Lebensretter für Millionen

Transcription

Lebensretter für Millionen
Lebensretter für Millionen
Lebensretter für Millionen
Lebensretter für Millionen
Sabine Päuser
Christoph Mörgeli
Urs B. Schaad
Vorwort von
Eric Notegen
Editiones Roche
Basel
Inhalt
6
Zum Geleit
8
Vorwort
14
Isoniazid (Rimifon):
erstes Spezifikum gegen die Tuberkulose
von Sabine Päuser
84
Bactrim
von Christoph Mörgeli
150
Rocephin
von Urs B. Schaad
201
Biographien
Impressum
Herausgeber
Alexander L. Bieri
Lektorat
Regine Pötzsch
Graphik
BBF AG, Basel
Foto Schutzumschlag:
Urs Schachenmann
2001275
ISBN 978-3-907770-93-1
© 2012 Editiones Roche, Basel
5
Zum Geleit
Vor 60 Jahren brachte Roche das erste gegen die Lungentuberkulose wirksame Medikament, «Rimifon», auf den Markt. Die
Wirksubstanz von «Rimifon», Isoniazid, ist bis heute nicht aus der
Tuberkulosetherapie wegzudenken. Zur Behandlung bakterieller
Infekte führte Roche 16 Jahre später «Bactrim» ein. Der aus zwei
Wirksubstanzen zusammengesetzte Inhaltsstoff Cotrimoxazol
wurde seither rund zwei Milliarden Mal verabreicht. Als günstig verfügbares, breit einsetzbares Medikament sind «Bactrim»
und dessen Generikaformen besonders in Entwicklungsländern
zu einem Standard der Infektionsbehandlung geworden. Vor
30 Jahren entwickelte Roche das Cephalosporin-Antibiotikum
«Rocephin» zur Marktreife. Auch mit diesem Produkt, das bei
besonders vielen Infektionskrankheiten eingesetzt werden kann,
sind inzwischen Millionen Patientinnen und Patienten behandelt
worden.
Matthew White, Autor des Buches «Atrocitology. Humanity’s
100 Deadliest Achievements» rechnet vor, dass sämtliche Kriege
aus 2500 Jahren Menschheitsgeschichte rund 455 Millionen
Menschenleben gekostet haben. Demgegenüber halfen diese drei
bemerkenswerten Antiinfektiva von Roche mehrere Milliarden
Mal, Menschenleben zu retten.
Oftmals werden diese altgedienten Heilmittel heute als selbstverständlich verfügbare Produkte betrachtet. Dabei wird gerne
vergessen, dass ihre Erforschung und Vermarktung überhaupt
erst durch Investoren ermöglicht wurde, die einerseits den Mut
hatten, in moderne Pharmaforschung zu investieren, andererseits
aber auch ihre in die Forschung getätigten Investitionen bezahlt
haben wollten. Bei allen drei genannten Produkten ist dies in
der Vergangenheit geschehen und diese Produkte werden nun
als Generika von vielen Anbietern mit nur geringem Aufschlag
auf die Herstellungskosten angeboten. Die durch mutige Investoren ermöglichte Forschungsleistung kommt seither breitesten
Bevölkerungsschichten auf der ganzen Welt zugute. Angesichts
der zunehmenden Resistenzen gegen Antibiotika werden wir auch
6
in Zukunft darauf angewiesen sein, dass eine forschende Pharmaindustrie neue Produkte entwickelt und damit die heutigen
Heilungschancen auf dem bisherigen Niveau erhalten bleiben
oder gar noch ausgebaut werden können.
Das doppelte Jubiläum von «Rimifon» und «Rocephin» bildet
den Anlass, auf die Geschichte und den heutigen Nutzen dieser
drei Antiinfektiva zurückzublicken. Jedes hatte auf dem Weg zum
Klassiker der Pharmazie seine eigenen Hürden zu überwinden, bei
allen waren es überaus begabte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die den Erfolg ermöglicht haben. Ihnen hat Roche ein
Umfeld geboten, in dem sie sich entfalten konnten. Von dem so
erzielten medizinischen Fortschritt profitieren letztlich vor allem
auch die Patientinnen und Patienten in den Entwicklungsländern.
Es ist die Absicht der vorliegenden Darstellung, diese Zusammenhänge anhand der konkreten Beispiele aufzuzeigen.
Dr. Gottlieb Keller
General Counsel und Mitglied der Konzernleitung
F. Hoffmann-La Roche AG
7
Vorwort
Zeitraum veränderte sich auch das regulatorische Umfeld sehr
stark und hat somit die Entwicklung einer starken Generika1 -Industrie ermöglicht.
Die Entwicklung des Patentsystems
Die Erforschung und Entwicklung von neuen Medikamenten
und Therapien ist ein äusserst kostspieliges und langwieriges
Unternehmen. Die Entwicklungskosten können heutzutage, je
nach Indikation, zwischen 500 bis 1000 Millionen Franken oder
mehr betragen. Die Entwicklungsdauer liegt zwischen acht und
zwölf Jahren. Andererseits ist es möglich, Medikamente sehr leicht
und rasch zu kopieren, weil deren Zusammensetzung jeweils
bekannt gemacht werden muss. Damit sich solche Investitionen
in Forschung und Entwicklung (F & E) überhaupt lohnen, müssen sie adäquat geschützt werden können, und hier kommen
die Patente ins Spiel. Patente gewähren ein zeitlich beschränktes
Recht, das geschützte Medikament exklusiv zu vermarkten. Billigere Nachahmerprodukte dürfen erst nach Ablauf der Patente
auf den Markt kommen.
