Kinder in Armut – eine weitere Herausforderung inklusiver Bildung

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Kinder in Armut – eine weitere Herausforderung inklusiver Bildung
Kinder in Armut – eine weitere Herausforderung
inklusiver Bildung und Erziehung
(Vortrag bei der Tagung
„Gleich – Verschieden – Inklusiv“
am 18.09.2009 an der Universität Siegen)
Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
für die Einladung zu dieser Tagung möchte ich mich herzlich bedanken, speziell auch
für die Aufnahme des Themas Kinderarmut in das Programm. „Kinder in Armut“ sind
in der Tat eine „weitere Herausforderung inklusiver Bildung und Erziehung“ – z.B.
neben Kindern mit komplexen Behinderungen. In der Integrations- und Inklusionsbewegung ist das Thema „Bildungschancen von Kindern in Armut“ lange Zeit ein eher
unterbelichtetes Thema gewesen (vgl. Schumann 2006), was sich allerdings mittlerweile ein Stück weit geändert hat. Dies zeigt auch die Beschäftigung mit meinem
Vortragsthema auf dieser Tagung.
Lassen Sie mich mit einem Zitat beginnen, in dem der Systemtheoretiker Niklas
Luhmann seine Eindrücke von einem Aufenthalt in Lateinamerika zusammengefasst
hat:
„Zur Überraschung aller Wohlgesinnten muss man feststellen, daß es doch Exklusionen gibt, und zwar
massenhaft und in einer Art von Elend, die sich der Beschreibung entzieht. Jeder, der einen Besuch in
den Favelas südamerikanischer Großstädte wagt und lebend wieder herauskommt, kann davon berichten. Aber schon ein Besuch in den Siedlungen, die die Stillegung des Kohlebergbaus in Wales
hinterlassen hat, kann davon überzeugen, […] es ist von Ausbeutung die Rede oder von sozialer Unterdrückung […]. Wenn man jedoch genau hinsieht, findet man nicht, was auszubeuten oder zu unterdrücken wäre. Man findet eine in der Selbst- und Fremdwahrnehmung aufs Körperliche reduzierte
Existenz, die den nächsten Tag zu erreichen sucht. […] Und wenn man das, was man so sieht, hochrechnet, könnte man auf die Idee kommen, dass dies die Leitdifferenz des nächsten Jahrhunderts sein
könnte: Inklusion und Exklusion“ (Luhmann 1996, 227 f.).
Luhmann scheint mit seiner Prognose Recht zu haben. Inklusion und Exklusion sind,
gemessen an der Zahl der Kinder und Jugendlichen, die in Ländern der sog. „Ersten
Welt“ in Armut, Benachteiligung und Randständigkeit leben, auch in diesen Ländern
zu einer Leitdifferenz geworden. Wir haben es mit einer wachsenden Zweiteilung der
wirtschaftlichen und sozialen Situation in Deutschland zu tun, die vor allem auch die
Kinder betrifft:
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Auf der einen Seite wächst der Wohlstand, auf der anderen Seite die Gruppe der
wirtschaftlich und sozial Ausgegrenzten. Nach Angaben des Deutschen Instituts
für Wirtschaftsforschung sind die Einkommensarmutsquoten in Deutschland von
12,0 Prozent im Jahr 1999 auf 17,4 Prozent in 2005 gestiegen und zugleich hat
sich bei fast einem Zehntel der Bevölkerung die Armut verfestigt (DIW 2007, 177).
•
Armut betrifft in Deutschland vor allem Familien mit Kindern, insbesondere Einelternfamilien, „kinderreiche“ Familien ab drei Kindern und Migrantenfamilien. Statistisch gesehen werden also am meisten die Kinder von Armut betroffen, je jünger sie sind, umso mehr.
2
•
Zwei Drittel der Kinder in Deutschland geht es materiell so gut wie nie einer Generation vorher. Allein die Sechs- bis 13-Jährigen verfügen laut Kids-Verbraucheranalyse 2007 über ein Finanzpolster von 5,76 Milliarden Euro (Geldgeschenke,
Sparguthaben und Taschengeld).
•
Andererseits leben rund 2,5 Millionen Kinder und Jugendliche bis zum 18. Lebensjahr von staatlicher Unterstützung (ab 1. Juli 2009 bei einem Hartz-IV-Regelsatz von 251 Euro je Kind von sechs bis einschließlich 14 Jahren und von 215
Euro je Kind bis fünf Jahren).
•
Zu ähnlichen Zahlen kommt eine neue Studie der Organisation für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Danach lebt in Deutschland jedes 6.
Kind in relativer Armut, im OECD-Schnitt hingegen nur jedes 8. Kind). Dabei bestätigte sich wiederum, dass das Armutsrisiko von Alleinerziehenden in Deutschland besonders groß ist (40 Prozent von Ein-Eltern-Familien gelten hier als arm).
Ich werde im Folgenden einige Aspekte zur Armut allgemein und speziell zur Kinderarmut in Deutschland und dessen Risikopotential für die Entwicklung davon betroffener Kinder umrisshaft aufzeigen – dies vor dem Hintergrund, dass mit Kinderarmut
Prozesse massiver sozialer und bildungsbezogener Ausgrenzung verbunden sind.
Anschließend ist es mir wichtig, auf die unzureichende Auseinandersetzung der Integrations- und Inklusionsbewegung mit den exklusionsfördernden Phänomenen Armut und soziale Beteiligung hinzuweisen und einen Blick auf das spannungsvolle
Verhältnis von Verschiedenheit, Gleichheit und Gerechtigkeit zu werfen. Schließlich
werde ich auf Chancen und Aufgaben einer inklusiven Bildung, Erziehung und Förderung im Früh- und Elementarbereich eingehen, aber auch die Schule nicht völlig aussparen.
1. Armut nach dem Lebenslagekonzept
In den politischen Diskursen, vermittelt über die Massenmedien, wird Kinderarmut
vorwiegend auf der monetären Ebene abgehandelt. Das dadurch verkürzte Bild von
Armut besitzt für eine pädagogische Betrachtungsweise wenig Aussagekraft. Vor
allem aus pädagogischer Sicht ist daher ein Armutsbegriff vorzuziehen, der nicht nur
die ökonomische Lage, sondern die Lebenslage insgesamt einbezieht. Dazu verwendet die neuere deutsche Armutsforschung ein mehrdimensionales Lebenslagekonzept. Armut nach dem Lebenslagekonzept wird verstanden als materielle Unterversorgung, die zu Einengung oder Verlust von individuellen Handlungsspielräumen in
zentralen Lebensbereichen führt. Margherita Zander (2008, 113) nennt fünf Lebenslagebereiche oder „Spielräume“:
•
•
•
•
•
Einkommens- und Versorgungsspielraum
Lern- und Erfahrungsspielraum
Kontakt- und Kooperationsspielraum
Muße- und Generationsspielraum
Entscheidungs- und Dispositionsspielraum
In allen fünf Bereichen (Versorgung, Entfaltungs- und Bildungsmöglichkeiten, Kontaktmöglichkeiten, Erholungsmöglichkeiten, Förderung individueller Neigungen und
Fähigkeiten, Wahlmöglichkeiten) können die Handlungsspielräume von Kindern in
Armut eingeschränkt sein.
