Europas Werte in einer globalen Welt
Transcription
Europas Werte in einer globalen Welt
Europas Werte in einer globalen Welt Am 22. November 2005 wurde die CDU-Vorsitzende Dr. Angela Merkel zur ersten Bundeskanzlerin Deutschlands gewählt. Knapp drei Wochen zuvor, am 2. November, sprach sie in der Katholischen Akademie in Bayern zum Thema „Europas Werte in einer globalen Welt“. Politische Turbulenzen in Berlin ließen Zweifel aufkommen, ob Frau Merkel ihre schon seit langem erfolgte Zusage einhalten könne. Aber sie hielt Wort! Der Andrang zu dieser Veranstaltung, in der die jetzige Bundeskanzlerin auch von ihrem Glauben und ihren persönlichen Wertevorstellungen Zeugnis gab, war so groß, dass vielen abgesagt werden musste. Die leicht gekürzte Dokumentation in „zur debatte“ möge alle entschädigen, die bei dem Abend nicht dabei sein konnten oder aus anderen Gründen auf den gedruckten Text angewiesen sind. Angela Merkel Politik hat sich in den letzten Jahren vielleicht oft dadurch ein bisschen in Misskredit gebracht, weil sie den Eindruck erzeugt hat, sie könne fast alles lösen. Und das geht nicht. Politik muss auch deutlich machen, wo unsere Grenzen sind. Und Politik braucht den Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern, mit denen, die sich für dieses Land engagieren. Die Katholische Akademie hier in München ist mit Sicherheit ein solcher Ort, wo weit über das politisch Machbare hinaus Orientierung gegeben wird, Weichen gestellt werden, Diskussionen angeregt werden, Menschen sich einbringen können. Die Welt schaut im Augenblick auch etwas verdutzt auf Deutschland. Wir sind immerhin die größte Ökonomie in Europa, wir sind ein wichtiges Land, ein Land, das Aufgaben in der Weltgemeinschaft übernehmen kann, aber auch übernehmen muss, wenn wir uns unseren Pflichten stellen. Wenn ein solches Land im Wesentlichen mit der Selbstbeschäftigung befasst ist, dann binden sich die Kräfte, die eigentlich für vieles anderes gebraucht werden. Gerade Europa befindet sich in einer sehr kritischen Phase. Wir alle haben ja in den letzten Tagen, wenn wir uns nicht mit Deutschland beschäftigt haben, auch dramatische Bilder aus Marokko, aus der Grenzregion zu Europa im Kopf, die gezeigt haben, wie Menschen aus Afrika die Grenzzäune in den spanischen Exklaven Melilla und Ceuta zu überwinden versuchen. Ein Ansturm von Verzweifelten, die aus Regionen kommen, in denen Bürgerkrieg herrscht, hoffnungslose Armut – Mali, Kamerun, Benin und Kongo –, und die Dr. Angela Merkel sprach am 2. November 2005 vor einer großen Zuhörerschaft in der Katholischen Akademie in Bayern nach mehrwöchigen Strapazen, in denen sie irgendwie die Sahara durchquert haben – Frauen, Männer, Säuglinge, Halbwüchsige, Kinder –, mit selbstgebastelten Holzleitern, Pullovern, dicken Handschuhen versuchen, gegen Stacheldrahtspitzen anzukommen und einen Zaun zu überwinden, der sie von ihrem Traum, von Europa trennt. Für diese Menschen sind wir eine Traumregion. Und wenn wir über die Werte Europas diskutieren, dann ist die Frage natürlich damit verbunden, welche Rolle Europa denn in den Konflikten dieser Welt und auch in der Diskussion mit den Kulturen einer globalen Welt im 21. Jahrhundert spielen will. Wollen wir eine Festung sein, deren Idee von einer menschlichen Gemeinschaft sich regional verengt? Gerade wir Deutschen haben ja mit diesem Festungsgedanken durch die Mauer, die wir viele Jahrzehnte erleben mussten, die abstoßendsten, die schrecklichsten Erfahrungen. Oder wollen wir eine Gemeinschaft sein mit einer globalen Vision? Einer Vision, nicht nur Europa, sondern auch anderen Teilen der Welt ein menschliches Gesicht zu geben? Der Blick in die Geschichte kann uns nach meiner festen Auffassung helfen, zu lernen, auch Zuversicht zu fassen. Denn die gemeinsame Geschichte der Völker Europas war ja nun viele Jahrhunderte geprägt von großen, größten und schrecklichsten Konflikten. Es waren lange Jahre religiös motivierte Konflikte, wenn wir an den Dreißigjährigen Krieg denken. Und im 20. Jahrhundert haben dann zwar nicht religiös, aber nationalistisch geprägte Konflikte und ideologisch motivierte Kriege Schrecken und Vernichtung über Europa und die Welt gebracht in einem Ausmaß, wie wir es alle nicht für möglich gehalten hätten und andere es vor uns auch nicht für möglich gehalten haben. Damals deutete nicht viel auf einen Kontinent von Wohlstand und von Frieden hin. An den Grenzen, die wir heute problemlos überqueren, fast gedankenlos, von Polen nach Deutschland, von Deutschland nach Frankreich, da könnten eben heute noch dieselben Spannungen herrschen, wie wir sie zwischen Indien und Pakistan haben, wie wir sie zwischen Israel und Palästina haben. Das alles scheint uns heute weit weg, aber geschichtlich gesehen ist es ein sehr kurzer Abstand, in dem wir ähnliche Situationen auch in Europa hatten. Deshalb, wenn man diese Perspektive nimmt, gleicht das, was wir heute in Europa erreicht haben, fast einem Wunder. Wir haben den unheilvollsten Strömungen der Geschichte – Kolonialismus, Nationalismus, Rassismus, Klassenkampf – ein Ende gesetzt, ich hoffe, ein für alle