCH DIE WEHRMACHTSAUSSTELLUNGEN: Erst durch die beiden Wehrmachtsausstellungen des Hamburger Instituts für Sozialforschung, die von 1995 – 1999 sowie von 2001 bis 2004 zu sehen waren änderte sich ein wenig das Bild der Öffentlichkeit über die angeblich so saubere Wehrmacht. Es war im Übrigen mehr als traurig, dass das Bundesverteidigungsministerium den Angehörigen der Bundeswehr den Besuch in der ersten Ausstellung 1995-1999 nur als Privatperson erlaubte. Auch Bayerns damaliger Kulturminister Hans Zehetmayer empfahl die Ausstellung nicht zu besuchen und Florian Sturmfall schrieb unter dem Titel „Wie Deutsche diffamiert werden“ in einem am 22.02.1997 gedruckten Artikel im Bayernkurier: „Die Ausstellung verallgemeinert tatsächliche Verbrechen durch Einheiten und Soldaten der Wehrmacht zum Pauschalvorwurf gegen alle ehemaligen Soldaten. […] Es geht also den Veranstaltern darum, Millionen von Deutschen die Ehre abzusprechen.“ EINE SONSTIGE UNGLAUBLICHKEIT IN SACHEN WEHRMACHT: Wie die Einstellung vieler Wehrmachtsoffiziere in den Nachkriegsjahren wirklich war, lässt sich aus einem Bericht der Wochenzeitung DIE ZEIT vom 11.05.2014 ersehen, wobei sich DIE ZEIT auf nunmehr zugängliche BND Akten bezieht: Hiernach planten 2.000 Wehrmachtsoffiziere nach einem BND-Bericht, ab 1949 eine 40.000 Mann starke Truppe aufzubauen. Dabei habe die Aktion erst einmal hinter dem Rücken der Bundesregierung stattgefunden, wobei der Hauptorganisator der späterer Bundeswehr-Heeresinspekteur Albert Schnez gewesen sein soll. Es wären laut den Berichten von DER SPIEGEL und DIE ZEIT Spenden bei Unternehmen eingeworben worden, man habe mit Speditionen besprochen, welche Transportmittel diese zur Verfügung stellen könnten und es war auch bereits klar, dass die Waffen im Ernstfall aus den Beständen der Bereitschaftspolizei kommen sollten. Wie die SÜDDEUTSCHE ZEITING im Jahr 2014 berichte, habe diese Geheimorganisation sogar einen eigenen Abwehrapparat betrieben und linksorientierte Politiker wie den späteren SPD Fraktionsvorsitzenden Fritz Erler bespitzelt. Laut des vorstehenden Artikels in der Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 29 von 78 ZEIT (www.zeit.de/politik/deutschland/2014-05/bnd-akten-geheimarme) sind viele Angehörige dieser Geheimtruppe dann 1955 zur gegründeten Bundeswehr gewechselt, darunter: Hand Peiler, ab 1957 NATO Oberbefehlshaber Albert Schnez, späterer Heeresinspekteur der Bundeswehr Adolf Heusinger, erster Generalinspekteur der Bundeswehr Soviel zur Rechtschaffenheit der ehemaligen Wehrmachtsoffiziere. Literatur Felix Römer: Der Kommissarbefehl. Wehrmacht und NS-Verbrechen an der Ostfront 1941/42. Ferdinand Schöningh, Paderborn u. a. 2008, ISBN 978-3-506-76595-6 Christian Streit: Die Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen, in: Gerd Überschär, Wolfram Wette: Unternehmen Barbarossa, 1991, ISBN 3-596-24437-4 Christian Streit: Keine Kameraden. Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen 1941–1945, 1991, ISBN 3-8012-5016-4. Christian Kretschmer: ‚Gelungene Flucht – Stufe III‘ – Hintergründe, Entstehung und Opfer der ‚Aktion Kugel‘. In: Christoph Dieckmann, Babette Quinkert (Hrsg.): Kriegführung und Hunger 1939–1945. Zum Verhältnis von militärischen, wirtschaftlichen und politischen Interessen. (Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus 30) Göttingen 2015, ISBN 978-3-8353-14924. Hans-Erich Volkmann: Zur Verantwortlichkeit der Wehrmacht In: Die Wehrmacht. Mythos und Realität, Hrsg. Rolf-Dieter Müller, Hans-Erich Volkmann, München 1999, ISBN 3-486-56383-1 Madelon de Keizer: Razzia in Putten. Verbrechen der Wehrmacht in einem niederländischen Dorf. Aus dem Niederländischen übersetzt und bearbeitet von Stefan Häring. Dittrich Verlag, Köln 2001, ISBN 3-920862-35-X Gerhard Schreiber: Die italienischen Militärinternierten im deutschen Machtbereich 1943– 1945. (Militärgeschichtliches Forschungsamt Freiburg i. B.), Oldenbourg-Verlag, München Wien 1990, ISBN 3-486-55391-7 Peter Lieb: Täter aus Überzeugung. Das Tagebuch eines Regimentskommandeurs: Ein neuer Zugang zu einer berüchtigten Wehrmachtsdivision. Oberst Carl von Andrian und die Judenmorde der 707. Infranteriedivision 1941/42. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 50 (2002), Heft 4, S. 523-557, hier S. 523 f.; Christian Gerlach: Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrussland 1941 bis 1944, Hamburger Edition, Hamburg 1999, ISBN 3-930908-54-9 Hannes Heer: „Killing Fields. Die Wehrmacht und der Holocaust.“ In: Ders., Klaus Naumann (Hrsg.): Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944. Hamburger Edition, Hamburg 1995, ISBN 3-930908-04-2. Marlen von Xylander: Die deutsche Besatzungsherrschaft auf Kreta 1941–1945. Einzelschriften zur Militärgeschichte, Bd. 32, Freiburg 1989, ISBN 3-7930-0192-X Walther Hubatsch (Hrsg.): Hitlers Weisungen für die Kriegführung 1939–1945. Dokumente des Oberkommandos der Wehrmacht. 2. Auflage. Bernard & Graefe Verlag, Koblenz 1983, ISBN 37637-5247-1. Hamburger Institut für Sozialforschung (Hrsg.): Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941–1944. 2., erweiterte Auflage 2002. Hamburger Edition, ISBN 3930908-74-3. Rolf-Dieter Müller, Hans-Erich Volkmann (Hrsg. im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes): Die Wehrmacht. Mythos und Realität. Oldenbourg, München 1999, ISBN 3486-56383-1. Walter Manoschek: Die Wehrmacht im Rassenkrieg. Der Vernichtungskrieg hinter der Front. Picus Verlag, Wien 1996, ISBN 3-85452-295-9. Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 30 von 78 Karl Glaubauf, Stefanie Lahousen: Generalmajor Erwin Lahousen, Edler von Vivremont. Ein Linzer Abwehroffizier im militärischen Widerstand.LIT Verlag, Berlin, Hamburg, Münster, 2005, ISBN 9783825872595 Hamburger Institut für Sozialforschung (Hrsg.): Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941–1944. Ausstellungskatalog, Gesamtredaktion: Ulrike Jureit, Redaktion: Christoph Bitterberg, Jutta Mühlenberg, Birgit Otte. Hamburger Edition, Hamburg 2002 ISBN 3-930908-74-3 INTERNETQUELLEN: http://www.ns-archiv.de/krieg/untermenschen/reichenau-befehl.php http://www.1000dokumente.de/index.html?c=dokument_de&dokument=0093_kgs&l=de http://www.icrc.org/ihl.nsf/FULL/305?OpenDocument http://de.mauthausenmemorial.at/?aufl=1&cbereich=5&cthema=193&carticle=49&fromlist= http://www.sueddeutsche.de/politik/massaker-an-offizieren-ex-wehrmachtssoldat-wegenkriegsverbrechen-verurteilt-1.1798168 http://library.fes.de/pdf-files/historiker/03431.pdf http://www.verbrechen-der-wehrmacht.de/ http://www.zeit.de/politik/deutschland/2014-05/bnd-akten-geheimarme Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 31 von 78 Die IG Farben-Industrie und ihre Rolle im III. Reich: Einer der wohl spektakulärsten der zwölf Nachkriegsprozesse gegen Verantwortliche im Rahmen der sogenannten Nürnberger Prozesse war sicherlich der Prozess „Vereinigte Staaten ./. Carl Krauch u.a.“, der später unter dem Namen „I.G. Farben-Prozess“ von besonderer Bedeutung für die Aufarbeitung der Beziehungen von Spitzenfunktionären der deutschen Wirtschaft zum NS-Regime werden sollte. Hierbei darf nicht vergessen werden, dass „IG Farben“ zu den unternehmerischen Zeiten während des Dritten Reiches mit 200 Werken in Deutschland sowie 400 deutschen und 500 ausländischen Unternehmensbeteiligungen das größte europäische Unternehmen und nach General Motors, US Steel sowie Standard Oil das viertgrößte Unternehmen der Welt war. Beginnen wir unsere Aufarbeitung mit dem 3. Mai 1947, dem Verkünden der Anklageschrift in o.g. Verfahren, in der den angeklagten 23 leitenden Angestellten folgendes zur Last gelegt wurde: 1. Verbrechen gegen den Frieden durch Planung, Vorbereitung, Einleitung und Führung von Angriffskriegen und Invasionen anderer Länder 2. Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch Plünderung und Raub öffentlichen und privaten Eigentums in kriegerisch besetzten Ländern 3. Versklavung der Zivilbevölkerung in von Deutschland besetzten oder kontrollierten Gebieten, Einziehung dieser Zivilisten zur Zwangsarbeit, Teilnahme an der Versklavung von Konzentrationslagerinsassen innerhalb Deutschlands, an der völkerrechtswidrigen Verwendung von Kriegsgefangenen bei Kriegshandlungen, Misshandlung, Einschüchterung, Folterung und Ermordung versklavter Menschen 4. Mitgliedschaft in der SS, die als verbrecherische Organisation eingestuft worden war 5. Verschwörung zur Begehung von Verbrechen gegen den Frieden Entstehung, Wachstum und internationale Verflechtung der I.G. Farben, die Milde der Strafe gegen einige Angeklagte sowie das rund 60 Jahre andauernde Liquidationsverfahren führen noch heute zu vielen offenen Fragen. Wie entstand I.G. Farben? Am 21. November 1925, d.h. erst sechs Jahre und zwei Monate vor der Machtergreifung Hitlers schlossen die nachfolgenden Firmen: Actien-Gesellschaft für Anilin-Fabrikation, Firmensitz Berlin Badische Anilin- und Sodafabrik AG, Firmensitz Ludwigshafen Ammoniakwerk Merseburg GmbH - Leuna Werke, Firmensitz Merseburg Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co., Firmensitz Leverkusen Chemische Fabrik Griesheim-Elektron, Firmensitz Griesheim Chemische Fabrik Kalle & Co. AG, Firmensitz Biebrich Chemische Fabriken Weiler-ter Meer, Firmensitz Uerdingen Farbwerke Leopold Cassella & Co., Firmensitz Fechenheim Farbwerke vorm. Meister Lucius und Brüning AG, Firmensitz Höchst einen Vertrag zur konkurrenzlosen Zusammenarbeit in einer Interessengemeinschaft. Die vorstehend genannten Firmen übertrugen ihre Aktiva in Gänze an die BASF AG und erhielten hierfür wertgleiche Aktienanteile an der BASF AG, welche wiederum ihren Namen änderte in I.G. Farbenindustrie AG. Sitz der I.G. Farben wurde Frankfurt, das Gründungsstammkapital betrug 1,1 Milliarden Reichsmark. Die Stammbelegschaft betrug zur Unternehmensgründung 94.000, wobei diese sich aber zügig auf 189.000 erhöhen sollte. Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 32 von 78 Weltweit führend war I.G. Farben zu Zeiten der Unternehmensgründung dabei in den folgenden Bereichen: Luftstickstoffindustrie Erzeugung von Basischemikalien Herstellung von Treibstoffen durch Kohlehydrierung Herstellung von Farbstoffen, Arzneimitteln, Sprengstoffen und Fasern Bis zur Kriegserklärung des Deutschen Reiches an die Vereinigten Staaten von Amerika am 11. Dezember 1941 gab es sehr enge Beziehungen zwischen der IG Farben und amerikanischen Banken und Chemiekonzernen und die 1929 geschlossenen Geschäftsbeziehungen und Kartellabsprachen zwischen I.G. Farben und der US-amerikanischen Standard Oil of New Jersey von Rockefeller sollten auch in denen Zeiten des Zweiten Weltkrieges in erheblichem Umfang Geltung behalten, in denen das Deutsche Reich offiziell mit den Vereinigten Staaten von Amerika im Krieg war. Zweck der Unternehmensgründung war die Gewinnmaximierung durch Monopolstellung. Welch verheerende Wirkungen Monopole für Volkswirtschaften haben, war aus den Erfahrungen der USA mit derartigen Kartellen bereits seit Anfang des 20. Jahrhunderts bekannt, so dass es bereits mehr als seltsam anmutet, dass man in der Weimarer Republik weder aus politischer noch aus juristischer Sicht etwas gegen die Gründung dieses Monopolisten unternahm. Gab es vor der Machtergreifung Hitlers Kontakte von I.G. Farben zu Hitler? Fakt ist erst einmal, dass bis zur Machtergreifung Hitlers niemand aus der Führungsriege der I.G. Farben Mitglied der NSDAP war. Gleichwohl gab es jedoch gewichtige Kontakte. Durch das so genannte Bergius Verfahren war der I.G. Farben die Herstellung synthetischen Benzins durch Kohlehydrierung gelungen, gleichwohl war es der I.G. Farben bewusst, dass nur durch erhebliche Subventionierung synthetisches Benzin auf den Markt eingeführt werden konnte. Die beiden leitenden Angestellten der I.G. Farben, Heinrich Bütefisch und Heinrich Gattineau, nahmen aus diesem Grunde im Sommer 1932 im Auftrag von Carl Bosch, dem damaligen I.G.-Farben-Vorstandsvorsitzenden, Kontakt zu Adolf Hitler auf, um herauszufinden, welche wirtschaftspolitische Haltung dieser im Falle einer Machtübernahme hier einnehmen würde. Aus kriegstaktischer Sicht erklärte Hitler sein unbedingtes Ja zur Subventionierung des kriegswichtigen synthetischen Benzins, so dass der Vorstandsvorsitzende der I.G. Farben Hitler bei den Spitzenfunktionären der deutschen Wirtschaft hoffähig machte: „Der Mann ist ja vernünftiger als ich dachte.“ Inwieweit es Absprachen zwischen der NSDAP und der I.G. Farben in Sachen Agrarkartellierung gab, ist bis heute nicht eindeutig belegt. Bekannt ist nur, dass Hitler sehr stark an einem Interessenskompromiss zwischen Industrie und Großagrariern gelegen war. Nahezu unmittelbar nach der Unterstützungszusage Hitlers in Sachen synthetischen Benzins zu Gunsten der I.G. Farben, befürwortete die I.G. Farben den Interessenkompromiss zwischen Industrie und Großagrariern dahingehend, dass Anfang Dezember 1932 die I.G.-Farben-Generalversammlung dem Programm der Agrarkartellierung zu. Es liegt der Verdacht nahe, dass es hier Absprachen gab. Beweisen lässt sich dies jedoch nicht. Auch eine Spende von 400.000 Reichsmark von der I.G. Farben an die NSDAP nach dem Interessenkompromiss in Sachen synthetisches Benzin deutet darauf hin, dass es nicht gerade nur lockere Beziehungen gab, zumal es zu einem Treffen von IG Farben und Hitlers NSDAP-Führungsriege am 4. Januar 1933 beim Bankier von Schröder in Köln kam. Ein ebenfalls sehr eindrucksvolles Indiz liegt darin, dass genau 21 Tage nach der Machtergreifung Hitlers an einem erst nach Kriegsende bekannt gewordenen geheimen Treffen von Industriellen am 20. Februar 1933 der NSDAP von der deutschen Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 33 von 78 Industrie drei Millionen Reichsmark zur Verfügung gestellt wurden, wovon 400.000 Reichsmark von der I.G. Farben stammten. Ist es ein Zufall, dass die deutsche Regierung ausgerechnet an diesem 20. Februar 1933 einen Vertrag mit I.G. Farben schloss, welcher Absatz und Mindestpreisgarantie für 350.000 Tonnen synthetisches Benzin fixierte? Hierdurch wurde die I.G. Farben vor einem Verlust 300 Millionen Reichsmark bewahrt. Gab es politische Kontakte der I.G. Farben zur NSDAP? Zumindest in Bezug auf die Personalie des I.G.-Farben-Aufsichtsratsvorsitzenden Carl Krauch gab es eine offensichtliche Verknüpfung zwischen I.G. Farben und NSDAP. Ab 1935 leitete er zusätzlich die Vermittlungsstelle Wehrmacht der I.G. Farben. Von 1936 bis 1938 hatte er die politische Funktion des Leiters der Abteilung Forschung und Entwicklung des Amtes für Deutsche Roh- und Werkstoffe inne. 1937 wurde er Mitglied der NSDAP. 1938 wurde er zum Wehrwirtschaftsführer und Generalbevollmächtigter für Sonderfragen der chemischen Erzeugung und arbeitete in seiner Funktion als Wehrwirtschaftsführer den "Schnellplan" aus, mit dem Deutschland für den September 1939 kriegsbereit gemacht wurde. Ab 1939 war Carl Krauch, der von Hitler persönlich im Jahr 1939 das „Eiserne Kreuz“ wegen seiner Siege auf dem „Schlachtfeld der deutschen Industrie“ erhielt, auch Präsident des Reichsamtes für Wirtschaftsaufbau. Kommen wir kurz noch auf den" Schnellplan" zu sprechen. Dieser [teilweise auch Crauch-Plan genannt] war Beweisstück mit der Nummer NI-8797 im so genannten „I.G.-Farben-Prozess“. Gegenstand des Planes war, dass neben Mineralöl, synthetischem Kautschuk, Aluminium und Magnesium auch die Produktion von Sprengstoff, Pulver und Kampfstoffen wie folgt gesteigert werden sollte: Pulver: Sprengstoff: Kampfstoffe: 13.250 Monatstonnen 13.600 Monatstonnen 2.900 Monatstonnen Am 5. Juni 1943 wurde Carl Krauch auch noch das Ritterkreuz des Kriegsverdienstkreuzes überreicht. Es mag aus diesem Grunde nicht so ganz nachvollziehbar sein, wieso das I.G.-Farben-Gericht im Anklagepunkt 1 „Verbrechen gegen den Frieden durch Planung, Vorbereitung, Einleitung und Führung von Angriffskriegen und Invasionen anderer Länder“ weder Carl Krauch noch einen anderen der 22 Angeklagten schuldig sprach und als Begründung hierfür angab, dass eine Teilnahme an der Wiederaufrüstung nicht strafbar gewesen sei. Nicht berücksichtigt wurde auch das Engagement der I.G. Farben im Spanischen Bürgerkrieg (Juli 1936 – April 1939): Zumindest in zweifacher Form unterstützte I.G. Farben die Putschisten unter dem späteren Diktator Franco. Zum einen spendete I.G. Farben mehrere Beträge in Höhe von 100.000 Peseten an die Legion Vidal. Die Legion Vidal war die Sanitätstruppe der Legion Condor. Legion Condor wiederum war eine verdeckt operierende Einheit der deutschen Wehrmacht im Spanischen Bürgerkrieg, die in allen bedeutenden Schlachten zu Gunsten von Franco eingriff. Traurige Berühmtheit erlangte die Legion Condor dadurch, dass sie 1937 nicht nur völkerrechtswidrig die Stadt Guernica bombardierte und zerstörte, sondern dort auch mit besonderer Menschenverachtung vorging. Das Bild „Guernica“ von Pablo Picasso wird uns stets hieran erinnern. Des Weiteren nutzte die Legion Condor die von der I.G. Farben produzierte Elektron-Thermit-Stabbrandbombe B1E. Diese Stabbrandbombe entwickelte beim Einschlag eine Hitze von bis zu 2.400 Grad und entfachte eine Feuerbrunst, welcher mit Löschwasser nicht beizukommen war. Es ist kaum zu glauben, dass die I.G. Farben ihr diesbezügliches Engagement im Spanischen Bürgerkrieg ohne Rückendeckung des NS-Regimes betrieb. Das in Berlin befindliche Archiv der Legion Condor Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 34 von 78 überlebte im Übrigen nicht den Zweiten Weltkrieg, gleichwohl konnte über das in Rom weitestgehend unversehrte Archiv der Aviazione Legionaria, der Schwesterorganisation der Legion Condor, der vorstehende Sachverhalt später aufgeklärt werden. Zum Zeitpunkt des I.G.-Farben-Prozesses lagen diese Informationen jedoch genau so wenig vor wie die für die historische Aufarbeitung des Spanischen Bürgerkriegs eigentlich unvorstellbare Tatsache, dass Royal Dutch Shell, Texas Oil Company sowie die Standard Oil Company die Putschisten unterstützten. I.G. Farben und Auschwitz Eine Tochtergesellschaft der Degussa AG sowie der IG Farben, die DEGESCH (=Deutsche Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung) produzierte und vertrieb das originär für die Landwirtschaft konzipierte Schädlingsbekämpfungsmittel Zyklon B. Interessanter Weise wurde im I.G.-Farben-Prozess von der Anklage nachgewiesen, dass I.G. Farben an die SS große Mengen von Zyklon B lieferte. Bis heute nicht nachzuvollziehen ist dann aber der überraschende Schluss des Gerichtes im I.G.-Farben-Prozess, dass I.G. Farben „keinerlei Kenntnis über die bestimmungswidrige Verwendung des Zyklon B durch die SS in den Gaskammern von Auschwitz hatte“. Das Gericht selbst hatte herausgearbeitet, dass es zumindest teilweise sehr gute Beziehungen von Leistungsfunktionen der I.G. Farben zur NSDAP gab, so dass diese Leitungsebenen doch gewusst haben müssten, wer die SS war und dass die SS nicht in der Landwirtschaft tätig war. Hinzu kommt aber noch ein weiterer bemerkenswerter Umstand: 1941 errichte I.G. Farben eine große Bunafabrik in Auschwitz, da die deutsche Wehrmacht zur Kriegsführung einen sehr hohen Bedarf an synthetischem Kautschuk sowie synthetischem Benzin hatte. Im März 1941 einigten sich SS und I.G. Farben dergestalt auf einen Kompromiss, dass die I.G. Farben Baumaterialien aus ihrem Kontingent an Zement, Eisen und Holz zum Ausbau des „Stammlagers Auschwitz“ zur Verfügung stellte und die SS im Gegenzug Arbeitskräfte durch die Häftlinge des KZ Auschwitz erhielt, wobei für 1941 1.000 und ab 1942 3.000 Häftlinge von der SS zugesagt wurden. Die Häftlinge mussten im Sommer zehn sowie im Winter neun Stunden arbeiten. Hierfür zahlte die I.G. Farben dann für jeden Facharbeiter täglich vier Reichsmark an die SS sowie für Hilfsarbeiter täglich drei Reichsmark an die SS. Geschwächte oder kranke Häftlinge, die nach Ansicht der Lagerärzte der SS nicht (mehr) arbeitsfähig waren, wurden durch andere Häftlinge ersetzt. Aufgrund der unmittelbaren Nähe zum Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau müsste eigentlich auch den Vertretern der I.G. Farben in Auschwitz klar gewesen sein, dass die zurückgesandten Häftlinge im Konzentrationslager mit sehr großer Wahrscheinlichkeit den Tod finden würden. Circa 20.000 bis 25.000 Menschen fanden beim Bau und Betrieb der I.G.