20 Jahre auf dem Weg zur Einheit - Friedrich-Naumann
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20 Jahre auf dem Weg zur Einheit - Friedrich-Naumann
magazin programm 1_10 20 Jahre auf dem Weg zur Einheit Beiträge und Interviews von und mit Lothar de Maizière, Avi Primor, Jakob Hein und anderen Inhalt Editorial Hinter uns liegt ein Jahr des Rückblicks, aber auch des Abschieds. Im ovember jährte sich der Fall der Berliner Mauer zum 20. Mal. Damals N glückte eine friedliche Revolution, eine historische Sternstunde, wie es wenige gibt in der deutschen Geschichte. Zwei andere Tage des Jahres 2009 indes werden in der Erinnerung schwarz markiert bleiben: Im Juni verstarb, kurz nach seinem 80. Geburtstag, Lord Ralf Dahrendorf, im Oktober, im Alter von 90 Jahren, Werner Maihofer. Der Liberalismus verliert mit ihnen zwei seiner profiliertesten Vordenker. Auch unserer Stiftung waren beide aufs Engste verbunden: Dahrendorf war von 1982 bis 1987 Vorsitzender ihres Vorstandes, Maihofer war knapp drei Jahrzehnte Mitglied des Kuratoriums, davon einige Jahre stellvertretender Vorsitzender. 2009 könnte aber auch als ein Jahr der politischen Weichenstellung in die Annalen der Geschichte eingehen. Die Mehrheitsverhältnisse im neuen, Ende September gewählten Bundestag geben Anlass zur Hoffnung, dass die Politik hierzulande bald wieder eine klar erkennbare liberale Handschrift trägt. Vor uns liegen könnte dann ein Jahr des Aufbruchs, der Renaissance freiheitlicher Ideen. Verbunden mit dem Jahr 2010 ist natürlich aber auch noch etwas anderes: Am 3. Oktober feiert die deutsche Einheit ihren 20. Geburtstag. Der Sturz des SED-Regimes im Herbst 1989 bleibt das historische Verdienst der Bürger der damaligen DDR. Der 3. Oktober indes ist ein Feiertag mit perspektivischem Anspruch, schließlich begann 1990 etwas Neues. Auch der „Tag der Deutschen Einheit“ eignet sich für historische Retrospektiven, keine Frage. Viel mehr noch aber bietet er die Möglichkeit, Bilanz zu ziehen und sich über den Standpunkt und vor allem die Perspektiven unseres Landes neu zu verständigen. Genau das wollen wir tun, indem wir dieses Programm-Magazin thematisch dem 20. Jahrestag der deutschen Einheit widmen. Wir freuen uns, dass wir auch diesmal wieder zahlreiche prominente Vertreter aus Politik und Wissenschaft, Medienwelt und Kultur als Autoren gewinnen konnten. Jakob Hein gehört dazu, aufgewachsen in der DDR und berühmt geworden unter gesamtdeutschen Vorzeichen, Klaus Schroeder, dessen Schülerstudie zum DDR-Wissen für Furore sorgte, ferner Avi Primor, ehemaliger Botschafter des Staates Israel in Deutschland. Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre. Der Gott des rechten Augenblicks Dr. Dr. h. c. Lothar de Maizière 3 Vor allem eine Sache der Wahrnehmung Interview mit Dr. Jakob Hein 4–5 Das DDR-Bild von Jugendlichen Prof. Dr. Klaus Schroeder 6–7 Pro & Contra Aufbau Ost – weiter so? Pro: Prof. Dr. Karl-Heinz Paqué Contra: Uwe Müller 8–9 Programm 1. Halbjahr 2010 Verfassungspatriotismus im vereinten Deutschland Dr. Volker Kronenberg 10–11 Kurs gehalten. Das deutsch-israelische Verhältnis nach 1990 Avi Primor 12–13 „50 Jahre deutsche Einheit“. Ein fiktiver Rückblick Johannes Vogel MdB 14 Lesetipps, Impressum 15 Dr. h. c. Rolf Berndt Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit Titelbild: Mauergedenkstätte in der Bernauer Straße, Berlin 2 magazin 1_10 | thema Der Gott des rechten Augenblicks Dr. Dr. h. c. Lothar de Maizière Zwanzig Jahre Fall der Berliner Mauer, zwanzig Jahre Herstellung der deutschen Einheit – zwei Anlässe, sich an das zu erinnern, was in den stürmischen Tagen, Wochen und Monaten der Jahre 1989/1990 geschehen ist. Heute erscheint vieles etwas von einer historischen Zwangsläufigkeit zu haben. Wir tun heute manchmal so, als hätten die Akteure von damals schon gewusst, was aus ihrem Tun erwachsen würde. Dem war nicht so. Ein Beispiel: Als Gorbatschow mit Glasnost und Perestroika begann, hatte er nicht die Absicht, den Sozialismus in der Sow jetunion zu beseitigen und die UdSSR aufzulösen. Und doch kam es so. Es war, das habe ich einmal in einem Interview gesagt, eine „Zeit der Plötzlichkeit“. Ein anderes Beispiel: Am Abend des 9. November saß ich im Französischen Dom am Berliner Gendarmenmarkt. Manfred Stolpe, damals Konsistorialpräsident der Berlin-Brandenburgischen Kirche (Region Ost), hatte Vertreter aller alten und neuen Parteien und Gruppierungen dorthin eingeladen, um mit ihnen darüber zu beraten, wie es in der DDR weitergehen sollte. Wenige hundert Meter entfernt gab Günter Schabowski seine inzwischen historisch gewordene Pressekonferenz, bei der er eher beiläufig die Öffnung der Mauer erklärte. Wenig später strömten die ersten Ostberliner über die Bornholmer Brücke in Richtung Westen. Während wir also noch über eine neue, reformierte DDR diskutierten, wurde bereits die letzte Stunde dieses Staates eingeläutet. Schnell wurde aus der Losung „Wir sind das Volk!“ der Ruf „Wir sind ein Volk!