Der Patentschutz ist, wie erwähnt, zeitlich beschränkt. Patente
werden für eine Laufzeit von 20 Jahren ab dem Anmeldetag erteilt.
Bei Patenten für neue Medikamente kann die Laufzeit in Abhängigkeit der Entwicklungsdauer um bis zu fünf Jahre verlängert
werden. Da die Patente allerdings in einem sehr frühen Stadium
der Entwicklung angemeldet werden müssen, beträgt die effektive
Patentlaufzeit, das heisst die Zeit zwischen Markteinführung und
Patentablauf, im Durchschnitt etwa 13 bis 14 Jahre. In Entwicklungsländern und aufkommenden Ländern, wie Brasilien, China,
Indien und Mexiko, können Patente allerdings nicht verlängert
werden. Weil neue Medikamente in diesen Ländern auch erst
später auf den Markt kommen, beträgt die effektive Patentlaufzeit
nur etwa sechs bis acht Jahre.
Da nur über Patente eine zeitlich beschränkte Marktexklusivität ermöglicht werden kann, sind sie für ein forschendes
Pharmaunternehmen wie Roche von ausserordentlicher Bedeutung. Patente bilden quasi das Rückgrat unseres Geschäftsmodells.
Das war aber nicht immer so. Die Bedeutung der Patente hat
im Verlauf der letzten 40 Jahre stetig zugenommen. Im gleichen
8
Die Schweiz ist dem Europäischen Patentübereinkommen (EPUe)
am 7. Oktober 1977 beigetreten und hat mit diesem Beitritt
auch den sogenannten Stoffschutz für chemische Erzeugnisse
einschliesslich pharmazeutisch wirksamer Stoffe eingeführt. Der
Stoffschutz ermöglicht es, den Wirkstoff selber zu patentieren. Ein
Stoffpatent gewährt einen umfassenden Schutz für den Wirkstoff,
der unabhängig vom Herstellungsverfahren, von der Formulierung oder der Anwendung ist.
Vor dem Beitritt zum EPUe konnten in der Schweiz und
auch in vielen anderen Ländern2 nur Verfahren zur Herstellung
von Wirkstoffen patentiert werden. Das führte dazu, dass die
Industrie sehr viel Geld in die Erforschung und Entwicklung von
Herstellungsverfahren investierte, um einen möglichst dichten
Schutz für den Wirkstoff zu erhalten. Man wollte damit verhindern, dass die Generika-Firmen patentfreie Herstellungsverfahren entwickeln konnten. Im Verlauf der 1980er Jahre haben dann
immer mehr Länder den Stoffschutz eingeführt. Häufig geschah
das im Zuge von Freihandelsabkommen, wobei die USA hier eine
führende Rolle übernommen hatten. Im Rahmen der UruguayRunde der GATT3 -Verhandlungen wurde dann am 15. April
1994 in Marrakesh, Marokko, die WTO4 gegründet. Integraler
Bestandteil des Vertragswerkes war auch der TRIPS5-Vertrag, in
welchem weltweit gültige Standards für die verschiedenen Rechte
des geistigen Eigentums festgeschrieben wurden. Unter anderem
wurde im TRIPS-Vertrag auch der Stoffschutz für chemische und
pharmazeutische Wirkstoffe festgeschrieben.
Die am wenigsten entwickelten Länder müssen sich noch
nicht an sie halten. Sie haben eine Übergangsfrist bis 2016, um
die Standards einzuführen. Es ist aber davon auszugehen, dass
diese Frist noch weiter verlängert wird. Schwellenländer, wie
China, Indien und Brasilien, mussten diese Standards mittlerweile in ihre Gesetzgebung aufnehmen. Indien hat als letztes
dieser Länder den Stoffschutz für pharmazeutische Wirkstoffe
per 1. Januar 2005 implementiert.
1
2
3
4
5
Generika sind Kopien des Originalpräparates,
welche nach Patentablauf auf den Markt
kommen.
Italien hat den Stoffschutz ebenfalls mit
dem Beitritt zum EPUe am 1. Dezember
1978 eingeführt. Deutschland kannte den
Stoffschutz schon seit 1968. Einzig in den
USA konnten pharmazeutische Wirkstoffe
seit jeher als solche patentiert werden.
General Agreement on Tariffs and Trade
World Trade Organization/
Welthandelsorganisation
Trade-related Aspects of Intellectual
Property/Handels-bezogene Aspekte des
Geistigen Eigentums
9
Entwicklung des regulatorischen Umfeldes
Früher konnte mit der Entwicklung von Generika erst nach
Patentablauf begonnen werden. Zudem konnten sich die Generikahersteller für die Zulassung ihrer Produkte nicht auf die Registrierungunterlagen des Originalherstellers beziehen, sondern
mussten eigene Registrierungsunterlagen vorlegen, das heisst,
sie mussten klinische Prüfungen vornehmen. Die Anforderungen
an die fraglichen Unterlagen waren allerdings bis in die späten
1960er Jahre nicht besonders hoch.