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Auch in der lebenslagebezogenen Armutsforschung zählt das Einkommen als Kriterium von Armut. Als Schwelle, unterhalb derer Einkommensarmut beginnt, gelten in
der Europäischen Union 60 Prozent des durchschnittlichen, hinsichtlich der Haushaltsgröße und -zusammensetzung bedarfsgewichteten Haushaltseinkommens (Nettoäquivalenzeinkommen) eines Landes; bei einem Äquivalenzeinkommen unter 40
Prozent wird von „strenger Armut“ ausgegangen. Als weiterer Indikator für Einkommensarmut gelten die Regelsätze der Sozialhilfe („Laufende Hilfe zum Lebensunterhalt außerhalb von Einrichtungen“ bzw. Sozialgeld z.B. im Rahmen von Hartz IV).
2. Armut und Verhalten: Gefahr von einseitigen Schuldzuschreibungen an
die Betroffenen
Oftmals wird Armut als eine Folge des dysfunktionalen Verhaltens der betroffenen
Menschen angesehen, als Folge ihrer Probleme, den Anforderungen einer modernen
Gesellschaft z.B. im Arbeitsleben gerecht zu werden. Auch die Auswirkungen von
Armut auf Kinder gelten als Folge des problematischen Verhaltens der Eltern. Diese
seien nicht nur schuld an ihrer eigenen prekären Lage, sondern auch an der Misere
ihrer Kinder. Eine solche einseitige Schuldzuschreibung diskriminiert und beschämt
jedoch nicht nur die Betroffenen, sondern verdeckt die vielfältigen ökonomischen und
sozialstrukturellen Bedingungen, durch die Menschen in soziale Benachteiligung und
Armut geraten.
Ich möchte nicht missverstanden werden. Armuts- und Deprivationsphänomene mit
ihren Entwicklungsrisiken für Kinder und Jugendliche sind gewiss nicht nur unter den
materiellen, sondern auch unter den (sub-)kulturellen Bedingungen ihrer Lebenswelt,
ihres Milieus zu sehen. Die deprivierende Lebenswelt dieser Kinder wird also von
den spezifischen Verhaltensweisen ihrer Bezugspersonen wesentlich mitgeprägt.
Aber beide Dimensionen – die materielle und die soziokulturelle Dimension (das Verhalten) – stehen vor allem bei chronischer Armut in einem engen Bezug: Einschränkende materielle Bedingungen können, besonders wenn sie lange anhalten, zu soziokultureller Dysfunktionalität führen, wie umgekehrt dysfunktionale Verhaltensweisen die Auswirkungen von Armut auch auf Kinder verstärken. Dies meint die Rede
vom „’Teufelskreis’ der Armut“ (vgl. Abb. 1).
Der „Teufelskreis“ von Armut
Armut
Verhalten
Abb.1: Wechselwirkungen zwischen Armut und Verhalten
Armut ist also sowohl in ihrer materiellen Dimension (als Verteilungs- und materielles
Unterstützungsproblem) wie auch in ihrer soziokulturellen Dimension (als – in einem
weiten Sinn – Bildungsproblem) zu begreifen. Sie nur auf eine der beiden Dimensionen, z.B. die soziokulturelle, zu beziehen und Armut einseitig auf dysfunktionale Ver-
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haltensweisen der Betroffenen zurückzuführen (also nur den unteren Pfeil in der Abbildung zu berücksichtigen) stellt eine problematische Verkürzung dar.
Gegen dieses schon sehr alte einseitige Erklärungsmuster nach dem Motto „Arm bist
du, weil du in dieser Gesellschaft nicht funktionierst“ ließen sich viele Argumente anführen. So betont der aus der Resilienzforschung bekannte Kinder- und Jugendpsychiater Michael Rutter, dass förderliche Verhaltensweisen der Eltern gegenüber ihren
Kindern an bestimmte (Mindest-)Voraussetzungen der Gestaltung des eigenen Lebens geknüpft sind:
„Gute Elternschaft erfordert gewisse zulassende Umstände. Die notwendigen Lebensmöglichkeiten
und -gelegenheiten müssen gegeben sein. Wo diese fehlen, mögen es selbst die besten Eltern als
schwierig empfinden, ihre Fähigkeiten auszuüben“ (zit. nach Oppenheim & Lister 1998, 219).
Diese notwendigen Möglichkeiten und Gelegenheiten für eine hinreichend gute Erziehung der Kinder sind jedoch in Armutskonstellationen häufig nicht gegeben. Armut, besonders in ihrer chronischen Form, begründet nicht nur Mangel, sondern ein
„soziales Ausgrenzungsverhältnis“ (Kronauer 2002, 176). Die betroffenen Menschen
werden nicht selten „abgehängt“, von der (Erwerbsarbeits-)Gesellschaft ausgegrenzt
und erleben sich als überflüssig, nutzlos, nicht gebraucht (Bauman 2005, 20). Ihre
Kinder werden „in die doppelte Konstellation von ökonomischer Marginalität und sozialer Isolation hineingeboren“ (Kronauer 2002, 173). Vor allem können mit dauerhafter Armut und Exklusion (insbesondere von der Arbeitswelt) Selbstentwertungs- und
Demoralisierungsprozesse in Gang gesetzt werden – manchmal bis hin zur Selbstverachtung, „betäubt“ im Alkohol- und Fernsehkonsum. Zukunftsperspektiven gehen
verloren, Strukturen der Raum- und Zeitwahrnehmung lösen sich auf, Verunsicherungen entstehen und Orientierungen schwinden (vgl. Bauman 2005, 23; Bourdieu
2001, 283; Castel 2005, 38 f.).
Davon wird auch die familiäre Lebens- und Erziehungswirklichkeit der Kinder geprägt. Menschen, die infolge längerfristiger Arbeitslosigkeit aus der Erwerbsgesellschaft herausfallen, laufen nicht nur Gefahr, dass ihre bisherigen sozialen Netze
wegbrechen oder reduziert werden. Sie verlieren oft auch Orientierung und Sinn, weil
kulturell favorisierte Lebensziele nicht oder nur schwer mehr erreicht werden können
(Kronauer 2002, 199). Dies zehrt nicht selten an der Selbstachtung und am Selbstrespekt. Wie aber soll jemand hinreichend Achtung und Respekt seinen Kindern gegenüber aufbringen, dem es an Achtung und Respekt sich selbst gegenüber mangelt? Ein Kinderarzt, der im Öffentlichen Gesundheitsdienst im Berliner BrennpunktStadtteil Wedding Kinder aus armen Familien betreut, sagt in einem Zeitungsbeitrag:
„Wer selbst nur alimentiert wird, … ‚der hat es sehr schwer, mit Stolz etwas weiterzugeben“ (zit. in Grefe 2003). Gefangen in ihren Alltagsproblemen und Konflikten,
bedrängt von hoher existenzieller Unsicherheit haben Eltern oftmals nicht die Kraft,
um den Aufgaben der Pflege und Erziehung ihrer Kinder hinreichend nachzukommen
und – möglicherweise verschüttete – „intuitive elterliche Kompetenzen“ (Papoušek
1997, 18) zu entfalten.
Bereits die klassische Studie über die psychischen Langzeitfolgen von Arbeitslosigkeit nach der Schließung einer großen Textilfabrik im niederösterreichischen Dorf
Marienthal während der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre (Jahoda et al. 1994)
konnte die Demoralisierungsprozesse nach längerfristiger Freisetzung von Erwerbsarbeit eindrucksvoll belegen: „resignative Antriebslosigkeit“, Nichtstun als beherrschende „Tagesbeschäftigung“ und Zerfließen der gewonnenen freien Zeit in einem
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„diffusgrauen Leerlauf“ (Rühle 2008). Nicht zuletzt zeigte die Marienthal-Studie ein
auf den ersten Blick paradox wirkendes Ergebnis: „Die Kinder dieser Arbeitslosen
wuchsen meist weit weniger behütet auf als die Kinder von Leuten, die noch Arbeit
und auch weniger Zeit für ein intensives Familienleben hatten“ (Rühle 2008).