“. Eine „Zeit der Plötzlichkeit“ eben. Dr. Dr. h. c. Lothar de Maizière war erster demokratisch gewählter Ministerpräsident der DDR. Von März bis Oktober 1990 war er Mitglied der Volkskammer, vom 3. Oktober 1990 bis zu seinem Ausscheiden am 15. Oktober 1991 Mitglied des Deutschen Bundestages. Heute arbeitet er als Anwalt. Wir alle konnten uns damals nicht vorstellen, dass in einem halben, drei viertel Jahr der Einigungsprozess so weit gedei- hen würde, wie er letztendlich gediehen ist. Wir alle waren überrascht von dieser historischen Plötzlichkeit, mit der wir in diesen Prozess hineinkamen. In der Regierungserklärung, die ich am 19. April 1990 abgab, habe ich noch gesagt: „Ich hoffe, dass wir 1992 in Barcelona mit einer gemeinsamen deutschen Olympiamannschaft antreten werden.“ Und Helmut Kohls Zehn-Punkte-Plan, den er im November 1989 im Deutschen Bundestag vorstellte, hatte, so hat er vor Journalisten eingeräumt, einen Zeithorizont von fünf bis acht Jahren. Die alten Griechen ordneten die Zeit zwei Göttern zu: dem Gott Chronos, der den Ablauf der Zeit, die ewige Zeit versinnbildlicht, und dem Gott Kairos, dem Gott der günstigen Gelegenheit und des rechten Augenblicks. Viele Menschen, die Demonstranten auf den Straßen in der DDR und den anderen osteuropäischen Staaten, sowie viele Politiker waren dem Gott Kairos behilflich. So ist der 9. November für mich zum Tag des Endes des 20. Jahrhunderts geworden: des Jahrhunderts zweier Weltkriege, zweier menschenverachtender Diktaturen, der leninistisch-stalinisti schen und der nationalsozialistischen. Wir Deutschen haben die große Chance, dass das, was wir am 3. Oktober 1990 begonnen haben, von keiner Diktatur entstellt und von keinem Krieg zerstört wird. Dafür müssen wir den Dreiklang „Einigkeit und Recht und Freiheit“ hüten und bewahren. 3 thema | magazin 1_10 Vor allem eine Sache der Wahrnehmung Der Schriftsteller Jakob Hein zu Ost-West-Unterschieden nach 20 Jahren Wiedervereinigung Dr. Jakob Hein _ Herr Hein, der 3. Oktober 1990 liegt fast zwanzig Jahre zurück. Ist zusammen gewachsen, was zusammengehört? Ich glaube, der Unterschied Ost/West ist immer noch ein Thema, sogar stärker, als ich mir das vor zwanzig Jahren hätte vorstellen können. Ich habe sogar die Befürchtung, dass ich dereinst als einer der letzten DDR-Schriftsteller von dieser Erde gehe. Eine bedrückende Vorstellung. Ich habe sogar schon überlegt, ob ich mich nicht umoperieren lasse zum Wessi. _ Kennen Sie Kliniken, die solche Eingriffe vornehmen? Dr. Jakob Hein ist Schriftsteller und arbeitet als Arzt in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Berliner Universitätskrankenhaus Charité. 4 Es gibt zumindest ein Internetportal, in dem man Biografien tauschen kann. Menschen, die aus beruflichen Gründen vom Westen in den Osten gehen müssen, können ihre Lebensgeschichte gegen eine Ost-Biografie tauschen und umgekehrt. Ich war mal kurz davor, mit jemandem aus Westerkappeln bei Osnabrück zu tauschen. In letzter Sekunde habe ich es mir dann aber doch verkniffen. magazin 1_10 | interview _ Gibt es Situationen im Alltag, in denen Sie noch an das Thema Ost-West-Unterschiede denken? Ich glaube, dass dieser Unterschied vor allem eine Sache der Wahrnehmung ist. Der Unterschiedene kann häufig gar nichts dafür. Mir selbst würde es im Übrigen nie einfallen, mir meine Freunde oder Gesprächspartner danach auszusuchen, ob sie aus dem Osten oder Westen kommen. Ich fände es ziemlich absurd, jemanden nur deshalb sympathisch zu finden, weil er einen bestimmten Sozialisationshintergrund hat. _ Wenn Sie mal an 1990 zurückdenken: Wie haben Sie damals zur Frage der deutschen Einheit gestanden? Es war doch eigentlich recht früh klar, dass alles auf die Einheit hinauslief. Dagegen zu sein, das wäre so gewesen, als wäre man gegen Kiefern in Mischwäldern. Was ich mir allerdings schon gewünscht hätte: dass man sich auf beiden Seiten mehr Zeit fürs Nachdenken, für eine kritische Reflexion genommen hätte. So ist alles sehr schnell gegangen, und hinterher musste sehr viel verdaut werden. _ Die Frage an den Arzt: Kann man das heilen, Ideologiegläubigkeit? Das ist nicht so einfach, einmal, weil Ideologie einfache Antworten auf komplexe Fragen gibt, aber auch, weil man ja nur Menschen heilen kann, die sich krank fühlen. Als gesellschaftliches Phänomen finde ich Ideologien im Übrigen hochinteressant. Unsere Gegenwart beispielsweise krankt an etwas, was ich als Ideologie der Zahlen bezeichnen würde. Es wird so getan, als ob Zahlen Naturgesetze sind, die über uns hinwegrollen, Wachstumsprognosen beispielsweise. _ Ideologie bedeutet ja auch Gleichmacherei. Sie selbst haben den Spagat zwischen Medizin und Schriftstellerei gewagt. Würden Sie sich als Individualist bezeichnen? Sicher, das Leben, das ich in den letzten Jahren geführt habe, wäre in der DDR so nicht möglich gewesen. Sich entfalten zu können, das ist natürlich ein ungeheures _ Sie haben im Ausland studiert, in Schweden und den USA … Eine solche Studien biografie hätte unter DDR-Vorzeichen natürlich eher ins Reich der Träume gehört. Ich glaube nicht, dass ich in der DDR dreißig geworden wäre; ich wäre sicher akut gefährdet gewesen, das Land zu verlassen. Ich bin jemand, der immer gerne gereist ist. Außerdem hatte ich von jeher eine Ideologie-Allergie. Ich habe Ideologien schon immer als hohl und blutleer empfunden. Privileg, für das ich dankbar bin. Es wäre schön, wenn möglichst viele Menschen in diesen Genuss kämen. Trotzdem habe