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NR. 104 . MITTWOCH, 4. MAI 2016
SEITE 6
Tages
Thema
Einmal Kosovo–Deutschland und zurück
Migration Die Pamajs lebten als Wirtschaftsflüchtlinge in Hessen, wurden abgeschoben und versuchen jetzt, in Pristina Fuß zu fassen
E
s stinkt. Ungesund faulig,
als würde irgendwo in der
Ecke ein toter Fisch vor
sich hingammeln. „Das ist die
Wand!“, ruft Sherentina Pamaj. Die
Elfjährige zeigt nach oben, wo ein
50 Zentimeter breites Loch in der
Decke klafft, durch das man den
Himmel sehen kann. Von der Wand
rinnt eine braune Suppe – es hat
geregnet. Unter den Füßen knarzt
der hölzerne Fußboden, Ameisen
und Maden haben sich fett gefressen daran, während Sherentina mit
ihrer Familie weg war. Auf der einen Seite des Raums steht eine metallene Kochplatte, auf der anderen
ein Stapel abgewetzter Decken,
die Sherentina, die vier Geschwister und die Eltern abends zum
Schlafen auf dem Boden ausbreiten. „Ich will hier wieder weg“,
flüstert Sherentina. „Ich habe nur
einen Wunsch. Ich will heim. Heim
nach Bischoffen.“ Sie schaut durch
die zerborstene Scheibe nach draußen. Im Garten liegt noch der
schwarze Koffer, PRN steht auf
dem Gepäckbändchen. Pristina.
Hauptstadt des Kosovo. Willkommen zurück.
Kaum einen Monat ist es her,
dass der Bus vorfuhr. Vor das
Mehrfamilienhaus in Bischoffen,
einem kleinen Ort in Hessen, in
dem die Familie Pamaj lebte. Wo
Sherentina und ihr Bruder Peperin
die vierte Klasse der Grundschule
besuchten, die Kleinen den Kindergarten. Dann klingelte der Mann
von der Ausländerbehörde, den
Ausreisebescheid in der Hand. Er
Im Blickpunkt
UNGARN
KROATIEN
100 km
BOSNIEN
UND
HERZEG.
SERBIEN
MONTENEGRO
Adria
RUMÄNIEN
Donau
Kosovo
ALBANIEN
BULG.
MAZEDONIEN
Armenhaus Europas
Der Kosovo hatte sich im Februar
2008 von Serbien abgespalten.
Der neue Staat wurde zunächst
unter Aufsicht der EU aufgebaut.
Im Juli 2012 endete die „beaufsichtigte Unabhängigkeit“, und
das Armenhaus Europas erhielt
seine volle Souveränität. Die Arbeitslosigkeit beträgt mehr als 30
Prozent, bei jungen Leuten ist sie
noch höher. 2014 und 2015
flüchteten Tausende Kosovo-Albaner in Richtung Deutschland.
brachte die Familie zum Flughafen
nach Frankfurt und drückte ihnen
die Flugtickets in die Hand: Frankfurt–Pristina. Der erste Flug des Lebens. Vergessen werden ihn die
Pamajs nie.
Wo liegt eigentlich Wetzlar?
Heute sitzen sie aufgereiht vor
dem, was wohl ein Haus sein soll.
Vater Sahit Pamaj, daneben die
Kinder. Daneben steht die Mutter
mit dem Baby auf dem Arm. Irgendwann wird der kleine Junge
sie fragen, warum Wetzlar als Geburtsort in seinem Pass steht. Nicht
Skivjan. Nicht dieses Kaff, wo sich
die Baracken aneinanderklammern. Eine erbärmlicher als die andere. In die Sahit Pamaj mit seiner
Familie nie, wirklich gar nie zurückkehren wollte. Alles hatte er
dafür verkauft: die Lampen, die
elektronischen Geräte, sogar die
Matratzen. „Ich hätte auch das
Haus verkauft, aber bitte: Wer will
so wohnen?“ Deshalb hatte er sich
im November 2014 auf die Flucht
gemacht. Flucht vor der Diskriminierung als Roma, Flucht vor dem
Hunger, Flucht vor der Armut.
Wirtschaftsflucht in der Hoffnung
auf ein besseres Leben.
klärung von Serbien 2008 einen
Quantensprung gemacht – aber die
Hälfte der Bevölkerung vergessen.
