Tod und Gender. Untersuchungen in vier theologischen Disziplinen
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Tod und Gender. Untersuchungen in vier theologischen Disziplinen
Theologische Fakultät, Länggassstr. 51, CH-3000 Bern 9 Bern/Oktober 2013 Der SNF unterstützt das Forschungsprojekt „Tod und Gender. Untersuchungen in vier theologischen Disziplinen“ mit drei Doktoratsstellen an der Theologischen Fakultät, die ab dem 1.1.2014 zu besetzen sind. (www.theol.unibe.ch/unibe/theol/ibw/content/e62273/e385832/Forschungsprojekt_Tod_und_Gender_ger.pdf ) Der Tod hat in jeder Kultur und auf verschiedenen Ebenen ein Gendervorzeichen. Schon das grammatische Geschlecht von „Tod“, „thanatos“, „mors“ differiert in alten und heute gesprochenen Sprachen und gibt einen ersten Hinweis, dass Vorstellungen vom Tod gendergeprägt sind. Kulturen und Religionen kodieren bestimmte Todesarten, wie Suizid, geschlechtsabhängig. Aber auch die konkreten Einstellungen zum und Erfahrungen mit dem Tod sind für Männer und Frauen durchaus nicht gleich, sondern geschlechtsspezifisch verschieden, wofür es Ursachen in der Biologie gibt (Schwangerschaft, Geburt und Tod waren und sind miteinander verflochten), aber auch in sozialen und kulturellen Zuweisungen. Diese Genderkomponenten des Todes werden jedoch bislang kaum wahrgenommen und nicht berücksichtigt. So findet sich im NFP 67 zum Thema „Lebensende“ kein einziges genderspeziell formuliertes Projekt. Das Forscherinnenteam besteht aus vier Berner Professorinnen der Theologie, die Schwerpunkte in der Genderforschung haben und von ihrer jeweiligen theologischen Fachdisziplin aus (Bibelwissenschaft, Kirchengeschichte, Systematische Theologie/Dogmatik, Prof. Prof. Prof. Prof. Dr. Dr. Dr. Dr. Angela Berlis Magdalene L. Frettlöh Isabelle Noth Silvia Schroer Theologische Fakultät Länggassstr. 51 CH-3000 Bern 9 www.theol.unibe.ch Praktische Theologie/Seelsorge) die Zusammenhänge von „Gender und Tod“ untersuchen werden. Das Ziel des gesamten Projekts ist die Erstellung eines theologischen Kompendiums zu „Gender und Tod“. Eine eröffnende Tagung fand am 3. Mai 2013 in Bern statt. Im Frühjahr 2014 werden beim tvz Verlag die Tagungsbeiträge unter dem Titel „Sensenfrau und Klagemann. Sterben und Tod mit Gendervorzeichen“ erscheinen (hg. von Silvia Schroer). Das Projekt ist vorrangig anschlussfähig und vernetzt. Seite 2/17 theologisch intradisziplinär, zugleich aber interdisziplinär 1. Forschungsstand in den vier Teilprojekten Der Forschungsstand ist in den theologischen Fächern in verschiedenen Entwicklungsphasen, was die Genderfragen betrifft. Innerhalb der Bibelwissenschaft ist seit 30 Jahren durch die feministische Exegese und Theologie die Genderforschung stark entwickelt worden. Zudem gibt es seit 10 Jahren eine äusserst rege Forschungstätigkeit im Bereich der biblischen Anthropologie. „Tod“ in den Schriften der hebräischen Bibel, aber auch des Neuen Testaments, wurde im Schnittpunkt dieser beiden Interessen hier und da auf Genderaspekte hin untersucht, wenn auch nicht systematisch. In der Kirchengeschichte kommt die Historiographie zu Geschlecht und Tod seit wenigen Jahren in Gang. Die Forschung richtet sich dabei auf kulturelle Vorstellungen über Frauen und Tod sowie auf historisch wechselnde Konstruktionen von Geschlecht in der Situation von