Heute können Generika bereits während der Laufzeit des
Patentes für das Originalpräparat entwickelt werden. Für die
Zulassung kann man auf die Registrierungsunterlagen des Originalherstellers Bezug nehmen. Es muss lediglich gezeigt werden,
dass die Bioverfügbarkeit des Generikums mit derjenigen des
Originalpräparates vergleichbar ist. Generika werden heutzutage
praktisch am Tag eins nach Patentablauf auf den Markt gebracht.
Die mit Patentabläufen einhergehenden Umsatzverluste verliefen daher früher wesentlich moderater als heute. Dies kann
anhand von zwei Beispielen illustriert werden.
Abbildung 1 zeigt die in den USA erzielten Umsätze in Millionen US-Dollar für Valium in den Jahren 1981 bis 1992. Valium
war damals das umsatzstärkste Medikament von Roche. Das
Patent für Valium lief in den USA im Februar 1985 ab. Die ersten
Generika kamen etwa ein Jahr später auf den Markt. Während
Abbildung 1
Abbildung 2
800
755
700
400
Figure 1
1200
660
600
500
1000
525
440
800
470
600
350
300
210
200
die Verkäufe in den USA im Spitzenjahr 1985 total 755 Millionen
US-Dollar betrugen, fielen sie 1986 auf 350 Millionen und 1987
auf 210 Millionen Dollar zurück.
Wesentlich dramatischer fallen die Umsatzeinbussen heutzutage aus; vergleiche Abbildung 2. Diese Figur zeigt die in den
USA erzielten Umsätze in Millionen Franken für Rocephin in
den Jahren 2000 bis 2006. Das Patent lief Mitte Juli 2005 ab. Die
ersten Generika kamen am Tag nach Patentablauf auf den Markt
und die Umsätze von Roche brachen völlig ein.
Gerade dieses letzte Beispiel, welches die Kosequenzen von
Patentabläufen eindrücklich dokumentiert, belegt sehr gut, weshalb solide, starke Patente für forschende Pharmaunternehmen
so wichtig sind. Um ein nachhaltiges Geschäft zu gewährleisten,
muss Roche im Durchschnitt etwa alle 10 Jahre sein gesamtes
Produkteportfolio nicht nur erneuern, sondern auch erweitern,
und zwar mit patentierten und innovativen, neuen Medikamenten und Therapien. Die Innovation wird quasi zur Pflicht!
Im heutigen Umfeld gibt es zwei Faktoren, die für den
medizinischen Fortschritt verantwortlich sind. Einerseits
das Patentsystem, welches die Voraussetzung schafft, um in
die Erforschung und Entwicklung von neuen Medikamenten
und Therapien zu investieren, und andererseits die Existenz
der Generika-Industrie, welche forschende Unternehmen zur
Innovation zwingt.
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198
893
953
889
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2000200120022003200420052006
11
Isoniazid, Co-Trimoxazol und Ceftriaxon
Die drei in diesem Buch beschriebenen Antiinfektiva, Isoniazid,
Co-Trimoxazol und Ceftriaxon, hatten in Bezug auf den Patentschutz völlig unterschiedliche Hintergründe.
Isoniazid, der Wirkstoff, den Roche unter der Marke Rimifon
auf den Markt brachte, war schon lange bekannt, bevor dessen
Wirksamkeit gegen die Tuberkulose gefunden wurde. Auch wenn
Anfang der 1950er Jahre der Stoffschutz möglich gewesen wäre,
hätte Isoniazid nicht mehr patentiert werden können, weil der
Stoff eben nicht mehr neu war. Neuheit ist jedoch ein zwingendes
Erfordernis für die Patentierbarkeit. Da auch schon verschiedene
Herstellungsverfahren bekannt waren, konnte auch mit Verfahrenspatenten kein einigermassen wirksamer Schutz erzielt
werden. Die Folge war natürlich, dass mehrere Firmen innerhalb
kurzer Zeit mit diesem Wirkstoff auf den Markt kamen, was
erwartungsgemäss auf die Preise drückte.
Ein patentfreier Wirkstoff, wie Isoniazid, würde heutzutage
kaum mehr entwickelt werden. Es gibt zwar noch den sogenannten Erstanmelderschutz, der aber keine Marktexklusivität
verleiht. In der Europäischen Union und in der Schweiz beträgt
der Erstanmelderschutz zehn Jahre für einen Wirkstoff, der erstmals als Medikament entwickelt wurde. Die Dauer von zehn
Jahren ist normalerweise deutlich kürzer als der Patentschutz.
Keinen Schutz gibt es, wenn für einen bekannten Wirkstoff eine
völlig neue Indikation gefunden wird. Der Erstanmelderschutz
bedingt, dass die Gesundheitsbehörden während zehn Jahren
nach der Erstzulassung keine weiteren Zulassungen erteilen,
welche sich auf die Daten des Originalherstellers abstützen.
Ausserhalb Europas ist dieser Schutz entweder nicht erhältlich
oder zu kurz, um ein nachhaltiges Geschäft zu gewährleisten.