Mal. Ich glaube aber auch, dass dieses immer wieder erkämpft, durchdacht und bedacht werden muss, und niemals als Selbstverständlichkeit genommen werden darf. Wir leben jetzt vielleicht in einer Phase nach der Deutschen Einheit, wo wir denken, es kann ja jetzt nicht mehr viel passieren. Aber wir wissen auf der anderen Seite, wie vielen Bedrohungen wir ausgesetzt sind und wie viele Fragezeichen da noch sind. Das heißt, wir haben Schrecken und Vernichtung abgeschüttelt und wir haben alte Rivalitäten ein riesiges Stück überwunden. Bei der Vertragsunterzeichnung zur Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl 1951 sagte damals Bundeskanzler Konrad Adenauer: „Eisen und Stahl hat in der Vergangenheit bei den Kämpfen der europäischen Völker gegeneinander eine verhängnisvolle Rolle gespielt. Jetzt sollen Eisen und Stahl die europäischen Völker zu einer Gemeinsamkeit des Handelns und des Denkens zusammenführen.“ Deshalb Kooperation der Nationalstaaten: Das ist der Grund, weshalb es gelungen ist, eine Entwicklung des alten Kontinents mit Kriegen hinter sich zu lassen und eine völlig neue Entwicklung zu begründen. Seitdem sind die europäischen Nationen enger zusammengerückt: Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, einheitliche europäische Akte, das Schengener Abkommen, der europäische Binnenmarkt bis hin zur Einführung des Euro, der EU-Osterweiterung und des Verfassungsvertrages, um den wir jetzt noch ringen – all dies sind Schritte. Durch die Einführung des Euro ist die Europäische Union, ist die Europäische Einigung unumkehrbar geworden. Sie hat ein festes Fundament, aber wir müssen uns um die Qualität dieses Fundaments natürlich jeden Tag wieder sorgen. Und deshalb geht es nicht nur um irgendwelche technokratischen Dinge, sondern es geht um das Vertrauen, die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger, Souveränität in Form der eigenen Währung abzugeben in eine europäische Verantwortung. Dieses Vertrauen darf nicht dadurch enttäuscht werden, dass zum Schluss jeder macht, was er will, und den kommenden Generationen nicht mehr bleibt als ein Fragezeichen. Die heutigen Dimensionen der Europäischen Union sind atemberaubend und faszinierend; für viele, muss man sagen, fast schon wieder überfordernd. 25 Länder, 450 Millionen Menschen, große ökonomische Unterschiede auch, aber: Menschen, die in Frieden, Freiheit und Wohlstand leben, die einen EU-Pass haben, die Mobilität in allen Bereichen erfahren. Junge Leute können heute in Litauen studieren, in Frankreich Berufserfahrung sammeln, in Skandinavien und in Polen Unternehmen gründen, und sie können dort sogar Bürgermeister und Gemeinderäte mitwählen. Das ist die Erfahrung einer Generation, wie sie heute heranwächst. Das ist vor allen Dingen gerade für Jüngere eine Perspektive, aber es ist für die, die zwei Weltkriege oder mindestens einen noch persönlich miterlebt haben, natürlich auch eine unglaubliche Genugtuung. Das heißt, wir leben in einer Zone der Gemeinsamkeit, der Freiheit, der Sicherheit und der Stabilität, und wir bleiben dafür dankbar, gerade denen, die das geschaffen haben. Ich persönlich bin immer wieder voller Bewunderung, wie Menschen nach so leidvollen Erfahrungen wie dem Zweiten Weltkrieg unmittelbar die Lehren gezogen und gesagt haben: Wir werden das verändern, wir haben daraus etwas gelernt. Und weil es so wunderbar gegangen ist, ist es vielleicht umso wichtiger, immer wieder zu versuchen, sich zu erinnern: Was waren denn nun die Ideen, die geistigen Ressourcen, aus denen heraus das passieren konnte? Wie können eigentlich Pommern und Bayern, Katalanen und Flandern, Walliser und Lombarden trotz ihrer Unterschiede in Sprache, Tradition, Lebensweise zu einem solchen gemeinsamen Verständnis kommen, dass sie bereit sind, viele Dinge für sich auch gemeinschaftlich zu organisieren? Vor mehr als 70 Jahren schrieb der spanische Kulturphilosoph Ortega y Gasset in seinem Bestseller „Aufstand der Massen“: „Spanier, Deutsche, Engländer und Franzosen sind und bleiben so verschieden, wie man nur will. Aber machten wir heute eine Bilanz ihres geistigen Besitzes, so würde sich herausstellen, dass das meiste davon nicht unserem jeweiligen Vaterland, sondern dem gemeinsamen europäischen Fundus entstammt. In uns allen überwiegt der Europäer bei weitem den Deutschen, Spanier und Franzosen.“ Deshalb müssen wir uns immer mal wieder fragen: Was ist denn nun in uns der Europäer? Welche Traditionen sind das? Ich denke, es sind die drei großen Stränge europäischer Kultur, die griechischrömische Antike, die jüdisch-christliche Tradition und die Aufklärung, die unserem Kontinent das Gesicht gegeben haben. Insbesondere das Christentum hat Europa geprägt, auch wenn es in sehr verschiedenen Formen lebte, in der liturgischen Form des byzantinischen Ostens, in den sakramentalen und karitativen Traditionen des römischen Katholizismus, in der protestantischen Tradition und auch in der Tradition laizistischer Staaten. Aber es gibt zwischen all dem einen inneren Zusammenhang: Es entspricht dem Geist der Demokratie, die Berufung des Menschen, die Würde der Person