-Farben-Fabrik in Auschwitz übrigens den Tod. Diese Fakten sprechen für sich. An dem, was in Auschwitz geschah, hat auch I.G. Farben eine nicht unwesentliche Verantwortung. Der I.G.-Farben-Prozess Von den 23 angeklagten leitenden Angestellten der IG Farben wurden folgende Personen verurteilt: 1. Carl Krauch, Aufsichtsratsvorstizender: sechs Jahre Haft wegen Versklavung, 1950 entlassen, 1955 Aufsichtsratsmitglied der Hüls GmbH 2. Otto Ambros, Vorstandsmitglied, Planung I.G. Auschwitz: acht Jahre Haft, 1952 entlassen, ab 1954 diverse Vorstandsfunktionen in der PharmaIndustrie, aber auch Berater für Flick 3. Ernst Bürgin, Vorstandsmitglied: zwei Jahre Haft Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 35 von 78 4. Heinrich Bütefisch, Vorstandsmitglied, Benzin-Synthese I.G. Auschwitz: sechs Jahre Haft wegen Versklavung, 1951 entlassen, 1952 Aufsichtsrat bei RuhrChemie AG 5. Walter Dürrfeld, Stellvertreter des IG-Farben-Vorstandsmitglieds Otto Ambros: acht Jahre Haft, 1950 entlassen, später Vorstand der Scholven Chemie AG in GelsenkirchenBuer, wurde Aufsichtsratsvorsitzender der Borkenberge Gesellschaft in Recklinghausen, Mitglied des Aufsichtsrats der Phenolchemie GmbH in Gladbeck, der Friesecke & Hoepfner GmbH in Erlangen und des Beirats der Ruhrstickstoff AG. 6. Paul Häfliger, Vorstandsmitglied: zwei Jahre, 1950 verstorben 7. Max Ilgner, Vorstandsmitglied: drei Jahre, 1948 vorzeitig entlassen, übernahm im Auftrag der Evangelischen Kirche 1948 Planung und Oberaufsicht der Flüchtlingsstadt Espelkamp, ab 1955 Vorsitz einer schweizerisch/niederländischen Chemiefirmengruppe 8. Friedrich Jähne, Vorstandsmitglied: ein Jahr und sechs Monate wegen Plünderung, 1955 Aufsichtsratsmitglied der neuen Farbwerke Hoechst AG 9. Hans Kugler, Direktor der „Verkaufsgemeinschaft Farbstoffe sowie später Mitglied des Südost- sowie des kaufmännischen Ausschusses: ein Jahr und sechs Monate, später: Vorstand der Casella Farbwerke Mainkur AG, Vorstand der Riedel-de-Haen AG sowie Mitglied im Hauptausschuss des Verbandes der Chemischen Industrie e.V. 10. Fritz ter Meer, Vorstandsmitglied, Verwalter I.G. Auschwitz: sieben Jahre wegen „Plünderung“ und „Versklavung“, 1952 entlassen, später: 1955 Aufsichtsratsmitglied der BAYER AG 11. Heinrich Oster, Vorstandsmitglied: zwei Jahre, 1949 vorzeitig entlassen, seit 1949 Mitglied im Aufsichtsrat der Gelsenberg AG 12. Hermann Schmitz, Aussichtsratsmitglied sowie Finanzchef: vier Jahre wegen „Plünderung“, 1950 entlassen, 1952 Aufsichtsratsmitglied der deutschen Bank Berlin West, 1956 Ehrenvorsitzender des Aufsichtsrats der Rheinischen Stahlwerke 13. Georg von Schnitzler, Vorstandsmitglied: fünf Jahre, 1949 entlassen, später: Präsident der Deutsch-Ibero-Amerikanischen Gesellschaft Sämtliche zu Haftstrafen verurteilten Angeklagten wurden vorzeitig aus der Haft entlassen. Die letzten in Haft sitzenden Personen wurden 1951 freigelassen. Von folgenden Anklagepunkten wurden im Übrigen alle Angeklagten freigesprochen: Verbrechen gegen den Frieden durch Planung, Vorbereitung, Einleitung und Führung von Angriffskriegen und Invasionen anderer Länder Mitgliedschaft in der SS, die als verbrecherische Organisation eingestuft worden war Verschwörung zur Begehung von Verbrechen gegen den Frieden Folgende leitenden Angestellten der I.G. Farben wurden freigesprochen: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. Fritz Gajewski, Vorstandsmitglied Heinrich Gattineau, Leiter der Pressestelle IG Farben Erich von der Heyde, leitender Angestellter Heinrich Hörlein, Vorstandsmitglied August von Knierim, Vorstandsmitglied Hans Kühne, Vorstandsmitglied Carl-Ludwig Lautenschläger, Vorstandsmitglied Wilhelm Rudolf Mann, Vorstandsmitglied Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 36 von 78 9. Carl Wurster, Vorstandsmitglied 10. Christian Schneider, Vorstandsmitglied Ein ebenfalls sehr interessantes Faktum ist der Umstand, dass nicht alle Mitglieder im Vorstand beziehungsweise im Aufsichtsrat der I.G. Farben angeklagt wurden. Im inneren Zirkel nannten sich die Aufsichtsratsmitglieder der I.G. Farben im Übrigen auch „Rat der Götter“. Die Höhe der Strafe im I.G.-Farben-Prozess kommentierte im Jahre 1948 Alexander Menne, damaliger Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Chemie wie folgt: „Die größere Zahl der Verurteilten, die sich heute als Sträflinge im Gerichtsgefängnis in Landsberg befinden, ist am Ende eines erfolgreichen, von Fleiß und Gewissenhaftigkeit, Lebensernst und unbestrittener Moral geführten Lebens in die Gefängniszelle gewandert [...] Wir stehen nur bestürzt vor der Höhe einer Strafe, die wir nicht fassen und nicht fassen können; mit einem Wort: Wir empfinden sie als ungerecht und unser Mitleid gilt denen, die –aus unseren Reihen stammend– zur Zeit in Landsberg schon die Sträflingskleidung tragen.“ Unmittelbare Nachkriegszeit und Entflechtung Die Ermittler der Finance Division der US-Militärregierung bezifferten das Inlandsvermögen der I.G. Farben auf sechs Milliarden Reichsmark, das Auslandsvermögen auf einer Milliarde Reichsmark. 87% des Maschinenparks, den die I.G. Farben 1943 betrieben hatte, war bei Kriegsende uneingeschränkt nutzbar. Erst am 5. Juli 1945, das heißt knapp zwei Monate nach Kriegsende, verfügte die USMilitärregierung die Beschlagnahme des gesamten I.G.-Farben-Vermögens, die Absetzung und Entlassung der Konzernleitung sowie die Suspendierung der Aktionäre. Und sogar erst Ende November 1945 bestätigte der von den vier Siegermächten gebildete Alliierte Kontrollrat die Maßnahmen der USMilitäradministration. Interessanterweise hatte die britische Besatzungsmacht die Werksdirektoren der I.G. Farben in ihren Ämtern belassen und die offizielle Beschlagnahme der Anlagen der I.G. Farben erfolgte erst im November 1945. In der französischen Besatzungszone wurde anders verfahren. Hier wurden die Leitungsfunktionen in jeder Fabrik mit französischen Experten besetzt. Und obgleich das BASF-Werk in Ludwigshafen vergleichsweise sehr beschädigt war, gelang es den Franzosen, dass die chemische Produktion in ihrer Zone bereits 1948 wieder 91 Prozent des Vorkriegsstandes erreichte. 1951 präsentierte die seit 1949 unter Konrad Adenauer regierende Bundesregierung den Westalliierten eine Beratergruppe in Sachen der von den Westalliierten gewünschten I.G.-FarbenEntflechtung, die von den folgenden Personen dominiert war: 1. Hermann Josef Abs, Vorstandsmitglied der Deutschen Bank 2. Helmut Wohltat, vormals Ministerialdirektor in der Vierjahresplanbehörde der Nazi-Größe Göring 3. Hermann Gross, vormals Leiter der Wiener Außenstelle der Volkswirtschaftlichen Abteilung der I.G. Farben Abs war in der NS-Zeit Aufsichtsratsmitglied bei I.G. Farben. Wohltat war Initiator des nach ihm benannten deutsch-rumänischen Wirtschaftsvertrags vom 23.03.1939, welcher die rumänische Volkswirtschaft auf die Bedürfnisse der deutschen Rüstungsindustrie ausrichtete. Auch der damalige Bundeswirtschaftsminister Erhard besetzte die für die Entflechtung der der I.G. Farben zuständige Abteilung seines Ministeriums in den Schlüsselstellen mit zwei ehemaligen Experten der I.G. Farben. Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 37 von 78 Die Lobbyarbeit all dieser Herren war so erfolgreich, dass statt der Zerschlagung des I.G. Farben – Konzerns in 50 „Independent Units“ (Vorschlag des von den USA und Großbritannien geschaffenen Bipartite IG Farben Control Office BIFCO aus dem Jahr 1950) die Alliierte Hohe Kommission am 23. Mai 1952 die Gründung von formal selbständigen IG Farben – Nachfolgeunternehmen vorsah: Agfa AG BASF AG Cassella Farbwerke AG Chemische Werke Hüls AG Bayer AG Hoechst AG Duisburger Kupferhütte AG Kalle AG Wacker Chemie AG Dynamit AG Wasag Chemie AG Insgesamt wurde auf die I.G.-Farben-Nachfolgeunternehmen ein Reinvermögen von 1,64 Milliarden DM übertragen. Am 1. Oktober 1953 erhielten dann die I.G.-Farben-Aktionäre für jede I.G.-FarbenAktie im Wert von 1.000 Reichsmark Aktien der Nachfolgeunternehmen im Wert von 915 DM. Hinzu kam hier noch ein Liquidationsanteilschein, welcher in Reichsmark ausgegeben wurde. Offiziell beendet wurde dann die Entflechtung der I.G. Farben durch das am 21. Januar 1955 von der Alliierten Hohen Kommission im Einvernehmen mit der Bundesregierung erlassene „I.G. Liquidationsschlussgesetz“. I.G. Farben in Liquidation Mit dem „Liquidationsschlussgesetz“ von 1955 entstand die formellen Rechtsnachfolgerin, die „I.G. Farbenindustrie AG in Liquidation“. Erster Aufsichtsratsvorsitzender wurde der damalige I.G. Vorstand, August von Knieriem. Der I.G. Farbenindustrie AG in Liquidation waren zwei Funktionen zugedacht: 1. Sicherung der Ansprüche auf die im Ausland befindlichen Vermögenswerte 2. Befriedigung der Gläubiger des Konzerns Strittig war zu dieser Zeit – und dies schon seitdem der ehemalige Zwangsarbeiter Norbert Wollheimer 1951 von der I.G. Farben sowie später von der I.G. Farben i.L. auf Nachzahlung des ihm vorenthaltenen Lohnes und Schmerzensgeld geklagt hatte – ob ehemalige Zwangsarbeiter Ansprüche gegen diejenigen hätten, bei denen sie Arbeit verrichten mussten. Die I.G. Farben i.L. verneinte dies stets und verwies auf die staatlichen Wiedergutmachungsbehörden. Weiterhin wurde ausgeführt, dass die Bundesrepublik Deutschland schon durch das Israel-Abkommen die Notwendigkeit der Opfer des Dritten Reiches durch den Staat anerkannt habe. 1958 zahlte dann die I.G. Farben i.L. einmalig 27 Millionen Mark an die Conference on Jewish Material Claims against Germany zur Entschädigung der jüdischen Zwangsarbeiter der I.G. Auschwitz, wobei die Zahlung nur unter der Bedingung erfolgte, dass keine weiteren Forderungen mehr gestellt werden würden. Die Ansprüche anderer Zwangsarbeiter gegenüber der I.G. Farben hatten sich zwischenzeitlich dadurch erübrigt, dass der Bundesgerichtshof entschieden hatte, dass die Forderungen von derartigen Zwangsarbeitern aufgrund des Londoner Schuldenabkommens von 1953 bis zum Abschluss eines Friedensvertrages zwischen Deutschland und den Alliierten des Zweiten Weltkrieges suspendiert sei. Bis zum In-Kraft-Treten des „Zwei-plus-Vertrages“ am 15. März 1991 hatte Deutschland aber keinen offiziellen Friedensvertrag mit den Alliierten des Zweiten Weltkrieges. Im Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 38 von 78 Übrigen ist dies auch der Grund dafür, dass es bis zum März 1991 keinerlei weitere Schadensersatzforderungen gab. Mitte der 1990er Jahre wurde dann nahezu das gesamte Kapital der I.G. Farben in Liquidation an die Aktionäre und somit vor allem an den Mehrheitseigner, die Firma WCM ausgeschüttet. Es handelt sich hierbei um einen Betrag von 130 Millionen DM. Für die verbliebenen 30 Millionen DM kaufte die I.G. Farben i.L. Immobilien. Im April 2001 einigten sich I.G. Farben i.L. und oben erwähnte Firma WCM darauf, dass WCM die Immobilien übernehmen solle und dafür bis Ende 2003 1,5 Millionen Euro zahlen solle. Plötzlich konnte WCM jedoch seinen Zahlungsverpflichtungen mit der Folge nicht mehr nachkommen, dass die I.G. Farben i.L. keine ausreichenden eigenen Mittel mehr hatte, um den laufenden Zahlungsverpflichtungen nachzukommen. Aus diesem Grunde musste dann im November 2003 der Gang zum Insolvenzverwalter gegangen werden und das Ende der I.G. Farben i.L. war besiegelt. Abschließend sollten noch zwei Fakten erwähnt werden: Am 18. August 1999 erklärten die beiden Liquidatoren der I.G. Farben i.L., Otto Bernhard und Volker Pollehn, dass sie eine Stiftung zur Entschädigung der I.G.-Opfer gründen wollten. Unter Verweis auf die eigene Entschädigungsinitiative lehnte die I.G. Farben im Jahr 2001 die Beteiligung an dem von Bundesregierung und deutscher Wirtschaft im Jahr 2000 geschaffenen Stiftungsfonds für NSZwangsarbeiterInnen ab. Das letztlich in die Stiftung eingebrachte Kapital betrug dann jedoch nur noch 500.000 DM, d.h. 255.000 Euro. Entschädigungsforderungen ehemaliger ZwangsarbeiterInnen von I.G. Farben haben: Bayer BASF Hoechst bis in die 1990er Jahre von sich gewiesen, da bei der Entflechtung der I.G. Farben laut Auffassung der Vorstandsvorsitzenden der Bayer AG, der BASF AG sowie der Hoechst AG „drei organisatorisch völlig neue und selbständige Unternehmen gebildet wurden, die keine Verantwortlichkeit für die Gräueltaten des Naziterrors an Zwangsarbeitern trügen.“ Gleichwohl traten diese drei Firmen dann jedoch doch noch der „Stiftungsinitiative der Deutschen Wirtschaft“ bei. Geld kommt nicht weg. Das haben nur andere – an diese Volksweisheit muss man unweigerlich denken, wenn man sich den Weg der Vermögenswerte in Sachen I.G. Farben anschaut. Und es stellt sich wirklich die Frage: Ist dies denn wirklich alles so geschehen oder ist dies nur ein schlechter Krimi? Nein, es ist so geschehen. Unglaublich. Möge sich so etwas nie mehr wiederholen. Literaturverzeichnis: Office of Military Government for Germany, United States (O.M.G.U.S). Ermittlungen gegen die I.G. Farbenindustrie AG. September 1945. Übersetzt und bearbeitet von der Dokumentationsstelle zur NS-Sozialpolitik Hamburg. Greno, Nördlingen 1986, ISBN 3-89190019-8 Jens Ulrich Heine: Verstand & Schicksal. Die Männer der I.G. Farbenindustrie A.G. (1925–1945) in 161 Kurzbiographien. Verlag Chemie, Weinheim u.a. 1990, ISBN 3-527-28144-4 Udo Walendy (Hrsg.): Auschwitz im IG-Farben-Prozess. Holocaust-Dokumente? Verlag für Volkstum u. Zeitgeschichtsforschung, Vlotho/Weser 1981, ISBN 3-922252-15-X. Annette Weinke: Die Nürnberger Prozesse (= Beck'sche Reihe 2404 C. H. Beck Wissen). Beck, München 2006, ISBN 3-406-53604-2 Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 39 von 78 Bundesfachtagung der Chemiefachschaften/Arbeitskreis I.G. Farben (Hrsg.): …von Anilin bis Zwangsarbeit. Der Weg eines Monopols durch die Geschichte. Zur Entstehung und Entwicklung der deutschen Chemischen Industrie. 2. Auflage (2007) Gottfried Plumpe: Die I.G. Farbenindustrie AG – Wirtschaft, Technik und Politik 1904–1945. Duncker & Humblot, Berlin 1990, ISBN 3-428-06892-0 Diarmuid Jeffreys, Weltkonzern und Kriegskartell. Der zerstörerische Werk der IG Farben, Karl Blessing Verlag, München 2011 Internetquellen: http://www.handelsblatt.com/politik/international/100-jahre-weltkrieg/wirtschaft-undfinanzen/geschichte-der-ig-farben-der-konzern-der-hitler-den-weltkrieg-ermoeglichte-seiteall/4428986-all.html http://www.zeit.de/2004/24/IGFarben_2f24/komplettansicht http://www.dw.de/norbert-wollheim-gegen-ig-farben/a-16373141 http://www.wollheim-memorial.de/de/nuernberger_prozess_gegen_ig_farben_194748 Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 40 von 78 SS-Mitglied Prof. Dr.-Ing. von Braun – leider mehr als ein Wissenschaftler In der Nachkriegszeit vergaßen viele Deutsche nicht nur ihr Wirken von 1933 – 1945, sondern sagten einfach die Unwahrheit hierüber. Leider haben jedoch auch Staat und Journalisten oftmals geschwiegen, wenn es um Menschen ging, die man in der Nachkriegszeit unbedingt zu benötigen schien. Einer von ihnen ist Wernher von Braun, der Mann, der die Menschheit zum Mond brachte. Er war aber auch das NSDAP- und SS-Mitglied, welches Hitler die Vergeltungswaffe V2 schenkte und sich zur Verwirklichung seiner Ziele ungeniert KZ-Häftlingen bediente. 20.000 Tote sind mit dieser Waffe verbunden. Von Brauns Leben bis zum 1.9.1934 Wernher von Braun (1912 – 1977), eigentlich Wernher Magnus Maximilian Freiherr von Braun, entstammte einem alten Geschlecht ostpreußischer Gutsbesitzer. Sein Vater war der Reichsernährungsminister Magnus Freiherr von Braun (1878 – 1972), ein Politiker der DVNLP. Er war in der Weimarer Republik Minister unter den Reichskanzlern von Schleicher und von Papen. Wernher von Brauns Bruder Sigmund (1911 – 1998) war zuerst ab 1936 in Hitlers Drittem Reich und später dann im Auswärtigen Amt der Bundesrepublik tätig. Am 1.9.1939 trat der Jurist Sigmund von Braun der NSDAP bei. 1943 tat er als Legationssekretär Dienst an der Botschaft am Heiligen Stuhl in Rom, wo er bis 1946 blieb. Im Rahmen des Entnazifizierungverfahrens wurde er trotz Parteimitgliedschaft als „entlastet“ eingestuft. 1956 trat er in die FDP ein. Von 1962 bis 1968 war er Ständiger Vertreter bei den Vereinten Nationen in New York, von 1968 bis 1970 und 1972 bis 1976 deutscher Botschafter in Frankreich und von 1970 bis 1972 Staatssekretär im Auswärtigen Amt unter Bundesaußenminister Walter Scheel. Im Auswärtigen Amt legte man anscheinend großen Wert auf Kontinuität; andere Aspekte schienen damals sekundär zu sein. Im April 1930 legte Wernher von Braun sein Abitur ab, 1932 erwarb er ein Diplom als Ingenieur an der Technischen Hochschule in Berlin und bereits 1934 promovierte er an der Friedrichs-WilhelmUniversität in Berlin zum Dr. phil. mit dem Thema „Konstruktive, theoretische und experimentelle Beiträge zu dem Problem der Flüssigkeitsrakete“. Bereits 1932 begann er seine Karriere als Zivilangestellter in dem Raketenprogramm der Heeresversuchsanstalt Kummersdorf, 30 km südlich von Berlin. Es handelte sich hierbei um ein gemäß Versailler Vertrag nicht zulässiges Projekt. Erstes Projekt Wernher von Brauns im Jahr 1933 war die Rakete „Aggregat 1“. Es handelte sich hierbei um eine Versuchsrakete mit einer Länge von 1,4 m, einem Startgewicht von 150 kg und einem Stabilisierungskreisel in der Spitze, welcher den Startschub aus Alkohol und Flüssigsauerstoff stabilisieren sollte. Da die A1 beim Startversuch explodierte und sich als Grund die falsche Lage des Drehkopfes herausstellte, entwickelte von Braun im Jahr 1934 die Rakete „Aggregat 2“, bei der sich der Drehkopf in der Mitte befand. Am 19.12.1934 und am 20.12.1934 konnte Wernher von Braun der Wehrmacht vermelden, dass die beiden als Max und Moritz bezeichneten Raketen eine Flughöhe von 2,3 km erreichten. Ein erfolgreicher Start ins Raketenprogramm war gelungen. Pakt mit den Nazis Ende 1935 / Anfang 1936 wurde ersichtlich, dass Kummersdorf ungeeignet war, um das Raketenprogramm zu verbergen. Es wurde eine mehrere Kilometer große Testzone benötigt, welche auch weitestgehend unentdeckt sein sollte. Man glaubte diese in Peenemünde auf der Ostseeinsel Usedom gefunden zu haben. Für die Raketenprojekte der Nazis wurde die Heeresversuchsanstalt Peenemünde (HVA) gegründet, deren technischer Direktor Wernher von Braun werden sollte. Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 41 von 78 Damit die Nazis sich ihres technischen Direktors sicher sein konnten, beantragte Wernher von Braun am 12. November 1937 seine Aufnahme in die NSDAP. Dort wurde er unter der Mitgliedsnummer 5.738.692 registriert. Diesen Sachverhalt konnte von Braun nicht leugnen. Was er jedoch bis zu seinem Tode beharrlich leugnete war die später bewiesene Tatsache, dass Wernher von Braun am 1. Mai 1940 als Mitglied der SS aufgenommen wurde. Er erhielt die Mitgliedsnummer 185.068. In der SS machte er soweit Karriere, dass er zum 28. Juni 1943 zum Sturmbannführer aufstieg. Auch wenn man die Mitgliedschaft von Brauns in der NSDAP damit zu entschuldigen sucht, dass er als Wissenschaftler eine Mitgliedschaft in der NSDAP der Einstellung seiner Forschung vorzog, so kann (und darf) es keinen Entschuldigungstatbestand geben, dass Wernher von Braun Mitglied der SS wurde. In Peenemünde leitete Wernher von Braun die Entwicklung des Aggregates 4, einer Großrakete mit Flüssigkeitstreibstoff. Hier begann die dunkle Seite des Lebens Wernher von Brauns. A4 – eher bekannt als Hitlers Vergeltungswaffe V2 Wernher von Braun entwickelte das Aggregat 4, welches von den Nazis als Vergeltungswaffe V2 bezeichnet wurde. Die A4-Rakete war 14 Meter hoch und hatte eine Masse von 13,5 Tonnen. Die einstufige Rakete bestand aus etwa 20.000 Einzelteilen. Der Rumpf bestand aus Spanten und Stringern, die mit dünnem Stahlblech beplankt waren. Die Technik bestand aus vier Baugruppen: Spitze mit Gefechtskopf und Aufschlagzünder Geräteteil mit Batterien und Kreiselsteuerung Mittelteil mit Tanks für Ethanol und Flüssigsauerstoff Heckteil mit Schubgerüst, Druckflaschen mit Stickstoff, Dampferzeuger, Turbopumpe, Brennkammer („Ofen“), Schubdüse, Strahlruder und Luftruder. Der etwa 738 kg schwere Sprengstoff einer Amatol-Mischung war in der Raketenspitze untergebracht. Da sich diese während des Flugs durch die Reibung aufheizte, konnten nur Sprengstoffmischungen verwendet werden, deren Zündtemperatur über 200 °C lag. 8.000 Tote durch den Einsatz der V2 Rakete Die Raketenstarts der V2 sind als reine Terrormaßnahmen gegen Zivilisten zu werten. Etwa 8.000 Zivilisten [!!!] verloren ihr Leben durch den Einsatz der Waffe, meist im Raum London und Antwerpen. Allein 1.358 Menschen starben in London und 1.610 Menschen starben in Antwerpen. Und nun darf man auch nicht vergessen, dass die erste V2 erst am 8. September 1944 gestartet wurde und den Londoner Vorort Chiswick traf. Wäre die V2 früher fertig erstellt worden, so wäre eine Vielzahl von Menschen durch Ihren Einsatz um das Leben gekommen. Um es nicht zu vergessen, muss hier eines nochmals klargestellt werden: Die von Wernher von Braun entwickelte V2 Rakete war eine reine Vergeltungswaffe der Nazis, die sich gegen die alliierte Zivilbevölkerung richtete. 12.000 Tote beim Bau der V2 Rakete Die Produktionsstätten für die Teile der A4 waren über Deutschland und Österreich verteilt. Dabei war man in der Namensgebung besonders „kreativ“. So wurden unter dem Decknamen „Lager Rebstock“ bei Dernau an der Ahr in unfertigen Eisenbahntunneln Bodenanlagen und Fahrzeuge produziert. Andere Produktionsstätten waren Oberraderbach, Lüdenscheid [Firma Gustav Schmale] sowie HagenWehringhausen [Accumulatoren-Fabrik AG]. Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 42 von 78 Von besonderer Relevanz war der Umstand, dass in Peenemünde seit Juni 1943 ein KZ Außenlager existierte. Zusätzlich gab es ein zweites KZ, ein Kriegsgefangenenlager in Karlshagen und die Lager Trassenheide. Insgesamt waren hier [für den Bau der V2] insgesamt 1.400 Häftlinge untergebracht, wobei noch 3.000 „Ostarbeiter“ aus Polen und der Sowjetunion hinzukamen. Es ist er- und bewiesen, dass Wernher von Braun dieser Sachverhalt bekannt war. Wernher von Braun wird in einem Protokoll zu einer Besprechung vom 25.08.1943 wie folgt zitiert: „Die Belegschaft für Mittelteile- und Heckfabrikation könnte aus dem Häftlingslager F1 gestellt werden.“ Unmittelbar vor dieser Besprechung hatte von Brauns Kollege, der HVA Leiter Walter Dornberger in einem Besprechungsprotokoll vom 4. August 1943 folgendes festgehalten: „Das Verhältnis der deutschen Arbeiter zu den KZ-Häftlingen soll 1:15, höchstens aber 1:10 betragen.“ Die vorstehend erwähnten Häftlinge Konzentrationslagern „bezogen“: wurden nachweislich aus den nachfolgenden KZ Buchenwald KZ Dachau KZ Mauthausen KZ Sachsenhausen Im Übrigen sollte der August 1943 für Wernher von Braun aus weiteren Gründen ein sehr bedeutsamer Monat werden: In der Nacht vom 17. August 1943 wurde die HVA Peenemünde im Zuge der „Operation Hydra” von den Alliierten bombardiert. Um die Produktion der V2 vor weiteren Bombenangriffen der Alliierten zu schützen und möglichst geheim zu halten, sollte sie unter die Erde verlegt werden. Daraufhin entstand ein neues Außenlager des KZ Buchenwald mit dem Tarnnamen „Arbeitslager Dora“ am Südrand des Harzes. Die Häftlinge der KZ wurden von der SS, unter menschenunwürdigen Bedingungen, hauptsächlich im Stollenvortrieb und den untertage gelegenen Werksanlagen der Mittelwerk GmbH eingesetzt. In Mittelbau-Dora fand nun die Serienfertigung der A4 statt. In einem Gerichtsprozess am 14. Oktober 1947 in Texas gab Wernher von Braun an, dass er 5- bis 20mal im Mittelbau-Dora war. Dies wird auch von diversen KZ Häftlingen bestätigt. Im Übrigen erklärte Wernher von Braun, dass er vom Elend der Zwangsarbeiter nichts gewusst habe und auch für deren Einsatz nicht verantwortlich gewesen sei. Gleichwohl war zu diesem Zeitpunkt aber ein Schreiben Wernher von Brauns vom 12. November 1943 bekannt, in der er 1.350 Arbeitskräfte für den MittelbauDora anforderte. Zu dieser Zeit bedeute das Anfordern von einer derart hohen Anzahl von Arbeitskräften stets die Anforderung von KZ-Häftlingen. In einem Interview 1969 gab er dann auch noch zu, dass er im Mittelbau-Dora einige „Hungergestalten in einem erbarmungswürdigen Zustand gesehen habe.“ Des Weiteren erklärte er, dass er sich geschämt habe, dass solche Dinge in Deutschland möglich gewesen waren, selbst angesichts der Kriegssituation. Es ist kaum vorstellbar, dass das SS–Mitglied Wernher von Braun diese gesamten Umstände nicht gewusst hat. Es liegen jedoch auch andere Beweise gegen Wernher von Braun vor. So existiert ein Brief des Herrn Prof. Wernher von Braun an Albin Sawatzki. Aus diesem geht hervor, dass von Braun im KZ Buchenwald war und dort selbst Häftlinge aussuchte. Da Sawatzki für die Planung und Steuerung der V2 Fabrikation verantwortlich war, muss von einer Ernsthaftigkeit des Schriftsatzes des Wernher von Braun ausgegangen werden. Genauso belastend ist ein Erlebnisbericht des KZ-Häftlings Adam Cabala: „….auch die deutschen Wissenschaftler mit Prof. Wernher von Braun an der Spitze sahen alles täglich mit an. Wenn sie die Gänge entlang gingen, sahen sie die Schufterei der Häftlinge, ihre mühselige Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 43 von 78 Arbeit und ihre Qual. Prof. Wernher von Braun hat während seiner häufigen Anwesenheit in Dora nicht ein einziges Mal gegen diese Grausamkeit und Bestialität protestiert. Selbst der Anblick von Toten haben ihn nicht gerührt: Auf einer kleinen Fläche neben der Ambulanzbude lagen tagtäglich haufenweise die Häftlinge, die das Arbeitsjoch und der Terror der rachsüchtigen Aufseher zu Tode gequält hatten. [..] Aber Prof. Wernher von Braun ging daran vorbei, so nahe, dass er die Leichen fast berührte.“ Diese Ausführungen sind eindeutig! Aus den Akten der SS geht hervor, dass 12.000 Zwangsarbeiter im Mittelbau-Dora ums Leben kamen. Obgleich man davon ausgehen kann, dass die Anzahl der Toten noch höher war, ist allein schon der Tod von 12.000 Zwangsarbeitern ein Sachverhalt, der seines Gleichen sucht. Beim einzigen alliierten Prozess [aus dem Jahr 1947], in dem ausschließlich Verbrechen im KZ Mittelbau-Dora verhandelt wurden, war von Braun weder angeklagt noch als Zeuge geladen. Allerdings sagte sein Bruder als Zeuge im so genannten „Nordhausen-Prozess“ gegen die Lagerleitung des Konzentrationslagers Dora-Mittelbau aus. Er stand wie Wernher von Braun mittlerweile schon in US-amerikanischen Diensten. Einziger Ingenieur der „V2“-Produktion, der je vor Gericht gestellt wurde, war der DEMAGGeschäftsführer und Generaldirektor der Mittelwerk GmbH Georg Rickhey. Dieser wurde freigesprochen, obwohl im Prozess der Mitangeklagte Funktionshäftling Josef Kilian aussagte, dass Rickhey bei einer besonders brutal inszenierten Massenstrangulation von 30 Häftlingen am 21. März 1945 in Mittelbau-Dora anwesend war. Eigentlich ist so etwas kaum zu glauben. Kontakte von Brauns mit Hitler Mehrfach besuchte Wernher von Braun in dem so genannten Führerhauptquartier Wolfsschanze in Ostpreußen Adolf Hitler. Es ist davon auszugehen, dass es sich hierbei nicht um reine Höflichkeitsbesuche handelte, bei denen über das Wetter in Ostpreußen gesprochen wurde. Wernher von Braun gab zum Beispiel selbst an, wie er am 8. Juli 1943 von Hitler persönlich zum Professor ernannt wurde: „Nach meinem Gespräch mit Hitler sah ich zufällig, dass Speer mit ihm – gleichsam hinter vorgehaltener Hand – etwas besprach. Wenige Augenblicke danach schritt Hitler auf mich zu, reichte mir die Hand und sagte: Professor, ich möchte Ihnen zu Ihrem Erfolg gratulieren.“ Am 29. Oktober 1944 wurden sowohl Dornberger als auch von Braun nach dem Einsatz der V2 an der Westfront von Hitler mit dem Ritterkreuz des Kriegsverdienstkreuzes mit Schwertern ausgezeichnet. Wernher von Brauns Erfolge in den USA Am 11. April 1945 hatten die US-Truppen in Deutschland die Produktionsstätten des Mittelwerks besetzt und dabei 100 einsatzfähige V2 Raketen vorgefunden und beschlagnahmt. Diese Raketen sollten später die Grundlage für das US-amerikanische Raketenprogramm werden. Wernher von Braun, sein Bruder Magnus von Braun sowie Walter Dornberger waren zu diesem Zeitpunkt bereits nach Süddeutschland „verlegt“ werden. Die letzten Tage des 2. Weltkrieges verbrachte die HVA Führungsgruppe um Wernher von Braun und Walter Dornberger dann bei bester Verpflegung im Sporthotel Ingeburg in Sonthofen. Nachdem die Peenemünder Führungsgruppe realisierte, dass die US-Streitkräfte im Rahmen der Aktion „Operation Overcast“ nach den deutschen Wissenschaftlern suchten, um sich deren Wissen für das US-amerikanische Raketenprogramm zu bemächtigen, stellten sich von Braun und seine Kollegen am 2. Mai 1945 den US-Streitkräften. Hiernach ging Wernher von Braun mit seinem Team in die USA. Er wurde dort der Wegbereiter der USRaketenwaffen und der US-Raumfahrt schlechthin. Denkt man an die Landung der US-Raumfahrt auf dem Mond, so ist dieser Erfolg unzweideutig mit dem Know-How Wernher von Brauns verbunden. Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 44 von 78 Aber bereits vorher erlangte Wernher von Braun durch einen geschickten Schachzug ungeahnte Popularität in den USA. Bekannt machten ihn vor allem drei Fernsehproduktionen Walt Disneys: Man in Space (1955), Man and the Moon (1955) Mars and Beyond (1957). In diesen von Ward Kimball realisierten Kurzfilmen trat von Braun an der Seite Disneys auf und erläuterte seine Theorien. Gab es aber eine Person in den 1950ern in den USA, die für die Öffentlichkeit unantastbar war, so war dies Walt Disney. Wernher von Braun zu dieser Zeit in Zweifel zu stellen hätte bedeutet, Walt Disney zu kritisieren. Dies war aber zu jener Zeit kaum möglich. Wie sich von Braun verantworten musste Außer dem bereits erwähnten Gerichtsprozess in Texas im Jahr 1947 – der für Prof. Dr.-Ing. von Braun zu keinerlei straf- oder zivilrechtlichen Folgen führte - wurde er nie wieder belangt. Obwohl in Deutschland bekannt war, dass er am Tod von mindestens 20.000 Menschen mitverantwortlich war, wurden ihm folgende Ehrungen durch die Bundesrepublik Deutschland zuteil: 1959: Verleihung der Großen Verdienstkreuzes der Bundesrepublik Deutschland 1969: Verleihung der Wilhelm Exner Medaille 1970: Verleihung des Großen Verdienstkreuzes mit Stern des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland 1975: Verleihung der Goldenen Medaille der Humboldt-Gesellschaft Erst heutzutage ist man sich bewusst oder will man sich bewusst werden, wer Wernher von Braun wirklich war. Anlässlich des 100. Geburtstags im Jahr 2012 wurde auf Initiative des Polnisch-Deutschen Kulturforums Insel Usedom die so genannte Peenemünder Erklärung veröffentlicht, in der vor einer Idealisierung von Brauns gewarnt wird und eine „wissenschaftlich seriöse Aufarbeitung“ der Rolle von Brauns im Nationalsozialismus gefordert wird. Zu den Erstunterzeichnern gehören Historiker wie Werner Buchholz, Bernd Faulenbach, Anton Schindling und Thomas Stamm-Kuhlmann, aber auch Politiker wie Thomas Freund und Karin Timmel. Seine Verstrickung in den Nationalsozialismus und seine Kenntnisse vom Leiden und Sterben der KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter sind unter anderem in der Gedenkstätte zum KZ Mittelbau-Dora bei Nordhausen dokumentiert. Es bedurfte mehr als 30 Jahre nach dem Tod Wernher von Brauns, bis man sich in der Öffentlichkeit wirklich bewusst wurde [oder bewusst werden wollte], wer Wernher von Braun auch war, nämlich nicht nur ein Raketenwissenschaftler sondern (auch) ein SS-Mitglied, welcher im II. Weltkrieg zumindest für den Tod von mehr als 20.000 Menschen mit verantwortlich war und hierfür auf Erden nicht zur Rechenschaft gezogen wurde. Literatur Stefan Brauburger: Wernher von Braun. Ein deutsches Genie zwischen Untergangswahn und Raketenträumen. Pendo, München 2009, ISBN 978-3-86612-228-4. Michael J. Neufeld: Von Braun. Dreamer of Space, Engineer of War. Alfred A. Knopf, New York 2007, ISBN 978-0-307-26292-9; deutsche Ausgabe: Wernher von Braun. Visionär des Weltraums, Ingenieur des Krieges. Aus dem Englischen von Ilse Strasmann, Siedler, München 2009, ISBN 978-3-88680-912-7 Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 45 von 78 Rainer Eisfeld, Mondsüchtig, Wernher von Braun und die Geburt der Raumfahrt aus dem Geist der Barbarei, Paperback, 2012, ISBN 9783866741676 Jens-Christian Wagner (Hrsg.): Konzentrationslager Mittelbau-Dora 1943–1945 Begleitband zur ständigen Ausstellung in der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora. Wallstein, Göttingen 2007, ISBN 978-3-8353-0118-4 André Sellier, Yves le Maner: Bilder aus Dora: Zwangsarbeit im Raketentunnel 1943–1945 Deutsches Museum, München, Übers. Waltraud Gros; Bad Münstereifel: Westkreuz, 2001, ISBN 3-929592-59-2 Wolfgang Benz, Barbara Distel (Hrsg.): Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. 9 Bände. Beck, München 2005 bis 2009. ISBN 9783-406-52960-3 Internetquellen http://www.peenemuender-erklaerung.eu/ http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-19285864.html http://www.buchenwald.de/375/ http://www.buchenwald.de/951/ http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,436300,00.html http://library.si.edu/digital-library/book/report-operation-backfire https://archive.org/details/A4-Fibel_1944_167p http://de.wikipedia.org/wiki/Aggregat_4#Aufbau http://de.wikipedia.org/wiki/Heeresversuchsanstalt_Peenem%C3%BCnde#Errichtung_des_K Z-Au.C3.9Fenlagers http://www.historisches-centrum.de/index.php?id=290 http://www.v2werk-oberraderach.de/ Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 46 von 78 Die unrühmliche Rolle der Evangelischen Kirche im Dritten Reich Die Rolle der katholischen Kirche im III. Reich ist mittlerweile mehr als dezidiert aufgearbeitet. Aus diesem Grunde wird in diesem Artikel die Rolle der Evangelischen Kirche im III. Reich untersucht und die Frage beleuchtet, ob und inwieweit die Evangelische Kirche durch ihr Verhalten eine Mitschuld am Holocaust hat. Das Ganze beginnt hier mit einer Person, die man als relevante Person in diesem Zusammenhang oftmals vergisst: Die besondere Rolle von Martin Luther Auch wenn es für viele Protestanten nach wie vor unvorstellbar ist, dass der große Reformator Luther antisemitische Worte kommunizierte, beginnen wir an dieser Stelle mit den nachfolgenden Äußerungen Luthers: "Ein solche verzweifeltes durch böstes, durch giftetes, durch teufeltes Ding ist´s um diese Juden, so diese 1400 Jahre unsere Plage, Pestilenz und alles Unglück gewesen sind und noch sind. Summa, wir haben rechte Teufel an ihnen. Das ist nichts anderes. Da ist kein menschliches Herz gegen uns Heiden. Solches lernen sie von ihren Rabbinern in den Teufelsnestern ihrer Schulen." (Quelle: Der achte und letzte aller Bücher und Schriften des teuren seligen Mans Gottes, Doctoris Martini Lutheri, Tomos 8, Jena 1562, S. 95) Auch wenn der christliche Antijudaismus die Geschichte Europas zur Zeit Luthers beeinflusste, so war, ist und kann es nicht sein, dass derartige Äußerungen nicht auf das schärfste zu verurteilen wären. Zu den Stereotypen zu Zeiten Luthers gehörten damals Äußerungen wie: Die Zerstörung des Jerusalemer Tempels und die Verfolgung der Juden sei Gottes fortwährende Strafe für die Kreuzigung Jesu Christi. Die Juden seien gottlos, christenfeindlich, verstockt, blind gegenüber der göttlichen Wahrheit, verflucht, stammten vom Teufel ab, seien mit dem Antichrist der Endzeit identisch, hätten den Gottesmord begangen, verübten regelmäßig Ritualmorde an christlichen Kindern, begingen Hostienfrevel, Brunnenvergiftung und strebten heimlich nach Weltherrschaft, etwa durch Verrat an feindliche Mächte. In seinem Werk „Von den Juden und Ihren Lügen“ aus dem Jahr 1543 fragt sich Luther selbst „Was sollen wir Christen nun tun mit diesem verdammten, verworfenen Volk der Juden?“ und schlägt dann folgende sieben Schritte als „scharfe Barmherzigkeit“ vor: „Man solle ihre Synagogen niederbrennen, ihre Häuser zerstören und sie wie Zigeuner in Ställen und Scheunen wohnen lassen, ihnen ihre Gebetbücher und Talmudim wegnehmen, die ohnehin nur Abgötterei lehrten, ihren Rabbinern das Lehren bei Androhung der Todesstrafe verbieten, ihren Händlern das freie Geleit und Wegerecht entziehen, ihnen das „Wuchern“ (Geldgeschäft) verbieten, all ihr Bargeld und ihren Schmuck einziehen und verwahren, den jungen kräftigen Juden Werkzeuge für körperliche Arbeit geben und sie ihr Brot verdienen lassen.