ich immer noch das Gefühl, dass ich versehentlich in der ersten Klasse gelandet bin und gar keine Fahrkarte habe. Irgendwann kommt vielleicht der Schaffner und wirft mich raus. Aber bis dahin genieße ich die Fahrt. _ Vielen Menschen geht die Lust an der Freiheit verloren, sobald sie merken, dass Freiheit mit Verantwortung zu tun hat. Das ist richtig. Ich finde es beispielsweise wichtig, dass man am politischen Leben partizipiert und zur Wahl geht. Das Recht auf Meinungsfreiheit setzt aber auch die Pflicht zur Informationsgewinnung voraus. Was mich in diesem Zusammenhang bedrückt: dass in den letzten Jahrzehnten das öffentliche Reflexionsniveau immer weiter verflacht. Politiker haben für ihre Pressestatements, wenn’s hoch kommt, noch zwanzig Sekunden, das klassische Fernsehen wird abgelöst durch zweieinhalb Minuten auf YouTube. Freiheit aber heißt Partizipation. Wenn wir nur noch auf der Grundlage von Kurzinformationen partizipieren, geben wir Freiheit auf. _ Sie haben viel über Berlin geschrieben. Hat sich Berlin, seit es Hauptstadt ist, verändert, und hat Berlin die Politik verändert? Ich habe die Hauptstadt-Diskussion seinerzeit für ziemlich absurd gehalten. Es wäre verständlich gewesen, wenn man sie aus Kostengründen verschoben hätte. Aber in dem Moment, als man die Frage gestellt hat, konnte die Antwort nicht Bonn lauten. Der Umzug nach Berlin hat die Politik ganz sicher wieder dichter ans reale Leben gerückt. Inwieweit sich Berlin als Ganzes verändert hat, lässt sich wahrscheinlich erst in zwanzig Jahren sagen. Spandau oder Treptow wird man auch sicher dann noch wiedererkennen. Auf das Gesicht von Berlin als Ganzes indes bin ich gespannt. Das Interview führte Boris Eichler. Die voll ständige Fassung des Interviews als Video finden Sie im Internet unter www.freiheit.org 5 thema | magazin 1_10 Das DDR-Bild von Jugendlichen Prof. Dr. Klaus Schroeder Prof. Dr. Klaus Schroeder ist Leiter des Forschungs verbundes SED-Staat der FU Berlin sowie der Arbeitsstelle Politik und Technik des Otto-Suhr-Institutes. 6 Was weiß eine Generation, die die DDR nicht mehr aus eigener Anschauung kennt, über diesen 1990 von der europäischen Landkarte verschwundenen Staat? Der Forschungsverbund SED-Staat der Freien Universität Berlin ist dieser Frage nachgegangen und hat mehr als 5.200 Schülerinnen und Schüler in fünf Untersuchungsregionen in Ost- und Westdeutschland (Bayern, Berlin Ost, Berlin West, Brandenburg und Nordrhein-Westfalen) nach ihrem Wissen über die DDR befragt. Folgendes ist dabei aufgefallen: Die überwiegende Mehrzahl der befragten Schüler in den fünf Untersuchungsregionen glaubt, wenig über die DDR und das geteilte Deutschland zu wissen, und erfährt hierüber in der Schule kaum etwas oder überhaupt nichts. Dabei ist die DDR in den drei westdeutschen Regionen häufiger Unterrichtsgegenstand als in den beiden ostdeutschen. Gleichzeitig äußern viele der Jugendlichen Interesse an der DDR und möchten mehr über das Leben dort erfahren. magazin 1_10 | thema Eine Mehrheit der Schüler hat ein überwiegend negatives Gesamtbild der DDR. Immerhin knapp 40 Prozent legen sich aber nicht fest oder geben eine positive Bewertung ab. In Ostdeutschland sowie unter Haupt- und Realschülern liegt die Quote der negativen Stimmen sogar deutlich unter der absoluten Mehrheit. Anhänger der PDS/Linkspartei und der NPD urteilen am positivsten, Sympathisanten der Bündnis-Grünen am negativsten über die DDR. Ostdeutsche Schüler loben mit breiter Mehrheit die sozialen Seiten des SED-Staates, und gleichzeitig neigt eine beträchtliche Minderheit unter ihnen zur Ausblendung diktatorischer Aspekte. Westdeutsche Schüler sprechen – wenn auch in abgeschwächter Form – der DDR bei einigen sozialen Dimensionen des Lebens ebenfalls ein Lob aus, erkennen aber mit sehr breiter Mehrheit den Diktaturcharakter dieses Staates. Der Vergleich verschiedener politischer und gesellschaftlicher Dimensionen der beiden deutschen Teilstaaten zeigt ebenfalls eine unterschiedliche, mitunter sogar gegensätzliche Sichtweise. Westdeutsche Jugendliche präferieren auf nahezu allen Feldern die Verhältnisse in der alten Bundesrepublik, ostdeutsche in den sozialen und alltäglichen Bereichen die DDR und bei den politischen Aspekten mit allerdings geringeren Anteilen als ihre westdeutschen Mitschüler die Bundesrepublik. Eine nennenswerte Minderheit vornehmlich ostdeutscher Schüler favorisiert sogar das politische System und vor allem die Wirtschaftsordnung der DDR. Die Trennlinien zwischen Demokratie und Diktatur sind vielen Schülern nicht bekannt. In Ostdeutschland kennzeichnet nicht einmal jeder Zweite, in Westdeutschland immerhin noch jeder Dritte die DDR nicht ausdrücklich als Diktatur. Eine absolute Mehrheit weiß nicht, ob die DDR-Regierung durch demokratische Wahlen legitimiert war. Wie die älteren Generationen präferieren junge Westdeutsche stärker als ihre ostdeutschen Altersgenossen individuelle Freiheit statt soziale Rundumversorgung und sind Ausländern gegenüber wesentlich toleranter eingestellt. Erfreulicherweise wird die Wiedervereinigung nur von wenigen Schülern, im Wes ten häufiger als im Osten, in Frage gestellt. In Westdeutschland – vornehmlich in Nordrhein-Westfalen – zeigt sich an den