Sterben und Tod. Das wachsende Forschungsinteresse zielt bislang auf einzelne Themen und Zeiträume, u.a. auf frühchristliche Begräbnisrituale von Frauen, auf Leichenpredigten der frühen Neuzeit oder auf materielle und visuelle Zeugnisse des Totenkults. In der systematischen Theologie/Dogmatik ist der Befund zur bisherigen Forschung geradezu ernüchternd. Es gibt keine nennenswerten Beiträge auf dem Gebiet. In der Praktischen Theologie/Seelsorge gehören die Reflexion von Geschlechterrollen und die Entwicklung gendersensibler Modelle insbesondere in der Seelsorge mit Frauen zur Grundlagenforschung, doch auffälligerweise wurden dabei Sterben und Tod bisher weitgehend ausgeklammert. Es existiert auch keine nennenswerte genderspezifische Literatur zu „Spiritual Care“. Sterbebegleitung wurde in jüngster Zeit im Kontext interkultureller Seelsorge untersucht, jedoch wiederum ohne explizite Berücksichtigung von Genderperspektiven. 1.1 Teilprojekt I (Altes Testament) Die Erfahrung des Todes ist in der Sicht der alttestamentlichen Verfasser grundsätzlich eine allgemeinmenschliche, sie verbindet auch die Menschen- und die Tierwelt. Das Sterbenmüssen als menschliche Constitutio ist im Alten Israel nie ein Grund zur Auflehnung oder zum Hader mit Gott geworden. Einzig der zu frühe Tod wird mit Vehemenz eingeklagt. Mit dem Tod enden das Leben und sogar die Gottesbeziehung radikal, es gibt bis weit in die nachexilische Zeit keine Jenseitserwartung. Die durchschnittliche Lebenserwartung lag schätzungsweise bei 30-40 Jahren. Es ist daher nicht verwunderlich, dass der eigene Tod und der der Nächsten für die alttestamentlichen Schriften ein zentrales Thema sind. So allgemeinmenschlich Sterben und Tod aus einer grundsätzlichen, anthropologischen Sicht sind, so geschlechtsspezifisch verschieden sind Erfahrungen von Sterben und Tod. Sie spielen Seite 3/17 sich im Bereich von Rollenzuweisungen ab, sie spiegeln sich in Wahrnehmung und Reflexion auf Wahrnehmung. Zur Erläuterung werden hier die wichtigsten und leicht erhärtbaren Unterschiede der genderkategoriellen Vorzeichen bestimmter Facetten von Tod im Alten Testament/im alten Israel genannt: (1) Die Lebenserwartung der Frauen ist im 1. Jahrtausend in Palästina/Israel erheblich niedriger als die der Männer. Frauen sterben aufgrund von Schwangerschaften und Geburten vielfach jung, vor ihren Ehemännern. (2) Frauen und Hebammen sind mit dem Tod von Föten, Frühgeburten, Neugeborenen und Kleinkindern in direkterer Weise konfrontiert als Männer. Schwangere, Gebärende, Mütter und Hebammen suchen den Schutz göttlicher Mächte. (3) Das Pendant zum frühen Tod der Frau im Kindbett ist der gewaltsame Tod der Männer im Krieg. Im Kampf um das eigene Leben und das ihrer Nächsten oder Volksgenossen (Überleben, freies Leben) können sie gerade dies Leben verlieren. (4) Frauen und Männer erleiden den Tod häufig in denselben Arenen, z.B. bei Krankheit und Altersschwäche, aber es gibt auch Unterschiede der Todesarten. (Sexuelle) Gewalt gegen Frauen, ob häusliche Gewalt oder Übergriffe von Fremden oder Übergriffe im Krieg, endet vielfach tödlich. Der Suizid ist eine Todesart, die in der gesamten biblischen Tradition Männern vorbehalten ist. Hier soll ein Dissertationsprojekt die Forschungslücken, gerade bzgl. Genderfragen, schliessen (s.u. 2.). (5) Von Frauen