Mir sind diese Überlegungen wichtig, um zu verdeutlichen, wie komplex und ideologieanfällig das Thema Armut und kindliche Entwicklungsgefährdungen ist. Es gilt
immer darauf zu achten, nicht noch (zusätzlichen) Entwertungsprozessen der Kinder
und ihrer Angehörigen Vorschub zu leisten.
3. Zusammenhänge von Armut und Entwicklungsgefährdungen
Dem komplexen Thema Armut als gravierender Risikofaktor für die kindliche Entwicklung nähere ich mich mit Hilfe von Beobachtungen und Erfahrungen des schon erwähnten Kinderarztes aus dem sozial benachteiligten Berliner Stadtteil Wedding:
„Armut breite sich schleichend aus, sagt Thomas Abel, ‚auf leisen Sohlen, sodass
jeder wegsehen kann’. Er selbst kenne aus seiner Kindheit noch die ‚madenweißen
Zille-Kinder’ aus dem Wohnküchenmief in Weddinger Hinterhöfen: ‚Die sehe ich jetzt
wieder öfter’“ (Grefe 2003).
Anmerkung: Der Begriff „Zille-Kinder“ geht auf den Berliner Maler Heinrich Zille zurück, der zu Beginn
des vorigen Jahrhunderts den Satz geprägt hat: „Man kann einen Menschen mit einer Axt erschlagen,
man kann ihn aber auch mit einer Wohnung erschlagen.“ Er wollte damit auf die Folgen der menschenunwürdigen Wohn- und Lebensbedingungen in Berliner Mietskasernen der damaligen Zeit kritisch aufmerksam machen. Hier ein Bild von ihm mit sog. „Zille-Kindern“:
„Der Kinderarzt Thomas Abel zählt ‚Bausteinchen’ der Armut auf, die sich ‚über die
Generationen und bei anhaltender Arbeitslosigkeit perpetuiert’. Manche trügen zu
kleine Schuhe, ‚sodass sich die Zehen krümmen’. ‚Moppelige’ Jungen und Mädchen
betreue er, ‚die haben gar keine Spannung in den Körpern, die laufen wie Autos ohne Stoßdämpfer’, übergewichtig durch die Droge ‚Süßigkeit’ und weil niemand sie zur
Bewegung anleite. […]
Zudem wüchsen Armutskinder oft ohne feste Mahlzeitenrhythmen auf, an gedehnten
Tagen ohne Struktur, ohne klare Regeln, Werte, Gewissheiten. Niemand vermittle
ihnen neue und vielfältige Eindrücke, ‚zum Beispiel bei Ausflügen, was doch ein Kin-
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derleben ausmacht’ – weil den arbeitslosen Eltern selbst die Energie dazu fehle, das
Wissen, schlicht das Geld. Die Folgen all dessen seien ‚Interaktionsarmut, Spracharmut, innere Armut. Abstumpfung. Eine Rundumbedürftigkeit. Diese Kinder erleben
die Welt wie durch eine halb blinde Schaufensterscheibe. Kann sich eine gerechte
Gesellschaft leisten, so viele Zukunftschancen zu verbauen?“ (Grefe 2003).
Ob und in welchem Umfang Armut zu einem Risikofaktor für Kinder wird, hängt von
verschiedenen Bedingungen ab, die miteinander in Beziehung stehen (Abb. 2).
Armutsvariablen
• Komplexität und
Intensität
• Zeitpunkt und Dauer
Weitere Risikofaktoren,
oftmals kombiniert mit
Armut
• Vernachlässigung
• belastete ElternKind-Beziehung
• biologische Risiken
und Schädigungen
subjektive Belastung
und Bewältigung als
intermedierende Variablen (abhängig von
den Ressourcen der
Eltern und den Schutzfaktoren des Kindes)
Entwicklungsgefährdungen
Abb. 2: Direkte und indirekte Einflüsse von Armutsvariablen und kovariierenden Faktoren auf die kindliche Entwicklung
• Komplexität und Intensität von Armut
Es ist zu unterscheiden, ob die Armutssituation vor allem die finanzielle Seite betrifft
oder ob eine Familie unter einer multidimensionalen und schwerwiegenden Unterversorgung in zentralen Lebensbereichen leidet, wie Einkommen, Arbeit, Wohnen, Ernährung, Bildung, Gesundheit und psychischem Wohlergehen. Im zweiten Fall bestehen entsprechend mehr Ansatzpunkte für kindliche Entwicklungsgefährdungen.
• Zeitpunkt und Dauer der Armut
Hinsichtlich des zeitlichen Verlaufs sind Formen kurzzeitiger Armut von chronischer
Armut zu unterscheiden. Das Auftretensrisiko von Kurzzeitarmut reicht bis in die mittleren sozialen Schichten hinein; ihre Wirkungen auf Kinder dürfen nicht unterschätzt
werden. So bleiben Belastungen ihres Selbstwertgefühls und Depressivität unter
Umständen auch nach Beendigung einer familiären Armutsphase tendenziell noch
weiter erhalten (Walper 2005, 187). Jedoch sind in Langzeitstudien (Duncan &
Brooks-Gunn 1997) bei chronischer Armut intensivere und dauerhaftere nachteilige
Wirkungen belegt, vor allem dann, wenn Armut mit Erfahrungen von Ausgrenzung
und Überflüssig-Werden, mit Demoralisierung und einem Verlust von Zukunftsperspektiven einhergeht. In US-amerikanischen Studien (z.B. Korenman et al. 1995,
146) waren bei chronischer Armut die Rückstände in der sozial-emotionalen und
kognitiven Entwicklung etwa doppelt so hoch wie bei vorübergehender Armut.
Vor diesem Hintergrund muss erschrecken, dass es in Deutschland, insbesondere in
Sozialen Brennpunkten, immer mehr Familien gibt, die bereits in der zweiten oder
7
dritten Generation in Armut und Benachteiligung leben und sich wohl oder übel an
diese Situation anpassen mussten.
•
Subjektive Belastung und Bewältigung von Armut
Ob und in welchem Umfang Armut ein Entwicklungsrisiko darstellt, hängt auch davon
ab, wie die betroffenen Familien mit den Belastungen umgehen und welche Bewältigungsstrategien sie entwickeln.
Ungünstige psychische Belastungsreaktionen der Eltern (z.B. steigende Reizbarkeit,
depressive Verstimmungen, willkürliches Strafverhalten) sowie „Inkompetenzgefühle
der Eltern und Beeinträchtigungen des Familienzusammenhalts“ wirken – so Sabine
Walper (1995, 199) – als risikoverstärkende Variablen. Verfügbare individuelle, familiale und kontextuelle Ressourcen (z.B. Bildungsressourcen der Eltern, die Stabilität
ihrer Beziehung und die Unterstützung durch soziale Netzwerke) üben hingegen einen „mäßigenden“ Einfluss aus (Walper 1995, 203) und vermindern die Verletzbarkeit der Kinder bei armutsbedingten Stressoren.