“ In der FAZ werden diese Zeiten und Äußerungen Luthers von Margot Käßmann am 1. April 2013 als die „dunkle Seite er Reformation“ bezeichnet. Dies mag vielleicht ein erster Schritt in die richtige Richtung sein, aber es ist noch lange keine Entschuldigung oder Wiedergutmachung dafür, dass diese Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 47 von 78 Äußerungen Luthers durchaus mitbegründend für die kranke, menschenverachtende Agitationen der Nazis war. Welche Rolle Martin Luther in diesem Zusammenhang für Adolf Hitler spielte, mag folgende Äußerung Hitlers klar belegen: "Luther war ein großer Mann, ein Riese. Mit einem Ruck durchbrach er die Dämmerung, sah den Juden, wie wir ihn erst heute zu sehen beginnen." (Quelle: Adolf Hitler in: Dietrich Eckart, Der Bolschewismus von Moses bis Lenin, Zwiegespräche zwischen Adolf Hitler und mir, München 1924, S. 35) Besondere Beziehung hoher Vertreter der evangelischen Kirche zu Nazis während der Weimarer Republik Es ist nicht zutreffend, dass die evangelische Kirche erst nach der Machtergreifung Hitlers im Jahr 1933 [wie viele andere gesellschaftliche Schichten dies im Übrigen auch wahrheitswidrig kundtun] Partei zu Gunsten Hitlers ergreift. Wie die nachfolgenden Beispiele verdeutlichen, gab es bereits zu Zeiten der Weimarer Republik gewichtige Beziehungen zwischen der Evangelischen Kirche und den Nazis: Hans Meiser, Direktor des evangelischen P-Seminars in Nürnberg und ab 1933 erster evangelischer Landesbischof Bayerns verfasst 1926 ein „Gutachten“ mit dem Titel „Die evangelischen Gemeinden und die Judenfrage“. Meiser wehrt sich darin gegen "die Verjudung unseres Volkes", und er erklärt sich einverstanden mit den völkischen Idealen, deren Anhänger "mit der antisemitischen Bewegung in einer Front stehen“, was "die Rassenfrage als den Kernpunkt der Judenfrage" betrifft. Der spätere Landesbischof beklagt auch den Einfluss der Juden, v. a. auf wirtschaftlichem und gesellschaftlichem Gebiet. Er schreibt: "Mag die Moral vieler Juden nichts anderes sein als stinkende Unmoral", und er fordert durch einige konkrete Maßnahmen "ein Zurückdrängen des jüdischen Geistes im öffentlichen Leben" und die "Reinhaltung des deutschen Blutes". Die Reinhaltung des deutschen Blutes ist eine Gedankenwelt, die der kranken Philosophie der Nazis entspricht, gleichwohl aber nichts mit christlichem Gedankengut gemein hat. Ebenfalls in Nürnberg nimmt der evangelisch-lutherische Pfarrer Martin Weigel vor dem Altar der Lorenzkirche in Nürnberg eine SA Fahnenweihe vor. Es sei darauf verwiesen, dass die SA nichts anderes als der Schlägertrupp der Nazis war und dass die Nazis im Jahr 1926 von weniger als 5% der Bevölkerung gewählt wurden, so dass wahrscheinlich kein Druck von außen als Beweggrund angegeben werden kann. 1930 muss es dann auf irgendeine Art und Weise zu einer Übereinkunft zwischen evangelischer Kirche und Nazis gekommen sein, wie das nachfolgende Faktum beweist: Das Deutsche Pfarrerblatt veröffentlicht am 11.11.1930 einen Grundsatzbeitrag über das Verhältnis von NSDAP und Kirche. Der Autor, Pfarrer Friedrich Wienecke, erklärt es zu den Aufgaben der Männer der Kirche, in die "Tiefe der nationalsozialistischen Gedankenwelt" zu schauen und sich nicht durch "äußere Schönheitsfehler" wie Härte, Rohheit und Rachsucht abschrecken zu lassen. Unter der "rauen Schale" keime möglicherweise sogar "das beste Leben, das je aus der alten deutschen Eiche herauswuchs." Pfarrer Wienecke verweist in diesem Zusammenhang auf Hitlers Mein Kampf, wo Hitler den Deutschen die Hochachtung vor den Amtskirchen zur Pflicht macht. Die von Gott gewollte Aufgabe für die deutsche Politik sei nach Wienecke die Förderung des "arisch-germanischen Menschen." Die Aufgabe von Theologie und Pfarrerschaft sei es, zu helfen, dass die Nazi-Bewegung nicht verrausche, sondern dass sie, "erfüllt von göttlicher Kraft unserem Volk Gesundung bringe". Das Deutsche Pfarrerblatt erreichte damals wie heute den deutschen Pfarrerstand in seiner Gesamtheit und war und ist zudem "Pflichtorgan aller Mitglieder des Pfarrervereins". Das NSDAP-Blatt Völkischer Beobachter druckte den Artikel aus dem Deutschen Pfarrerblatt wörtlich nach. Wenn der Völkische Beobachter einen Artikel der evangelischen Kirche wörtlich nachdruckte, so kann davon ausgegangen werden, dass dies sicherlich nichts mit Kirchengläubigkeit der Nazis zu tun hatte, sondern eiskaltes Kalkül oder eine Absprache Anlass hierzu war. Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 48 von 78 Glaubensbewegung Deutsche Christen (DC): Beginnen wir hier erst einmal mit dem Ende des 1. Weltkrieges und der Einstellung der evangelischen Kirchenoberen zu Demokratie und Weimarer Republik: Nach Verabschiedung der Weimarer Verfassung richtete der Präsident des altpreußischen Evangelischen Oberkirchenrats (EOK) Reinhard Möller ein „tiefempfundenes Dankeswort an unseren fürstlichen Schirmherrn“, den abgesetzten Kaiser. Kirchenführer wie Detlev von Arnim-Kröchlendorff jubelten: „Der Umsturz hat sich auf unsere Kirche nicht miterstreckt.“ Die konservative Kontinuität der Landeskirchen, die als Volkskirche für alle religiösen Bedürfnisse der getauften Deutschen zuständig waren, blieb erhalten. Machen wir nun einen Sprung zum beginnenden Ende der Weimarer Republik. 1930 gaben sich die evangelischen Landeskirchen mit dem Deutschen Evangelischen Kirchenbund einen lockeren Dachverband. Zudem schlossen sie am 11. Mai 1931 einen Kirchenvertrag mit dem Freistaat Preußen ab, den viele Kirchenführer als Sieg über die „Entrechtung“ durch die Weimarer Verfassung empfanden. Er sicherte ihnen Religionsunterricht und öffentliche Finanzmittel zu. Seit dem neuen Kirchenvertrag von 1930 begann die NSDAP, die evangelischen Christen offensiv in ihren Kampf gegen das „Weimarer System“ aus „Marxismus, Judentum und Zentrum“ einzuspannen: SA-Trupps besuchten geschlossen evangelische Gottesdienste und hielten „Mahnwachen“ vor Kirchen, um pazifistisch oder religiös-sozial eingestellte Pastoren einzuschüchtern. 1932 gründete sich dann die „Glaubensbewegung Deutsche Christen“ (DC) als Zusammenschluss von evangelisch getauften Nationalsozialisten. Sie wollten der NS-Ideologie in ihrer Kirche erst Raum, dann Alleingeltung verschaffen, nachdem die Deutschnationalen bzw. der „Christlich-soziale Volksdienst“ 1930 die Kirchenwahl in Preußen gewonnen hatte. Sie pflegten ein „arteigenes Christentum“, das durch Elemente einer „neuheidnischen“ Religiosität aus dem „Volkstum“ erneuert werden sollte. Sie wollten das Führerprinzip innerkirchlich verankern und strebten die Vereinheitlichung der bisher nach Konfessionen gegliederten Landeskirchen in einer Reichskirche an. Geführt wurden sie vom Pfarrer Joachim Hossenfelder; gefördert wurden sie von namhaften Theologen wie Emanuel Hirsch, der die DC-Theologie schon 1920 mit seinem Buch „Deutschlands Schicksal“ vorbereitet hatte. Auch Paul de Lagarde und Arthur Dinter gelten als Vorläufer, da sie wie die DC Paulus von Tarsus zum Verderber des Christentums erklärten, Jesus als antijüdischen „Propheten“ darstellten und eine national-deutsche Religion vertraten. Es muss an dieser Stelle nochmals klar und eindeutig gesagt werden, dass wir hier von einem Zeitpunkt sprechen, der weit vor der Machtergreifung Hitlers lag! Bei der Wahl des Reichsbischofs im Mai 1933 wurde von den Reichskirchen zunächst der nicht den DC angehörige Friedrich von Bodelschwingh nominiert, der jedoch aufgrund des massiven Drucks der Deutschen Christen sein Amt schon nach einem Monat aufgeben musste, worauf die Reichskirchenleitung bei den Kirchenwahlen am 23.7.1933 an den zuvor von Hitler zum „Bevollmächtigten für Angelegenheiten der evangelischen Kirche" ernannten Ludwig Müller überging. Dank einer außergewöhnlich hohen Wahlbeteiligung gewannen die Deutschen Christen nun einen Stimmenanteil von 70% und lösten daraufhin in allen durch sie geführten Landeskirchen das parlamentarische System auf, so dass nur drei intakte Landeskirchen übrig blieben. Bei der ersten Nationalsynode unter dieser Leitung wurde der Arierparagraph durchgesetzt, welcher jeden Pfarrer und Kirchenbeamten nicht-arischer Herkunft seines Amtes enthob. Durch den Arierparagraphen der evangelischen Kirche ist eindeutig dargelegt, dass zumindest die Führung der evangelischen Kirche nicht in eindeutigem Konfrontationskurs zu Hitler war, wie man dies später teilweise zu kommunizieren versuchte. Vielmehr muss klargestellt werden, dass die Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 49 von 78 evangelische Kirche durch Handlungsweisen wie den Arierparagraphen durchaus eine nicht unerhebliche Mitschuld daran trägt, dass Hitler sein verbrecherisches Tun, welches im Holocaust seinen unrühmlichen Höhepunkt finden sollte, realisieren konnte. Wie Teile der evangelischen Kirche tatsächlich zur Naziherrschaft standen und wie auch nach Kriegsende von der evangelischen Kirche Strafvereitelung betrieben wurde, zeigt das Beispiel des evangelischen Pfarrers Hoff aus Berlin. Hier zitieren wir den unten als Internetquelle angegebenen ZEIT-Artikel wie folgt: "Der Berliner Pfarrer Hoff rühmte sich, am Totensonntag 1931 als erster Geistlicher Berlins einen Gottesdienst für die »gefallenen Nationalsozialisten« gehalten zu haben. Goebbels hatte ihm ein Dankschreiben geschickt, Hoff reichte es stets stolz herum. Im Frühjahr 1934 wurde er als Konsistorialrat in das Konsistorium der Mark Brandenburg berufen. Für sein neues Amt ließ sich der Pfarrer in SA-Uniform vereidigen. Kollegen der Bekennenden Kirche denunzierte er gern im SS-Organ „Das Schwarze Korps“. Über seine tägliche Arbeit in der Gemeinde ist wenig bekannt. 1940 kam er zur Wehrmacht, Mitte 1941 an die Ostfront. Mit Vorliebe stattete er dem Konsistorium, seiner alten Dienststätte, in Uniform Besuche ab und rühmte sich dabei seines Einsatzes gegen »Partisanen« und »Spione«. 1943 kehrte Hoff nach Berlin zurück. Zum 10. Jahrestag der Hitlerherrschaft am 30. Januar wandte er sich in einem Aufruf an die Berliner: Wer die zu Selterswasserfabriken und Kornspeichern umgewandelten Kirchen Russlands gesehen habe und wer den »unheimlichen Einfluss des Judentums in Stadt und Land des weiten Ostens gespürt« habe, der könne würdigen, was die Herrschaft der Nationalsozialisten für Deutschland und ganz Europa bedeute. Hoff dankte dem Allmächtigen und bat um Segen für den »geliebten Führer«. Ein Dreivierteljahr später reagierte er empört auf den Rundbrief eines Oberkonsistorialrats an die im Heeresdienst stehenden Pfarrer. Dessen Rundschreiben (mit Zitaten aus dem Psalter) erschien ihm zu weichlich. Er antwortete in einer geharnischten Zurechtweisung: Offensichtlich stehe der Kollege dem großen Geschehen dieser Tage völlig verständnislos gegenüber. Wie soll heute, schreibt Hoff, wo die Deutschen mit dem »Weltjudentum« ringen, die »jüdischen Rachepsalmen« der Bibel als Offenbarung göttlichen Erbarmens dienen? »Vielleicht gönnen Sie mir darin ein Wort der Aufklärung«, so wandte er sich an seinen Adressaten, »wie ich es mit alldem vereinbaren kann, dass ich in Sowjetrussland eine erhebliche Anzahl von Juden, nämlich viele Hunderte, habe liquidieren helfen. « Als »heimatvertriebener Ostpfarrer« ließ er sich bei Hamburg nieder. In der Berliner Kirchenleitung kannte man inzwischen sein Bekennerschreiben von 1943 und legte ihm nahe, auf die Rechte des geistlichen Standes zu verzichten. Hoff lehnte ab. Ein Disziplinarverfahren entschied 1948 auf »Entfernung aus dem Dienst«. Wiederholt focht Hoff das Urteil an, im Februar 1957 erreichte er die erneute Zuerkennung der Rechte des geistlichen Standes. Norddeutsche Landeskirchen gaben ihm befristete Seelsorgeaufträge. 1960, zu seinem 70. Geburtstag, sandte ihm das Landeskirchenamt Hannover fromme Segenswünsche: »Gottes Güte und Freundlichkeit hat Sie durch gute und schwere Jahre bis zum heutigen Tage treu geleitet. [...] Aus den Erfahrungen Seiner Wohltaten in Ihrem Leben werden Sie gewiss in die Worte des Psalmsängers einstimmen: ›Ich gedenke an die vorigen Zeiten; ich rede von allen deinen Taten und sage von den Werken deiner Hände.‹« Zurück bleibt eine mehrfache Beschämung. Zum einen darüber, dass ein Geistlicher mit einer solchen Biografie jahrzehntelang Pfarrer sein konnte. Zum anderen aber auch Beschämung darüber, wie die Berliner Nachkriegskirche unter Bischof Otto Dibelius – von Hoffs Brief wissend – mit diesem Geistlichen umging. Sie deckte einen Mann, der den Engländern als Kriegsverbrecher galt und der Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 50 von 78 mutmaßlich am Holocaust beteiligt war. Gewiss wäre Hoff ein Fall für die 1958 gegründete NSErmittlungsstelle in Ludwigsburg gewesen, und es stellt sich durchaus die Frage, ob hier nicht kirchlicherseits so etwas wie Strafvereitelung im Amt stattgefunden hat. Man ließ den Fall auf sich beruhen, kehrte die Dinge unter den Teppich, wie so vieles in der Ära Dibelius. 1978 starb Hoff." Offizielle Äußerungen der evangelischen Kirche nach 1945: Im April 1948, d.h. drei (!) Jahre nach Ende des zweiten Weltkrieges fanden sich im „Wort zur Judenfrage“ des evangelischen Reichsbruderrates folgende Worte: „Israel unter dem Gericht ist die unauflösbare Bestätigung der Wahrheit, Wirklichkeit des göttlichen Wortes und die stete Warnung Gottes an seine Gemeinde. Dass Gott nicht mit sich spotten lässt, ist die stumme Predigt des jüdischen Schicksals, uns zur Warnung, den Juden zur Mahnung, ob sie sich nicht bekehren möchten zu dem, bei dem allein auch ihr Heil steht.“ Vergegenwärtigen wir uns an dieser Stelle –neben der Ungeheuerlichkeit der Ausführungen- wer der Reichsbruderrat war. Der Reichsbruderrat war das leitende Gremium der Bekennenden Kirche in der Zeit des Nationalsozialismus. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs tagte das Gremium weiter als Bruderrat der EKD. Seit dem von der Dahlemer Synode ausgerufenen kirchlichen Notrecht war der Reichsbruderrat die legitime Kirchenleitung der Deutschen Evangelischen Kirche (DEK) und gab diese Leitungsfunktion 1948 an den Rat der EKD ab. Die Äußerung der „stummen Predigt des jüdischen Schicksals, uns zur Warnung, den Juden zur Mahnung“ stammten von dem Teil der evangelischen Kirche, der sich gegen Hitler stellte. Sicherlich kann man Mitgliedern der Bekennenden Kirche wie Dietrich Bonhoeffer oder Martin Niemöller nicht absprechen, dass sie gegen Hitler waren. Die oben stehenden Äußerungen von gewichtigen Mitgliedern der Bekennenden Kirche drei Jahre nach unbestrittener allgemeiner Kenntnis über den Holocaust sind jedoch in keinster Weise ein Beleg dafür, dass sich die evangelische Widerstandskirche auch für die verfolgten Juden im III. Reich einsetzte. Nicht von ungefähr schrieb Martin Niemöller deshalb 1976 in einem Gedicht: „Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist. Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Sozialdemokrat. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“ Im Rahmen der geschichtlichen Aufarbeitung der Bekennenden Kirche stellte sich dann heraus, dass Mitglieder der Bekennenden Kirche Mitglieder in Hitlers SS waren oder in Konzentrationslagern tätig waren. Statt dies einfach zuzugeben, ist es mehr als verwerflich, wie dies im Nachhinein gerechtfertigt wurde: Kurt Gerstein bewarb sich wissentlich zur SS, um die Verbrechen in den Vernichtungslagern, am „Feuerofen des Bösen“, zu verhindern, was ihm nur in ganz geringem Ausmaß gelang. Hans Friedrich Lenz verrichtete Dienst im Außenlager Hersbruck bei Flossenbürg, wo Bonhoeffer ermordet wurde. Er schrieb später einen Erlebnisbericht. Alfred Salomon wurde 1933/1934 in die SS eingeschleust. Kurt Gerstein arbeitete für das Hygiene-Institut der Waffen-SS. Im Januar 1942 avancierte er zum Chef der Abteilung Gesundheitstechnik und war zuständig für den technischen Desinfektionsdienst. Somit hatte er für die Beschaffung von Zyklon B zu sorgen. Was Zyklon B ist und wozu es benötigt wurde, dürfte allgemein bekannt sein. Gerstein nahm sich 1945 in französischer Haft das Leben, erzählte aber vorher die vorstehend genannte Version. 1965 wurde Gerstein dann vom damaligen Ministerpräsidenten (und späteren) Bundeskanzler Kiesinger rehabilitiert, der bekanntlicher Weise Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 51 von 78 selbst seit 1933 Mitglied der NSDAP war, ab 1940 Angestellter im Auswärtigen Amt der Nazis und später sogar stellvertretender Leiter der Rundfunkabteilung der Nazis wurde. Nicht vergessen werden darf in diesem Zusammenhang auch die Entdeckung eines durch den SPIEGEL aufgedeckten Briefes der EKD in Sachen Adolf Eichmann. Aus der Online Ausgabe des SPIEGEL vom 21.08.2011 wird wie folgt zitiert: „Nach SPIEGEL-Informationen hat sich der Rat der EKD 1960 bei der Bundesregierung unter Konrad Adenauer für den Holocaust-Organisator Adolf Eichmann eingesetzt. Das geht aus Akten im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes hervor. Darin findet sich ein Schreiben des Linzer Superintendenten Wilhelm Mensing-Braun an das kirchliche Außenamt in Frankfurt am Main. Der Superintendent bescheinigte dem im österreichischen Linz aufgewachsenen Massenmörder Eichmann eine "grundanständige Gesinnung“, ein "gütiges Herz" und "große Hilfsbereitschaft". Mensing-Braun schreibt, er könne sich "nicht vorstellen", dass der ehemalige SS-Obersturmbannführer Eichmann "je zu Grausamkeit oder verbrecherischen Handlungen fähig gewesen wäre". Die EKD hielt das Pro-Eichmann-Votum für "mindestens interessant" Eichmann war kurz zuvor aus Argentinien nach Israel entführt worden. Seine Geschwister wollten erreichen, dass ein internationaler Gerichtshof und nicht ein israelisches Gericht den Fall verhandele. Sie hatten daher Mensing-Braun um Hilfe gebeten. Tatsächlich leitete Bischof Hermann Kunst, Vertreter der EKD bei der Bundesregierung, das Schreiben Mensing-Brauns an das Auswärtige Amt weiter - mit dem Hinweis, das Votum sei "mindestens interessant". Damit hat sich nicht nur der österreichische Superintendent Mensing-Braun für Eichmann eingesetzt, sondern auch ein offizieller Vertreter der Evangelischen Kirche in Deutschland.“ Aber auch in der jüngsten Vergangenheit ist die offizielle Haltung der evangelischen Kirche in diesem Bereich nicht immer ein Ruhmesblatt, wie das nachstehende Beispiel belegen mag: Im August 2011 publizierte der evangelische Theologe Jochen Vollmer im bereits mehrfach vorstehend erwähnten Deutschen Pfarrerblatt „Vom Nationalgott Jahwe zum Herrn der Welt und aller Völker – Der Israel-Palästina-Konflikt und die Befreiung der Theologie“ einen eindeutig antizionistischen Aufsatz, der in weiten Teilen der Öffentlichkeit auf starke Kritik stieß, jedoch nie von kirchenoffizieller Seite, auch nicht von Frau Käßmann, je verurteilt wurde. Aus diesem Artikel wird wie folgt zitiert: „Ein jüdischer Staat ist eben ein Staat, der seine jüdische Identität – die nichtjüdische Bevölkerung ausgrenzend und damit den einen und universalen Gott, der für Juden und Nichtjuden in gleicher Weise da sein will, verleugnend – mit staatlicher Gewalt nach innen und nach außen sichern will. Der Glaube an Gott kann nicht durch staatliche Gewalt gesichert werden.“ Nach all diesen Fakten kommt der Autor zu dem Schluss, dass die Evangelische Kirche eine mehr als marginale Rolle an den Geschehnissen im III. Reich hatte und dass die Aufarbeitung bis heute nicht hinreichend erfolgt ist. 69 Jahre sind nun nach dem Ende des II. Weltkrieges vergangen. Im Lutherjahr 2017 hat die evangelische Kirche in Deutschland wohl die historisch letzte Chance, sich von den antisemitischen Äußerungen Luthers eindeutig zu distanzieren und auch für das Fehlverhalten der Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 52 von 78 evangelischen Kirche im Dritten Reich zu entschuldigen und Widergutmachung zu leisten. Spätestens das Jahr 2017 wird zeigen, wie die evangelische Kirche wirklich zu ihren christlichen Werten steht. Literatur: Friedrich Battenberg: Die Juden in Deutschland vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Oldenbourg, München 2001, ISBN 3-486-55777-7 Stefan Litt: Juden in Thüringen in der Frühen Neuzeit (1520–1650). Böhlau, Wien 2004, ISBN 3412-08503-0 Hans-Martin Barth: Die Theologie Martin Luthers: eine kritische Würdigung. Gütersloher Verlagshaus, 2009, ISBN 978-3-579-08045-1 Joachim Beckmann (Hrsg.): Kirchliches Jahrbuch für die evangelischen Kirchen in Deutschland 1933–1944. 2. Auflage. 