in individueller Freiheit, den Respekt vor dem Recht des anderen und die Nächstenliebe gegenüber seinem Mitmenschen zu verwirklichen. Das ist das, was das jüdisch-christliche Verständnis vom Menschen als Ebenbild Gottes gefolgert hat: die natürliche Gleichwertigkeit aller Menschen, unabhängig von Nationalität, Sprache, Kultur, Religion, Hautfarbe und Geschlecht. Das, was uns heute so selbstverständlich vorkommt, obwohl es ja manchmal gar nicht so selbstverständlich zu leben ist, das ist der gar nicht so selbstverständliche Grundbestand. Denn wenn wir uns einmal weit in die Geschichte zurückversetzen, war es nicht klar, dass die Würde jedes einzelnen Menschen unteilbar und gleich ist. Auch wir müssen uns vor Augen führen, was es bedeutet, wenn wir über Globalisierung reden. Damit verbietet sich die Festung Europa! Damit verbietet es sich, dass wir uns in einen Raum begeben, in dem wir uns abschotten und anderen etwas nicht gönnen. Damit verbietet es sich eigentlich, Angst zu haben vor denen auf der Welt, die das gleiche Recht auf Wohlstand, auf Lebensentfaltung, auf Freiheit für sich in Anspruch nehmen. Wir müssten uns freuen, dass Chinesen, Inder und andere heute dabei sind, auch für sich ein besseres Leben zu gestalten. Angst ist nicht die adäquate Antwort auf unser christliches Menschenbild. Und das ist schwer, denn wir müssen das bessere Leben nicht nur mit unserem Nachbarn in Deutschland teilen, sondern wir müssen es mit jedem Menschen auf dieser Erde teilen. Entwicklungshilfe in Zukunft wird eben nicht einfach eine karitative Geste sein, wenn wir sonst gerade nicht allzu viel zu tun haben, sondern es ist ein Auftrag an uns, wenn wir es mit unserem Menschenbild ernst meinen. Im Übrigen glaube ich, dass aus der Frage, wie wir auf diese Entwicklung reagieren, die Antwort erfolgen wird, ob unser Modell Europa, wie wir es leben, ob unsere Werte in Europa, wie wir sie haben, von anderen geachtet werden, oder ob sie als ein schöner Schein wahrgenommen werden, der in Bezug auf andere, die aus anderen Traditionen kommen, plötzlich keine Gültigkeit mehr hat. Das ist eine Riesenbewährungsprobe in der Globalisierung für uns alle. Die Würde der Person, die in Gott verankert ist, und die Berufung zur Frei-heit, das ist der tiefste Grund für alle Menschenrechte, für Rechtsstaatlich-keit, für Gerechtigkeit, für Solidarität, auch in der Ausprägung des modernen Sozialstaates, für Subsidiarität, also die Tugend der Selbstgestaltung, statt die persönliche Freiheit an Institutionen zu delegieren. Solidarität und Subsidiarität, das sind ja auch die beiden Grundprinzipien der Europäischen Union, sind kein Zufall, sondern sie sind das Ergebnis Jahrhunderte langer Entwicklungen, die über Antike, Bibel, europäische Aufklärung hin zur katholischen Soziallehre und evangelischen Sozialethik geführt haben. Eines baut auf dem anderen auf, und zu glauben, wir könnten Trotz politischer Turbulenzen in Berlin kommt Frau Dr. Angela Merkel pünktlich in die Katholische Akademie, was Akademiedirektor Dr. Florian Schuller sichtlich freut. Mitglieder des Bayerischen Kabinetts mit Ministerpräsident Edmund Stoiber können an dem Termin nicht teilnehmen. Sie befinden sich zum Papstbesuch in Rom das alles verschütten und trotzdem in die Zukunft gehen, wird uns nur in eine große Desorientierung führen. Natürlich bilden eine weitere Grundlinie europäischer Werte die lang andauernden Prozesse der Differenzierung von Staat und Religion. Im christlichen Abendland hat sich die Trennung von geistlicher und weltlicher Gewalt, die Urform der Gewaltenteilung, in einem Jahrhunderte währenden Prozess vollzogen. Heute sind Religionsfreiheit, Toleranz, Pluralität, Schutz von Minderheiten, regionale Vielfalt, religiöse Vielfalt natürlich selbstverständliche Bestandteile europäischer Grundrechte. Dieses kulturelle, religiöse und humanistische Erbe Europas, das ja auch in der Präambel des Verfassungsvertrages zum Ausdruck kommt, bildet das Fundament unserer gemeinsamen Identität, und dieses Wertefundament prägt bis heute unser europäisches Menschen-, Gesellschafts- und Weltbild. Gerade in der Präambel zur Europäischen Verfassung ist ja noch einmal deutlich geworden, wie schwer es ist, in diesem gemeinschaftlichen Werteraum Europa auszusprechen, was uns prägt. Ich persönlich werde nicht aufgeben, diesen Kampf weiterzukämpfen. Es hat in Europa so vieles so lange gedauert. Aber es wäre nun ganz falsch, etwas aufzugeben, nur weil man etwas in fünf oder sechs Jahren nicht hinbekommt, sondern man sollte es weiterverfolgen. Ich sehe sehr interessante Entwicklungen in Frankreich, einem sehr laizistisch geprägten Land, über die Frage, wie weit man eigentlich Politik, Gesellschaft organisieren kann in der hohen Distanz zum Bekenntnis, zum Glauben. Das, was einmal eine sehr vorteilhafte Entwicklung für bestimmte Dinge war, kann ja auch in bestimmten zeitlichen Abschnitten sich wieder als revisionsbedürftig herausstellen. So etwas hat es immer gegeben. Und deshalb sollten wir hier als Deutsche eine sehr klare Haltung haben, und ich werde die auch weiter vertreten. Europa kann