Weil ich es mir Wert bin.
Transcription
Weil ich es mir Wert bin.
© Reinhard Braun Reinhard Braun Weil ich es mir Wert bin.* Spekulationen über visuelle Diskurse und Konsumkulturen * "Because I'm worth it", Slogan von L'Oréal Über das wechselseitige Verhältnis von Blicken, Blickregimes, Körpern, Identitäten, Apparaten und sozio-ökonomischen Diskursen zu sprechen, erscheint gleichermaßen redundant wie notwendig. "if the kids are united", eine kleine Fotostory im i-D Magazin vom Juli 2000 über eine der schlechtesten Schulen Großbritanniens, die jetzt eine multiethnische Vorzeige-Kunst-Schule geworden ist, braucht einen Stylisten und gibt eigentlich gerade mal den Subtext für das Listing der Modelabels: "Marcel (13) wears Polo Sport body top and trousers; Carhartt polo; Nike trainers. (...) Jan (14) wears Armani drawstring bottoms and jacket. (...) Mario (18) wears Aquascutum Tshirt and trousers; Holland & Holland jacket; Caterpillar loafers." Etc. etc. Selbstverständlich handelt es sich um Werbung; aber wenn die Vereinigung der Kinder dieser Welt nurmehr auf der Grundlage von Style und Styling inszeniert werden kann, wenn Rasse, Klasse und Geschlecht nichts mehr sind gegen Nike, Caterpillar, Holland & Holland oder Carhartt, und wenn sich diese Inszenierung dann noch den Anschein einer Fotodokumentation gibt, muss man doch wieder beginnen, über Bilder, Repräsentationen und deren kulturelle Funktionsweisen nachzudenken. Wir stehen also, wohl oder übel, vor der Notwendigkeit einer Reanimation von Repräsentationskritik. Dabei kann es keinesfalls um die Rückkehr zu einem Repräsentationsbegriff als Abbild- oder Korrespondenztheorie gehen, sondern, wie es W. J. T. Mitchell ausgedrückt hat, um die "postlinguistische, postsemiotische Wiederentdeckung des Bildes als komplexes Wechselspiel von Visualität, Apparat, Institution, Diskurs, Körpern und Figurativität." Und dieser Repräsentationsbegriff findet sich in einem Spannungsfeld sozio-ökonomischer Entwicklungen wieder, die nichts mehr mit einer Ästehtisierung des Alltags zu tun haben, vielmehr mit einer durchgehenden Ökonomisierung privater, sozialer, kultureller und politischer Diskurse. Die letzte Ausgabe des IQ style-Magazins brachte etwa sinnigerweise Modefotos, die uns zeigen sollen, wie man sich cool für die Wiener Gemeinderatswahlen am 25. März 2001 anziehen kann: "Wählen macht Spaß. Ganz besonders in dieser Kleidung: Blaues T-Shirt und brauner Rock von Berhart. Rock, Tasche und Gürtle von H & M." Soviel zur Politisierung des Alltags. In diesen Zusammenhängen der Inszenierung des Subjekts als Oberfläche wäre es zu kurz gegriffen, Werbung, Fernsehen oder so etwas wie "Repräsentation" auf den Begriff des Bildes zu reduzieren, selbst, wenn es dabei schliesslich immer noch um Fotografie geht. Es scheint vielmehr angebracht, ein Feld des Sichtbaren, ein Feld der Sichtbarmachung zu skizzieren, Strategien der Sichtbarmachung und Strategien, sich in diesem Feld von Sichtbarmachungen zu positionieren, in Erscheinung zu treten – ein komplexes Wechselspiel von Visualität, Apparat, Institution, Diskurs und Körpern. Um welche Diskurse und Institutionen könnte es sich aber handeln? Kaja Silverman schrieb mit Bezug auf Roland Barthes davon, dass es eine grundlegende Erfahrung jedes Subjekts 1 © Reinhard Braun ist, als Bild zu erscheinen oder zum Vorschein gebracht zu werden. Demgegenüber lässt sich aber seit langem schon die Notwendigkeit feststellen, als Style, als Waren-/Konsumformation in Erscheinung zu treten. Das Wechselspiel von Diskursen und Visualität ist also zunehmend in Konsumzusammenhänge eingespannt. Es wird im folgenden darum gehen, einen Repräsentationsbegriff mit einem Begriff der Ware und des Konsums in Zusammenhang zu bringen und, eher anekdotenhaft, zu zeigen, in