„Der Athisaari Plan, mit dem Europa den Kosovo in die Unabhängigkeit entlassen hat, erlaubt eigentlich kein Konzept von Mehrheit und Minderheit. Alle zusammen sollten eine nationale Gemeinschaft bilden. In Wirklichkeit
wurde dabei aber vor allem der Kosovo-Serbien-Konflikt fokussiert,
und die restlichen Volksgruppen
wurden völlig vergessen.“ Kurti
greift zu seinem schwarzen Kugelschreiber, teilt den Block mit einer
dünnen schwarzen Linie. „Die Idee
der Internationalen Gemeinschaft:
Es gibt Verschiedenheit, daraus
„Hätte ich die Möglichkeit, würde ich wieder
weglaufen.“
Sahit Pamaj glaubt nicht an eine gute
Zukunft in seiner Heimat.
Was bringt die Zukunft? Für Familie Pamaj sieht sie düster aus, seitdem sie nach Pristina zurückkehren musste. Viele Kosovaren haben keine Arbeit, ethnische
Fotos: Bartholomäus von Laffert
Minderheiten wie Roma haben es noch schwerer. Sahit Pamaj sagt: „Wir hatten hier nichts zu verlieren, also sind wir gegangen.“
Bis zu 100 000 Menschen haben
2014/15 laut Leibniz-Institut für
Agrarentwicklung in Transformationsökonomien (IAMO) in einem
erneuten Exodus den kleinen Balkanstaat gen Europäische Union
verlassen. Mehr als 40 000 davon
haben einen Asylerstantrag in
Deutschland gestellt. „Winterurlauber auf Kosten unserer Steuerzahler“, hat der oberbayerische
Landrat Thomas Karmasin (CSU)
sie genannt. Nach und nach kehren die Reisenden jetzt wieder
heim. 15 000 sind schon zurückgekehrt aus Deutschland. Um eine Erfahrung reicher, um viele Tausend
Euro ärmer.
Sahit Pamajs Bruder war damals
gegangen, der Nachbar auch. „Das
hatte sich rumgesprochen. Dass es
da Arbeit gibt und einen Platz zum
Wohnen. Wir hatten hier nichts zu
verlieren, also sind wir gegangen.“
Dass 99 Prozent der kosovarischen
Asylanträge abgelehnt, dass Leute
in Charterflügen abgeschoben
werden, das konnte Sahit Pamaj
nicht wissen. Wer Lesen und
Schreiben nie gelernt hat, kennt
viele Informationen nicht. Auch die
Inserate „Kein Asyl für Wirtschaftsflüchtlinge“, die die österreichische und die deutsche Bundesregierung auf Plakatwänden
und Tageszeitungen geschaltet ha-
„Es gab die Gerüchte
vom guten Leben in
Deutschland.“
Bernd Mesovic, Referent von Pro Asyl,
erklärt, warum sich viele Menschen auf
den Weg machten.
ben, nicht. Wer keinen Fernseher
hat, kann nicht die Videos sehen,
mit denen die Bundesregierung
versuchte, die Leute zu desillusionieren. Aber was hätte die Pamajs
schon desillusionieren können?
„Es gab einerseits tatsächlich
die Gerüchte vom guten Leben in
Deutschland“, erzählt Bernd Mesovic, Referent von Pro Asyl, „andererseits haben sich viele Minderheitenangehörige auch auf den
Weg gemacht, wenn sie irgendeine
Chance nahe null gesehen haben.“
Im Herbst 2015 wurde Kosovo mit
Albanien und Montenegro vom
Bundestag als sicheres Herkunftsland eingestuft. Bei Bernd Mesovic
und Pro Asyl stieß das auf harsche
Kritik: „Das ist der Versuch, die
Welt über den Daumen gepeilt in
,sicher' und ,nicht sicher' einzuteilen – wie bei einem großen Autounfall, wo zuerst die Schwerverletzten versorgt werden.“
Mit der Einstufung kann die
Bundesregierung in Zukunft Asylsuchende aus den Balkanstaaten
ohne individuelle Prüfung des Einzelfalls in das Herkunftsland abschieben. Grund dafür ist auch die
Annahme, dass sogenannte RAEMinderheiten (Roma, Ashkali, Kosovo-Ägypter) im Kosovo zumindest gesetzlich nicht mehr benachteiligt werden. „Das entspricht nicht der Realität. Die Diskriminierung von Roma im Kosovo
hat sich strukturell verfestigt“, sagt
Mesovic. „Wenn Menschen auf der
Straße beleidigt und geschlagen
werden, kein Zugang zu Bildung
und medizinischer Versorgung gewährleistet wird, dann kann das
durchaus als kumulative Verfolgung verstanden werden – und die
wäre im Asylverfahren zu berücksichtigen.“
Getrennt in arm und wohlhabend
Es ist die Realität von Skivjan, die
Mesovic beschreibt. Mittendurch
führt eine Schnellstraße, als hätte
jemand eine schroffe Trennlinie
ziehen wollen – zwischen KosovoAlbanern zur Rechten, den Roma
und Ashkali zur Linken. Auf der einen Seite stehen die Baracken mit
den Menschen, die vom Schrottsammeln leben und die Wurzeln
der Bäume ausbuddeln, die Albaner gefällt haben, damit es im Winter Feuerholz gibt.