stolz sein, eine humane und offene Gesellschaft geschaffen zu haben. Die europäische Idee ist ein Erfolg, doch es reicht natürlich nicht aus, auf dem Bestehenden zu verharren. Dass wir heute Europa in einer Krise finden, hat vielleicht auch damit zu tun, dass Europa vor großen Herausforderungen steht. Das Wertefundament ist für die Bürgerinnen und Bürger erfahrbar, aber es ist für viele nicht sichtbar, wie ich es eben dargestellt habe. Die Integrationskraft von Wirtschaft und Währung erweist sich als richtig, aber nicht ausreichend. Sie ist begrenzt. Und es kommen eben die Ängste vor Zuwanderung und wenig kontrollierbaren Erweiterungen hinzu. Das heißt also: Lohn-Dumping, Arbeitsplatzkonkurrenz, Angst vor Kriminalität, Angst vor einem bürokratischen Superstaat, Angst vor der Entgrenzung, wie man an der Diskussion über den Beitritt der Türkei sieht, all das beunruhigt die Menschen. Es ist immer richtig und wichtig in Demokratien, das, was die Menschen beunruhigt, mit einer Antwort zu versehen. Doch weil Europa die richtige Antwort auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war, muss nicht jede Entwicklung in Europa jetzt auch richtig sein. Ich persönlich glaube, dass mit der richtigen Einführung des Binnenmarktes trotzdem eine Vielzahl von Problemen geschaffen wurde, die wir miteinander besprechen müssen. Wir brauchen vor allen Dingen auch eine politische Steuerung der europäischen Einigung und keine willkürliche Weiterentwicklung, wie sie jedenfalls für viele Menschen heute so erscheint. Es ist interessant, dass Papst Benedikt XVI. noch als Kardinal Ratzinger sehr eindrücklich geschrieben hat, dass es eigentlich ein Paradoxon gibt: Dass mit dem Sieg der posteuropäischen technisch-säkularen Welt, mit der Universalisierung auch unseres Lebensmusters und unserer Denkweise, die weltweit sich durchgesetzt hat, nun aber die Stunde anderer Wertesysteme zu entstehen scheint, obwohl wir uns so durchgesetzt haben, und dass wir sozusagen eine Erschlaffung, eine Erlahmung unserer eigenen seelischen Kräfte erleben. Wir haben vieles durchgesetzt und sind uns selber ganz unsicher geworden, wie es weitergehen soll. Das heißt, er schreibt dann: „Europa scheint ausgerechnet in der Stunde seines äußersten Erfolgs von innen her leer geworden, gleichsam von einer lebensbedrohenden Kreislaufkrise gelähmt, auf Transplantate angewiesen zu sein. Das Anwachsen der Gewalt, die Flucht in die Droge, das Zunehmen der Korruption lässt uns sehr fühlbar werden, dass der Werteverfall materielle Folgen hat und dass Gegensteuerung notwendig ist.“ Und weiter heißt es: „Europa braucht eine neue, gewiss kritische und demütige Annahme seiner selbst, wenn es überleben will. Die immer wieder leidenschaftlich geforderte Multikulturalität ist manchmal vor allem eine Absage an das Eigene, eine Flucht vor dem Eigenen. Aber Multikulturalität kann ohne gemeinsame Konstanten, ohne Richtpunkte des Eigenen nicht bestehen.“ Ich teile das in vollem Umfang. Deshalb haben wir die Aufgabe, uns neu zu besinnen und zu fragen: Was können denn solche Richtpunkte des Eigenen sein, an dem wir uns orientieren und aus dem heraus wir Politik und Gesellschaft gestalten? Da ist für mich zuerst die Menschenwürde. Europas Werte sind komprimiert in der Idee von der Würde des Menschen. Was besagt nun diese unbedingte Würde des Menschen? Was heißt, menschliches Leben ist unverfügbar, jeder Mensch ist einmalig, jeder besitzt die gleiche, unveräußerliche Würde? Er ist zur Freiheit gerufen, Geschöpf und Schöpfer zugleich. Freiheit ist also Dreh- und Angelpunkt unseres Denkens, aber nicht eine beliebige Freiheit, sondern eine verantwortete Freiheit, eine Freiheit, die nicht Freiheit von etwas ist, sondern die Freiheit zu etwas ist. Der Mensch ist eben nicht nur Individuum, sondern er ist Gemeinschaftswesen und trägt damit Verantwortung für die Gemeinschaft. Freiheit und Verantwortung sind deshalb auch von Anfang an zusammengefügt, und die Politik hat die Aufgabe, Menschen die Freiheit zu sichern, damit der einzelne Mensch sich entfalten kann in seiner Stärke, mit seinen Talenten, mit dem, was ihm gegeben ist. Auch wenn das christliche Menschenbild das Wissen einschließt, dass Menschen Fehler machen, dass sie verführbar sind, auch durch Macht und Missbrauch, hat die Idee von der unbedingten Würde des Menschen dazu geführt, dass Europa eine menschliche Gesellschaft aufbauen konnte. Da haben wir heute völlig neue Herausforderungen: Ich nenne die Möglichkeiten der Gentechnologie, ich nenne die Biomedizin. Da ist es mit Sicherheit so, dass wir völlig neue Aufgaben bekommen, Chancen und Risiken gegeneinander abzuwägen und dann auch entschieden für unsere Antwort einzutreten. Wir wissen, dass wir menschliches Leid lindern können durch medizinische Erfolge, aber wir dürfen nicht die Zerstörung der einen personalen Würde für die Sicherung der anderen verwenden. Das ist der Konflikt, in den wir uns begeben, bei dem wir aber auch eine klare Antwort finden müssen. Wir dürfen keinem Machbarkeitswahn verfallen, und das ist kompliziert. Es sind vielleicht die spannendsten, vielleicht die