Der Erstanmelderschutz müsste weltweit attraktiver ausgestaltet,
und auch auf neue Indikationen, welche umfangreiche klinische
Prüfungen voraussetzen, ausgedehnt werden. Nur dann wäre es
genügend attraktiv, einen patentfreien Wirkstoff, wie Isoniazid,
oder eine völlig neue Indikation für einen bekannten Wirkstoff
zu entwickeln.
Co-Trimoxazol wurde von Roche und Wellcome gemeinsam
entwickelt. Roche vermarktete Co-Trimoxazol unter der Marke
Bactrim seit Ende der 1960er Jahre. Bactrim enthält eine Kombination aus zwei Wirkstoffen, nämlich Sulfamethoxazol und
Trimethoprim. Die Wirkstoffkombination war als solche bereits
in der Literatur beschrieben, so dass sie nicht mehr patentiert
12
werden konnte. Sulfamethoxazol war ebenfalls ein seit langem
bekannter Wirkstoff und konnte nicht mehr patentrechtlich
geschützt werden. Beim Trimethoprim sah es allerdings etwas
anders aus. Burroughs Wellcome erhielt am 10. November 1953
ein Patent in den USA, das den Wirkstoff als solchen schützte.
Das Patent lief im November 1970 ab. Inner- und ausserhalb
der USA gelang es auch, ein relativ dichtes Patentportfolio aufzubauen, das in einigen wichtigen Märkten die Exklusivität für
Roche und Wellcome sicherte.
Ceftriaxon wurde in den Labors von Roche erfunden und ab
den frühen 1980er Jahren unter der Marke Rocephin vermarktet.
Ceftriaxon wurde 1979 weltweit zum Patent angemeldet und
genoss auf allen wichtigen Märkten den Stoffschutz. Die Patente
von Roche sind weltweit im Jahre 1999 abgelaufen. In den USA
gab es jedoch Patentschutz bis Mitte Juli 2005. Dieses Patent
gehörte Hoechst und war genügend breit, um den Wirkstoff Ceftriaxon mit zu umfassen. Das Patent war vor den Roche-Patenten
angemeldet worden, wurde aber erst viel später, nämlich im Jahre
1988, erteilt. Da US-Patente damals eine Laufzeit von 17 Jahren
ab dem Tag der Erteilung hatten, lief der Stoffschutz für dieses
Medikament somit erst Mitte 2005 ab. Roche war unter diesem
Patent exklusiv lizenziert.
Alle drei Produkte sind heute generisch und billig erhältlich, und sie befinden sich alle auf der Liste der essentiellen
Medikamente der WHO. Diese innovativen Produkte kommen
den Patientinnen und Patienten heute noch zugute. Einst als
medizinische Innovationen von Roche auf den Markt gebracht,
helfen sie dank ihrer breiten Verfügbarkeit bis heute, täglich
Leben zu retten.
Dr. Eric Notegen
Chief Patent Officer
F. Hoffmann-La Roche AG
13
Isoniazid (Rimifon):
erstes Spezifikum
gegen die Tuberkulose
Sabine Päuser
14
«Es wird oft gesagt, dass ‘der Mensch der grösste Feind
des Menschen sei’. Das mag wahr sein oder auch nicht,
sicher ist, dass er andere Feinde hat, die mit ihm um diesen
Titel wetteifern. Einer der bösartigsten unter ihnen, und
einer, der ihn seit den Anfängen der Geschichte und darüber hinaus plagte, ist die Tuberkulose. Es ist allgemein nicht
bekannt, dass der ‘Weisse Tod’ vergangener Zeiten, dieser
unablässige Dezimator menschlicher Populationen, immer
noch eine der möglichen Todesursachen von heute ist. Tatsächlich ist die Tuberkulose mehr als jede andere Ur­sache
für den Tod der 15- bis 45-Jährigen verantwortlich.» 1
Herman Herbert Fox, 1953
1
2
Fox HH. The chemical attack on tuberculosis.
Trans N Y Acad Sci. 1953 May;15(7):234-42.
Isoniazid (INH) wurde 1952 von etlichen
Firmen auf den Markt gebracht, da sich
die Substanz nicht patentieren liess. Unter
folgenden Handelsnamen wurde INH damals
hergestellt: Rimifon (Hoffmann-La Roche),
Nydrazid (Squibb and Sons, New York und
London), Neoteben (Farbenfabriken Bayer),
Bacillin (chem. Werke Minden), Cotinazin
(Chs. Pfizer & Co., New York), Mybasan
(Antigen Laborat. Ltd, London), Pycazide
(Herts Pharmaceuticals Ltd, London),
Isonicotinic Acid Hydrazyde (Organon
Labor. Ltd., London).» Quelle: Enenkel H,
Enenkel G. Isonikotinsäurehydrazid. Das
neue Antituberkulotikum. Sonderdruck aus
Promedico 1952; 21 (6).
In der DDR wurde es 1952 von der
Firma Jenapharm hergestellt. Quelle:
Blaurock G. Zur Chemotherapie der
Tuberkulose II. Mitteilung: Tuberkulostase
durch Isonikotinsäurehydrazid. Dtsch
Gesundheitsw. 1952 Jul. 24;7(30):941-3.