welch verschlungener Weise Konsum, Waren, Bilder und Repräsentationen aneinander gekoppelt sind. Der Übergang zu einem veränderten Repräsentationsbegriff lässt sich am ehesten dadurch anschaulich machen, indem man zugrundelegt, dass sich die wichtigen Fragen visueller Kultur nicht mehr darum drehen, wie Bilder gemacht sind (was sie verbergen, in welcher Form sie auf Wirklichkeit zugreifen und diese entstellen), sondern darum, wie Bilder funktionieren, durch welche Funktionsmechanismen sie verbergen und entstellen. Im Wesentlichen drehen sich diese Funktionsverschiebungen um neuartige performative Qualitäten, die Bilder als wesentliche Gelenke in kulturellen Austauschverhältnissen befestigen, die nur als konsumistisch bezeichnet werden können. Doch bei diesen Funktionsverschiebungen bleiben, wie immer, die Bilder selbst nicht unbeeinflusst. Es geht bei einem "Reanimieren" von Repräsentationskritik also am wenigsten um Fragen nach Ästhetik oder gar einem kritischen Auflösen von Misrepräsentationen von Wirklichkeit, denn "wirklich ist immer, was sich durch ein Repräsentationssystem generieren lässt." (Herta Wolf, Michael Wetzel) Allerdings geht es bei dieser notwendigen Repräsentationskritik um die Beziehungen zwischen Visualität und Repräsentation, Medialität und Identität, um Kämpfe um Identität, Autonomie, Macht, es geht um die Öffnung kultureller, sozialer und politischer Räume, um Handlungsfähigkeiten von Subjekten, Gruppen, Minderheiten und einem Massenpublikum, Handlungsfähigkeiten, die sich entlang jener "vermischten Transformationen" herausbilden, "die von der Koexistenz einer Vielzahl gleichzeitiger symbolischer Systeme gekennzeichnet sind" (Georg Lipsitz), symbolische Systeme, die gleichermaßen auf Waren- wie auf Bildformen und -formationen beruhen. "Und Vorstellungen schliesslich, die nur autonome, 'authentische' und nichtkommerzielle Kultur als Wege zur Befreiung gelten lassen, verstehen nicht angemessen die Vielschichtigkeit von Kultur und Kommerz in der zeitgenössischen Welt." (Georges Lipsitz) "Waren transportieren mehr als ihren Gebrauchswert, auf der Reise durch unterschiedliche kulturelle Kontexte verändern sie ihre Bedeutung, werden angeeignet und umgedeutet." (Gerorg Lipsitz) In Anlehnung an den Begriff situiertes Wissen (Meaghan Morris) könnte man durchaus von situierten Warenformen sprechen. "Es gibt einzig und allein konkrete Kontexte, in die globale Produkte auf ganz bestimmte Weise Eingang finden" (Meaghan Morris) Der gar nicht virtuelle Kampf um Repräsentationen ereignet sich also an der Bruchstelle zwischen lokalen Kontexten und globalisierenden Produkt- und Konsumstrategien, im Spannungsfeld von Identitätsentwürfen und einer Konsumökonomie als generalisierendem Trägersystem für kulturelle Werte. "Jedenfalls wird die Frage der Identität verstärkt mit Konsumtion verknüpft. Waren sind darin nicht nur 2 © Reinhard Braun Gebrauchsgüter. Sie sind genauso symbolische Markierungen, die in verschiedenen Kombinationen und Vorgehensweisen verwendet werden, um Identitäten zu definieren. Grenzen der Identität werden zunehmend über symbolische Konsumtion markiert, verhandelt und verteidigt (...). (Gülsün Karamustafa, Ayse Öncü) Wir müssen also Warenkonsum, der mit der Produktion von Selbstentwürfen (Lifestyle, Mode, Musik) gekoppelt ist, als eine zentrale Form kultureller Repräsentation ernst nehmen. "Wenn zeitgenössische Kultur im Akt des Konsumierens gelebt wird, dann müssen sich zeitgenössische kulturelle Werte auch im Konsumtionsprozeß verorten lassen." (Simon Frith) Wir sprechen also über ein Netz, das kulturelle Praktiken, ihre Auswirkungen und soziale Gruppen miteinander verbindet. Dieses Netz regelt schliesslich auch die Verteilung von Bedeutung und Sinn innerhalb des sozialen Raumes. "Durch