Die vaginale Untersuchung während der Geburt

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Die vaginale Untersuchung während der Geburt
fhg – Zentrum für Gesundheitsberufe Tirol GmbH
FH-Master-Lehrgang zur Weiterbildung §14a FHStG
Master of Science in Practice Midwifery
Die vaginale Untersuchung
während der Geburt
Ein Eingriff zwischen Routinemaßnahme und
Intimitätsverletzung
Masterthesis
Verfasserin: Elisabeth Rakos, Matrikelnummer 1030006015
Betreuerin: Dr. in Barbara Schildberger, M.A.
Zweitbegutachterin: Martina König, MHPE
Innsbruck, im September 2012
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Widmung
Für meine Mutter, die mich auf natürlichem Wege zur Welt gebracht hat, obwohl die
Umstände alles andere als natürlich waren.
Für meine Schwiegermutter, die mich gelehrt hat, die Liebe über alles Trennende zu
stellen und die im Juni 2012 gestorben ist.
Titelbild: Georgia O´Keeffe (1924) Light Iris
http://kip.kennesaw.edu/~smoultrie/Art/art-new-york.html
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Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Dank
Immer wenn jemand ein zeit- und arbeitsintensives Vorhaben ausführt, gibt es
Menschen hinter den Kulissen, ohne die diese Übung nicht gelingen würde.
Ihnen allen möchte ich sagen: Auch wenn es vielleicht nicht spürbar war, ich bin
euch zutiefst dankbar für eurer Verständnis, eure Geduld und eure Unterstützung.
Zu allererst möchte ich mich bei den zehn Frauen bedanken, die mir in den
Interviews Einblicke in ihre Geburtserlebnisse gewährt haben. Danke für euer
Vertrauen und für eure Zeit. Ohne euch wäre die Arbeit nicht geworden was sie ist.
Mary, thank you so much for your support, for your friendship, for the expert-interview
we did and for the wonderful day we spent together at King`s College in London.
Christian, es ist mir bewusst, dass diese zwei Jahre Studium auch für dich eine
Herausforderung waren. Ich war viel weg und zu Hause oft reizbar und übermüdet.
Danke für deine Unterstützung. Danke für den Kaffee am Morgen und den Rotwein
am Abend. Danke, dass du für uns Essen eingekauft und gekocht hast. Danke für die
vielen Wochenenden, die du ganz allein bestritten hast. Du hast selbst einen
anspruchsvollen Job und ich weiß, dass das alles nicht leicht war für dich. Danke.
Manuel, Valentin, Benjamin und Florian, euch danke ich für die vielen Tage, an
denen ihr ohne mein Zutun den Laden geschupft, meine Unausgeglichenheit
ignoriert, den Hund gefüttert und die Musik leise gedreht habt, wenn ich mit einem
schweren Kopf nach Hause gekommen bin.
Dir, Traude, möchte ich für deine Freundschaft und deine vielen praktischen
Hilfsmaßnahmen danken, die mich einmal mehr haben spüren lassen, wie wichtig es
ist, eine Freundin zu haben.
Mela y Anamaria, gracias a la vida que nos puso en este camino....
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Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Martina, deine erste Botschaft zu Beginn unseres Studiums war ein A4 Blatt mit dem
Bild von einem großen, offen stehenden Tor. Darüber stand geschrieben: „ Bitte
eintreten in eine Zeit der Fülle, der Herausforderung und der Freude.“ Oft hat mich
dieser Satz inspiriert und motiviert. Bewusst bin ich durch dieses Tor geschritten und
habe mich auf einen Weg gemacht, der tatsächlich gepflastert war mit einer Fülle an
herausfordernden und inspirierenden Erfahrungen. Ich möchte mich bei dir bedanken
für dein offenes Ohr und deine liebevolle, unkomplizierte Art, mit uns Studentinnen
umzugehen. Du bist die beste Studiengangsleiterin der Welt.
Besonders dankbar bin ich dir, Barbara, meiner Wegbegleiterin und Betreuerin in
diesem Prozess des Erstellens einer Masterarbeit. Ganz im Sinne feinster
Hebammenkunst hast du es immer wieder verstanden, mich zu ermutigen und mir
das bewusst zu machen, was verborgen in meinem Innersten schon da war. Darüber
hinaus haben mir deine praktischen Anregungen, deine Freude dabei, mich zu
begleiten und deine prompten Antwortmails auf meine manchmal verzweifelten
Fragen unglaublich gut getan.
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Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Inhaltsverzeichnis
Widmung ................................................................................................. 1 Dank......................................................................................................... 2 Vorwort .................................................................................................... 7 Zusammenfassung................................................................................. 8 Abstract ................................................................................................... 9 1. Einleitung .......................................................................................... 10 1.1 Forschungsfragen ............................................................................................11 1.2 Aufbau der Arbeit .............................................................................................11 1.3 Ziel....................................................................................................................13 2. Grundlagen ....................................................................................... 14 2.1 Die deutschen Hebammenlehrbücher..............................................................15 2.1.1 Hebammenlehrbuch ..................................................................................15 2.1.2 Das Hebammenbuch .................................................................................17 2.1.3 Hebammenkunde ......................................................................................19 2.2 Midwifery-Textbooks aus England, Australien und Neuseeland ......................20 2.2.1 Myles Textbook for Midwives (UK) ............................................................20 2.2.2 Skills for Midwifery Practice (UK)...............................................................22 2.2.3 Midwifery Essentials (UK)..........................................................................23 2.2.4 Midwifery. Preparation for Practice (Australia, New Zealand) ...................25 2.3 Abseits der Lehrbücher ...................................................................................26 2.3.1 Die Eipolablösung......................................................................................26 2.3.2 Das Muttermund-Dehnen ..........................................................................27 2.3.3 Massieren und Dehnen von Damm und Labien ........................................27 2.3.4 Der quickie................................................................................................27 2.4 Conclusio..........................................................................................................28 3. Die vaginale Untersuchung im wissenschaftlichen Diskurs........ 30 3.1 Evidenzen als Handlungsgrundlage.................................................................30 3.2 Das Paradigma des Geburtsfortschritts ...........................................................31 3.3 Die vaginale Untersuchung als Routinemaßnahme .........................................37 3.4 Die vaginale Untersuchung als Stressor ..........................................................40 4
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
3.5. Posttraumatische Belastungsstörungen..........................................................42 3.6 Die vaginale Untersuchung als Machtinstrument .............................................45 3.7 Die Akzeptanz der vaginalen Untersuchung durch die Gebärende .................46 3.8 Die Rolle der Zeit in der Geburtshilfe ...............................................................47 3.9 Alternativen zur vaginalen Untersuchung.........................................................51 4. Forschungsergebnisse aus den Interviews................................... 54 4.1 Methode ...........................................................................................................54 4.2 Rekrutierung.....................................................................................................55 4.3 Vorbereitung und Ablauf der Interviews ...........................................................56 4.4 Die interviewten Frauen: Zehn geburtshilfliche Kurzportraits...........................57 4.5. Die interviewte Expertin...................................................................................61 4.6 Auswertungsmethode.......................................................................................62 4.7 Ergebnisse .......................................................................................................63 4.7.1 Die vaginale Untersuchung als notwendige Maßnahme ...........................64 4.7.2 Die körperliche Wahrnehmung der vaginalen Untersuchung ....................68 4.7.3 Die Kommunikation der vaginalen Untersuchung......................................72 4.7.4 Die Bedeutung der Beziehung zur Hebamme ...........................................76 4.7.5 Die Zeit als bestimmender Faktor für die Untersuchungsfrequenz............82 4.7.6 Die psychische Komponente vaginaler Untersuchungen ..........................84 4.7.7 Die Bedeutung der Intimsphäre .................................................................88 4.7.8 Das subjektive Erleben der Geburt............................................................91 5. Schlussfolgerungen ......................................................................... 94 5.1 Die vaginale Untersuchung als Diagnoseinstrument in der Literatur ...............94 5.2 Die Rezeption der vaginalen Untersuchung durch die Gebärende ..................95 5.3 Die vaginale Untersuchung als Lernfeld in der Hebammenausbildung............97 5.4 Die vaginale Untersuchung in der praktischen Hebammenarbeit ....................98 Literaturverzeichnis ........................................................................... 101 Abbildungsverzeichnis ...................................................................... 106 Glossar ................................................................................................ 107 Abkürzungen....................................................................................... 109 Anhang 1 ............................................................................................. 110 5
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Anhang 2 ............................................................................................. 112 Anhang 3 ............................................................................................. 114 Anhang 4 ............................................................................................. 115 6
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Vorwort
“Whereas all of us who are women have a vagina, we all have our own relationship
with our own vagina, whatever that might be, whether we feel comfortable
touching ourselves - never mind anyone else! And in a way - can we have this
discussion, how do you feel touching your own body? Because if you can’t get your
head around that, then you should not be touching somebody else’s body!”
(aus dem Interview mit Mary Stewart)
Manchmal ist mir mein Thema ein bisschen peinlich.
Es lässt sich nicht so wie zum Beispiel Wunschkaiserschnitt oder Beckenendlage
quer durch die Mensa oder über die Gasse diskutieren. Deswegen habe ich mich
gelegentlich, wenn jemand mich so im Vorbeigehen gefragt hat, worüber ich denn
eigentlich schreibe, vor der Antwort gedrückt.
Mein Thema ist ein sehr intimes. Eines, das Frauen immer auch persönlich betrifft.
Wenn es um vaginale Untersuchungen geht, geht es um die Vagina, um Sexualität,
um das Frau-Sein, um unseren Körper und die Beziehung, die wir zu ihm haben; und
auch um die Beziehungen, die wir zu anderen Menschen haben.
Es geht um das, was wir erlebt haben und erleben und wie sehr wir uns auf das
einlassen können, was wir spüren.
Mein Thema ist ein emotionales. Ich habe Situationen erlebt, in denen das Nennen
des Titels meiner Masterthese wie der Türöffner in eine verborgene Welt gewirkt und
dazu geführt hat, dass mir Frauen ihre Geschichten erzählt haben. Ältere Frauen,
sehr alte, aber auch ganz junge.
Auch meine Mutter hat begonnen, zu erzählen...
Bei meinem Thema geht es um Achtsamkeit. Um die Achtsamkeit, mit der wir uns
selber und den Menschen in unserem Umfeld begegnen.
Alles Aspekte, die sich nicht gut dafür eignen, in eine wissenschaftliche Arbeit
eingebaut zu werden. Welche Quellen könnte ich nennen?
Um der Intimität, Emotionalität und Achtsamkeit, die dieses Thema verlangt, Raum
zu geben, habe ich dieses Vorwort geschrieben.
Lisa Rakos
Wolfsgraben, im September 2012
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Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Zusammenfassung
Vaginale Untersuchungen während der Geburt sind ein wichtige Hebammenkompetenz und üblicher Bestandteil der geburtshilflichen Betreuung. Insbesondere
durch die Einführung der Überwachung und Kontrolle des Geburtsfortschritts mittels
Partogramm sind sie zur Routinemaßnahme geworden. Gleichzeitig sind diese auch
Eingriffe in die Intimsphäre einer Frau, die unangenehm sind, Schmerzen auslösen
oder sogar traumatisieren können. Unter diesem Aspekt ist jede vaginale Untersuchung als Intervention zu verstehen, die als solche einer dringenden Indikationsstellung bedarf und ein achtsames Vorgehen erfordert. Die vorliegene Arbeit ist von
folgenden Forschungsfragen geleitet: Wie ist die vaginale Untersuchung als
Diagnoseinstrument unter der Geburt in der Literatur begründet? Wie erleben Frauen
vaginale Untersuchungen während der Geburt? Prägen diese das Geburtserlebnis?
Im Rahmen einer Literaturrecherche wurden deutsche und englische
Hebammenlehrbücher verglichen. In medizinischen und hebammenrelevanten
Datenbanken wurde mit den Suchwörtern vaginal/pelvic/internal examination in
Kombination mit birth oder labour, birth progress, und birth experience nach Studien
gesucht. Diese wurden einander gegenüber gestellt. Mittels qualitativer Interviews
wurden zehn Frauen nach der Geburt zu ihrem Geburtserlebnis und auch dazu
befragt, wie sie vaginale Untersuchungen während der Geburt erlebt haben.
Ergebnisse: Bei der Darstellung der vaginalen Untersuchung in den Hebammenlehrbüchern kommen der Intimitätscharakter der Untersuchung und die psychosozialen Fähigkeiten, die dieser Eingriff erfordert, zu kurz. In der englischsprachigen
Forschungsliteratur mehren sich Arbeiten, die dem Paradigma des Geburtsfortschritts und seinen Auswirkungen auf das geburtshilfliche Handeln kritisch
gegenüber stehen. Die Interviews ergaben, dass Frauen routinemäßige vaginale
Untersuchungen generell als notwendige Maßnahmen akzeptieren, diese jedoch als
unangenehm und manchmal schmerzhaft empfinden. Keine der Frauen wurde im
Sinne eines shared decision making über die vaginale Untersuchung aufgeklärt.
Weiters vermitteln diese ein Gefühl von Zeitdruck und wirken sich störend auf den
Geburtsprozess aus. Vaginale Untersuchungen werden insofern als prägend für das
Geburtserlebnis angesehen, als diese maßgeblich geburtshilfliche Entscheidungen
beeinflussen.
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Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Abstract
Vaginal examinations during birth are a common aspect of birth management and an
essential skill in midwifery practice. Particularly since the implementation of the
partogram as a basic means for the surveillance of the birth progress, vaginal
examinations have become routine procedures. At the same time vaginal
examination has an impact on the intimacy and privacy of a woman which can be
aggravating, painful and even cause traumas. From this point of view any vaginal
examination has to be considered as an intervention which requires a serious
indication as well as careful practice. This research has been conducted to address
the following questions: How is vaginal examination as a means of diagnosis
during birth justified in literature? How do women experience vaginal examinations
during birth? Do these examinations have an impact on their birth experiences?
German and English textbooks for midwifery education were compared and a
literature survey was conducted in several medicine- and midwifery-focused
databases. The keywords were vaginal/pelvic/internal examination in combination
with birth or labour, birth progress and birth experience. Relevant publications were
compared. Qualitative interviews were conducted with 10 women regarding their birth
experiences and the way they perceived vaginal examinations during birth.
Results: The description of vaginal examination in textbooks do not address the
intimate character of this measure adequately and fail to consider the psychosocial
and communicative skills needed. An increasing number of scientific papers can be
found in English literature that critically question the paradigm of birth progress and
its impact on birth management. The interviews showed, that women generally
accept routine vaginal examinations during birth as necessary interventions. They do
consider them however as aggravating and in some cases painful. None of the
women received adequate information regarding vaginal examination in the sense of
shared decision making. Repeated vaginal examinations establish time pressure for
women in labour and cause a disturbance of the labour process.
Vaginal examinations leave their imprint on the birth experience as they have
decisive influence on decisions regarding obstetric interventions.
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Die vaginale Untersuchung während der Geburt
1. Einleitung
„I definitely think that
vaginal examination has its place.” (aus dem Interview mit Mary Stewart)
Vaginale Untersuchungen während der Geburt sind ein wesentlicher Bestandteil der
geburtshilflichen Betreuung. „Wir schauen jetzt mal nach“, lautet einer der häufigsten
Sätze in den Gebärabteilungen österreichischer Krankenhäuser. Sobald eine
Wehende dort eintrifft, wird die ganze Geburt hindurch in unterschiedlichen
Abständen der Geburtsfortschritt durch vaginale Untersuchungen ermittelt und
dokumentiert. Insbesondere die Einführung des Partogramms, welches ein
Kontrollieren der Muttermundweite und des Höhenstandes des kindlichen Köpfchens
in regelmäßigen Abständen1 erfordert, hat dazu geführt, dass diese Untersuchungen
während der Geburt zur Routine gehören und zumindest in den mir bekannten
Geburtshilfeabteilungen nicht hinterfragt werden.
Für die Frauen ist es mitunter hilfreich zu wissen, wie weit ihre Geburt bereits
fortgeschritten ist. Dann wollen sie selbst, dass eine vaginale Untersuchung gemacht
wird. Das oben beschriebene Prozedere ist außerdem in unserem geburtshilflichen
Setting so fest verankert, dass es auch für die Gebärende sebstverständlich
dazugehört.
Es gibt allerdings Situationen, in denen vaginale Untersuchungen als problematisch
erlebt werden. Sie können körperliche Schmerzen verursachen, Ängste auslösen
und zu einer Irritation, Anspannung und Abwehrhaltung der Gebärenden führen, die
das Geburtsgeschehen verkomplizieren. Im schlimmsten Fall können vergangene
Traumata wachgerufen oder neue gesetzt werden.
Die Schwierigkeit der vaginalen Untersuchung liegt unter anderem darin begründet,
dass sie eine für Hebammen und GeburtshelferInnen normale Routinemaßnahme,
für die Gebärende hingegen ein Eingriff ist, der ihre Intimsphäre berührt. Sind Vulva
und Vagina normalerweise intime Körperregionen, ist dieser Bereich im
1
Die Richtlinien hierzu sind in den einzelnen Gebärabteilungen sehr unterschiedlich. Meist sind
Untersuchungen alle 1-2 Stunden vorgegeben. Längere Abstände als 4 Stunden werden meines
Wissens nicht toleriert.
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Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Zusammenhang mit Schwangerschaft und Geburt einer Kontrolle durch das
medizinische Fachpersonal unterworfen. Es wird wenig darüber reflektiert, ob, wie,
wie oft und von wem dieser Eingriff durchgeführt werden soll. Selten wird eine
Wehende über die Gründe zur Durchführung einer vaginalen Untersuchung
informiert und vor die Wahl gestellt, diese abzulehnen oder ihr zuzustimmen.
Die vaginale Untersuchung ist ein Forschungsfeld, welches zumindest im
deutschsprachigen Raum noch wenig bearbeitet ist. Die Frage, wie Frauen vaginale
Untersuchungen unter der Geburt empfinden, und ob sie das Geburtserlebnis
beeinflussen, wurde bislang noch kaum gestellt. Es fehlen, so Schönberner,
„Untersuchungen zur psychologischen Bedeutung der vaginalen Untersuchung
während der Geburt. Welche Bedeutung hat sie für die Wahrnehmung der eigenen
Körperlichkeit, die Selbsteinschätzung und die ‚Rolle’ als Patientin“. (Schönberner in:
Deutscher Hebammenverband 2010: 305).
Das hat mich dazu inspiriert, mich diesem Thema zu widmen.
1.1 Forschungsfragen
Folgende Forschungsfragen geben der Recherche und dem Design meiner Arbeit
die Richtung:
•
Wie ist die vaginale Untersuchung als Diagnoseinstrument unter der Geburt in
der Literatur begründet?
•
Wie erleben Frauen vaginale Untersuchungen während der Geburt? Prägen
diese das Geburtserlebnis?
1.2 Aufbau der Arbeit
Der erste Teil der Arbeit beschäftigt sich mit den Grundlagen. Es wird zu klären sein,
was eine vaginale Untersuchung ist, wie und wann sie durchgeführt wird und ob sie
ein geeignetes Instrument zur Feststellung des Geburtsfortschritts ist. Für die
Definition des Grundbegriffs vaginale Untersuchung werden zunächst
Hebammenlehrbücher aus dem deutschen und englischen Sprachraum
herangezogen. Anschließend werden die gefundenen Beschreibungen einander
gegenübergestellt. In der Praxis gibt es eine Reihe von Maßnahmen, die in der
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Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Literatur nicht beschrieben sind, aber im Zusammenhang mit vaginalen
Untersuchungen durchgeführt werden. Diesen ist der letzte Abschnitt des ersten
Teils gewidmet.
Die wissenschaftliche Forschungsliteratur ist Gegenstand des zweiten Teils. Im
Rahmen einer unfangreichen Literaturrecherche habe ich in den Datenbanken
Academic Search Elite, CINAHL, Cochrane, Maternity and Infant Care Database
(MIDIRS), Medline, Medpilot, Pubmed, Science Direct und Springer Link nach
Studien gesucht. Meine Suchwörter waren vaginal/pelvic/internal examination in
Kombination mit birth oder labour, birth progress und birth experience. Weiters habe
ich, ebenfalls in Kombination mit labour oder birth, mit den Begriffen diagnosis,
distress, pain und satisfaction gesucht. Einige dieser Suchwörter habe ich auch
direkt in die Suchmaschinen der folgenden Fachzeitschriften eingegeben: American
College of Obstetricians and Gynecologists, Birth, British Journal of Midwifery, Die
Hebamme, Journal of Advanced Nursing und Midwifery. Weiters bin ich über die
Literaturverzeichnisse aktueller Studien, insbesondere in der umfangreichen Arbeit
von Stewart (2008), auf weitere relevante Forschungsarbeiten gestoßen.
Die Kernaussagen der in der Arbeit verwendeten Forschungsliteratur werden
wiedergegeben und miteinander in Beziehung gesetzt.
Um meine zweite Forschungsfrage beantworten zu können, habe ich im Rahmen
einer qualitativen Studie Interviews mit Frauen nach der Geburt geführt. Diesen ist
der dritte Teil meiner Masterthese gewidmet. Interview- und Auswertungsmethode
werden zunächst detailliert beschrieben. Die gefundenen Kategorien werden
vorgestellt und dann unter Verwendung von Originalzitaten aus den Interviews
genauer charakterisiert. Querverweise auf die bei der Literaturrecherche gefundenen
wissenschaftlichen Arbeiten setzen die eigenen Forschungsergebnisse mit diesen in
Verbindung.
Zur fachlichen Vertiefung der Diskussion wurde im Rahmen eines Interviews die
Expertin Dr. Mary Stewart befragt. Sie gilt als profunde Kennerin der Materie und
war eine der ersten Wissenschaftlerinnen, die umfassende Recherchen und
Überlegungen zu einem bis dahin wenig beachteten Aspekt der Hebammenarbeit
angestellt hat. Darüber hinaus ist sie als Lektorin auch mit den didaktischen
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Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Problemen die das Thema mit sich bringt, vertraut. Ihre Expertise fließt als
ergänzende Perspektive in alle Kapitel dieser Arbeit mit ein.
In den Schlussfolgerungen werden die wesentlichen Erkenntnisse dieser Arbeit
zusammengefasst, die Grenzen derselben aufgezeigt und Anregungen für weitere
Recherchen gegeben.
Im Anhang befinden sich die Dokumente, die der Ethikkommission im Rahmen der
Bewilligung meiner Studie vorgelegt wurden, ein Glossar, ein Abkürzungsverzeichnis
und ein Abbildungsverzeichnis.
1.3 Ziel
Als Lehrerin in der Hebammenausbildung ist es mir ein Anliegen, die Art und Weise,
wie die Fertigkeit vaginale Untersuchung gelehrt und vermittelt wird – im Unterricht
und in den Lehrbüchern – kritisch zu hinterfragen und möglicherweise Anstoß zu
Veränderung zu geben.
Als Hebamme ist es mir wichtig, Anregungen für die Praxis zugänglich zu machen,
die einen sensibleren und differenzierteren Umgang mit dem Instrument vaginale
Untersuchung ermöglichen. Dazu gilt es, neben der kritischen Betrachtung der
Hebammenlehrbücher auch die aktuelle Forschungsliteratur aufzuarbeiten.
Die wahren Expertinnen zum Thema vaginale Untersuchung sind Frauen, die ein
Kind geboren haben und während der Geburt vaginal untersucht wurden. Deswegen
erschien es mir notwendig, ihre Expertise mit einzubeziehen. In der Analyse von
zehn Interviews kommen sie selbst zu Wort. Die komplexen Auswirkungen dieser
Maßnahme auf die Gebärende, die Beziehung zwischen Gebärender und Hebamme
und auf das gesamte Erleben der Geburt kann niemand treffender formulieren als
sie selbst.
Ziel dieser Arbeit ist es, das Thema des vaginalen Untersuchens während der Geburt
zur Sprache zu bringen, meine Forschungsfragen zu beantworten und unter
Einbeziehung der mir verfügbaren Quellen eine differenziertere Betrachtungsweise
und einen sensibleren Umgang mit dieser Maßnahme zu erreichen.
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Die vaginale Untersuchung während der Geburt
2. Grundlagen
„Wir waren, ah, also um acht, um acht in der Früh
waren wir das erste Mal dort.(L: Mhm).
Und dann bin ich eben untersucht worden
und da hat sie mir gesagt, der Muttermund ist 2 cm offen.“ (aus dem Interview mit D)
Die vaginale Untersuchung ist ein diagnostisches Instrument, das von Hebammen
und GeburtshelferInnen im Rahmen der Betreuung und Überwachung der Geburt
eingesetzt wird, um den Geburtsfortschritt, die Geburtswege und die Positionierung
des Kindes im mütterlichen Becken zu beurteilen. Im Verlauf der Geburt wird die
Gebärende in unterschiedlichen Abständen vaginal untersucht, um das
Voranschreiten der Geburt oder eventuell auftretende Regelwidrigkeiten
kontinuierlich beurteilen und dokumentieren zu können. Die vaginale Untersuchung
begleitet somit Latenzphase, Eröffnungsphase, Übergangsphase und
Austreibungsphase gleichermaßen.
Dieses Kapitel widmet sich der Frage, wie die vaginale Untersuchung definiert ist,
wie eine solche durchzuführen ist, was für Befunde konkret zu erheben sind, welche
Indikationen und Kontraindikationen es gibt und was es im Zusammenhang mit einer
vaginalen Untersuchung zu beachten gilt. Damit sind auch psychosoziale und
kommunikative Fähigkeiten gemeint, die der Intimität dieses Eingriffs gerecht
werden. „One of the most suprising aspects of vaginal examination is that, despite its
routine nature, there is remarkably little literature, that explores the procedure.
(Stewart 2008: 7)
Um eine umfassende Definition zu erhalten, werden die Informationen zur vaginalen
Untersuchung in aktuellen deutsch- und englischsprachigen Hebammenlehrbüchern
zusammengefasst und anschließend verglichen.
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Die vaginale Untersuchung während der Geburt
2.1 Die deutschen Hebammenlehrbücher
Viele Jahre hindurch war das Hebammenlehrbuch, herausgegeben von Martius2, ein
Grundlagenwerk der Hebammenausbildung im deutschsprachigen Raum. Zwischen
1962 und 1999 ist es in 7 Auflagen erschienen und hat einige
Hebammengenerationen geprägt und begleitet. Im Jahr 1995 sind erstmals zwei
Hebammenlehrbücher erschienen, die von Hebammen verfasst und herausgegeben
wurden und seither die primäre Informationsquelle für Hebammenstudentinnen und
ausgebildete Hebammen sind.
Es sind dies Das Hebammenbuch, herausgegeben von Christine Mändle und Sonja
Oppitz-Kreuter, 2007 in der 5. Auflage erschienen, und die Hebammenkunde, editiert
von Christine Geist, Ulrike Harder und Andrea Stiefel. Es ist 2007 zum vierten Mal
aktualisiert worden.
Die Definitionen und näheren Beschreibungen der vaginalen Untersuchung in diesen
drei Grundlagenwerken sollen im Folgenden verglichen werden.
2.1.1 Hebammenlehrbuch
Die Aufgaben der Hebamme während einer Geburt sind bei Martius (1990;1995)
unter dem Kapitelnamen Überwachung und Leitung der Geburt mit dem Unterkapitel
Überwachung der Kreißenden dargestellt, innerhalb dessen sich unter Kontrolle des
Geburtsfortschritts das Thema vaginale Untersuchung findet (vgl. Martius,
Heidenreich in: Martius 1995: 263-266). In den von mir durchgesehenen Auflagen
von 1990 und 1995 ist diese Maßnahme annähernd identisch beschrieben. Wichtiger
als die in der Schwangerschaft übliche äußere Untersuchung ist unter der Geburt, so
Martius, „ die innere Untersuchung, die von den meisten Kliniken [...] in Form der
vaginalen Untersuchung vorgenommen wird.“ (Martius in: Martius1990: 330). Der
Autor weist darauf hin, dass die vaginale der rektalen Untersuchung vorzuziehen ist,
vor der Untersuchung eine ausreichende Händedesinfektion vorzunehmen ist, ein
steriler Einmalhandschuh angezogen werden und die Frau sich im „im Längsbett3 bei
2
Gerhard Martius (1924-1998): Gynäkologe, Professor an der Universitätsfrauenklinik in München
und Leiter der dortigen Hebammenschule
3
Anm.: Dabei geht der Autor von einer sich in Rückenlage befindenden Gebärenden aus
15
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
aufgestellten Beinen“ (Ebd.: 331) befinden muss. Dem Autor erscheint es „sinnvoll,
die Untersuchung jeweils kurz vor Beginn der zu erwartende nächsten Wehe zu
beginnen und sie über die Wehe hinaus fortzusetzen “ (Martius, Heidenreich in:
Martius 1995: 266), um so die Effektivität der Wehen beurteilen zu können. Martius
geht ausführlich auf die zu erhebenden Befunde ein. Diese sind:
•
Stand, Länge und Konsistenz der Portio.
•
Weite, Gewebereichtum und Gewebebeschaffenheit des Muttermundes, seine
Beziehung zum vorangehenden Kindesteil und den Einfluss der Wehe auf die
Beschaffenheit des Muttermundes.
•
Der vorangehende Kindesteil wird danach beurteilt, ob es sich um Steiß oder
Kopf handelt, sein Höhenstand im kleinen Becken wird erfasst.
•
Durch die Beurteilung des Verlaufes der Pfeilnaht wird die Einstellung des
kindlichen Köpfchens festgestellt.
•
Der Stand der Fontanellen lässt auf die Haltung schließen.
•
Es wird beurteilt, ob eine Geburtsgeschwulst vorhanden ist und wie
ausgeprägt sich diese darstellt.
•
Es wird nach der Fruchtblase getastet um festzustellen, ob diese noch
vorhanden ist, ob eine Vorblase zu tasten ist und wie sich diese in der Wehe
verhält. Nach erfolgtem Blasensprung werden weiters Menge, Geruch und
Farbe des Fruchtwassers beurteilt.
•
Zuletzt wird das kleine Becken der Gebärenden ausgetastet, um eventuell
knöcherne Veränderungen erkennen zu können, die in weiterer Folge ein
Geburtshindernis darstellen könnten
(vgl. Martius, Heidenreich: in Martius 1995: 266-269).
Der Autor betont, dass sich die Hebamme genügend Zeit lassen sollte, um alle
prognostisch wichtigen Parameter genau erfassen zu können (vgl. ebd.: 266).
Angaben über die Frequenz der vaginalen Untersuchungen fehlen. Allerdings ist in
beiden Ausgaben die Abbildung eines Partoramms zu sehen, in dem vaginale
Untersuchungen 1-2stündlich eingetragen sind (vgl. Martius in: Martius 1990: 331,
Martius, Heidenreich in: Martius 1995: 264). Der intime Charakter der Untersuchung,
die mögliche Schmerzhaftigkeit und die entsprechende Kommunikation mit der
Gebärenden werden nicht erwähnt. Auflklärung über die geplante Maßnahme,
16
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Einholen des Einverständnisses und nachfolgendes Erklären der erhobenen Befunde
werden ebenfalls nicht thematisiert. Auch alternative Möglichkeiten der Feststellung
eines Geburtsfortschritts kommen nicht zur Sprache.
Wie diese Untersuchung praktisch durchgeführt wird, beschreibt lediglich eine
Skizze.
Abbildung 1: Skizze der vaginalen Untersuchung aus dem Lehrbuch von Martius
Indikationen und Kontraindikationen im Zusammenhang mit einer vaginalen
Untersuchung sind nicht eigens ausgeführt. Somit kommt ihr bei Martius der
Charakter einer routinemäßigen Kontrolle zu, die keiner weiteren Begründung
bedarf.
2.1.2 Das Hebammenbuch
Im Lehrbuch von Mändle und Oppitz-Kreuter (2007) ist laut Mändle die vaginale
Untersuchung
„[...] ein routinemäßiger Eingriff zur Kontrolle des Geburtsfortschritts. Trotz der
Normalität, die der Untersuchung unter der Geburt zukommt, ist das Eingehen
in die Scheide und das Betasten bei der vaginalen Untersuchung ein Vorgang,
der intimen Charakter hat. “ (Mändle in: Mändle, Oppitz-Kreuter 2007: 329)
In der Eröffnungsphase wird ein zweistündlicher Untersuchungsrhythmus empfohlen
und betont, dass die Untersuchung nicht aus Ungeduld oder Neugierde, sondern nur
dann erfolgen sollte, wenn der Befund Konsequenzen für das weitere Vorgehen hat
Die vaginale Untersuchung darf nicht weh tun und ist „zart und mit leichter Hand“
(Mändle in: Mändle, Oppitz-Kreuter 2007: 329) durchzuführen.
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Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Laut Mändle ist der richtige Untersuchungszeitpunkt die Wehenpause. Nur wenn der
Zustand der Vorblase nicht erfasst werden kann, rät die Autorin zu einer
Untersuchung in der Wehe (vgl. Mändle, Oppitz-Kreuter 2007: 329, 331). Im
Unterschied zu Martius nennt Mändle Indikationen für die vaginale Untersuchung und
zwar:
•
Die Feststellung der geburtshilflichen Ausgangssituation bei der Aufnahme
einer Gebärenden.
•
Die Kontrolle des Geburtsfortschritts.
•
Die Erfassung von Regelwidrigkeiten.