1976 Manfred Gailus: Kirche Amtshilfe: Die Kirche und die Judenverfolgung im Dritten Reich; Vandenhoeck & Ruprecht Verlag, 2008, ISBN 978-3525553404 Bernd Rebe: Die geschönte Reformation: Warum Martin Luther uns kein Vorbild mehr sein kann – Ein Beitrag zur Lutherdekade; Tectum Verlag, 2012; ISBN 978-3828830165 Wolfgang Greive, Peter N. Prove (Hrsg.): Jüdisch-lutherische Beziehungen im Wandel? Kreuz Verlag, Stuttgart 2003, ISBN 3-905676-29-X Christian Staffa (Hrsg.): Vom protestantischen Antijudaismus und seinen Lügen. Versuche einer Standort- und Gehwegbestimmung des christlich-jüdischen Gesprächs. Tagungstexte Evangelische Akademie Sachsen-Anhalt, Wittenberg 1997, ISBN 3-9805749-0-3 Clemens Vollnhals: Evangelische Kirche und Entnazifizierung 1945-1949. R.Oldenbourg Verlag, München 1989, ISBN 3-486-54941-3 Rainer Lächele: Germanisierung des Christentums – Heroisierung Christi, in: Stefanie von Schnurbein, Justus H. Ulbricht (Hrsg.): Völkische Religion und Krisen der Moderne. Entwürfe „arteigener“ Glaubenssysteme seit der Jahrhundertwende, Königshausen und Neumann GmbH, Würzburg 2001, ISBN 3-8260-2160-6 Internetquellen: http://www.ev-theol.uni-bonn.de/fakultaet/ST/lehrstuhl-pangritz/pangritz/copy5_of_texte-zumdownload/pangritz_luther.pdf http://www.faz.net/aktuell/politik/fremde-federn-margot-kaessmann-die-dunkle-seite-derreformation-12131764.html http://de.wikipedia.org/wiki/Kirchenkampf#Haltung_der_NSDAP_zu_den_Kirchen http://pfarrerverband.medio.de/pfarrerblatt/index.php?a=show&id=3030 http://www.spiegel.de/politik/deutschland/evangelische-kirche-ueber-adolf-eichmanngrundanstaendige-gesinnung-a-781429.html http://www.compass-infodienst.de/Susannah_Heschel__Theologie_und_Rassentheorie__Wie_Jesus_im_deutschen_Protestan.4845.0.html http://www.zeit.de/2013/08/Holocaust-Bet-und-Lehrhaus-Berlin-Walter-Hoff Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 53 von 78 Thule Gesellschaft – ein Ideengeber der NS-Ideologie: Bis heute ist nicht eindeutig geklärt, woher die Ideologie der Nationalsozialisten stammt und es kann dies wahrscheinlich nicht mehr abschließend wissenschaftlich geklärt werden. Es ist aus historischer Sicht jedoch sehr interessant, dass viele der kranken Ideen der Nationalsozialisten mit Vorstellungen der zu Ende des 1. Weltkriegs entstandenen Thule Gesellschaft korrespondierenden und dass die nachfolgenden fünf von vierundzwanzig Hauptkriegsverbrechern Mitglieder/Gäste der ThuleGesellschaft waren: Wilhelm Frick (1877 – 1946): von 1933 – 1945 Reichsminister des Inneren, als einer der 24 im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg angeklagt, am 1. Oktober 1946 zum Tode verurteilt und am 16. Oktober 1946 hingerichtet Julius Streicher (1985 – 1946): Gründer, Eigentümer und Herausgeber des antisemitischen Hetzblattes „Der Stürmer“, als einer der 24 im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg angeklagt, am 1. Oktober 1946 zum Tode verurteilt und am 16. Oktober 1946 hingerichtet Alfred Rosenberg (1893 – 1946): Führender Ideologe der NSDAP und als Leiter des Reichsministeriums für die besetzten Ostgebiete mitverantwortlich für die systematische Vernichtung der Juden, als einer der 24 im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg angeklagt, am 1. Oktober 1946 zum Tode verurteilt und am 16. Oktober 1946 hingerichtet Hans Frank (1900 – 1946): Adolf Hitlers Rechtsanwalt und höchster Jurist im III. Reich, als einer der 24 im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg angeklagt, am 1. Oktober 1946 zum Tode verurteilt und am 16. Oktober 1946 hingerichtet Rudolf Hess (1894 – 1987): Stellvertreter Hitlers, als einer der 24 im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg angeklagt, am 1. Oktober 1946 zu lebenslanger Haft verurteilt. Vergegenwärtigt man sich diese Liste, so kann kaum davon gesprochen werden, dass die Thule Gesellschaft bzw. die Wertvorstellungen der Thule Gesellschaft durchaus von besonderer Relevanz für die Nationalsozialisten war. Gründung und Vorgeschichte Die Gesellschaft wurde am 17./18. August 1918 mit der Bezeichnung „Thule Gesellschaft, Orden für deutsche Art“ von Rudolf von Sebottendorf in München gegründet. Sie ging aus dem geheimen antisemitischen Germanenorden hervor und sollte einen Rahmen für öffentliche politische Aktivitäten bieten, ohne auf den Orden selber aufmerksam zu machen. Vorläufer der Thule – Gesellschaft sind: Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 54 von 78 1. der Germanenorden 2. der Reichshammerbund Der Germanenorden wurde am 12. März 1912 in Leipzig gegründet und verfolgte eindeutig antisemitische Züge. Als Hauptziel des Germanenordens wurde formuliert, Juden und ihre Aktivitäten zu überwachen, entsprechende Informationen zu sammeln und diese zu verbreiten. Wer dem Orden beitreten wollte, musste eine tadellose „germanische“ Abstammung nachweisen, durfte nicht körperlich behindert sein und sollte idealerweise blondes Haar, blaue bis hellbraune Augen und eine helle Haut aufweisen. Auch bezüglich des Ehepartners wurden entsprechende Angaben verlangt. In einem Manifest von 1912 propagierte der Germanenorden eine „arisch-germanische religiöse Wiedergeburt“. Mit dem Ziel einer rassisch reinen deutschen Nation forderte er bereits die Deportation von „Juden, anarchistischen Mischlinge[n] und Zigeuner[n]“. Zu den verwendeten Symbolen gehörte die Swastika („Hakenkreuz“). Diese war damals in völkischen Kreisen allgemein gebräuchlich, aber es war der Germanenorden, über dessen Nachfolgeorganisation Thule-Gesellschaft dieses Symbol in das Repertoire des Nationalsozialismus Einzug fand. Bekannt wurde der Germanenorden unter anderem dadurch, dass er bei der Rekrutierung des Attentäters beteiligt war, der 1921 den ehemaligen Finanzminister der Weimarer Republik und Unterzeichner des Waffenstillstandsabkommens von Compiègne, Matthias Erzberger (1875 – 1921) im Auftrag der Organisation Consul ermordete. Der Reichshammerbund war eine völkische Vereinigung, die 1912 in Leipzig von dem Verleger und Autor Theodor Fritsch gegründet wurde. Fritsch war Herausgeber der antisemitischen Zeitschrift Der Hammer, die in regionalen Lesezirkeln von Anhängern gelesen wurde. Diese Anhängerschaft wurde auch als Hammerbewegung bezeichnet. Mit dem Reichshammerbund wollte Fritsch die verschiedenen deutschen völkisch-antisemitischen Gruppierungen des politischen Antisemitismus der Kaiserzeit zu einem Verband vereinen. Der Reichshammerbund löste sich nach 1919 allmählich auf. Bestehen blieb ein „Hammer-Verlag“ in Leipzig, der weiter antisemitische Schriften produzierte, z. B. 1924 die Schrift Die Protokolle der Weisen von Zion mit Vor- und Nachwort von Fritsch. Die Protokolle der Weisen von Zion sind ein auf Fälschungen beruhendes antisemitisches Pamphlet. Es wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts von unbekannten Redakteuren auf der Grundlage mehrerer fiktionaler Texte erstellt und gilt als einflussreiche Programmschrift antisemitischen Verschwörungsdenkens. Die Protokolle geben vor, geheime Dokumente eines Treffens von jüdischen Weltverschwörern zu sein. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde der Text zunehmend international verbreitet, obwohl die Protokolle bereits 1921 in der Londoner Times als Fälschung entlarvt worden waren. Bekannt wurden insbesondere die Ausgabe aus den 1920er Jahren von Henry Ford in den Vereinigten Staaten und die deutschen Ausgaben von Gottfried zur Beek und Theodor Fritsch. Trotz der Aufdeckung als Fälschung unter anderem im Berner Prozess glauben noch heute Antisemiten und Anhänger von Verschwörungstheorien in der ganzen Welt an die Authentizität oder Wahrheit der Protokolle. Interessant ist hierbei sicherlich, dass der spätere NSDAP-Chefideologe Alfred Rosenberg 1923 einen ausführlichen Kommentar schrieb, in dem er die Nachkriegsentwicklung als Bestätigung der in den Protokollen geschilderten Pläne ausdeutete. Der Kommentar wurde ein publizistischer Erfolg, er erlebte 1924, 1933, 1938 und 1941 Neuauflagen. 1927 erschien seine Schrift „Der Weltverschwörerkongreß zu Basel“, in dem er sich Nilus‘ These zu Eigen machte, wonach die Protokolle die geheimen Beschlüsse des Zionistenkongresses des Jahres 1897 enthielten.[ Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 55 von 78 Rudolf von Sebottendorf – offizieller Gründer der Thule Gesellschaft Rudolf von Sebottendorf wurde am 09.11.1875 in Hoyerswerda geboren und starb am 8. Mai 1945 in Istanbul. Er war Okkultist, Abenteurer, Verleger und Antisemit. Eigentlich hieß er jedoch Adam Alfred Rudolf Glauer. Rudolf Glauer wuchs als Sohn eines Lokomotivführers in Hoyerswerda auf. Er machte sein Abitur und ging nach Berlin, um an der Technischen Hochschule Ingenieurwissenschaften zu studieren, brach sein Studium aber ab. Im April 1898 heuerte er als Heizer auf einem Schiff von Bremerhaven nach New York an und fuhr mehrere Jahre zur See, u. a. auch in den Orient, wo er sich mit Okkultismus beschäftigte. Von 1901 bis 1914 hielt er sich wiederholt in der Türkei auf. In Bursa machte er 1901 die Bekanntschaft eines griechischen Juden namens Termudi, der ihn in eine Freimaurerloge eingeführt haben soll. Im Orient wurde Glauer nach eigenen Angaben von einem (ausgewanderten) Baron Heinrich von Sebottendorf adoptiert und nannte sich seitdem Rudolf Freiherr von Sebottendorf. Eine erste Ehe hielt nur einige Monate. Er erwarb die türkische Staatsbürgerschaft und nahm als Soldat der osmanischen Armee am Zweiten Balkankrieg von 1913 teil. Anschließend kehrte er nach Deutschland zurück und ließ sich erst in Berlin, dann in Kleinzschachwitz nieder, einem Dresdener Villenvorort, wo er für 50.000 Reichsmark ein großes Anwesen erstand. Wegen seiner türkischen Staatsangehörigkeit wurde er im Ersten Weltkrieg nicht zum Militär einberufen. 1915 heiratete er in Wien Bertha Anna Iffland, die Tochter eines reichen Berliner Kaufmanns. Seitdem lebte er vom Vermögen seiner Frau. Er trat dem völkischen Germanenorden bei und erhielt den Auftrag, einen bayerischen Ableger des Ordens aufzubauen. Diesen gründete er 1918 mit der radikal-antisemitischen Thule-Gesellschaft in München. Die Mitglieder der Thule-Gesellschaft begannen im Januar, noch während des Krieges, mit rabiater, antisemitisch geprägter Propagandatätigkeit, mit der sie die Entwicklung des völkischen Radikalismus förderte. 1919 verließ Sebottendorf die Thule-Gesellschaft, weil man ihm vorwarf, mitschuldig am Tod von sieben Mitgliedern gewesen zu sein. Weil die Räteregierung Mitgliederlisten bei ihm beschlagnahmt hatte, waren mehrere Thule-Gesellschafter in Geiselhaft genommen und am 30. April 1919 von Rotgardisten ermordet worden. Taten der Thule Gesellschaft Ermordung des Ministerpräsidenten des Freistaates der bayerischen Republik Kurt Eisner: An der Ermordung Eisners am 21. Februar 1919 war die Thule-Gesellschaft indirekt beteiligt: Der Mörder Anton Graf von Arco auf Valley war zuvor zeitweilig Mitglied der Gesellschaft gewesen. Er wurde wegen seiner jüdischen Mutter ausgeschlossen und wollte durch den Mord an Eisner seine nationale Gesinnung beweisen. Gründung des publizistischen Parteiorgans der NSDAP „Völkischer Beobachter“: Im Juli 1918 kaufte die Thule Gesellschaft mit dem Vermögen der Frau des Thule Gründers Sebottendorf den „Münchner Beobachter“ von der Franz Eher Nachfolger Verlags GmbH. Das Boulevardblatt wurde unter Sebottendorfs Chefredaktion zum Zentralorgan der Thule-Gesellschaft. Im August 1918 wurde die Zeitung in „Völkischer Beobachter“ umbenannt. Nachdem im November 1918 die Münchner Räterepublik ausgerufen worden war, hetzte Sebottendorf in seiner Zeitung gegen eine „jüdischen Weltverschwörung“, die angeblich hinter dem Rätesystem und der Novemberrevolution stecke. Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 56 von 78 Gründung der NSDAP Vorläuferorganisation DAP: Ob im Auftrag der Thule Gesellschaft oder aus persönlichen Gründen war das Thule Mitglied Karl Harrer im Januar 1919 an der Gründung der Deutschen Arbeiterpartei DAP beteiligt. Adolf Hitler kam erstmals am 12. September 1919 in Kontakt mit der DAP. Er nahm wohl auf Veranlassung der „Propagandaabteilung Ib/P“ des Reichswehrgruppenkommandos 4 als V-Mann an Versammlungen der zahlreichen zu dieser Zeit in München neu gegründeten politischen Parteien teil. Hitler dürfte wohl „eine Woche“ nach dessen Besuch der DAP-Versammlung am 12. September 1919 Mitglied der DAP geworden sein. Bereits zum 20. Februar 1920 wurde dann die Deutsche Arbeiterpartei DAP in die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei NSDAP vorgenommen. Dietrich Eckart und die Thule Gesellschaft Ob Dietrich Eckart wirklich Mitglied der Thule Gesellschaft war, lässt sich heute nicht mehr mit Bestimmtheit sagen. Nachgewiesen ist jedoch, dass er am 30. Mai 1919 einen wichtigen Vortrag bei der Thule Gesellschaft gehalten hat. Vieles spricht jedoch dafür, dass er kein formelles Mitglied war, da er –trotz seines großen Einflusses auf DAP und NSDAP- auch dort nie offizielles Mitglied wurde. Kommen wir nun aber zur Bedeutung des Thule Gastes Dietrich Eckarts (1868 – 1923) für die Ideologie der Nationalsozialisten: Es ist nachgewiesen, dass sich Hitler und Eckart im Herbst 1919 kennenlernten und miteinander befreundet waren. Eckart vertrat wie Hitler eine gnostisch-dualistische Weltsicht, in der dem Judentum die Rolle des ewigen Gegenspielers Deutschlands zukam. Er prägte 1919 den nationalsozialistischen Kampfbegriff „Drittes Reich“, womit vor allem eine Verbindung von christlichem Millenarismus und politischem Ziel gemeint war: „Im deutschen Wesen ist Christ zu Gast – drum ist es dem Antichristen verhasst.“. Von Eckart stammte auch die Bezeichnung „Führer“ für Hitler, da er diesen im Dezember 1921 erstmals so bezeichnete. Eckart verfasste das Sturmlied der SA und machte die im Refrain verwendete Formulierung „Deutschland erwache!“ zum NS-Schlachtruf aus. Im August 1921 wurde Eckart im Übrigen Chefredakteur des oben erwähnten NS Propagandablattes Völkischen Beobachters, womit sich der Kreis zur Thule Gesellschaft erneut schließt. 1923 verstarb Eckart an einem Herzleiden. Seine Tätigkeit als Chefredakteur des Völkischen Beobachters übernahm darauf der Thule Aktivist Alfred Rosenberg. Wie innig dabei die Beziehung zwischen Hitler und Eckart gewesen sein muss, zeigt sich daran, dass Adolf Hitler sein 1925 erschienenes Buch „Mein Kampf“ Eckart widmete. Ende der Thule Gesellschaft Begonnen hatte die Thule Gesellschaft mit 200 Mitgliedern. Da viele Mitglieder nach und nach in die NS – Organisationen wechselten, blieben 1925 nur noch 20 Mitglieder übrig und die Gesellschaft wurde aufgelöst. Nun kann man natürlich sagen, warum beschäftigen wir uns in Hinblick auf die historische Aufarbeitung dann überhaupt mit der Thule Gesellschaft. Wir beschäftigen uns damit, da in Zukunft verhindert werden, dass sich neue antidemokratische, antisemitische Gruppierungen gründen, die klein anfangen, aber dann womöglich wachsen und einen schlimmen Schaden anrichten können. Wir sind es unserer Vergangenheit schuldig, das Entstehen jeder neuen antidemokratischen, antisemitischen Gruppierung zu verhindern, egal wie klein und unbedeutend sie am Anfang erscheinen mag. Literatur: Joachim Fest, Hitler. Eine Biographie. Frankfurt am Main,Propyläen 1973, ISBN 3-549-07172-8 Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 57 von 78 Hermann Gilbhard, Die Thule Gesellschaft – Vom okkulten Mummenschanz zum Hakenkreuz, Kiesling Verlag 1994, ISBN 978-3930423002 Nicholas Goodrick-Clarke, Die okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus, marixverlag GmbH, 2004, ISBN 978-3-937715-48-3 Wolfgang Benz, Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Band 5 Organisationen, De Gruyter / Sauer, ISBN 978-3-598-24078-2 Martin Broszat: Die Machtergreifung, Der Aufstieg der NSDAP und die Zerstörung der Weimarer Republik. Dtv, München 1994, ISBN 3-423-04516-7. Claus-Ekkehard Bärsch: Die politische Religion des Nationalsozialismus. Die religiösen Dimensionen der NS-Ideologie in den Schriften von Dietrich Eckart, Joseph Goebbels, Alfred Rosenberg und Adolf Hitler. 2. überarb. Aufl., Fink, München 2002, ISBN 3-7705-3172-8. Internetquellen: http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/artikel/artikel_44318 http://www.relinfo.ch/thule/info.html http://www.hamburg.de/contentblob/102176/data/brennpunkt-esoterik.pdf https://www.dhm.de/lemo/kapitel/kaiserreich/antisemitismus/reichshammerbund http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/artikel/artikel_44345 Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 58 von 78 Der Holocaust an Sinti und Roma Zur Begriffsdefinition von Sinti und Roma Unter dem Begriff „Sinti und Roma“ versteht man die offizielle Bezeichnung für die Gesamtheit der seit mehreren Jahrhunderten in Europa ansässigen Roma einschließlich ihrer zahlreichen Untergruppen, wobei „Sinti“ die in West- und Mitteleuropa Beheimateten und „Roma“ diejenigen bezeichnet, die ostbzw. südosteuropäischer Herkunft sind. Der Begriff „Zigeuner“ ist eine bis ins Mittelalter reichende Fremdbezeichnung der jeweiligen Mehrheitsbevölkerung und wird von der Minderheit der Sinti und Roma als diskriminierend abgelehnt. Es gibt derzeit 70.000 in Deutschland lebende deutsche Sinti und Roma. Der Begriff „Roma“ ist der Obergriff für eine nach historisch-geografischer Herkunft aus dem indischen Subkontinent und ihrer Sprache, dem „Romanes“, seit mehr als 600 Jahren in Europa beheimateten Bevölkerungsgruppe. Die Sprache der Roma wird derzeit von mindestens 3,5 Millionen Menschen weltweit gesprochen. Die Wissenschaft der Linguistik rechnet das Romanes zu den neuindischen Sprachen und weist es Zentralindien zu; nach leicht abgewandelter Mindermeinung ist Romanes mit der altindischen Hochsprache Sanskrit verwandt. Eine bemerkenswerte Besonderheit besteht darin, dass das „Romanes“ bis in das 20. Jahrhundert weitestgehend nicht schriftlich war. Auch wenn sich über die Linguistik belegen lässt, dass die Roma ursprünglich einst aus dem indischen Sprachraum kamen, so lässt sich deren genaue Wanderung nur dahingehend bestimmen, dass die Roma spätestens im 14. Jahrhundert von Kleinasien kommend nach Südosteuropa migrierten und von dort weiter in das „Heilige Römische Reich Deutscher Nation“ gelangten. In Deutschland werden erstmals 1407 Roma in der Bischofsstadt Hildesheim erwähnt. Im Jahre 1446 wurde einem „Heincz von Mulhusen, zyguner“ das Bürgerrecht vom Magistrat der Stadt Frank am Main verliehen. Es ist somit nachgewiesen, dass die Sinti und Roma eine seit Jahrhunderten in Deutschland lebende Minderheit sind. Während im Mittelalter den Sinti und Roma von dem deutschen Feudalwesen oftmals noch so genannte Schutzbriefe ausgestellt wurden, änderte sich vieler Orten gegen Ende des 15. Jahrhunderts, d.h. im Rahmen des Überganges vom Mittelalter zur Neuzeit, das Verhältnis zu Sinti und Roma. Ein aus soziologischer Sicht interessanter Aspekt ist dabei, dass Antiziganismus und Antisemitismus von Anfang religiös determiniert waren. Roma wurden in geschichtlicher Sicht oftmals als Heiden bezeichnet, obgleich viele von ihnen getaufte Christen waren und sind. Die deutschen Sinti und Roma wurden 1995 als nationale Minderheit in Deutschland mit eigener Minderheitensprache, verbunden mit dem Ziel der gleichberechtigten Teilhabe am gesellschaftlichen und politischen Leben, anerkannt. Aus dieser verfassungsrechtlichen Sicht haben diese deutschen Sinti und Roma die gleichen Rechte wie zum Beispiel die deutschen Friesen im Norden oder die Sorben im Osten der Bundesrepublik Deutschland. Dachorganisation der Sinti und Roma in der Bundesrepublik Deutschland ist der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma, dessen Vorsitzender Romani Rose ist. Beschäftigen wir uns nun aber mit der originär relevanten Thematik „Sinti und Roma und der Holocaust“: Von der Weimarer Republik bis zum Kriegsbeginn Es darf und sollte nicht vergessen werden, dass Sinti und Roma oftmals im 1. Weltkrieg (1914-1918) als deutsche Soldaten ihren Militärdienst verrichtet hatten, gleichwohl aber zu den gesellschaftspolitischen Verlierern der Weimarer Republik gehörten. Schon im Deutschland eines Kaiser Wilhelm II. gab es eine Forderung nach „Seßhaftmachung der Zigeuner“, die während der Weimarer Republik in zahlreichen Erlassen mündeten, welche die „Ausweisung ausländischer Sinti und Roma“ und die „Erschwerung einer reisenden Lebensweise bei inländischen Sinti und Roma“ zum Ziel Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 59 von 78 hatte. Gegen Ende der 1920er, d.h. zu einer Zeit, in der Hitler noch nicht die Macht ergriffen hatte, wurde durch die Einführung von Sonderausweisen für Sinti und Roma eine lückenlose Erfassung aller in Deutschland lebenden Sinti und Roma vorangetrieben, die nicht nur diskriminierend war, sondern Hitler später sein verbrecherisches Handwerk erleichtern sollte. Welche Haltung Hitler und die NSDAP in Sachen Sinti und Roma hatten, lässt sich daran erkennen, dass unmittelbar nach der Machtergreifung Planungen für ein Reichszigeunergesetz einsetzten. Zwar wurde dieses Gesetz nie verabschiedet, gleichwohl wurden aber alle in der Weimarer Republik erlassenen Diskriminierungen in dem am 6. Juni 1936 verabschiedeten „Erlass zur Bekämpfung der Zigeunerplage“ zusammengefasst und die Sinti und Roma als „dem deutschen Volkstum fremdes Zigeunervolk“ diffamiert. Gleich zu Beginn der NS-Zeit wurden Sinti und Roma Opfer des Rassenwahns von Hitler. Auf Grundlage des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 14. Juni 1933 wurden die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass spätestens ab 1934 auch Sinti und Roma Opfer von Zwangssterilisierungen wurden. Weitere Einschränkungen, denen die Sinti und Roma ausgesetzt waren, waren die 1935 eingeführten Gesetze „Ehegesundheitsgesetz“ sowie „Blutschutzgesetz“, da das NS-Regime die Ehe- und Fortpflanzungsbeschränkungen ausdrücklich auf „Artfremde“ ausdehnte. Durch die am 15. September 1935 verkündeten „Nürnberger Rassengesetze“ wurden Sinti und Roma genau wie Juden zu Bürgern mit eingeschränkten Rechten herabgestuft und Verbindungen zwischen Deutschen einerseits sowie Sinti und Roma andererseits verboten. Der damalige Reichsinnenminister Frick erklärte hierzu am 3. Januar 1936: „Zu den artfremden Rassen gehören in Europa außer den Juden regelmäßig nur die Zigeuner“ Mitte 1935 begann die Stadt Köln damit, Sinti und Roma in umzäumte und bewachte Lager am Rande der Stadt zu konzentrieren. 