16
Manchmal ist die Zeit reif für bestimmte Entdeckungen und
der Druck, sie zum Segen der Menschen praktisch umzusetzen,
ist riesengross. Und meist kommen dann an mehreren Stellen
gleichzeitig auf der Welt Forscher unabhängig voneinander und
doch im Austausch miteinander zu einer Lösung. Selten ist sie so
deckungsgleich wie im Falle des Isoniazids, des ersten spezifisch
gegen Tuberkulose-Bazillen gerichteten Medikaments, welches
von Forschern der Firmen Roche, Squibb und Bayer kurz hintereinander entdeckt wurde.2
Selten auch ruft die Lösung eines medizinischen Problems
soviel Euphorie hervor wie dieses Tuberkulose-Mittel, welches
auch 60 Jahre nach seiner Entdeckung noch zum Lebensretter für
viele Menschen wird – wenn auch in Kombination mit anderen
Medikamenten.
Aber selten war ein Arzneimittel auch so dringend nötig
und so gesucht wie ein Tuberkulose-Heilmittel in der Mitte des
20. Jahrhunderts, denn diese Infektionskrankheit wird immer
dann zur Geissel der Menschheit, wenn Hunger und Elend das
Immunsystem seiner Vertreter schwächen. Und so war auch den
Tuberkulose-Forschern klar, was der Zweite Weltkrieg mit sich
bringen würde: einen Wiederanstieg der Tuberkulose-Toten, der
sich nicht auf Europa beschränken sollte.
Wir haben heute in Westeuropa nahezu vergessen, welche Gefahr
diese Infektionskrankheit einst bedeutete. Tuberkelbazillen
werden über die Luft verbreitet. Im Gegensatz zu vielen anderen Krankheitserregern, wie etwa den Grippe verursachenden
Influenza-Viren, verändern sie ihre Oberfläche nicht.3 Sie nutzen
die Immunantwort in Form von Husten- und Niesreizen, um
durch Tröpfcheninfektion von Mensch zu Mensch übertragen zu
werden. Hustet ein Patient mit offener Tuberkulose, so gelangt
ohne entsprechende Schutzmassnahmen, wie eine Maske für den
Erkrankten, ein infektiöses Aerosol in die umgebende Raumluft,
in dem diese Mykobakterien stundenlang verbleiben können.4
Schon zehn dieser Bakterien sollen ausreichend sein, um eine
Primärinfektion hervorzurufen.5 Die sich nur langsam vermehrenden Tuberkelbazillen können sich, wenn sie – meist ausgehend
von der Lunge – den Blutstrom erreichen, in fast jedem Organ
des Körpers einnisten und es zerfressen. Der Tod naht unausweichlich, wenn das Immunsystem und/oder Medikamente den
Erreger nicht in Schach halten können. Nicht umsonst hatte man
der aktiven Tuberkulose einst auch den Namen «galoppierende
Schwindsucht» gegeben.
Schon der Erste Weltkrieg hatte die Anzahl der TuberkuloseOpfer ansteigen lassen: 1914 lag die Zahl der jährlichen Tuberkulose-Todesopfer in Deutschland bei 142 auf 100 000 Einwohner.
Im Jahr 1918 war sie auf 230 pro 100 000 Einwohner gestiegen.6
In Frankreich starb 1918 jeder Sechste an der Tuberkulose.7 Als
sich dann 1945 Armeen und Flüchtlingsströme durch Europa
wälzten und viele Tausende dichtgedrängt, frierend und hungernd in Notunterkünften, in Luftschutzkellern, Militärbaracken
und Kriegsgefangenenlagern untergebracht waren, hatten viele
dieser Menschen einer Infektion mit Tuberkelbazillen wenig
entgegen zu setzen.
Und so stieg denn auch die Tuberkulose-Mortalität, beispielsweise im kriegsgebeutelten Berlin, wieder an. Lag sie im Jahr 1938
dort, bezogen auf 100 000 Lebende, bei 82 Toten, so betrug sie 316
im Jahr 1946. Das entspricht einer Steigerung der Todesrate an
Tuberkulose auf 385%.8 Doch «wenn wir allein die Sterbefälle an
Tuberkulose betrachten, sehen wir das Ausmass der Katastrophe
noch nicht…», schrieb Anfang 1948 Professor Dr. med. Gerhard
Johannes Paul Domagk (1895–1964), der Entdecker des ersten
Sulfonamid-Antibiotikums Prontosil, damals Leiter des Institutes
für experimentelle Pathologie und Bakteriologie der Farbenfabriken Bayer in Wuppertal-Elberfeld und führte genauer aus:
3
4
5
6
7
8
Comas I, Chakravartti J, Small PM, Galagan
J, Niemann S, Kremer K, et al. Human T cell
epitopes of mycobacterium tuberculosis are
evolutionarily hyperconserved. Nat Genet.
2010 Jun;42(6):498-503.
Marseken, M. Tuberkulose: Unterschätzt,
gefährlich, tödlich. Fastbook Publishing; 2010.
Ewig S, Schaberg T. Tuberkulose heute. 2.
vollständig neu bearbeitete und erweiterte
Auflage, München –Deisenhofen: Dustri
Verlag Dr. Karl Feistle; 2007.