Die Zusammenhänge zwischen Armut und Entwicklungsgefährdungen sind inzwischen auch in Deutschland empirisch hinreichend belegt. So geht aus der bundesweiten, seit 1997 vom „Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik“ (ISS) im Auftrag
der Arbeiterwohlfahrt (AWO) durchgeführten Studie zur Armut von knapp 900 Kindern im Vorschul- und Grundschulalter (AWO-ISS-Studie) „eindrücklich und übereinstimmend“ familiäre Armut als „stärkster Prädiktor für die Lebenslage der Kinder und
somit zentraler Risikofaktor für eine Entwicklung im Wohlergehen“ hervor (Holz et al.
2006, 8). Die chronisch armen Kinder in dieser Studie weisen „die schlechtesten
Entwicklungsbedingungen und -verläufe“ auf (Holz et al 2006, 7). Hat sich Armut
dauerhaft eingenistet, gelingt es Eltern aufgrund ihrer eingeschränkten Handlungsspielräume offenbar immer weniger, armutsbedingte Benachteiligungen von ihren
Kindern fernzuhalten bzw. zu kompensieren. Dabei können die Folgen von Armut für
die sozial-emotionale und kognitive Entwicklung der Kinder bereits im Vorschulalter
gravierend sein. Bei knapp jedem dritten Kind (31 Prozent) der armen Kinder in der
Erhebungsgruppe musste man von längerfristig eingeschränkten Lebens- und Entwicklungsperspektiven ausgehen (vgl. Abb. 3). Dies heißt aber auch, dass nicht jedes Kind in Armut zwangsläufig in seiner Entwicklung gefährdet ist. Es bestehen also
keine Kausalitäts-, sondern Wahrscheinlichkeitsverhältnisse zwischen Armut, sozialer Benachteiligung und Entwicklungsgefährdung.
AWO-ISS-Studie mit 893 sechsjährigen Kindergarten-Kindern des Geburtsjahrgangs 1993, davon 26
Prozent aus Armutsfamilien
multiple Deprivation: Probleme in mehreren der fünf Dimensionen: materielle Versorgung, kulturelle
Anregung, soziale Situation sowie psychische und physische Lage
•
•
Kinder in „multipler Deprivation“, d.h., „die Kumulation von materiellen und
immateriellen Problemen“ kann in den Familien nicht mehr bewältigt werden
(Hock et al. 2000, 97):
13 Prozent
Kinder, „bei denen eine ähnlich schwierige Konstellation materieller und
Immaterieller Probleme im Elternhaus vermutet werden kann“ (98):
18 Prozent
Abb. 3: Quantitative Zusammenhänge zwischen Kinderarmut und Entwicklungsgefährdungen davon betroffener Vorschulkinder
8
•
Vernachlässigung
Armut, besonders in der Kombination (chronischer) ökonomischer, sozialer und psychischer Belastungen, ist ein Nährboden für Kindesvernachlässigung, vor allem
dann, wenn Eltern die Situation über den Kopf wächst (Holz 2003, 5) und sie als Kinder eigene Erfahrungen des Vernachlässigtseins gemacht haben.
•
Biologische Risiken
Dass Krankheiten, biologische Risiken und Schädigungen in einem Zusammenhang
mit sozioökonomischer Benachteiligung stehen, tritt in einer Zeit, in der die Gesellschaft auseinanderdriftet, wieder verstärkt in das Blickfeld der Öffentlichkeit, ist aber
ein uraltes Phänomen. Goethe (1798) hat diesen Zusammenhang in seinem Gedicht
„Der Schatzgräber“ treffend auf den Punkt gebracht: „Arm am Beutel, krank am Herzen …“. Die ökonomische und soziale Mitbedingtheit von Krankheiten und biologischen Risiken zeigt sich bereits im Säuglings- und Kindesalter. Frühgeburtlichkeit
und niedriges Geburtsgewicht, Komplikationen vor, während und nach der Geburt,
Fehlernährung und ein belasteter somatischer und psychischer Gesundheitsstatus
treten zwar auch unabhängig von Armut auf; ihre Häufigkeit ist jedoch bei Kindern,
die unter deprivierenden sozioökonomischen Lebensbedingungen aufwachsen, erhöht.
So hat der Kinder- und Jugendgesundheitssurvey des Robert-Koch-Instituts hinsichtlich der Häufigkeit von psychischen und Verhaltensauffälligkeiten vor allem bei 3- bis
10-Jährigen ein eindeutiges Ergebnis erbracht: Je niedriger der Sozialstatus, desto
häufiger sind die Kinder auffällig (Schlack 2008).
Auch in den landesweit durchgeführten Einschulungsuntersuchungen in Brandenburg werden deutliche Zusammenhänge zwischen der Auftretenshäufigkeit von „medizinisch relevanten Befunden“ (MASGF 2004, 13) und dem sozialen Status (gemessen nach der Schulbildung und dem Erwerbsstatus der Eltern) sichtbar (vgl. Tab. 1).
Die größten relativen Unterschiede in der Auftretenshäufigkeit zwischen der hohen,
mittleren und niedrigen Sozialstatusgruppe ergaben sich 1998 „für die Diagnosen
Sprachstörungen, Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung, psychomotorische
Störungen und Einnässen/Einkoten und andere psychiatrische Erkrankungen“
(MASGF 2004, 14). Bei „primär organmedizinischen Diagnosen“ waren diese Zusammenhänge zwar geringer; gleichwohl trat die Diagnose „zerebrale Bewegungsstörungen“ bei Kindern mit niedrigem Sozialstatus prozentual fast dreimal so häufig
auf wie bei Kindern mit hohem Sozialstatus (2,0 zu 0,7 Prozent) (MASGF 2004, 14).
Die in den Brandenburger Schuleingangsuntersuchungen von Behinderung bedrohten Kinder kamen 1998 prozentual 10-mal häufiger aus Familien mit niedrigem Sozialstatus als aus Familien mit hohem Sozialstatus (MASGF 2004, 16).
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medizinisch relevante Befunde 1998 nach
Sozialstatus in Prozent
Einschränkungen im Sehen und Hören
Sprachstörungen
Beeinträchtigungen der geistigen Entwicklung
psychomotorische Störungen
Einnässen, Einkoten und andere psychiatrische Erkrankungen
Störungen des Knochenapparates
Fehler und Erkrankungen des Herzens
zerebrale Bewegungsstörungen
emotionale und soziale Störungen
zerebrale Anfallsleiden
Neurodermitis
hoch
mittel
niedrig
17,4
4,5
0,8
1,2
19,9
8,0
2,9
1,6
25,9
15,8
11,9
4,4
1,6
2,0
1,9
0,7
0,3
0,2
7,3
2,4
2,5
1,9
1,1
0,8
0,6
6,1
4,1
2,8
2,3
2,0
2,0
0,9
4,8
Tab. 1: prozentuale Auftretenshäufigkeit medizinisch relevanter Befunde in Abhängigkeit vom Sozialstatus (MASGF 2004, 13)
Insgesamt belegen diese Zahlenverhältnisse die Feststellung im „Elften Kinder- und
Jugendbericht“ des Bundesfamilienministeriums:
„Es besteht ein Zusammenhang zwischen sozialer Schichtzugehörigkeit und Behinderung – und zwar
nicht nur im Falle der so genannten Lernbehinderung. Die unteren sozialen Schichten sind bei nahezu
allen Behinderungsarten überproportional betroffen“ (BMFSFJ 2002, 222).
Mit zwei Zitaten möchte ich die Bedeutung von sozioökonomischer Deprivation auf
die Entwicklungsperspektiven von Kindern nochmals hervorheben:
„Der sozioökonomische Status bestimmt die intellektuelle Entwicklung weit mehr als sämtliche derzeitig erfaßbaren pränatalen und perinatalen Risikofaktoren“ (Largo1995, 17).