Schulen eine auch in der Bevölkerung vorhandene Tendenz, der DDR und ihrer Geschichte immer weniger Bedeutung beizumessen, da sie nur die Vergangenheit der Ostdeutschen beträfe. Die große Mehrheit der Jugendlichen konnte die von uns gestellten Wissensfragen nicht richtig beantworten. Außer in Bayern, wo auch die Hauptschüler durch vergleichsweise hohes Wissen glänzen, haben breite Mehrheiten kaum ausgeprägte Kenntnisse über die DDR. Auch zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer zeigt die ostdeutsche Gesellschaft starke postsozialistische Tendenzen, und zwar sowohl in der mentalen Verfassung großer Teile der Bevölkerung als auch im Hinblick auf die Kritik demokratischpluralistischer Institutionen. Die in der DDR erworbenen mentalen Prägungen wirken weiter und werden in den verschiedenen Milieus ebenso wie Fragmente eines Geschichtsbildes an jüngere Generationen weitergegeben. In familiären Gesprächen wird Jugendlichen ein selektives DDR-Bild vermittelt. Erzählt werden positive Erlebnisse sowie im Nachhinein als lobenswert empfundene Aspekte des SED-Staates. Dabei nehmen die Arbeitsplatzsicherheit – ohne Berücksichtigung ihrer negativen Seiten – und der Zusammenhalt in Betrieb und Wohngebiet eine herausragende Rolle ein. Die diktatorischen Bedingungen und die Mangelwirtschaft werden dagegen ebenso wie die Aktivitäten des MfS nur selten erwähnt. Die Beurteilung der DDR durch die Schüler erfolgt weitgehend assoziativ, wobei das Bild ostdeutscher Schüler stärker von Familiengesprächen, das westdeutsche stärker durch den Schulunterricht beeinflusst wird. Das Bild der DDR ist auffällig geprägt durch den Kenntnisstand: Je mehr Schüler über den SED-Staat wissen, umso kritischer fällt ihr Urteil aus, unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Alter und besuchtem Schultyp. Es muss Aufgabe der Schule sein, dieses Wissensdefizit auszugleichen. Dabei sollte die Delegitimation der sozialistischen Diktatur mit der Vermittlung freiheitlich-demokratischer Werte verknüpft werden mit dem Ziel, Jugendliche gegen jegliche diktatorische Verführung zu immunisieren. 7 pro | magazin 1_10 Aufbau Ost – weiter so? Pro Prof. Dr. Karl-Heinz Paqué Prof. Dr. Karl-Heinz Paqué ist Autor des Buches „Die Bilanz – eine wirtschaftliche Analyse der Deutschen Einheit“, jüngst erschienen im Carl Hanser Verlag, München. Er war von 2002 bis 2006 Finanzminister des Landes Sachsen-Anhalt. Er ist Professor der Volkswirtschaftslehre an der Otto-von-GuerickeUniversität Magdeburg. Er hat dort einen Lehrstuhl für Internationale Wirtschaft. 8 Nötig, richtig, unvermeidbar. – Der Mauerfall war ein großer Sieg der Freiheit. Und er war eine große Herausforderung für die Politik, vielleicht die größte, die es jemals in einem Industrieland gegeben hat. Denn plötzlich konnten Millionen von Menschen abwandern. Nur wenige Kilometer westlich lockte die Arbeit: bei gleicher Sprache, Kultur und Tradi tion, aber bei modernem Kapitalbestand, markterprobter Produktpalette und Löhnen, die weltweit mit an der Spitze lagen. „Erweiterung West“ statt „Aufbau Ost“, das war stets ökonomisch möglich, mit dem Osten als verlassenem Bauernland, Biotop und Rentnerparadies. Politisch war es undenkbar, genauso wie das Errichten einer neuen Mauer. Damit hätte klar sein müssen: Die deutsche Einheit wird extrem schwierig und teuer. Denn jede Weichenstellung musste schnell sein, Vertrauen schaffen und Löhne in Aussicht stellen, die nicht allzu weit unter dem westdeutschen Niveau lagen. Alle anderen Ideen waren Illusionen, gepflegt von Wirtschaftstheoretikern und Salonsozialisten, die keine Verantwortung trugen. Die Politik dagegen reagierte entschlossen und mutig: Die sofortige Währungsunion schuf vertrauenswürdiges, stabiles Geld, die Treuhandanstalt privatisierte die volkseigenen Betriebe im Rekordtempo, die Wirtschaftsförderung setzte ein, zügig und massiv. Das Ergebnis: der radikalste Strukturwandel der Wirtschaftsgeschichte. Zunächst die fast komplette De-Industria lisierung des Ostens bei gleichzeitigem Bau- und Dienstleistungsboom, und dann die kontinuierliche Re-Industrialisierung mit permanenter Krise der Bauwirtschaft. Also: eine tiefgreifende Umwälzung im Zeitraffer – mit riesigen persönlichen Opfern, politischen Stockfehlern und hohen Kosten, nur möglich durch Transfers aus dem Westen. Und gleichzeitig eine verbreitete Frustration der Bevölkerung über die Marktwirtschaft, die noch heute im Osten zu spüren ist. Ein gewaltiges Dra- ma der Anpassung. Aber: im Kern nötig, richtig und unvermeidbar. Was ist dabei herausgekommen? Eine ostdeutsche Industrie, die heute wieder fast zehn Prozent der gesamtdeutschen Produktion liefert – nach gerade mal 3,5 Prozent am Tiefpunkt 1992. Obendrein eine wettbewerbsfähige Industrie, die 70 bis 80 Prozent der westdeutschen Arbeitsproduktivität aufweist, bei zwei Drittel des Lohnniveaus. Eine verlängerte Werkbank des Westens mit beachtlich gestiegener Exportorientierung, aber noch immer zu wenig Forschung und Entwicklung. Effi zient, preiswert und flexibel, aber mit noch schwacher Innovationskraft. Stark genug, um am Markt zu bestehen, aber noch nicht groß genug, um die Transferlücke zwischen Verbrauch und Produktion im Osten zu schließen. Diese