den Erwerb von Waren wird das Subjekt des Kaufs nicht nur spezifiziert, sondern auch aktualisiert. (...) Kontingenz ist die Form der Identität, und Identität ist inhaltlich durch den Vollzug einer Serie von Kaufakten bestimmt. (...), ein Desaster, das unseren Namen trägt" (Brian Massumi) Im Rahmen dieser Repräsentationsmechanismen als ständiger Vollzug und ständige Aktualisierung von Identität als Konsumereignis spielen selbstverständlich Bilder eine zentrale Rolle. Die Produkte selbst sind vor allem Marketinginstrumente für die Produktion von Lifestyle-Optionen und Sinnangeboten. Vermittelt werden diese psycho-sozialen Effekte von Branding über detailliert geplante visuelle Strategien, über in Bilder, in Bildstrecken, Clips und Mini-Erzählungen, Effekt/Image-Montagen usw. eingedampfte und verdichtete symbolische Lebensentwürfe, die noch dazu mit diversen Kontext-/Subkultur-Transfers (Musik, Sport, Film, Kunst) gekoppelt werden. Diese konsumistisch überformten Bildkulturen entziehen sich dem Verdikt der Simulation oder Dissimulation, weil sie weniger abbilden als dass sie vielmehr so etwas wie Repräsentation performen, zur Aufführung bringen, aktualisieren. Sie besitzen einen eminenten Anrufungscharakter (Christian Höller) und stellen eine Kommunikationsform dar, garantieren Anschlusskommunikationen und Aneignungsmöglichkeiten. "Über ältere Vorstellungen, wie ein 'Image' konstruiert wird, geht das weit hinaus. Branding ist selbst eine 'Technologie', auch eine 'Technologie des Selbst' (...)" (Tom Holert) Diese Technologien des Selbst haben aber längst nicht mehr nur mit Darstellung zu tun, sie sind an Verhältnisse der Kommunikation von Sichtbarkeit gekoppelt, an Beobachtungsverhältnisse. Christian Metz sagt, dass wir überhaupt nur Subjekte sind, insofern wir an den "Instanzen des Sichtbaren" teilhaben, Lacan spricht davon, dass jede Repräsentation durch Blickregimes definiert ist und dass die Subjekte Projektionen, Konstrukte imaginärer Einheiten sind. Alle Bilder, die wir uns von uns selbst und unseren Welten machen, sind also immer schon von äußeren, externen Blickpunkten mitbestimmt, weshalb Flusser davon sprechen konnte, dass wir in Funktion der Bilder leben, und Roland Barthes davon, dass wir "nur als Bild erscheinen oder zum Vorschein gebracht werden". Indem visuelle Medien die Organisation von Sichtbarkeiten bestimmen, in die wir als Subjekte eingeschrieben sind (der Lacansche "Monitor"), sind wir immer schon Teil der Bilder und deren Realität. Bisher wurde der dabei entscheidende externe Blickpunkt immer im 3 © Reinhard Braun Zusammenhang mit Diskursen der Repräsentation als Reproduktion von Macht (Kontrolle von Ideologien) gesehen, von Jean Baudrillard interessanterweise mit dem Begriff der Verführung in Richtung einer Komplizenschaft entworfen. Was nun, wenn sozusagen Warenformationen, wenn diese spezifische Ordnung der Dinge als symbolisches Koordinatennetz, in das die Subjekte verstrickt sind, diesen externen Blickpunkt eingenommen haben, und uns aus jenem "essentiellen Versteck" (Michel Foucault) anblicken, das möglicherweise irgendwo in Shopping Malls und Entertainment Parks situiert werden muss? (Nicht, dass dadurch die Frage der Macht irrelevant würde, wie uns die Unterhaltungsindustrie glauben machen möchte – es geht aber um die Verschiebungen innerhalb jenen Instanzen, die Norm und Abweichung definieren bzw. um die Frage nach den Medien, denen diese primär Normativität eingeschrieben ist.) "Ein wichtiges Moment der Relation zwischen Medien und Kultur scheint darin zu liegen, dass in Medienverbundsystemen modernen Zuschnitts die Beobachtbarkeit von Kultur als Programm in einer Weise gesteigert wird, wie dies im Verlauf der bisherigen Geschichte noch nie der Fall war. (..) die Ausdifferenzierung