•
Nach Blasensprung bei pathologischem CTG und bei noch hoch stehendem
kindlichen Kopf/Steiß zum Ausschluss eines Nabelschnurvorfalls.
•
Vor dem Setzen einer Periduralanästhesie, der Gabe von Medikamenten oder
dem Platzieren einer Kopfschwartenelektrode.
•
Grundsätzlich in jeder Akutsituation, die rasches Handeln erfordert
(vgl. Mändle, Oppitz-Kreuter 2007: 329).
Kontraindikationen sind nicht angegeben.
Es folgt eine Beschreibung der Durchführung einer vaginalen Untersuchung bei der
auch die halbsitzende Position, die Seitenlage und der Vierfüßlerstand als Optionen
genannt werden.
•
Befindet sich die Frau im Bett (in Rücken- oder Seitenlage), stellt sie ihre
Beine auf und spreizt diese hüftbreit auseinander.
•
Die Hebamme setzt sich zu der Gebärenden. Als Erleichterungsmaßnahme
wird angeregt, dass die Frau ihren rechten Fuß auf dem Oberschenkel der
Hebamme abstellen kann. So kann auch besser in Führungslinie untersucht
werden.
•
Dann wird der Scheideneingang auf eventuelle Auffälligkeiten hin betrachtet
und der Damm auf seine Beschaffenheit hin angesehen.
•
Sodann spreizt die Hebamme mit ihrer linken Hand die großen Labien und
desinfiziert mit der rechten Hand den Introitus.
•
Die Untersuchung selbst wird entweder mit Mittel- und Zeigefinger, von einer
erfahrenen Untersucherin/einem erfahrenen Untersucher nur mit Zeigefinger
durchgeführt.
18
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
•
Dabei werden Ringfinger und kleiner Finger eingezogen und der Daumen
weggestreckt, um nicht an der Klitoris anzukommen.
•
Um in Führungslinie untersuchen zu können, wird beim Enführen der Finger in
die Scheide ein leichter Druck auf den Damm ausgeübt
(vgl. Mändle, Oppitz-Kreuter 2007: 329)
Die zu erhebenden Befunde finden sich ähnlich strukturiert und ebenso detailreich
wie im Hebammenlehrbuch von Martius (vgl. Mändle, Oppitz-Kreuter 2007: 329-334).
Mögliche äußere Zeichen, die das Fortschreiten der Geburt begleiten und die eine
Hebamme beobachten lernen kann, kommen auch in diesem Buch nicht vor. Auf die
Intimität der Untersuchung und deren mögliche Konsequenzen für die konkreten
Handlungsablauf wird bei der Beschreibung derselben nicht mehr eingegangen.
2.1.3 Hebammenkunde
Im Lehrbuch von Geist, Harder und Stiefel (2007) heißt das entsprechende Kapitel
Vaginale und rektale Untersuchung (Rosenberger in: Geist etal. 2007: 238) Als
Begründung für die Durchführung innerer Untersuchungen gibt die Autorin an, dass
diese feinere geburtshilfliche Diagnosemöglichkeiten eröffnen als die äußere
Untersuchung . Wie auch bei Martius werden sowohl vaginale als auch rektale
Untersuchung beschrieben, auch wenn letzterer nur ein kleiner Abschnitt gewidmet
ist und darauf hingewiesen wird, dass diese heute nur noch selten ausgeführt wird
(vgl. Rosenberger in: Geist et al. 2007: 240-241).
Die praktische Durchführung einer vaginalen Untersuchung wird knapper skizziert als
im Werk von Mändle und Oppitz-Kreuter. Auch laut Rosenberger kann die Frau
während der vaginalen Untersuchung eine ihr angenehme Position einnehmen.
Ohne explizit zu erwähnen, wann eine vaginale Untersuchung normalerweise
erfolgen sollte, meint die Autorin, dass in besonderen Situationen diese auch
während einer Wehe durchgeführt werden kann, wobei dann darauf zu achten ist,
dass der Gebärenden keine zusätzlichen Schmerzen zugefügt werden (vgl.
Rosenberger in: Geist et al.: 238). Eine zwei- bis dreistündliche Untersuchungsfrequenz wird generell empfohlen, nur nach Blasensprung „sollte in der Eröffnungsperiode so selten wie möglich untersucht werden.“ (Harder in: Geist et al. 2007: 262)
Die Parameter für die Befunderhebung sind analog zu Martius und Mändle, OppitzKreuter beschrieben, Indikationen und Kontraindikationen werden nicht angeführt.
19
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Für die Austreibungsphase werden Untersuchungen im Abstand von einer halben bis
einer Stunde angeregt. (vgl. Geist et al.2007 :263).
Harder weist darauf hin, dass der Geburtsfortschritt für eine erfahrene Hebamme
auch anders als durch vaginale Untersuchungen erkennbar ist und nennt folgende
äußere Zeichen, die das nahende Ende der Eröffnungsperiode begleiten:
•
„zunehmende Unruhe der Gebärenden
•
häufige Wehen, die als unerträglich empfunden werden
•
starkes Schwitzen, evtl. Erbrechen
•
zunehmendes Druckgefühl auf dem Damm“ (Geist et al. 2007: 263)
In diesem Buch bleiben Indikationen unerwähnt. Auch Kontraidikationen sind nicht
explizit beschrieben. Im Falle eines vorzeitigen Blasensprungs wird empfohlen, nur
selten zu untersuchen bzw. Spekulaeinstellungen vorzunehmen (vgl. Harder, Hauser
in: Geist er al. 2007: 326).
2.2 Midwifery-Textbooks aus England, Australien und Neuseeland
Die Literaturrecherche in den fachspezifischen Datenbanken hat keine einzige
deutschsprachige Forschungsarbeit erbracht, die sich dem Thema der vaginalen
Untersuchung unter der Geburt widmet. Umso zahlreicher sind Studien aus England,
Australien und Neuseeland. Das hat mich dazu veranlasst, mir auch einige
englischsprachige Lehrbücher anzusehen und die Aussagen über die vaginale
Untersuchung denen der deutschen Standardwerke gegenüberzustellen.
2.2.1 Myles Textbook for Midwives (UK)
Im Jahr 1953 erstmals erschienen und 2009 in seine 15. Auflage gegangen ist dieses
Buch (Fraser, Cooper 2009) wie mir Mary Stewart4 versichert hat, noch immer das
Hebammenlehrbuch Nummer eins in England. Die Herausgeberinnen sind ebenfalls
Hebammen. Das Kapitel über die vaginale Untersuchung beginnt wie folgt:
„ Physical examination of the cervix is not the only way to assess labour; skills
of listening, watching and communicating with the woman should be used in
conjunction with vaginal examination. Generally the trend is away from routine
four-hourly vaginal examinations“ (McCormick in: Fraser, Cooper 2009: 467)
4
Mary ist Senior Lecturer an der Florence Nightingale School of Nursing and Midwifery und
Researcher am King´s College in London.
20
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Der vaginalen Untersuchung sollte neben der Beobachtung der Gebärenden auch
eine abdominelle Untersuchung vorausgehen. Vor der Durchführung ist darauf zu
achten, dass die Frau ihre Blase entleert hat. Fixer Bestandteil des Untersuchungsprozederes ist auch die Aufklärung der Gebärenden über die geplante Intervention.
Nur mit ihrer auch schriftlich festgehaltenen Erlaubnis wird die Untersuchung
tatsächlich gemacht. Generell meint Mc Cormick, dass die Hebamme anbieten sollte,
alles zu erklären, was die Frau oder ihr Partner wissen möchte. Diese Aufklärungsgespräche werden ebenfalls dokumentiert (vgl. Fraser, Cooper 2009: 467).
Indikationen für eine vaginale Untersuchung finden sich im Myles Textbook folgende:
•
Lagebestimmung des Fetus
•
Höhenstandsdiagnose bei Verdacht auf Schädel-Becken-Missverhältnis
•
Ausschluss eines Nabelschnurvorfalls nach Blasensprung, insbesondere bei
hochstehendem vorangehendem Kindesteil oder pathologischem CTG
•
Zur Abschätzung des Geburtsfortschritts bzw. zur Diagnose einer
protrahierten Geburt
•
Zur Diagnose des vollständig eröffneten Muttermunds
•
Bei Zwillingsgeburten, um zu überprüfen, wie sich der zweite Zwilling nach der
Geburt des ersten im kleinen Becken einstellt und eventuell zur Amniotomie
der 2. Fruchtblase (vgl. Fraser, Cooper 2009: 467-468)
Abbildung 2: Darstellung der vaginalen Untersuchung in Myles Midwives
21
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Als Kontraindikation wird die frische vaginale Blutung genannt.
In jedem Fall gilt es, sich bewusst zu machen, dass unnötige Untersuchungen
vermieden werden sollten und die Gesamtzahl derselben auf ein Minimum zu
beschränken ist (vgl. McCormick in: Fraser, Cooper 2009: 468).
Bei der Darstellung des konkreten Ablaufs einer vaginalen Untersuchung führt die
Autorin noch einmal an, dass die Hebamme zuerst das Prozedere erklären und der
Frau Gelegenheit geben soll, Fragen zu stellen. Auch während der Untersuchung
sind die Würde und die Intimsphäre der Frau zu wahren.
Was die Befungerhebungen im Detail betrifft (vgl. McCormick in: Fraser, Cooper
2009: 468-471), finden sich auch hier ähnliche Beschreibungen wie in den deutschen
Hebammenlehrbüchern.
2.2.2 Skills for Midwifery Practice (UK)
Die beiden Hebammen Johnson und Taylor haben ebenfalls ein bereits in der
zweiten Auflage erschienenes Lehrbuch geschrieben (2005), wo das Kapitel über die
vaginale Untersuchung mit einem Sinnzitat aus der Studie von Mandaza und Nolan
(Mandaza, Nolan: 2001) eröffnet wird: Die vaginale Untersuchung ist eine essentielle
Fertigkeit für Hebammen in der Begleitung der Geburt, die dem intimen Charakter
der Untersuchung entsprechend sensibel und gleichzeitig effizient ausgeführt werden
soll, um alle für das Geburtsgeschehen relevanten Informationen herausfinden und
die weitere Betreuung entsprechend gestalten zu können. Die Prozedur wird als
invasiv bezeichnet und als medizinische Intervention betrachtet, die nur dann
gemacht werden sollte, wenn sie notwendig ist (vgl. Johnson, Taylor 2005: 241)
Indikationen sind laut Johnson und Taylor:
•
Die Bestätigung des Geburtsbeginns
•
Die Feststellung des Geburtsfortschritts
•
Die Bestimmung von Lage, Haltung und Einstellung des Fetus
•
Die Durchführung einer Amniotomie
•
Das Anlegen einer fetalen Skalpelektrode
•
Der Ausschluss eines Nabelschnurvorfalls
•
Zur Feststellung des Geburtsfortschritts in der Austreibungsperiode,
besonders bei Beckenendlage (vgl. Johnson, Taylor 2005: 241)
Als Kontraindikationen nennen die Autorinnen:
22
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
•
Blutungen
•
Plazenta praevia
•
Vorzeitiger Blasensprung
•
Vorzeitige Wehentätigkeit - wobei in diesem Fall die erste Untersuchung
durch die/den GeburtshelferIn erfolgen sollte (vgl. Johnson, Taylor: 242)
Die Befunde, die mit Hilfe vaginaler Untersuchung erhoben werden können sind
analog denen in anderen Lehrbüchern und wurden bereits in Kapitel 2.1.1 ausführlich
beschrieben.
2.2.3 Midwifery Essentials (UK)
Eine weitere weit verbreitete Fachlektüre unter englischen Hebammen sind die vier
Bände Midwifery Essentials, die ebenfalls von zwei Hebammen, Baston und Hall
verfasst und herausgegeben wurden (Baston et al.: 2009; Baston, Hall: 2009a;
Baston, Hall: 2009b, Baston, Hall: 2009c); Fachwissen im Kleinformat, das in jede
Kitteltasche passt und das Wichtigste auf einen Blick enthält. Band 3 (Baston, Hall
2009b) widmet sich der Geburt.
Dieses Buch weist im Zusammenhang mit den hygienischen Vorkehrungen rund um
eine vaginale Untersuchung auf die Studie von Mary Stewart (Stewart: 2005) hin, die
aufzeigt, dass das Säubern einer Frau auch als Akt der Machtausübung und
Kontrolle interpretiert werden kann. Eine Gebärende wäre, wenn nötig, auch
durchaus in der Lage, sich selbst zu reinigen.(vgl. Baston, Hall 2009b: 15).
Vor der Untersuchung muss die Erlaubnis der Frau eingeholt und sichergestellt
werden, dass „it will stop, whenever she wishes“ (Baston, Hall 2009b: 15)
Die wesentlichen Schritte der Durchführung einer vaginalen Untersuchung sind dort
in einer Merkbox zusammengefasst. Auf einen Blick ist zu erkennen, wie eine
Hebamme eine vaginale Untersuchung vornimmt, was es an vorbereitenden
Maßnahmen zu tun gibt und worauf nach der Untersuchung zu achten ist.
Für jeden Handlungsschritt wird eine Begründung formuliert, die es der Hebamme
erleichtert, sich zurechzufinden und ihr die Möglichkeit gibt, der Frau zu erklären,
warum etwas gemacht. Da in diesem Memo einige Parameter enthalten sind, die in
den deuschen Lehrbüchern fehlen, ist dieses im Anschluss als Faksimile abgebildet.
23
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Abbildung 3: Kurzbeschreibung der vaginalen Untersuchung in den Midwifery Essentials I
24
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Abbildung 4: Kurzbeschreibung der vaginalen Untersuchung, in den Midwifery Essentials II
Auch das Prozedere nach einer vaginalen Untersuchung wird beschrieben: Die
Herztöne des Kindes werden kontrolliert, die Gebärende soll wieder eine angenehme
Position einnehmen und die Möglichkeit haben, sich anzuziehen. Dann wird ein
Feedback über die erhobenen Befunde und deren mögliche Konsequenzen
gegeben. Wichtig dabei ist, dass dies in einer Sprache erfolgt, die von der Frau
verstanden wird.
2.2.4 Midwifery. Preparation for Practice (Australia, New Zealand)
Die Herausgeberinnen dieses Lehrbuches, Pairman, Pincombe, Thorogood und
Tracy (2006) sind ebenfalls Hebammen und/oder Hebammenprofessorinnen.
Routinemäßige vaginale Untersuchungen, so Thorpe und Anderson im
entsprechenden Buchkapitel, sind üblich. Sie gelten als definitives Messinstrument
für den Geburtsfortschritt, wiewohl die Literatur herausgefunden hat – hierbei
beziehen sie sich auf eine Studie von Crowther et.al. (2000) - dass sie sublektiv und
invasiv sind. Ihr Nutzen für die normale Geburt sei umstritten (vgl. Thorpe, Anderson
in: Pairman, et al. 2006: 402). Gleichzeitig ist das vaginale Untersuchen eine wichtige
Fertigkeit, die Hebammen beherrschen sollten um sie mit Bedacht, d.h. mit gutem
25
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Grund und einer klaren Vorstellung davon, was herausgefunden werden soll,
einsetzen zu können.
Darauf, dass vaginale Untersuchungen von gebärenden Frauen durchaus
unterschiedlich empfunden werden können, geht nur dieses Buch ein. Es gibt
Frauen, die finden, dass vaginale Untersuchungen unter der Geburt ihre Intimsphäre
unnötig stören. Es gibt aber auch solche, die sie als wertvoll und hilfreich erleben,
weil sie dadurch Informationen über ihren Geburtsfortschritt erhalten, an denen sie
sich orientieren können. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die
Untersuchungen einfühlsam und mit dem Einverständnis der Gebärenden gemacht
werden (vgl. Pairman et al. 2006: 403).
Auch in diesem Buch gibt es eine Merktafel, auf der die wichtigsten
Handlungsschritte beim vaginalen Untersuchen - ähnlich wie in den anderen
englischsprachigen Lehrbüchern – zusammenfasst werden.
2.3 Abseits der Lehrbücher
Hebammen in der Praxis durchaus geläufig, in der Literatur aber nicht zu finden, sind
zusätzlichen Manipulationen in der Scheide, die im Zuge einer vaginalen
Untersuchung ausgeführt werden können. Es sind dies Maßnahmen, die der
Geburtserleichterung oder –beschleunigung dienen sollen und die auf der Basis des
lernenden Beobachtens im Kreißsaal übernommen werden und zumindest in
Österreich weit verbreitet sind. Vor dem Hintergrund der zu analysierenden
Interviews, in denen gerade diese Eingriffe immer wieder zur Sprache kommen, ist
es angebracht, sie hier näher auszuführen.
Zur Wirksamkeit dieser Maßnahmen gibt es keinerlei Evidenzen.
2.3.1 Die Eipolablösung
In keinem Lehrbuch als solche beschrieben kommt die manuelle Eipolablösung als
geburtseinleitende Maßnahme in der Praxis immer wieder vor. Sowohl
GynäkologInnen als auch Hebammen stimulieren im Rahmen einer vaginalen
Untersuchung die Zervix so, dass sie mit ihrem Finger an der inneren Muttermund
herankommen und dort den unteren Teil der Fruchtblase von der Innenwand der
Gebärmutter ablösen. Diese Maßnahme ist oft mit Schmerzen verbunden, auch
leichte Blutungen können danach auftreten. Evidenzen zur Wirksamkeit dieser
26
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Maßnahme gibt es keine. Mitunter wird diese Eipolablösung im Rahmen einer
routinemäßigen Muttermund-Untersuchung durchgeführt, von der die Frauen dann
berichten, dass sie besonders unangenehm war und es danach geblutet hat.
2.3.2 Das Muttermund-Dehnen
In der Eröffnungsperiode werden manchmal im Rahmen diagnostischer Tastbefunde
Manipulationen zur manuellen Muttermundserweiterung durchgeführt. Verbreitet sind
das Dehnen des Muttermunds mit den Fingern und das Einmassieren von
schmerzlindernden oder weichmachenden Ölen oder Zäpfchen. Diese Maßnahme
wird oft in der Wehe, mitunter auch über mehrere Wehen hinweg ausgeführt und wird
häufig als schmerzhaft erlebt5.
2.3.3 Massieren und Dehnen von Damm und Labien
Auch für die Schiebephase existieren in der Praxis manuelle Techniken, die den
Durchtritt des Kindes erleichtern und den Damm vor Einrissen schützen sollen. Es
sind dies das Massieren und Dehnen und Einölen von Damm und Labien, das
Aufdehnen der Scheideninnenwand und das Hinunterdrücken6 der Dammgewebes in
Richtung After.
2.3.4 Der quickie
Im Gespräch mit Mary Stewart ist noch eine Maßnahme aufgetaucht, die in England
wie in Österreich7 gleichermaßen üblich zu sein scheint, ohne dass jemals darüber
gesprochen wird. Im Deutschen gibt es keinen Namen dafür, im Englischen nennt
man sie quickie oder auch midwifes VE8.
In einer ihrer Beobachtungsnotizen aus dem Kreißsaal, wo Stewart Geburten aus
dem Hintergrund beobachtete, ohne direkte Sicht auf das Geschehen zu haben,
schildert sie diese Intervention in etwa so: Eine Gebärende in der Austreibungsphase
kauert auf einer Matte am Boden, die Hebamme war hinter ihr, plötzlich schreit die
5
Vgl. dazu die Ergebnisse aus den Interviews in Kapitel 4.7.2
Anm.: Diese Richtungsbezeichnung geht von einer sich in Rückenlage befindenden Gebärenden
aus.
7
... und vielleicht auch in anderen Ländern
8
VE ist im Englischen die Abkürzung für vaginal examination
6
27
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Gebärende laut ‚Au!’ Die Hebamme sagt darauf ‚Ok, ich schau nur.’ (vgl. Stewart
2008: 144, 145)
Es handelt sich dabei um eine kurze vaginale Untersuchung, meist in der
Austreibungsperiode, die weder mit der Frau besprochen, noch dokumentiert wird
und die von der Hebamme nur schnell mal zwischendurch zur Orientierung gemacht
wird. Midwifes VE heißt sie deswegen, weil es eine ist, „that only the midwife knows
about“ (Interview mit Mary Stewart). Dadurch, dass sie nicht dokumentiert wird,
scheint sie auch in der offiziellen dokumentierten Version des Geburtsprozesses
nicht auf und wird somit weder reflektiert noch diskutiert (vgl. Stewart 2008: 145).
2.4 Conclusio
In allen angeführten Lehrbüchern gilt die vaginale Untersuchung unbestritten als
wesentliche Hebammenfertigkeit. Die routinemäßige Durchführung derselben, auch
bei völlig normal verlaufenden Geburten, steht außer Zweifel. Ein Unterschied
zwischen englischer und deutscher Literatur liegt in den empfohlenen Abständen. Da
in den deutschen Lehrbüchern nicht zwischen Latenzphase und aktiver
Eröffnungsphase differenziert und pauschal für die Eröffnungsphase ein Abstand von
etwa zwei Stunden empfohlen wird (vgl. Mändle, Oppitz-Kreuter 2007: 329; Geist et
al. 2007: 262), ergibt sich eine im Vergleich zur englischen Literatur hohe
Untersuchungsfrequenz. In England hat das National Institute for Health and Clinical
Excellence (NICE 2007) eine Richtlinie herausgegeben, die für die aktive
Eröffnungsphase ein vierstündliches Untersuchungsintervall vorschlägt, aber nicht
verbindlich vorgibt. „Every 4 hours: check BP9, temperature and offer vaginal exam“
(NICE 2007: 7)
Was den Intimitätscharakter der vaginalen Untersuchung betrifft, sind die Ausführungen dazu in den deutschsprachigen Fachbüchern wesentlich undifferenzierter
als in den englischen. Auch zum Thema Kommunikation vor, während und nach der
Untersuchung, gehen diese mehr ins Detail.
Bemerkenswert ist, dass als Position für die Untersuchung - wenn auch zum Teil auf
andere mögliche Stellungen hingewiesen wird - ausschließlich die Rückenlage näher
ausgeführt ist. Auch die Skizzen stellen Frauen dar, die sich in Rückenlage befinden.
9
BP ist im Englischen die Abkürzung für blood pressure
28
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Da gerade der Vierfüßlerstand eine Position ist, in der Haltung und Einstellung des
Kindes genau umgekehrt erscheinen, könnte das Anlass für Verwirrung sein (vlg.
Stewart 2008: 163).
Auf die Frage, wie sie die Darstellung der vaginalen Untersuchung in ihren
Lehrbüchern finde, meinte Stewart:
„I would say badly. What is described is the practicality of how to do it [...],
assuming that the woman is lying on her back on the bed. In some of the more
recent chapters in books they do talk a little bit about consent, but that´s all.“
(Interview Mary Stewart)
In weiterer Folge schilderte sie, dass die Hebammen, die sie für ihre Studie
interviewte unisono meinten, sie wären, was das vaginale Untersuchen betrifft,
schlecht ausgebildet. Diese sagten: „We didn´t talk about how to talk to the woman,
about how to initiate a conversation, we didn´t talk about how the woman might feel
about being touched.“ (Interview Mary Stewart)
Dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema einige wesentliche
Aspekte beleuchtet, die in den Lehrbüchern noch fehlen, wird im nächsten Kapitel
deutlich.
29
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
3. Die vaginale Untersuchung im wissenschaftlichen Diskurs
“I was very interested in the fact, that there is an aspect of care
that is so routine and us midwives we do it,
we might do it every day of our working life
and yet nobody writes about it” (aus dem Interview mit Mary Stewart)
Der folgende Abschnitt widmet sich der Prüfung von Evidenzen zur vaginalen
Untersuchung und der Darstellung von Ergebnissen wissenschaftlicher Publikationen
rund um das Thema. Der Zusammenhang zwischen Partogramm und vaginaler
Untersuchung wird ebenso angesprochen wie die Frage, ob diese nun als
Routinemaßnahme oder als Intervention zu gelten hat. Auch vor dem Hintergrund
möglicher Traumatisierungen wird die vaginale Untersuchung betrachtet. Was diese
mit subtiler Machtausübung zu tun haben könnte und warum Frauen dies geschehen
lassen, wird zur Sprache kommen. Auch der Faktor Zeit in der Geburtshilfe und
mögliche Alternativen zur vaginalen Untersuchung werden thematisiert.
3.1 Evidenzen als Handlungsgrundlage
Evidenzbasiertheit ist ein relativ neues Paradigma in der Medizin, in dem es darum
geht, weg von rein auf Erfahrung gestützen Behandlungsschemata bzw.
Therapieverfahren hin zu Behandlungsstrategien zu gelangen, welche sich auch auf
die Ergebnisse kritisch gelesener Studien stützen, somit rational begründbar und für
die zu behandelnde Person nachvollziehbar sind. Hierbei werden PatientInnen - im
Fall der Geburtshilfe Schwangere, Gebärende oder Wöchnerinnen - in den Prozess
der Entscheidungsfindung mit einbezogen und auf Basis der zur Verfügung
gestellten Expertisen ermächtigt, diese Entscheidungsprozesse mitzugestalten. Das
gilt gleichermaßen für die Akzeptanz und die Ablehnung vorgeschlagener
Maßnahmen.
War die evidenzbasierte Medizin in den 1990er Jahren noch unbekannt, sind heute
in Großbritannien Ärzte, Pflegepersonal und andere medizinische Professionen dazu
verpflichtet, sich in ihrer Arbeit an qualitativ hochwertigen wissenschaftlichen
Forschungsergebnissen zu orientieren (vgl. Greenhalg 2003: 17).
Auch in der Geburtshilfe ist evidenzbasiertes Handeln mittlerweile unabdingbar.
Neuere geburtshilfliche Lehrbücher binden aktuelle Forschungsergebnisse mit ein
30
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
und tragen so dazu bei, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Wissen im Wandel
begriffen und immer wieder kritisch zu hinterfragen ist.
In ihrem Buch Grundlagen evidenzbasierter Betreuung widmen sich die Hebammen
Schwarz und Stahl eingehend diesem Thema (Schwarz, Stahl: 2011) und definieren
evidenzbasierte Betreuung so: Es gehe darum „angemessen zu beraten,
angemessen zeitlichen Raum zu erlauben, um dann einen maßgeschneiderten Plan
zu entwickeln – für die Frau und vor allem mit ihr.“ (Schwarz, Stahl 2011: 8)
Damit sind nicht nur große Interventionen, wie etwa die Entscheidung für oder
gegen eine Sectio gemeint. Gerade in der Hebammenarbeit gibt es unzählige kleine
Betreuungs-, Pflege- und Beratungshandlungen, die weder einer kritischen
Evidenzprüfung, noch einer gezielten Zustimmung oder Ablehnung durch die Frau
unterzogen werden.
Das Prinzip der evidenzbasierten Entscheidung und Betreuung gilt aber, so Schwarz
und Stahl, für
„ jede einzelne Maßnahme, Empfehlung und jeden Handgriff und damit auch
für Dinge, sie so unscheinbar sind oder uns so selbstverständlich von der
Hand gehen, dass uns gar nicht mehr klar ist, dass es sich dabei um eine
Intervention mit Wirkungen und Nebenwirkungen handelt.“ (Schwarz, Stahl
2011: 8)
Folgt man dieser Definition, bedarf die Maßnahme der vaginalen Untersuchung,
ebenso wie auch andere, vielleicht aufwendigere oder kostspieligere Eingriffe,
gesicherter Evidenzen und der informierten Entscheidung der Gebärenden.
3.2 Das Paradigma des Geburtsfortschritts
Im Buch Evidenzbasierte Geburtsmedizin von James et al. (2006) findet sich zur
vaginalen Untersuchung selbst kein Eintrag, wohl aber zum Problem des
protrahierten Geburtsverlaufs. Hier sind zwei Studien aus den Jahren 1972 und 1994
angeführt, die dem routinemäßigen Einsatz des Partogramms zuschreiben,
schleppende Geburtsverläufe rechtzeitig erkennen und durch gezielten
Interventionen Pathologien verhindern zu können.
Die eine wurde von Philpott und Castle (1972) in Afrika durchgeführt und mit der
Evidenzqualität IIb bedacht. Beunruhigt über die hohe Sectiorate unter Frauen, die
31
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
aus abgelegenen Gebieten in die lokalen Krankenhäuser transferiert wurden,
konstatierten die Forscher, dass ein zu langes interventionsloses Zuwarten bei
protrahierten Geburtsverläufen dafür verantwortlich war. Bei rechtzeitigem Eingreifen
hätten, so die Hypothese der Forscher, Kaiserschnitte verhindert werden könnten.
Sie entwickelten das von Friedman (1954) entworfene Grundkonzept des
Partogramms weiter und setzten auf einem Koordinatensystem die
Muttermunderöffnung (y-Achse) in Relation zur Zeit (x-Achse). Zwei markante Linien
wurden eingeführt: Die alert-line bei einer Muttermunderöffnung von < 1cm/h, sie
signalisierte erhöhte Aufmerksamkeit, und die action-line, vier Stunden später, die
den akuten Handlungsbedarf markierte. Philpott und Castle erprobten eine
Transferierung bei Überschreitung der alert-line und konnten damit die Sectiorate
und die Rate an vaginal operativen Geburten deutlich senken (vgl. Walsh 2000: 450).
Studd (1973) übernahm das Schema und brachte es nach England. Walsh meint
dazu, dass dieses für Afrika konzipierte Partogramm relativ unreflektiert in Europa
übernommen wurde und die Debatte über das korrekte Setzen einer alert-line und
einer action-line bis heute andauert (vgl. Walsh 2000: 450). Setzt man diese Linien
zu knapp an, steigert das die Interventionsrate unnötig.
Es ist anzumerken, dass sich diese Problematik in Ländern des globalen Südens
völlig anders darstellt als in den Industrieländern und dort ein Problem ist, dem
anders begegnet werden muss, als bei uns. Ein Umstand, der sicherlich dazu
beigetragen hat, dass sich Philpott und Castle darum bemüht haben, eine effiziente
Methode zur Vermeidung der protrahierten Geburt zu implementieren.
Ausgehend von der Tatsache, dass weltweit mehr als 500.000 Frauen jährlich auf
Grund von Komplikationen im Zusammenhang mit Schwangerschaft und Geburt
sterben und ein Teil dieser Todesfälle auf das Problem der protrahierten Geburt
zurückzuführen ist, hat die WHO (2008) ein Lernmodul zum Thema prolonged and
obstructed labour herausgegeben, das sich an Hebammen und andere
geburtshilflich tätige Personen richtet und sie befähigen soll, die nötigen
diagnostischen und therapeutischen Fähigkeiten zu erwerben, um dem Problem
adäquat begegnen zu können (WHO 2008: 3). In diesem Lehrbuch wird die
protrahierte Latenzphase mit schmerzvollen, nicht zervixwirksamen Kontraktionen >8
Stunden definiert, die prolongierte aktive Eröffnungsphase mit schmerzvollen
32
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Kontraktionen >12 Stunden, wenn der Muttermund dann nicht eröffnet ist. Die
Maßnahme, die dann zu setzen ist, ist die - oft langwierige - Transferierung der Frau
in ein medizinisches Zentrum (vgl. WHO 2008: 17). Die Diagnose schließt den
Allgemeinzustand der Wehenden, die abdominelle und die vaginale Untersuchung,
sowie die Aufzeichnungen des Partogramms und die Symptomatik einer
Uterussuptur mit ein (vgl. WHO 2008: 45-52).
Die andere in James et al. (2006) beschriebene Arbeit ist eine in Asien
durchgeführte Mulitcenter-Studie der World Health Organization (WHO: 1994) mit der
Evidenzstufe III (vgl. James et al.: 434-435). Auch in dieser Studie konnten
protrahierte Geburten und Kaiserschnitte durch Interventionen, die nach dem
Partogramm-Schema von Philpott und Castle eingesetzt wurden, vermindert werden
(vgl.Walsh 2000: 451).
Da das Aufzeichnen eines Partogramms notwendigerweise mit regelmäßigen
vaginalen Untersuchungen einhergeht, könnte man argumentieren, dass diese dazu
beitragen, die Komplikation der protrahierten Geburt, wie eine gesteigerten Rate an
vaginal operativen Geburten, Sectiones oder schlechtem neonatalen Outcome zu
reduzieren. Diese Komplikationen sind es laut Schneider et al. (2006), die generell
mit der protrahierten Geburt assoziiert sind (vgl. Drack und Schneider in: Schneider
et al. 2006: 705-708).
Lavender et al. (2009) widerlegen in ihrem Review über fünf Studien diese
Ergebnisse und kommen zu dem Schluss, dass es keinerlei Evidenzen dafür gibt,
dass die Verwendung von Partogrammen die Sectiorate oder andere geburtshilflich
relevante Parameter wie Geburtsdauer, Oxytocingabe, Amniotomie, Apgar-Score
positiv oder negativ beeinflusst. Auch die Betrachtung verschiedener PartogrammModelle ergab, dass sie sich in ihrer Qualität nicht unterscheiden. Der generelle
Einsatz von Partogrammen bei normalen Geburten kann somit von den AutorInnen
nicht empfohlen werden, wiewohl einige Kliniken Vorteile davon haben, insbesondere
die Zeitersparnis durch effizienteres Dokumentieren.
Die WHO (Soni 2009) hat auf Grund der Arbeit von Lavender et al. (2008) ihre
eigenen Empfehlungen (WHO 1994) relativiert.