hat zwar deutlich abgenommen, aber Rentenzahlungen und Arbeitslosenunterstützung lasten noch immer schwer. Ist dies enttäuschend? Nur für den, der naive Erwartungen hatte. Denn der Flurschaden des Sozialismus ist gewaltig – ob in Tschechien, wo ohne „Aufbau Ost“ gerade mal 30 Prozent der industriellen Arbeitsproduktivität Westdeutschlands erzielt werden, oder eben in Ostdeutschland, wo es mit „Aufbau Ost“ 70 bis 80 Prozent sind. Die Wiedergeburt der Innovationskraft, verbunden mit dem Aufstieg eines neuen Unternehmertums, wird noch Jahrzehnte dauern. Was ist zu tun? Wir brauchen eine zukunftsorientierte Industriepolitik für den Osten. Dies verlangt Prioritäten: weg von Maßnahmen der Arbeitsbeschaffung hin zur Innovationsförderung; weg von Pres tigeprojekten der Infrastruktur hin zur wirtschaftsfreundlichen Ansiedlungspolitik vor Ort, wie sie manche erfolgreiche Bürgermeister schon längst praktizieren. Und vor allem: keine Mindestlöhne. Nur so kommen wir der Vollendung der deutschen Einheit näher, Schritt für Schritt. magazin 1_10 | contra So viel Aufbruch war selten. Im Jahr 1989 wurde der Eiserne Vorhang zerschnitten, überall in den Ostblockstaaten begehrten die Menschen auf, und die kommunistischen Regimes kippten wie Dominosteine. Nach einer Phase rascher Freiheitssiege galt es, marode Planökonomien in Marktwirtschaften zu verwandeln. Bei dem nun einsetzenden Wettbewerb um den besten Weg schienen die Bürger der ehemaligen DDR klar im Vorteil, denn sie mussten die Last des Umbaus nicht allein schultern. Gefordert waren die Bundesdeutschen, die in den Zeiten der Teilung auf der Sonnenseite gestanden hatten und ein beeindruckendes Werk der Solidarität in Gang setzten. Zwanzig Jahre später ist der Osten der Republik kaum wiederzuerkennen. Die Infrastruktur ist so modern wie kaum anderswo, einst zerfallene Städte und verwüstete Landschaften sind saniert. Ob Wohlstand, Lebensqualität oder Bildung – die Fortschritte sind in fast allen Bereichen gewaltig. In geradezu atemberaubender Geschwindigkeit haben sich die Anpassungsprozesse zwischen Ost und West vollzogen. Zwar sorgen noch bestehende Unterschiede bei vielen Ostdeutschen für Verdruss. Sie übersehen dabei, dass die Gefälle innerhalb des Westens mittlerweile oft größer sind als die zwischen Ost und West. War der Aufbau Ost also ein Erfolg? Ökonomisch kann die Bilanz nicht befriedigen. Denn während in den Reformstaaten durchweg robuste Volkswirtschaften entstanden sind, hat sich im deutschen Osten eine gigantische Wirtschaftssonderzone herausgebildet. Nirgendwo sonst auf der Welt muss eine vergleichbar große Re gion innerhalb eines Staates vom stärkeren Landesteil so allumfassend alimentiert werden, bislang mit insgesamt rund 1,6 Billionen Euro. Damit ließen sich auf einen Schlag alle Staatsschulden tilgen. Doch die Politik des vielen Geldes hat in eine Sackgasse geführt. Auf sich gestellt, wäre Ostdeutschland ebenso wenig über- lebensfähig, wie es die DDR in ihrer Endphase war. Die Westdeutschen haben 2008 netto etwa 80 Milliarden Euro in die neuen Länder und nach Berlin überwiesen. So steht es in einer Studie, der zufolge die Belastung auch in absehbarer Zeit nicht geringer wird. Der Betrag entspricht gut drei Prozent des gesamtdeutschen und mehr als 20 Prozent des ostdeutschen Bruttoinlandsprodukts. Oder 4.850 Euro pro Bürger in Ostdeutschland. Größtenteils werden die Mittel für Sozialleistungen benötigt. Bereinigt um die Transfers, erreicht die Wirtschaftsleistung im Osten je Einwohner nicht einmal das Niveau von Zypern, Slowenien oder Tschechien. Und statt auf der Überholspur bewegen sich die neuen Länder und Berlin auf der Kriechspur, das reale Bruttoinlandsprodukt ist zwischen 1997 und 2008 im Durchschnitt jährlich so eben um 1,1 Prozent (alte Länder: 1,6 Prozent) gestiegen. Trotz solcher Zahlen ist es um den Aufbau Ost still geworden. Die Politik verdrängt und verschleiert den Fehlschlag. Ein „Weiter so!“ darf es aber nicht geben, denn die Verhältnisse wenden sich nicht zum Besseren. Die ostdeutsche Gesellschaft schrumpft und altert rasant. Dabei setzt nun ein fataler Prozess ein: Im Verhältnis zu Westdeutschland nimmt im Osten, wo bereits mehr Alte und weniger Junge leben, der Anteil der Menschen im erwerbsfähigen Alter beständig ab. Statt aufzuholen, fällt der Osten wegen dieses demografischen Handicaps, das über die Jahrzehnte hinweg immer größer werden wird, zwangsläufig wieder zurück. Der schon erreichte wirtschaftliche Angleichungsgrad lässt sich nicht halten. Ein Patentrezept dagegen gibt es nicht. Statt ausufernder Fürsorge benötigt Ostdeutschland jedoch endlich mehr echte Freiheit. Dazu müssen wir unseren verkrusteten Föderalismus von Grund auf reformieren. Das aber ist eine gesamtdeutsche Aufgabe. Contra Uwe Müller Uwe Müller ist Volkswirt und Reporter der Tages zeitung „DIE WELT“. Vor fünf Jahren hat er den Bestseller „Supergau Deutsche Einheit“ geschrieben. Mit Co-Autorin Grit Hartmann hat er jetzt „Vorwärts und Vergessen! Kader, Spitzel und Komplizen: Das gefährliche Erbe der SED-Diktatur“ vorgelegt. Beide Bücher sind bei Rowohlt Berlin erschienen. 