ehrlichsten, die tiefgründigsten Debatten im Deutschen Bundestag, wenn wir über Gesetze wie das Embryonenschutzgesetz, über die Frage der Stammzellennutzung diskutieren, wenn es für Stunden keinen Fraktionszwang gibt, wenn darum gerungen wird, auch die Gesetze über Organtransplantation zum Beispiel, ausgesprochen schwierige Fälle. Wir werden uns in den nächsten Jahren sehr intensiv damit auseinandersetzen müssen: Was ist die personale Würde eines Menschen? Was darf ich an diesem Menschen alles ändern? Wie lange ist seine Identität gewahrt? Was darf ich am Anfang nicht tun? Was bedeutet das auch dann an Verzicht, um vielleicht anderen helfen zu können? Wir können nicht alles haben. Und wie müssen wir uns international einbringen, um das, was wir richtig finden, auch wirklich lebbar zu machen? Denn auch das muss man sehen: Vieles kann man vielleicht zu Hause noch verhindern, aber man kann zum Schluss eben nicht sicherstellen, dass es woanders nicht geschieht. Es geht am Ende des Lebens um die schwierigen Fragen des Sterbens, der Hilfe zum Sterben: eine Debatte, die uns ganz sicherlich sehr beschäftigen wird; eine Debatte, um die wir auch noch in vielen Konsequenzen manche Bögen machen. Ich habe mich in den letzten Monaten sehr intensiv z.B. mit der Frage der Patientenverfügung befasst, und je mehr ich mich damit beschäftige, umso unsicherer werde ich. Wer kann über sich selbst weit vor dem eigenen Tod entscheiden? Wer wagt zu beurteilen, wie es einem geht, wenn man in eine komplizierte Situation gekommen ist? All dies ist fast menschenunmöglich. Angesichts der demographischen Entwicklung werden wir sehr viel Kraft darauf verwenden müssen, ich sage aber auch, verwenden wollen, um über die Frage zu diskutieren, wie das Ende des Lebens menschlich gestaltet wird, ohne dass etwa Ältere sich in unserer Gesellschaft überflüssig fühlen und Angst haben, dass sie zur Last fallen. Denn wenn man einmal am Anfang oder am Ende des Lebens beginnt, vermeintliche Kompromisse zu machen, gibt es keine Grenzen mehr. Wer soll diese Grenzen ziehen? Die Diskussion über die Respektierung von Grenzen wird mindestens so viel Kraft kosten oder Zeit einnehmen wie die Ausweitung von möglichen Grenzen durch Forschung, Entwicklung und Technologie. Wir müssen natürlich auch erkennen, dass Menschenwürde nicht in allen Ländern Europas und erst recht nicht in allen Teilen der Welt den gleichen Stellenwert hat. Wenn es um wirtschaftliche Zusammenarbeit oder um Abhängigkeit von Rohstoffen geht, wenn es um die Frage guter Handelsbeziehungen mit stark wachsenden Regionen geht – China, Russland, viele andere –, kann es sofort zu Interessenkonflikten kommen: Wie weit spreche ich über Menschenrechte, wie weit lasse ich sie weg? Wie weit lasse ich mich sozusagen auch drücken und drängen, Dinge nicht öffentlich zu machen? All das sind schwierige Fragen, denen wir uns jeden Tag wieder stellen müssen, und bei denen wir nicht zu schnell in vermeintlichen Pragmatismus verfallen dürfen. Jedes Menschenleben wiegt gleich viel. Ich kann aus meiner eigenen Erfahrung sagen, und die ist in der DDR immer noch vergleichsweise harmlos gegen vieles gewesen, was woanders passiert ist, aber schlimm genug; ich kann nur sagen, wenn es nicht Menschen in der alten Bundesrepublik gegeben hätte, die viel Kraft darauf verwandt haben, herauszufinden, ob einer und wo einer in Bautzen im Gefängnis saß, und wenn man sich um diese Menschen nicht gekümmert hätte, es nicht immer wieder öffentlich gemacht hätte, dann wären so viele Dinge einfach verloren gegangen, überhaupt nie bekannt geworden. Und wenn Sie überlegen, wie wir heute wissen aus Erzählungen von denen, die dann herausgekommen sind, was es für ihr Leben, für ihre Familien bedeutet hat, dass sich andere für sie interessiert haben, dann wird mir manchmal ganz schummrig, wenn ich an Schicksale in anderen Ländern denke, um die wir uns wenig Gedanken machen, oder bei denen wir auch in unserer täglichen politischen Arbeit kaum Kraft haben, uns damit zu befassen und zu sagen, sollen wir da auch noch hinhören. Deshalb muss – ich sage das auch für die CDU – das Thema Menschenrechte gerade aus unserer deutschen Erfahrung heraus einen ganz wichtigen Stellenwert in unserer Politik haben. Alles andere wäre kein nachdrückliches Bekenntnis zum christlichen Menschenbild. Unser Menschenbild: Wir haben zum zweiten unser europäisches Sozialmodell. Ich bin nicht der Meinung, dass man es nun in antagonistischen Gegensatz gegen angelsächsische Modelle stellen sollte, aber es gibt Unterschiede. Es gibt Unterschiede in der Frage, wie weit soll Solidarität, auch staatlich ausgeübte Solidarität, Teil unserer Politik sein. In den 25 EUMitgliedstaaten z.B. werden 27 Prozent des Brutto-Inlandsprodukts der öffentlichen Ausgaben für den Sozialschutz ausgegeben, 15 Prozent dagegen nur in den USA, 17 Prozent in Japan. Sie können daran schon eine Tradition erkennen. Wir haben eine starke Tradition des sozialen Dialogs, der Partnerschaft. Die soziale Marktwirtschaft ist Ausdruck des Überwindens von Gegensätzen zwischen Kapital und Arbeit. Aber natürlich werden