im Alten Testament wird sehr selten erzählt, dass sie physische Gewalt anwenden, töten oder gar morden. Totschlag ist von Kain und Abel an Männersache. Berühmte Ausnahmen sind Tyrannentöterinnen wie Jael und Judith oder skrupellose Politikerinnen wie Isebel. (6) Die literarische Klage über den vorzeitigen und ungerechten Tod hat ein männliches Vorzeichen. Schon die ägyptische und mesopotamische Literatur kennt das Ringen der leidenden Gerechten, Gespräche mit Gott, Freunden und der eigenen Seele um das Leiden der Gottesfürchtigen. In dieser Tradition steht Hiob, der im gleichnamigen Buch die Weltordnung Gottes und Gottes Interesse am Wohlergehen seiner Frommen massiv in Frage stellt. Die Betroffenheit von Frauen kommt in dieser androzentrischen Sichtweise nur am Rand vor. (7) Die Todesstrafe, meistens durch Steinigung, seltener durch Pfählen oder Verbrennen, wird im alten Israel für eine Reihe von kultischen und sexuellen Vergehen vorgesehen. Auch hier sind geschlechtsspezifische Unterschiede erkennbar, insofern Frauen Seite 4/17 häufiger sexueller Vergehen verdächtigt (Num 5) oder angezeigt werden und diesen Anzeigen weitgehend schutzlos ausgeliefert sind. Der Tod für Verbrecher, die Verweigerung der Bestattung und Zerstörung des Körpers kann auch Frauen treffen wie die Erzählung vom Tod der Isebel zeigt (2Kön 9,33-37). (8) Die rituelle Klage hat im gesamten Mittelmeerraum ein weibliches Gendervorzeichen. Der Grund ist nicht, dass man Israelitinnen die Bereiche des Emotionalen „zuschob“, sondern dass sie spezielle Kompetenz im Umgang mit Geburt und Tod hatten. Diese Kompetenz kann über die Todesschwelle hinausgehen, indem Frauen Nekromantie (Ahnenbefragung) praktizierten. (9) Das Alte Testament definiert den Tod nicht nur physisch, sondern auch sozial. Ein Verstorbener bleibt als Person sozial lebendig, wenn er Nachkommen hat und solange sein Name in Erinnerung bleibt und angerufen wird. Nie wird in den alttestamentlichen Texten aber die Namensbewahrung auf Frauen bezogen, vielmehr sind sie diejenigen, die für den Erhalt des Namens ihrer verstorbenen Ehemänner oder Väter zu sorgen haben. Witwenschaft ist für Frauen eine weit bedrohlichere Erfahrung als für Männer, ja die Witwe wird zusammen mit den Waisen zum Inbegriff der sozial Schutzlosen. (10) Die Todesmetaphorik der hebräischen Bibel ist gefüllt mit Bildern der polytheistischen Vor- und Zeitgeschichte Palästinas/Israels und seiner Nachbarkulturen. Der Tod mawæt/motu ist im Hebräischen männlich konnotiert, das Wort selbst bezeichnet noch in Ugarit einen Gott. Die mythischen Hintergründe sind im Alten Testament noch völlig präsent. Die mächtigste Gegenspielerin des Todes ist die Liebe, die wiederum transparent ist auf die altorientalischen Liebesgöttinnen (Hld 8,6f). In anderen Traditionen ist die Weisheit eine solche Gegenspielerin der Todesmächte (Spr 9). Die Rolle der Widersacherinnen des Todes übernehmen in der biblischen Literatur dann aber die Frauen bis hin zu den Jüngerinnen nach Jesu Tod. Die Todesmacht ist also männlich assoziiert, die Gegenkräfte stärker weiblich. Die Erde jedoch, in die hinein die Toten gelegt werden, wird mit dem Schoss einer Erdgöttin in Verbindung gebracht, in den hinein die Toten wie in den Mutterschoss, aus dem sie herausgekommen sind, wieder zurückgehen (Hiob 1,21). (11) In