9 thema | magazin 1_10 Verfassungspatriotismus im vereinten Deutschland Dr. Volker Kronenberg Kaum ein anderer Begriff der politischen Kultur der Bundesrepublik hat in den letzten Jahren eine solche Renaissance erfahren wie der Patriotismus. Man blicke nur zwei Jahrzehnte zurück: Noch während des „Historikerstreits“ der „alten Bundesrepublik“ haftete dem nationalen Patriotismus der Hautgout des Anachronismus an. Der dominierenden Selbstdeutung der Bundesrepublik als „postnationaler Demokratie unter Nationalstaaten“ korrespondierte damals ein von Jürgen Habermas popularisiertes Identitätskonzept eines transnationalen Verfassungspatriotismus. Die nationalstaatliche, also die „deutsche“ Perspektive war hinter eine europäische, ja weltbürgerliche zurückgetreten. Dr. Volker Kronenberg ist Akademischer Direktor am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn. 10 Doch war es eben dieses Postnationale, welches sich im Moment der „friedlichen Revolution“ in der DDR von 1989 als eine „entschieden selbstbezügliche provinziellnationale Denkfigur“ entpuppte und einem anderen Verständnis des Patriotismus mehr Raum zugestehen musste. magazin 1_10 | thema Hat infolge der Wiedervereinigung nun die nationszentrierte über die verfassungszentrierte Perspektive des Patriotismus obsiegt? Keineswegs, auch wenn bzw. gerade weil der „Verfassungspatriotismus“ nach 1990 immer stärker auf sein Ursprungskonzept, wie es Dolf Sternberger 1979 formulierte, zurückgeführt wurde. Dieser hatte in signifikantem Gegensatz zu Habermas eine „gemischte Verfassung“ im Sinne der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zur festen Bezugsgröße eines bundesrepublikanischen Patriotismus erklärt, ohne diesen als Ersatz für einen nationalen Patriotismus zu sehen. Warum konnte sich dieses Patriotismusverständnis, das sich sowohl in den weltoffen-konkreten Verfassungsnormen des Grundgesetzes widerspiegelt als auch in der europäischen bzw. westlichen Kulturtradition verwurzelt ist, durchsetzen? Tatsache ist: Schon in der rot-grünen Regierungszeit erfolgte eine Rückbesinnung auf die „Nation“ diesseits einer postnationalen Europaidee sowie – damit verbunden – die Proklamation eines freiheitlichen Patriotismus innerhalb einer demokratischen Nation. Auch als Antwort auf die enormen integrationspolitischen und demografisch-zuwanderungspoliti schen Herausforderungen („Leitkulturdebatte“) wurde zunehmend über das politisch-kulturelle Wertefundament der deutschen Gesellschaft, mithin über die Frage, wer als Bürger seines Landes bereit ist, welchen Beitrag zur Sicherung des Gemeinwohls zu leisten, debattiert. Und das nicht zuletzt von unerwarteter Seite: Ein „Patriotismus von links“ wurde verkündet, eine Wiederannäherung an die Nation gesucht, ja die Berliner Republik sogar zum „Vaterland“ erklärt. Erstaunlich, aber verständlich, ging es dem Patriotismus-Diskurs der vergangenen Jahre doch vor allem um die Sensibilisierung des Bürgers hinsichtlich der Notwendigkeit, für sein Land, in das er entweder geboren wurde oder für das er sich willentlich entschieden hat und dem er sich zugehörig fühlt, tätig einzustehen, nicht zuletzt auch – Stichwort: Auslandseinsätze der Bundeswehr –, wenn es um das große Ganze geht, etwa um die Verteidigung und Zukunftssicherung der Nation als staatlich verfasster Bewusstseinsgemeinschaft aller Bürgerinnen und Bürger. Zunehmend setzt sich, von linksdemokratischer ebenso wie von liberalkonservativer Seite getragen, eine Übereinstimmung dahin gehend durch, dass die Verpflichtung auf gemeinsame Werte, Rechte und Pflichten die entscheidende Voraussetzung dafür darstellt, dass es eine von Zuwanderung geprägte Gesellschaft ihren Bürgern ermöglicht, gemeinsam, sicher und friedlich zusammenzuleben. Interdependenzen in Politik, Gesellschaft und Kultur der „Berliner Republik“ haben zu einem neuen Nachdenken über Patriotismus geführt, zu einem moderateren Ton und einem sachlicheren Tenor in der öffentlichen Debatte. Geschichtsbewusste und gesellschaftlich geweitete Perspektiven geben zur Hoffnung Anlass, künftig weniger über Patriotismus reden, ihn beschwören oder problematisieren zu müssen, als vielmehr seine Lebendigkeit konstatieren zu können. Dieser Patriotismus gründet auf Recht und Gemeinwohl und formuliert eine überzeugende Antwort auf die Frage, was der Deutschen „Vaterland“ sei. 11 thema | magazin 1_10 Kurs gehalten. Das deutsch-israelische Verhältnis nach 1990 Avi Primor Avi Primor ist Direktor des Zentrums für Europäische Studien an der Privatuniversität IDC Herzliya, Israel. Von 1993 bis 1999 war er Botschafter des Staates Israel in der Bundesrepublik Deutschland. 