gerade die Sozialmodelle im Augenblick durch einen gemeinsamen Wirtschaftsraum in der Europäischen Union auch auf einen starken Prüfstand gestellt, und durch die Herausforderung der Globalisierung auch. Ich glaube, es gibt niemanden, der in diesem Raum die soziale Marktwirtschaft, den sozialen Ausgleich, die Solidarität, das Einstehen für Risiken, die für den Einzelnen nicht fassbar sind, in Frage stellt. Die Frage, die beantwortet werden muss, ist die: Wie können wir es schaffen, das auch zu realisieren? Wie können wir den Richtigen helfen, und denen, die sich ein bisschen hängen lassen, doch wieder Anreize geben, sich selbst anzustrengen? Die Antwort kann nicht sein, dass wir das immer auf Pump tun, in der Erwartung, dass künftige Generationen schon irgendwie eine Lösung für ihre Probleme finden werden. Ich beschäftige mich als Politikerin berufshalber jeden Tag mit der Frage, wie wir auf Kosten der zukünftigen Generation leben, und es ist schwindelerregend. Wir sind im Augenblick bei einer Investitionsquote unseres Haushalts, die liegt unter neun Prozent. Wenn auch die Zinsen nur noch etwas steigen auf den internationalen Märkten, werden die Schulden in einer dramatischen Weise noch einmal steigen, weil die Zinszahlungsnotwendigkeiten steigen. Es wäre nicht redlich, zukünftigen Generationen noch weniger Investitionsspielräume zu übergeben. Deshalb ist es keine böse Absicht, wenn wir darüber sprechen, dass wir die Lebensarbeitszeit vielleicht verlängern müssen, sondern es ist die schlichte Erkenntnis, dass wir, nachdem es schon dem Kommunismus und Sozialismus nicht gelungen ist, wahrscheinlich keinen Weg finden werden, in den nächsten Jahren die mathematischen Regeln von Adam Riese außer Kraft zu setzen. Und weil das wahrscheinlich nicht geht, und uns keine Schwerkraft und keine Beschleunigung helfen wird, irgendwie die Abstände zu verringern oder die Zeiten zu dehnen, müssen wir uns mit den Realitäten auseinandersetzen. Auch das gehört zum christlichen Menschenbild, dass wir nicht alles schon verfuttert haben, was eigentlich den zukünftigen Generationen gehört. Das heißt, wir müssen vielleicht an mancher Stelle doch wieder etwas dynamischer werden. Es beißt die Maus keinen Faden ab: Das ist gerade auch für Deutschland eine Aufgabe, denn von unserer Prosperität hängt es ab, ob andere in Europa gut leben können. Deshalb ist Wohlstand für alle etwas, was wir nur dann erreichen können, wenn wir in den Entwicklungen vorne mit dabei sind, die auch Neuigkeiten bedeuten. Bundespräsident Horst Köhler hat es für mich in einen ganz nachvollziehbaren Satz gebracht: „Wir wollen teurer sein als andere; alles prima. Aber wir müssen eben um so viel besser sein, wie wir teurer sind.“ Dieser Anspruch muss erfüllt werden. Ich habe viel mit Menschen darüber gesprochen in den vergangenen Monaten, und ich spüre, dass viele daran schon gar nicht mehr glauben. Können wir wirklich besser sein als die Chinesen? Können wir wirklich besser und schneller sein als die Inder? Wir haben allen Grund, angesichts der europäischen Volksgeschichte jetzt, wo die Freiheit in fast ganz Europa gesiegt hat, nicht zu verzagen und zu sagen, das schaffen wir nicht. Das wäre eine ganz komische und unhistorische Antwort auf die Erfolgsgeschichte. Aber wir müssen uns anstrengen. Es ist uns nicht in die Wiege gelegt, es gibt keine Rechtsansprüche dafür. Diese Anstrengung bedeutet Neugierde, bedeutet auch die Fähigkeit, Risiken einzugehen. Also, mehr Dynamik, und eine Abwägung, wie viel Sicherheit können wir uns geben, und wie viel Risiko muss ich eingehen. Ich habe manchmal die Angst, dass mit dem Verlust an Gottvertrauen auch die Unfähigkeit einhergeht, bestimmte Risiken zu ertragen. Aber die Idee, man könnte alles planen, alles voraussagen, ist im Grunde keine freiheitliche Idee, weil sie Freiheitsräume ungenutzt liegen lässt, die man mit etwas Gottvertrauen beschreiten würde, und zu denen man sich heute nicht mehr aufrafft. Wir brauchen sicherlich auch wieder mehr Menschlichkeit, die Fähigkeit zum Teilen in Europa. Die Individualisierung der Gesellschaft führt schnell auch dazu, dass wir ganze Gruppen am Rande liegen lassen oder nicht beachten. Teilhabe an der Gesellschaft ist die Voraussetzung dafür, dass es nicht zu einem inakzeptablen Auseinanderklaffen in Deutschland und in Europa kommt. Es ist nicht nur die materielle Arbeit; es ist auch die Erfahrung, nicht teilnehmen zu können an dem, was die Gesellschaft voranbringt. Da gibt es die älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die scheinbar nicht mitkommen mit den Entwicklungen der Zeit, bei denen wir aber heute schon in großen deutschen Betrieben bemerken, wenn sie fehlen, fehlt auch Lebenserfahrung, fehlt auch das, was man nur in jahrzehntelanger Erfahrung aufbauen kann: eine gewisse Routine, eine gewisse Gelassenheit, eine gewisse Fähigkeit, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden, große Konflikte an kleinen Ereignissen vorauszusehen. Das heißt also, wir leben sehr ineffizient, wenn wir ganze Altersgruppen aus unserer Gesellschaft ausgrenzen. Wir müssen die Familien