der frühjüdischen Zeit verfestigt sich, in Fortsetzung von weisheitlichen Traditionen, die bereits aus ägyptischen Lebenslehren bekannt sind, teilweise eine vorher so nicht bemerkbare Misogynie: „Durch eine Frau kam der Tod in die Welt“ (Sir 25,24). Jesus Sirach legitimiert diese mit theologischen Argumenten, einschliesslich einer speziellen Auslegung von Gen 3, wonach Eva durch ihren Sündenfall die Sterblichkeit der Seite 5/17 Menschheit verursacht habe. Die conditio humana des Sterbenmüssens wird nun als Ergebnis einer Verschuldung betrachtet, und die Frau als Einfallstor dieses Unheils bezeichnet. Eine genderorientierte Aufarbeitung des gesamten Komplexes von Sterben und Tod im alten Israel gibt es bisher nicht. Erst in jüngerer Zeit haben Exegetinnen sich mit dem Thema der Fehlgeburten oder Totgeburten in biblischen Texten beschäftigt. Der Bereich, zu welchem die meisten, auch interkulturell vergleichenden Genderarbeiten vorliegen, ist die Klage. Einzelne Untersuchungen gibt es zur Nekromantie. Die biblischen Texte sind bis anhin auch nicht unter genderspezifischen Aspekten mit archäologischen Befunden in Beziehung gesetzt worden. Die „Archäologie des Todes“ ist noch sehr weitgehend androzentrisch. Aufgrund neuer Techniken sind aber seit einigen Jahren weitreichende Datenerfassungen und -vergleiche auch in puncto Geschlecht und Lebensalter von Skeletten möglich. In der Ikonographie hinterlässt der Tod weitgehend Leerstellen, nur der Tod (der feindlichen Krieger) im Krieg ist darstellbar. Das Thema Suizid in den alttestamentlichen Erzählungen wurde selten systematisch bearbeitet (LENZEN 1987). Die neuesten Arbeiten von Jan Dietrich (2008, 2009) skizzieren jedoch das Themenfeld mit Blick auf den Alten Orient. Eine genderspezifische Untersuchung des Themas Suizid im Kontext altorientalischer und klassisch antiker Kulturgeschichte gibt es nicht. Literatur zu Gender/Tod im Alten Israel BERLEJUNG, A./JANOWSKI, B. (Hg.) (2009), Tod und Jenseits im alten Israel und in seiner Umwelt. Theologische, religionsgeschichtliche, archäologische und ikonographische Aspekte (FAT 64), Tübingen. FISCHER, I. (2004), Rut als Figur des Lebens. 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Sterben und Tod unterliegen kulturellen Normen; in der Bereitung auf den Tod und im Erzählen über angemessenes Sterben werden Weiblichkeit und Männlichkeit sichtbar. In kirchenhistorischen Arbeiten Zusammenhängen aufgegriffen: Seite 7/17 wird das Thema „Tod und Gender“ in folgenden (1) Martyrium und vorzeitiger Tod: In der umfangreichen Literatur über Christenverfolgungen in der frühen Kirche finden sich auch Martyriumsberichte über Frauen, die im Tod „männlich“ werden (u.a. Perpetua und Felicitas, B REMMER 2012). Wie Mulder-Bakker für das Mittelalter und Burschel für die Neuzeit zeigen, kann die Geschichte des Martyriums als Gendergeschichte beschrieben werden (MULDERBAKKER 2005, BURSCHEL 2003, 2004). Burschel zufolge werden angemessenes Leben und Sterben für Frauen und Männer in der frühen Neuzeit unterschiedlich gegendert (BURSCHEL 2003). Die religiöse Deutung des unzeitigen oder vorzeitigen Todes – etwa von Diakonissen in der Krankenpflege in Kriegen des 19. Jahrhunderts – ist in Untersuchungen nach Krieg, Religion und Geschlecht anfänglich thematisiert (BÜTTNER 2009). (2) Untersuchungen