Von der anderen Seite glotzen
dreistöckige Neubauten auf das
Elend herab. Nachts brennen Straßenlaternen. Die geteerten Straßen
sind sauber gefegt. Vor einigen
Häusern parken Autos, vor manchen ein Mercedes oder ein BMW.
Dass hier die Kosovo-Albaner leben, ist schwer zu übersehen.
Von den Fenstersimsen wehen
die Fahnen. Die albanischen mit
den doppelköpfigen schwarzen
Adlern auf rotem Grund. Die kosovarischen mit der Karte im Profil,
den sechs Sternen darüber. Sechs
Sterne, die ein wenig an die EU erinnern, von der der Kosovo einmal
Teil sein will. Sechs Sterne, die
aber vor allem die sechs Bevölkerungsgruppen repräsentieren sollen, die im Kosovo leben. Die Albaner, die Serben, die Türken, die
Kosovo-Ägypter, die Roma und die
Ashkali. Die in utopischen Träu-
Den Abwasch machen oder Zähneputzen, all das muss an einem improvisierten Wasserhahn im Freien
erledigt werden.
mereien zu einem homogenen Staat
verschmelzen. Die in Wahrheit so
separiert sind wie die Sterne auf
dem Banner.
„Es fängt an bei der Geburt: Ein
Albaner bekommt eine Geburtsurkunde in fünf Minuten, wir müssen
fünf Tage warten. Seit Jahren fragen wir nach einer neuen Straße,
und der Bürgermeister sagt uns:
Ihr werdet auch in 100 Jahren keine haben. Bewerben sich auf eine
Stelle ein Roma und ein Albaner,
Erinnerungen an glückliche Zeiten in
Bischoffen: Nach den Hausaufgaben
gingen die Kinder häufig zu Monique Lorenz und Maik Feister.
wird immer der Albaner genommen“, erzählt Sahit Pamaj. Es ist
der ganz normale Kampf, den
RAE-Minderheiten in einem sowieso schon geschundenen Land
zu bestehen haben.
Mehr als 30 Prozent der Kosovaren haben keine Arbeit. Bei den
Roma sind es ganze 95 Prozent.
Zählbare Sozialhilfe vom Staat gibt
es nicht, eine Krankenversicherung
genauso wenig.
Sahits Frau schaukelt den kleinen Sohn in den Schlaf: „Wenn ein
Kind krank wird, stirbt es“, sagt sie
und beginnt zu weinen. An Schule
ist gar nicht zu denken. „Wir haben ja nicht mal Geld für Stifte.“
„Die einzige Versicherung, auf
die du im Kosovo zählen kannst,
sind deine Cousins. Das einzige Sozialsystem, das in Kraft ist, ist die
Familie“, sagt Albin Kurti. Der 41Jährige mit den krausen, schwarzen Haaren ist der Gründer von
Vetvendosje
(„Selbstbestimmung“), der größten Oppositionspartei im Land. Für die frustrierte
Jugend ist der ehemalige Studentenführer Ikone und Hoffnung zugleich, viele sehen in ihm schon
den nächsten Premierminister. Kurti
kennt die Märchen der Regierenden nur allzu gut: 200 000 neue Arbeitsplätze hatte die stärkste Partei
PDK um den neuen Präsidenten
Hashim Thaci vor den Wahlen
2014 versprochen. Viel passiert ist
seitdem nicht. Noch immer hängen
die Kosovaren am Tropf der Diaspora. Ganze 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts machen die
Überweisungen der ausländischen
Verwandten aus. Im Unterschied
zu den albanischen und serbischen
Landsleuten haben die Mitglieder
der RAE-Minderheiten meist nicht
das Glück, dass es Verwandte als
Gastarbeiter in Deutschland, Österreich oder der Schweiz zu Wohlstand gebracht haben.