33
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
„The partogram is widely used in under-resourced settings as a simple and
affordable tool to monitor labour. However, the Cochrane Review did not find
sufficient evidence to show that use of the partogram improves clinical
outcomes for the mother.“ (Soni 2009: keine Seitenangabe)
Es wird nötig sein, weitere große randomisierte Mulitcenter-Studien mit einheitlichen
Geburtsprotokollen durchzuführen um insbesondere in unterentwickelten Regionen
die Effektivität des Partogramms näher zu erforschen.
Weitere Studien sollten auch die Zufriedenheit der Frauen mit der Geburtsbetreuung
und die Erfahrenheit von Hebammen bzw. Geburtshelfern mit der Verwendung des
Partogramms mit einbeziehen (vgl. Soni 2009)
Ebenfalls in James et al. angeführt ist ein systematischer Review über 14 Studien
von Hodnett et al. (2001) mit einer Evidenzqualität von 1a. Die AutorInnen kommen
zu dem Schluss, dass es vor allem die soziale Unterstützung während der Geburt ist,
die einen mangelhaften Geburtsfortschritt und damit verbundene operative
Geburtsbeendigungen verhindern kann. Die ForscherInnengruppe hat diese
Metaanalyse mittlerweile mehrmals aktualisiert. Auch die neueste Version (Hodnett
et al. 2011), die 21 Studien, an denen insgesamt über 15000 Frauen teilgenommen
haben, zusammenfasst, zeigt, dass Frauen mit einer kontinuierlichen Betreuung
unter der Geburt häufiger Spontangeburten haben, weniger Schmerzmedikation
benötigen und mit der Geburt zufriedener sind. Die Geburtsdauer ist kürzer, die
Raten an vaginal operativen Entbindungen und die Kaiserschnittrate sind geringer,
und auch das neonatale Outcome, gemessen an den Apgar-Werten, verbessert sich.
Hofmeyr (2005) hat in seiner Metaanalyse Evidence-based intrapartum care nach
klaren Evidenzen für bei der normalen Geburt routinemäßig durchgeführte
Maßnahmen gesucht und kommt zu dem Schluss, dass es diese beispielsweise für
routinemäßiges Rasieren der Schamhaare, Einläufe und Nahrungskarenz nicht gibt.
Die kontinuierliche Betreuung der Gebärenden durch eine Hebamme und die
Anwesenheit einer vertrauten Person bei der Geburt stützen sich auf starke
Evidenzen. Weiteren Forschungsbedarf gibt es - und da decken sich seine Aussagen
mit denen von Schönberger und Stewart (vgl. Schönberger 2010: 305; Stewart
2008: 7) - hinsichtlich der möglichen emotionalen Konsequenzen von Interventionen
während der Geburt. (vgl. Hofmeyr 2005: 103).
34
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Was die Verwendung des Partogramms betrifft meint Hofmeyr, dass, obzwar das
Partogramm gemeinhin als hochwertige Methode zur Kontrolle des
Geburtsfortschritts angesehen wird, dessen Vorteile eher begrenzt sind.
„ A limiting factor in the use of the partograph is the clinical difficulty of
diagnosing the onset of labour, and the active phase of labour with accuracy.
Overdiagnosis of labour results in unnecessary intervention when the ´labour´
fails to progress.“ (Hofmeyr 2005: 109)
Weiters ist auch die Diagnose des vollständigen Muttermundes eine, die durch die
vaginale Untersuchung zu einem undefinierten Zeitpunkt nach dem Ereignis gestellt
wird, sodass die Festlegung der Maximaldauer der Austreibungsperiode mit zwei
Stunden problematisch ist. Zwar gehen kürzere Austreibungsperioden mit besseren
neonatalen pH-Werten einher, gleichzeitig erhöht sich die Rate an operativen
Entbindungen (vgl. Hofmeyr 2005: 110).
„Assessing the cervix routinely at regular intervals in labour did not occur until after
Friedman´s studies in the 1950´s.“ (Duff 2005: 13) So ist das vaginale Untersuchen
fast unauflöslich verquickt mit der Dokumentation der Geburt mittels Partogramm.
Von Friedman (1954) entworfen, Philpott und Castle (1972) weiterentwickelt und von
Studd (1973) nach Europa gebracht ist es heute weltweit auf geburtshilflichen
Stationen implementiert (vgl. Groeschel, Glover 2001: 22-23). Groeschel und Clover
(2001), die in ihrer Arbeit die historische Entwicklung dieses Instruments
nachzeichnen, kommen zu dem Schluss, dass weitere Forschung nötig sein wird, um
festzustellen, ob bei der Diagnose der protrahierten Geburt das Partogramm
tatsächlich effizienter ist als eine klinisch gestellte Diagnose.
Der aktuellste Vorstoß in diese Richtung kommt von Neal und Lowe (2012), zwei
amerikanischen Hebammen, die als Hauptindikation für Interventionen wie
Oxytocingabe und sekundäre Sectio, bei low-risk Erstgebärenden am Geburtstermin
die Dystokie10 beschreiben; eine Diagnose, die ihrer Meinung nach durch die
ungenaue Definition des Beginns der aktiven Eröffnungsphase zu oft gestellt wird
und dadurch unnötige Interventionen nach sich zieht (vgl. Neal, Lowe 2012: 319).
Das hat sie veranlasst, das Partogramm stärker an der Physiologie zu orientieren
und in modifizierter Form neu aufzulegen. Der wesentliche Unterschied ist in vier
10
Dystokie meint in diesem Fall die protrahierte Geburt
35
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Prinzipien zusammengefasst. Der Beginn der aktiven Eröffnungsphase muss genau
erfasst werden, in der Latenzphase wird die Zevixdilatation nicht gemessen. Zur
Diagnose der aktiven Eröffnungsphase braucht es, abgesehen von einer
Muttermundsweite von 3-5cm, auch regelmäßige mittelstarke bis starke Wehen. Die
regelrechte Dauer der Muttermunderweiterung in cm/h wird am Anfang der aktiven
Eröffnungsphase flexibler und großzügiger gehandhabt als gegen Ende. Neal und
Lowe nehmen in ihr Partogramm die Erkenntnisse neuerster Studien mit auf und
setzen die sogenannte alert-line, welche die minimale Muttermundseröffnung pro
Stunde definiert, nicht mit 1cm/h sondern mit 0,5 cm/h fest. Weiters berücksichtigen
sie die Tatsache, dass der Muttermund sich nicht wie bisher beschrieben linear,
sondern entlang einer hyperbolischen Kurve öffnet. Das heißt, die Dilatation beginnt
meist langsam, beschleunigt sich aber gegen Ende der Eröffnungsphase. Ein
Umstand, der Hebammen aus der Praxis sehr wohl bekannt ist. Beim Setzen der
action-line, der Linie, ab der Interventionen zur Geburtsbeschleunigung getätigt
werden, wurde dieser hyperbolische Verlauf berücksichtigt. Ob dieses Partogramm
einen Beitrag dazu leisten kann, die Interventionsrate zu senken, wird zu zeigen sein.
Abbildung 5: Partogramm von Neal, und Lowe (2012)
In allen zum Partogramm gefundenen Studien wird davon ausgegangen, dass die
vaginale Untersuchung - ohne jemals explizit als Maßnahme genannt zu werden das routinemäßig eingesetzte Diagnoseinstrument für die zu erhebenden Befunde
ist.
36
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Für Hildebrandt (2010) ist das Thema des Geburtsstillstandes ein sehr komplexes.
„Eine Reduktion des Problems auf geburtsmechanische oder wehendynamische
Faktoren würde in keiner Weise dieser Komplexität gerecht werden.“ ( Hildebrandt
2010: 9)
Es stellt sich die Frage, ob nicht die wiederholten vaginalen Untersuchungen auch
als geburtshemmende Faktoren wirken und so das Problem, dem sie
entgegenwirken sollen, erst erzeugen könnten.
Eine weitere Frage ist, ob das in Relation setzen von Zeit auf der x-Achse und
Geburtsfortschritt auf der y-Achse tatsächlich auf der Basis vaginaler
Untersuchungen geschehen muss, oder ob es auch andere Indizes für das
regelrechte Voranschreiten der Geburt gibt, die auf der Längsachse eingetragen
werden könnten.
3.3 Die vaginale Untersuchung als Routinemaßnahme
Der Moment, in dem eine Frau den Kreißsaal betritt ist, so Enkin et al. (Enkin et al.:
2006) einer, in dem sie „sich sehr verletztlich fühlt und es auch ist.“ (Enkin et al.
2006: 232) Vom ersten Augenblick an sollte sie sich in dieser fremden Welt sicher
und geborgen fühlen. Wenn ihr die betreuende Hebamme unbekannt ist, fällt das
nicht leicht. Konzentriert sich diese auf die Erhebung und Dokumentation der für sie
wichtigen Daten wie die fetale Herzfrequenz, den Blutdruck und den
Muttermundbefund, kann das zur Verunsicherung der Gebärenden beitragen.
Beispielsweise wird die Gebärende bei der Aufnahme in den Kreißsaal meist
aufgefordert, „sich zu entkleiden. Geschieht dies in wenig einfühlsamer Form, kann
es für die Frau sehr entwürdigend sein.“ (Enkin et al. 2006: 232) Umgekehrt kommen
Institutionen wie Krankenhäuser nicht ohne fixe Strukturen und ein festgelegtes
Prozedere aus, weil es die dort arbeitenden Menschen überfordern würde, sich alle
Maßnahmen von Fall zu Fall neu zu überlegen. Dennoch gilt, dass im Rahmen
vorgesehener Routinemaßnahmen „die Würde der Frau [...] geachtet, ihre
Privatsphäre gewahrt und sie [...] als erwachsene Person behandelt “ werden muss.
(Enkin et al. 2006: 238) Das impliziert, dass sie in Entscheidungen über ihre
37
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Betreuung mit einbezogen wird und geplante Maßnahmen erklärt und begründet
werden (vgl. Enkin et al. 2006: 232).
Zwar gilt der Verlauf der Muttermundseröffnung noch immer als genauester Indikator
für den Geburtsfortschritt und wird bei der vaginalen Untersuchung in Zentimetern
gemessen, die „Beurteilung der Muttermundsweite ist jedoch nicht so präzise, wie
gerne angenommen wird.“ (Enkin et al. 2006: 255) Was die Abstände zwischen den
einzelnen Untersuchungen betrifft, gibt es ebenfalls keine einheitlichen
Empfehlungen. Enkin et al. empfehlen, die Abstände individuell zu wählen und und
keinem fixen Schema zu folgen (vgl. Enkin et al. 2006: 256). Auch Stewart meint in
diesem Zusammenhang: „There is currently no evidence to indicate what the
average number of vaginal examinations is, or should be, in the course of a normal
labour.“ (Stewart 2008: 12)
Die Frage, wie oft und aus welchen Gründen vaginale Untersuchungen durchgeführt
werden, haben Sheperd und Cheyne (2011) gestellt. In einer retrospektiven Studie
wurden 144 Geburtsverläufe von low-risk Gebärenden in Schottland analysiert. Das
Ergebnis: „Almost 70% of women had more VEs11 than expected when the criteria of
4 hourly VEs was applied. The most common reason given by midwives for
performing a VE was to assess labour progress and to assess the commencement of
labour.“ (Sheperd, Cheyne 2011: 1). Die Autorinnen vermuten, dass die Zahl der
tatsächlich durchgeführten vaginalen Untersuchungen sogar noch etwas darüber
hinausgehen könnte. Unmittelbar ist man an die von Stewart beschriebenen quickies
erinnert, die nicht dokumentiert werden12 (vgl. Stewart 2008: 144-152). Dass eine
Vielzahl der Frauen mehr vaginale Untersuchungen erhielt, als die Leitlinien
vorsehen, ist ein Umstand, der es dringend erforderlich macht, nach anderen, den
Geburtsfortschritt messenden Kriterien zu forschen, wie es etwa Duff (2005)13 in ihrer
Arbeit getan hat. Solange, so Sheperd und Cheyne, Interventionen bei normalen
Geburten nicht durch geburtshilfliche Richtlinien strenger limitiert werden, wird sich
die Anzahl der vaginalen Untersuchungen wohl kaum reduzieren lassen. (Vgl.
Sheperd, Cheyne 2011: 5-6)
11
VEs ist im Englischen die Abkürzung für vagial examinations
Vgl. auch Kapitel 2.3: Abseits der Lehrbücher
13
Siehe Kapitel 3.9: Alternativen zur vaginalen Untersuchung
12
38
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Ganz klar definieren diese beiden Autorinnen die vaginale Untersuchung als
Intervention, und folgen damit der Argumentationslinie von Dixon und Foureur (2010)
die sich fragen, ob vaginale Untersuchungen unter der Geburt mehr Nutzen oder
Schaden mit sich bringen. Auch für sie fällt die vaginale Untersuchung neben
Amniotomie, Wehentropf, Epiduralanästhesie etc. klar in die Kategorie der
Interventionen weil sie mit Kitzinger die physiologische Geburt wie folgt definieren:
„If we consider a physiological birth to be one in which the woman is able to
labour and give birth in her own space and time, with no interference to her
physiological rhythms, then any care practice that hinders or modifies this
could also be considered an intervention.“ (Kitzinger 2005, zit. nach Dixon &
Foureur 2010: 21)
Wenn eine Hebamme eine vaginale Untersuchung durchführt, muss sie die
Konzentration der Wehenden auf die Geburtsarbeit stören, die Frau muss gebeten
werden, sich in eine günstige Position zu begeben, dann erst kann diese „intrusive
and very intimate examination“ ( Dixon, Foureur 2010: 21) vorgenommen werden.
Dass diese Stress auf körperlicher und auf psychischer Ebene auslösen kann, liegt
auf der Hand. Den unbestrittenen Vorteilen dieser Untersuchung stellt sie somit den
Nachteil der Invasivität gegenüber. Die Betrachtung der vaginalen Untersuchung als
Intervention impliziert deren Einsatz nur nach streng gestellter Indikation. So
kommen Dixon und Foureur zu dem Schluss, dass sie dann indiziert und auch
hilfreich ist, wenn die für die Geburtsbetreuung erforderliche Information nicht
dadurch gewonnen werden kann, dass die Gebärende kontinuierlich begleitet und
gut beobachtet wird.
Schon 2005 haben die beiden Forscherinnen dazu in einer qualitativen Studie
freipraktizierende Hebammen in Neuseeland befragt, die eine kontinuierliche
Begleitung durch Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett anbieten (vgl. Dixon,
Foureur 2005). Bereits in der Schwangerschaft wird eine Beziehung zwischen
Hebamme und Klientin aufgebaut, die auf beiden Seiten die Vorstellungen von der
Geburt und die diesbezügliche Erwartungen zu klären hilft. Das Diagnoseinstrument
vaginale Untersuchung wird individuell in Abhängigkeit von der wehenden Frau und
ihrer Geburtsarbeit, nicht aber routinemäßig eingesetzt. Manche Frauen werden nicht
vaginal untersucht. Die Anzahl der Untersuchungen wird jedenfalls auf ein Minimum
beschränkt, weil andere aus Beobachtung gewonnene Indikatoren zur Beurteilung
des Geburtsfortschritts herangezogen werden können. Die befragten Hebammen
39
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
geben an, dass für sie die Begleitung einer Geburt eine Art Vertrag zwischen
Hebamme und zu betreuender Frau ist.
„The key element to this negotiation is the continuity of care because, by
knowing the woman well, the midwives are able to fully utilise their knowledge,
experience and judgement along with senisitvity towards the woman´s beliefs,
expectations and wishes regarding assessment of labout“ (Dixon, Foureur
2005: 26)
In diese Richtung gehen auch die praktischen Empfehlungen von Walsh (2000): Von
wiederholten routinemäßigen vaginalen Untersuchungen sollte man absehen und es
muss klinische Indikationen mit klaren rationalen Begründungen dafür geben.
Außerdem sollte diese Untersuchung nur nach der informierten Entscheidung der
Gebärenden und unter Bedingungen stattfinden, die ihre Intimsphäre wahren (vgl.
Walsh 2000: 454).
Warren (1999) sagt klar, dass ihrer Meinung nach vaginale Untersuchungen
Interventionen sind, deren Wert bis heute nicht evaluiert ist. Einen weiteren
Denkanstoß gibt sie mit der Aussage, dass Hebammen und GeburtshelferInnen
damit einen Mangel an Vertrauen in die gebärende Frau signalisieren und damit ihre
Fähigkeit, ein Kind normal zur Welt bringen zu können, anzweifeln.
Abgesehen davon mögen es die meisten Frauen nicht, vaginal untersucht zu
werden. Es löst Stress aus und sollte vermieden werden. Sie hat Frauen
kennengelernt, die sagten, dass die vaginalen Untersuchungen das Schlimmste an
der Geburt waren (vgl. Warren 1999: 13). Auch Stewart hat ähnliche Erfahrungen
gemacht: „Women who have had babies have often replied by telling me,
unprompted, their experiences of vaginal examination and these were, without
exception, unhappy.“ (Stewart 2008: 1)
3.4 Die vaginale Untersuchung als Stressor
Der Geburtsvorgang wird von unserem Gehirn gesteuert. Der Hirnstamm, der
primitive Teil des Gehirns, den Säugetiere in gleicher Weise haben, produziert die
Hormone, die für geburtswirksame Wehen nötig sind und schaltet zugleich den
neueren, menschenspezifischen Teil des Gehirns, den Neokortex auf Sparflamme.
Deswegen ziehen sich Frauen physiologischer Weise im Verlauf der Geburt zurück,
wollen nicht mehr in Kontakt mit ihrer Umwelt treten und sind ganz auf das
40
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Geschehen in ihrem Körper konzentriert. Wird durch äußere Reize der Neokortex
stimuliert, hemmt er diesen vom Hirnstamm gesteuerten instinktiven Prozess (vgl.
Odent 1992: 33).
Jede Art von Eingreifen in das Geburtsgeschehen bedeutet eine Aktivierung des
Neokortex und stellt somit potentiell eine geburtsbremsende Maßnahme dar. Das
beginnt mit einfachen scheinbar belanglosen Fragen, die eine wehende Frau beim
Eintreffen im Krankenhaus gestellt bekommt und die sie zum Nachdenken
veranlassen und setzt sich damit fort, dass in unseren Kreißzimmern die Gebärende
von fremden Menschen umgeben ist, welche die Geburt beobachten und
überwachen. Betrachtet man die vaginale Untersuchung vor diesem Hintergrund
leuchtet ein, dass diese über die Aktivierung des Neokortex und das gleichzeitige
Irritieren des durch den Hirnstamm gesteuerte hormonellen Gleichgewichts, den
Geburtsverlauf stören, bremsen oder sogar zum Stillstand bringen kann.
Wirkt Stress am Ende der Geburt - über die Aktivierung des Fetus-AusscheideReflexes – geburtsbeschleunigend (vgl. Odent 1992: 43-48), so hat er davor
geburtshemmende Wirkung. Das dafür verantwortliche Hormon ist das Adrenalin. In
der Eröffnungsphase erleichtert ein niedriger Adrenlinspiegel die Geburt, wohingegen
alles was diesen hebt, also jede Art von körperlichem oder physischem Stress zu
einer Wehenschwäche führen kann (vgl. Odent 1992: 44).
Mittels Fragebogen erhoben Lewin et al. (2004) in ihrer retrospektiven MulitcenterStudie an drei Geburtskliniken in England, wie die Frauen die vaginalen
Untersuchungen während der Geburt empfanden. Ausgangspunkt war, dass trotz
einer generellen Empfehlung des Royal College of Obstetricians and Gynaecologists
(RCOG 1997), die zur Achtsamkeit bei intimen Untersuchungen aufruft, diese noch
immer häufig in einem 3-4 Stunden-Rhythmus durchgeführt wurden. Explizit weist
das RCOG darauf hin, dass vaginale Untersuchungen nur nach sorgfältiger
Abschätzung der Notwendigkeit, nach ausführlicher Erklärung und dem
Einverständnis der Frau unter Wahrung ihrer Intimsphäre und Berücksichtigung
entstehender Stress- oder Schmerzäußerungen getätigt werden sollten (vgl. Lewin et
al 2004: 268). Die Autorinnen berufen sich auf die Ergebnisse älterer
Forschungsarbeiten, die zeigten, dass Frauen trotz dieser Untersuchungsrichtlinie
vaginale Untersuchungen unangenehm oder schmerzvoll empfanden. (vgl. lt. Lewin:
41
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
McKay and Barrows 1991; Clement 1994) In anderen Studien wurden empfindliche
Verletzungen der Intimsphäre und posttraumatische Belastungsstörungen
beobachtet (Bergstrom et al. 1992; Menage 1996) O´Driscoll (1994) zeigte auf, dass
ungeachtet dieser Forschungeergebnisse in englischen Krankenhäusern vaginale
Untersuchungen nach wie vor routinemäßig durchgeführt werden (vgl. Lewin et al.
2004: 268).
Lewin et al. fanden heraus, dass, obzwar in ihrer Studie die Zufriedenheit mit der
Geburtsbetreuung generell gegeben war, gerade das vaginale Untersuchen dennoch
Stress ausgelöste.
„Painfull and distressing vaginal examinations were reported at some stage by
almost half the women. Two fifths felt, on balance, that they could
not refuse an examination even if they whished to do so, and about one third
wished the staff had provided additional information about vaginal
examination.“ (Lewin et al 2004: 276)
Die Autorinnen empfehlen, dass Hebammen mit den Gebärenden grundsätzlich
andere Möglichkeiten zur Feststellung des Geburtsfortschritts besprechen sollten.
Dadurch würden die Frauen ermutigt, ihren eigenen Empfindungen zu vertrauen und
vaginale Untersuchungen auch abzulehnen. Die Gesamtzahl derselben würde sich
damit zumindest reduzieren. Weiterer Forschungsbedarf ist ebenfalls gegeben (vgl.
Lewin et al. 2004: 276).
3.5. Posttraumatische Belastungsstörungen
Mit dem Betasten der Vagina einer Frau berührt man über ihre intimsten
Körperregionen auch ihr sexuelles Empfinden. Das kann verletzend und sogar
traumatisch sein, je nachdem, was die Frau diesbezüglich schon erlebt hat (vgl.
Warren 1999: 13).
Menage (1993) ging in ihrer Studie der Frage nach, ob gynäkologische und
geburtshilfliche Untersuchungen posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS)
auslösen können. Aus einem Sample von freiwilligen Studienteilnehmerinnen filterte
sie zunächst die heraus, die im Zusammenhang mit gynäkologischen und
geburtshilflichen Untersuchungen Stress erlebt hatten. Diese bekamen einen
weiteren Fragebogen zugesandt, der die Kriterien zur Identifikation einer
42
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
‚posttraumatic stress disorder’ (PTSD) beinhaltete. Ein Drittel der Frauen, die
gynäkologische Untersuchungen traumatisch erlebt hatten, wiesen auch eine PTSD
–Symptomatik auf. In weiterer Folge fand sie heraus, dass 30% dieser Frauen in
ihrer Anamnese auch Missbrauchserfahrungen hatten. 70% der Frauen mit PTSD
nach gynäkologischen oder geburtshilflichen Untersuchungen hatten keinerlei
sexuelle Gewalt erlebt, die als Ursache für die Stressreaktion angesehen werden
könnte. Bei diesen Frauen war die alleinige Ursache für die PTSD der
gynäkologische oder geburtshilfliche Eingriff gewesen (vgl. Menage 1993). „The
findings of this research have implications for all women but particulatly for those who
have been sexually abused“ (Menage 1993: 227). Vaginale Untersuchungen können
unterdrückte Erinnerungen an vergangene Traumatisierungen an die Oberfläche
rufen. Auslösende Faktoren können beispielsweise der Schmerz, die Ohnmacht oder
Mangel an Empathie sein (vgl. Menage 1993: 227).
Auch wenn die Untersuchung keinen Anspruch auf Repräsentativität erhebt, ist
dennoch bemerkenswert, dass es durchaus möglich ist, allein durch geburtshilfliche
oder gynäkologische Interventionen Traumen hervorzurufen.
Swahnberg et al. (2011) bestätigen, dass starke Schmerzen oder flashbacks14 bei
vaginalen Untersuchungen auf vergangene Missbrauchs- und/oder
Gewalterfahrungen zurückzuführen sind.
Laut zusammenfassendem Bericht des Bundesministeriums für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend (2004) hat in Deutschland „jede zweite bis dritte Frau körperliche
Übergriffe in ihrem Erwachsenenleben und etwa jede siebte Frau sexuelle Gewalt
durch bekannte oder unbekannte Personen erlitten“ (Bundesministeriums für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend 2004: 10). Ausgehend davon, dass die Zahlen in
Österreich ähnlich liegen kann man sagen, dass jede fünfte Frau, die zur Geburt ins
Krankenhaus kommt, Gewalterfahrungen in ihrer Geschichte hat. Diese Tatsache ist
zu berücksichtigen und vor jeder geburtshilflichen Untersuchung bei jeder Frau zu
bedenken.
14
Das Wieder-Erleben vergangener traumatischer Szenen, ausgelöst durch einen Schlüsselreiz (z.B.
die vaginale Untersuchung), der die Person augenblicklich in diese Situation zurückversetzt.
43
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Wurden Frauen in ihrer Kindheit missbraucht, liegen Verletzungen noch tiefer.
„Childhood sexual abuse survivors experienced pain, dissociation, fear,
blame,helplessness and guilt in their encounters with health care practitioners.“
(Coles, Jones 2009: 230) Im Rahmen qualitativer Interviews haben Coles und Jones
(2009) betroffene Frauen befragt um herauszufinden, was ihnen dabei helfen würde,
die Untersuchungen, die im Zusammenhang mit der Geburt durchgeführt werden,
besser zu bewältigen. Mit den Teilnehmerinnen wurde eine Liste an ‚universal
precautions’15 erstellt, die von Hebammen und GeburtshelferInnen beachtet werden
müssen, um den Stress der Frauen zu verringern.
•
Einverständnis darf nie vorausgesetzt werden.
•
Die informierte Entscheidung muss immer abgewartet werden.
•
Jede einzelne geplante Maßnahme muss im Detail erklärt werden.
•
Es sollte immer nach weniger invasiven Alternativen gesucht werden.
•
Keine Maßnahme oder Untersuchung sollte routinemäßig ablaufen.
•
Auch während der Untersuchung sollte nachgefragt werden, ob diese für die
Frau noch akzeptabel ist.
•
Die Untersuchung muss jederzeit auf Bitte der Frau oder wenn sie
Stressreaktionen zeigt, gestoppt werden. (vgl. Coles, Jones 2009: 235).
Kitzinger (2006) ergänzt diesen noch um weitere Handlungsempfehlungen:
•
Achtsamer Umgang mit Sprache ist essentiell: Gerade Aufforderungen wie
entspanne dich, alles ist gut, vertraue mir, lass es kommen, gib dich hin etc.
können Erinnerungen an vergangene traumatische Situationen auslösen.
•
Frauen sollte möglichst zu aufrechten Positionen ermutigt und in ihrer
Bewegungsfreiheit keinesfalls eingeschränkt werden.
•
Mit der körperlichen Berührung der Frau ist achtsam und zurückhaltend
umzugehen: Für die Betreuung und die Geburt selbst sind hands off
Varianten zu bevorzugen (vgl. Kitzinger 2006).
Gewalterfahrungen von Frauen sind dem geburtshilflichen Personal in den seltensten
Fällen bekannt. Darüber hinaus können Ohnmacht, Hilflosigkeit und Unterdrückung
in der Kindheit auch dann erlebt werden, wenn sie nicht mit sexuellem Missbrauch
15
Universal precautions: Englischer Ausdruck für „umfassende Schutzmaßnahmen“, ein stehender
Begriff, der normalerweise im Krankenhaus im Zusammenhang mit Hygienemaßmahmen zum
Schutze des Personals verwendet wird.
44
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
einhergehen. Potentiell kann jede Situation des Ausgeliefert-Seins starke Reaktionen
hervorrufen. „Caregivers may not be able to understand why a woman seems
especially fearful, timid, passive, naive and withdrawn or, in contrast, stubborn,
controlling and hostlie.“ (Kitzinger 2006: 54)
So sind Frauen, die Gewalt erfahren haben, keine Sonderfälle, die einer speziellen
Behandlung bedürfen. Unabhängig von ihrer Geschichte sollten alle Frauen in
geburtshilflichen Abteilungen mit größtem Respekt und unter Berücksichtigung ihrer
individuellen Bedürfnisse behandelt werden. Maßnahmenkataloge wie dieser wären
als generelles Zeichen von Achtsamkeit in das geburtshilfliche Handeln zu
integrieren.
3.6 Die vaginale Untersuchung als Machtinstrument
Eine viel beachtetes qualitatives Forschungsprojekt, im Zuge dessen bei über 20
Geburten in der Austreibungsphase Videotapes aufgenommen und anschließend
analysiert wurden, haben Bergstom et al. (1992) in den USA durchgeführt. Ziel war,
herauszufinden, wie Hebammen und GeburtshelferInnen vaginale Untersuchungen
durchführen. „Results showed that the examinations were performed in a ritualistic
manner by all caregivers, and the way the ritual was enacted repeatedly
demonstrated the power of caregivers over the women.“ (Bergstrom et al. 1992: 10)
Diese vaginalen Untersuchungen wurden hauptsächlich so begündet, dass damit
den Frauen geholfen werden sollte, besser mitschieben zu können. Eine Indikation,
die in der Literatur nicht zu finden ist. Bergstrom et al. beschreiben das
aufgezeichnete Prozedere so:
Wurde die Untersuchung verbal angekündigt, geschah das meist mit einer
verharmlosenden Formulierung wie ‚Ich schau mal nach’, Worte wie Vagina, Zervix
oder vaginale Untersuchung wurden vermieden. Manchmal wurde eine
bevorstehende Untersuchung auch nur durch das ritualartige Anziehen steriler
Handschuhe angekündigt. Der Grund für die Untersuchung wurde nur selten
genannt. Hauptmotivation war aber, dass der Frau gezeigt werden sollte, wie das
Baby richtig herausgeschoben werden musste. Keine einzige Frau auf dem Video
fragte genauer nach oder wehrte sich gegen die Untersuchung. Repräsentative
Untersuchungen dauerten vier bis fünf Minuten bzw. über zwei Wehen an.
45
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Schmerzenslaute der Frauen und die Bitte, aufzuhören wurden ignoriert. Das rituelle
Ausziehen der Handschuhe - das Innere derselben wurde dabei nach langsam
außen gekehrt, dann wurden sie weggeworfen - signalsierte das Ende der
Untersuchung. Selten wurden verbal das Ende angekündigt oder nachher ein Befund
besprochen. Die Forscherinnen beobachteten bei den GeburtshelferInnen eine
gewisse Entpersönlichung, über die sie sich von ihren Handlungen zu distanzieren
versuchten. Diese äußerte sich so, dass sie die Frauen nicht ansahen, keinen
Kommentar zu den während der Untersuchung empfundenen Schmerzen machten
und diese, auch wenn die Frau darum bat, nicht abbrachen. Nach Vollendung der
Prozedur wurde der normale Kontakt wieder hergestellt (vgl. Bergstom 1992: 10-17).
Aus feministischer Perspektive betrachtet meint Stewart (2004) dazu, dass
Frauenkörper ohnehin das Subjekt fortwährender Kontrolle sind. Offen oder versteckt
bekommen Frauen Botschaften darüber wie sie sich kleiden oder ihren Körper
einsetzen und präsentieren sollen. „This scrutiny is extraordinarily powerful and
pervasive and is particulatly evident in the ways in which women´s bodies are
observed and controlled during pregnancy, labour and birth.“ (Stewart 2004: 38)
Weil Kontrolle so normal geworden ist, wurde es normal, sie zu akzeptieren.
3.7 Die Akzeptanz der vaginalen Untersuchung durch die Gebärende
In unserer Gesellschaft wird, wenn man sich in die Hände einer Gesundheitseinrichtung begibt, die Verantwortung für den eigenen Körper ein Stück weit
abgegeben. Die Grenzen dessen, was man mit ihm machen lässt, ändern sich, er
wird sozusagen Terrain der MedizinerInnen. Das kann insofern schwierig sein, als
gerade im Krankenhaus von PatientInnen einerseits Selbstbeherrschung verlangt
wird, andererseits aber die Konrolle über den eigenen Körper an die Fachleute
abgegeben werden soll (vgl. Stewart 2008: 51).
So gerät der Körper unter ständige medizinische Beobachtung. Weder von
PatientInnen, noch von MedizinerInnen wird das hinterfragt.
„It becomes `normal` to health professionals, such as midwives and
obstetricians to gaze at women´s bodies, both, externally and internally, and
both, health professionals and women accept this“ (Stewart 2008: 51).
46
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Green und Baston (2007) beobachteten, dass in den letzten 20 Jahren der Trend in
die Richtung geht, dass Frauen immer bereitwilliger Interventionen unter der Geburt
akzeptieren. Die steigenden Sectioraten brachten sie zunächst hypothetisch damit in
Verbindung, dass die Akzeptanz des Kaiserschnitts und auch anderer Eingriffe unter
der Geburt eine bessere geworden ist. Um das zu prüfen, führten sie eine
retrospektive Fragebogenuntersuchung durch, die in ihrem Aufbau einer solchen aus
den 1980erJahren glich. Anschließend wurden die Studienergebnisse verglichen.