im weiteren Feld des Totenkultes: Forschungen zu liturgischen Aspekten, etwa von kirchlichen Bestattungsliturgien und -ritualen, sind bisher nur wenig gendersensibel (vgl. etwa BECKER et al. 1987). Sie machen historische und theologisch beglaubigte Vorstellungen über Tod und Sterben sichtbar, daneben auch – implizit – soziale, politische und gegenderte Sichtweisen. Von Frauen praktizierte Rituale der Trauer und Totenklage (für frühchristliche Frauenrituale vgl. CORLEY 2010) geraten bislang eher selten in den wissenschaftlichen Skopus (im Unterschied zu einer ständig wachsenden rituellen Gebrauchsliteratur auf diesem Feld, die sich zum Teil auf historisches und liturgisches Brauchtum beruft, etwa KUTTER 2010). Auch die Untersuchung materieller Zeugnisse – etwa die Herrichtung des Leichnams im Totenkleid (ELLWANGER 2010) – kann erhellend sein, um historische Formen von Totenkult und Geschlecht als visuelle Medien zu analysieren. (3) In den letzten Jahrzehnten boomt die Analyse von Leichenpredigten, v.a. des 16.-18. Jh. (LENZ 1975-2004; vgl. auch ROTH 1993 über Basler Frauen, 1790-1914). In diesem Kontext werden auch sozial zugeschriebene Rollen- und Verhaltensmuster weiblichen und männlichen Sterbens, u.a. der Bereitung auf das Sterben, anhand (auto)biographischer Aufzeichnungen untersucht (LURZ 2003). (4) Kulturhistorische Studien über Frauen und Tod ab 1500 bis heute (Women and Death 2008-2010; BRONFEN 1987) thematisieren auch „Religion“ (etwa die historische Rezeption von Bibelgeschichten über tötende Frauen, Frauen als Opfer und Täter, Todesrepräsentation durch Frauen). Dazu gehört – im Rahmen von Totentänzen – die Begegnung des Todes mit Frauen, insbes. das im 16. Jh. entstehende Motiv „das Mädchen und der Tod“ und die seit dem 19. Jh. verstärkt damit verbundene Seite 8/17 Todeserotik sowie die Emotionalisierung des Todes (HÜLSEN-ESCH 2006; BRONFEN 1994). (5) In religionsgeschichtlichen Arbeiten über den Umgang von Religionen mit dem Tod bleibt die Geschlechtsfrage bislang nebensächlich (etwa HELLER 2009). Die bisherige kirchenhistorische Forschung beschränkt sich auf Einzelthemen und einzelne Epochen. Forschungsdesiderate und Beobachtungen werden deshalb eingegrenzt auf Aspekte, die für das Forschungsprojekt „Nekrologien und Thanatographien als identitätsstiftende und gegenderte Erinnerungspolitik, am Beispiel des deutschen und schweizerischen Altkatholizismus (1871-1924)“ (s.u. 2.) bedeutsam sind: (1) Bisherige Untersuchungen behandeln meist Frauen und Tod, während Gender (als historisch sich verändernde Konstruktion der Beziehung bzw. des Vergleich zwischen Frauen und Männern, Weiblichkeits- und Männlichkeitszuschreibungen) bisher kaum oder nur für bestimmte Epochen (BURSCHEL 2003) in den Blick kommt. Insbesondere für das 19. und frühe 20. Jh., für das die These einer „Feminisierung der Religion“ kritisch diskutiert wird, überrascht das weitgehende Fehlen von Studien zu gegenderten Vorstellungen über Sterben und Tod. (2) Die bisherige Erforschung von Leichenpredigten, Totenzetteln ist v.a. auf bestimmte Städte (etwa SCHLÖGL 1995) oder auf vorhandene Quellensammlungen bezogene Forschung; sie wendet sich weniger bestimmten Gemeinschaften, Formen der Gemeinschaftsbildung oder Identitätspolitik zu. (3) Während die frühe Neuzeit (1500-1800) in verschiedener Hinsicht gut erforscht ist, gilt dies aus kirchenhistorischer Sicht kaum für das 19. (und 20.) Jahrhundert (BRONFEN 1987 bietet einige Ansätze, ebenso die mentalitätsgeschichtlichen Forschungen von DINZELBACHER 2008; die frömmigkeitsgeschichtliche Studie von FISCHER 2004 lässt den Genderaspekt ausser Acht). Literatur zu Sterben und Tod in Kirchen- und Kulturgeschichte 8 ARIÈS, P. ( 1997), Geschichte des Todes, München (frz. Paris 1978). BECKER,H./EINIG, B./ULLRICH, P.