stärken in unserer Gesellschaft: Ein Satz, den wir seit vielen Jahren sagen, der von vielen Familien eher als Sonntagsrede verstanden wird. Dazu gehört für mich auch das klare Bekenntnis zu Ehe und Familie, mit all den Folgerungen, die es hat. Ich bin ein toleranter Mensch. Ich glaube auch, wir sollten gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften Rechtssicherheit in einem bestimmten Umfang geben. Aber die Ehe für Homosexuelle in der Gleichrangigkeit mit der Ehe und Familie, wie sie im Grundgesetz verankert ist, halte ich nicht für richtig. Ich sage das, obwohl ich mit vielen Betroffenen diskutiert habe, und ich sage im Übrigen, vielleicht sollten wir uns solchen Diskussionen auch öfter aussetzen, weil sie sehr schwierig zu führen sind, weil sie einen schnell auch in die Situation bringen: Gönnt ihr uns das nicht, weil ihr anders seid? Was leitet euch? Wir neigen dazu, bestimmte Fragen einfach abzuschneiden und zu sagen, schon der sie stellt, diskreditiert sich selber. Das ist immer ein schlechtes Zeichen. Da ich die Freude hatte, im Rahmen der Union und der CDU unter dem Bundeskanzler Helmut Kohl sowohl Frauen- als auch Umweltministerin zu sein, kenne ich die Gebiete, in denen sozusagen auch die CDU sich schwer tut, auf alle Fragen Antworten zu finden. Viele Fragen wurden deshalb immer schon als respektlos qualifiziert, damit man sich mit ihnen gar nicht mehr befassen musste. So etwas führt immer dazu, dass Volksparteien schrumpfen und sich nicht ausweiten. Deshalb heißt es nicht, dass man beliebig alles richtig findet. Aber es heißt auch, dass man sich seiner Antworten immer wieder vergewissert. Antworten müssen auch in neuen Zeiten immer wieder Bestand haben. Die Erziehungskraft der Familie stärken heißt aber auch, eine Gesellschaft zu organisieren, die ein Herz für Kinder hat. Auch hier werden wir uns neuen Fragen stellen müssen. Viele Familien haben heute nicht die Erziehungskraft, die sie haben müssten. Man kann darüber schimpfen; man kann die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und sagen: was sind das für Eltern! Aber wir müssen auch fragen: Was machen wir jetzt? Solange die Kinder zehn, elf, zwölf Jahre alt sind, kann man noch Einfluss nehmen. Wenn sie älter werden, wird es immer schwieriger. Und wenn sie dann einmal zwanzig sind und die Karriere irgendwo zwischen Gefängnis und wieder Herauskommen angesiedelt ist, dann ist es ein gesellschaftliches Problem. Ich glaube, hierüber müssten wir uns viel mehr Gedanken machen und vor allen Dingen die würdigen, die sich tagtäglich als Bewährungshelfer, als Jugendarbeiter, als Sozialarbeiter solchen Fällen stellen und die in unserer Gesellschaft in der Akzeptanz, in der Anerkennung längst nicht den Stellenwert genießen, den sie genießen müssten. Wir brauchen mehr Subsidiarität. Das heißt, wo immer es möglich ist, nah am Menschen handeln. Subsidiarität bedeutet, Regionen stark zu machen, Vielfalt zuzulassen, den Menschen etwas zuzutrauen. Es bedeutet für die Politik auch, loslassen zu können, insbesondere für die Zentralen. Es bedeutet, keine Überregulierung. Das ist gerade ein Thema, das wir im Zusammenhang mit Europa ganz intensiv miteinander diskutieren müssen. Es ist richtig, etwas in Europa zu regeln, wenn es auf anderen Ebenen nicht geregelt werden kann. Die heutige Tätigkeit der Europäischen Kommission überschreitet mit Sicherheit diesen Spielraum, der den Europäern eigentlich gegeben ist. Europa muss sich natürlich bewähren als Wirtschaftsraum, muss seine Interessen nach außen vertreten. Deshalb halte ich es für absolut wichtig, bei den Verhandlungen der Welthandelsorganisation, wie wir sie jetzt wieder haben, gemeinsam aufzutreten. Wir können als Nationalstaaten dort überhaupt nicht mehr agieren und unsere Interessen alleine vertreten, überhaupt keine Frage; aber Reduktion auf das, was notwendig ist, und den Menschen vor Ort etwas zutrauen. Wir werden keine Freiheit erleben, wenn wir alles zuregulieren; das ist auch eine der Erfahrungen, die wir in den letzten Jahren gemacht haben. Europa muss ein Kontinent sein, der sich für den Frieden auf der Welt einsetzt. Wir wissen heute, dass wir viele Konflikte nur dadurch bändigen konnten, dass wir auch Verantwortung übernommen haben. Wenn ich einmal an die jüngste Geschichte des Balkan denke, auch an die Aufgaben, die dort noch vor uns liegen, dann sehen wir, wie schnell Frieden gefährdet ist, und wie richtig es war, sich hier einzusetzen. Wir müssen uns aber auch für andere Regionen in der Welt einsetzen, und wir müssen uns vor allem mit vollkommen neuen Bedrohungen auseinandersetzen. Hier haben wir es mit einer Aufgabe zu tun, auf die ich die letzten Antworten noch nicht weiß. Der Kalte Krieg war in gewisser Weise trotz aller Schrecklichkeit überschaubar. Damals standen sich Blöcke gegenüber, bei denen die jeweils Herrschenden in jeder Konfliktsituation selber überleben wollten. Es war eine berechenbare Angelegenheit. Deshalb war das Szenario der Abschreckung auch ein wirksames Szenario. Heute, mit dem Terrorismus und der terroristischen Gefahr, haben wir es mit Gegnern unserer