Burke RM. A historical chronology of
tuberculosis. 2nd ed. Springfield (IL): Charles
C Thomas; 1955.
Siehe Anm. 4.
Hein J, Kleinschmidt H, Uehlinger E.
Handbuch der Tuberkulose. Band 1,
Allgemeine Grundlagen. Stuttgart: Georg
Thieme Verlag; 1958.
17
Tuberkuloseherde treten nicht nur in der Lunge auf
Mycobacterium tuberculosis-Bakterien können nahezu jedes Gewebe und jedes Organ des Körpers
infizieren. Die Infektion erfolgt meist durch Einatmen
der Erreger. Es bilden sich kleine Entzündungsherde
in der Lunge, die der Körper mit Blutabwehrzellen
einkapselt. Diese Knötchen, die auch als Tuberkel
oder Primärkomplexe bezeichnet werden, können
sich ruhend verhalten und ohne Auswirkung bleiben.
Nur bei etwa 5–10% der Infizierten entwickelt sich
daraus die Krankheit Tuberkulose.
Noch Jahre nach einer Infektion kann sich aber aus
18
Tuberkelbakterien gesehen
mit dem Elektronenmikroskop.
Die gram-positiven aeroben
Stäbchen-Bakterien teilen sich
nur alle 16 bis 20 Stunden. Dies
ist extrem langsam im Vergleich
zu anderen Bakterien und macht
eine antibakterielle Behandlung
schwierig.
ruhenden Herden eine Tuberkulose entwickeln, besonders bei schlechter Infektabwehr des Infizierten,
z. B. in höherem Alter oder wenn Krankheiten (AIDS)
oder Medikamente (Immunsuppressiva) das Immunsystem schwächen. Wenn sich die Tuberkelbakterien
in den Primärherden vermehren, diese Herde grösser werden und dann Kontakt zu den Blutgefässen
bekommen, können die Erreger von dort im ganzen
Körper verteilt werden. Besonders häufig siedeln sich
die Bakterien nicht nur in der Lunge, sondern auch in
der Hirnhaut, in den Lymphknoten, in den Knochen,
Historisches Archiv Roche
Nachweise einer Knochen­
tuberkulose im zweiten
Lendenwirbelkörper
(schwarzer Pfeil) und im
Dornfortsatz des dritten
Lendenwirbelkörpers
(weisser Pfeil) mit der
Magnetresonanztomographie (MRT). Bei der Abbildung A handelt es sich um
ein T2-gewichtetes MRBild, bei der Abbildung B
um ein T1-gewichtetes
MR-Bild nach Kontrastmittelgabe. Die beiden infektiösen Herde sind stark
durchblutet und nehmen
daher viel Kontrastmittel
auf.
Tuberkulöser
Knieerguss: Weil
er drei Jahre seine
Lungentuberkulose nicht behandeln liess, trat bei
diesem Patienten
eine schmerzhafte Schwellung des
Kniegelenks auf,
die in Folge eine
Prothese nötig
machte.
Bei dieser Patientin führte die tuberkulöse Entzündung
zur vollständigen Zerstörung der Nase.
den Nieren, den Eierstöcken und in den Nebenhoden ab. Man spricht dann von extrapulmonaler Tuberkulose.
Bei sehr schwachem Immunsystem können sich Tuberkelbakterien – verteilt über das Blut im ganzen
Körper – in Form hirsekorngrosser Krankheitsherde
in mehreren Organen ansiedeln. Eine solche Miliartuberkulose (ausgehend vom lateinischen Wort milium
für Hirsekorn) führt in der Regel ohne Einsatz wirksamer Medikamente innerhalb weniger Tage zum Tod.
Die häufigste Form aber ist die Lungentuberkulose.
Historisches Archiv Roche
Centers for Disease Control and Preventions Image Library
Tuberkulose:
Von der Infektion zur Schwindsucht
B
Marius Schmid
A
Hustet der Tuberkulose-Patient keine Bakterien aus,
hat er eine geschlossene Tuberkulose. Findet der
tuberkulöse Herd in der Lunge Anschluss an eine
Luftröhre und werden aktive Erreger ausgehustet,
hat der Infizierte eine offene Tuberkulose und kann
innerhalb eines Jahres bis zu zehn andere Personen
anstecken. Eine rasche Diagnose und Therapie ist
notwendig. Zu den klinischen Krankheitssymptomen
zählen Husten, Gewichtsabnahme, Appetitlosigkeit,
Müdigkeit, Fieber, Nachtschweiss und manchmal
Blutbeimengungen im Auswurf.
19
«Die Tuberkulose bedroht Deutschland in einem Ausmaß,
wie es uns bisher unbekannt ja unvorstellbar war. Ich brauche nur wenige Zahlen zu nennen: Allein in der Provinz
Schleswig-Holstein schätzte man die Zahl der Behandlungsbedürftigen 1947 auf mindestens 40 000, die der OffenTuberkulösen auf etwa 12 000. In den Großstädten liegen die
Verhältnisse noch katastrophaler, Degkwitz9 gab allein für
Hamburg folgende Zahlen an: 46 000 Patienten mit offener
Tuberkulose und 150 000 Behandlungsbedürftige, für die
aber nur 12 000 Heilstättenbetten zur Verfügung stehen.»10
9
10
11
12
13
Prof. Rudolf Degwitz (1889–1973) war ein
herausragender Kinderarzt und früher
Anhänger der NSDAP, der er 1923 beitrat.