-O. (1987), Im Angesicht des Todes. Ein interdisziplinäres Kompendium, 2 Bde., (Pietas Liturgica, 4), St. Ottilien. BREMMER J. N./FORMISANO, M. (Hg.) (2012), Perpetua’s Passions. 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Ein Blick in aktuelle dogmatische Gesamtentwürfe, in theologische Anthropologien und in Eschatologie-Bücher und -Aufsätze lässt rasch erkennen, dass eine gendersensible dogmatische Reflexion auf Tod und Sterben und die über das irdische Leben hinausgehenden Hoffnungen fast völlig ausfällt. Zwar wird in theologischen Anthropologien auf die geschöpfliche Endlichkeit des Menschen und die damit verbundenen Lebensbeeinträchtigungen reflektiert, zwar gibt es gendersensibel bearbeitete konstitutive Themen einer theologischen Anthropologie, insbesondere die Gottesbildlichkeit von Männern und Frauen und die Unterscheidung von Frauen- und Männersünde, doch eine anthropologische Tod-Gender-Knüpfung sucht man in der evangelischen Dogmatik vergebens. Vielmehr ist an die Stelle einer Fokussierung auf den Tod in der Folge von Martin Heideggers Bestimmung des Vorlaufens zum Tode als Inbegriff einer „eigentlichen Existenz“ des Menschen die Orientierung am Beginn des Lebens, an der Gebürtlichkeit des Menschen, getreten – in Anknüpfung an die bewusst gegen Heideggers Todesorientierung in „Sein und Zeit“ entwickelte Seite 11/17 Natalitätskonzeption Hannah Arendts. Ebenso gibt es in der Eschatologie, die seit dem letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts zu den am virulentesten diskutierten Topoi der Dogmatik gehört, nur sehr wenige gendersensible Arbeiten, obwohl gerade mit J. Christine Janowski, die bis 2011 die Berner Professur für Dogmatik inne hatte, eine genderperspektiviert arbeitende Dogmatikerin gleichzeitig einen in zahlreichen Publikationen ausgewiesenen Forschungsschwerpunkt Eschatologie hat(te). Ihre Texte erweisen sich als anschlussfähig für eine gegenderte Eschatologie. Wo die Gender-Kategorie Einzug in die eschatologische Forschung gehalten hat, geht es vor allem um Fragen von Kontinuität und Identität über den radikalen Bruch, den der Tod darstellt, hinaus, um die Art und Weise der Bewahrung irdischer Lebensgeschichten und insbesondere um Fragen der Auferstehungsleiblichkeit (vgl. FELKER JONES 2007) und der geschlechtlichen Identität des Auferstehungsleibes. Grundlegende Weichenstellungen finden sich hier vor allem in den Texten von Ruth K. Hess, der ehemaligen Assistentin von J. Christine Janowski, auf der Basis einer genderperspektivierten Lektüre des paulinischen EschatologieKapitels 1Kor 15 (HESS 2005, 2006). In vielem anknüpfungsfähig für eine gendergerechte Eschatologie sind die zahlreichen eschatologischen Arbeiten Jürgen Moltmanns und FriedrichWilhelm Marquardts, deren Systematische Theologien insgesamt auf einen eschatologischen Grundton gestimmt