Tatsächlich ist die Bereitschaft der Frauen, Interventionen unter der Geburt
zuzustimmen, gestiegen, das betrifft besonders auch die Periduralanästhesie.
Gleichzeitig ist die Rate an Spontangeburten ohne medizinische Eingriffe drastisch
gesunken.
Das bestätigen auch Schwarz und Schücking (2004), wenn sie feststellen:
„Eine Geburt ist routinemäßig mit viel Einsatz von Technik und Medikamenten
verbunden, auch wenn die Geburt normal verläuft [...]. CTG,
geburtseinleitende Maßnahmen, Wehenmittel, Periduralanästhesie,
Dammschnitt und Kaiserschnitt werden zunehmend häufiger eingesetzt“
(Schwarz, Schgücking 2004: 2).
Die vaginale Untersuchung als Eingrff kommt in beiden Studien nicht zur Sprache,
wiewohl man davon ausgehen kann, dass sie jeder einzelnen obgenannten
Intervention vorausgeht, das Einverständnis der Frau mit dieser Untersuchung also
gleichfalls gegeben sein muss.
Möglicherweise ist ein Argument dafür, dass Frauen diese Eingriffe immer eher
akzeptieren auch der Zeitfaktor. Das verlockende Angebot, dass die Geburt durch
bestimmte Maßnahmen verkürzt werden könnte, mag so manche Frau von der
Notwendigkeit derselben überzeugen.
3.8 Die Rolle der Zeit in der Geburtshilfe
Kann die Häufigkeit vaginaler Untersuchungen die Geburtsdauer beeinflussen?
In einer prospektiven randomisierten Studie fragen Abukhalil et al. (1996) nach der
Effizienz derselben und meinen mit beeinflussen selbstverständlich verkürzen. Über
100 low-risk Frauen am Geburtstermin wurden per Zufallsprinzip in zwei Gruppen
geteilt, von denen die eine vierstündlich, die andere zweistündlich vaginal untersucht
47
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
wurde. Die Studie konnte nicht zeigen, dass das routinemäßige zweistündliche
Untersuchen einen verkürzenden Einfluss auf die Geburtsdauer hatte (vgl. Abukhalil
et al. 1996: 24).
Das Spannende daran ist, dass, wenn es um die Geburtsdauer geht, immer der
Fokus darauf liegt, sie zu verkürzen. Das Paradigma des Schneller, Weiter und
Höher macht auch vor dem Gebären nicht halt. Eine schnelle Geburt gilt als gute
Geburt und oft sind es die Frauen selbst, die ihre Geburt im Nachhinein danach
beurteilen, wie lang sie gedauert hat.
Der Geburtsstillstand oder die protrahierte Geburt, Motor für viele in der vorliegenden
Arbeit beschriebenen Forschungsinitiativen, wird generell über die Zeit, die das
Geburtsgeschehen dauert, definiert. Hildebrandt sieht das Problem nicht aus einer
quantitativen, sondern aus einer qualitativen Perspektive und differenziert zwischen
konstruktivem und destruktivem Geburtsstillstand (vgl. Hildebrandt 2010: 10). Geht
eine Geburt nicht voran, muss man sich die Frage nach der Bedeutung dieser
Stagnation stellen. Nimmt man die Zeichen und Signale, die eine Gebärende sendet,
ernst, löst sich das Problem manchmal von selbst. Ist eine Frau zum Beispiel müde,
macht es wesentlich mehr Sinn, ihr Zeit zu lassen, als mit Wehenmittel die Geburt zu
beschleunigen. Der „konstruktive Geburtsstillstand sollte unser Freund sein und
bleiben“ (Hildebrandt 2010: 10), er lehrt uns, die Sprache der Geburt zu verstehen.
Davon zu unterscheiden ist der destruktive Geburtsstillstand, der aus einer für Mutter
und Kind bedrohlichen Situation heraus entsteht und bei dem interveniert werden
muss. Das gilt auch, wenn die Zeitschiene noch längst nicht bei einer action-line
angekommen ist. Körperliche wie seelische Blockaden sind manchmal
unüberwindliche Geburtshindernisse. Dann müssen Hebammen und Geburtshelferinnen aktiv dazu beitragen, im Einvernehmen mit Mutter und Kind das Problem
zu lösen (vgl. Hildebrandt 2010).
Seit vielen Jahren beschäftigt sich auch Walsh mit dem durch die Implementierung
des Partogramms entstanden Paradigma des Geburtsforschritts und plädiert immer
wieder dafür, dem Konzept des „labour progress“ das der „labour rhythms“
entgegenzusetzen (vgl. Walsh 2010). „The ubiquity of VE as a practice in labour is
inextricably linked to the progress paradigm. It deserves some appraisal as a
48
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
common childbirth intervention to see if its widespread use is justifiable. (Walsh in:
Walsh, Down 2010: 69) Er betont, dass das engmaschige Kontrollieren und
Dokumentieren des Geburtsfortschritts uns in die Sackgasse einer Geburtshilfe
gebracht hat, die sich weder an den Bedürfnissen von Frauen noch an denen von
Hebammen orientiert.
„Once the flexibility of the labour rhythms paradigm is adopted, practitioners
are released from the bondage of repeated vaginal examinations (VE) as the
marker of normal labour pattern.“ (Walsh in: Walsh, Down 2010: 67)
Wehen- und Geburtsrhythmen sind so individuell wie die Frauen selbst, meint Walsh,
und schon wenn wir zwischen Latenzphase und aktiver Eöffnungsphase zu
differenzieren versuchen, werden wir der Situation, in der sich die Wehende befindet,
kaum gerecht. Weil wir keine längeren Wehenphasen als 24 Stunden akzeptieren,
erfinden wir Euphemismen, um das was die Frauen erzählen mit unseren
Vorstellungen in Einklang zu bringen und sprechen von falschen Wehen,
Vorbereitungswehen oder wir sagen, dass das was die Frau spürt, keine Wehen
sind. Auch die aktive Eröffnungsphase ist gekennzeichnet von Zeiten des Fortschritts
und Zeiten der Stagnation. (vgl. Walsh in: Walsh, Down 2010: 67). Eine retrospektive
Auswertung von einigen tausend Hausgeburten ergab Folgendes:
„[...] some had periods when the cervix stopped dilating temporarely in active
labour. This was not interpreted as pathology by their birth attendants, and
after variable periods of time, cervical progression began again. Some women
even had two ‚plateaus’ in their labours.“ (Walsh in: Walsh, Down 2010: 68)
Dieser Paradigmenwechsel von der Geburt nach Partogramm-Schema hin zu einem
universellen Verständnis der vielen Spielarten des Normalen ist eine
Herausforderung die uns nötigt, unserer eigenes geburtshilfliches Denken und
Handeln radikal zu überdenken. Vo einem ‚Mit der Gebärenden etwas tun’ bringt es
uns hin zu einem ‚Mit der Gebärenden sein’ (vgl. Walsh in: Walsh, Down 2010: 71).
Das erfordert eine gewisse Langsamkeit.
Slow midwifery ist der Titel eines Artikels von Browne und Chandra (2009), in dem
sie unser Zeitkonzept unter die Lupe nehmen. Analog zum slow food, das als
Kontrapunkt zum fastfood von sich reden macht, haben die Autorinnen diesen Begriff
für eine neue Sicht der Hebammenarbeit gewählt. Schnellsein hat einen hohen
Stellenwert. Autos, Computer und Informationsfluss werden immer flotter, auch die
Ansprüche an uns Menschen steigen und man will ihnen gerecht werden. Dieser
49
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Zeitgeist hat auch in der Geburtshilfe die Idee des Prozess-Verkürzens sehr mächtig
werden lassen; ein Umstand, der nach Ansicht der Autorinnen kontraproduktiv sein
könnte.
„We suggest, that timekeeping and counting potentially disrupt the midwifewoman relationship and, further, timekeeping and counting contribute to us
valuing particular qualities in women and in the health system, including the
idea, that fast is better than slow.“ (Browne, Chandra 2009: 29)
In der Schwangerschaft bestimmen wir den Geburtstermin, messen Blutdruck,
Gewicht, Bauchumfang, Fundus, Herztöne etc. und haben darüber kaum Zeit, mit der
Frau zu sein. Während der Geburt zählen wir die Wehen, erfassen die Abstände
dazwischen, schätzen und messen die Zervixdilatation und den Höhenstand des
kindlichen Köpfchens. Wir kontrollieren seine Herzfrequenz und notieren die Zeit, die
seit der letzten vaginalen Untersuchung vergangen ist. Die Dauer der einzelnen
Geburtsphasen wird zu der dafür vorgesehenen Zeitspanne in Beziehung gesetzt, im
Zweifelsfall wird beschleunigend interveniert. Unbestritten gibt es Situationen, in
denen es essentiell ist, schnell zu reagieren und zu handeln. In der normalen
Geburtssituation verstellt uns die Uhr jedoch des öfteren den Blick auf das
Wesentliche, auf Mutter und Kind. Entschleunigen ist auch in der Hebammenarbeit
angesagt. Wenn Hebammen sich in ihrer Arbeit nicht mehr von der Zeit unter Druck
setzen lassen, und sich darauf einlassen, Frauen und Kinder in ihrem Tempo durch
die Geburt zu begleiten, könnte das „powerful beyond imagination“ (Browne,
Chandra 2009: 32) sein und unsere Geburtshilfe nachhaltig verändern.
Eine Möglichkeit, dem Messen weniger Raum einzuräumen, wäre, die Beobachtung
an seine Stelle zu setzen. Wird das Paradigma des Geburtsfortschritts und mit ihm
die Notwendigkeit regelmäßiger vaginaler Untersuchungen relativiert, würde das den
Raum öffnen, andere Fähigkeiten zum Abschätzen des Zustands einer Gebärenden
zu entwickeln. „A variety of skills can come into play that arguably had been lost from
earlier birth attendants as the VE became the monitor of progress par excellence.“
(Walsh, Down 2010: 63)
Das braucht nicht nur Erfahrung, sondern auch die Zeit und die Ruhe, sich auf eine
Gebärende einzulassen, sie kontinuierlich zu begleiten und so die Veränderungen,
die sie in körperlicher und psychischer Hinsicht während einer Geburt durchläuft,
wahrzunehmen und angemessen darauf zu reagieren. Es gibt Hebammen, die um
50
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Alternativen zur vaginalen Untersuchung wissen, und es ist an der Zeit, dieses
Wissen weiterzugeben.
3.9 Alternativen zur vaginalen Untersuchung
„Wird einer Frau erlaubt, nach der Säuger-Methode zu gebären, wird der Finger
nicht gebraucht“, so Odent (Odent 1992: 50). Das Verhalten der Gebärenden, ihre
Atmung, die Töne die sie macht, die Art wie sie sich bewegt und die Positionen die
sie einnimmt, geben der Hebamme die nötigen Hinweise. So unterscheiden sich
Eröffnungs- und Austreibungsphase nicht mehr in Hinblick auf den
Muttermundbefund, sondern danach, „wie das Verhalten und der Bewusstseinszustand der gebärenden Frau ist, d.h. nach ihrem Hormonspiegel.“ (Odent 1992: 50).
Der Finger kann irren, so Odent weiter, weil manchmal der Muttermund schon vor
dem ersten spürbaren Pressdrang offen ist und manchmal der Drang, das Baby
hinauszuschieben, dieser Muttermunderöffnung vorausgeht.
Vaginale Untersuchungen als Teil einer ganzheitlichen Einschätzung der
Gebärenden haben auch laut Davies (2011) ihren Platz in der Geburtsbereuung.
Darüber hinaus gibt es eine Reihe zusätzliche, weit weniger invasive Möglichkeiten,
den Geburtsfortschritt zu beurteilen. In einer Diskussionplattform befragte Davies
Hebammen nach ihren diesbezüglichen Erfahrungen und fasste diese zusammen.
Unter anderem sind dies:
•
Die abdominale Palpation.
•
Die Beobachtung des Wehenmusters.
•
Die Beobachtung, dass die Gebärende in ihren Rhythmus kommt.
•
Veränderungen in den Lauten der Gebärenden und in ihrer Stimme.
•
Der Geruch der Gebärenden.
•
Die Art, wie sie auf Stimuli von außen reagiert.
•
Die Art, wie ihr Partner auf sie reagiert.
•
Die Dehnung des Anus (vgl. Davies 2011: 41).
Alle befragten Hebammen drückten aus, dass sie grundsätzlich vaginale
Untersuchungen wegen deren invasiven Charakters eher ungern und bei einer
normalen Geburt nur dann durchführten, wenn es eine deutliche klinische Indikation
dafür gab.
51
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Um herauszufinden, wie Hebammen den Beginn der aktiven Eröffnungsphase ohne
vaginale Untersuchung diagnostizieren, bereitete Burvill (2002) in einer qualitativen
Untersuchung zunächst mit einigen qualifizierten Hebammen das Thema auf, um
dann ein Tiefeninterview mit einer sehr erfahrenen Hebamme anzuschließen. Das
Ergebnis: Weder mit der vaginale Untersuchung, noch mit anderen Methoden ist es
möglich, den Beginn der aktiven Eröffnungsphase genau zu bestimmen.
„All midwives in the study felt the medical diagnosis of labour, as defined by
cervical dilatation and contractions alone, did not represent the experience
and reality of all women.“ (Burvill 2002: 603)
Indikatoren für den Übergang in eine aktivere Phase waren Veränderungen der
Gebärenden, die ihre Atmung, ihre Kommunikation, ihre Stimmung, ihre Energie und
die Art, wie sie sich bewegte, betrafen.
So wie für den Anfang der Geburt, gibt es auch für das Einsetzen der aktiven
Austreibungsphase Indikationen, die Odent (1992) mit der vermehrten
Adrenalinausschüttung in Zusammenhang bringt.
„Ein plötzliches Bedürfnis etwas zu ergreifen und die Knie zu beugen ist so
typisch, dass sich jede vaginale Untersuchung erübrigt. Dies ist der Zeitpunkt,
an dem sich viele Frauen ohne zu zögern ihrer Kleider entledigen“ (Odent
1992: 47).
Weiters haben die Frauen einen trockenen Mund und verlangen nach Wasser. Die
Atmung wird flach, die Pupillen sind vollständig erweitert. Manchmal ist diese letzte
Phase auch von Zornesausbrüchen begleitet, eventuell schlagen die Frauen gegen
Wand oder Unterlage. Auch Euphorie ist zu beobachten. All dies sind physiologische,
mit dem Adrenalinschub einhergehende Reaktionen, die klar das nahende Ende der
Geburt ankündigen (vgl. Odent 1992: 47).
In ihrer Dissertation widmet sich Duff (2005) eingehend den unterschiedlichen
Möglichkeiten, den Geburtsprozess zu beobachten. Sie ist der Frage nachgegangen,
„why did some midwives ‚know’ when a woman would give birth“ (Duff 2005: xv).
Sowohl aus der Literatur, als auch aus ihrer eigenen Praxis wusste sie, dass der
Geburtsfortschritt durch die reine Beobachtung des Verhaltens einer Gebärenden
abgeschätzt werden konnte. Ihre Frage war, ob sich diese Beobachtungen
verallgemeinern ließen. Sie entwickelte ein System, mit dem sie umfangreiche
52
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Expertinnenbefragungen von erfahrenen Hebammen durchführen und anschließend
die gewonnenen Daten ordnen und kategorisieren konnte. Das Resultat: Die
Verhaltensmuster der Frauen in den unterschiedlichen Phasen der Geburt konnten
tatsächlich in ein Schema gebracht und verallgemeinert werden. Wesentliche
Ergebisse sind, dass
„specific behavioural descriptors associated with progress were observed
before dilatation increased. Descriptors´ indicating cervical dilation was
occuring, or had occured, and descriptors indicating impending second stage
as well as second stage itself, were identified. Differences were observed
between the labours of mulitparous and nulliparous women and induced
labours and non induced labours.“ (Duff 2005: xxiii)
So ist es die Beobachtung von wehenden und gebärenden Frauen, die Hebammen
lehrt, die unterschiedlichen Zeichen des Voranschreitens einer Geburt zu erkennen.
Duffs Forschungsansatz ist einer, den aufzugreifen auch für die Hebammenwissenschaft im deutschsprachigen Raum interessant sein könnte. Würde dieses
Wissen - gesammelt und auf seine Evidenz geprüft - seinen Platz in der Geburtshilfe
bekommen, wären in den Lehrbüchern die Abhandlungen über die Diagnose des
Geburtsfortschritts umfangreicher und in der Praxis die vaginalen Untersuchungen
seltener.
53
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
4. Forschungsergebnisse aus den Interviews
„Und wenn die einfach ein bissl, ich meine,
sie hätte auch mich fragen können,
ich weiß nicht, wie es mir geht oder so...“ (aus dem Interview mit K)
Meine zweite Forschungsfrage lautet: Wie erleben Frauen vaginale Untersuchungen
während der Geburt? Prägen diese das Geburterlebnis?
In diesem Kapitel geht es darum, den wissenschaftlichen Diskurs mit den konkreten
Erfahrungen, die Frauen unter der Geburt mit vaginalen Untersuchungen gemacht
haben, anzureichern.
Evidenzbasierte Betreuung bedeutet laut Schwarz und Stahl ursprünglich „das
Zusammenwirken der drei Eckpfeiler Erfahrungswissen, theoretisches Wissen und
individuelle Wünsche der betroffenen Person.“ (Schwarz/Stahl 2011: 8)
Um die Wünsche und Erlebnisse der Betroffenen in meine Expertise miteinbeziehen
zu können, habe ich Interviews mit Frauen nach der Geburt gemacht. Wie diese
zustande gekommen sind und welche Erkenntnisse sich ergaben, ist in diesem
Kapitel dargestellt.
4.1 Methode
Als Forschungsansatz wurde das qualitative Verfahren des Interviews gewählt, weil
diese Methode „differenzierte Einblicke in die subjektive Weltsicht der untersuchten
Personen“ (Bortz, Döring 2006: 307) ermöglicht. Die Datenerhebung durch
Interviews und die Auswertung derselben mittels qualitativer Inhaltsanalyse folgt
einem induktiven Forschungsansatz, der es ermöglichen soll, das Besondere der
einzelnen Gespräche so weit zu verallgemeinern, dass es Orientierungshilfe für
konkretes geburtshilfliches Handeln sein kann.
Der Interviewphase ging eine inhaltliche Vorbereitung voraus, in der - basierend auf
der bereits gelesenen Fachliteratur und geleitet vom eigenen Forschungsinteresse die Fragen festgelegt und formuliert wurden. Als Befragungstechnik wurden
leitfadengestützte Interviews eingesetzt. Ein Interviewleitfaden diente als Wegweiser
durch das Gespräch und „enthält die Fragen, die in jedem Interview beantwortet
54
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
werden müssen. Allerdings sind weder die Frageformulierungen, noch die
Reihenfolge der Fragen verbindlich.“ (Gläser, Laudel 2010: 42)
Angesichts der Intimität des Themas und der Achtsamkeit, die es erfordert, wurde bei
der Erstellung des Interviewleitfadens darauf geachtet, dass die Fragen nicht nur die
vaginalen Untersuchungen, sondern das gesamte Erleben von Schwangerschaft,
Geburt und Wochenbett umfassen.
Für die Durchführung des Forschungsprojektes war die Zustimmung einer
Ethikkommission erforderlich. Ein entsprechender Antrag wurde an die für
Forschungsarbeiten an der Fachhochschule Gesundheit Tirol zuständige
Ethikkommission RCSEQ (Research Committee for Scientific and Ethic Questions)
gestellt. Dieser enthielt Exposé, Aufklärungsblatt,16 Einwilligungserklärung17 und
Interviewleitfaden.18
Das Forschungsvorhaben wurde im April 2012 von der RCSEQ in der vorliegenden
Form genehmigt.
4.2 Rekrutierung
Interviewpartnerinnen wurden so gewonnen, dass zunächst eine Email an 13 mir
persönlich bekannte freiberufliche Hebammen und niedergelassene GynäkologInnen
in meiner näheren Umgebung, d.h. in Wien und den Bezirken Wien-Umgebung, Tulln
und Baden geschickt wurde. Die Email enthielt eine kurze Vorstellung meines
Forschungsvorhabens,19 ein Aufklärungsblatt für Interessentinnen und die Bitte,
Klientinnen auf die Möglichkeit dieses Interviews aufmerksam zu machen und ihnen
bei Interesse das Aufklärungsblatt auszuhändigen. Kontaktaufnahme erfolgte durch
die Interviewpartnerinnen selbst und zwar in allen Fällen per Email.
Voraussetzungen für Teilnahme am Interview waren folgende: Die letzte Geburt
sollte nicht länger als zwei Jahre zurückliegen, es sollte keine primäre Sectio
vorgenommen worden sein, die Geburt sollte mindestens zwei Stunden gedauert
haben.
16 Aufklärungsblatt siehe Anhang 2
17 Einwilligungserklärung siehe Anhang 3
18 Interviewleitfaden siehe Anhang 4
19 Email siehe Anhang 1
55
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Zwischen März und Juli 2012 fanden sich insgesamt 23 Frauen, die sich für ein
Interview zur Verfügung stellten, zehn Frauen interviewte ich tatsächlich. Ich wählte
diese zunächst nach dem zeitlichen Eintreffen ihrer Interessensbekundung aus. Um
Geburtsberichte aus unterschiedlichen geburtshilflichen Abteilungen und auch von
Hausgeburten zu bekommen und so ein heterogeneres Bild zu erhalten, zog ich in
weiterer Folge auch den Geburtsort als Entscheidungskriterium für ein Interview
heran. In diesem Zusammenhang bevorzugte ich dann Frauen, die in einer noch
nicht genannten Einrichtung geboren hatten.
Neun Interviews fanden in der Wohnung der jeweiligen Interviewpartnerin statt, eines
in meiner Hebammenpraxis. Die Interviews dauerten zwischen 20 Minuten und 1,5
Stunden.
4.3 Vorbereitung und Ablauf der Interviews
Die Interviews wurden durch Emailkontakte eingeleitet. Darauf folgten Telefonate zur
näheren Kontaktaufnahme und Terminvereinbarung. Wichtig war, dass alle Frauen
den Aufklärungbogen schon einige Tage vor dem Interview erhielten und so die
Möglichkeit hatten, sich auf das Gespräch einzustellen.
Bei dem Treffen selbst ging dem Interview eine Phase des Sich-Kennenlernens und
Einstimmens voraus, wo sozusagen ‚off records’ informelle Gespräche geführt und
Erfahrungen ausgetauscht wurden. Das „Ziel des Forschungsprojektes und der
Zweck des Interviews“ (Gläser, Laudel 2010: 54) wurden an dieser Stelle noch
einmal besprochen. Um der Transparenz willen wurden Anfang und Ende der
Tonaufzeichnung verbal deutlich gemacht.
Die Interviews wurden freiwillig und nach vorheriger Aufklärung und Unterfertigung
einer Einwilligungserklärung gegeben.
Alle interviewten Frauen waren bei guter körperlicher und geistiger Gesundheit. Die
Entscheidung, bei dem Interview mitzumachen, fiel aus unterschiedlichen Gründen.
Eine Motivation dabei war, dass dies die Chance darstellte, ihre Geburt in einem
geschützten und gleichzeitig unverbindichen Rahmen erzählen und reflektieren zu
können.
56
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
So war es in den konkreten Situationen immer wieder angebracht, die Frauen
einfach erzählen zu lassen und sie nicht durch Zwischenfragen in ihrem Redefluss zu
stören. Die als leitfadengestütze Interviews geplanten Gespräche bewegten sich auf
diese Weise eher in Richtung narrative Interviews und dauerten zum Teil sehr lange.
Aus Gründen des Respekts wurden die Prozesse nicht unterbrochen und den Frauen
der nötige Raum für ihre Erzählungen gegeben. Dadurch sind auch Aspekte aus dem
weiteren Umfeld der Geburt zur Sprache gekommen, die sich im Nachhinein als sehr
wichtig für das Gesamterleben herausstellten. Beispielsweise wurde ein Kind nach
der Geburt wegen eines Amnioninfektionssyndroms auf eine Neonatologie
transferiert. In diesem Fall sind die Erinnerungen an die Geburt weniger deutlich, als
an die unmittelbare Zeit danach.
4.4 Die interviewten Frauen: Zehn geburtshilfliche Kurzportraits
Die Interviews sind anonymisiert. Alle interviewten Frauen sind Österreicherinnen.
Sie sind zwischen 1968 und 1987 geboren. Drei von ihnen sind Unternehmerinnen,
zwei sind Angestellte, eine ist Kindergärtnerin. Vier meiner Interviewpartnerinnen
sind selbst in Gesundheitsberufen tätig. Es sind dies eine Physiotherapeutin, eine
Hebamme, eine Ärztin und eine fertige Medizinstudentin. Acht Frauen sind
verheiratet, eine verlobt, eine lebt in einer fixen Partnerschaft. Von den befragten
Frauen waren fünf erstgebärend, drei zweitgebärend und zwei drittgebärend. Da
Mehrgebärende nicht nur von der letzten, sondern auch von vorangegangenen
Geburten berichteten, erhielt ich insgesamt Berichte über 17 Geburten.
Folgende Tabelle gibt eine Übersicht über die in den Interviews berichteten
Geburtsgeschichten. Diese Skizzen wurden anhand der Interviewprotokolle ohne
Einsicht in offizielle Geburtsdokumentationen erstellt. Sie geben somit die subjektive
Sicht der interviewten Frauen wieder und erheben nicht den Anspruch, formal korrekt
und vollständig zu sein.
57
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Interviewpartnerin
Skizze des Geburtsverlaufs
Interviewpartnerin A
Erstgravida, Erstpara
Spontangeburt
Hausgeburt
Geburtsdauer: 15h ab
Blasensprung
Zeitpunkt des Interviews:
9 Monate nach der
Geburt
A hatte vor der Geburt Stress wegen Terminüberschreitung
und geplanter Hausgeburt, ihre Hebamme machte dann eine
Eipolablösung zur Geburtseinleitung. Die Geburt begann in der
Nacht mit Blasensprung. A hatte bald darauf Wehen in relativ
langen Abständen. Die Hebamme begleitete die Geburt eher
aktiv und bestimmend. A fand sie fachlich kompetent, meinte
aber, dass ihr etwas mehr emotionale Unterstützung gut getan
hätte. A hatte das Gefühl, langsam zu sein. Auch wollte sie den
Prozess unter Kontrolle behalten. Die Geburt verlief
komplikationslos und auch zur Zufriedenheit von A. Im
Wochenbett brauchte sie ein paar Tage, um mit der neuen
Situation vertraut zu werden.
Interviewpartnerin B
Erstgravida, Erstpara
Beckenendlage
Sekundäre Sectio wegen
protrahiertem
Geburtsverlauf
Periduralanästhesie
Oxyticoninfusion
KH>1000Geb.
Geburtsdauer: 24h ab
Blasensprung
Zeitpunkt des Interviews:
7 Wochen nach der
Geburt
Trotz einer BEL plante B eine Spontangeburt. Die Geburt
begann in den frühen Morgenstunden mit einem vorzeitigen
Blasensprung. Einige Stunden nach der Aufnahme im
Krankenhaus setzten etwas zögerlich die ersten Wehen ein.
Auch im weiteren Verlauf öffnete sich der Muttermund nur
langsam und der Steiß kam kaum tiefer. Nach einem ganzen
Tag Wehenarbeit machte sich in der Nacht Erschöpfung breit.
Da der Geburtsfortschritt trotz Wehenmittel noch immer
unzureichend war, wurde gegen Morgen bei einer
Muttermunderöffnung von 8 cm und einem immer wieder
suspekten CTG entschieden, einen Kaiserschnitt zu machen. B
war damit einverstanden. Nach der Sectio erholte sie sich
rasch und wurde am 4. Tag p.p entlassen und ab dann zu
Hause von einer Hebamme weiter betreut. Nach einer
anfänglichen Umstellungsphase kam sie gut mit ihrer neuen
Lebenssituation zurecht. Insgesamt war B mit der ganzen
Situation zufrieden.
Interviewpartnerin C
Erstgravida, Erstpara
Vakuumextraktion mit
Kristeller-Handgriff und
Episiotomie wegen
protrahiertem
Geburtsverlauf
Oxytocininfusion
KH >1000G
Geburtsdauer: Mit
Latenzphase >2d
ohne Latenzphase 15h
Zeitpunkt des Interviews:
8 Monate nach der
Geburt
C plante eine Hausgeburt. Die Tage vor der Geburt waren
wegen einer Terminüberschreitung stressig. C machte einen
Einleitungsversuch mit Rhizinuscocktail und hatte daraufhin
zwei Tage lang leichte Wehen. Am zehnten Tag nach dem
Geburtstermin hatte sie eine CTG Kontrolle im Krankenhaus,
die sie wahrnahm, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt schon
stärkere Wehen hatte. Das CTG war bei dieser Kontrolle
suspekt, der Muttermund 5-6 cm offen. C fuhr mit ihrer
Hebamme wieder nach Hause und diese begleitete die Geburt
zu Haue weiter. Nach der Eröffnung der Fruchtblase durch die
Hebamme hatte diese den Verdacht auf eine dorsoposteriore
Schädellage. Da der Muttermundbefund sich in weiterer Folge
kaum änderte und auch das Fruchtwasser missfärbig wurde,
entschlossen sie sich dazu, ins Krankenhaus zurückzufahren.
Dort wurde das Kind per Vakuumextraktion aus einer
regelrechten Hinterhauptshaltung geboren. Für C war diese
Geburt und die ihr vorausgegangene vaginale Untersuchung im
Krankenhaus traumatisch.
58
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Dem Kind ging es nach der Geburt sehr gut und C wurde in die
ambulante Nachsorge entlassen.
Interviewpartnerin D
Zweitgravida, Zweitpara
1. Geburt: Spontangeburt
KH>1000G
2. Geburt: Spontangeburt
KH>1000G
Geburtsdauer 1. Kind: 12h
Geburtsdauer 2. Kind: 3h
Zeitpunkt des Interviews:
2 Monate nach der
2. Geburt
D hatte zwei zügige und komplikationslose Geburten. Beide
Male war sie mit der Betreuung sehr zufrieden. Schon beim
ersten Kind hatte sie eine ambulante Geburt geplant, blieb
dann aber wegen einer Kreislaufschwäche noch eine Nacht im
Krankenhaus.
Bei der zweiten Geburt wurde sie, als sie mit beginnenden
Wehen ins Krankenhaus kam, noch einmal nach Hause
geschickt. Zu Hause ging sie in die Badewanne und bekam
kurz darauf sehr starke Wehen. Schnellstens fuhr sie mit ihrem
Mann ins Krankenhaus zurück, verspürte aber bereits im Auto
die ersten Presswehen, was sie sehr stresste. Kaum
angekommen, gebar sie im Ambulanzraum ihr Kind. Diesmal
konnte D in die ambulante Nachsorge entlassen werden. Das
Wochenbett verlief gut.
Interviewpartnerin E
Erstgravida, Erstpara
Spontangeburt in
Vacuumbereitschaft
Spascupreel-Infusion
Periduralanästhesie
KH>1000G
Geburtsdauer; 18h
Zeitpunkt des Interviews:
5 Monate nach der
Geburt
Eine sehr enge Freundin von E ist Hebamme. E hatte mit
dieser Freundin ausgemacht, dass sie bei Geburtsbeginn zu ihr
nach Hause kommen und sie so lange zu Hause betreuen
würde bis es Zeit war, ins Krankenhaus zu fahren. Dorthin ging
sie als Begleitperson mit. Die Geburt begann mit Wehen, kurz
bevor die Freundin bei E eintraf, hatte diese einen
Blasensprung, das Fruchtwasser war missfärbig. Deswegen
entschieden sie sich, gleich ins Krankenhaus zu fahren. Dort
etablierte sich bald ein gute Zusammenarbeit zwischen der
Freundin und der diensthabenden Hebamme. E hatte ein
großes Bedürfnis, nur mit vertrauten Menschen zu sein. Da das
CTG am Ende suspekt, war, stand eine Vakuumextraktion im
Raum. E nahm, als sie das realisierte, alle ihre Kräfte
zusammen und gebar ihr Kind spontan. Bald nach der Geburt
wurde bemerkt, dass sich das Neugeborene mit dem Atmen
plagte. Deswegen wurde es mit Verdacht auf Amnioninfektionssyndrom auf eine Neonatologie transferiert. Diese
Zeit hat E in schlechter Erinnerung. Nach 3 Tagen wurden sie
und ihr Kind, ohne dass sich die Diagnose bestätigte, nach
Hause entlassen. Danach verlief das Wochenbett
komplikationslos.
Interviewpartnerin F
Erstgravida, Erstpara
Vakuumextraktion in
Sectiobereitschaft mit
Kristelller-Handgriff und
fraglicher Episiotomie
wegen protrahiertem
Geburtsverlauf
Analgetika,
Periduralanästhesie
Oxytocininfusion
Zeitpunkt des Interviews:
9 Monate nach der Geburt
F war vor der Geburt wegen erhöhten Blutdrucks und Eiweiß
im Harn bereits zwei Mal stationär im Krankenhaus. Die
GynäkologInnen rieten zur Geburtseinleitung. F wollte das nicht
und fühlte sich bedrängt. Umso größer war die Freude, als die
Geburt von selbst losging. Im Krankenhaus kam bald dieses
Gefühl zurück, dass man ihr dauernd etwas aufdrängen wollte.