12 1989 lebte ich in Brüssel, als israelischer Botschafter, akkreditiert sowohl bei der Europäischen Union als auch beim belgischen König und beim luxemburgischen Großherzog. Wie viele Menschen weltweit verbrachte auch ich die Nacht vom 9. auf den 10. November vor dem Bildschirm, verblüfft über die Geschehnisse in Berlin. Für mich bedeutete der Mauerfall in Berlin einen historischen Durchbruch in Richtung einer immensen Hoffnung. Erstaunt stellte ich aber fest, dass die Ereignisse in den Kreisen, in denen ich mich in Brüssel bewegte, nicht überall so positiv aufgenommen wurden wie von mir. Über den Fall der Mauer und die deutlichen Risse im Eisernen Vorhang freute man sich zwar. Die Ängste vor den bevorstehenden Entwicklungen jedoch waren größer. Irgendwie schien sich die Welt an das Gleichgewicht des Schreckens zwischen den beiden Weltblöcken gewöhnt zu haben, irgendwie schien sie aus diesem Zustand ein Gefühl von Sicherheit zu schöpfen. Die Zukunft aber war ungewiss und machte Angst. magazin 1_10 | thema Dass die Ostdeutschen den Weg zur Freiheit fanden, war zwar erfreulich, über das zukünftige Deutschland aber machte man sich Sorgen. Mehrfach habe ich in Brüssel – und dies nicht unbedingt von Juden oder Israelis – den Begriff des „Vierten Reichs“ gehört. Europa hatte sich an eine Bundesrepublik gewöhnt, die sich im Laufe der Jahre nicht nur zu einer echten demokratischen Gesellschaft entwickelt hatte, sondern die auch ernsthaft an ein europäisches Deutschland glaubte und sich von der Idee eines deutschen Europas endgültig gelöst hatte. Die demografisch größte Nation der Europäischen Union zu werden, das könnte, so die Befürchtung im Mikrokosmos Brüssel, die Deutschen wieder auf unkalkulierbare Ideen bringen. Die Ängste, die man eu ropa-, ja weltweit angesichts einer Wiedererstarkung Deutschlands empfand, gab es in Israel ebenfalls. Hinzu kamen Sorgen um die Zukunft der deutsch-israelischen Beziehungen. Unter größten Schwierigkeiten – und gegen den Willen der Mehrheit der eigenen Bevölkerung – hatten die israelische und die westdeutsche Regierung ei nen langjährigen Annäherungsprozess erfolgreich in die Wege geleitet. Die DDR hingegen hatte sich einer solchen Annäherung gänzlich verweigert. Mehr noch: Im gesamten sowjetischen Block, der mit Ausnahme von Rumänien 1967 die diplomatischen Beziehungen mit Israel abgebrochen und seither seinen Ton dem jüdischen Staat gegenüber unüberhörbar verschärft hatte, zeichnete sich die DDR als größter Feind Israels aus. Die DDR, die im Gegensatz zu allen anderen kommunistischen Staaten den Staat Israel nie anerkannt hatte, betrieb eine beharrliche Hasspropaganda gegen Israel und unterstützte aktiv nah östliche Terrorgruppierungen, die Israel bekämpften. Folglich fürchtete man in Jerusalem, eine Vereinigung der beiden deutschen Staaten könnte die deutschisraelische Annäherung zunichtemachen, weil die Haltung der sich auflösenden DDR in Dingen Nahost auf das Verhältnis des vereinten Deutschlands zu Israel ei- im Westen bezeichnete, dass „das Land, das wirtschaftlich und technologisch so mächtig war wie Kalifornien“, wie man die DDR in Amerika beschrieb, wirtschaftlich nicht mehr als eine Seifenblase war. Helmut Kohl, die gesamte Bundesregierung wie auch die westdeutsche Bevölkerung konnten darüber hinaus die Welt davon überzeugen, dass Deutschland, was seine Europa-Politik und sein Verhältnis zu Israel anbelangte, Kurs halten würde, ungeachtet seiner neuen Größe. In Israel beobachtete man diese Entwicklungen aufmerksam. Schnell stellte man fest, wie wenig die Hasspropaganda der DDR die Meinung der Bevölkerung tatsächlich beeinflusst hatte. Israelische Besucher in den neuen Bundesländern berichteten, dass die Hasspolitik und -propaganda dort keinerlei Spuren hinterlassen hatte. nen verheerenden Einfluss haben könnte. Diese Sorge ging so weit, dass der damalige israelische Ministerpräsident Itzchak Schamir Bundeskanzler Helmut Kohl in einem Schreiben drängte, die Wiedervereinigung Deutschlands nicht Realität werden zu lassen. Die DDR-Bürger, so wie die Bürger in den meisten kommunistischen Ländern, hatten sich primär Sorgen um ihre Lebensbedingungen unter den diktatorischen und unterdrückerischen Umständen gemacht. Die offizielle Propaganda in allen Bereichen, besonders auf dem Gebiet der Außenpolitik, interessierte sie kaum. Die Ostdeutschen wussten wenig über Israel und waren daran interessiert, ihre Lücken auch in diesem Bereich zu schließen. Dies führte zu einem fruchtbaren Dialog zwischen Israel und den neuen Bundesländern und zur Fortsetzung der guten Beziehungen zwischen Deutschland und Israel. Die Ängste vor der DDR evaporierten rasch. Zunächst stellte die Welt sehr schnell fest, dass „die zehntgrößte Industriemacht der Welt“, wie man die DDR 13 thema | magazin 1_10 thema | magazin 1_10 „50 Jahre deutsche Einheit“. Ein fiktiver Rückblick Johannes Vogel MdB Zum 50. Jubiläum der deutschen Einheit kann man als Liberaler gleich doppelt feiern. Zum einen mit freudiger Erinnerung an 1989/90, an den Einheitswillen der Deutschen, der genauso Freiheitswille gewesen ist. Zum anderen darf man sich in die Zukunft freuen, denn es ist eine Generation herangewachsen, für die die FDP ganz selbstverständlich eine Partei auf Augenhöhe mit den Konservativen und der Sozialdemokratie geworden ist. Diese Erfolgsgeschichte der Freien Demokraten hat dem Land gutgetan. Die Gesellschaft ist vielfältig und offen, die klügsten Köpfe der Welt kommen zu uns und bereichern unser Land. Die Zeiten, in denen Leistungsfreundlichkeit und Solidarität Gegenbegriffe waren, sind vorbei. Deutschland steht gut da, es stellt sich den Herausforderungen der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts. 2040 sind die Aussichten also blendend. Warum so optimistisch? Weil es gelungen ist, liberale Politik umzusetzen. Weil die FDP gesellschaftlichen Entwicklungen Rechnung getragen, weil sie im Gegensatz zu anderen eingesehen hat, dass heute bei jeder Wahl jede einzelne Stimme neu gewonnen werden will. Weil sie deswegen als moderne Partei vor allem auf Glaubwürdigkeit und Kompetenz gesetzt hat. So ist es gelungen, die soziale Marktwirtschaft zu reformieren und damit zu bewahren. Das Substantiv ist eben Marktwirtschaft und sozial das Adjektiv. Johannes Vogel ist Bundesvorsitzender der Jungen Liberalen und seit 2009 Bundestagsabgeordneter. 