sind, sowie die Vorarbeiten Magdalene L. Frettlöhs zu einer am Eigennamen orientierten Eschatologie (siehe dazu die Literatur unter 2.2.3). Von allen hier beteiligten Disziplinen ist in der Dogmatik der deutlichste Nachholbedarf hinsichtlich einer genderspezifischen Ausdifferenzierung mit dem Tod verbundener Themen zu verzeichnen. Zur Schliessung der genannten Lücken empfiehlt sich der Einstieg mit einem Forschungsprojekt, dessen geschlechtsspezifische Implikationen auf der Hand liegen und das nicht nur von theologischer und kirchlicher, sondern insgesamt von hoher gesellschaftlicher Relevanz ist und dessen grundständige Bearbeitung wegweisende Ergebnisse für die Theologie und Kirche(n) wie für andere gesellschaftliche Systeme verspricht. Eben dies trifft auf das Dissertationsprojekt „Stille Geburt in eschatologischer Perspektive“ (s.u. 2.) zu. Literatur zur dogmatischen Eschatologie (anschlussfähig für die Genderperspektive) und zum Dissertationsprojekt Grundlegende dogmatisch-eschatologische Literatur ALTHAUS, P. 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Seite 13/17 1.4 Teilprojekt IV (Praktische Theologie/Seelsorge) Angesichts der neueren demografischen und medizinischen Entwicklungen gewinnt die Sterbebegleitung innerhalb der Seelsorge rasant an Bedeutung. Hier wird zwar schon seit den 1980er Jahren kontinuierlich im Bereich der Sterbebegleitung geforscht (z.B. PIPER 1990, LÜCKEL 1985), doch steigt letztere zunehmend in den Rang einer notwendigen Kernkompetenz von Seelsorgenden auf. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und das Federal Office of Public Health (FOPH) anerkennen „Spiritual Care“ als grundlegenden Teil von „Palliative Care“ für PatientInnen und ihre Angehörigen (WHO, 2002; Bundesamt für Gesundheit, 2009). Da Seelsorgenden die religiös-spirituelle Begleitung Sterbender jedoch zunehmend von anderen Berufsgruppen strittig gemacht wird, hat der Entscheid der WHO auch zu einer markanten Verschärfung der Frage geführt, wer nun wofür zuständig und kompetent ist. Die religionspsychologische Forschung der letzten Jahrzehnte hat in Hunderten empirischer Untersuchungen belegt, dass Menschen insbesondere in Krisenzeiten auf ihre spirituellen Ressourcen zurückgreifen (breit belegt in: PARGAMENT 1997, KOENIG 1997) und dies oft eine Hilfe für die Bewältigung der Situation ist, sie manchmal aber auch belastet („spiritual struggle“, z.B. FITCHETT & RISK 2009). Dass gerade Seelsorge deshalb eine wichtige Form der Unterstützung ist, belegen ebenso viele Studien (Überblick über die Forschung: JANKOWSKI et al. 2011). Seelsorge wird in solchen Situationen nicht selten auch zu einer wichtigen sozialen Ressource der Familie von Sterbenden gerade dadurch, dass sie ihr durch seelsorgliche Präsenz die bejahende Kraft der Gegenwart Gottes zusagt und die vom herannahenden Tod betroffenen Personen darin unterstützt, ihre eigenen Ressourcen – unter diesen besonders auch ihre persönliche Religiosität/Spiritualität – zu nutzen (z.B. Orientierung an einem kooperativen religiösen Coping, das selbstbestimmte Bewältigung der Krisensituation fördert), aber auch Ressourcen im Familiensystem aktiviert (z.B. rationale Anerkennung der Ernsthaftigkeit der Situation, Empathie, gegenseitige Unterstützung). Die Aktivierung von religiösen Ressourcen ist dabei