1936 wurde dieses (Kölner) Modell in Berlin, Frankfurt am Main sowie Magdeburg kopiert und 1937 wurden derartige Lager für Sinti und Roma in Düsseldorf, Essen, Kassel und Wiesbaden „eröffnet“. Dass dies weiten Teilen der Bevölkerung in diesen Städten verborgen blieb, ist nur schwer zu glauben. Auch der 1933 verabschiedete Erlass gegen Berufsverbrecher, wonach gegen diese eine sofortige polizeiliche „Vorbeugungshaft“ angeordnet werden konnte, wurde in großem Umfang gegen Sinti und Roma angewandt. Hierdurch war es möglich, „Berufsverbrecher“ unbefristet in Konzentrationslager zu inhaftieren. Durch den Asozialenerlass aus dem Dezember 1937 als Ergänzung zum Berufsverbrechererlass erhielt die Polizei hiernach die Blankovollmacht, Zigeuner als Asoziale unbefristet in Konzentrationslager zu inhaftieren. Aber auch dies reichte dem Reichsinnenministerium nicht. Da die Polizei nach Auffassung des Reichsinnenministeriums den Asozialenerlass nicht mit genügender Härte umgesetzt hatte, wurden durch die im Juni 1938 durchgeführte Polizeiaktion „Arbeitsscheu Reich“ weitere 10.000 Personen, darunter eine große Anzahl Roma und Sinti, in Konzentrationslager eingewiesen. Auch die unter der Leitung von Goebbels am 22. September 1933 errichtete Reichskulturkammer stellte einen weiteren Einschnitt dar, da ein nunmehr rassisch begründeter Ausschluss einem Berufsverbot für viele Sinti und Roma gleichkam. Im Herbst 1935 begann der systematische Ausschluss aller Nichtarier aus der Reichstheaterkammer und zum Jahreswechsel 1937/1938 waren alle Sinti und Roma aus der Reichsmusikkammer ausgeschlossen. Sinti und Roma hatten somit spätestens ab diesem Zeitpunkt keinerlei Möglichkeiten mehr, sich aktiv in das kulturelle Leben einzubringen. Im November 1937 wurde unter Leitung von Dr. Robert Ritter in Berlin die „Rassenhygienische Forschungsstelle“ gegründet, die bei der totalen Erfassung von Sinti und Roma eine besondere Rollen spielen sollte. Diese „Forschungsstelle“ kooperierte eng mit der am 1. Oktober 1938 auf Anweisung Himmlers beim Reichskriminalamt in Berlin eingerichteten Reichszentrale zur Bekämpfung des Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 60 von 78 Zigeunerwesens. Spätestens mit Himmlers Erlass vom 8. Dezember 1938 war dann aber evident, was die Nazis wirklich wollten: „Es ist die Regelung der Zigeunerfrage aus dem Wesen dieser Rasse heraus in Angriff zu nehmen.“ Im Rahmen der „endgültigen Lösung der Zigeunerfrage“ ordnete Himmler an, dass alle Sinti und Roma im Deutschen Reich zu erfassen sind. Zum Versuch der endgültigen Vernichtung während des II. Weltkrieges Im Rahmen einer Besprechung des Amtschefs sowie der Leiter der Einsatzgruppen im Reichssicherheitshauptamt wurde gleich nach Kriegsbeginn am 21. September 1939 beschlossen, die Juden sowie die restlichen „30.000 Zigeuner“ aus dem Reichsgebiet in das besetzte Polen zu deportieren. Im Mai 1940 erfolgten dann die ersten Massendeportationen ganzer Sinti und Roma – Familien in das besetzte Polen. Grundlage hierzu war ein Befehl Himmlers vom 27. April 1940. Die Einstellung der deutschen Wehrmacht wurde am 11. Februar 1941 offensichtlich: An diesem Tage ordnete nämlich das Oberkommando der Wehrmacht aus „rassepolitischen Gründen“ die „Entlassung von allen Zigeunern und Zigeunermischlingen aus dem aktiven Wehrdienst an. Nach dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion im Sommer 1941 wurden hinter der Front systematisch Sinti und Roma von den Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei, der SS sowie von Einsatzkommandos der Wehrmacht erschossen. Im Rahmen des Nürnberger Kriegsverbrecherprozesses gestand der Einsatzgruppenleiter Otto Ohlendorf auch: „Es bestand kein Unterschied zwischen Zigeunern und Juden. Für beide galt damals der gleiche Befehl.“ Wie ernst man es mit diesem systematischen Mord meinte, lässt die Anordnung des Kreishauptmanns im Bezirk Warschau-Land vom 28. Mai 1942 erkennen, wonach „Zigeuner in den jüdischen Wohnbezirk einzuweisen sind und im Warschauer Ghetto Armbinden mit der Aufschrift Z tragen mussten". Die meisten der Sinti und Roma, welche sich zu diesem Zeitpunkt im Warschauer Ghetto befanden, wurden später im Konzentrationslager Treblinka ermordet. 1942 brachte aber noch weiteres Leid. Im Zeitraum Juni bis September 1942 wurden mehr als 25.000 (!) rumänische Sinti und Roma nach Transnistrien deportiert, wobei nur die wenigstens von dort lebend zurückkommen sollten. Höhepunkt der NS-Perversität sollte dann der 16. Dezember 1942 sein, der Tag von Himmlers Auschwitz-Erlass. Dieser bildete schließlich für 13.000 Sinti und Roma aus dem Deutschen Reich und Österreich die Grundlage für deren Deportation in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. Dort richtete die SS im Lagerabschnitt B II e das so genannte „Zigeunerlager“ ein. Um aus NS-Sicht eine Legitimation für den Vermögensraub der nach Auschwitz-Birkenau deportierten Sinti und Roma zu haben, wurde am 30. Januar 1943 vom Reichssicherheitshauptamt ein Erlass über die Einziehung des Vermögens der nach Ausschwitz-Birkenau deportierten Sinti und Roma proklamiert. Am 23. März 1943 begannen dann die ersten Massenvernichtungsaktionen im „Zigeunerlager Auschwitz-Birkenau". Es sollte jedoch noch schlimmer kommen. Am 30. Mai 1943 wurde der berüchtigte Josef Mengele Lagerarzt im „Zigeunerlager“, wo er Häftlinge für seine medizinischen Versuche missbrauchte. Mengeles „Zwillingsforschung“ -im Übrigen von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördertfielen unzählige Sinti, Roma und Juden zum Opfer. Am 2. August 1944 wurde dann das „Zigeunerlager“ aufgelöst. Die letzten 2900 Überlende, d.h. zumeist Kinder, Frauen und Alte, wurden in der Nacht zum 3. August 1944 in den Gaskammern ermordet. Zweifelsfrei könnte man die Dokumentation dieser unvorstellbaren Mordserie hier noch fortsetzen, gleichwohl dürfte aber allein schon durch diese Schilderung eindeutig sein, dass der Völkermord der Nazis an den Sinti und Roma sowie Juden in der Menschheitsgeschichte der „negative Höhepunkt“ darstellt und in einem historischen Vergleich zwischen dem römischen Kaiser Nero und dem NS-Regime der römische Kaiser Nero eher als Friedensengel bezeichnet werden müsste. Es wird geschätzt, dass im nationalsozialistisch besetzten Europa und in den mit Hitler im II. Weltkrieg verbündeten Staaten mehr als 500.000 Sinti und Roma ermordet wurden. Von den im III. Reich Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 61 von 78 erfassten 35.000 – 40.000 erfassten deutschen sowie österreichischen Sinti und Roma wurden circa 25.000 ermordet. Die (anfangs) nicht geglückte Aufarbeitung des Holocaust an Sinti und Roma Bzgl. des Völkermordes an den Sinti und Roma im III. Reiches war man in den ersten Nachkriegsjahren primär an der Reduktion der staatlichen Entschädigungen und erst sekundär an einer ernsthaften Aufarbeitung der Vorkommnisse interessiert. Kennzeichnend hierfür war zum Beispiel ein Erlass des Lands Baden-Württemberg aus dem Februar 1950, wonach „Zigeuner überwiegend nicht aus rassistischen Gründen sondern wegen ihrer asozialen und kriminellen Haltung inhaftiert worden seien.“ In der Regel wurden deshalb Entschädigungsanträge von Sinti und Roma abgelehnt und nur wenige wagten den kostspieligen Klageweg. In der deutschen Justiz etablierte sich bis Mitte der 1950er eine Urteilspraxis, wonach die vor dem „Auschwitz-Erlass“ ergriffenen Maßnahmen gegen Sinti und Roma keine rassistische Verfolgung gewesen seien. Im Jahr 1956 wurde vom Bundesgerichtshof sogar in einem Grundsatzurteil festgestellt, dass eine rassische Verfolgung der Sinti und Roma erst ab März 1943 anzunehmen sei. Alle diesem BGH Grundsatzurteil widersprechenden Urteile wurden bis Ende 1963 stets von höheren Instanzen kassiert. Somit leugnete die deutsche Justiz in der Zeit bis 1963 die rassische Verfolgung der Sinti und Roma für den Zeitraum 1933 - 1943. Erst am 17. März 1982, d.h. 37 (!) Jahre nach Ende des II. Weltkrieges wurde der Völkermord an den Sinti und Roma offiziell von der deutschen Bundesregierung im Rahmen der nachfolgenden Erklärung des damaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt anerkannt: „Den Sinti und Roma ist durch die NSDiktatur schweres Unrecht zugefügt worden. Sie wurden aus rassischen Gründen verfolgt. Diese Verbrechen haben den Tatbestand des Völkermords erfüllt.“ Getreu des Mottos „Zukunft braucht Erinnerung“ ist es an der Zeit, sich des in der deutschen Geschichtsbewältigung oftmals leider nur rudimentär behandelten und Jahrzehnte sogar teilweise geleugneten Holocaust an den Sinti und Roma im III. Reich zu erinnern und sich kritisch mit ihm auseinander zu setzen. Gerade zu einer Zeit, in der wieder Antiziganismus in Teilen der Bevölkerung offen zur Schau gestellt wird, ist es umso wichtiger, sich eingehend mit den Themengebieten „Holocaust an Sinti und Roma im III. Reich“ sowie „Antizinganismus“ auseinanderzusetzen, damit sichergestellt ist, dass sich der schrecklichste Völkermord in der Geschichte der Menschheit, welcher sich von 1933 bis 1945 ereignete, niemals wiederholen wird. Literatur: Marion Bonillo, Zigeunerpolitik im Deutschen Kaiserreich 1871-1918, Verlag Peter Lang, 2001 Michael Zimmermann, Rassenutopie und Genozid – Die nationalsozialistische „Lösung der Zigeunerfrage, Hamburg, 1996 Sybil Milton, Vorstufe zur Vernichtung. Die Zigeunerlager nach 1933, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 43 (1995) 1, S. 115-130 Michael Schenk, Rassismus gegen Sinti und Roma: zur Kontinuität der Zigeunerverfolgung innerhalb der deutschen Gesellschaft von der Weimarer Republik bis in die Gegenwart, Frankfurt/M. u.a. 1994 Karola Fings/Frank Sparing, Rassismus, Lager, Völkermord. Die nationalsozialistische Zigeunerverfolgung in Köln, Köln 2005, S. 93-108 Martin Luchterhandt, Der Weg nach Birkenau. Entstehung und Verlauf der nationalsozialistischen Verfolgung der "Zigeuner", Lübeck 2000, S. 123-137 und S. 206-226 Waclaw Dlugoborski (Hrsg.), Sinti und Roma im KL Auschwitz-Birkenau 1943-44, Oswiecim 1998 (poln.) Stowarzyszenie Rom w Polsce (Vereinigung der Roma in Polen) (Hrsg.), Das Schicksal der Sinti und Roma im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, Warszawa 1994 (poln.) Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 62 von 78 Katharina Stengel, Tradierte Feindbilder. Die Entschädigung der Sinti und Roma in den fünfziger und sechziger Jahren, Frankfurt/M. 2004 Gilad Margalit, Die Nachkriegsdeutschen und "ihre Zigeuner", Berlin 2001, S. 117-173 Wolfgang Ayaß, Ein Gebot der nationalen Arbeitsdisziplin. Die Aktion "Arbeitsscheu Reich" 1938, in: ders./Reimar Gilsenbach/Ursula Körber (Hrsg.) Michael Zimmermann, Zigeunerpolitik und Zigeunerdiskurs im Europa des 20. Jahrhunderts, in: ders. (Hrsg.), Zwischen Erziehung und Vernichtung. Zigeunerpolitik und Zigeunerforschung im Europa des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2007, S. 13–70, hier S. 63 Internetquellen: zentralrat.sintiundroma.de romani.uni-graz.at/rombase romadecade.org Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 63 von 78 Der Naumann Kreis: Der missglückte Versuch von ehemaligen Nazis, in den 1950ern die FDP in Nordrhein-Westfalen zu übernehmen Immer mehr in Vergessenheit gerät mittlerweile die Tatsache, dass ehemalige Mitglieder der NSDAP in der unmittelbaren Nachkriegszeit, aber auch noch viele Jahrzehnte später in der Politik Deutschlands eine gewichtige Rolle spielten. Eine besondere Gefahr für die junge Bundesrepublik Deutschland war der Versuch ehemaliger NSDAP-Mitglieder unter Führung von Werner Naumann, dem letzten Staatssekretär des NS-Reichspropagandaministers Joseph Goebbels, Anfang der 1950er die FDP zu unterwandern. Gleich zu Beginn dieses Aufsatzes muss natürlich auf einen gewichtigen Sachverhalt verwiesen werden. Auch wenn dieser Aufsatz sich mit der Verbindung zwischen NSDAP-Mitgliedern und der FDP und ihrem Umfeld beschäftigt, so sei darauf verwiesen, dass viele der Bundestagsparteien nicht davon verschont blieben, ehemalige NSDAP-Mitglieder in ihren Reihen zu haben. Ehemalige NSDAP-Mitglieder mit bundespolitischen Ämtern in der FDP: Vergegenwärtigen wir uns an dieser Stelle erst einmal, welche ehemaligen NSDAP-Mitglieder in der FDP zu hohen bundespolitischen Ämtern kamen: 1. Ernst Aschenbach, Mitglied in der NSDAP 1937–1945, 1957–1976 Mitglied im Bundestag 2. Joachim Angermeyer, Mitglied in der NSDAP 1941–1945, 1976–1980 Mitglied im Bundestag 3. Albrecht Aschoff, Mitglied in der NSDAP 1933–1945, 1961–1965 Mitglied im Bundestag 4. Hermann Berg, Mitglied in der NSDAP 1937–1945, 1955–1957 Mitglied im Bundestag 5. Ewald Bucher, Mitglied in der NSDAP 1933–1945, 1962–1965 Bundesminister der Justiz, 1965–1966 Bundesminister für Wohnungswesen und Städtebau 6. Richard Burckardt, Mitglied in der NSDAP 1940–1945, 1961–1965 Mitglied im Bundestag 7. Rolf Dahlgrün, Mitglied in der NSDAP 1933–1945, 1962–1966 Bundesminister der Finanzen 8. Robert Dannemann, Mitglied in der NSDAP 1933–1945, 1945–1955 Mitglied im Bundestag 9. Hermann Dürr, Mitglied in der NSDAP 1943–1945, 1957–1965 Mitglied im Bundestag 10. Josef Effertz, Mitglied in der NSDAP 1933–1945, 1961–1968 Mitglied im Bundestag 11. Otto Eisenmann, Mitglied in der NSDAP 1933–1945, 1957–1965 Mitglied im Bundestag 12. Josef Ertl, Mitglied in der NSDAP 1943–1945, 1961–1987 Mitglied im Bundestag, 1969–1983 Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft, Forsten 13. Margarete Hütter, Mitglied in der NSDAP 1943–1945, 1943–1953 und 1955–1957 Mitglied im Bundestag 14. Otto Köhler, Mitglied in der NSDAP 1933–1945, 1957–1960 Mitglied im Bundestag 15. Martin Reichmann, Mitglied in der NSDAP 1932–1945, 1961–1969 Mitglied im Bundestag Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 64 von 78 16. Hermann Saam, Mitglied in der NSDAP 1933–1945, Mitglied im Bundestag 1965–1969 17. Walter Scheel, Mitglied in der NSDAP 1941–1945, 1961–1966 Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, 1969–1974 Bundesminister des Auswärtigen, 1974–1979 Bundespräsident 18. Hermann Schwann, Mitglied in der NSDAP 1933–1945, 1953–1957 Mitglied im Bundestag 19. Artur Stegner, Mitglied in der NSDAP 1931–1945, 1949–1957 Mitglied im Bundestag 20. Willi Weyer, Mitglied in der NSDAP 1937–1945, 1953–1954 Mitglied im Bundestag 21. Siegfried Zoglmann, Mitglied in der NSDAP 1934–1945, 1957–1970 Mitglied im Bundestag Es wird ausdrücklich darauf verwiesen, dass hier noch nicht einmal diejenigen Politiker aufgezählt sind, die bei der FDP in Landesparlamenten oder später im Europaparlament zu Amt und Würden kamen. Diese Auflistung erfolgte deshalb, damit man später nicht sagen kann, der Naumann-Kreis wäre etwas Besonderes, d.h. die einzige Ansammlung von ehemaligen Nationalsozialisten. Wer oder was aber nun der sogenannte Naumann-Kreis? Bis heute ist nicht klar, wer der Kopf oder die Köpfe des Naumann-Kreises war. In Frage kommen hier: 1. Ernst Aschenbach, Mitglied des Auswärtigen Amtes unter Hitler und nachweislich 1943 für die Verhaftung und Deportation von 2.000 französischen Juden ins Konzentrationslager Majdanek verantwortlich, später: 1950–1958 Landtagsabgeordneter in Nordrhein-Westfalen, 1957– 1972 Mitglied des Deutschen Bundestages sowie Mitglied des Europaparlamentes von 1969– 1974. 2. Werner Best, Stellvertreter von Reinhard Heydrich (SS-Obergruppenführer sowie Leiter des Reichssicherheitshauptamtes, 1941 von Hermann Göring mit der so genannten „Endlösung der Judenfrage“ beauftragt), in der NS-Zeit: Organisationschef des Sicherheitsdienstes SD sowie leitender Funktionär im Reichssicherheitshauptamt, ab 1940 Leiter der Militärverwaltung im besetzten Frankreich, von 1942 bis 1945 Hitlers Reichsbevollmächtigter in Dänemark; nach Kriegsende: Rechtsberater des FDP-Landesverbandes Nordrhein-Westfalen (obgleich er nie Mitglied der FDP war) sowie Direktoriumsmitglied der Dachgesellschaft der Stinnesschen Unternehmungen, erst 1989, als er schon auf dem Totenbett lag, wurde das strafrechtliche Hauptverfahren gegen ihn eröffnet. 