14 Nur der florierende Markt bringt Wohlstand, individuell und gesellschaftlich. Sozial ist das Ganze, weil der Wohlstand dazu genutzt wird – und genutzt werden sollte –, denen unter die Arme zu greifen, die am Markt einmal Pech gehabt oder auch ganz grundsätzliche Schwierigkeiten haben. Durch Transparenz und mutige Entscheidungen ist es gelungen, dem deutschen Sozialstaat seinen gigantischen ursprünglichen Erfolg wiederzugeben, auch zwischen den Generationen. Heute, im Jahr 2040, ist er einfach wieder das, was er sein sollte: fair! Glücklicherweise sieht dies inzwischen auch so gut wie jeder ein. Und richtig glücklich macht auch der Grund für diese Einsicht, die liberale Bildungspolitik. 2040 weiß die ganze Welt, wie Deutschland seinen Status als Wirtschaftsmacht erhalten und festigen konnte – Bildung, made in Germany. Die Förderung jedes Einzelnen, von frühester Kindheit bis ins hohe Alter, Schulen, die zum Fördern und Fordern auch tatsächlich Geld haben, und konkurrenzlos gute Rahmenbedingungen für die Wissenschaft, dies alles musste mühsam durchgesetzt werden. Ein halbes Jahrhundert nach der Wiedervereinigung wissen wir aber, dass sich die Mühe gelohnt hat. Denn soziale Marktwirtschaft und Bildung sind zwei Seiten derselben Medaille. Geprägt wird diese durch die Freiheit. magazin 1_10 | lesetipps Andreas Rödder Jürgen Ritter/Peter Joachim Lapp Stefan Wolle Deutschland einig Vaterland Die Grenze Die heile Welt der Diktatur Die Geschichte der Wiedervereinigung C.H. Beck Verlag, München, 2009, 24,90 1 ISBN 978-3-406-56281-5 Schon den Zeitgenossen war klar: 1989/90 erlebten sie Weltgeschichte. Der Zusammenbruch des Ostblocks, der Fall der Mauer, das Ende der DDR, die Wiedervereinigung Deutschlands beendeten eine Epoche, die im Zeichen der Weltkriege und des Ost-West-Konflikts gestanden hatte. Ein neues Zeitalter begann. Dieses Buch erzählt, wie alles geschah. Andreas Rödders Buch ist eine souveräne, sorgfältig differenzierende und mit großer Sensibilität für die unterschiedlichen Perspektiven von West- und Ostdeutschen geschriebene Gesamtdarstellung der deutschen Einheit. Ein deutsches Bauwerk Ch. Links Verlag, Berlin, Neuauflage 2007, 29,90 1 ISBN 978-3-86163-466-6 Jürgen Ritter hat zu Zeiten der deutschen Teilung über Jahre die Sperranlagen an der „grünen Grenze“ von westlicher Seite aus fotografiert und ein Archiv mit über 40.000 Motiven aufgebaut. Peter Joachim Lapp recherchierte die genauen Mechanismen der Grenzsicherung und dokumentiert prominente Fälle von Versuchen zur Überwindung dieser tödlichen Anlagen. Seit dem Ersterscheinen des Buches hat sich das Erscheinungsbild entlang der innerdeutschen Grenze deutlich verändert. Von der einstigen Teilung zeugen oft nur noch vereinzelte Hinweisschilder. Die aktualisierte Auflage zeichnet die Veränderungen fotografisch eindrucksvoll nach. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971–1989 Ch. Links Verlag, Berlin, Neuauflage 2009, 24,90 1 ISBN 978-3-86153-554-6 Die Bilder von der untergegangenen Welt der DDR fallen immer mehr auseinander. Die einen erinnern sich behaglich schmunzelnd an die humoristischen Aspekte des DDR-Alltags, andere verweisen bitter und anklagend auf Mauer, Schießbefehl und Stasi-Knast. Stefan Wolle versucht, diese widersprüchlichen Bilder wieder zusammenzufügen. Von den Alltagserfahrungen bis zu den Herrschaftspraktiken – ein Geschichtsbuch, das Maßstäbe setzt: materialreich, provokant und sinnlich. Impressum Herausgeber: Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit Truman-Haus Karl-Marx-Straße 2 14482 Potsdam-Babelsberg Verantwortlich: Kirstin Balke Leiterin Redaktion der Freiheit www.freiheit.org Kontakt: Pressestelle Telefon 03 31.70 19-2 76 Telefax 03 31.70 19-2 86 presse@freiheit.org Redaktion: Klaus Füßmann Ruth Holzknecht Achim Kansy Dr. Lars-André Richter Kreative Beratung: Helmut Vandenberg Büro für Kommunikation und Werbung Gestaltung: Runze & Casper Werbeagentur GmbH Gesamtherstellung: COMDOK GmbH Büro Berlin Auflage: 82.000 Erscheinungsweise: halbjährlich Fotos: Caro/Teich (Titel), VISUM/ Raupach (S. 3), McPhoto/ vario images (S. 4),Transit/ Busse (S. 5), Das Fotoarchiv/Henning (S. 6), Hermann Bredehorst (S. 7), VISUM/Denzel (S. 10), Caro/Ruffer (S. 11), AFP/ gettyimages/Armand (S. 12), Ipon/Boness (S.13), Ostkreuz/Schirrmeister (S. 14), Lokomotiv/Willemsen (Programmteil/Titel) Alle übrigen Fotos: Friedrich-NaumannStiftung für die Freiheit 15 Freiheit und Verantwortung gehören für uns untrennbar zusammen. Neue Wege beschreiten – mit der Villa Lessing eine Auswahl des Programms finden Sie unter www.villa-lessing.de Villa Lessing, Liberale Stiftung Saar e. V. Lessingstraße 10 66121 Saarbrücken Telefon 0681. 96708-0 Telefax 0681. 96708-25 eMail info@villa-lessing.de Internet www.villa-lessing.de