„Nirgends waren die Unterschiede [zwischen niedrigem und mittlerem sozialem Status; H. W.] dramatischer als im Bereich der kindlichen Entwicklung“ (Farah et al. o. J., 2).
4. Exklusion von Kindern durch Armut: Was heißt dies für ein Bildungs- und
Erziehungssystem mit dem Anspruch inklusiv? – Kritische Anmerkungen
4.1 Anerkennung des Andersseins (Pädagogik der Vielfalt) versus Prävention
und ausgleichende Erziehung
Einleitend habe ich angemerkt, dass in der Integrations- und Inklusionsbewegung
das Thema „Bildungschancen von Kindern in Armut“ lange Zeit ein eher ein unterbelichtetes Thema gewesen ist. Damit ist die Integrationsbewegung Gefahr gelaufen,
eigene blinde Flecken zu entwickeln, die gerade in Bezug auf diese Kinder Risiken
und kritische Nebenwirklungen beinhalten können. Diese kritisch anzusprechen kann
jedoch dazu beitragen, sie zu minimieren. In diesem Sinne seien die folgenden Überlegungen verstanden.
„Pädagogik der Vielfalt“ – so der Titel des bekannten Buches von Annedore Prengel
(2006) – gilt in der Integrationspädagogik zu Recht als tragendes Prinzip. Eine „Pädagogik der Vielfalt“ versucht, jedem Kind, unabhängig von seiner Begabungshöhe,
sozialen Herkunft, kulturellen Lebensform, seinem Geschlecht oder von einer Behin-
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derung, unbedingte Akzeptanz zu geben, es in seiner Individualität zu achten; denn
„es ist normal, verschieden zu sein“. Mit diesem Motto wollte der ehemalige Bundespräsident von Weizsäcker gegen rigide Normalitätsraster ankämpfen, aus denen z.B.
Menschen mit Behinderungen fallen. Seine Intention bleibt weiter aktuell. Aber ich
habe den Eindruck, dass dieses Motto ebenso wie die Leitidee einer „Pädagogik der
Vielfalt“ nicht frei von der Gefahr ist, einseitig verstanden zu werden. Ich möchte dies
an einem drastischen Beispiel verdeutlichen. Im ehemaligen Apartheidregime Südafrikas hätte der Satz: „Es ist normal, verschieden zu sein“ von der schwarzen Mehrheitsbevölkerung als blanker Zynismus aufgefasst werden müssen. Die Leitidee der
Anerkennung der Verschiedenheit der Menschen kann auch zur Rechtfertigung hierarchischer Unterschiede missbraucht werden. Josef Fragner schreibt in seinem Aufsatz „Vielfalt und Gleichberechtigung“ (1997):
„Ein grundsätzliches Problem ist die Tatsache, daß der Gedanke der Differenzen zwischen Menschen
im konservativen Denken an zentraler Stelle explizit betont wird [...]“ (Fragner 1997, 53).
Fragner ist ein engagierter Verfechter des Inklusionsgedankens. Wie der Titel seines
Beitrags „Vielfalt und Gleichberechtigung“ zeigt, geht es ihm darum, dass die Anerkennung der Differenz immer auf die normativen Grundideen der Gerechtigkeit und
Gleichheit zurückzubinden ist. Annedore Prengel (2001; vgl. auch Prengel 2006)
bringt dies mit der paradoxen Formulierung „egalitäre Differenz“ treffend zum Ausdruck (siehe ferner Ralser 2001).
Anerkennung der Verschiedenheit und Vielfalt einerseits und ausgleichende Gerechtigkeit andererseits stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander. Dieses darf
nicht einseitig zu einem der beiden Pole hin aufgelöst werden, sondern es ist in der
pädagogischen Reflexion und im erzieherischen und unterrichtlichen Handeln immer
wieder neu zu bedenken und auszuhalten.
Die Situation verkompliziert sich noch, wenn man sich vergegenwärtigt, dass auch
die Gerechtigkeitsidee in sich widersprüchlich ist. Heißt Gerechtigkeit: Jedem das
Gleiche? Gerechtigkeit, so verstanden, führt zwangsläufig zur Ungerechtigkeit, weil
es die unterschiedlichen Bedürfnisse der Menschen, z.B. die Lernbedürfnisse der
Kinder in der Schule, über einen Kamm schert. Heißt also Gerechtigkeit: Jedem das
Seine? Dieser Slogan stand auf dem Eingangstor des KZ Buchenwald und war das
Motto der Apartheidpolitik in Südafrika. Auch in der Pädagogik müsste der Slogan
„Jedem das Seine“ – verkauft als „Anerkennung der Verschiedenheit und Vielfalt“ –
ohne das Prinzip der ausgleichenden (kompensatorischen) Gerechtigkeit – schlichtweg zynisch werden. In diesem Sinne ist die pointierte Aussage meines ehemaligen
Reutlinger Kollegen Gerhard Klein (2007, 157) zu verstehen:
„Das Credo der Integrationspädagogen: ‚Es ist normal, verschieden zu sein’ wird im Hinblick auf die
Kinder, die in Armut aufwachsen, zynisch.“
Eine „Pädagogik der Vielfalt“, in der das Egalitäre in der Differenz, das Prinzip der
ausgleichenden Gerechtigkeit, unzureichend berücksichtigt wird, könnte die fatale
Nebenwirkung haben, dass die Idee der Prävention und des Ausgleichs von Bildungsbenachteiligungen insbesondere bei Kindern in Armutslagen gegenüber dem
Gedanken der Integration hinangestellt wird. Dies zeigt die wichtige Kontroverse, die
Hans Wocken und Dieter Katzenbach als wissenschaftliche Mitarbeiter im Hamburger Schulversuch „Integrative Grundschule (Integrative Regelklasse)“ um die Ergebnisse dieses Schulversuchs geführt haben.
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Der Hamburger Schulversuch „Integrative Regelklasse“ hat besonders Kinder aus
einem Armutsgebiet einbezogen – mit der Intention, nachzuweisen, dass schulische
Integration kein Mittelschicht-Projekt bleiben muss, sondern auch für Kinder aus sozial benachteiligten Verhältnissen gewinnbringend sein kann.
Die Ergebnisse des Hamburger Schulversuchs waren unterschiedlich: Positiven Befunden, was die sozial-emotionale Eingliederung der Kinder mit ungünstigen Lernvoraussetzungen betraf, standen enttäuschende Resultate hinsichtlich ihrer Lernzuwächse entgegen. Diese waren – trotz größerer schulischer Ressourcen – nicht
günstiger als bei vergleichbaren Kindern in üblichen Grundschulen. Die Ergebnisse
veranlassten Wocken zu folgender Aussage:
„Die Integrativen Regelklassen haben ‚Prävention’ oder ‚Kompensation’ von Entwicklungsbehinderungen nicht leisten können. Wären etwa Prävention und Kompensation Auftrag und Aufgabe des Schulversuchs gewesen, dann hätte er sein Ziel verfehlt. Integration war und ist aber kein Unternehmen zur
Abschaffung von Behinderungen, sondern zur Akzeptanz von Behinderungen“ (Wocken 2001, 401).