Der misslungene Quantensprung
Etwas skeptisch blickt Kurti vom
sechsten Stock des Parteigebäudes
auf das wirre Straßenbild Pristinas.
Da unten reihen sich heruntergekommene Schuppen, in denen billiger Kaffee ausgeschenkt wird, an
gläserne Shoppingtempel, teure
Boutiquen an die Gerippe halbfertiger Hochhäuser. Roma-Jungen
polieren Männern in Anzügen
wahlweise die Schuhe oder verkaufen ihnen Zigaretten. Tatsächlich sieht es so aus, als hätte der Kosovo nach der Unabhängigkeitser-
soll Vielfalt werden und aus Vielfalt Toleranz.“ Er wechselt auf die
andere Seite der Linie: „Das ist
falsch. Wenn wir als Nation existieren wollen, müssen wir das Konzept umwerfen: Wir müssen die
Gemeinsamkeiten fokussieren, daraus wächst Solidarität. Aus Solidarität wächst Kooperation. So wie
in normalen Staaten. Nicht in Krisenstaaten.“
Als Krisenstaat wird der Kosovo
bis heute von der Internationalen
Gemeinschaft gehandelt. Für Recht
sorgt Eulex, die Rechtsstaatlichkeitsmission der Europäischen
Union, für Ordnung die Kfor, eine
multinationale Schutztruppe unter
Nato-Kommando, mit ihren knapp
5000 Soldaten. „Wir brauchen Visionen für die wirtschaftliche Entwicklung dieses Landes“, sagt Kurti. „Entwicklung bringt Jobs, Jobs
bringen Rechte – nur so können
wir alle integrieren.“
Dass dieser Tag einmal kommen
wird, glaubt Sahit Pamaj nicht
mehr. „Hätte ich die Möglichkeit,
würde ich wieder weglaufen. Unsere einzige Chance haben wir vertan.“ Jetzt steht er hier in Skivjan,
das graue Sweatshirt spannt über
seinem runden Bauch, doch mit
den Gedanken ist er immer noch in
Bischoffen in Hessen. Die Augen
von Sherentina und Peperin fangen an zu glänzen, als sie die Collage von der Wand holen, die ihnen die deutschen Freunde zum
Abschied geschenkt haben. Peperin ist ein bisschen stolz, als er die
Fotos erklärt: Er und Sherentina
beim Kinderfasching. Er als Spiderman, sie als Wildkatze. Zusammen mit den Freunden beim Drachensteigen. Tanzend beim Sommerfest. „In deinem Leben begegnest du vielen Menschen, aber nur
wahre Freunde hinterlassen Spuren in deinem Herzen“, liest Sherentina den Spruch vor, der darüber geschrieben steht. Die Kinder
haben Spuren hinterlassen.
Tränen beim Abschied für immer
„Jeden Tag haben die mich schon
von der Arbeit abgefangen“, erinnert sich Maik Feister. Der 47-Jährige und seine Freundin Monique
Lorenz, 41, waren für die Kleinen
so etwas wie eine Ziehfamilie in Bischoffen. „Wir haben zusammen
gebastelt, gemalt, Ausflüge gemacht. Ich vermisse die Zeit“, sagt
Monique. Sie erzählt die Geschichten von dem frechen Peperin, der so gern Fußball gespielt
hat. Von der wissbegierigen Sherentina, die bei ihnen nur Lina hieß
und so schön malen konnte. Von
dem Abschied, als sie ein Grillfest
gemacht haben. Als sie geweint haben, weil sie irgendwann realisierten, dass es ein Abschied für
immer sein wird. „Ich glaube, unsere Regierung hat keine Ahnung,
was sie den Menschen antut“, sagt
Monique. „Mir tun vor allem die
Kinder leid: Dass die in diesem
Dreck geboren wurden, dafür können die ja nichts.“
Bartholomäus von Laffert