entscheidend, damit auch das religiöse Potential zur Interpretation der Situation ausgeschöpft werden kann (ABURAIYA/PARGAMENT 2011). Besonders wichtig für den Sterbeprozess und die Trauerbewältigung ist das Verständnis vom Tod, das Sterbende wie auch deren Angehörige haben. Das Postdoc-Projekt will eine gendersensible Aufarbeitung des vermuteten Zusammenhangs zwischen Interpretationsweisen von Sterben und Tod und jeweiligen Gottesbildern leisten. Es dient der Entwicklung einer gendersensiblen seelsorgepraktischen Methodik in der Sterbebegleitung (s.u. 2.). Seelsorge kann – gerade durch ihre spezifischen Arbeitsformen und theologischen Deutungsangebote der Situation – dazu beitragen, dass das Gefühl der Kohärenz (Antonovsky) aufrechterhalten werden kann. Sie schafft beispielsweise Raum für die Bearbeitung der Frage Seite 14/17 „warum?“ (ZNOJ/MORGENTHALER/ZWINGMANN 2004) oder unterstützt die Betroffenen mit ihren Familien darin, begründete Hoffnung im Angesicht des Todes aufrecht zu erhalten. Bei all den vorliegenden Forschungsergebnissen ist es umso erstaunlicher, dass es bisher kaum Untersuchungen zu geschlechtsspezifischen religiösen Ressourcen und Coping-Strategien gibt. Dabei zeigt sich z.B. an der aktuellen gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung sowohl um den assistierten Suizid (wie ihn Institutionen wie Exit oder Dignitas anbieten) als auch um die vom Bundesrat geförderte Palliative Care (s. Bericht des BR vom Juni 2011), dass mit denselben Argumentationsfiguren operiert wird, nämlich insbesondere mit dem Selbstbestimmungsrecht des Menschen. Ein genauerer, genderreflektierter Blick auf Aussagen Exit-Williger fördert jedoch zu Tage, dass die Begründung, niemandem zur Last fallen zu wollen und sich nicht zumuten zu wollen, bei Frauen unverhältnismässig häufiger genannt wird als bei Männern. Letztere plausibilisieren ihren Wunsch nach dem Tod bzw. ihren Entscheid für einen assistierten Suizid häufiger mit dem im öffentlichen Diskurs verwendeten Begriff der Selbstbestimmung, die den mündigen Bürger seit der Aufklärung kennzeichnet. Das heisst, gerade im Umgang mit dem (wissentlich kurz oder länger bevorstehenden) Tod angesichts einer Krankheit etc. zeigen sich unterschiedliche, nämlich explizit gendertypische Argumentationsmuster. Eine theologisch und religionspsychologisch fundierte Seelsorge wird solche Begründungsfiguren hellhörig wahrnehmen und vor dem Hintergrund unterschiedlicher Geschlechterrollen und -bilder reflektieren und im konkreten Fall je nach Möglichkeit ansprechen. Literatur zu Sterben, Tod und Gender in der Praktischen Theologie/Seelsorge BELOK, M./LÄNZLINGER, U./SCHMITT, H. (Hg.) (2012), Seelsorge in Palliative Care, Zürich. BURBACH, C./HECKMANN, F. (Hg.) (2011), Übergänge. Annäherungen an das eigene Sterben, Göttingen. CHARBONNIER, R. (2008), Seelsorge in der Palliativversorgung, Wege zum Menschen 60, 512-528. DREWES, V. (2010), Abschied vom Leben. Beratung von Angehörigen Sterbender, Göttingen. F ITCHETT, G./Risk, J. L. (2009). Screening for Spiritual Struggle. The Journal of Pastoral Care and Counseling, 63 (1-2), 1-12. FRICK, E. (2009), Spiritual Care – nur ein neues Wort?, Lebendige Seelsorge 60, 233-236. 2 FRICK, E./ROSER, T. (Hg.) ( 2011), Spiritualität und Medizin. 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