Schmerzmittel, Periduralanästhesie, Wehentropf etc. F hatte
auch damit zu kämpfen, dass die sie betreuenden ÄrztInnen
und Hebammen sich gegenseitig widersprachen und keine
klaren Botschaften sendeten. Zunehmend hatte F das Gefühl,
sich alle vom Leib halten und sich schützen zu müssen. Die
Geburt endete fast mit einer Sectio, letztendlich aber mit einer
Vakuumextraktion. Das Kind wurde F sehr lange nicht
59
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
gebracht, was sie sehr schmerzte.
F hatte sich eine ganz normale Geburt gewünscht und
vorgestellt und war vom gesamten Geburtsmanagement
enttäuscht. Auch das Wochenbett verbrachte sie
stationär.Beim nächsten Kind wird sie nicht mehr in dieses
Krankenhaus gehen.
Interviewpartnerin G
Viertgravida, Drittpara
Status post Fehlgeburt
in der 14. Schwangerschaftswoche
1. Geburt : Sekundäre
Sectio wegen
protrahiertem
Geburtsverlauf,
Periduralanästhesie
KH<1000G
2. Geburt: Spontangeburt
KH<1000G
3. Geburt: Spontangeburt
KH<1000G
Geburtsdauer 1. Kind: 26h
Geburtsdauer 2. Kind: 6h
Geburtsdauer 3. Kind: 6h
Zeitpunkt des Interviews:
15 Monate nach der
letzten Geburt
G plante für ihr erstes Kind eine Hausgeburt. Wegen
Terminüberschreitung machte sie einen Einleitungsversuch mit
Nelkenöltampons, der prompt mitten in der Nacht Wehen
auslöste. Gegen Morgen rief sie die Hebamme. Schon bald
stellte sich heraus, dass G mit ihrer Hebamme nicht gut zurecht
kam. G hatte den Eindruck, dass ihre Hebamme wenig
Fachkompetenz zeigte. Auch verletzten einige Maßnahmen
und Interaktionen ihre Intimsphäre und verunsicherten G
nachhaltig. Als bei Blasensprung das Fruchwasser missfärbig
war, wurde die Geburt am Nachmittag ins Krankenhaus verlegt.
Dort bekam G nach einigem Zuwarten einen Kaiserschnitt. Im
Aufwachraum konnte sie ihr Kind noch nicht selbständig halten,
deswegen wurde es weggetragen, was G noch immer sehr
traurig in Erinnerung hat. Insgesamt war diese Geburt für G
schrecklich und mit vielen Ängsten und auch Enttäuschungen
verbunden.
Für die zweite Geburt wählte G eine andere Klinik und suchte
sich eine Wahlhebamme. Ihre Betreuung hat sie als sehr
kompetent erlebt und war mit dieser Geburt rundum zufrieden.
Das dritte Kind kam in derselben Klinik, aber mit der
diensthabenden Hebamme zur Welt. Auch diese Geburt hat G
in angenehmer Erinnerung.
Interviewpartnerin H
Drittgravida, Drittpara
1. Geburt: Spontangeburt
KH>1000G
2. Geburt: Spontangeburt
KH<1000G
3. Geburt: Spontangeburt
KH<1000G
Geburtsdauer 1. Kind: 6h,
Geburtsdauer 2. Kind: 4h
Geburtsdauer 3. Kind:5,5h
Zeitpunkt des Interviews:
1,5 Jahre nach der letzten
Geburt
Die erste Geburt von H verlief zügig und komplikationslos.
Wegen Übersiedlung ging sie für die zweite Geburt in ein
anderes Krankenhaus. Diese Geburt war gekennzeichnet von
massiven Einmischungen des diensthabenden Gynäkologen,
der sie häufig vaginal untersuchte und ihr auch ohne
Ankündigung die Fruchtblase öffnete, was H bis heute in
schmerzhafter und sehr unangenehmer Erinnerung hat.
Nach dieser Geburt wechselte H für ihr drittes Kind, diesmal
wegen Unzufriedenheit, erneut die Kinik. Durch Geburtsvorbereitung und Akupunktur lernte sie eine Hebamme kennen,
mit der sie dann im Krankenhaus ihr Kind zur Welt brachte.
Nach der Geburt ging sie ambulant nach Hause und die
Hebamme betreute sie nach. Diese Geburt war für H sehr
schön. Auch das häusliche Wochenbett entsprach genau ihren
Vorstellungen.
Interviewpartnerin J
Zweitgravida, Zweitpara
1. Geburt: Spontangeburt
in Sectiobereitschaft mit
Kristeller-Handgriff und
fraglicher Episiotomie
wegen protrahierter
Aus Sicherheitsgründen wählte J für ihre erste Geburt ein
Krankenhaus mit angeschlossener Neonatologie. Der dortige
Primararzt war ihr Gynäkologe, zu dem sie großes Vertrauen
hatte. Auch während der Geburt fühlte sie sich gut und
kompetent durch ihn betreut. Da die Geburt eher lang dauerte
und J von Anfang an starke Schmerzen hatte, ließ sie sich eine
Periduralanästhesie geben. Um den Zustand des Kindes unter
60
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Geburt
Perinatalzentrum
Periduralanästhesie,
Oxytocininfusion, 2x
Mikroblutgasuntersuchung
2. Geburt: Spontangeburt
KH>1000G
Periduralanästhesie
Geburtsdauer 1. Kind: 22h
Geburtsdauer 2. Kind: 5h
Zeitpunkt des Interviews:
20 Monate nach der
letzten Geburt
der Geburt beurteilen zu können wurde zwei Mal eine
Mikroblutgasuntersuchung durchgeführt, auf Grund deren
Ergebnisses man sich dazu entschied, mit dem Kaiserschnitt,
der bereits im Raum stand, noch zuzuwarten. Das Kind kam
spontan zur Welt, es ging ihm gut. Die gesamte Geburt verlief
für J zufriedenstellend.
Aus organisatorischen Gründen entschied sich J in der zweiten
Schwangerschaft dennoch für eine andere Klinik. Auch hier
kam sie als Privatpatientin in den Genuss netter und
freundlicher Behandlung. Die zweite Geburt verlief rasch, kurz
nach der gesetzten Periduralanästhesie, die nicht wirkte, kam
J´s zweites Kind spontan und komplikationslos zur Welt. Das
Wochenbett verbrachte J in beiden Fällen Im Krankenhaus.
Interviewpartnerin K
Zweitgravida, Zweitpara
1. Geburt: Spontangeburt
KH>1000G
Kürettage 14 Tage post
partum wegen verstärkter
Nachblutungen
2. Geburt: Spontangeburt
nach Geburtseinleitung
mit Prostaglandinen
KH>1000G
Geburtsdauer 1. Kind: 6h
Geburtsdauer 2. Kind: 2h
Zeitpunkt des Interviews:
21 Monate nach der
letzten Geburt
K hatte schon vor der ersten Geburt, bedingt durch einen
erhöhten Blutdruck, engmaschige Kontrollen im Krankenhaus.
Ein für K sehr unangenehmens Erlebnis vor der Geburt war ein
Analabstrich, der in einem Pilzlabor unangekündigt und grob
durchgeführt wurde. Als sie zur Geburt ins Krankenhaus kam,
erlebte sie zunächst, dass die Hebamme sie relativ viel alleine
ließ. Dann folgte eine unangekündigte vaginale Untersuchung,
die ihr ebenfalls bis heute in schrecklicher Erinnerung ist.
Danach arrangierte sie sich mit ihrer Hebamme und kam dann
gut mit ihr zurecht. Die Betreuung im stationären Wochenbett
erlebte sie als wenig fachkompetent. 14 Tage nach der Geburt
hatte sie zu Hause einen Blutsturz und musste zurück in die
Klinik, wo eine Kürettage gemacht wurde, die sie als sehr
traumatisch erlebt hat.
Wegen Unzufriedenheit mit der Gesamtsituation wechstelte K
für ihre zweite Geburt die Klinik. Beim zweiten Kind war sie,
ebenfalls wegen hohem Blutdruck, vier Tage stationär
aufgenommen. Das war für sie sehr angenehm, weil sie in
dieser Zeit das Geburtshilfeteam kennenlernen und Vertrauen
aufbauen konnte. Bei der Geburt wurde sie dann von einer
Hebamme begleitet, die sie in dieser Zeit ebenfalls kennenund schätzen gelernt hatte. K war mit der gesamten Betreuung
bei der zweiten Geburt zufrieden. Das Wochenbett verbrachte
sie diesmal zu Hause.
4.5. Die interviewte Expertin
Im Zuge der Literaturrecherche wurde eine Forschungsarbeit gefunden, die sich mit
der vaginalen Untersuchung aus der Perspektive der Hebammen beschäftigt
(Stewart 2008). Die Autorin dieser Dissertation, Dr. Mary Stewart ist ausgebildete
Hebamme, Krankenschwester und Senior Lecturer in der Hebammenausbildung an
der Florence Nightingale School of Nursing and Midwifery am King´s College in
London. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Epidemiologie und qualitative
Forschung. Führend ist sie für die Studie Birthplace in England verantwortlich, die
61
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
zwischen 2007 und 2010 durchgeführt wurde und in der es darum geht, geplante
Hausgeburten, Geburtshausgeburten und unterschiedliche Formen von
Klinikgeburten zu vergleichen.
Ihre Dissertation basiert auf der Literatur Foucaults über Macht und Kontolle und
geht der Frage nach, inwiefern Hebammen vaginale Untersuchungen kraft ihrer
Autorität und ihres Expertinnenstatus als Machtinstrument einsetzen, wie weit ihnen
das bewusst ist und wie es ihnen damit geht. Als Methode wurden qualitative
Interviews mit Hebammen, Schwangeren und Frauen nach der Geburt gemacht.
„The findings from this PhD confirm, that vaginal examination is problematic.
In addition, the research demonstrates that midwives experience vaginal
examination as a form of surveillance and modify and monitor their behaviour
in response to this scrutiny. (Stewart 2008: x)
Da sich meine Masterthese unter anderem mit der Darstellung der vaginalen
Untersuchung in Hebammenlehrbüchern beschäftigt, ist auch folgendes Ergebnis
aus der Arbeit von Stewart von Interesse:
„Midwives in this study stated, that during their training they did not feel
equipped to the physical and emotional realities of vaginal examination.“
(Stewart 2008: x)
Das Interview mit der Expertin wurde im Juli 2012 am King´s College in London
geführt.
4.6 Auswertungsmethode
Alle Interviews wurden auf Tonträger gespeichert und dieses Ausgangsmaterial
transkribiert. Anschließend wurde der gewonnene Text in mehreren Arbeitsschritten
analysiert. Mayring (2010) definiert die qualitative Inhaltsanayse als
„Auswertungsmethode, d.h. sie hat es mit bereits fertigem sprachlichem
Material zu tun. Um zu entscheiden, was überhaupt aus dem Material heraus
interpretierbar ist, muss am Anfang eine genaue Analyse des
Ausgangsmaterials stattfinden. (Mayring 2010: 52).
Dieser von ihm als Quellenkritik (vgl. Mayring 2010: 52) bezeichnete Arbeitsschritt
leitete eine erste Auseinandersetzung mit dem gewonnenen Datenmaterial ein. Dann
wurden thematisch zusammenhängende Aspekte zu Kategorien zusammengefasst.
Die Kategorien wurden „in einem Wechselverhältnis zwischen Theorie (der
62
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Fragestellung) und dem konkreten Material entwickelt (...) und während der Analyse
überarbeitet und rücküberprüft.“ (Mayring 2010: 59)
Das bedeutet, dass vorab angestellte Überlegungen, basierend auf der
Forschungsliteratur, ebenso in das Kategoriensystem aufgenommen wurden, wie
sich aus den Interviewtexten neu ergebende Aspekte. Die Kategorien wurden somit
deduktiv, also theoriegeleitet, und induktiv, also sich aus dem Textmaterial ergebend,
gewonnen. (Vgl. Bortz, Döring 2006: 330)
4.7 Ergebnisse
Die Kategorien, welche die wesentlichen Aussagen aus den Interviews in
Sinnzusammenhänge bündeln, sind als Überbegriffe zu sehen, die sich weiter
differenzieren lassen. Die acht gefundenen Hauptaspekte stehen miteinander in
Wechselwirkung und sind nicht klar voneinander abzugrenzen. Beispielsweise
korrellieren die Kategorien Kommunikation, Beziehung und Intimsphäre sehr deutlich
miteinander verwoben. Die Summe der in den einzelnen Kategorien
beschriebenenTeilaspekte wirkt sich wiederum auf das Geburtserlebnis aus.
Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die definierten Kategorien. Im
Anschluss werden die einzelnen Ergebnisse näher erläutert und mit Zitaten aus den
Interviews dem Expertinneninterview und der Fachliteratur hinterlegt.
Nr.
Kategorie
1
Die unbestrittene Notwendigkeit der vaginalen Untersuchung als
Routinemaßnahme während der Geburt.
2
Die körperliche Wahrnehmung von vaginalen Untersuchungen und
ähnlichen Maßnahmen unter der Geburt.
3
Die Kommunikation rund um die vaginale Untersuchung und ähnliche
Maßnahmen unter der Geburt.
4
Die Beziehungsebene und ihr Einfluss auf die Wahrnehmung von
vaginalen Untersuchungen und anderen Maßnahmen unter der Geburt.
5
Der Faktor Zeit im Kontext von Schwangerschaft und Geburt und seine
Dominanz über das geburtshilfliche Handeln.
6
Psychische Konstitution und Grundbedürfnisse von Gebärenden und ihr
Einfluss auf die Wahrnehmung geburthilflicher Maßnahmen.
63
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
7
Die Intimsphäre unter der Geburt und die Einflussfaktoren, die auf diese
wirken.
8
Das Geburtserlebnis als Ergebnis des multifaktoriell beeinflussten
Prozesses des Gebärens und der Zeit rund um die Geburt.
4.7.1 Die vaginale Untersuchung als notwendige Maßnahme
In Lehrbüchern und Forschungsliteratur gleichermaßen ist die vaginale
Untersuchung der Geburtsüberwachungsparameter par excellence und als solcher in
unserer Geburtskultur fest verankert. „Vaginal examinations [...] in labour are a
routine part of intrapartum care“ (Sheperd, Cheyne 2011: 1).
Aus allen Interviews geht hervor, dass die Frauen wiederholte vaginale
Untersuchungen unter der Geburt als normal und notwendig ansehen. Diese
Notwendigkeit wird einerseits vom geburtshilflichen Personal vermittelt, andererseits
auch von den Gebärenden antizipiert und in keinem Interview prinzipiell hinterfragt.
Multiparae sind durch die vorhergegangene(n) Geburt(en) bereits damit vertraut.
Durch vielfach in der Schwangerenvorsorge stattfindende vaginale Kontrolluntersuchungen sind auch Primiparae prinzipiell darauf vorbereitet und kommen mit
der Erwartung in die Klinik, dass sie wiederholt vaginal untersucht werden.
Eine Primipara war von der ersten Untersuchung zwar überrascht, adaptierte sich
aber rasch und kam mit allen weiteren Untersuchungen gut zurecht.
„Beim ersten Mal hab ich mir noch gedacht ups, und beim zweiten und dritten
Mal wars dann ok.“ (Interview mit J)
Begründet wird die Routinemäßigkeit von den Frauen und von den geburtshilflichen
Einrichtungen damit, dass der regelrechte Geburtsfortschritt zur Vermeidung von
Komplikationen bei Mutter und Kind überwacht werden muss.
„Ich weiß, dass es notwenig ist, eine vaginale Untersuchung, um einfach zu
schauen.“ (Interview mit H)
„Wenn der Arzt sagt, es muss sein, dann, dann muss es halt sein, das ist halt
meine Einstellung. Weil besser, wir machen eine Untersuchung zu viel als
eine zu wenig.“ (Interview mit J)
64
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
L: „Ja und dann hat er [Anm.: der Primararzt] dich untersucht. War das
unangenehm, war das angenehm, war das wurscht, war das wichtig für dich?“
J: „Es war wichtig, weil´s wichtig für die Geburt war. War nicht unangenehm,
war´s jetzt nicht.“ (Interview mit J)
Dahinter steckt auf beiden Seiten das Bedürfnis nach Sicherheit. In einem Fall
wurden geburtshilfliche Maßnahmen vom behandelnden Arzt explizit forensisch
begründet, was bei der Frau großen Ärger ausgelöst hat.
„Die ärgste Aussage, die der Arzt während der Geburt zu mir gemacht hat,
während ich mit ihm diskutiert hab, so quasi, dass man in dieser Klinik
offensichtlich nicht normal gebären kann, da hat er zu mir gesagt: ‚Wissen Sie,
Frau F., diese Gutachter liegen einem im Genick’, und da habe ich gedacht,
ok, wir sind nicht auf derselben Wellenlänge.[...] Wir sind eigentlich auf zwei
verschiedenen Planeten. Und ich kann es verstehen, weil es ist ein Risiko,
jede Geburt ist ein Risiko [...], aber es kann halt nicht sein, dass man
irgendwie Kaiserschnitte Ende nie macht, um normale Risiken
auszuschließen.“ (Interview mit F)20
Odent (1999) verwendet den selben Ausdruck wie F, wenn er die normale Geburt so
beschreibt
„Im Verlauf der Entbindung gibt es eine Phase, in der die Mutter sich verhält,
als sei sie ‚auf einem anderen Planeten’. Sie kapselt sich von unserer
Alltagswelt ab und begibt sich auf eine Art innere Reise. Dieser Wechsel des
Bewußtseinszustands läßt sich als eine Drosselung der neokortikalen Aktivität
deuten.“ (Odent 1999: 51)
Stewart ortet hinter dem routinemäßigen Überprüfen des Muttermundbefundes
seitens der ProfessionistInnen auch das Bedürfnis nach Macht und Kontrolle über
das Geschehen.
L21: „One woman I interviewed she said, she had the feeling, that the midwife
didn´t trust her and didn´t trust the process of labour, the work she did [...].
Stewart: „I think that´s very common. You know, it´s about professional power.
I am the professional and I know, and you might think you are in labour but
only I can tell you (laughs).
„Women are so disempowered by the health care they receive, they think they
just have to put out their things, they don´t have a choice.“ (Interview Stewart)
20
Anmerkung: In dieser Nacht wurden in der angesprochenen Klinik 6 Kaiserschnitte durchgeführt, F
hatte letztendlich eine Vakuumextraktion in Sectiobereitschaft.
21
L steht für die Interviewerin und ist die Initiale ihres Vornamens.
65
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Das korrekte Untersuchen ist weiters eine Fachkompetenz, die von Hebammen und
GeburtshelferInnen erwartet wird. Unbefriedigende Geburtsverläufe werden auch mit
mangelnder Untersuchungskompetenz in Zusammenhang gebracht.
„Und dann war es zwei Stunden später noch immer auf 2 cm und nach drei
Stunden auf 2,5 und so weiter. Und eigentlich hätte ich mir so im Nachhinein
erwartet dass sie sagt, da läuft was nicht ganz ordentlich’ [...]. Ich sag da
einfach, ich bin mir sicher, hätte sie ordentlich untersucht [...], alles wäre gut
gegangen.“ (Interview mit G)
„Und sie hat es auch nicht geschafft, die Fontanelle zu ertasten, also war es
sehr hoch, beziehungsweise sie hat es nicht können. Wie, wie wir dann im
Krankenhaus waren, haben sie es schon können. Die hat es einfach nicht
können.“ (Interview mit G)
„Im Nachhinein haben sie beide dann nimmer, also die Ärztin und die
Hebamme nimmer sagen können wie er jetzt genau gelegen ist (..)22. Also das
ist für mich dann auch komisch.“ (Interview mit C)
Ein weiterer Grund für die Toleranz gegenüber den vaginalen Untersuchungen ist,
dass die Gebärende ein Feedback über ihren Geburtsfortschritt bekommen will, an
dem sie sich orientieren kann.
„Untersuchungen in dem Sinn habe ich nur eine gehabt [...] und das war dann
eigentlich total ok weil, dann will man eh einmal wissen, wie es dann schon
ist.“ (Interview mit D)
Besonders die erste Untersuchung kristallisiert sich immer wieder als wichtig zur
Bestimmung der Ausgangssituation heraus.
[Am Anfang], „da hab ich ja wissen wollen, ist was weitergangen oder nicht.
Das hat gepasst. Auch dann beim zweiten Mal daheim, hat es gepasst.“
(Interview mit C)
„Also die Untersuchung wollte ich selbst auch voll gern. Ich wollte einfach
wissen, wie das jetzt mit den Wehen ist, was sich tut.“ (Interview mit A)
Wenn der Geburt eine belastende Zeit vorausgeht, wie im Fall von F, der eine
Geburtseinleitung immer wieder nahe gelegt wurde, und die dann spontan Wehen
bekam, wird diese nicht als unangenehm sondern als positiv empfunden.
„Und ich weiß nicht, diese Untersuchungen zum Beispiel, die habe ich, ich
habe mich innerlich so gefreut, nachdem ich so gekämpft habe, dass es von
22
(..) bedeutet, dass in dem Interview von der Interviewpartnerin eine Pause gemacht wurde, deren
Länge der Anzahl der Punkte innerhalb der Klammer entspricht. In diesem Fall war das eine Pause
von zwei Sekunden
66
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
alleine losgegangen ist, dass ich mich eigentlich über die Untersuchungen
nicht beschwert hätte, im Gegenteil, weiß ich nicht, das war mir sehr recht,
weil ich mir gedacht hab, ok, es geht los, ja.“ (Interview mit F)
Die positive Rezeption ist etwas, das sich im Laufe der Geburt ändern kann und die
Untersuchungen, die am Anfang motivierend waren, werden im weiteren Verlauf als
störend bzw. unwichtig erlebt.
„ Sie [Anm: die Hebamme] hat irgendwann zu mir gesagt, sie wird jetzt wieder
untersuchen und, also, da hab ich zu ihr gesagt ‚wieso schon wieder’, und da
hat sie gesagt, ‚naja, es sind schon wieder drei Stunden um. [...] Ich hab es
unnötig gefunden.“ (Interview mit A)
„Man hat es dann eh irgendwie im Gefühl und ob ich jetzt da weiß, ob das 7
oder 8 cm sind, war mir wurscht, vor allem weil ich also eh schon einmal
gewusst hab, es sind jetzt so 5 bis 6 und was dann jetzt genau ist, war mir
eigentlich dann wurscht.“ (Interview mit C)
Unterschiedlich wird die Frequenz der Untersuchungen wahrgenommen. Hier lassen
sich verschiedene Muster erkennen.
An eine reale Untersuchungsfrequenz können sich die interviewten Frauen
zumindest phasenweise nicht erinnern. Vielfach werden die vaginalen
Untersuchungen überhaupt nicht mehr erinnert.
„Also bei der ersten Geburt hab ich fast keine Erinnerungen mehr an die
vaginalen Untersuchungen, das heißt, es war nicht unangenehm.“
(Interview mit H)
„Ich glaub, die Hebamme hat geschaut, aber ich glaub, er [Anm.: der Arzt] hat
auch einmal geschaut, ich weiß nicht, das vergisst man so schnell.“
(Interview mit B)
Immer wieder wird die Untersuchungefrequenz mit oft angegeben. Das wird mitunter
als störend, manchmal aber auch positiv angesehen, manche Frauen haben es nicht
bewertet.
A: „Also das hat mich recht zurückgehaut (lacht) von der guten Stimmung,
wieder (.) und dann hat sie eigentlich stündlich untersucht, teilweise sogar
öfter.“ [...]
L: „Das heißt, die können schon frustig sein, die vaginalen Untersuchungen?“
A: „Die voll, die wirklich voll.“
„Alle Stund´, schätze ich, ist sie mal reingekommen und hat halt gefragt und
geschaut und so und hat auch relativ oft untersucht [...] also nur vom Gefühl,
ja so alle eineinhalb bis zwei Stunden, glaube ich, also sie hat mich sicher alle
zwei Stunden, glaube ich. [...] Es war ok, es war für mich immer auch so (.)
67
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
jetzt weiß ich wieder was, also, es ist wieder ein bissl messbar, wo stehen wir
und so. Es war für mich eigentlich positiv.“ (Interview mit E)
„Im Vergleich haben sie mich im ersten Spital oft untersucht.“ (Interview mit J)
Durch die Priorisierung notwendiger Maßnahmen werden persönliche Bedürfnisse in
den Hintergrund gestellt. Dann wird nichts gesagt und das was gemacht wird, als
gegeben hingenommen.
„Was sein muss, muss sein. Wenn´s fürs Kind ist, muss es sein, aus.“
(Interview mit J)
Andererseits gibt es eine Toleranzgrenze, wenn diese überschritten wird, reagiert die
Gebärende: Das kann entweder in Form von innerem Rückzug oder massiver
Abwehr sein.
„ Die nächste Stunde hat sie mich dann wieder untersucht, da waren es dann
6 cm und (.) und dann war ich echt so, dass ich gesagt habe, tu was du willst
(lacht), du kannst jetzt alles machen mit mir.“ (Interview mit A)
„Sie hat nicht gesagt, dass sie mir in die Scheide reingreift [...] und ich war
einfach gerade so in Seitenlage, ja (.), ja und dann, da habe ich sie so ange–
(lacht), also halt, das geht irgendwie nicht (lacht), aber dann sind wir super
zurechtgekommen.“ (Interview mit K)
Keine der befragten Frauen hatte eine Geburt ohne vaginale Untersuchung. Als
Hauptgrund für die Untersuchungen wurde angegeben, dass es wieder an der Zeit
wäre, oder die Untersuchung wurde ohne Angabe von Gründen durchgeführt. Bei
keiner der befragten Frauen wurde ausdrücklich eine Indikation, wie zum Beipiel
Verdacht auf Einstellungsanomalie als Begründung für die Untersuchung genannt.
4.7.2 Die körperliche Wahrnehmung der vaginalen Untersuchung
Vaginale Untersuchungen werden eher selten als schmerzhaft erlebt.
Dominiert dieses Gefühl, dass es wichtig ist, über den Geburtsfortschritt Bescheid zu
wissen, werden sie gut toleriert, auch wenn sie durchgehend als nicht angenehm
bezeichnet werden.
„Angenehm war es für mich nie, muss ich schon sagen. Ich habe das nicht
gern, also, ich geh auch nicht gern zum Gynäkologen. Das ist für mich total
unangenehm. Aber es hat gepasst, ich mein, ich habe gewusst, das ist jetzt
eine Geburt, es ist meine Geburt, also das muss jetzt sein, das gehört dazu
und ich möchte auch wissen, ist was weitergangen.“ (Interview mit C)
68
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Auch die Toleranz dem Wehenschmerz gegenüber steht direkt mit dem
Untersuchungsbefund in Zusammenhang. Ein enttäuschendes Ergebnis wirkt sich
negativ aus und die Wehen werden schlechter ausgehalten, ist ein guter
Geburtsfortschritt festgestellt worden, ist das Gegenteil der Fall.
„I remember in my PHD talking to a woman. She was having the first baby.[...]
I can´t remember how many vaginal examinations she had, not very many, but
she said, there was one, the midwife did a vaginal examination and told her
the cervix was 7cm dilated and the woman said, that was so good to hear
because she hadn´t any pain relief and at that point she was thinking perhaps
I´ll have. [...] And then she had a cervix of 7cm dilation and so she thought I
can do it, and so gave birth without any pain relief and found it fantastic as a
result.“ (Interview mit Stewart)
Weiters besteht ein direkter Zusammenhang zwischen dem inneren Einverständnis
der Frau mit einer Intervention und ihrem Schmerzempfinden.
„Es hat wehgetan auch, weil´s mich gestört hat.“ (Interview mit H)
Will die Frau eine Maßnahme selbst oder ist sie ausreichend darauf vorbereitet,
verursacht diese eher keine Schmerzen und selbst, wenn sie schmerzhaft ist, wird
sie akzeptiert.
G: „Unangenehm ist das [vaginale Untersuchen] immer.“
L: „Und wenn du gesagt hättest, es passt jetzt nicht, ich mag jetzt nicht?“
G: „Nein, ich wollt ja wissen was, also ich war schon sehr ungeduldig. Das
Problem ist, es hat schon sehr weh getan, weil ja der Kopf so hoch oben war.“
Kommt eine Maßnahme unangekündigt oder überraschend, wird sie mitunter sogar
als traumatisch erlebt.
„Also was sie [Anm.: die Hebamme] gemacht hat in Richtung vaginalem
Eingriff, sie hat mir plötzlich reingegriffen und damit den Muttermund
aufgedehnt mit den Fingern und (.) das also, hat schon einen Sinn, aber sie
hat mir nichts gesagt, also da habe ich gesagt, au, das, das kann sie nicht
machen. Ich habe mich total verkrampft. Bei ihr war nämlich dann, die haben
mir das nämlich nicht gesagt und wenn ich da auf der Seite liege – ich seh ja
nichts, also das finde ich, also das (.) (lacht) das war kontraproduktiv. Das war
einfach schmerzhaft und wenn du dich verkrampfst, dann noch mehr, na und
das, ah (.), wurscht (lacht) (.), da kommt mir jetzt noch heiß auf, irgendwie.“
(interview mit K)
H hatte bei zwei Geburten eine Amniotomie, die sie äußerst unterschiedlich
empfunden hat.
69
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
„Also mit dem Arzt, das war furchtbar, nein, ich hätte ihm am liebsten eine
reingehauen, wie er mir die Blase gesprengt hat, weil das tut ja weh, auch. Ist
einfach reingefahren, hat die Blase gesprengt und das wars.“
(Interview mit H)
H: „Bei ihr [Anm.: deutet auf ihr Baby] ist´s auch gesprengt worden, da hat
aber die Hebamme gesagt, ‚pass auf, ich mach jetzt die Blase auf, weil der
Muttermund ist schon so weit offen und das geht dann schon los’.“
L: „Und du warst einverstanden?“
H: “Das war in Ordnung, ja. Da war´s auch angenehm, da ist der Druck dann
ein bissl weg.“
Auch wenn vaginale Untersuchungen den Frauen nicht angenehm sind, gibt es
durchaus Situationen, wo diese im Vergleich zu anderen Maßnahmen als harmlos
erlebt werden. Im Fall von B war das Unangenehmste eine Bauchmassage die sie
nicht wollte.
B: „Also die [Anm: Studentin] hat mir dann einmal eine Bauchmassage
gemacht, eine brutale und also, pfff, das war nicht fein. Die hat so ekelhaft
massiert, dass die Wehen stärker werden, ich hab gedacht, ich spring sie an,
das war fürchterlich.“
L: „Hast du es gesagt?“
B: „Ja, (lacht), aber das hat mir nichts genutzt. Sie hat immer wieder Pausen
dazwischen gemacht. Es war wirklich, wirklich unangenehm. [...] Es war
grausig, das war so richtig krampfartig dann, nein das war wirklich schiach.“
Ab einem bestimmten Schmerzpegel, den die Untersuchung auslöst, helfen weder
Aufklärung noch Angebote zur Kompensation. Dann wird die vaginale Untersuchung,
auch nach vorheriger Information, zum Trauma.
C: „Also, das mit der Ärztin, ich meine, das war dann wirklich Horror, also,
aber da war ich dann sowieso schon im Krankenhaus das war, ja, weil die hat
da wirklich, also überhaupt mit voller Gewalt rein und –
L: „Hat dich die Ärztin informiert?“
C: „Ja schon, sie hat gesagt, sie muss jetzt schauen, das wird jetzt weh tun,
sie muss jetzt schauen, wie er da richtig liegt, das geht nicht anders und ich
kann sie eh beschimpfen, wenn ich will (lacht).“
Auch Bergstrom (1992) stellt fest, dass auf Schmerzäußerungen nur manchmal
reagiert wird. Ist das der Fall, geschieht dies nicht direkt über das Ansprechen des
Schmerzes, sondern indirekt über den Vorschlag, etwa die Hand des Partners zu
drücken oder Ähnliches. Maßnahmen, die sich meist als ineffektiv und frustrierend
herausstellen. In einigen Fällen wird auch auf die Bitte der Frau hin, die Untersuchung zu unterbrechen, nicht entsprechend reagiert (vgl. Bergstrom 1992: 15).
70
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Manipulationen, wie das Ablösen des Eipols vor der Geburt, das MuttermundDehnen und das Aufmassieren des Muttermundes gehen zwar nicht immer, aber
tendentiell mit Schmerzen einher und zwar auch dann, wenn die Frau grundsätzlich
damit einverstanden ist.
„Da hat er nur einmal [...] gemeint, ob er den Muttermund dehnen kann, das
würde mir eine Stunde ersparen, hab ich gemeint, ja. [...] Also, das hab ich als
überhaupt nicht schlimm empfunden. Weil er hat gemeint, das könnt ein bissl
weh tun, hab ich gemeint, ja, probieren wir es. Das war überhaupt nicht
schlimm.“ (Interview mit J)
A: „Ich wollte gern die Eipolablösung einfach weil ich Angst gehabt habe [...],
also für mich war es auch so, ich wollte bald Wehen [...], das war mir nicht
unrecht.“
L: „Hat es weh getan?“
A: „Die Eipolablösung hat ziemlich weh getan [...]. Aber das hat gepasst für
mich.“
L: „Und hat sie [Anm: die Hebamme] während einer Wehe auch einmal
untersucht?“
C: „Ja. Das war ungut. Ja, das war schon schmerzhaft.“
Die Geburten von C und F, die mit Vakuumextraktion und Kristeller-Handgriff
endeten werden von beiden Frauen als gewaltsam und schmerzhaft geschildert.