Prinzipiell ist Wocken zuzustimmen: Integration kann nicht schlechthin ein „Unternehmen zur Abschaffung von Behinderungen“ sein. Doch ist zu fragen: Um welche
(potentiellen) Behinderungen ging es vor allem in diesem Schulversuch? Es ging um
Kinder mit drohendem Schulversagen und damit verbundener (potentieller) „Lernbehinderung“. Soweit jedoch „Lernbehinderung“ auch ein Produkt kultureller Benachteiligung im Früh- und Elementarbereich und ein Produkt problematischer schulischer
Lehr-Lern-Prozesse ist, fällt es mir mit Katzenbach (2001, 404) schwer, sie einfach
zu akzeptieren. Dies wäre eine Akzeptanz, die das Prinzip der ausgleichenden Gerechtigkeit im Sinne von Prävention und Kompensation hintanstellt.
Ungeachtet der Probleme ausgleichender, kompensatorischer Erziehung wäre es im
Blick auf sozial benachteiligte Kinder verhängnisvoll, den Anspruch auf Prävention
und Kompensation im integrativen Kontext aufzugeben (Katzenbach 2000; 2001; vgl.
auch Iben 2000, 252). Dies widerspräche zum einen dem Gebot der ausgleichenden
Gerechtigkeit. Zum anderen belegen zahlreiche Effektivitätsstudien, dass gerade bei
Kindern in sozioökonomisch prekären Lebensverhältnissen adäquate Förderung von
der Kleinkindzeit bis in die Schulzeit hinein präventiv wirksam sein kann (Mayr 2000;
Reynolds et al. 2001). Würde man diesen Präventionsanspruch aufgeben, liefe die
unbedingte Akzeptanz benachteiligter Kinder in einer „Pädagogik der Vielfalt“ Gefahr,
ungewollt zu deren „wohlwollender Vernachlässigung“ (Rappaport 1985, 268) beizutragen.
4.2
Bürgerlich-mittelschichtorientierte Bildungskonzepte und die Frage nach der
Milieutauglichkeit von Bildung
Im Spannungsfeld von „egalitärer Differenz“ bzw. von „Jedem das Seine“ und „Jedem
das Gleiche“ gewinnt die didaktische Frage nach den Bildungsinhalten für Kinder in
Armut und Benachteiligung in inklusiven Bildungseinrichtungen an Bedeutung und
Brisanz. Zwar habe ich eben dafür plädiert, durch ausgleichende, kompensatorische
Bildungsangebote Kinder und Jugendliche aus benachteiligten Milieus möglichst „anschlussfähig“ zu machen für allgemeine und damit bürgerlich-mittelschichtorientierte
Bildungsvorgaben. Damit allein jedoch wird man den Bildungsbedürfnissen dieser
Kinder und Jugendlichen nicht gerecht. Sie sind vielmehr auf milieutaugliche Bil-
12
dungsinhalte und Bildungsprozesse angewiesen, d.h. auf Bildungsangebote, die sie
in ihrer belasteten Lebenswelt stärken, die ihnen Kenntnisse und Fertigkeiten „zur
Bewältigung ihres komplexen Alltags und zur nachweisbar effektiven Bearbeitung
ihrer praktischen Probleme“ (Hiller 2007, 6) vermitteln. Es kommt also darauf an,
konsequenter, als dies oftmals in einer bürgerlich orientierten Integrations- bzw. Inklusionspädagogik geschieht, die individuellen lebensweltlichen Bedingungen dieser
Kinder zum Bezugspunkt didaktischer Reflexion und unterrichtlichen Handelns zu
machen, und zwar im Hinblick auf ihre gegenwärtige wie auch auf ihre potenzielle
Lebenssituation in womöglich (wiederum) benachteiligten, marginalisierten Lebenslagen.
Ulrich Heimlich (2008) hat in seinem lesenswerten Beitrag „Die ‚Schule der Armut’“
diesen Gedanken aufgenommen. Für ihn ist die „Schule der Armut“ eine lebensweltorientierte Ganztagsschule. Diese umfasst fünf Schwerpunkte eines Unterstützungssystems, damit „Kinder und Jugendliche in der Bewältigung schwieriger Lebenssituationen unterstützt werden können“ (Heimlich 2008, 18) (vgl. Abb. 4):
schulische Beratungsangebote:
als Aussprachemöglichkeit über
Probleme betroffener Schüler/innen
(z.B. bei Finanzierungsproblemen
hinsichtlich Klassenfahrten oder
Arbeitsmittel)
Elternarbeit:
neben möglichst kontinuierlichem
Kontakt zum Elternhaus auch Vermittlung von Hilfeangeboten und
Außenkontakten (z.B. Schuldnerberatung, Kleiderkammer oder
Gebrauchtmöbel)
schulische Betreuungsangebote:
zur Sicherstellung der Versorgung
der Schüler/innen (Frühstück und
Mittagessen, Hausaufgabenhilfe,
spiel- und freizeitpädagogische
Angebote)
unterrichtliche Thematisierung:
Aufgreifen der Lebenserfahrungen
der Schüler/innen (siehe z.B. die
Arbeitshefte "Durchblick im Alltag"
von Hiller et al. im CornelsenVerlag)
externe Unterstützungssysteme:
Netzwerk an Kontakten zu sozialpädagogischen Einrichtungen und
weiteren Kinder- und Jugendangeboten im Stadtteil; Einrichtung
eines Schulcafés)
Abb. 4 : Schwerpunkte eines Unterstützungssystems in einer "Schule der Armut" (in
Anlehnung an Heimlich 2008, 18─20)
5. Möglichkeiten einer niedrigschwelligen, inklusiven Bildung, Erziehung
und Förderung im frühen Kindesalter
5.1 Kriterien wirksamer früher Bildung, Erziehung und Förderung
Die insbesondere im US-amerikanischen Raum durchgeführten Studien zur Effektivität früher Bildungs-, Erziehungs- und Förderangebote haben gezeigt, dass solche
13
Angebote für entwicklungsgefährdete Kinder in Armut, Benachteiligung und Randständigkeit dann wirksam sind, wenn sie
•
möglichst frühzeitig beginnen und ein angemessenes Maß an Intensität erreichen;
•
Eltern und Familie und deren lebensweltliche Situation einbeziehen;
•
Resilienzprozesse beim Kind fördern, also insbesondere dazu beitragen, dem
Kind Sicherheit und verlässliche Beziehungen zu (erwachsenen) Bezugspersonen
und anregende Interaktionen mit ihnen zu ermöglichen;
•
das Kind bei Übergängen (Aufnahme in eine Kindertagesstätte, Tagespflege,
Schule usw.) begleiten;
•
im Sinne einer ganzheitlichen Orientierung an den Entwicklungsbedürfnissen des
Kindes bei Bedarf mit weiteren Hilfeinstanzen (z.B. Frühförderung, Kinder- und
Jugendhilfe …) kooperieren (vgl. Weiß 2005).
Nach diesen Kriterien gestaltete Bildungs- und Förderangebote stellen nicht nur aus
einer kurzzeitigen Perspektive wirksame Hilfen für entwicklungsgefährdete Kinder in
schwierigen Lebenslagen dar, sondern auch für ihre längerfristige Entwicklung.