Später wandte er sich jedoch gegen das
Naziregime und ging dafür ins Gefängnis.
Domagk G. Die experimentellen Grundlagen
einer Chemotherapie der Tuberkulose.
Beitr Klin Tuberk Spezif Tuberkuloseforsch.
1948;101(4):365-94.
The toll of TB. Industrial bulletin of Arthur
Dehin Dolittle. 1951 Dec;282.
Kaempfert W. New drugs that combat
tuberculosis hold out a promise of far more
effective control. 1952, Historisches Archiv
Roche (HAR).
Reported Tuberculosis in the United States,
2009 [Internet]. Atlanta (GA): Centers for
Disease Control and Prevention; [updated
2010 Oct 25; cited 2011 Jul]. Available
from: http://www.cdc.gov/tb/statistics/
reports/2009/table1.htm.
20
Dieses Szenario liess Tuberkulose-Forscher zum Teil unsägliche
Anstrengungen und Risiken auf sich nehmen, um dieser unheilvollen Krankheit Einhalt zu bieten und zwar auf beiden Seiten des
Atlantiks. Denn auch im kriegsverschonten Amerika starben die
Menschen an Tuberkulose, trotz Sonnenschein-Sanatorien und
auch ohne Hunger und überfüllte Notunterkünfte. Tuberkulose
war der «Killer Nummer 1» der 15–35 Jährigen.111948 starben in
den USA 43 833 Menschen an der Tuberkulose.12 Noch im Jahr
1953 erkrankten von 100 000 US-Einwohnern 52.6 an Tuberkulose und 12.4 starben daran.13
Neben dieser dringenden Not waren in den 1940er und 1950er
Jahren aber auch die wissenschaftlichen Grundlagen gelegt, die
das Auffinden wirksamer Medikamente zur Behandlung der
Tuberkulose möglich machten: Der Erreger Mycobacterium tuberculosis war nebst einiger seiner sehr spezifischen Eigenschaften
schon seit 1882 bekannt. Verfahren, um in Zellkulturen und in
Tierversuchen zu untersuchen, wie sich seine Vermehrung stoppen liesse, waren etabliert. Das erste, in dieser Zeit gefundene
Antibiotikum gegen Tuberkulose sollte indes nicht halten, was
es zunächst versprach.
Hilfe aus dem Boden: Streptomycin
Vermutlich existierten Tuberkulosebakterien schon im Boden,
lange bevor es humane Lebewesen gab. Und so wurde das erste
Heilmittel gegen Tuberkulose auch «im Boden» gefunden.
Genauer gesagt handelte es sich um das Produkt von im Boden
lebenden Mikroorganismen, von Bakterien, die – wie Pilze –
mehrzellige Gebilde und Hyphen ausbilden. Entdeckt wurde die
antituberkulöse Wirksamkeit im Labor des Mikrobiologen Selman Abraham Waksman (1888–1973) an der Rutgers-Universität
in New Jersey in den USA.
Waksman, der seinen ersten akademischen Abschluss an der
Rutgers-Universität im Fach Landwirtschaft erworben hatte, war
damals der Spezialist für Bodenbakterien in den USA und hatte
1932 von der Amerikanischen Tuberkulose-Gesellschaft den Auftrag erhalten, die Überlebensfähigkeit von Tuberkulosebazillen
im Boden zu untersuchen. Wie sein Mitarbeiter Chester Rhines
herausfand, überlebten Tuberkulosebakterien in sterilisierten
Bodenproben recht gut. Ja sie vermehrten sich sogar, wenn diese
mit verschiedenen Bodenbakterien angereichert wurden. Wurden
die Bodenproben dagegen nicht sterilisiert und nichts unternommen, um die Pilze im Boden abzutöten, verringerte sich die Anzahl
der Tuberkulosebakterien. Trotzdem können Tuberkulosebakterien im Boden für Monate überleben, selbst wenn es dort eine
komplexe mikrobiologische Population gibt, die ihnen das Leben
schwer macht. Welche der Bodenmikroorganismen für die Zerstörung der Tuberkelbazillen verantwortlich sein könnten, vermochte
Rhines nicht herauszufinden. Diesen Aufsehen erregenden, 1935
veröffentlichten Ergebnissen14 folgten zunächst keine weiteren
Experimente mit Tuberkulosebakterien. Waksman interessierte
sich zu dieser Zeit mehr für das Miteinander der Bakterien im
Boden, das – wie er herausfand – in einem knallharten Konkurrenzkampf um das Angebot an Platz und Nährstoffen bestand,
ausgefochten mit Hilfe «chemischer Waffen».
Die Dinge änderten sich als 1939 einer seiner ehemaligen
Doktoranden, René Dubos (1901–1982), am Rockefeller Institut
in New York aus Bacillus brevis-Bodenbakterien diese chemischen
Waffen isolierte und mit ihnen bakterielle Infektionen bekämpfte.