Informationen über das was getan wird haben ebenfalls beide Frauen erhalten.
„Du hast das Gefühl gehabt, dass sieben Leute auf meinen Bauch rauf und
drücken da mit. [...] Das haben sie mir schon gesagt, dass sie mithelfen aber
es war trotzdem arg in dem Moment dann, es war sowieso arg in dem
Moment.“ (Interview mit F)
Auch Maßnahmen nach der Geburt werden von den Frauen häufig als schmerzhaft
geschildert. Die Gewinnnung der Plazenta, die Inspektion des Introitus, das
Ausmassieren von Blutkoageln aus der Gebärmutter und das Nähen einer
Geburtsverletzung waren bei einigen Frauen mit großen Schmerzen verbunden, die
kaum zu tolerieren waren.
„Und diese Assistentärztin [...] hat voll viele Nähte gemacht [...] dann hat sie
schon zwei Mal die Nerven weggeschmissen [...] das war ungut. Und vor
allem auch dieses Untersuchen, ob alles draußen ist oder sowas, kann das
sein? Ja, ich weiß nur, die Hebamme hat mich dann untersucht und das hat
furchtbar weh getan. Was sie da genau geschaut hat?“ (interview mit E)
„Und immer wieder dieses Reingreifen und dieses, dieses, na das Nähen.“
(Interview mit K)
71
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Bei den aufgenommenen Interviews lässt sich allgemein die Tendenz ablesen, dass
die Nachgeburtsphase von weniger Empathie begleitet wird als die Geburt des
Kindes und die Achtsamkeit gegenüber der Gebärenden und ihrem Neugeborenen
nachlässt.
Insgesamt hat sich herauskristallisiert, dass das Geburtserlebnis mitgeprägt ist von
der Summe an körperlichen Schmerzen, die eine Frau unter der Geburt erfahren hat.
4.7.3 Die Kommunikation der vaginalen Untersuchung
Ein entscheidender Faktor, wie vaginale Untersuchungen, aber auch andere
Maßnahmen während der Geburt erlebt werden, ist die Art, wie sie kommuniziert
werden. Dass in der Praxis kaum darüber gesprochen wird, hängt laut Stewart damit
zusammen, dass Hebammen und GynäkologInnen nicht gelernt haben, ein so
heikles Thema wie die vaginale Untersuchung angemessen anzusprechen.
„We didn´t talk about how to talk to the woman, about how to initiate a
conversation, we didn´t talk about how a woman might feel about being
touched. We didn´t talk about how we as midwives might feel about touching a
woman like that.“ (Interview Stewart)
Weder in der Ausbildung der MedizinerInnen, noch in der Hebammenausbildung gibt
es geeignete Lernsettings, wo Studierende in einem geschützten Rahmen lernen und
ausprobieren können, wie man intime Untersuchungen achtsam kommuniziert und
ebenso durchführt.
„And ist´s huge, it´s huge to touch another woman´s vagina. You know it could
bring up all sorts of feelings. How do I feel about myself as a woman. It´s
enormous and we never talk about it. There is so much around vaginal
examination that is completely tabu and just never ever discussed. It´s
amazing.“ (Interview Stewart)
Die Frauen werden in den meisten Fällen nicht real vor die Wahl gestellt, einer
vaginalen Untersuchung zuzustimmen oder diese abzulehnen. Rhetorisch wird
manchmal gefragt, ob die Wehende mit dieser einverstanden ist, de facto existiert die
Möglichkeit, diese abzulehnen kaum. Stewart beschreibt diesen Umstand mit einem
Fallbeispiel aus ihrer Forschungsarbeit:
„It was another primiparous woman and she took the opportunity to ask me a
few questions and asked how often they [Anm: the vaginal examinations]
would be done and I said usually they are three or four hourly, but you have to
agree to it. And she, I really can recall so clearly the amazement in her voice,
72
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
when she said ‚you mean I have a choice?’ And this was a well educated, a
middle class woman who had been to classes and she thought, that she didn´t
have any choice about someone, she didn´t know sticking two fingers in her
vagina and I was just so, I found that such a sad comment [...], she didn´t
think it was, but I thought.“ (Interview mit Stewart)
„Bei der ersten Geburt hätte ich mir, glaub ich alles gefallen lassen, weil da
war ich unerfahren.“ (Interview mit H)
Selbst wenn eine Frau eine vorgeschlagene Maßnahme ablehnt ist nicht gesichert,
dass diese nicht stattfindet.
Bei A wollte die Hebamme eine Muttermundmassage mit Belldonna-Zäpfchen23
durchführen. A lehnte das ab. Eine Stunde später, nach der nächsten vaginalen
Untersuchung, die einen nur wenig veränderten Befund ergab, der A sehr
enttäuschte, führte die Hebamme die Muttermundmassage durch.
„Da hat sie mir dann Belladonna einmassiert und das war echt, also das war
einfach ganz schiach. Also die hat zwei Wehen lang massiert und ich bin am
Rücken gelegen (..) und das habe ich gar nicht ausgehalten.“ (Interview mit A)
„The midwife wanted to do a vaginal examination and the woman did consent
but as the midwife started to do it, the woman became very distressed and
said ‚please stop’ and the midwife carried on. She said ‚I will just be quick, I
will just be quick`“. (Interview mit Stewart)
Der Umstand, dass vaginale Untersuchungen als routinemäßige Konrtollmaßnahmen
durchgeführt werden, kann auch damit in Zusammenhang stehen, dass gerade
Hebammen ihrerseits unter Druck stehen, ihre Dokumentation korrekt machen zu
müssen und schon aus forensischen Gründen nicht die reale Möglichkeit haben, eine
Geburt ohne vaginale Untersuchungen zu begleiten.
Stewart meint, dass, wenn eine Hebamme nicht regelmäßig vaginal untersucht, eine
andere kommen und die Untersuchung machen würde. In Österreich wären dies
unter Umständen die GeburtshelferInnen, die dann eingreifen und untersuchen
würden.
And some of the midwives are very, very bullying so that they say, ‚why
haven´t you done a vaginal examination and if you don´t do I´ll come in and do
it’. And you have to be such a strong midwife to say no. Because always in the
23
Belladonna-Suppositorien sind mit dem Wirkstoff der Tollkirsche versehene Vaginal-Zäpfchen, die
an die Zervix gelegt werden, um den Muttermund weicher zu machen. Da diese Zäpfchen in der
Scheide schnell cremig werden, eignen sie sich auch für eine entsprechende Massage des
Muttermundes.
73
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
back of your mind you are thinking ‚what if something goes wrong, what if
something goes wrong, this is the end of my career` and so [the midwife] pulls
off the vaginal examination because it´s safer.“ (Interview mit Stewart)
Sprachlich äußert sich das pro forma Einholen eines Einverständnisses in
Formulierungen wie
„Jetzt würde ich gern wieder einmal nachschauen, passt das?“
(Interview mit E)
Stewart meint dazu, dass in England häufig mit einem langgezogenen o k a y am
Ende des Satzes, der eine vaginale Untersuchung vorschlägt, das Einverständnis
der Frau auf eine Weise eingeholt wird, die es ihr schwer macht, zu widersprechen.
Auch die Phrase ‚I´m just’ wird in ähnlicher Weise eingesetzt und dieses ‚ich tue nur
gerade mal eben schnell’, das in dem ‚just’ enthalten ist macht es schwierig,
abzulehnen (vgl. Stewart in: Simkin et al 2012: 158) Stewart sagt ganz klar:
„It really is not OK, to ask a question this way – it assumes that the woman
will acquiesce to whatever is beeing requested, rather than giving her the
opportunity to make a choice, free from any coercion or expectation. „ (Stewart
in: Simkin et al. 2012: 158)
Dass über eine vaginale Untersuchung ausführlich aufgeklärt wird, dass diese
begründet wird, und dass im Anschluss an die Untersuchung ein Befund mitgeteilt
wird, ist für manche Frauen sehr wichtig, für andere weniger.
„Die Untersuchungen haben mich eigentlich nie gestört, ah, was mich gestört
hat war, dass wir grad bei der ersten Geburt nicht besprochen haben, was
jetzt daraus folgt.“ (Interview mit G)
L: „Haben sie dir auch das Ergebnis mitgeteilt?“
J: „Ja, hab zwar meistens nichts damit anfangen können, hab nur gefragt, ist
das ok oder nicht ok.“
Die Tatsache, dass Maßnahmen durchgeführt werden ohne explizites Einverständnis
der Frau, betrifft in den Interviews auch andere Eingriffe, wie beispielsweise den
Einlauf oder das Setzen einer Venenverweilkanüle.
L: „Und gibt´s außer den vaginalen Untersuchungen, wenn du dich jetzt
zurückerinnerst Sachen, oder Maßnahmen, wo du das Gefühl hast, dass dich
das in deiner Intimsphäre gestört hat? [...]
H: „Ja, bei den ersten zwei Kindern ist jeweils noch ein Einlauf gemacht
worden. Das ist bei ihr schon nicht mehr gemacht worden weil da hat´s
geheißen, das macht man nicht mehr.“
L: „Und bist du gefragt worden, hast du dir das aussuchen können?“
74
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
H: „ Das weiß ich jetzt nicht, nein, eigentlich hat es geheißen, es wäre gut,
wenn man Einlauf macht, damit es schneller geht, und dann sagst eh nicht
mehr nein.“
„Dann ist so eine Assistenzärztin dahergekommen, die hat mir dann zwischen
den Presswehen den Venflon24 gemacht und das war supergeschissen, also
das war so deppert und so unnötig, weil das war gefühlt fünf Minuten bevor er
da war.“ (Interview mit E)
Im Nachhinein wissen Frauen eventuell gar nicht mehr, was sie selber wollten und
was einfach gemacht wurde.
L: „Aber den Einlauf wolltest du?“
A: „Ich kann das gar nicht sagen ob ich das wollte oder nicht. [...] Ich habe
jetzt nicht gebeten drum. Mhm (...), es war generell so, dass ich, ich will das
jetzt überhaupt nicht schlecht reden, aber dass so recht eine
Selbstverständlichkeit von ihr ausgegangen ist, so jetzt tun wir das, jetzt tun
wir das, was recht eine Sicherheit einerseits gibt, aber ich habe einfach nicht
nachgedacht, will ich das oder will ich das nicht.“
Frauen schätzen es sehr, wenn sie gefragt werden. Ein Faktor, der sich deutlich
positiv auf das Geburtserlebnis insgesamt auswirkt.
„Also, ich bin immer gefragt worden. Es war eben nicht so, dass man eben
gesagt hätte, das ist immer nach so einem gewissen Schema abgelaufen
sondern [...] sie war immer, sie hat mich einfach genau beobachtet, das war
nicht so, dass sie eine Minute im Zimmer war und dann gesagt hat, jetzt tun
wir das und das, sondern sie ist wirklich dann einmal, zehn Minuten ist sie
einmal da gewesen und hat dann geschaut, und ist einfach da geblieben.“
(Interview mit D)25
Je klarer geplante Eingriffe kommuniziert werden, desto besser werden sie toleriert.
Sehr geschätzt wird es, wenn eine bevorstehende Maßnahme so angkündigt wird,
dass die Frau die Zeit hat, sich darauf einzustellen.
„Meistens haben sie gesagt, wir kommen dann und dann wieder, so in einer
halben Stunde oder so, dann tun wir noch einmal tasten. Und dann sind sie
halt immer gekommen.“ (Interview mit B)
„Also, sie haben überhaupt immer, finde ich, relativ klar immer gesagt, was wir
jetzt als nächstes machen oder wie lange wir wieder mal Zeit haben.“
(Interview mit B)
24
Anm: der Venflon wurde zum 2.Mal gelegt, weil der erste sich gelöst hatte
Anmerkung: Die Hebamme hat D auch angeboten, den Muttermund aufzudehnen, D hat abgelehnt
und die Dehnung wurde nicht durchgeführt.
25
75
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Selbst bei operativen Geburtsbeendigungen sind Aufklärung und Einholen eines
Einverständnisses nicht Standard. Die zwei Frauen, die eine sekundäre Sectio hatten
wurden zumindest aufgeklärt und um ihr schriftliches Einverständnis gebeten. Bei
den Frauen, die mit Hilfe einer Vakuumextraktion ihr Kind zur Welt gebracht haben,
wurde nur informiert, aber keine Einwilligung abgewartet. Zwei der befragten Frauen
wissen auch nicht, ob bei ihnen eine Episiotomie geschnitten wurde, sie wissen nur,
dass sie nach der Geburt genäht wurden.
Dem Standard der evidenzbaiserten Medizin entspricht ein Entscheidungsfindungsmodell, das als shared decision making (partizipative Entscheidungsfindung)
bezeichnet wird. (vgl. Schönberner et al. in: Deutscher Hebammenverband 2010).
„In diesem Modell sind „Informations- und Entscheidungsmacht auf Hebamme und
Schwangere gleichermaßen verteilt.“ (Schönberner et al. in: Deutscher
Hebammenverband 2010: 27) Information fließt in beide Richtungen,
Entscheidungsfindungeprozesse werden auf Augenhöhe gemeinsam gestaltet. Beide
sind für den Prozess verantwortlich und mit der getroffenen Entscheidung
einverstanden.
„Dies bedeutet einen Abschied vom bisher weitgehend üblichen
paternalistischen Modell, in dem Professionelle über die Art der
Behandlung/Betreuung der Schwangeren bzw. der Information hierüber
entscheiden.“ (Schönberner et al. in: Deutscher Hebammenverband 2010: 27)
Die Kommunikation in den aufgenommenen Interviews, die Art und Weise wie
Entscheidungen herbeigeführt werden und wie mit informationen umgegangen wird,
entspricht weitgehend einem solchen paternalistischen Schema. Auch wenn die
Frauen mitunter um ihre Zustimmung zu einer bestimmten Maßnahme gefragt
werden, liegen Informationsmacht und die Entscheidungsgewalt eindeutig in der
Hand des medizinischen Pesonals.
4.7.4 Die Bedeutung der Beziehung zur Hebamme
Noch immer dominiert bei uns die „physische Ausrichtung der Geburtsmedizin“
(Schönberner et al. in: Deutscher Hebammenverband 2010: 20). Wie wichtig die
Berücksichtigung der psychosozialen Bedürfnisse einer Gebärenden und ihres
Umfelds für die Geburtsarbeit ist, wird, so der Tenor der Interviews, manchmal nicht
ausreichend ernst genommen. Es gibt eine Fülle von Aspekten, die beim Aufbau
einer tragfähigen Beziehung zwischen Gebärender und Hebamme zu
76
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
berücksichtigen sind. Die physische und psychische Anwesenheit der Hebamme,
eine kontinuierliche Betreuung, die offene, ehrliche Kommunikation und die Wahrung
der Intimsphäre der Gebärenden sind zentrale Elemente dieses Beziehungsaufbaus.
Weiters geht es darum, die Frau in ihrer Einzigartigkeit anzuerkennen, ihre
individuellen Bedürfnisse zu respektieren und ihr den Raum und die Zeit zur
Verfügung zu stellen, die sie persönlich braucht (vgl. Schönberner et al. in:
Deutscher Hebammenverband 2010: 22, 23). Die Autorinnen fassen diese „Aspekte
der Beziehungsarbeit im Hebammenhandeln“ (Schönberner et al. in: Deutscher
Hebammenverband 2010: 22) in einer anschaulichen Skizze zusammen:
Abbildung 6: Aspekte der Beziehungsarbeit im Hebammenhandeln (vgl. Schönberner a.a.O.)
Hildebrandt (2010) verwendet hierfür den Begriff der ‚beziehungsgeleiteten
Geburtshilfe’ und geht davon aus, dass alle Beziehungen und Beziehungskonstellationen im Umfeld einer Gebärenden die Geburt beeinflussen. Das gilt für die
Beziehung der Mutter zu ihrem Kind, zu ihrem Partner und zu Hebammen und
GeburtshelferInnen. Die Rolle des Partners, wie auch die der GynäkologInnen, wird
als mitunter problematisch bezeichnet, die Hebamme hingegen „gehört seit
Menschengedenken zum System der Geburt.“ (Hildebrandt 2010: 72)
Seine Zukunftsvision einer neuen Geburtshilfe ist die einer „beziehungsgeleiteten
Geburtskultur“ (Hildebrandt 2012: 109). Da die meisten Geburtskomplikationen in
77
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
den Industrieländern durch „eine Störung der Beziehungswelt im Umfeld der
Schwangeren“ (Hildebrandt 2012: 112) ausgelöst werden, ist der wichtigste
Sicherheitsfaktor für eine komplikationsfreie Geburt die „Stabilität des psychosozialen
Bindungs- und Beziehungssystems.“ (Hildebrandt 2012: 112)
Wie die Gebärende das wiederholte vaginale Untersuchen oder andere
geburtshilfliche Maßnahmen empfindet, hängt also von der Beziehung und dem
Vertrauensverhältnis ab, das sie mit ihrer Hebamme bzw. ihrer/ihrem GeburtshelferIn
aufgebaut hat. Ein gutes Einvernehmen mit den sie betreuenden Menschen, aber
auch ein gutes Verhältnis dieser Personen untereinander ist eine
Grundvoraussetzung dafür, dass Frauen sich auf das Geburtsgeschehen einlassen
und sich in die Hände ihrer GeburtsbegleiterInnen begeben können.
In acht Interviews war die Beziehung zur betreuenden Hebamme entscheidend für
das Erleben der vaginalen Untersuchungen und anderer Maßnahmen unter der
Geburt. In zweien war die Beziehung zur/zum GeburtshelferIn ausschlaggebend.
Wenn die Gebärende im Krankenhaus von einer ihr unbekannten Person in Empfang
genommen wird, ist der erste und wesentliche Schritt, dass ein Beziehungsaufbau
zustande kommt. Gelingt dieser, weicht eine natürliche Zurückhaltung und Skepsis
einem Vertrauen, welches in weiterer Folge eine gute Zusammenarbeit ermöglicht.
„Also bei der ersten Tochter hab ich eine extrem liebe Hebamme gehabt, das
war die G., das weiß ich heute noch. Also die war wirklich, da war ich am
Anfang auch immer skeptisch weil sie halt, sie war sehr jung [...] und sie war
einfach so, auf der einen Seite so zurückhaltend, weil sie hat immer gesagt,
ihr machts das so super und wenn irgendwas ist, dass holts mich halt und
sonst will sie sich gar nicht viel einmischen. Auf der anderen Seite [war sie] so
bestimmend auch, was man halt bei der ersten Geburt schon braucht. Genau,
genau, das hat mir echt gut gefallen.“ (Interview mit D)
„Und dann ist die Hebamme gekommen, die hat das dann gemacht [Anm.: die
vaginale Untersuchung], war ok. Die war sehr nett, und kleine zierliche Finger
(lacht). [...] Dann hat sie uns gleich das Kreißzimmer gegeben und da haben
wir uns dann gleich häuslich eingerichtet. (Interview mit B)
K hatte in der zweiten Schwangerschaft, bedingt durch ihre Hypertonie, mit Ängsten
zu kämpfen und konnte diese über ein vertrauensvolles Gespräch am Telefon
deutlich reduzieren.
„In der Schwangerschaft, da habe ich dann schon ein paar mal so richtige
Ängste gehabt [...] dann waren wir mal auf Urlaub, da habe ich so eine Angst
78
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
gekriegt irgendwie und da hab ich mitten in der Nacht dann angerufen in der
Ambulanz, sie haben gesagt, ich kann rund um die Uhr anrufen (lacht), habe
ich gleich um elf angerufen. Da war eine Ärztin, die hat mir richtig, mit mir
gesprochen, mich beruhigt und mich gefragt und so und so. Das war so eine
Blutdruckangst irgendwie. Aber das war auch gut dort.“ (Interview mit K)
Vor der Geburt war sie mehrere Tage stationär und hat das ebenfalls sehr positiv
erlebt, weil es ihr die Möglichkeit gab, Beziehungen aufzubauen, was für sie, die von
sich selbst sagt, dass sie ein bisschen schüchtern ist, besonders wichtig war.
„Da war ich zirka vier Tage damals dort, genau, auf der Geburtenstation. Das
war total super, das war total super weil ich hab das Ganze, das ist total
super, dass die Geburtenstation und der Kreißsaal [...], ich habe die dann alle
schon gekannt, ja, ja das ganze Team [...] Einfach wie der ganze Ablauf ist,
die Zimmer und das Essen und die Nachtschwestern einfach, ich habe alles
schon gekannt, alle Hebammen, alle Ärzte. [...] Ja es hätte mir nicht besser
[passieren können].Ich habe dann, ja so wie eine Wahlhebamme habe ich
dann gehabt.“ (Interview mit K)
Sehr hilfreich ist es, wenn die Frau ihre Hebamme schon kennt, wie es in der
Hausgeburtshilfe oder bei der Wahlhebammengeburt der Fall ist.
E nahm zur Geburt ihre enge Freundin, die Hebamme ist, als Begleitperson ins
Krankenhaus mit.
„Und die Hebamme, die war auch da, die ist wirklich eine sehr enge Freundin
von mir.“(Interview mit E)
Ich muss sagen, ich war in den ersten Stunden auch ein bissl gereizt, ein bissl
unnahbar. Also ich wollt nur den S [Anm.: Partner] und die M [Anm.:Freundin
von E die Hebamme ist] und sonst niemanden.“ (Interview mit E)
Auch wenn eine Gebärende ihre/n GynäkologIn zur Geburt mitnimmt, kann das die
Geburtssituation erleichtern. J ging ganz bewusst in das Krankenhaus, wo ihr
Gynäkologe Primararzt war.
„Weil mein Arzt war der Primar vom Krankenhaus.“ (Interview mit J)
„Ich war die ganze Schwangerschaft bei ihm [...], den hab ich schon gekannt,
hab seine Macken gekannt, hab gewusst ich muss ihn erinnern, dass er die
latexfreien Handschuhe braucht und so.“ (Interview mit J)
„Dann ist um halb neun mein Arzt gekommen, im dunklen Anzug, mit weißem
Hemd und stellt sich neben mich und meint ‚Frau Magister, wir schaffen das’.“
(Interview mit J)
79
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Dadurch, dass sie den Arzt gut kannte, waren die Hebammen nicht so wichtig.
„Aber sie [Anm.: die Hebammen] haben eh, sie waren eh total nett nur, ich hab
die Hebamme eigentlich nicht gebraucht.“ (Interview mit J)
Vaginale Untersuchungen sind, wenn die Beziehungsebene stimmt, Maßnahmen, die
gut toleriert werden und die den Frauen nach der Geburt kaum erinnerlich sind.
Beispielsweise kann sich D, die bei beiden Kindern eine Hebamme hatte, mit der sie
gut zurechtkam, an keine einzige vaginale Untersuchung erinnern, die sie nachhaltig
gestört hätte.
„Und sie [Anm.: die Hebamme] hat mich schon ein paar Mal untersucht, aber
das war jetzt nicht irgendwie, nicht so, und auch nicht so jede Stunde, nein.
Also ich glaub, alle drei Stunden vielleicht oder so, also, wie es mir halt
gegangen ist. Sie hat einmal gesagt, sollen wir nachschauen und, ja genau sie
hat immer nachgefragt. Sie hat nie untersucht ohne dass sie es angekündigt
hat, nein, überhaupt nicht, also sie war wirklich - “ (Interview mit D)
Hebamme oder GeburtshelferIn schon zu kennen ist jedoch keine Garantie für ein
gutes Zusammenwirken unter der Geburt.
F wählte die Geburtsklinik, weil ihre Gynäkologin, zu der sie einen guten Kontakt
hatte, dort Oberärztin war. Zum Zeitpunkt der Geburt war die Oberärztin auf Urlaub.
Sie konnte zu den dortigen Hebammen und FachärztInnen keine gute Beziehung
aufbauen und hatte die ganze Geburt hindurch das Gefühl, sich gegen geplante
Interventionen wehren zu müssen. Diese Störungen waren so massiv, das F die
vaginalen Untersuchungen als - im Vergleich zu anderen Aktionen - harmlos erlebt
hat.
„Ich habe nicht das Gefühl gehabt, ich bin so oft untersucht worden, eben, weil
die mir so zuwi´gstiegen sind und ich sie eher immer weggestoßen habe.“
(Interview mit F)
„Ich habe da dann während der Geburt ständig diskutieren müssen, dass sie
mir keine weheneneinleitenden Mittel geben und so. Also ich habe ständig
irgendwie schauen müssen, dass die das Zeug von mir wegtun.“
(Interview mit F)
Hinzu kam, dass das geburtshilfliche Personal sich in seinen Ansichten gegenseitig
widersprach, was zu einem Vertrauensverlust und dem Gefühl, die Situation
kontrollieren zu müssen, führte.
„Vor Mitternacht irgendwie, die [Anm.: Hebamme] war lieb und alles und die,
da habe ich mich schon betreut gefühlt, ja, aber nachdem dann die nächste
80
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Hebamme irgendwie gesagt hat nein, das ist ein Blödsinn quasi, was die
gesagt hat (.). Die eine Hebamme, die hat ja so gemeint, es passt schon, es
passt mit dem Fortschritt irgendwie. Es geht halt langsam, das ist die Geburt,
aber es passt alles. Ich habe mich erleichtert gefühlt. Und die nächste hat
dann, nein es geht überhaupt nichts, wir müssen etwas geben, und hat mir
dann quasi verdeutlicht, ok, was die erste gesagt hat, das ist ein Vollblödsinn,
ja (lacht) und irgendwie, wieder das: der eine sagt das, und der nächste sagt
das und such es dir aus, ja, was jetzt passt und was richtig sein soll.“
(Interview mit F)
Das heißt, dass auch alle anderen Beziehungen zwischen den Menschen, die in eine
Geburt involviert sind, von Bedeutung sind. Wenn Hebammen sich untereinander
oder mit den ÄrztInnen nicht einig sind - das kann zum Beispiel auch erhobene
Befunde bei einer vaginalen Untersuchung betreffen - bekommt die Gebärende das
zu spüren.
„Und was wahrscheinlich auch ein bissl ein Problem war, finde ich, das war
vorher schon die ganze Zeit für mich ein Problem, dass man eigentlich bei den
ganzen Untersuchungen, die ich da ständig gehabt habe, dass jeder etwas
Anderes gesagt hat, [...] teilweise waren es widersprüchliche Aussagen, so
dass ich mich total überfordert gefühlt habe. Ich habe mir gedacht, was tu ich
jetzt, irgendwie?“ (Interview mit F)
„Es ist einfach alles insgesamt ein bissl blöd gelaufen und so die
Vertrauensperson, die ich eigentlich, die so mein Anker war, die Frauenärztin,
die war zu der Zeit auf Urlaub.“ (Interview mit F)
Frauen, die ihre Hebamme schon kennen, sei es, weil sie eine Hausgeburt planen
oder mit Wahlhebamme ins Krankenhaus gehen, verlassen sich oft
selbstverständlich auf das, was sie ihnen sagt .„Und doch birgt die Qualität der
Beziehung zwischen der Gebärenden und ihrer Hebamme jede Menge Potential, den
Geburtsverlauf zu blockieren.“ (Hildebrandt 2010: 72)
Unter der Geburt wird diese Beziehung auf die Probe gestellt, und nicht immer
passen die Erwartungen von Hebamme und Gebärender zusammen.
„Sie hat aber dann, aber, was mich im Nachhinein oder, ich habe auch schon
während der Geburt kein gutes Gefühl dabei gehabt, sie hat die Fruchtblase
dann geöffnet. Und das war, glaube ich, ein Fehler. [...]
Man weiß es nicht, man weiß es nicht aber ich habe auch während der Geburt
irgendwie kein gutes Gefühl gehabt, aber ich habe mir gedacht, ich vertraue
ihr, sie ist meine Hebamme.“ (Interview mit C)
Ist diese Beziehungsebene von Anfang an labil oder kommt es im Lauf der Geburt
Verunsicherung, löst das Stress aus. Die Gebärende hat das Bedürfnis, den
81
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Überblick zu bewahren, sie ist misstrauisch, besorgt oder ängstlich. Diese Emotionen
bewirken eine vermehrte Ausschüttung von Andrenalin und erschweren damit einen
physiologischen Geburtsverlauf.
„Es ist bewiesen [...] daß ein niedriger Adrenalinspiegel die Eröffnungsphase
der Geburt oft erleichtert und beschleunigt. Allgemein gesagt, jede Hebamme
weiß, daß eine Situation, die den Adrenalinspiegel heben kann – Furcht, Kälte
und so weiter – die Eröffnungsphase erschwert.“ (Odent 1992: 44)
Stewart weist darauf hin, dass es für die Hebamme meistens unangenehmer ist, eine
Frau vaginal zu untersuchen, wenn sie mit ihr in einem Vertrauensverhältnis steht,
weil sie sich der Invasivität ihrer Handlung dann bewusster ist und die Beziehung
nicht gefährden möchte. Das könnte den positiven Effekt haben, dass sie, um diese
Untersuchung möglichst zu vermeiden, sich mehr auf ihre anderen Möglichkeiten zur
Beobachtung des Geburtsverlaufs konzentriert. Auch sie selbst hat das so erlebt.
„Because I was providing care to the women that I knew, that I got to know
through pregnancy, I think I was just more conscious of how invasive a vaginal
examination is and so I didn´t want to do it. Yes, it seemed harder to do that
unless I had really good reason to do that. I didn´t want to do it, just because
there was a timetable that said I should do it.“ (Interview mit Stewart)
So ist es doch immer wieder die Uhr, die für eine Viezahl an vaginalen
Untersuchungen verantwortlich ist.
4.7.5 Die Zeit als bestimmender Faktor für die Untersuchungsfrequenz
Wie bereits dargestellt26, hat die Zeit in der Geburtshilfe eine besondere Bedeutung.
„Ich weiß nicht, sie haben mir irgendwie dieses Gefühl vermittelt, dass es
irgendwie zu langsam geht.“ (Interview mit F)
Nichts scheint Entscheidungen mehr zu beeinflussen als die tickende Uhr. Dadurch
fühlen sich auch die Gebärenden unter einem Zeitdruck, der nicht von ihnen selbst
kommt, sondern von Seiten der Hebammen oder GeburtshelferInnen. Die
allgegenwärtige Angst vor dem protrahierten Geburtsverlauf verleitet sie zu aktivem
Intervenieren in Situationen, in denen es nicht indiziert ist. Immer wieder wird die
vaginale Untersuchung damit begündet, dass es wieder Zeit ist und Maßnahmen wie
Einlauf oder Muttermund-Dehnen, Massagen mit Wehenöl etc. werden gemacht,
damit es schneller geht.
26
Vgl. Kapitel 3.2 und 3.8
82
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Steht das Tempo einer Geburt im Vordergrund, erzeugt das auch in physiologischen
Geburtssituationen einen unterschwelligen Druck, der sich kontraproduktiv auf den
weiteren Verlauf auswirkt. „Wehenschwäche und rigider Muttermund sind meistens
die Folge des Gefühls, vernachlässigt zu sein“ (Rockenschaub 2001: 377), so
Rockenschaubs Erklärung für das weit verbreitete Phänomen der protrahierten
Geburt.
Von den berichteten zehn Erstgeburten hatten fünf laut Aussagen der Frauen
protrahierte Geburtsverläufe. In allen diesen Fällen wurden die Wehen mit Oxytocin
verstärkt, zwei dieser Frauen hatten eine sekundäre Sectio, zwei eine
Vakuumextraktion mit Kristeller-Handgriff und eine gebar nach zweimaliger
Fetalblutanalyse spontan in Sectiobereitschaft. Sogar in dem Interview mit der Frau,
die ihr Kind zu Hause auf die Welt brachte und wo keine Krankenhausrichtlinien mit
ihren Zeitvorgaben den Geburtsprozess steuerten, ist Zeitdruck spürbar. Diese
Primipara hatte zwar keinen protrahierten Geburtsverlauf27, aber das deutliche
Gefühl, zu langsam zu sein. Die Hebamme war in diesem Fall sehr aktiv und hat die
Gebärende mit einer Vielzahl von Maßnahmen durch die Geburt geführt.
„Grundsätzlich bin ich mir einfach ein bissl (.) getrieben vorgekommen, oder
nein, getrieben ist vielleicht auch falsch, eher so (...) ich habe das Gefühl
gehabt, es sind alle Beteiligten, nein alle Beteiligten auch nicht, eher (.) eher
die Hebamme (lacht ein wenig) ein bissl genervt, dass es so lang dauert (.)
also weil halt ständig, es ist halt, sie hat mir voll oft den Bauch mit Wehenöl
eingerieben...“ (Interview mit A)
„Und dann habe ich, ja und dann habe ich so nachgerechnet. Eigentlich war
eh alles komplett normal. Ich habe das immer so im Kopf gehabt, da tut sich
nichts, da geht nichts weiter.“ (Interview mit A)
„So das ein bisschen getrieben werden und das Gefühl, dass ich zu langsam
bin, das ist ein bisschen geblieben.“ (Interview mit A)
Arbeitet eine Hebamme nach der Uhr und richtet sie ihre Maßnahmen primär an
dieser aus, muss sie sich eine fachliche Kritik von Stewart gefallen lassen:
27
Die Geburt dauerte 15 Stunden
83
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
„The midwives who follow a timetable and don´t talk to the woman and say‚ I
just need to do this o k a y?’ They are not bad people, you know, but equally
they are not showing best practice at all.“ (Interview mit Stewart)
Einige Frauen erzählen von ungestörten Wehenphasen, in denen sie das Gefühl für
die Zeit völlig verlieren.