Dazu sei auf ein Interview mit dem amerikanischen Nobelpreisträger für Ökonomie
James Heckman verwiesen. Darin wurde er über die Entwicklungschancen von sozial gravierend benachteiligten Kindern befragt. Es ging dabei um drei- bis vierjährige Kinder aus schwierigen Lebensverhältnissen in einem speziellen Vorschulprojekt
in den USA, dem „Perry Preschool Project“. Die Kinder in diesem Projekt hatten im
Alter von 40 Jahren halb so oft Drogenprobleme und die Zahl der Männer, die häufig
im Gefängnis saßen, war um fast die Hälfte niedriger als bei ehemaligen Kindern
aus ähnlichen Lebensverhältnissen, die keine vergleichbar intensive Förderung erhalten hatten. Heckman, der aus einer gewissen Skepsis heraus alle Daten über die
Entwicklung der Kinder aus dem „Perry Preschool Project“ nochmals nachprüfte und
die Ergebnisse bestätigen konnte, kam in dem Interview zu einem interessanten Resultat:
„Bei den Vorschulkindern stieg der IQ in den ersten Jahren stärker. Doch ungefähr beim zehnten Geburtstag war der Vorsprung zur Vergleichsgruppe wieder verschwunden. Dafür war etwas anderes
dauerhaft viel höher: Die Kinder aus der Vorschulgruppe waren motivierter und hatten mehr Selbstdisziplin. Das – und nicht der IQ – erklärt ihre späteren Erfolge“ (zit. in Berth 2008).
Diese Kinder machten offenbar mehr aus ihrem Leben. Vielleicht entwickelten sie
ein größeres Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen, auch in dem Sinne: Ich kann
etwas bewirken und aus meinem Leben etwas machen. Nicht alles, was auf mich
zukommt, ist unbewältigbar. Vieles in meinem Leben ist vielmehr handhabbar, lösbar, vielleicht auch dann, wenn ich mir Hilfe besorge. – Ich komme auf solche Einsichten später im Zusammenhang mit dem Resilienz-Begriff nochmals zurück.
Das „Perry Preschool Project“ war kein Ganztageskindergarten. Die notwendige Intensität der Förderung war jedoch durch eine gute finanzielle Ausstattung gewährleistet. Eine qualifiziert ausgebildete Erzieherin kümmerte sich jeweils um acht Kinder und erhielt auch Supervision. Ein zentraler Bestandteil im „Perry PreschoolProject“ war, die Eltern in die Förderung ihrer Kinder einzubeziehen. Heckman sagte
dazu im Interview:
14
„Es gab noch etwas, was vielleicht das Wichtigste war: Einmal pro Woche kam die Erzieherin in jede
Familie nach Hause. Sie hatte neunzig Minuten, um mit jeder Mutter über die Entwicklung ihres Kindes zu reden. Da konnten sie viel vermitteln, denke ich. Und wenn eine Mutter dann kapiert, wie
wichtig das Vorlesen ist, wenn sie ihr Kind danach vielleicht besser motivieren kann, profitiert das
Kind davon“ (zit. in Berth 2008).
Gerade dies aber ist die Philosophie der Frühförderung, wie sie sich seit gut drei
Jahrzehnten entwickelt hat: Gemeinsam mit den Eltern – in welcher Lebenslage sie
auch sind – nach Wegen der Förderung und damit einer möglichst guten Entwicklung ihres behinderten oder von Behinderung bedrohten Kindes zu suchen.
Spezielle Frühfördermaßnahmen für entwicklungsgefährdete Säuglinge und Kleinkinder in Armut und Benachteiligung können sowohl innerhalb der Familie („homebased“) als auch in Einrichtungen, z.B. Frühförderstellen, Krippen und Kindergärten
(also „center-based“), angeboten werden. Entsprechende Forschungsbefunde aus
den USA zeigen, dass es bei der Frage familienorientierte („home-based“) oder außerfamiliäre Förderung in Institutionen („center-based“) nicht um eine sich gegenseitig ausschließende Alternative gehen sollte. Besonders wirksame Projekte schlossen nämlich neben frühzeitiger, ganztägiger „Center-based“-Betreuung und -Förderung der Kinder regelmäßige Beratungsbesuche in der Familie ein (Mayr 2000,
147). Offenbar führt ein breit angelegter Ansatz mit „Center-based“- und „Homebased“-Komponenten zu besonders nachhaltigen Wirkungen sowohl in der kognitiven wie in der sozial-emotionalen Entwicklung der Kinder (vgl. Mayr 2000, 160 f.;
siehe das eben erwähnte Perry Preschool Project).
Sicher wird es für die Frühförderung Konsequenzen haben, wenn mittelfristig in
Deutschland ein Krippensystem entsteht, das für rund ein Drittel der Kinder in den
ersten drei Lebensjahren Plätze bereitstellt, wobei möglichst viele Kinder und Familien in prekären Lebenslagen bereits frühzeitig geeignete Krippenplätze erhalten
sollten. Aus den aufgezeigten Gründen dürfen Center-based-Frühförderung (z.B. in
möglichst integrativen Krippen) und Home-based-Frühförderung nicht in Konkurrenz
zueinander stehen (wenn es um die Zugänge zu den Finanztöpfen geht). Sie ergänzen sich vielmehr (wie immer dies organisatorisch im Einzelnen gestaltet werden
mag).
5.2
Kindertagesstätten als „Orte der Begegnung“ mit verlässlichen Erwachsenen
Kindertagesstätten sollten „Orte der Begegnung“ sein, die es Kindern in sozialen
Randlagen (und auch ihren Eltern und Familien) erleichtern, dort heimisch zu werden. Sie sollten zugleich „Brücken“ sein, auf denen diese Kinder die Grenzgänge
zwischen der eigenen familiären Lebenswelt und der dominanten mittelschichtig„bürgerlichen“ Kultur ein Stück weit sicherer und kompetenter zu gehen vermögen.
Dazu brauchen sie verlässliche Bezugspersonen, die ihnen Sicherheit vermitteln und
damit Resilienzprozesse fördern.
Resilienz ist mittlerweile schon ein Modebegriff geworden, auf den ich hier nicht genauer eingehen kann. Resilienz bedeutet eine Art von psychischer Widerstandsfähigkeit bei Kindern gegenüber Stress und Belastungen, z.B. psychosozialen Belastungen, die in der Lebenssituation, etwa Armut, begründet sind (vgl. Wustmann
2005, 192). Diese psychische Widerstandsfähigkeit ist jedoch kein angeborenes,
stabiles und generell einsetzbares Persönlichkeitsmerkmal. Resilienz entwickelt sich
15
vielmehr in der Auseinandersetzung mit widrigen situations- und lebensbereichsspezifischen Bedingungen auf der Grundlage und im Austausch mit Schutzfaktoren, auf
die das Individuum in seiner Interaktion mit der Umwelt zugreifen kann.
In ihrem für die praktische Arbeit mit Kindern mit psychosozialen Risiken, ob in der
Frühförderung oder in Kindertagesstätten, hoch anregenden Arbeitsbuch „The Early
Years. Assessing and Promoting Resilience in vulnerable children“ nennen Daniel
und Wassell (2002, 86) drei fundamentale Bausteine, die Resilienz stützen:
1. eine sichere Basis, in der das Kind ein Gefühl der Zugehörigkeit und Sicherheit
erlebt und die es ihm ermöglicht, sich aktiv explorierend mit seiner Umwelt auseinanderzusetzen;
2. eine gute Selbst-Wertschätzung, d.h. eine verinnerlichte Vorstellung, etwas wert
zu sein und zu können (Selbstvertrauen aufgrund von Kompetenzerfahrungen);
3. ein Gefühl der Selbst-Wirksamkeit, d.h. von Einfluss und Kontrolle, zusammen mit
einem realitätsbezogenen Wissen der persönlichen Stärken und Grenzen (Entwicklung realistischer Kontrollüberzeugungen).