3. Werner Naumann, ehemaliger Staatssekretär im NS-Propagandaministerium sowie persönlicher Referent von Joesph Goebbels, nach Kriegsende lebte Naumann unerkannt in Süddeutschland, 1950 dann Geschäftsführer im Dienste der Firma Cominbel seines NSFreundes Herbert Lucht, welcher wiederum vorher Leiter der Wehrmachtspropaganda in Frankreich war. Da seine Versuche, in der FDP Karriere zu machen, scheiterten, wurde er später Direktor der Busch-Jaeger Metallwerk GmbH in Lüdenscheid. Naumann wurde wie sein Freund Aschenbach nie wegen seiner NS-Vergangenheit angeklagt. Für den Naumann-Kreis war es zum einen wichtig, dass die ehemaligen NS-Eliten für ihre Kriegsverbrechen im Rahmen einer Art Generalamnestie ein für alle Mal entlastet werden würden. Auch ging es diesen Personen, die in der Regel Nationalsozialisten aus der mittleren Führungsebene waren, darum, sich politischen Einfluss zu verschaffen. Die Landesverbände der FDP in den Bundesländern Nordrhein-Westfalen, Hessen und Niedersachsen waren Anfang der 1950er Jahre sehr nationalistisch eingestellt, so dass die neuen Mitglieder (aus dem Naumann-Kreis) im Landesverband Nordrhein-Westfalen der FDP mit offenen Armen empfangen wurden. Bis heute ungeklärt ist die Frage, Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 65 von 78 wie nahe der damalige Vorsitzende der FDP Nordrhein-Westfalen, Friedrich Middlehauve, zu dem Naumann-Kreis stand. Da die folgenden Mitglieder des Naumann-Kreises: Werner Nauman Werner Best Franz Alfred Six Hans Fritzsche für Middelhauve für den FDP-Bundesparteitag im November 1952 das rechtsnationale „Deutsche Programm“ entwickelten, muss es Verbindungen gegeben haben. Es ist im Übrigen den FDPLandesverbänden Hamburg, Bremen und Baden-Württemberg zu verdanken, dass sich nicht das rechtsnationale Programm durchsetzte sondern das von diesen drei Landesverbänden vorgelegte „Liberale Manifest“. Dass der Naumann-Kreis in keiner Weise demokratisch gesinnt war und das alte NS-Gedankengut in die Entstehungszeit der jungen Bundesrepublik transferieren wollte, lässt sich an den nachfolgenden Äußerungen von Naumann erkennen, die dieser nachweislich am 18. November 1952 bei einem Treffen des Naumann-Kreises in Hamburg tätigte: „Ob man eine liberale Partei am Ende in eine NS-Kampfgruppe umwandeln kann, möchte ich bezweifeln, wir müssen es aber auf einen Versuch ankommen lassen. … Die Hauptsache ist, den Kontakt zueinander nicht zu verlieren und die Parteien bloß als ein Mittel zum Zweck anzusehen. Es wäre am besten, wenn wir unsere Leute in allen Parteien hätten, was teilweise der Fall ist.“ Auch der Bundes-FDP war vieles bekannt. Kurz vor Jahresende 1952 warnte ein anonymes Rundschreiben in der FDP vor dem Rechtsruck der Partei, und am 3. Januar 1953 trafen sich etwa 30 Vertreter verschiedener Kreisverbände in Köln mit dem FDP-Bundesvorsitzenden Franz Blücher, um ihre „ernste Besorgnis über den Zustrom rechtsradikaler Elemente“ zu diskutieren. Es ist den Briten zu verdanken, dass der Naumann-Kreis aufgelöst wurde. Dabei hatte der britische Hochkommissar Sir Ivone Kirkpatrick nicht nur die deutschen Behörden sondern auch die damaligen FDP-Politiker Theodor Heuss (damaliger Bundespräsident), Franz Blücher (damaliger Parteivorsitzender) sowie Thomas Dehler (damaliger Bundesjustizminister) über den Naumann-Kreis und deren Vorhaben unterrichtet. Es wirft bis heute kein gutes Licht auf die damaligen bundesdeutschen Behörden, dass diese nicht sofort aktiv wurden, sondern dass in der Nacht vom 15. Januar 1953 die Briten aufgrund der alliierten Vorbehaltsrechte die folgenden führenden Köpfe des Naumann-Kreises in Düsseldorf, Solingen und Hamburg verhafteten: 1. 2. 3. 4. 5. 6. Dr. Werner Naumann Paul Zimmermann Dr. Heinrich Haselmayer Heinz Siepen Dr. Karl Scharping Dr. Gustav Scheel Unter Berücksichtigung der vorstehend genannten innerparteilichen Vorkommnisse in der FDP ist es mehr als verwunderlich, wenn ausgerechnet der damalige FDP-Bundesjustizminister Dehler den Gekränkten spielte und erklärte: „Es zeugt von keinem großen Vertrauen in die Bundesrepublik, wenn 'außerdeutsche Geheimdienste' hier 'Unternehmen' abwickeln, 'die eigentlich den Deutschen vorbehalten bleiben sollten.'“ Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 66 von 78 Obgleich einige in der deutschen Öffentlichkeit 1953 angaben, von nichts gewusst zu haben, so ist dies kaum zu glauben. Es sei hier zum Beispiel auf einen Mitte November 1952 in der schwedischen Zeitung „Dagens Nyheter“ erschienenen Artikel verwiesen, in dem es heißt: „Spiritus rector auf dieser Seite ist der Landtagsabgeordnete Ernst Achenbach (Düsseldorf). In seinem Essener Büro für eine Generalamnestie sind der frühere Reichskommissar in Dänemark, Dr. Werner Best und der frühere SS-Obergruppenführer Professor Franz Alfred Six tätig. Außenpolitisch lehnen die Nazis den Generalvertrag und die Europa-Armee ab, weil sie Deutschland nicht genügend nationale Unabhängigkeit geben. Sie streben ein wiedervereinigtes Deutschland mit eigener Armee an, das im Spannungsfeld zwischen Ost und West die Situation zu Zugeständnissen von beiden Seiten ausnützen könnte. Auf diese Parole hofft man alle Neutralisten und Anhänger des dritten Standpunktes in Deutschland sammeln zu können. Naumann und Konsorten weisen den Antisemitismus als Bestandteil der kommenden Politik ab, denn dieser hat sich als schlechtes Geschäft erwiesen. “ Dies ist eindeutig. Wenn man dies in Schweden wusste und dies dort in einer nicht unbekannten Zeitung kommunizierte, so muss die Frage erlaubt sein, warum man dies alles in Deutschland nicht gewusst haben will. Das Verfahren gegen die Verschwörer wurde im Sommer 1953 vom 2. Ferienstrafsenat des Bundesgerichtshofes eingestellt, ohne dass ein Beschuldigter verurteilt wurde. Die Begründung hierzu lautete: „Das Ziel der Wiedererrichtung eines nationalsozialistischen Führerstaats käme in den Äußerungen der Angeschuldigten nirgends deutlich zum Ausdruck.“ Dieser Sachverhalt wurde später als „Blindheit des Bundesgerichtshofes auf dem rechten Auge“ bezeichnet. Lediglich Bundeskanzler Konrad Adenauer war vor dem Bundesvorstand der CDU klar und eindeutig und erklärte, dass er Naumann am liebsten wegen Hochverrats verurteilen würde und dass er nach wie von der Schuld Naumanns überzeugt sei. Die Mitglieder im Naumann-Kreis: Nachstehend eine (nicht als abschließend zu verstehende) Auflistung von Personen, die dem Naumann-Kreis angehörten: 1. Gunter d’Alquen, Journalist, Schriftleiter des „Schwarzen Korps“, SS-Standartenführer 2. Werner Best, Stellvertreter von Reinhard Heydrich, SS-Obergruppenführer, Chef des Amtes Verwaltung bei der Besatzungsbehörde in Frankreich, November 1942 Bevollmächtigter des Deutschen Reiches in Dänemark (Leiter der Besatzungsbehörde), nach dem Krieg tätig im Anwaltsbüro Achenbach 3. Karl Friedrich Bornemann, geb. 1908, HJ-Gebietsführer Düsseldorf, danach Herausgeber eines „KBIInformationsdienstes 4. Wolfgang Diewerge, hoher NS-Propagandist aus dem Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, Intendant des Reichssenders Danzig, später Geschäftsführer der Gesellschaft für Europäische Wirtschaftspolitik sowie des Internationalen Wirtschaftsclubs 5. Friedrich Karl Florian, Gauleiter von Düsseldorf 6. Hans Fritzsche, zuletzt Leiter der Rundfunkabteilung im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda und im Großdeutschen Rundfunk der „Beauftragte für die politische Gestaltung“, in Nürnberg angeklagter Hauptkriegsverbrecher 7. Lydia Gottschewski NS-Frauenschaftsfunktionärin 8. Josef Grohé, zuletzt Reichskommissar für die besetzten Gebiete in Belgien und Nordfrankreich 9. Hans-Bernhard von Grünberg, Professor für Staatswissenschaften und letzter Rektor der Universität Königsberg unter deutscher Herrschaft Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 67 von 78 10. Heinrich Haselmayer, Alter Kämpfer seit 1927, SA-Mann, Kampfbund für deutsche Kultur in Hamburg, Führer des NS-Studentenbundes ebenda, beteiligt an der Sterilisierung von nationalsozialistisch definierten „Erbkranken“ 11. Paul Hausser, SS-Oberstgruppenführer und Generaloberst der Waffen-SS, der erste Vorsitzende der Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der Soldaten der ehemaligen Waffen-SS 12. Horst Huisgen, HJ-Gebietsführer in Schlesien; Landesgeschäftsführer der FDP in Niedersachsen 13. Heinrich Hunke, Arisierer, Funktionär der Deutschen Bank, nationalsozialistischer Raumplaner und Großraumstratege, später Ministerialdirigent des Landes Niedersachsen 14. Karl Kaufmann, Gauleiter und Reichsstatthalter von Hamburg 15. Herbert Lucht, Leiter der Außenstelle Wehrmachtpropaganda in Paris 16. Wilhelm Meinberg, Aufsichtsrat bei der Dresdner Bank und Wehrwirtschaftsführer 17. Karl Ott, Staatssekretär und Mitglied des Landtages in Niedersachsen 18. Gustav Adolf Scheel, ehemaliger Reichsstudentenführer und Gauleiter von Salzburg 19. Heinz Siepen, NSDAP-Ortsgruppenleiter und Landrat, Mit-Besitzer der Punktal-Stahlwerke in Solingen 20. Edmund Veesenmeyer,Generalbevollmächtigter in Ungarn, SS-Brigadeführer Es handelte sich nicht um eine kleine Gruppe ehemaliger NS-Funktionäre und die Gefahr der Infiltration war groß. Leider wurde nie in der Öffentlichkeit bekannt, welch eine große Gefahr für die Demokratie in Deutschland 1953 durch die Briten abgewandt wurde. Literatur: Eckart Conze, Norbert Frei, Peter Hayes, Moshe Zimmermann: Das Amt und die Vergangenheit – Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und der Bundesrepublik; Blessing, 2010 Norbert Frei: Hitlers Eliten nach 1945; dtv, 2003 Ernst Klee: Persilscheine und falsche Pässe – Wie die Kirchen den Nazis halfen; Fischer Verlag 2013 Ernst Klee: Das Personallexikon zum Dritten Reich – Wer war was vor und nach 1945; Fischer Verlag, 2005 Eva A. Mayring: Control Commission for Germany (British Element) (CCG/BE), in: Wolfgang Benz (Hrsg.): Deutschland unter alliierter Besatzung 1945–1949/55. Ein Handbuch. Akademie Verlag, Berlin 1999 Kristian Buchna: Nationale Sammlung an Rhein und Ruhr. Friedrich Middelhauve und die nordrhein-westfälische FDP 1945-1953. Oldenbourg Verlag, München 2010 Heiko Buschke: Deutsche Presse, Rechtsextremismus und nationalsozialistische Vergangenheit in der Ära Adenauer; Campus-Verlag 2003 Erich Stockhorst: 5000 Köpfe. Wer war was im Dritten Reich. Arndt-Verlag, 2000 Karl Höffkes: Hitlers politische Generale – Die Gauleiter des III. Reiches, 1986 Internetquellen: http://www.spiegel.de/einestages/naumann-kreis-die-unterwanderung-der-fdp-durch-altnazis-a951012.html http://www.zeit.de/2002/23/200223_a-fdp-nazi.xml http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-25657293.html http://www.zeit.de/2002/23/Deutsches_Programm http://www.deutschlandfunk.de/die-bekannteste-stimme-des-grossdeutschenrundfunks.730.de.html?dram:article_id=102839 http://www.landtag-niedersachsen.de/download/29627/bericht_historische_kommission.pdf Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 68 von 78 Aktion T4 – Systematischer Mord der Nazis an behinderten Menschen Der Mord an Menschen, die nichts getan haben und auch nicht in der Lage sind, sich in irgendeiner Art und Weise zu wehren, ist in besonderem Maße als verabscheuungswürdig zu bezeichnen. Dass die Nationalsozialisten sich besonders dann stark fühlten, wenn sie gegen wehrlose Menschen vorgingen, dürfte mittlerweile als wissenschaftlich belegt gelten und war auch schon mehrfach Gegenstand von Publikationen. Von besonderer Verabscheuungswürdigkeit war der systematische Mord der Nationalsozialisten an behinderten Menschen und es darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Aufarbeitung dieser Massenmorde weder geschichtlich noch juristisch besonders erfolgreich war. Die Ursprünge der perversen Idee der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“: Die Ursprünge dieser Idee gehen auf den österreichischen Psychologen Adolf Jost (22.08.1874 – 20.10.1908) zurück, der neben seinen „Jostschen Sätzen zum Lernen und Behalten“ vor allem durch die 1895 erschienene 53 seitige Streitschrift „Das Recht auf den Tod“ bekannt wurde. Dieses Werk war in Deutschland der historische Ausgangspunkt einer breiten Diskussion über die Sterbehilfe. Der „Wert eines Menschenlebens“ wurde von Adolf Jost dabei wie folgt auf Seite 13f. seiner Streitschrift definiert: „Der Wert eines Menschenlebens kann, einer rein natürlichen Betrachtungsweise nach, sich nur aus zwei Faktoren zusammensetzen. Der erste Faktor ist der Wert des Lebens für den betreffenden Menschen selbst, also die Summe von Freud und Schmerz, die er zu erleben hat. Der zweite Faktor ist die Summe von Nutzen und Schaden, die das Individuum für seine Mitmenschen darstellt. …… Der Wert eines menschlichen Lebens kann eben nicht bloß null, sondern auch negativ werden, wenn die Schmerzen so groß sind, wie es in der Todeskrankheit der Fall zu sein pflegt. Der Tod stellt selbst gewissermaßen den Nullwert dar, ist daher gegenüber einem negativen Lebenswert noch immer das Bessere.“ Jost forderte in seiner Streitschrift nicht nur ein Recht auf den Tod bei unheilbarer Krankheit sondern wandte diesen Grundsatz auch auf „unheilbar geistig erkrankte Menschen“ an, da diese nach der Auffassung von Jost nicht nur ein nutzloses, sondern auch höchst qualvolles Leben führten und darüber hinaus noch eine „beträchtlicher Menge materieller Werte“ konsumierten. Es mag eine Ironie des Schicksals sein, dass ein Adolf Jost im Alter von 34 Jahren, völlig mittellos geworden, in einer Nervenheilanstalt in Sorau verstarb. Die Ideen Adolf Josts wurden zu Beginn der Weimarer Republik von dem deutschen Rechtswissenschaftler Karl Binding (04.06.1841 – 07.04.1920) und dem deutschen Psychiater und Neurologen Alfred E. Hoche (01.08.1865 – 16.05.1943) in ihrer 1920 erschienenen Schrift „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ weiterverarbeitet. Diese Schrift gilt als Wegbereiter der organisierten Massenvernichtung geistig behinderter Menschen zur Zeit des Nationalsozialismus. Aus dem kranken Gedankengut der Herren Binding und Hoche in ihrer Schrift des Jahres 1920 wird wie folgt zitiert: „Die Anstalten, die der Idiotenpflege dienen, werden anderen Zwecken entzogen; soweit es sich um Privatanstalten handelt, muss die Verzinsung berechnet werden; ein Pflegepersonal von vielen tausend Köpfen wird für diese gänzlich unfruchtbare Aufgabe festgelegt und fördernder Arbeit entzogen; es ist eine peinliche Vorstellung, dass ganze Generationen von Pflegern neben diesen leeren Menschenhülsen dahinaltern, von denen nicht wenige 70 Jahre und älter werden. ….. Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 69 von 78 Zusammenfassung aller Möglichkeiten, ein freimachen jeder verfügbaren Leistungsfähigkeit für fördernde Zwecke: Der Erfüllung dieser Aufgabe steht das moderne Bestreben entgegen, möglichst auch die Schwächlinge aller Sorten zu erhalten, allen, auch den zwar nicht geistig toten, aber doch ihrer Organisation nach minderwertigen Elemente Pflege und Schutz angedeihen zu lassen — Bemühungen, die dadurch ihre besondere Tragweite erhalten, dass es bisher nicht möglich gewesen, auch nicht im ernste versucht worden ist, diese von der Fortpflanzung auszuschließen. …..“ Es ist mehr als beschämend, dass im 20. Jahrhundert eine derart kranke Gedankenwelt bei Wissenschaftlern vorfand, die in dieser Form noch nicht einmal in Sparta mehr als 2.000 Jahre propagiert wurde. In diesem Zusammenhang dürfte es unstrittig sein, dass die Menschheit sich nicht in allen Bereichen weiterentwickelte. Aus dieser Gedankenwelt entwickelte sich die Ideologie der Rassenhygiene der Nationalsozialisten, die bereits in den Jahren 1933 und 1935 von dem damaligen Reichsinnenminister Wilhelm Frick zu Gesetzen und Verordnungen wurden. Struktur des systematischen Mordens Kommen wir nun zur konkreten Entstehungsgeschichte der Aktion T4: Im Rahmen der Ideologie der NS-Rassenhygiene sollte jede „Beeinträchtigung des deutschen Volkskörpers“ verhindert werden. In der typischen Schwarz-Weiß-Malerei der Nazis gab es nur die beiden Alternativen Heilen oder Vernichten. 1929 erklärte Hitler auf dem Reichsparteitag in München, dass die „Beseitigung von 700.000 – 800.000 der Schwächsten von einer Million Neugeboren jährlich, eine Kräftesteigerung der Nation bedeute und keinesfalls eine Schwächung.“ Somit waren die Ideen Hitlers nachweislich vor seiner Machtergreifung bekannt. Auf dem Nürnberger Reichsparteitag von 1935 kündigte er dann gegenüber dem Reichsärzteführer Gerhard Wagner an, dass er die „unheilbar Geisteskranken zu beseitigen suche und zwar spätestens im Falle eines künftigen Krieges.“ Der systematisch geplante Mord der Nazis an behinderten Menschen vollzog sich in folgenden Stufen: 1. „Kinder-Euthanasie“ von 1939 – 1945 2. Erwachsenen-Euthanasie von 1940 bis 1945 differenziert nach: Aktion T4: dezentralisierte Gasmorde von Januar 1940 bis August 1941: Dezentralisiert durchgeführte, aber zentral gesteuerte „Medikamenten-Euthanasie“ oder Tötung durch Unterernährung von September 1941-1945 „Invaliden- oder Häftlings-Euthanasie“, bekannt als „Aktion 14f13“ von April 1941 bis Dezember 1944 Dabei wurden mindestens 260.000 Menschen nachweislich getötet. Gleichwohl ist davon auszugehen, dass die wirkliche Zahl wahrscheinlich ein Vielfaches hiervon ist. Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 70 von 78 Kindereuthanasie – Vorläufer von T4 Betrachten wir uns die Kindereuthanasie als Vorläufer der Aktion T4: Zentrales Dokument hierfür war ein Runderlass des Reichsministers des Innern vom 18. August 1939 Az.: IVb 3088/39 – 1079 Mi, der mit dem Vermerk „Streng vertraulich!