„Das Zeitgefühl ist dann, ich hab nämlich, ich hab nämlich meinem Mann nach
der Geburt gesagt, der Primar war doch maximal fünf Minuten jetzt da. Und er
hat gesagt, nein, er war jetzt eineinhalb Stunden da.“ (Interview mit J)
Das sind Phasen, in denen sie die Wehen zwar stark und teilweise schmerzhaft
spüren, in denen es aber „voll gemütlich“ (Interview mit A) ist und sie nichts und
niemanden brauchen. Unterbrochen werden diese Phasen dann in der Regel von
Maßnahmen, wie der vaginalen Untersuchung oder dem Herausholen der Frau aus
der Badewanne, um zu „sehen, ob was weitergeht.“ (Interview mit G). Vielfach
kommen die Frauen dann nicht mehr in ihren Rhythmus und es fängt an, schwierig
zu werden. Die Wehenschmerzen werden stärker und insbesondere nach einem
Vaginalbefund, der den Erwartungen nicht entspricht, drängt sich dieses Gefühl auf,
zu langsam zu sein.
„Also, das war sehr gemütlich. Genau, und da ist die Zeit voll schnell
vergangen weil also, sie hat dann irgendwann zu mir gesagt, sie wird jetzt
wieder untersuchen. [...] Also, das war halt das einzige Mal, dass ich ein voll
gutes Gespür (lacht) für mich gehabt hab.“ (Interview mit A)
Die schönsten Erinnerungen im Zusammenhang mit Geburt sind bei allen
interviewten Frauen die Phasen, wo man ihnen einfach Zeit gelassen hatte.
„Da haben sie uns voll Zeit gelassen. Meinem Mann und mir und unserer
großen Tochter, wir waren eben, wir waren da mehr als zwei Stunden im
Kreißsaal im Bett und alles, sie haben uns halt irgendwie Zeit gelassen, ja,
miteinander. [...] Es war schön.“ (interview mit K)
4.7.6 Die psychische Komponente vaginaler Untersuchungen
Psychische Konstitution und Grundbedürfnisse dominieren unsichtbar, wie die
Kettfäden eines gewebten Stoffes, das Geburtsgeschehen und das Geburtserleben.
Jede Frau ist in ihrer Geschichte und Persönlichkeit einzigartig. Dadurch ist es nicht
möglich, Betreuungsmodelle objektiv zu bewerten. Passen Grundbedürfnisse und
gewählte Betreuungsform zusammen und entspricht diese den Erwartungen der
Gebärenden, werden Maßnahmen und Interventionen gut angenommen. Dabei
84
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
zeigen die zehn Interviews deutlich, dass das was für die eine gut ist, für die andere
nicht unbedingt gut sein muss.
So stellt J, die großes Vertrauen in die Schulmedizin hat, als oberstes
Grundbedürfnis die Sicherheit in den Vordergrund und wählt Geburtsort und
Versorgungsmodell so, dass sie ihrem Anspruch, höchstmögliche Sicherheit zu
garantieren, gerecht werden.
„Ich vertrau meinen Ärzten.“ (Interview mit J)
In ihrem Fall passten ihre Erwartungen mit der tatsächlichen Situation gut
zusammen. Sie fühlte sich sicher und kam mit allen Maßnahmen und Interventionen,
auch mit den vaginalen Untersuchungen, gut klar. Die vertraute Umgebung war für
sie zweitrangig.
„Man weiß es nicht und ich hab gesagt, ich will lieber das Krankenhaus mit
allem daneben haben, ja, falls irgend etwas passiert.“ (Interview mit J)
„Dann hab ich mir gedacht, Kreißsaal, wozu schau ich mir den Kreißsaal an,
dann ist er vielleicht besetzt oder hin oder her, ist mir wurscht. Hebamme im
Krankenhaus hab ich jetzt auch nicht kennengelernt, weil ich hab mir gedacht,
was ist, wenn die dann keinen Dienst hat, dann hab ich erst recht wieder eine
andere. Die Hebamme, die mit mir dann bis zum Ende der Geburt gegangen
ist, war super.[...] Die im anderen Krankenhaus war auch nett. Die waren alle
nett; einfach dadurch, dass ich die einzige Privatpatientin war. Die waren
bemüht und alles.“ (Interview mit J)
G hatte das Gefühl, ihre Hebamme mache zu wenig. Das hat massive Ängste
ausgelöst.
„Sie [Anm.: die Hebamme] hat es einfach laufen lassen.“ (Interview mit G)
„Sie [Anm.: die Hebamme] hat das Leben von meinem Kind aufs Spiel
gesetzt.“ (Interview mit G)
A hatte das Gefühl, ihre Hebamme mache eher zu viel. Das betraf auch die Zahl an
vaginalen Untersuchungen. Das hat bei ihr, trotz einer insgesamt positiven
Erinnerung an die Geburt, doch den Eindruck hinterlassen, dass die Geburt eher von
außen gesteuert wurde als von ihr selbst.
„Eine recht selbstbestimmte Geburt war es nicht, aber vielleicht hätte ich das
eh nicht anders geschafft“ (Interview mit A)
85
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
„Ich habe mich nämlich auch ganz oft entschuldigt, ich hab voll oft gesagt, ‚es
tut mit leid, es tut mir leid. Also dass ich zu viel rede tut mir leid und dass es so
lang dauert tut mit leid. Also es hat mir alles leid getan (seufzt). Und ich
glaube, das habe ich alles nur gesagt, damit endlich einmal wer sagt, das
macht nichts, es passt schon so.“ (Interview mit A)
Sehr deutlich spiegelt das einerseits das Bedürfnis einer Gebärenden wieder, dass
alles so sein darf, wie es ist. Andererseits steckt auch eine Sehnsucht nach
Zuwendung, Lob und Empathie dahinter.
„Was ich glaube, was ich auch noch mehr gebraucht hätte ist einfach so (..)
ein bisschen emotionale Hilfe noch (.) Mhm. (Interview mit A)
Für jemanden, der sensibel oder schüchtern ist, ist das Wesentliche eine
Atmosphäre des Vertrauens, weil es in diesem Fall das ist, was gleichzeitig
Sicherheit vermittelt. Fühlt eine Frau sich in der vertrauten Umgebung sicherer, wählt
sie ein Betreuungsmodell, das möglichst viele vertraute Komponenten enthält wie die
Hausgeburt oder die Geburt mit Wahlhebamme.
„Es ist alles gut gegangen, ah, also da hat sie schon eingegriffen aber ich
habe es eigentlich unterstützend gefunden. Also, ich habe immer gewusst,
warum sie es tut. Und das, sie hat auch gespürt, was ich brauche. Das war
eigentlich sehr gut. [...] Ja, ich muss sagen, diese Hebamme ist sehr gut. Die
hat das, die hat das Gefühl und da war auch immer die Kommunikation da, [...]
also ich habe dann, obwohl ich nie ins Krankenhaus wollte, nicht das Gefühl
gehabt, ich bin im Krankenhaus.“ (Interview mit G)
Auch Gaskin (2009) meint, dass die Qualität der Hebammenarbeit primär durch das
Vertrauen bestimmt wird, welches Hebamme und Gebärende einander
entgegenbringen.
„ Weil Vertrauen ein so wertvolles und großartiges Gefühl ist, müssen
Schwangere von Menschen betreut werden, denen sie vertauen. (...) Ich
glaube, die besten Hebammen sind diejenigen, die den Frauen, die sie
betreuen mit Zuneigung und Herzlichkeit begegnen. Das bedeutet, dass sie
die Frauen nicht kritisieren (...). Stattdessen erkennen sie sie so an, wie sie
sind.“ (Gaskin 2009: 184)
So wichtig es ist, dass eine Gebärende ihrem Umfeld vertrauen kann, so wichtig ist
es auch, dass ihr Vertrauen entgegengebracht wird. Psychisch destabilisierend wirkt
sich hingegen das schon wiederholt angesprochene Kontrollbedürfnis seitens des
geburtshilflichen Personals aus.
„Das war dann so ein bissl das Gefühl, so, vertrau mir doch bitte.“
(Interview mit A)
86
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Dieser Wunsch nach einem grundlegenden Vertrauen der GeburtshelferInnen und
Hebammen in die Fähigkeit der Frau, aus eigender Kraft gebären zu können, ist aus
den Interviews deutlich herauszulesen.
Eine weitere psychische Komponente, die es bei der Betreuung einer Gebärenden
zu beachten gilt, ist das physiologische Bedürfnis nach Regression. In keinem der
deutschen Hebammenlehrbücher erwähnt und in der Praxis eher belächelt, ist es
doch so, dass Frauen unter der Geburt sich manchmal wie Kinder verhalten, nach
ihrer Mutter rufen oder zumindest das deutliche Bedürfnis nach Zuwendung,
Gehalten-werden, Trost und Bemuttert-Werden zeigen. „In unsicheren Situationen
flüchten wir in Sicherheitsräume, die denen unserer frühesten Kindheit gleichen.“
(Hildebrandt, Göbel 2008: 162) Unter der Geburt befindet sich die Gebärende, so
Hildebrandt,
„in einer für sie bedrohlichen Sondersituation, in der sie den begleitenden
Berufsgruppen einen klaren Auftrag erteilt. Dieser Auftrag geht weit über die
jeweiligen Berufsbilder hinaus und lässt sich mit dem psychodynamischen
Phänomen der Regression erklären. Dabei entsteht durch Übertragung ein
klassisches Rollenmuster.“ (Hildebrandt, Göbel 2008: 12)
Der Hebamme kommt in diesem System die Mutterrolle zu. A spürte das besonders
deutlich.
„Ich habe ganz viel Nähe gebraucht und das hat mich auch sehr überrascht,
weil ich eigentlich so nicht bin.“ (Interview mit A)
„Also, ich habe viel gehalten werden müssen und so das Bemuttern hab ich
voll genossen, also das schon. Ich bin ständig abgewischt worden und trinken
und gut zureden. Das hab ich voll genossen.“ (Interview mit A)
„Und was ich, was schon auch als Gefühl geblieben ist, dass ich mich (.) recht
hilflos teilweise gefühlt habe (.). Aber (.) ja. Das ist wahrscheinlich eh normal,
so ein bissl wie ein Kind habe ich mich gefühlt.“ (Interview mit A)
Im Krankenhaus übernimmt die/der GeburtshelferIn die Rolle des Vaters.
Gemeinsam werden die beiden Berufsgruppen für die kurze Zeit der Geburt
gleichsam zu den Eltern der Gebärenden und tragen als solche gemeinsam die
Verantwortung für den Geburtsprozess.
Vor diesem Hintergrund wird einerseits deutlich wie wichtig es als Hebamme ist, die
Bereitschaft mitzubringen, vorübergehend den Part einer fürsorglichen, liebevollen
87
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
empathischen Mutter zu übernehmen. Aber auch die Koopeartion der beiden
Berufsgruppen ist entscheidend dafür, dass eine Geburt gelingen kann. Keinesfalls,
so Hildebrandt, dürfen sie „als Konkurrenten um Kompetenz und Macht auftreten.“
(Hildebrandt, Gönbel 2008: 13)
4.7.7 Die Bedeutung der Intimsphäre
Eine geschützte Intimsphäre oder wie Odent es nennt, ‚Privacy’ (Odent 1992: 9) ist
eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass die für die Geburt notwendigen
Hormone im Gleichgewicht sind und sich die Gebärende sicher und geborgen fühlen
kann.
„Um gebären zu können, muss die Schwangere einen bestimmten Cocktail
von Hormonen ausschütten. [...] Wesentlich für uns ist, daß sie alle in
derselben Drüse gebildet werden – dem Gehirn. [...] Wir könnten sagen, daß
während der Wehen die aktivste Körperregion der Frau ihr archaisches Gehirn
ist – jene sehr alten Hirnstrukturen (Hypothalamus, Hirnanhangdrüse usw.),
die wir mit allen anderen Säugtieren gemeinsam haben.“ (Odent 1999: 51)
Die Sinne einer Gebärenden sind hellwach und ihre Sensibilität gegenüber
Störungen sehr hoch. Entsprechend leicht kann dieses System durch Irritationen aus
dem Gleichgewicht gebracht werden.
In den Interviews wird immer wieder von nachhaltigen Störungen der Intimsphäre
berichtet.
K: “Das war am Vortag und das war dann wieder so bezüglich
Vaginaluntersuchung, also ich finde, sie greifen dann schon sehr gedankenlos
und leichtfertig in eine Frau hinein [...] irgendwie, ich weiß nicht, ich würde mir
da schon einen (...)“
L: „Was würdest du dir wünschen, K?“
K: „Ein Bewusstsein, dass es einfach etwas Intimes ist.“
Beispielsweise musste sich C, die während der Wehen immer in Bewegung war, für
die vaginalen Untersuchungen auf den Rücken legen. Das war für sie sehr
unangenehm und brachte sie aus dem Rhythmus.
In den Interviews kommen auch Situationen zur Sprache, in denen einzelne
Interaktionen, die nicht in Zusammenhang mit vaginalen Untersuchungen standen,
die Intimsphäre der Gebärenden störten. Diese betreffen zwar Nebenschauplätze,
werden aber gut erinnert und sehr emotional berichtet.
88
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
„Und die Hebammen waren auch super, also da hat mich nur gestört, dass ich
einmal aufs Klo gegangen bin und die Hebamme war vorher am Klo und hat
am Klo geraucht gehabt (lacht) und dann hat sie das Fenster aufgerissen und
es war saukalt und es hat gestunken.“ (Interview mit H)
Im Fall von G verletzten die im Folgenden beschriebenen Szenen so nachhaltig ihre
Intimsphäre, dass sie sich mit der Hebamme und auch zu Hause nicht mehr
geborgen fühlte.
„Weil du die Intimität ansprichst, das was mich massiv gestört hat ist, mein
Mann und ich haben gesagt, ok, wir wollen es gemütlich haben zu Hause. Wir
haben einen Teppich gehabt wo ich gesagt habe, da ist es wurscht, ob
Flecken drauf sind, ist eine schöne Erinnerung, soll so sein. Und da hat sie
gesagt, nein, das macht Flecken, wir legen jetzt alles mit Plastik aus. Und da
habe ich mir immer gedacht, ich habe nicht die Kraft gehabt, mit ihr zu
streiten. Aber das ist meine Wohnung, mein Teppich [...] Es war einfach nur
grauslich, überall diese Müllsäcke, ich habe mich nicht mehr wohlgefühlt.“
(Interview mit G)
„Oder, ich hab eine Hühnersuppe aufgewärmt, die ich selbst gekocht hab und
da ist halt eigenes Gemüse drin, Pastinaken und Sellerie und so, und sie
macht mir das warm und ich esse ein paar Löffel und sie sagt, willst du das
wirklich essen, das riecht so komisch’. Weißt, solche Sachen sind passiert und
das ist schon ein Eingriff in die Intimität.“
(Interview mit G)
„Naja, um zwei Uhr ist die Fruchtblase geplatzt. Der Komentar von ihr war
‚Gott sei Dank, endlich’. Das habe ich alles gehört (lacht), das (.) das sind
Sachen, wo ich sehr sensibel bin. Das geht wieder in die Intimität. So was darf
man einfach nicht sagen neben einer verzweifelten Gebärenden.“ (Interview
mit G)
Alles in allem ist während der Geburt bei den von mir interviewten Frauen wenig
Raum für Intimität und Privacy zu spüren gewesen. D fasst ihre diesbezüglichen
Eindrücke so zusammen:
„Aber ich muss ganz ehrlich sagen, dass das Geburtserlebnis für sich schon
einem nicht wirklich viel Privatsphäre lässt. Das ist am Anfang etwas
irritierend, aber man wächst mit jeder Wehe hinein und am Schluss will man
eh nur mehr das Kind aus sich rauspressen“ (Interview mit D)
Bei F war es so, dass sie sich durch die wiederholten Verletzungen ihrer Intimsphäre
während der Aufenthalte im Krankenhaus schon damit abgefunden hatte, dass das
so ist.
„Ich denke, hätte ich nicht diese Vorgeschichte gehabt, mit zwei Mal
stationärem Aufenthalt vor der Geburt, wo mich gefühlt über einen Monat
jeden zweiten Tag jemand untersucht hat, wäre mein Schamgefühl während
89
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
der Geburt sicher mehr geweckt worden. Ich habe das Gefühl, ich bin davor
schon ein wenig abgestumpft, was diese Untersuchungen anbelangt. Aber, ja
ich hatte schon ein Schamgefühl, aber halt schon früher - was das Ganze
aber nicht besser macht. Natürlich möchte man, dass die Geburt beginnt und
so und weiß auch dass es notwendig ist, aber es wird oft ein wenig sorglos mit
unserer Intimsphäre umgesprungen - mehrere unterschiedliche Leute, die
einen untersuchen, mehrere Leute im Zimmer, fremde Leute im Zimmer,
mehrere Untersuchungen gleichzeitig.“ (Interview mit F)
Wie schon erwähnt28, können vaginale Untersuchungen während der Geburt
Traumen auslösen. Gerade nach der Geburt sind Frauen besonders verletzlich und
feinfühlig. Gebärmutter, Vagina und Vulva sind in den ersten Tagen und Wochen
post partum empfindlich auf Druck und Berührung. Eine Wöchnerin befindet sich
auch hormonell gesehen in einer sensiblen Lebenssituation. Bei K war es ein
vaginaler Eingriff nach der ersten Geburt, eine Kürettage, der sie traumatisiert hat.
„Und das war sehr unangenehm, also viele Frauen sagen, eine Kürettage, das
ist doch nichts. Aber das war sehr unangenehm, finde ich, da war ich so, das
war wieder so in dem Bereich, bist eh noch so blutig, und das Baby da, und
alles noch so frisch und dann, wirst du angeschnallt an Armen und Beinen, so,
die Ärzte gehen herum, und alles ist so blutig und so, also das war schon
irrsinnig, also (.) also, ja also mir fällt jetzt nichts anderes also wirklich, das
war, ich habe mich gefühlt wie vergewaltigt (weint). Es ist mir noch nie so
wieder gekommen, aber wenn ich das erzähle pfff, ich meine vorher ist es
irgendwie ok, das Kind und so, aber dann ist es draußen und alles so offen
und verletzlich, und das war, dieses gefesselt werden und ah, ich meine, die
Narkose hat auch erst später gewirkt.“ (Interview mit K)
Nicht nur unter der Geburt, sondern ganz allgemein sind gynäkologische
Untersuchungen Eingriffe in die Intimsphäre einer Frau, die sie nachhaltig verletzen
können, auch in der Schwangerschaft. K hatte in ihrer zweiten Schwangerschaft
wieder ein ähnlich traumatisierendes Erlebnis.
Aber dann hatte ich auch noch so ein Erlebnis. Da war auch noch irgendwie
die Frage wegen Bakterien in der Scheide. Das war so ca. zwei Wochen vor
der Geburt, da haben sie mich in ein Pilzlabor geschickt und die waren
irgendwie sehr, ja, mit solchen Stäbchen in meinen After, ohne mir was zu
sagen. Wieder einmal. Das ist ja, das ist wrklich ein Unding. Das war wieder,
da habe ich mich wieder so vergewaltigt gefühlt (lacht) komisch.“ (Interview
mit K)
Hildebrandt und Göbel (2008) bezeichnen vaginale Untersuchungen als massive
Grenzüberschreitungen, die immer auch eine hochsexuelle Komponente haben. Das
28
Vgl. Kapitel 3.5 und Kapitel 4.7.2
90
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
mag zwar unter ProfessionistInnen weitegehend verdrängt worden sein, auch aus
Gründen des Selbstschutzes, dennoch gilt:
„Die Selbstverständlichkeit und Gedankenlosigkeit, mit der wir die
Scheide29der Frau mit der Rechtfertigung unserer Berufsausübung
penetrieren, sollte uns sehr zu denken geben.“ (Hildebrandt, Göbel 2008: 107)
Höchster Respekt vor der Intimpshäre der Frau ist dringend erforderlich. „Diesen
Respekt darf jede Gebärende beanspruchen. Für sexuell traumatisierte Frauen ist er
sogar geburtsrettend!“ (Hildebrandt, Göbel 2008: 107)
4.7.8 Das subjektive Erleben der Geburt
Beziehungen und Interventionen beeinflussen den Geburtsablauf und das Erleben
der Geburt gleichermaßen. Ein subjektives Zuviel an Interventionen wirkt sich
ebenso negativ auf das Geburtserlebnis aus wie ein subjektives Zuwenig. Das Maß
des Vertrauens zwischen Hebamme und Gebärender beeinflusst die
Interventionsrate ebenso wie die Akzeptanz dieser Interventionen. Der Grundtenor
aus den Interview-Geburtsberichten ist, dass insgesamt sehr viele Maßnahmen
gesetzt wurden, die sich die Frauen nicht ausgesucht hätten, und dass sie sich
dadurch manchmal unter Druck, oder getrieben vorkamen oder das Gefühl hatten,
die Kontrolle behalten zu müssen. Auch bei grundsätzlich zufriedenstellenden
Geburtsverläufen wird angemerkt, dass viel getan wurde und wenig Platz für
Selbstbestimmung und Intimität war.
Es ist nicht möglich, das optimale Maß an Einmischungen in das Geburtsgeschehen
generell festzulegen und in eine standardisierte Form zu bringen. Jede Frau und jede
Geburt erfordern ein der konkreten Situation und den individuellen Bedürfnissen
angepasstes Vorgehen.
Das Geburtserlebnis setzt sich zusammen aus einer Fülle an subjektiv gewonnenen
Eindrücken von der Geburt und der unmittelbaren Zeit danach und davor.
Entscheidend ist, in welcher Rolle sich die Frau selbst erlebt hat und ob es gelungen
ist, ihren Bedürfnissen gerecht zu werden. Positiv wirkt sich alles aus, was die Frau
in ihrem Selbstvertrauen stärkt, ihr Sicherheit gibt und ihr die Ruhe, die Zeit und den
Raum lässt, den sie und ihr Kind brauchen, um zu gebären und geboren zu werden.
29
und in vorliegendem Fall auch den Anus
91
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Negativ auf das Geburtserlebnis wirken sich körperlich unangenehme Maßnahmen,
wie etwa vaginale Untersuchungen ebenso aus, wie psychischer Druck, Stress oder
Angst.
Je dominanter vaginale Untersuchungen in Erinnerung sind, desto prägender wirken
sie sich direkt auf das Geburtserleben aus.
L. „Und glaubst du, dass die vaginalen Untersuchungen dein Geburtserlebnis
in irgendeiner Weise beeinflusst haben?“
C:“Ein bissl schon, also weil grad diese Untersuchung da von der Ärztin dann,
also das ist mir schon sehr in Erinnerung; negativ in Erinnerung und ja, und so
von meiner Hebamme, bis zu dem Punkt dann.“
Bei F waren es nicht die vaginalen Untersuchungen, die das Geburtserlebnis geprägt
haben sondern einfach alles zusammen.
„Es war überhaupt nicht so, wie ich es mir vorgestellt habe. Das war mein
Hauptproblem, glaube ich, dass ich da rein gegangen bin und mir gedacht
habe, ja ok, ich werde eine stinknormale Geburt haben.“ (interview mit F)
„Ja ich habe die ganze Zeit diskutieren müssen dass sie mir nicht so viel
geben. Ja, ich habe mich in diesem Krankenhaus wirklich einfach von vorne
bis hinten bedrängt gefühlt.“ (Interview mit F)
Über eine Störung des hormonellen Gleichgewichts können Geburtsprozesse sehr
leicht und manchmal unwiderruflich aus dem Gleichgewicht gebracht werden. Das
kann durch mannigfaltige Arten von Einmischung, Störung, Interventionen,
diagnostische oder geburtsbeschleunigende Maßnahmen geschehen. Die vaginale
Untersuchung ist eine davon.
L. Do you think vaginal examinations can lead to instrumental births or csections in some cases?
[...]
Stewart: Yeah, I mean, certainly it´s so easy to disrupt the normal hormones
of labour and the physiology. And you need to think the production of oxytocin
is so sensitive. You know, it´s so sensitive to environment and it´s very very
easy to block that. If a woman is feeling afraid then she is producing more
adrenalin and less oxytocin, so I think I can really see, how that could happen
and how a traumatic vaginal examination can definitely have a negative impact
on the production of oxytocin.“ (Interview Stewart)
Die vaginale Untersuchung prägt das Geburtserlebnis auch deswegen, weil sie als
dominante Maßnahme unter der Geburt den medizinischen Fachkräften ein
92
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Feedback über den Geburtsfortschritt gibt und somit maßgeblich geburtshilfliche
Entscheidungen beeinflusst. Nicht selten ist der Grund für nachfolgende
Interventionen, wie auch in den Interviews deutlich zu sehen ist, eine protrahierte
Geburt.
93
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
5. Schlussfolgerungen
„Das war dann so ein bissl ein Gefühl, so, vertrau mir bitte.“
(Aus dem Interview mit A)
Das letzte Kapitel widmet sich der Beantwortung der Forschungsfragen und der
Zusammenfassung der damit verbundenen Erkenntnisse. Die aus der Literatur und
aus den Interviews gewonnenen Informationen sind praxisrelevant. Aus diesem
Grund stehen am Ende der Arbeit Anregungen für eine umfassendere Darstellung
der Maßnahme vaginale Untersuchung in Hebammenlehrbüchern und im Unterricht.
Darüber hinaus werden Impulse für einen sensibleren und differenzierteren Umgang
mit dem Kontrollieren des Geburtsfortschritts mittels vaginaler Untersuchung in der
praktischen Hebammenarbeit gegeben.
5.1 Die vaginale Untersuchung als Diagnoseinstrument in der Literatur
Die vaginale Untersuchung unter der Geburt muss sich in der Forschungsliteratur
einiges an Kritik gefallen lassen. Unter dem Paradigma des Geburtsfortschritts zur
Routinemaßnahme geworden hat sie, ohne über ausreichend Evidenzen zu
verfügen, Einzug in unsere Kreißzimmer gehalten. Durch die Einführung des
Partogramms und die damit verbundenen zeitlichen Limits für jede Phase der
Geburt, ist man von der Beobachtung des Geburtsverlaufs zu dessen Kontrolle
übergegangen. Die Zeit ist zum wichtigsten Indikator für das geburtshilfliche Handeln
geworden. Die Angst vor der protrahierten Geburt hat den ganzheitlichen Blick auf
die Individualität des Gebärens und Geboren-Werdens nachhaltig verstellt und zu
einer Geburtshilfe geführt, die interventionsreicher ist denn je. In diese Ära fallen
Studien, die glaubhaft vermitteln, dass die wesentliche Voraussetzung für die
unkomplizierte Geburt nicht deren engmaschige Überwachung ist, sondern:
•
Die Kontinuität in der Betreuung einer Gebärenden und die physiche und
psychische Anwesenheit ihrer Hebamme unter der Geburt.
•
Der Aufbau einer tragfähigen Beziehung zwischer der Gebärenden und ihrer
Hebamme, die eine offene Kommunikation und einen vertrauensvollen
Umgang miteinander ermöglicht.
94
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
•
Die individuelle und achtsam zurückhaltende Begleitung einer Gebärenden,
die sie und das Kind in den Vordergrund stellt und Interventionen
wohlüberlegt und nur mit dem Einverständnis der Gebärenden durchführt.
•
Das Respektieren und Wahren der Intimsphäre einer gebärenden Frau in
jeder Situation.
•
Das wohlwollende Respektieren der Entscheidungsfreiheit einer
Gebärenden.
•
Das konkrete problemorientierte Herangehen an geburtshilfliche
Komplikationen unabhängig von zeitlichen Schemata.
Das relativiert die Notwendigkeit regelmäßiger vaginaler Untersuchungen und stellt
sie dort, wo ein Geburtsprozess gestört oder die Intimsphäre einer Gebärenden
verletzt wird, eindeutig in Frage. Insbesondere das Untersuchen nach zeitlichen
Kriterien ist nicht sinnvoll. Darüber hinaus sind auch Vaginalbefunde nicht immer
eindeutig und es gibt andere, nicht invasive Möglichkeiten, eine Geburt beobachtend
zu begleiten.
Ihre Aufgabe erfüllt die vaginale Untersuchung dort, wo es gilt, ein konkretes
geburtshilfliches Problem zu diagnostizieren, um entsprechend darauf reagieren zu
können. Ist man sich dessen bewusst, dass jede vaginale Untersuchung eine
Intervention ist, die nur in indizierenden Situationen und nach Einholung des
deutlichen Einverständnisses der Frau durchgeführt werden kann, so spielt diese als
besonderes geburtshilfliches Diagnoseinstrument nach wie vor eine wichtige Rolle
bei der Vermeidung von Komplikationen.
5.2 Die Rezeption der vaginalen Untersuchung durch die Gebärende
Auch die interviewten Frauen akzeptieren die vaginale Untersuchung als notwendige
Maßnahme unter der Geburt. Gleichzeitig wird diese als unangenehm, manchmal als
störend und in einzelnen Fällen sogar als traumatisch empfunden. Weiters ist
festzustellen, dass vaginale Untersuchungen am Anfang der Geburt besser toleriert
werden als im weiteren Verlauf, was mit dem hormonell bedingten, zunehmenden
Rückzug der Gebärenden in ihre eigene Welt erklärbar wäre. In keinem Interview
wurde die Frau de facto vor die Wahl gestellt, einer vaginalen Untersuchung
zuzustimmen oder diese abzulehnen. Mit vaginalen Untersuchungen einhergehende
95
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Maßnahmen wie das Muttermund-Dehnen werden überwiegend als schmerzhaft
erlebt.
Die Beziehung zur Hebamme beeinflusst die Toleranz vaginalen Untersuchungen
gegenüber ebenso wie die psychische Konstitution der Gebärenden. Hat sich ein
Vertrauensverhältnis entwickelt, werden vaginale Untersuchungen und auch andere
Maßnahmen leichter angenommen, als wenn das nicht der Fall ist. Vor dem
Hintergrund einer guten Beziehung zu ihrer Hebamme bzw. ihrer/m GeburtshelferIn
kommen Frauen mit den vaginalen Untersuchungen und anderen geburtshilflichen
Maßnahmen gut zurecht. Traumatisierend hingegen wirken sehr schmerzhafte
Untersuchungen und solche, die unangekündigt durchgeführt werden.
In manchen Fällen ist das Geburtserlebnis direkt geprägt von den vaginalen
Untersuchungen, insbesondere dann, wenn diese sehr schmerzhaft waren oder sehr
häufig durchgeführt wurden. Indirekt wirkt sich auch der über wiederholte vaginale
Untersuchungen entstehende Zeitdruck auf das Erleben der Geburt aus und
hinterlässt ein Gefühl des Getrieben-Worden-Seins oder des Zu-Langsam-GewesenSeins.
Eine weitere Auswirkung der vaginalen Untersuchung auf das Geburtserlebnis ist
über die Interventionen, die diese häufig nach sich ziehen, feststellbar. Jeder
geburtshilflichen Intervention geht eine vaginale Untersuchung voraus, die als
Entscheidungsgrundlage für das weitere Vorgehen herangezogen wird. Das betrifft
geburtsbeschleunigende Maßnahmen ebenso wie die Schmerzmedikation. So kann
die vaginale Untersuchung als Wegbereiter für Amniotomie, Oxytocingabe,
Periduralanästhesie, Vakuumextraktion, Kristeller-Handgriff, Episiotomie oder Sectio
angesehen werden.
Von den zehn interviewten Frauen wurde bei fünf Erstgeburten ein protrahierter
Geburtsverlauf diagnostiziert, ebenfalls fünf hatten bei ihrem ersten Kind eine
Periduralanästhesie, bei vier Frauen wurde die Geburt mittels Oxytocin beschleunigt.
Zwei Primiparae hatten eine sekundäre Sectio, zwei eine Vakuumextraktion, bei
einer wurde die Spontangeburt in Sectiobereitschaft und bei einer weiteren in
96
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Vakuumbereitschaft durchgeführt. Dass diese Maßnahmen wenig Raum lassen für
Intimität und das Geburtserlebnis maßgeblich beeinflussen, ist leicht nachvollziehbar.
„After all, ‚failure to progress’ might be called ‚failure to wait’.“ (Shearer in: Simkin et
al. 2012: 158)
5.3 Die vaginale Untersuchung als Lernfeld in der Hebammenausbildung
Die Beschreibung der vaginalen Untersuchung ist - besonders in den deutschen
Hebammenlehrbüchern - verkürzt. Das betrifft die Begründung der vaginalen
Untersuchung ebenso wie deren Positionierung im Prozess der Begleitung einer
Geburt. Auch die konkrete Durchführung von vaginalen Untersuchungen und die
Dinge, die es in deren Umfeld zu beachten gilt, werden meiner Meinung nach nicht
ausführlich genug behandelt. Ein Aspekt, der in keinem Lehrbuch erwähnt wird, ist
die auch von Stewart betonte innere Barriere, die Hebammen haben können, wenn
es darum geht, einen so intimen Eingriff vorzunehmen.