der Gesellschaft in Teilsysteme, die auf die Erfüllung bestimmter Funktionen hin orientiert sind, führt zur Entwicklung eigener Teilkulturen in den sich autonomisierenden sozialen Systemen. Während also die Kultur einer sich funktional ausdifferenzierenden Gesellschaft als Ganze zunehmend unbeobachtbar wird, ist jedes einzelne Detail innerhalb der Spezialkulturen in einem bisher unbekannten Maße beobachtbar geworden. Damit büßt aber das Kulturprogramm seine gesamtgesellschaftliche Reproduktions- und Kontrollfähigkeit partiell ein." (Siegfried Schmidt) – Die Beobachtbarkeit von Kultur ist grundsätzlich entlang von Oberflächen organisiert: von der Malerei zum bewegten Bild, von Architektur zum Fernsehen, vom Schaufenster zur Webcam, von der Passage zu Reality-TV geht es um Darstellung und Darbrbingung (von Macht und Unterwerfung), um Affizierung und Verführung, um die Weckung von Begehren und die Befriedigung von Lüsten. Der Siemens-Konzern bringt diese Repräsentationszusammenhänge mit der Kampagne unter dem Titel "Befriedige deine Lust/Satisfy Lust" sozusagen auf den Punkt postindustrieller und geradezu postsozialer Befindlichkeit. Doch nicht nur die Ökonomisierung von Öffentlichkeiten, deren Transformation in halbprivate, pseudo-öffentliche Konsumumgebungen, d. h. eine Verkehrung von öffentlich und privat, deutet darauf hin, dass diese "Öffentlichkeit" immer weniger wie eine Organisation von Räumen funktionieren, denn als Organisation von Oberflächen und Bewegungen, als quasi filmische mise-enscéne der Konsumenten als Laiendarsteller, als grandioses konsumistisches Gesamtkunstwerk: der Alltag als Event. Der Slogan "Dress for the Moment" (New Yorker) deutet darauf hin, dass es quasi keine Privatheit mehr gibt, dass jeder Augenblick auf ein Bild hin, auf einen Blick, eine Beobachtung hin entworfen werden muss: ob in der Shopping Mall, beim Staubsaugen oder beim Aufwaschen, das Subjekt bleibt eingespannt in Beobachtungsverhältnisse und liefert eine unausgesetzte soziale Performance im Hinblick auf ein imaginiertes Bild. Die Bildwelten, die dabei konstruiert und zum Vorschein gebracht werden, sind aber kaum mehr durch sozio-politische Normen, Einschränkungen oder Überschreitungen definiert: die Instanzen des Sichtbaren formieren sich nicht um ethisch- 4 © Reinhard Braun kulturelle Ordnungen wie Gleichheit, Gleichberechtigung, Respekt, Toleranz, oder was es an uncoolen Begriffen noch geben mag (und auch nicht an deren Gegenteil); sie formieren sich um narzistisch-konsumistische Imperative: "Befriedige deine Lust!" Jetzt. Das Leben, wie es darin entworfen wird, wird nicht durch politische Strategien und Handlungszusammenhänge, nicht durch widerspenstige oder affirmative sozio-kulturelle Praktiken, Mikropolitiken oder dergleichen realisiert oder gar radikalisiert, sondern durch "VIVA Zwei": Radikalisierung nicht durch Handlung, sondern durch Erleben, durch ein Angeschlossen-Sein an und ein Genießen von Medienformaten. Das kulturelle Subjekt ist zu einem Stillstand gekommen, es performen die Bilder, oder überhaupt die Waren selbst, die sich an das Subjekt anlagern, abgestossen werden und neuen symbolischen Markierungen Platz machen. Konsumobjekte als neue bewegte Bilder? Diese Bildformationen als Schaltmomente innerhalb von Beobachtungs- und Inszenierungsverhältnissen werden von den BetrachterInnen/KonsumentInnen dann folgerichtig nicht primär im Hinblick auf Identifikationsmöglichkeiten gescannt, sondern in einer geradezu komplizenhaften Weise als Rohstoff zur Konstruktion von Lebensentwürfen verwendet, angeeignet. Sie funktionieren im Rahmen eines ziemlich umfangreichen Experiments mit kulturellen und sozialen Rollen. "Ständig redefinieren die Gebrauchsweisen und Instrumentalisierungen von Bildern die Verhältnisse