Aus der Perspektive des resilienten Kindes kann man diese Bausteine folgendermaßen umschreiben:
•
ICH HABE: „Ich habe Menschen, die mich gern haben, und Menschen, die mir helfen“ (sichere
Basis)
•
ICH BIN: „Ich bin eine liebenswerte Person und respektvoll mir und anderen gegenüber“ (SelbstWertschätzung).
•
ICH KANN: „Ich kann Wege finden, Probleme zu lösen und mich selbst zu steuern“ (SelbstWirksamkeit).
Vielen Kindern in Armuts- und Benachteiligungssituationen mangelt es an einer stabilen, verlässlichen und Halt gebenden Beziehung zu einer Bezugsperson in der Familie. Dadurch haben sie häufig nicht die sichere emotionale Basis, die sie bräuchten, um sich aktiv mit ihrer Um- und Mitwelt auseinanderzusetzen, Akteur ihrer Entwicklung zu sein (Kautter et al. 1988). Untersuchungen (Schorr 1989) belegen, dass
Förderprogramme etwa im Vorschulbereich dann wirksam waren, wenn sie Kindern
längerfristig Zugang zu kompetenten und fürsorglichen Erwachsenen anboten, „von
denen sie Problemlösungsfähigkeiten lernten, durch die sich ihre Kommunikationsfähigkeit und ihr Selbstwertgefühl verbesserten“ – also Erwachsenen, „die positive Rollenmodelle darstellten“ (Werner 1997, 201) und Kinder stärken (vgl. Opp & Fingerle
2008) .
Besonders für sozial-emotional belastete und unsichere Kinder ist es wichtig, (mindestens) eine verlässliche und über einen längeren Zeitraum konstante Beziehung
zu einer Erzieherin aufzubauen (und umgekehrt braucht diese die Möglichkeit, sich
als vertraute Bezugsperson, Lernmedium und Lernmodell zur Verfügung zu stellen).
Nicht strukturierte Lernprogramme sind dafür primär entscheidend (ohne ihren Wert
gering achten zu wollen), sondern Beziehungsdichte und Beziehungskonstanz in anregungsreichen Situationen – als Voraussetzung, dass diese Kinder eine sichere Basis, Selbst-Wertschätzung und Selbst-Wirksamkeit entwickeln können.
16
(Hinweis: Die resilienten Kinder und Jugendlichen in der Kauai-Studie konnten sich
alle noch viel später an mindestens einen Lieblingslehrer oder eine Lieblingslehrerin
erinnern.)
Zu einer resilienzfördernden Erziehung in der Frühförderung und in Kindertagesstätten gehört auch, nach für das Kind relevanten Personen („Ankerpersonen“) im familiären und äußerfamiliären Umfeld Ausschau zu halten und Beziehungsprozesse zu
fördern (was auch die Bedeutung der Arbeit mit den Eltern unterstreicht).
Nach dem Vorbild der englischen Early Excellence Centres werden inzwischen einzelne Kindergärten insbesondere in benachteiligten Stadtvierteln zu „Häusern für
Kinder und Familien“ weiterentwickelt. Sie beziehen auch ältere Menschen ein, sodass in ihnen mehrgenerationsübergreifende Alltagssolidaritäten gelebt werden können. Dazu gibt es ermutigende Erfahrungen. So berichtet die Leiterin des SOSMütterzentrums München-Neuaubing, das sich immer mehr zu einem Stadtteilzentrum entwickelt hat:
„Da gibt es zum Beispiel ältere Frauen über 65 Jahre, die essen im Mütterzentrum mit, die sich freuen,
wenn die Kinder kommen. Die Kinder nennen die Frauen Oma und die wiederum freuen sich darüber.
Denn sie wissen, warum sie aufstehen, sie freuen sich, dass sie bei uns sein können und sind nicht
isoliert in ihren Wohnungen. Und die anderen Kinder, deren eigene Oma vielleicht hunderte von Kilometern weg ist, haben jetzt im Zentrum eine Oma oder mehrere Omas“ (zit. in Peucker & Riedel 2004,
78; vgl. auch Weiß 2007).
Und zum Schluss: Mehr Inklusion durch Abbau institutioneller Barrieren und
Selektionen im Früh- und Vorschulbereich
Gerade Kinder, die aufgrund ihrer schwierigen Lebensverhältnisse (Armut, Benachteiligung, Randständigkeit) in ihrer Entwicklung gefährdet sind, erhalten im frühen
Kindesalter oftmals erst verspätet oder überhaupt nicht die Hilfen, die sie bräuchten.
Wir haben es hier mit dem aus der Bibel bekannten und im Sozialbereich vielfach
anzutreffenden sog. „Matthäus-Effekt“ zu tun. Im Matthäus-Evangelium heißt es entsprechend: „Denn wer da hat, dem wird gegeben, daß er die Fülle habe; wer aber
nicht hat, von dem wird genommen, was er hat“ (Math. 13,12)
.
• Auch Frühförderstellen erreichen entwicklungsgefährdete Kinder, die in Armut
und Benachteiligung leben, oftmals nicht. Nach einer Erhebung aus dem Jahr
2006 erhielten von den rund 7000 Kindern, die im Land Brandenburg damals
Frühförderung benötigten, im Schnitt 60 Prozent Frühförderung, jedoch nur 30
Prozent aus sozial schlecht gestellten Familien (Überregionale Arbeitsstelle Frühförderung Brandenburg 2006, 4). Auch die Frühförderung hat bis jetzt leider eine
„sozial selektive Wirkung“ (Klein 2002, 48).
•
In der schon erwähnten Studie der Arbeiterwohlfahrt zur Kinderarmut zeigte sich,
dass die am stärksten belasteten Kinder – außer dass sie einen Kindergartenplatz
hatten – „die geringsten Unterstützungsangebote erhalten“ (Skoluda & Holz 2003,
119). Hier haben Kindertagesstätten ebenfalls eine Brücken- bzw. Vermittlungsfunktion, nämlich darauf zu achten, dass ihre Kinder bei entsprechendem Förderbedarf und deren Familien die notwendigen Hilfen erhalten.
17
•
Die Frühförderung muss ihren relativ niedrigschwelligen Charakter nicht nur bewahren (was ihr durch die finanziellen Rahmenbedingungen oftmals erschwert
wird), sie muss ihn vielmehr im Sinne eines inklusiven Systems noch weiter ausbauen.
•
Wahrscheinlich muss eine solche Niedrigschwelligkeit (Barrierefreiheit) noch viel
früher ansetzen. Ich denke hier an die nordrhein-westfälische Mittelstadt Dormagen. Dort werden seit Oktober 2006 alle Neugeborenen und ihre Familien von
städtischen Sozialarbeitern besucht und bei Bedarf beraten – als „Willkommen im
Leben“ (Baumann-Lerch 2008). Man könnte auch sagen: als „Willkommen in die
Gesellschaft, die dich neuen Erdenbürger aufnimmt“. Das wäre wohl eine umfassende Inklusion von Anfang an. Wenn solche Beispiele, wie sich bereits zeigt,
Schule machen, kann daraus ein wichtiges Anfangsglied in der Etablierung einer
Präventionskette für Kinder in Armut und Benachteiligung entstehen – einer Präventionskette, innerhalb derer auch die interdisziplinären Frühförderstellen als ein
zentrales Glied eine bedeutsame Aufgabe für entwicklungsgefährdete Kinder in
Armutslagen haben.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. Hans Weiß
Pädagogische Hochschule Ludwigsburg
Fakultät für Sonderpädagogik
Postfach 2344
72713 Reutlingen
E-Mail: weiss@ph-ludwigsburg.de