Da es keine Evidenzen für die Sinnhaftigkeit einer routinemäßigen Durchführung von
vaginalen Untersuchungen – in welchen Abständen auch immer - gibt, sollten alle
diebezüglichen Empfehlungen in den Hebammenlehrbüchern einer differenzierteren
Betrachtungsweise weichen. Die vaginale Untersuchung wäre somit nicht mehr als
Routinemaßnahme, sondern als Intervention darzustellen, für die es klare
Indikationen braucht und ebensolche Kontraindikationen gibt. Sowohl Indikationen
als auch Kontraindikationen wären nicht nur aus medizinischer, sondern auch aus
individueller und psychosozialer Perspektive zu stellen. Beispielsweise wäre die
Tatsache, dass eine Frau eine vaginale Untersuchung möchte genauso eine
Indikation dafür, wie es eine Kontraindikation wäre, wenn sie eine solche ablehnte.
Was die konkrete Durchführung von vaginalen Untersuchungen betrifft, ist es
angebracht, diese aus unterschiedlichen Perspektiven darzustellen und darauf
einzugehen, dass es manchmal sinnvoll ist, von der vaginalen Untersuchung in
Rückenlage Abstand zu nehmen und diese auf einem Gebärhocker oder im
Vierfüßlerstand durchzuführen. Dass sich in letztgenannter Position alle wesentlichen
Parameter zur Bestimmung der kindlichen Haltung und Einstellung aus genau
entgegengesetzter Perspektive präsentieren, sollte sowohl im Text als auch in
Zeichnungen berücksichtigt werden.
97
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Was zur Darstellung der vaginalen Untersuchung in einem Lehrbuch dazugehören
sollte, ist auch die detaillierte Beschreibung dessen, was in deren Umfeld zu
beachten ist. Kommunikative Fähigkeiten, die der Gebärenden eine freie
Entscheidung für oder gegen diese Intervention erlauben, sind damit ebenso gemeint
wie der professionelle Beziehungsaufbau, der einem solchen Eingriff in jedem Fall
vorausgehen müsste. Der praktische Unterricht zur Durchführung einer vaginalen
Untersuchung sollte gezielt den Erwerb und das Üben dieser Fähigkeiten mit
einbeziehen.
Dabei braucht es auch den Raum zur Selbstreflexion. Betastet man als Fachperson
die Vagina einer fremden Frau, bedarf es einer Strategie, um diesen Tabubruch vor
sich selbst zu rechtfertigen. In Ermangelung ausreichender Lern- und
Reflexionsmöglichkeiten entwickelt vermutlich jede Hebamme und auch jede/r
GeburtshelferIn, je nach Persönlichkeitsstruktur ihre/seine eigenen diesbezüglichen
Schutzmechanismen. Über Strategien wie Verdrängung oder Entpersönlichung geht
dabei mitunter der Blick auf die Gesamtsituation verloren. Es gilt, schon in der
Ausbildung eine Atmosphäre des Vertrauens aufzubauen, die es ermöglicht, über
alle im Zusammenhang mit vaginalen Untersuchungen auftretenden Gefühle,
Bedürfnisse, Widerstände und Probleme zu sprechen und das eigene Handeln in
geschütztem Rahmen zu reflektieren.
Wenn man das regelmäßige vaginale Untersuchen unter der Geburt in Frage stellt,
geht eine essentielle Diagnosemöglichkeit des Geburtsfortschritts verloren. Umso
wichtiger ist es, andere Zeichen, die über den Geburtsverlauf Auskunft geben
können, in die Lehrbücher mit aufzunehmen und dem Kapitel über die vaginalen
Untersuchungen, eines über andere Möglichkeiten zur Beobachtung des
Geburtsfortschritts an die Seite zu stellen.
5.4 Die vaginale Untersuchung in der praktischen Hebammenarbeit
In unserer Geburtshilfe ist das regelmäßige vaginale Untersuchen als fixer
Bestandteil der Betreuung einer Gebärenden fest verankert. Gleichzeitig legen die
Studien von Stewart nahe, dass es auch den Hebammen nicht angenehm ist, Frauen
unter der Geburt wiederholt vaginal zu untersuchen. Zunächst fehlt es an
psychosozialen und kommunikativen Werkzeugen, die den professionellen und
98
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
gleichzeitig empathischen Umgang mit intimen Eingriffen generell erleichtern.
Darüber hinaus stehen Hebammen im Krankenhaus unter dem Druck eines
hierarchiegeleiteten Systems, das sie kontrolliert und von ihnen die Kontrolle der
Gebärenden einfordert.
So schließt diese Arbeit, inspiriert von Anregungen aus der Literatur und aus den
Interviews, mit einigen Impulsen für die Praxis, die es Hebammen und Gebärenden
erleichtern könnte, mit vaginalen Untersuchungen zurechtzukommen:
•
Bevor eine vaginale Untersuchung durchgeführt werden kann, muss ein
Beziehungsaufbau stattgefunden haben, der es beiden, der Hebamme und
der Gebärenden erleichtert, mit diesem intimen Eingriff zurechzukommen.
•
Weiters bedarf es vor der Durchführung einer vaginalen Untersuchung einer
ausführlichen Aufklärung der Frau. Ihr Einverständnis oder ihre Ablehnung
werden abgewartet. Ohne Einverständnis wird keine vaginale Untersuchung
durchgeführt.
•
Auch während der Untersuchung wird mit der Frau gesprochen, nach der
Untersuchung werden ihr die Egebnisse mitgeteilt.
•
Eine Unterbrechung der Untersuchung durch die Frau muss, auch nach
gegebenem Einverständnis, jederzeit möglich sein.
•
Zusätzliche Maßnahmen wie das Dehnen des Muttermundes sind äußerst
schmerzhaft, und nicht evidenzbasiert. Sie sollten daher nicht gemacht
werden.
•
Die Intimsphäre der Frau ist in jedem Fall zu wahren.
•
Vaginale Untersuchungen sind keine routinemäßigen Maßnahmen sondern
Interventionen, die nur durchgeführt werden, wenn es dafür eine konkrete
Indikation gibt. Die Zeit alleine stellt keine Indikation für eine vaginale
Untersuchung dar.
•
Indikationen und Kontraindikationen auf medizinischer und psychosozialer
Ebene sind gleich wichtig.
•
Jede Intervention hat Wirkungen und mögliche Nebenwirkungen. Auch dieser
muss man sich vor der Durchführung einer vaginalen Untersuchung bewusst
sein.
99
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
•
Vaginale Untersuchungen sollten sich an den Bedürfnissen der Gebärenden
orientieren. Sie sollten in der für sie angenehmsten Position durchgeführt
werden und sie nicht in ihrer Geburtsarbeit stören.
•
Hebammen brauchen die Möglichkeit, sich in geschütztem Rahmen über ihre
Erfahrungen mit vaginalen Untersuchungen auszutauschen, voneinander zu
lernen und ihre praktischen und kommunikativen Kompetenzen immer wieder
zu verbessern.
•
Es gibt auch andere Möglichkeiten, den Geburtsfortschritt zu beobachten. Das
Verhalten der Gebärenden, ihr Kontakt zu ihrem Umfeld, die Art wie sie atmet,
tönt und auf Stimuli von außen reagiert, ihr Hunger- oder Durstgefühl, ihr
Rhythmus, ihre Bewegungsmuster, die Form und Frequenz ihrer Wehen alles das lässt drauf schließen, in welchem Stadium der Geburt sich eine
Wehende befindet. Die Beobachtung dieser Merkmale sollte anerkannter
Bestandteil der Hebammenarbeit sein, damit Hebammen mit zunehmender
Erfahrung immer mehr auf vaginalen Untersuchungen verzichten können.
•
In die Darstellung des Geburtsverlaufes mittels Partogramm sollten auch oben
genannte Merkmale zur Einschätzung des Geburtsfortschritts aufgenommen
werden. Hebammen dürfen nicht dazu genötigt werden, regelmäßige vaginale
Untersuchungen durchzuführen, nur um diese in ein Partogramm eintragen zu
können.
Die vaginale Untersuchung hat, wie auch Stewart anmerkt, ihren wichtigen Platz in
der Hebammenarbeit. Analog zu dem von Hildebrandt geprägten Begriff des
konstruktiven und des destruktiven Geburtsstillstandes, könnte man auch von der
konstruktiven und der destruktiven vaginalen Untersuchung sprechen. Dort, wo eine
vaginale Untersuchung dazu beiträgt, ein geburtshilfliches Problem zu beheben, ist
sie konstruktiv und daher angezeigt. Überall anders wirkt sie störend, bzw. destruktiv
und ist daher zu vermeiden.
100
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
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105
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Skizze der vaginalen Untersuchung aus dem Lehrbuch von Martius
(Martius 1990: 332).............................................................................................17
Abbildung 2: Darstellung der vaginalen Untersuchung in Myles Midwives (Fraser,
Cooper 2009: 469)..............................................................................................21
Abbildung 3: Kurzbeschreibung der vaginalen Untersuchung in den Midwifery
Essentials I (Baston, Hall 2009: 16)....................................................................24
Abbildung 4: Kurzbeschreibung der vaginalen Untersuchung, in den Midwifery
Essentials II (Baston, Hall 2009: 17)...................................................................25
Abbildung 5: Partogramm von Neal, und Lowe (Neal, Lowe 2012: 17) ...................36
Abbildung 6: Aspekte der Beziehungsarbeit im Hebammenhandeln (Schönberner et
al. in: Deutscher Hebammenverband 2010: 22) .................................................77
106
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Glossar
Abortus (AB): Fehlgeburt
Amnioninfektionssyndrom: Infektion der Fruchthäute und des Kindes,
schwerwiegende Komplikation, die gehäuft nach vorzeitigem Blasensprung auftritt.
Amniotomie: Manuelles Öffnen der Fruchtblase zur Geburtseinleitung oder
Geburtsbeschleunigung.
Blutkoagel: Gestocktes Blut, das in Klumpen zusammenhält.
Cardiotokogramm/Kardiotokogramm (CTG): Herzton-Wehenaufzeichnung
Dystokie: Allgemeiner Begriff für unphysiologische Wehen, meist wird eine
verzögerte Wehentätigkeit darunter verstanden.
Eipolablösung: Im Rahmen einer vaginalen Untersuchung getätigte Ablösung des
am inneren Muttermund anliegenden unteren Teils der Fruchtblase. Wird am Ende
der Schwangerschaft oder bei Terminüberschreitung gemacht, um die Geburt in
Gang zu setzen.
Episiotomie: Dammschnitt
Erstgravida: Frau in ihrer ersten Schwangerschaft.
Erstpara: Erstgebärende
Fetale Skalpelektrode/Kopfschwartenelektrode: Unter der Geburt verwendete
Schraubelektrode, die man in der Kopfhaut des Kindes anbringt, um so die Herztöne
direkt ableiten zu können.
Fetus: Name für das Kind intrauterin nach Abschluss der Organentwicklung, ab der
13. Schwangerschaftswoche.
Hypertonie: Bluthochdruck
Introitus: Scheideneingang
Kristeller-Handgriff: Handgriff zur Unterstützung der Expression des Kindes am
Ende der Geburt. Mit Kraft wird auf dem Bauch der Mutter, vom oberen Rand der
Gebärmutter her, gleichzeitig mit einer Wehe das Kind in Richtung Scheidenausgang
geschoben.
Labien: Schamlippen
Latenzphase: Erste Phase der Geburt, geht mit deutlich spürbaren Wehen einher,
die jedoch noch nicht öffnend auf den Muttermund wirken..
107
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Mikroblutgasuntersuchung (MBU): Mittels eines Lanzettenstichs wird dem Kind
unter der Geburt vom Kopf Blut abgenommen. Anschließend wird der pH Wert
analysiert. Dieser lässt Rückschlüsse darauf zu, wie es dem Kind intrauterin geht.
Multipara: Mehrgebärende; Frau die mehr als ein Kind geboren hat.
Neonatales Outcome: Vitalzustand und Gesundheitszustand des Neugeborenen.
Partogramm: Graphische Darstellung des Geburtsfortschritts mittels
Koordinatensystem. Auf der x-Achse wird die Zeit eingetragen, auf der y-Achse das
Ergebnis der jeweiligen vaginalen Untersuchung.
Periduralanästhesie (PDA): „Kreuzstich“; Lokale, über eine Anästhesie des
Wirbelkanals laufende Betäubung der Region ab dem Brustbein zur
Schmerzausschaltung unter der Geburt.
Plazenta praevia: Plazenta, die im unteren Segment der Gebärmutter so angelegt
ist, dass sie zumindest teilweise dem Muttermund vorliegt.
Portio: Muttermund
Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS): Psychische Ekrankung, die als
Folge einer schweren Belastung bzw. eines Traumas auftritt und mit einer tiefen
Erschütterung der Persönlichkeit einhergeht.
Primigravida: Frau in ihrer ersten Schwangerschaft.
Primipara: Erstgebärende
Proteinurie: Eiweiß im Harn
Protrahierte Geburt: Verzögerte, zu lange dauernde Geburt.
Sectio: Kaiserschnitt
Sekundäre Sectio: Ein Kaiserschnitt, der im Unterschied zu einer primären Sectio
nicht von vornherein geplant ist, sondern zu dem man sich im Verlauf einer Geburt
auf Grund bestimmter Indikationen entscheidet.
Spekulaeinstellung: Bei der gynäkologischen Untersuchung übliches
Auseinanderhalten der Vaginalwände mittels eines gynäkologischen Spiegels, der
die Sicht auf den Muttermund frei gibt.
Vaginal operative Entbindung: Geburt, die zwar vaginal aber mit Hilfe
geburtshilflicher Instrumente wie Geburtszange oder Saugglocke stattfindet.
Vakuumextraktion (VE): Geburt mit Saugglocke.
Venflon: Venenverweilkanüle
Zervix: Gebärmutterhals
Zweitpara: Zweitgebärende (analog: Drittpara etc.)
108
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Abkürzungen
Abkürzungen im Deutschen:
AB:
CTG:
MBU:
p.p.:
PDA:
PTBS:
VE:
VKT:
VU:
Abortus
Cardiotokogramm
Mikroblutgasuntersuchung
post partum, d.h. nach der Geburt
Periduralanästhesie
Posttraumatische Belastungsstörung
Vakuumextraktion
Vorangehender Kindesteil
Vaginale Untersuchung
Abkürzungen im Englischen:
BP:
PTSD:
VE:
Blood Pressure
Posttraumatic stress desease
Vaginal examination
109
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Anhang 1
Email an KollegInnen zur Rekrutierung von Interviewpartnerinnen:
Liebe Hebammenkollegin, liebe Gynäkologin, lieber Gynäkologe,
mein Studium an der Fachhochschule für Gesundheit in Innsbruck geht dem Ende zu
und ich schreibe bereits an meiner Masterthese mit dem Titel: Die vaginale
Untersuchung während der Geburt. Ein Eingriff zwischen Routinemaßnahme und
Intimitätsverletzung. In diesem Zusammenhang geht es mir darum, herauszufinden,
ob die in unseren geburtshilflichen Einrichtungen übliche Praxis des vaginalen
Untersuchens unter der Geburt das Geburtserlebnis von Frauen prägt oder nicht.
Um diese Frage beantworten zu können, werde ich im Rahmen einer qualitativen
Studie Frauen nach der Geburt interviewen. Ich möchte sie zu ihrem Geburtserlebnis
und dem Erleben der vaginalen Untersuchung befragen. Die so entstandenen
Interviews werden anonymisiert und mittels qualitativer Inhaltsanalyse ausgewertet.
Es ist mir bewusst, dass ich einen sehr intimen Bereich anspreche und dass das ein
hohes Maß an Achtsamkeit erfordert. Diese bin ich bereit, mitzubringen. Dass alle
Aussagen nur in anonymisierter Form verwendet werden mag die Bereitschaft, an
meiner Studie teilzunehmen, erleichtern.
Nun der aktuelle Anlass, warum ich dir schreibe und gleich meine Bitte:
Ich bin auf der Suche nach Frauen, die bereit wären, mit mir ein Interview zu diesem
Thema zu machen.
Im Anhang findest du ein Aufklärungsblatt, das sich an potentiell interessierte Frauen
richtet und Thema, Gegenstand und Ziel meiner Studie formuliert.
Ich wäre sehr dankbar, wenn du dieses Aufklärungsblatt an Frauen, die für so ein
Interview in Frage kommen, weitergeben könntest. Wenn ich dir ausgedruckte
Exemplare per Post zuschicken soll, sag mir bitte Bescheid – das mache ich
natürlich gerne!
Auf dem Infoblatt sind meine Kontaktdaten enthalten, so dass sich interessierte
Frauen selbständig mit mir in Verbindung setzen können.
Natürlich werden sie das eher tun, wenn sie dazu motiviert werden - vielleicht sogar
mit der Empfehlung, die Gelegenheit, ihre Geburt noch einmal reflektieren zu
können, doch zu nützen…
Die wichtigsten Details in Kürze:
1.) Zeitplan
Dieser Teil meiner Arbeit muss bis Mitte Juni abgeschlossen sein - das heißt,
je eher sich Frauen bei mir melden desto besser - am liebsten wäre es mir,
wenn ich im April und im Mai alle Interviews machen könnte. Insgesamt strebe
ich 10 Interviews an.
2.) Zielgruppe
Meine Zielgruppe sind Frauen nach der Geburt
• Geburtsmodus: alles außer primäre Sectio
110
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
•
•
•
•
•
Geburtsdauer: alles über 2 Stunden
Geburtstort: Krankenhaus, Geburtshaus, Hausgeburt
Parität: spielt keine Rolle
Wie lange sollte die letzte Geburt zurückliegen? Je weniger weit die Geburt
zurückliegt umso besser - maximal 2 Jahre
Wohnort der Frauen: Wien und Niederösterreich, vorzugsweise in der näheren
Umgebung von Wien
Ja, so bedanke ich mich gleich einmal im Voraus für die Unterstützung und hoffe
darauf, dass sich Frauen finden, die bereit sind, ihre Erfahrungen mit mir zu teilen.
Wenn du meine Mail und das Infoblatt auch an andere Kolleginnen/Kollegen
weiterleiten möchtest, freut mich das!
Wenn du an den Ergebnissen meiner Arbeit interessiert bist - gerne kann ich dich
nach deren Fertigstellung wieder kontaktieren…
Herzliche Frühlingsgrüße
Lisa Rakos
111
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Anhang 2
Aufklärungsbogen für Probandinnen:
Aufklärungsblatt
zur Studie im Rahmen
der Masterarbeit von
Lisa Rakos, Hebamme
3012 Wolfsgraben
Tel: 0676/5001962
Email: lisa.rakos@kabsi.at
Studiendesign: Interviews mit Frauen
nach der Geburt
Thema der Masterarbeit:
Die vaginale Untersuchung
während der Geburt.
Georgia O´Keeffe: Light Iris
Mein Name ist Lisa Rakos , ich bin seit 17 Jahren Hebamme und arbeite derzeit
hauptberuflich als Lehrende in der Hebammenausbildung auf der FH Campus Wien.
Daneben bin ich freiberuflich als Wahlhebamme, in der Hausgeburtshilfe und in der
Vor- und Nachsorge tätig. Bis 2009 war ich in Teilzeit als Hebamme im Krankenhaus
angestellt. Derzeit absolviere ich an der Fachhochschule Gesundheit Tirol ein
vertiefendes Hebammen-Masterstudium. Dieses Semester möchte ich im Rahmen
meiner Abschlussarbeit eine qualitative Studie durchführen, in der es darum geht
herauszufinden, ob die in österreichischen Krankenhäusern übliche Maßnahme der
vaginalen Muttermundskontrolle das Geburtserlebnis beeinflusst oder nicht. Der Titel
meiner Masterarbeit lautet „Die vaginale Untersuchung während der Geburt. Ein
Eingriff zwischen Routinemaßnahme und Intimitätsverletzung“.
Zum Hintergrund:
In unseren geburtshilflichen Einrichtungen (Krankenhaus, Geburtshaus, aber auch in
der Hausgeburtshilfe) wird der Geburtsfortschritt meist so kontrolliert, dass die
Hebamme oder die Frauenärztin/der Frauenarzt in regelmäßigen Abständen den
Muttermund ertastet. Sowohl die Weite der Muttermundes, (0 bis 10 cm) als auch
dessen Konistenz (weich – straff) können ermittelt werden. Auch wie das Köpfchen
des Babys im Becken postioniert ist und wie hoch es im Becken steht, kann man mit
der vaginalen Tastuntersuchung herausfinden. Je nach Situation wird diese
Untersuchung ab dem Aufnahmezeitpunkt alle 2-4 Stunden wiederholt, manchmal 112
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
besonders in der letzten Phase der Geburt, also wenn das Baby schon fast da ist auch häufiger.
Für manche Frauen sind vaginale Untersuchungen unter der Geburt hilfreich, weil sie
dann über ihren Geburtsfortschritt Bescheid wissen. Ich habe als Hebamme aber
auch erlebt, dass für die gebärende Frau diese Untersuchung unangenehm sein
kann.
Ich möchte nun durch eine Befragung von Frauen nach der Geburt herausfinden, wie
sie die Geburt ihres Kindes erlebt haben, wie das übliche vaginale Untersuchen bei
den von mir interviewten Frauen gehandhabt wurde und wie es ihnen damit
gegangen ist.
Es ist mir bewusst, dass ich einen sehr intimen Bereich anspreche, und dass das ein
hohes Maß an Sensibilität und Achtsamkeit erfordert, die ich mitzubringen bereit bin.
Alle Angaben und Äußerungen im Interview und auch davor und danach werden
vertraulich behandelt und nur in anonymisierter Form für diese Studie verwendet.
Wenn Sie damit einverstanden sind, bei einem Interview mitzumachen, bitte ich Sie,
die unten angeführte schriftliche Einwilligungserklärung zu lesen und zu
unterschreiben.
Ich bin gerne bereit, Ihnen meine Studie nach deren Fertigstellung zukommen zu
lassen.
113
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Anhang 3
Einwilligungserklärung
Ich, ........................................................... (Name) erkläre mich bereit, an der Studie
Zum Thema „Die vaginale Untersuchung während der Geburt“ teilzunehmen.
Diese Studie wird von Frau Elisabeth Rakos im Zuge der Erstellung ihrer
Masterthese mit dem vollständigen Titel „Die vaginale Untersuchung während der
Geburt. Ein Eingriff zwischen Routinemaßnahme und Intimitätsverletzung“ an der
Fachhochschule Gesundheit Tirol durchgeführt.
Genauere Informationen über Ziel und Inhalt der Studie habe ich schriftlich in Form
des oben angeführten Aufklärungsblattes erhalten.
Ich habe das Aufklärungsblatt und die Einwilligungserklärung gelesen und
verstanden. Ich bin darüber hinaus ausführlich und in einer für mich verständlichen
Art und Weise über die Studie informiert und aufgeklärt worden. Offene Fragen
wurden eingehend mit mir erörtert, sodass ich derzeit keine offenen Fragen habe.
Sollten sich Fragen ergeben, kann ich mich jederzeit an Frau Rakos wenden. (Tel.:
0676/5001962, Email: lisa.rakos@kabsi.at )
Eine Kopie von Aufklärungsblatt und Einwilligungserklärung habe ich erhalten.
Mir wurde erklärt, dass die Studie zu wissenschaftlichen Zwecken durchgeführt wird
und alle meine Angaben vertraulich behandelt werden.
Ich bin damit einverstanden, dass Angaben zu meiner Person zu Studienzwecken
aufgezeichnet sowie in anonymisierter Form gespeichert, verwendet bzw.
wissenschaftlich ausgewertet und veröffentlicht werden.
Ich wurde darüber aufgeklärt, dass ich meine freiwillige Mitwirkung an der Studie
auch nach Beginn der Befragung jederzeit beenden kann, ohne dass mir daraus
Nachteile entstehen.
Ich hatte ausreichend Zeit, mich aus freiem Willen für eine Teilnahme zu
entscheiden.
Mit meiner Unterschrift erkläre ich meine freiwillige Zustimmung zur Teilnahme an
der Studie „Die vaginale Untersuchung während der Geburt“.
_____________________________________________
Ort, Datum
_____________________________________________
Unterschrift der Probandin
_____________________________________________
Unterschrift Elisabeth Rakos
114
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
Anhang 4
Interviewleitfaden für Probandinnen (Frauen nach der Geburt)
im Rahmen der Studie „Die vaginale Untersuchung während der Geburt“
Methodische Anmerkung
Der Interviewleitfaden in einer qualitativen Studie versteht sich im Gegensatz zu
einem standardisierten Fragebogen als „Gerüst, das heißt, er belässt dem
Interviewer weitgehende Entscheidungsfreiheit darüber, welche Frage wann in
welcher Form gestellt wird. Mit dem Fragebogen des standardisierten Interviews hat
der Leitfaden gemeinsam, dass er Ergebnis einer Operationalisierung ist. Im Falle
des Leitfadens besteht die Operationalisierung darin, die Leitfragen in
Interviewfragen zu übersetzen, die an den Alltag des Interviewpartners
anschließen.“30
Letztendlich geht es mir darum, aus den Antworten der Interviewpartnerinnen das
situative Erleben der Maßnahme31, die mich im Rahmen meines
Forschungsprojektes interessiert, zu rekonstruieren, um so Antworten auf meine
Forschungsfrage zu finden.
Einleitung des Interviews
Ich möchte mich sehr herzlich dafür bedanken, dass du dich für dieses Interview zur
Verfügung gestellt hast.
Die Dauer des Interviews wird eine gute Stunde betragen, ich nehme mir aber so viel
Zeit, wie wir benötigen, um unser Gespräch in Ruhe führen zu können.
Wenn dir nach dem Interview Dinge einfallen, die du noch gerne gesagt hättest,
kannst du mich gerne telefonisch kontaktieren, um diese einzubringen.
Ziel dieser Befragung ist es, herauszufinden, wie du die Geburt deines Kindes im
Krankenhaus/zu Hause/im Geburtshaus erlebt hast. Es interessiert mich, wie du dort
die Betreuung und Begleitung durch Hebammen und ÄrztInnen wahrgenommen
hast. Ich möchte gerne wissen, was für Maßnahmen und Eingriffe durchgeführt
wurden, ob du dich dabei wohl und sicher gefühlt hast, oder ob es auch Dinge gab,
die du als störend oder unangenehm empfunden hast. Insbesondere ist mir wichtig
zu erfahren, wie die üblichen vaginalen Untersuchungen, die der Feststellung des
Geburtsfortschritts dienen, bei dir angewendet wurden und wie es dir damit ergangen
ist.
Es ist mir bewusst, dass ich einen sehr intimen Bereich anspreche, und dass das ein
hohes Maß an Sensibilität und Achtsamkeit erfordert, die ich bereit bin, mitzubringen.
Deine Angaben werden vertraulich behandelt, nur in anonymisierter Form und nur für
diese Studie verwendet. Ich bin gerne bereit, dir meine Studie nach deren
Fertigstellung zukommen zu lassen.
Leitfaden für die Fragestellung
1. Zu Beginn ein paar allgemeine Fragen:
1.1 Wie lange ist die (letzte) Geburt nun her?
30
Gläser, J. & Laudel, G. (2010). Experteninterviews und qualitative Inhaltsanalyse. Wiesbaden:
Verlag für Sozialwisssenschaften, S.142
31
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
115
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
1.2 Wie geht es dir mit eurem Baby und mit der neuen Familienkonstellation?
2. Fragen, die Schwangerschaft, besonders die Zeit vor der Geburt betreffen:
2.1 Wie hast du euren Schwangerschaftsverlauf in Erinnerung?
2.2 Wie/von wem wurdest du in der Schwangerschaft betreut? Wie sah die
Betreuung im Krankenhaus aus?
• Was waren deine Auswahlkriterien für das Krankenhaus, was war dir ganz
besonders wichtig?
• Welche Untersuchungen und Termine hast du dort wahrgenommen?
(Schwangerenambulanz, Geburtsvorbereitungskurse, Kreißsaalführungen)
• Hattest du die Möglichkeit, das Personal (Hebammen, ÄrztInnen) schon vor
der Geburt kennenzulernen?
3. Fragen zur Geburt im Allgemeinen:
3.1 Wann und wie ging die Geburt los?
• Wer hat dich im Krankenhaus aufgenommen, was für Maßnahmen wurden
gesetzt und von wem? (Anamnese, CTG, VU, Venflon...)
• Wie wurdest du nach der Aufnahme weiter betreut?
•
3.2 Wie war der weitere Verlauf der Geburt? (Dauer, Schmerzen, Maßnahmen...)
• Was für Maßnahmen wurden in den einzelnen Phasen der Geburt gesetzt?
• Wie wurde dein Kind geboren? (Geburtsmodus, Geburtsposition...)
• Wie hast du die Plazentageburt und die ersten 2-3 Stunden nach der Geburt
in Erinnerung?
4. Fragen zur vaginalen Untersuchung im Besonderen
4.1 Wie wurde das vaginale Untersuchen zur Kontrolle des Geburtsfortschrittes in
deinem Fall gehandhabt?
• Von wem wurdest du untersucht (Hebamme, ÄrztIn, Studentin, abwechselnd)
• Wie oft / in welchem Abstand wurdest du vaginal untersucht? Hast du den
Eindruck, dass es oft war oder eher selten?
4.2 Wie gingen diese Untersuchungen vonstatten?
• Hat man dir vor der Untersuchung erklärt, warum diese gemacht werden
sollte?
• Wurdest du vor der vaginalen Untersuchung gefragt, ob du damit
einverstanden bist?
• Hattest du die Möglichleit, diese abzulehnen? (immer, manchmal, nie, von ...
schon, von ... nicht)
• Hat man dich vor jeder vaginalen Untersuchung informiert, oder hast du auch
erlebt, dass unangekündigt vaginal untersucht wurde?
• Wurde dir nach den Untersuchungen das Ergebnis mitgeteilt (immer,
manchmal, nie, von ... schon, von ... nicht)
• Was hast du für einen Eindruck, wie lange so eine vaginale Untersuchung
gedauert hat? Eher lang, eher kurz?
• Wurden diese Untersuchungen immer außerhalb der Wehe oder auch
während einer Wehe durchgeführt? Wenn ja, wurde dies begründet?
116
Die vaginale Untersuchung während der Geburt
•
Wurde bei dir im Zusammenhang mit einer vaginalen Untersuchung auch der
Muttermund aufgedehnt um die Geburt zu beschleunigen? Wie hast du das
erlebt? (angenehm - weil dann etwas weiterging, neutral, unangenehm schmerzhaft)
4.3 Wie hast du die vaginalen Untersuchungen während der Geburt insgesamt
wahrgenommen?
• Würdest du sagen, dass die vaginalen Untersuchungen gut tolerierbar waren?
• Haben die vaginalen Untersuchungen wehgetan, dh Schmerzen verursacht?
• Haben die vaginalen Untersuchungen deine Intimsphäre gestört oder dein
Schamgefühl verletzt?
• Hast du das Gefühl von Kontrollverlust gehabt oder von Ohnmacht?
• Haben die vaginalen Untersuchungen dein Geburtserlebnis beeinträchtigt?
(haben diese gestört, irritiert, verunsichert, geschmerzt, erschreckt... )
5. Resümee
5.1 Hat die Geburtsleitung und Geburtsbetreuung im Krankenhaus/ zu Hause/im
Geburtshaus deinen Erwartungen entsprochen?
• Was hast du in guter Erinnerung? Welche Maßnmahmen und Interventionen
hast du als positiv, unterstützend, angenehm, geburtserleichternd ...
empfunden?
• Welche Maßnahmen und Eingriffe haben dich irritiert, was war störend,
unangenehm, schmerzhaft. Was hast du in schlechter Erinnerung?
• Gab es Dinge, die du nicht erwartet hattest?
5.2 Was würdest du dir, für den Fall, dass du noch ein Kind bekämest, wieder so
wünschen, was würdest du anders machen bzw. anders wollen?
6. Alllgemeine Daten
Alter:
Familienstand:
Herkunftsland:
Beruf:
G/P:
Alter des jüngsten Kindes:
Geburtsdauer in Stunden:
Geburtskomplikationen:
Geburtsmodus + Indikation:
Geburtsort:
Bei Krankenhaus (< 1000 Geburten / > 1000 Geburten / Perinatalzentrum):
Vielen Dank für das Gespräch!
117
Eidesstattliche Erklärung Master-Thesis
Daten Studierende
Nachname Vorname
Titel
Personenkennzeichen
Studiengang/Lehrgang
Jahrgang, Klasse
Rakos Elisabeth
Matrikelnummer 1030006015
Master of Science in Advanced Practice
Midwifery
2010-2012
Ich erkläre hiermit, dass ich die Master-Thesis zum Thema
Die vaginale Untersuchung während der Geburt.
Ein Eingriff zwischen Routinemaßnahme und
Intimitätsverletzung
selbstständig verfasst und keine anderen als die angegebenen Quellen
und Hilfsmittel benutzt sowie alle wörtlich oder dem Sinn nach aus anderen
Texten entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht habe. Dies gilt
für gedruckte Texte ebenso wie für dem Internet entnommene Texte,
audiovisuelle Medien, Hörbücher und Bildnachweise.
Wolfsgraben, 3. Sept. 2012
Ort, Datum
Unterschrift der/des Studierenden