der Sichtbarkeit." (Tom Holert) Der Brennpunkt dieser bildförmigen Kommunikationsvehikel, als die man sie bezeichnen könnte, liegt nicht darauf, was sie darstellen und zeigen (eine "adidas"-Kampagne hat folgerichtig völlig auf Sujets verzichtet), sondern im Hinblick worauf sie verwertbar und konsumierbar sind, welche Repräsentations- und Kommunikationsangebote sie machen, welche Repräsentationsmöglichkeiten ihnen eingeschrieben oder einschreibbar sind, was sich an Technologien des Selbst anlagern lässt, kurz: welchen Performancegehalt sie aufweisen. "Auf diesem Feld des Neuen fungieren Bilder diskurs- und medienübergreifend als Kommunikationsbeschleuniger, als Evidenz-Maschinen." (Tom Holert) Und selbstverständlich dreht es sich dabei auch um Kontroll- und Disziplinierungsstrategien. "Nicht das im technischen Bild gezeigte, sondern das technische Bild selbst ist die Botschaft. Und es ist eine sinngebende und imperative Botschaft." (Vilém Flusser) Branding ist ein Aufruf zur Uniformität und Konformität, keine Frage. Aber als Technologie des Selbst, als Kontigenzmaschine, die das Selbst temporalisiert, in Fluss hält und es gleichzeitig in der permanenten Konsumtion von Identität und Subjektivität fixiert, etabliert sich "Branding" als Repräsentationsmedium für die Konstruktion und Darstellung dieser Identität(en). Und gerade im Sinne der Teilhabe an Instanzen des Sichtbaren, an den Imperativen des Medienuniversums, im Sinne eines Zum-Vorscheinkommen als Bildformation (Image), haben Waren Bilder zum Großteil abgelöst. Der neue Sneaker wird sofort stolz präsentiert, währenddessen die Urlaubsbilder nurmehr für das Privatarchiv aufgenommen werden – es sind längst nicht mehr Bilder allein, denen wir das Projekt unserer Identitätsproduktion einschreiben; wichtige Vehikel für dieses Projekt sind Modeartikel und Technogadgets geworden. 5 © Reinhard Braun Die Dinge als Waren sprechen für uns und strahlen ständig Botschaften in den soziokulturellen Raum ab. Das bedeutet eine ungeheure Temporalisierung von Alltagskultur: alles findet hier und jetzt statt ("Dress for the Moment") – und wird nicht mehr durch Reflexion oder Distanz organisiert und mit Bedeutung angereichert. In gewissem Sinn sind Bilder trotz Digitalisierung zu langsam geworden. Warum aber dieser Übergang vom Bild zum Konsumprodukt, von der Reflexion zur Gegenwart, von der Reproduktion zum Experiment? Diesbezüglich gibt es sicher mehr Fragen als Antworten. "Der Zusammenbruch aller möglichen Formen politischen Handelns befördert die Waren ins Zentrum des gesellschaftlichen Lebens. (...) In dem Maß, in dem der rasche Kapitalfluß die einst stabilen Strukturen und Identitäten unterspült und neue Netze und Kanäle hervorbringt, bekommen kulturelle Fragen eine entscheidende politische Bedeutung." (George Lipsitz) Einen ähnlichen Befund hatte Siegfried Schmidt im Sinne, als er vom Verlust der koordinierenden Funktion eines verbindlichen gemeinsamen kulturellen Horizonts sprach. Gerade weil wir über die Konstruiertheit von Medienbildern (ob Nachrichten oder Werbung) bescheid wissen, bilden sie nicht mehr in dem Maße den Repräsentationshorizont für Subjektentwürfe. Waren, und dabei vor allem Mode als herausragende kulturelle Produktivkraft des Subjekts, das sich in der Konstruktion eines öffentlichen Körpers sozusagen als virtueller Stil in Szene setzt, sind grundsätzlich gegenwärtig, von Präsenz erfüllt, aber auch flüchtig, austauschbar, verbrauchbar, der Verfügung eines Subjekts (scheinbar) unterworfen. Es ist nicht mehr das Subjekt, dass sich einem Bild, einem Image unterwirft, sich in dieses einschreibt, einer "fotografischen Prägung" (Kaja Silverman) unterworfen, sondern es handhabt (scheinbar) souverän den Umgang mit (Bild-) Objekten oder Handlungsformen, es