offenen Gesellschaften zu tun, die ihr eigenes Leben nicht unbedingt erhalten wollen, sondern bereit sind, dieses Leben für den aus ihrer Sicht gerechten Kampf hinzugeben. Diese Tatsache führt zu einer völlig neuen Notwendigkeit der Auseinandersetzung, weil die Gegebenheiten so unterschiedlich sind, wie sie nur sein können: Wir wollen unser Leben und unsere freiheitlichen Gesellschaften schützen, wir wollen sie offen halten, und andere sind bereit, ihr Leben dafür zu geben, unsere Gesellschaft zu zerstören. Es wird uns in den nächsten Jahren und Jahrzehnten intensiv beschäftigen, wie wir diesen neuen Herausforderungen begegnen. Aus meiner Sicht kann man ihnen nur international begegnen. Das kann Europa alleine auch nicht machen. Dafür brauchen wir die transatlantische Partnerschaft, dafür brauchen wir das gemeinschaftliche Wertefundament mit den Demokratien; dafür brauchen wir eine neugestaltete NATO. Europa muss in all diesen Bereichen nicht nur moralisch wissen, was zu tun ist, sondern auch aktiv bereit sein, daran Anteil zu haben. Es gibt Entwicklungen, die uns in den letzten Jahren hier auch Sorgen machen mussten. Wir haben darüber viel diskutiert, und ich werde nicht anstehen zu sagen, Europa alleine wird es nicht schaffen, sondern die Demokratien dieser Welt, und dazu gehören unsere amerikanischen Partner ganz vorne mit dazu, müssen gemeinsam den Kampf gegen die Feinde der Freiheit und die Gegner der Freiheit führen. Es hat keinen Sinn, wenn Europa gegen Amerika versucht, Vorteile gegenüber Dritten zu erzielen, die sich den Werten der Freiheit nicht völlig gestellt haben oder verpflichtet haben, weil uns das alle zum Schluss schwächer machen wird und das, was uns eigentlich wichtig ist, um eines kurzfristigen Vorteils willen vielleicht, um eines wirtschaftlichen Auftrags oder sonst etwas, zum Schluss in eine schwere Defensive bringen wird. Deshalb müssen auch diese grundlegenden Dinge klar sein. Eine stabile Ordnung herzustellen heißt, dass wir uns natürlich auch mit den Grenzen Europas befassen. Im Bezug auf diese Grenzen Europas geht es um einen Raum von Werten, um einen Raum von Geschichte, um die Frage der Integrationskraft der Europäischen Union. Deshalb haben wir an der Stelle der Vollmitgliedschaft mit der Türkei eine sehr klare Position. Die heißt nicht etwa, dass wir uns der geostrategischen Aufgabe, die Türkei an Europa zu binden, nicht bewusst sind. Aber wir glauben, im Rahmen einer Vollmitgliedschaft kann dies nicht der Fall sein, jedenfalls nicht in der für mich übersehbaren Zeit. Wir haben dies immer wieder deutlich gesagt, und wir haben auch Wert darauf gelegt, dass die Verhandlungen ergebnisoffen angelegt werden. Das Ziel einer privilegierten Partnerschaft haben wir nicht verankern können. Auch das kann uns wiederum nicht davon abhalten, das, was wir für richtig halten, zu sagen und in die zu führenden Verhandlungen auch sehr deutlich einzubringen. Die Traditionen europäischer Grundwerte müssen sorgsamst gepflegt werden, denn was man nicht pflegt, verkümmert. Deshalb muss der Diskurs, und deshalb bin ich der Katholischen Akademie auch sehr dankbar, immer wieder angestoßen werden. Dann, wenn uns alles selbstverständlich scheint, ist es umso wichtiger, der heranwachsenden Generation wieder Rede und Antwort zu stehen, warum die Dinge, die wir tun, so richtig sind und anders nicht getan werden können. Wir laufen im Augenblick Gefahr, in Routine zu ersticken und uns der dahinter befindlichen geistigen Grundlagen nicht mehr zu vergewissern, was auf Dauer genau zu dem führt, was Papst Benedikt XVI. beklagt, nämlich zu einer gewissen Leere und zu einer gewissen Orientierungslosigkeit. Deshalb wird es ganz wichtig sein, in einer Zeit, in der wir vielleicht zum ersten Mal in Deutschland und in weiten Teilen Europas damit konfrontiert sind, dass wir unsere Stabilitäten nicht aus einem automatisch wachsenden Wohlstand generieren können, gerade in einer solchen Zeit uns der Grundlagen von Demokratie und der Grundlagen unserer Werte noch einmal besonders stark zu vergewissern. Ich zitiere noch einmal Papst Benedikt XVI., damals Kardinal Ratzinger: „Europa ist kein geographisch deutlich fassbarer Kontinent, sondern Europa ist ein kultureller und historischer Begriff.“ Dessen sollten wir uns bewusst sein, und mit diesem Begriff müssen wir operieren können. Ich glaube, dass es vielen in der Bevölkerung an dem Wissen um diesen kulturellen und historischen Begriff doch ein wenig fehlt. Ich will das nicht zu gering schätzen. Ich hatte einen Mathematik-Professor, den wir immer fragten, ob wir Material mit Tafelwerken und sonstigen Formeln bei unseren Klausuren mit uns führen durften. Da hat er gesagt: Meinetwegen nehmen Sie es mit; aber ich frage mich eigentlich, womit wollen Sie denken, wenn Sie nichts im Kopf haben! Und genauso ist es, wenn wir nicht einen immer verfügbaren Bestand geschichtlicher und historischer und kultureller Fakten und Erkenntnisse Europas in unseren Köpfen haben, verfügbar zur Verknüpfung zu neuen Gedanken angesichts neuer Umstände, dann wird es sehr schwer sein, dieses Europa zu bauen.