“ den Kreis der Betroffenen und die Art und Weise ihrer Erfassung festlegte. Danach wurden Ärzte und Hebammen sowie Entbindungsanstalten, geburtshilfliche Abteilungen und Kinderkrankenhäuser, soweit dort ein leitender Arzt nicht vorhanden oder an der Meldung verhindert war, verpflichtet formblattmäßige Mitteilung an das zuständige Gesundheitsamt zu machen, „falls das neugeborene Kind verdächtig ist mit folgenden schweren angeborenen Leiden behaftet zu sein: Idiotie sowie Mongolismus (besonders Fälle, die mit Blindheit und Taubheit verbunden sind), Mikrocephalie, Hydrocephalus, schweren bzw. fortschreitenden Grades, Missbildungen jeder Art, besonders Fehlen von Gliedmaßen, schwere Spaltbildungen des Kopfes und der Wirbelsäule usw., Lähmungen einschließlich Littlescher Erkrankung“ Meldepflichtig waren zunächst nur Kinder bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres, wenig später wurde die Altersgrenze dann auf 16 Jahre angehoben. Die vorgeschriebenen Meldebogen vermittelten den Eindruck, dass mit der Erfassung das Ziel einer fürsorgenden besonderen fachärztliche Betreuung verfolgt werden sollte. Die Amtsärzte leiteten die ausgefüllten Meldebogen an den „Rechtsausschuss“ weiter, wo das dahinterstehende Amt IIb der KdF mit den beiden medizinischen Laien Hefelmann und von Hegener die Fälle aussortierten, die nach ihrer Auffassung für die Aufnahme in eine „Kinderfachabteilung“, das heißt für die „Euthanasie“, nicht in Betracht kamen. Von den etwa 100.000 bis 1945 eingegangen Meldebogen wurden etwa 80.000 aussortiert. Das Urteil über Leben oder Tod der Kinder wurde lediglich anhand des Meldebogens getroffen, ohne dass die Gutachter Einsicht in die (nicht vorgelegten) Krankenakten nahmen, noch die Kinder gesehen hatten. Wurde ein Kind als „Euthanasie“-Fall beurteilt, trugen die Gutachter ein „+“ ein und umgekehrt ein „-“. War aus der Sicht der Gutachter keine eindeutige Entscheidung möglich, wurde ein „B“ für „Beobachtung“ vermerkt. Diese Kinder wurden zwar von der „Euthanasie“ vorläufig zurückgestellt, jedoch ebenfalls in eine „Kinderfachabteilung“ eingewiesen. Der dortige Arzt musste nach genauerer Untersuchung gegenüber dem „Rechtsausschuss“ einen entsprechenden Beobachtungsbericht abgeben. Entscheidendes Kriterium zur „positiven“ Begutachtung waren prognostizierte Arbeits- und Bildungsunfähigkeit. Auch die schon mit einer „Behandlungs“-Ermächtigung eingewiesenen Kinder wurden in der Regel nicht sofort getötet, sondern dienten teilweise noch für Monate der wissenschaftlichen Forschung. So fand zum Beispiel eine enge Zusammenarbeit zwischen dem Leiter der „Kinderfachabteilung“ in der Landesheilanstalt Eichberg, Walter Schmidt, und dem Direktor der Universitäts-Nervenklinik Heidelberg, Carl Schneider, statt. Diese Opfer wurden in Heidelberg eingehend klinisch beobachtet und dann nach Eichberg verlegt, wo sie getötet und die Gehirne entnommen wurden. Zu den Nutznießern der Kinder-„Euthanasie“ gehörte auch das Kaiser-Wilhelm-Institut (KWI) für Hirnforschung in Berlin-Buch (Nachfolger ist heute das Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt am Main). Der Abteilungsleiter für Hirnhistopathologie, Professor Julius Hallervorden, sammelte im KWI über 600 Gehirne von „Euthanasie“-Opfern. In der NS-Tötungsanstalt Bernburg Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 71 von 78 sezierte er Leichen von Kindern, die aus der Landesanstalt Görden zur Tötung nach Bernburg gekommen waren. Die Tötung der Kinder erfolgte durch zeitlich gestaffelte und überdosierte Barbituratgaben wie Luminal, Veronal, Trional oder Morphin, die unter das Essen der Patienten gemischt oder als angebliches „Anti-Typhusmittel“ gespritzt wurden. Diese führten zu Atemlähmungen, Kreislauf- und Nierenversagen oder Lungenentzündungen. So konnte immer eine scheinbar natürliche, unmittelbare Todesursache attestiert werden. Das Verfahren war als sogenanntes „Luminalschema“ vom späteren medizinischen Leiter der „Aktion T4“, Professor Hermann Paul Nitsche, Anfang 1940 entwickelt worden. In Kombination mit einer systematischen Unterernährung und Unterbringung in unzureichend geheizten Räumen, konnte die angestrebte Beseitigung „lebensunwerten Lebens“ durch derart provozierte Lungenentzündungen, Tuberkulose oder Typhus auf scheinbar natürliche und unauffällige Weise realisiert werden. Vergegenwärtigen wir uns an dieser Stelle einmal an exemplarischen Beispielen, wie diese Straftaten später geahndet wurden: Hans Hefelmann (1906 – 1986): Funktion: Leiter des für die Kindereuthanasie zuständigen Amtes IIb der KdF sowie des „Reichsausschusses zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“ Strafverfolgung: Im Heyde-Verfahren vor dem Landgericht Limburg mit angeklagt, Verfahren am 8. Oktober 1972 wegen „dauerhafter Verhandlungsunfähigkeit“ eingestellt. Trotz der 1964 prognostizierten minimalen Lebenserwartung von nur noch zwei Jahren konnte Hefelmann weitere 22 Jahre eines (von juristischer Verantwortung für seine Tätigkeit im nationalsozialistischen Deutschen Reich unbelästigten) Lebensabends in München verbringen, ehe er dort 1986 verstarb. Richard von Hegener (1905 – 1981): Funktion: Vertreter Hefelmann im Amt IIb der KdF Strafverfolgung: 1951 wurde Hegener wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verhaftet und schließlich mit Urteil des Landgerichts Magdeburg vom 20. Februar 1952 zu einer lebenslänglichen Zuchthausstrafe verurteilt. Durch einen sogenannten Ministerialbeschluss wurde er im Juli 1956 nach vierjähriger Haftzeit entlassen. Hegener nahm umgehend Kontakt zu seinem ehemaligen Vorgesetzten Hefelmann auf und fand als kaufmännischer Angestellter durch Vermittlung des dort als Justitiar tätigen Dietrich Allers (vormals Geschäftsführer der Zentraldienststelle-T4) eine Anstellung bei der Deutschen Werft. Mit Hefelmann hielt Hegener auch weiterhin Kontakt. Werner Catel (1894 – 1981): Funktion: Direktor der Universitätskinderklinik Leipzig, „Rechtsausschuss“-Gutachter Strafverfolgung: Catel wurde 1947 in Wiesbaden als „unbelastet“ eingestuft und leitete dann die Kinderheilstätte Mammolshöhe in der Nähe von Kronberg, 1949 wurde er in Hamburg beim Entnazifizierungs-Tribunal freigesprochen und 1954 Professor für Kinderheilkunde an der Universität Kiel. Die Tötung unheilbarer behinderter Kinder hat er gerechtfertigt und jede Schuld geleugnet. Im Stasi-Archiv wurden inzwischen Briefe von Catel gefunden, die seine Tätigkeit bei der Euthanasie Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 72 von 78 belegen. Noch 1964 behauptete er, dass es jedes Jahr fast 2000 „vollidiotische“ Kinder gebe, die wegen ihrer Fehlbildungen oder Behinderungen getötet werden sollten.“ Helmut Unger (1891-1953): Funktion: Angehöriger des Gremiums zur Initiierung der Kinder-Euthanasie Strafverfolgung: Eine juristische Aufarbeitung seiner Tätigkeit im Dritten Reich unterblieb; keine Strafverfolgung. Aktion T4 – Das Morden wird intensiviert Wie nicht anders von den Nazis zu erwarten, wurde das „systematische Morden“ durch „T4“ erweitert. Im Zeitraum 1940 bis 1941 wurden im Rahmen von T4 mehr als 70.000 Menschen mit geistigen und körperlichen Behinderungen getötet. Dabei wurde der Begriff der T4 nicht von den Nazis geprägt. T4 ist vielmehr die Adresse der Zentraldienststelle T4 Tiergartenstraße 4 in Berlin und ein erst später in der Geschichtsaufarbeitung gebräuchlicher Arbeitstitel. Im Oktober 1939 ermächtigte Hitler mit einem auf den 1. September 1939 zurückdatierten Schreiben den Leiter der KdF Bouhler sowie den Begleitarzt Hitlers, Karl Brandt, als medizinische Ansprechpartner mit der organisatorischen Durchführung der als „Euthanasie“ bezeichneten Tötung von „lebensunwertem Leben“. Das Schreiben auf Hitlers privatem Briefpapier hat folgenden Wortlaut: „Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann.“ Dieses Ermächtigungsschreiben hatte keine Rechtsgültigkeit, ein solcher Erlass hätte von Hitler und Herbert Linden gegengezeichnet, auf offiziellem Papier gedruckt und im Reichsgesetzblatt publiziert werden müssen. Somit war sich Hitler vollumfänglich seines Verbrechens bewusst. Da die Kanzlei des Führers im Zusammenhang mit den beschlossenen Maßnahmen nicht öffentlich in Erscheinung treten sollte, wurde eine halbstaatliche Sonderverwaltung gebildet, die formal dem Hauptamt II der KdF, geleitet von Viktor Brack, unterstellt wurde, seit April 1940 in einer Villa in der Berliner Tiergartenstraße 4 untergebracht war und durch den Reichsschatzmeister der NSDAP finanziert wurde. Diese Zentraldienststelle T4 unterstand Dietrich Allers. Für die Auswahl der Opfer waren 40 „Gutachter“ berufen worden, die anhand einer Patientenbeschreibung auf Meldebögen über deren Schicksal entscheiden sollten. Diese Beurteilungen wurden -vergleichbar der Fälle der so genannten Kinder-Euthanasie- nur anhand der Aktenlage gefällt. In einer Besprechung am 9. Oktober 1939 wurde die Zahl der infrage kommenden Patienten mit etwa 70.000 bestimmt. Dabei wurde das Ziel verfolgt, unheilbare Erbkrankheiten auszurotten und gleichzeitig die Kosten für die Anstaltspflege zu senken. Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 73 von 78 Mit Runderlass vom 9. Oktober 1939 der von Leonardo Conti geleiteten Abteilung IV des Reichsministeriums des Innern wurden die in Frage kommenden Heil- und Pflegeanstalten zur Benennung bestimmter Patienten mittels Meldebögen aufgefordert, auf denen detaillierte Angaben zu Krankheit und Arbeitsfähigkeit zu machen waren. In einem beiliegenden Merkblatt waren folgende Kriterien angegeben: Schizophrenie, Epilepsie, Encephalitis, Schwachsinn, Paralyse, Chorea Huntington, Menschen mit seniler Demenz oder anderen neurologischen Endzuständen, wenn sie nicht oder nur noch mit mechanischen Arbeiten beschäftigt werden konnten. Menschen, die schon länger als fünf Jahre in der Anstalt waren. Kriminelle „Geisteskranke“. Menschen, die nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besaßen oder nicht „deutschen oder artverwandten Blutes“ waren. Die an den zuständigen Referenten Herbert Linden im Reichsministerium des Innern zurückgegebenen Meldebögen wurden an die T4-Zentrale weitergeleitet. Dort wurde nach Anlegen einer Karteikarte von jedem Meldebogen Kopien gefertigt und an drei Gutachter gesandt. Die Gutachter trugen ihre Entscheidung in einem schwarz umrandeten Kasten auf die Meldebogenkopie mit einem roten „+“ für „Töten“ und einem blauen „–“ für „Weiterleben“ ein. Konnte sich ein Gutachter nicht entscheiden, versah er den Meldebogen mit einem „?“ und gegebenenfalls einer Bemerkung. Eine wichtige Rolle bei der Beurteilung spielte die Frage, ob der Patient als arbeitsfähig und heilbar bewertet wurde. Die T4-Organisatoren Viktor Brack und Werner Heyde ordneten an, dass die Tötung der Kranken ausschließlich durch das ärztliche Personal erfolgen durfte, da sich das Ermächtigungsschreiben Hitlers vom 1. September 1939 nur auf Ärzte bezog. In den einzelnen NS-Tötungsanstalten waren folgende Ärzte tätig, wobei die nachfolgende Anzahl von Menschen getötet wurde: T4-Tötungsanstalt Grafeneck: von Januar 1940 bis Dezember 1940 getötete Menschen: 9.839 Tötungsärzte: Horst Schumann, Ernst Baumhard, Günther Hennecke T4-Tötungsanstalt Brandenburg: von Februar 1940 bis November 1940 getötete Menschen: 9.722 Tötungsärzte: Irmfried Eberl, Aquilin Ulrich, Heinrich Bunke T4-Tötungsanstalt Hartheim: von April 1940 bis August 1941 getötete Menschen: 18.269 Tötungsärzte: Rudolf Lonauer, Georg Renno T4-Tötungsanstalt Bernburg: von November 1940 bis August 1941 getötete Menschen: 8.601 Tötungsärzte: Irmfried Eberl, Aquilin Ulrich, Heinrich Bunke T4-Tötungsanstalt Sonnenstein: Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 74 von 78 von Juni 1940 bis August 1941 getötete Menschen: 13.720 Tötungsärzte: Horst Schumann, Curt Schmalenbach, Klaus Endruweit, Kurt Borm T4-Tötungsanstalt Hadamar: von Januar 1941 bis August 1941 getötete Menschen: 10.072 Tötungsärzte: Ernst Baumhard, Friedrich Berner, Curt Schmalenbach, Adolf Wahlmann Die in den ursprünglichen Anstalten und Heimen erfassten und von den Gutachtern für die Euthanasie vorgesehenen Personen wurden in Zwischenanstalten transportiert. Im Regelfall wurden die Bustransporte zentral organisiert, nur in Ausnahmefällen wurde auf öffentliche Verkehrsmittel zurückgegriffen. Den Ursprungsanstalten wurden dabei genaue Vorgaben gemacht, was den Patienten als Vorbereitung zur Bereicherung mitzugeben sei. Als Zwischenstation in der Euthanasiekette dienten jeweils zwei bis vier Anstalten im weiteren Umfeld der Tötungsanstalten, zumeist staatliche Psychiatrien. Diese Zwischenanstalten dienten einerseits dem Zweck der Verschleierung des Endpunktes: Begleitpersonen durften den Patienten nur bis dort folgen. Andererseits dienten sie als Zwischenstation, damit die Tötungsanstalten nicht überfüllt wurden. In der Aufnahmebaracke der Tötungsanstalt wurden die eingelieferten Menschen entkleidet, gemessen, gewogen, fotografiert und dann den Ärzten vorgeführt. Dabei wurden die Personendaten überprüft und auffallende Kennzeichen wie Operationsnarben vermerkt, die für die Erstellung einer angeblichen Todesursache von Bedeutung sein konnten. Zur Täuschung der Opfer waren die Gaskammern mit Brauseköpfen ausgestattet. Meist wurden 30 und mehr Menschen zugleich vergast. Die Tötung erfolgte durch Kohlenmonoxidgas, das der Anstaltsarzt einströmen ließ. Die Zufuhr des Gases betrug in der Regel etwa 20 Minuten; sie wurde eingestellt, wenn sich im Vergasungsraum keine Bewegung mehr feststellen ließ. Die Leichen wurden im Regelfall in den anstaltseigenen Krematorien verbrannt; Goldkronen wurden vorher herausgebrochen. Das so gewonnene Rohmaterial wurde über die Zentraldienststelle T4 an die Degussa geliefert und zu Feingold verarbeitet. Als einziger deutscher Richter prangerte Lothar Kreyssig aus Brandenburg an der Havel die Euthanasiemorde an. Als Vormundschaftsrichter hatte er bemerkt, dass sich nach einer Verlegung Nachrichten über den Tod seiner behinderten Mündel häuften. Im Juli 1940 meldete er seinen Verdacht, dass die Kranken massenhaft ermordet würden, dem Reichsjustizminister Franz Gürtner. Nachdem ihm mitgeteilt worden war, dass die Mord-Aktion in Verantwortung der Kanzlei des Führers ausgeführt werde, erstattete Kreyssig gegen Reichsleiter Philipp Bouhler Anzeige wegen Mordes. Den Anstalten, in denen Mündel von ihm untergebracht waren, untersagte er strikt, diese ohne seine Zustimmung zu verlegen. Kreyssig, der damit gerechnet hatte, sofort verhaftet zu werden, wurde lediglich in den Ruhestand versetzt. Unter dem Datum 31. Januar 1941 notierte Joseph Goebbels in seinem Tagebuch: „Mit Bouhler Frage der stillschweigenden Liquidierung von Geisteskranken besprochen. 40000 sind weg, 60000 müssen noch weg. Das ist eine harte, aber auch notwendige Arbeit. Und sie muss jetzt getan werden. Bouhler ist der rechte Mann dazu.“ Das hier genannte Planungsziel von 100.000 Opfern wurde nach der oben genannten Hartheimer Statistik nicht verwirklicht und der Tagebucheintrag wird als Beweis dafür angeführt, dass die Aktion T4 vorzeitig abgebrochen wurde. Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 75 von 78 Am 24. August 1941 gab Hitler seinem Begleitarzt Brandt und Reichsleiter Bouhler die mündliche Weisung, die „Aktion T4“ zu beenden und die „Erwachseneneuthanasie“ in den sechs Tötungsanstalten einzustellen. Die sogenannte „Kinder-Euthanasie“ wurde jedoch fortgesetzt, ebenso die dezentrale Tötung behinderter Erwachsener in einzelnen „Heil- und Pflegeanstalten“ durch Nahrungsentzug sowie Verabreichung von Luminal oder Morphium-Scopolamin. Außerdem wurde in den drei Tötungsanstalten Bernburg, Sonnenstein und Hartheim die als „Aktion 14f13“ bezeichnete Tötung von kranken beziehungsweise nicht mehr arbeitsfähigen KZ-Häftlingen weiter durchgeführt. Aufarbeitung nach 1945: Vergegenwärtigen wir uns an dieser Stelle einmal an zwei Beispielen, was mit gewichtigen Persönlichkeiten der Aktion T4 nach 1945 geschah und wir werden uns mal wieder wundern, was (nicht) geschah. Dietrich Allers (1910 – 1975): Funktion: Jurist, Geschäftsführer der Zentraldienststelle T4 und somit leitend an der Organisation des systematischen Mordens an Behinderten beteiligt Nachkriegszeit: 1948 von der US-Armee festgenommen und der deutschen Justiz übergeben, diese entließ ihn im September 1949 aus der Untersuchungshaft, im Oktober 1949 entnazifiziert. Das Landgericht Frankfurt/Main verurteilte Dietrich Allers wegen seiner Beteiligung an der T4-Aktion am 20. Dezember 1968 wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 34.549 Fällen zu acht Jahren Zuchthaus Allers mussten jedoch die Haft nicht antreten, da ihm bereits die Untersuchungshaft und andere Haftzeiten angerechnet wurden und die Strafen damit als verbüßt galt. Kurt Borm (1909 – 2001): Funktion: Arzt in der NS-Tötungsanstalt Sonnenstein sowie als Mitarbeiter in der Zentraldienststelle T4 Nachkriegszeit: Obwohl Borm´s Vergangenheit bekannt war, kam es erst im Dezember 1971 zum Prozess gegen ihn. Am 6. Juni 1972 sprach ihn das Gericht frei. Borm habe zwar objektiv Beihilfe zur Tötung von mindestens 6652 Geisteskranken geleistet, jedoch könne ihm nicht nachgewiesen werden, dass er schuldhaft gehandelt habe, da ihm „unwiderlegbar das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit“ seines Tuns gefehlt habe. Das „Unerlaubte“ seiner Handlung sei für ihn nicht erkennbar gewesen, denn: „In den entscheidenden Jahren seines Heranwachsens, der Bildung von Wertvorstellungen und Umweltbegreifung hat er kaum etwas anderes vernommen, als die Verherrlichung nationalsozialistischen Gedankengutes. Er ist aufgewachsen in einem Beamtenhaushalt mit der dort erfahrungsgemäß in der Regel vorhandenen staatstreuen Gesinnung und dem unbedingten Glauben an die Gesetzmäßigkeit hoheitlichen Gebarens“. Das Urteil wurde vom Bundesgerichtshof am 20. März 1974 bestätigt. Damit wurde gerichtlich gebilligt, was Borm zu den Tatvorwürfen im Verfahren äußerte: „Abschließend möchte ich sagen, dass ich mich im Hinblick auf die gegen mich erhobenen Beschuldigungen strafrechtlich frei von jeder Verantwortung fühle. Ich bin aufgrund der mir erteilten Belehrungen der Auffassung gewesen, ‚was Du tust, ist richtig’. Ich kam zu dieser Überzeugung, weil Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 76 von 78 man mir gesagt hatte, es läge ein Gesetz vor, was allerdings aufgrund einer Führerentschließung noch nicht veröffentlicht war. […] Hinzu kommt, dass ich die Gutachten über die zu euthanisierenden Kranken mit der größten Hochachtung betrachtete. Ich ging davon aus, dass diese mit der gleichen Präzision wie im Verfolg des Erbgesundheitsgesetzes erstattet wurden. […] Bei alledem darf nicht übersehen werden, dass ich damals mit Jahrgang 09 verhältnismäßig jung war. Prof. Dr. Nitsche war für mich eine Autorität. Er erzählte mir, dass sich fast alle Ordinarien der Euthanasie-Aktion verschrieben hätten“. In absolutem Gegensatz hierzu steht die Urteilsbegründung im ersten Ärzteprozess vor dem Landgericht Frankfurt am Main vom 23. Mai 1967: „Die im Rahmen der Aktion ‚T4‘ durchgeführten Massentötungen […] erfüllen den Tatbestand des Mordes im Sinne des § 211 StGB in der zur Tatzeit geltenden und in der heute gültigen Fassung. Jedes menschliche Leben, auch das der Geisteskranken, genießt bis zu seinem Erlöschen den Schutz des § 211 StGB […] kein Kulturvolk [hat] jemals eine derartige Aktion durchgeführt.“ Von 438 „Euthanasie“-Strafverfahren, die bis 1999 eingeleitet wurden, endeten nur 6,8% mit rechtskräftigen Urteilen, darunter zahlreiche Freisprüche. Es gibt Momente, da fehlen einem die Worte. Dies ist zweifelsfrei einer dieser Momente. Literatur: Udo Benzenhöfer: Der gute Tod? Geschichte der Euthanasie und Sterbehilfe. 2. Auflage. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2009, ISBN 978-3-525-30162-3 Udo Benzenhöfer: „Das Recht auf den Tod“. Bemerkungen zu einer Schrift von Adolf Jost aus dem Jahre 1895. In: Recht & Psychiatrie 16 (1998), S. 198–201. Hans-Walter Schmuhl: Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ 1890–1945. 2. Auflage. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1992, ISBN 3-525-35737-0 Markus Zimmermann-Acklin: Euthanasie. Eine theologisch-ethische Untersuchung. 2. Auflage. Universitäts-Verlag, Freiburg (Schweiz) 2002, ISBN 3-7278-1148-X; Herder, Freiburg (Breisgau) und Wien 2002, ISBN 3-451-26554-0. Karl Binding & Alfred Hoche: Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form. Meiner, Leipzig 1920; Reprint, Hg. Wolfgang Naucke: Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form (1920). BWV Berliner Wissenschaftsverlag, Berlin 2006 ISBN 3-8305-1169-8 Walter Müller-Seidel: Alfred Erich Hoche – Lebensgeschichte im Spannungsfeld von Psychiatrie, Strafrecht und Literatur, Verlag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München 1999, ISBN 3-7696-1607-3 Lutz Kaelber, Raimond Reiter (Hrsg.): Kinder und „Kinderfachabteilungen“ im Nationalsozialismus. Gedenken und Forschung. Lang, Frankfurt 2011, ISBN 978-3-631-61828-8 Andreas Kinast: „Das Kind ist nicht abrichtfähig.“ Euthanasie in der Kinderfachabteilung Waldniel 1941–1943. Reihe: Rheinprovinz, 18. SH-Verlag, Köln 2010, ISBN 3-89498-259-4 Ernst Klee, „Euthanasie“ im NS-Staat. 11. Auflage, Fischer-Taschenbuch, Frankfurt am Main 2004, ISBN 3-596-24326-2 Angelika Ebbinghaus, Klaus Dörner (Hrsg.): Vernichten und Heilen. Der Nürnberger Ärzteprozeß und seine Folgen. Berlin 2002, ISBN 3-7466-8095-6 Urteil des Landgerichtes Frankfurt am Main vom 6. Juni 1972 Ks 1/66 Wagma Hayatie: Von der NS-„Euthanasie“ zum Facharzt in Uetersen: der Mediziner Dr. Kurt Borm. In: Sönke Zankel (Hrsg.): Uetersen und die Nationalsozialisten: Neue Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 77 von 78 Forschungsergebnisse von Schülern des Ludwig-Meyn-Gymnasiums. Schmidt & Klaunig, Kiel 2010, ISBN 978-3-88312-417-9 Internetquellen: http://journals.zpid.de/index.php/GdP/article/view/362/397 http://www.tolmein.de/bioethik,euthanasie,50,ermordung-behinderter-menschen.html https://www.kontextwochenzeitung.de/fileadmin/user_upload/2013/4/03042013/Buch_Im_Gedenk en_der_Kinder.pdf http://www.zeit.de/2006/42/Dresdener-Hygiene-Museum http://www.zeit.de/1986/11/euthanasie/komplettansicht Stefan Loubichi: Kölner Lesebuch gegen das Vergessen der NS Verbrechen Seite 78 von 78