rückt sich selbst sozusagen ins Zentrum einer kulturellen Konstruktion, auch um den Preis, selbst zu einer Form der Ware zu werden. "An die Stelle diverser Mythen vom 'Visuellen' tritt die Beobachtung gesellschaftlicher Interaktionen, an denen Bilder beteiligt sind." (Tom Holert) Reality-TV (RTV) erscheint unter diesen Voraussetzungen nicht primär als Medienphänomen, sondern gerade als ein Konsumphänomen. RTV realisiert Optionen von Beobachtbarkeit und Dramatisierung bzw. Funktionalisierung des Alltags, wie sie sich als soziologische Experimente im Rahmen der skizzierten Identitätskonstruktionen etabliert haben. In neuartiger Radikalität sind diese Blick-, Wahrnehmungs-, Beobachtungs- und Bildphänomene zu Waren- bzw. Konsumphänomenen mutiert. Wir verkaufen uns täglich am Markt der Differenzen von Mode und Style, die nicht nur mit Oberflächen (Kleidung) zu tun haben, sondern auch mit Verhaltens- und Informationsmustern. RTV rückt diese Differenzstrategien in ganz offensichtliche ökonomische Verwertungszusammenhänge, nicht zuletzt, weil es gerade darum geht: Geld zu verdienen auf einem Medienmarkt, der von Medienkonvergez gekennzeichnet ist. Ein TV-Format repliziert dramaturgisch angereichert die Ästhetiken der Live-Webcams, um nur ein Beispiel zu nennen. Fernsehen ist scheinbar nur mehr denkbar als Segment einer umfassend angenommenen Netzkultur, die Bilder nicht auf ihre Repräsentation hin taxiert, sondern im Hinblick auf ihren Funktionszusammenhang: irgendwie muss 6 © Reinhard Braun das IRL (In Real Life) auch im Netz zirkulieren, und irgendwie muss das IRL auch im Fernsehen zurkulieren. Was aber ist das IRL anderes geworden als ein undurchdrigliches Dickicht aus temporären Konstruktionen eines Selbstverständnisses, das auf das unausgesetzte Akkumulieren von konsumistischen Evidenzmaschinen, d. h. auf Konsum als kultureller Performance, gegründet ist, "ein Desaster, das unseren Namen trägt? Doch was ist mit dieser Einschätzung einer gegenseitigen Trangression von Bildern und Warenformationen gewonnen? Damit ist noch nicht einmal andeutungsweise geklärt, wie diese neuartige Macht des Visuellen als Teil einer Konsumtechnologie des Selbst mit Gegenbildern (und so etwas wie einer Gegentechnologie) konfrontiert werden könnte. Literatur: "Brainware im Strukturwandel", Interview mit Tom Holert von Krystian Woznicki, springerin – Hefte für Gegenwartskunst, Band IV/Heft 4: "outside europe" George Lipsitz, Dangerous Crossroads. Popmusik, Postmoderne und die Poesie des Lokalen, hannibal Verlag 1999 (engl: Dangerous Crossroads, Verso: London 1999). Siegfried J. Schmidt, Medien = Kultur?, Benteli: Bern 1994. Herta Wolf, Michael Wetzel (Hg.), Der Entzug der Bilder. Visuelle Realitäten, Fink: München 1994. "Es gibt keine Globalkultur", Interview mit Meaghan Morris von Chrstian Höller, springerin (Hg.), Widerstände. Kunst – Cultural Studies – Neue Medien. Interviews und Aufsätze aus der Zeitschrift springerin 1995 – 1999, Folio: Wien 1999. Gülsün Karamustafa/Ayse Öncü, "Kofferökonomie", Justin Hoffmann, Marion von Osten (Hg.), Das Phantom sucht seinen Mörder. Ein Reader zur Kulturalisierung der Ökonomie, b_books: Berlin 1999. Simon Frith, "Das Gute, das Schlechte und das Mittelmäßige. Zur Verteidigung der Populärkultur gegen den Populismus", Roger Bromley u. a. (Hg.), Cultural Studies, zu Klampen: Lüneburh 1999. Brian Massumi, "Everywhere you want to be. Einführung in die Angst", Silvia Eiblmayr (Hg.), Zinen der Ver-Störung / Zones of Disturbance, steirischer herbst, Graz 1997. Kaja Silverman, "Dem Blickregime begegnen", Christian Kravagna (Hg.), Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur, Edition ID-Archiv: Berlin 1997. Vilém Flusser, Ins Universum der technischen Bilder, European Photography: Göttingen 1985. 7