Die von Dubos isolierten und von Waksman 1942 «Antibiotika»
getauften Substanzen erwiesen sich zwar, sowohl oral als auch
intravenös verabreicht, als zu toxisch für den Menschen, aber
sie konnten bei Wundinfektionen und auf der Haut lokal angewendet werden. Und sie beflügelten die Phantasie der Forscher
und liessen erneut die Hoffnung keimen: Sollte sich nicht doch
auch ein Antibiotikum gegen Tuberkulose finden lassen und zwar
im Boden? Die zu dieser Zeit schon existierenden Antibiotika,
das von Fleming gefundene, aus Schimmel isolierte Antibiotikum Penicillin, und auch das erste synthetische Antibiotikum
14
Rhines C. The persistence of avian tubercle
bacilli in soil and in association with
soil microorganisms. J Bacteriol. 1935
Mar;29(3):299-311.
21
Streptomycin
15
Kingston W. Streptomycin, Schatz v.
Waksman, and the balance of credit for
discovery. J Hist Med Allied Sci. 2004
Jul;59(3):441-62.
16 Lechevalier HA. The search for antibiotics
at Rutgers University. Parascandola J. The
History of Antibiotics: A Symposium. Madison
(WI): American Institute of the History of
Pharmacy; 1980.
17 Schatz A, Bugie E, Waksman SA.
Streptomycin, a substance exhibiting
antibiotic activity against gram-positive and
gram-negative bacteria. Proc Soc Exp Biol
and Med. 1944;55:66-9.
18 Fust B, Wernsdorfer G, Wernsdorfer
W. Erfahrungsbericht des Teams
der Gesellschaft Schweizerischer
Tuberkuloseärzte zur klinischen Prüfung
von Rimifon. Schweiz Z Tuberk. 1955;12
(Suppl 1):9.
22
Prontosil, vermochten nichts gegen Mycobacterium tuberculosis
auszurichten.
Und so wurde von nun an mit finanzieller Unterstützung
der pharmazeutischen Firma George Merck & Co 15 in Waksmans Labor nach neuen Antibiotika gesucht – vor allem gegen
Tuberkulose. Untersucht wurde die Hemmwirkung von im
Boden lebenden Mikroorganismen, meist Bakterien, auf den
Tuberkulose-Erreger. Die Firma Merck beteiligte sich an der
Suche nach einem neuen Antibiotikum nicht nur finanziell:
Während Waksman und seine Mitarbeiter sich mit den Mikroben
beschäftigten, kümmerten sich Wissenschaftler von Merck um
die Chemie und Pharmakologie der gefundenen Antibiotika.16
Die finanzielle Vereinbarung mit Merck sah vor, dass die Firma
alle Erfindungen von praktischer Bedeutung patentieren lassen
und dann 2.5% der Einnahmen aus den Verkäufen von daraus
hervorgegangenen Medikamenten an die Rutgers-Universität
zahlen würde.
Am 19. Oktober 1943 isolierte ein Doktorand Waksmans,
Albert Schatz (1920–2005), erstmals ein Antibiotikum aus Streptomyces griseus -Bakterien, welches den Namen Streptomycin
erhielt. Im Januar 1944 veröffentlichten Schatz, Waksman und
Elizabeth Bugie die Entdeckung, dass dieses Streptomycin das
Wachstum etlicher grampositiver und gramnegativer Bakterien
hemmen konnte.17 Mitte 1945 folgten weitere Publikationen, in
denen bekannt gegeben wurde, dass Streptomycin das Wachstum
von Tuberkelbazillen im Kultur- und im Tierversuch verhinderte.
Das Antibiotikum wurde unter anderem mit der gefährlichsten
Art humaner Tuberkulosebakterien getestet: mit H37Rv, einem
Stamm, mit dem später auch Forscher der Roche ihre potenziellen
Tuberkulose-Mittel testeten.
In den Jahren 1945 und 1946 wurden die ersten Ergebnisse
der klinischen Prüfung von Streptomycin veröffentlicht.18 Es ist
anzunehmen, dass der erste Tuberkulose-Patient, der Streptomycin erhielt, noch mit Material behandelt wurde, welches Schatz in
mühsamer Handarbeit im Labor hergestellt hatte. Ab 1946 wurde
Streptomycin biotechnologisch in den Fermentern der amerikanischen Firma Merck & Co in Elkton, Virginia, produziert.
Ohne Patente keine Medikamente
Als Waksman 1945 zu ahnen begann, welche Bedeutung Streptomycin erlangen könnte, und dass die Produktionskapazitäten
von Merck eventuell nicht ausreichen würden, den Bedarf zu
decken, wandte er sich mit der Bitte an Merck, die Patentrechte
an die Rutgers-Universität zurückzugeben. Auch andere Firmen
sollten Lizenznehmer werden können. Die Firma Merck kam dem
entgegen und übertrug ihre 1939 mit Waksman ausgehandelten
Patentrechte 1946 zurück an die Rutgers-Forschungsstiftung.
Allerdings bedingte sich Merck einen Rabatt auf die Gebühren
für die nichtexklusive Lizenz zur Produktion von Streptomycin
aus, um zum Teil die Kosten zu kompensieren, die die Firma in
die Entwicklung von Streptomycin gesteckt hatte. Damit war
der Weg frei für andere Firmen, Lizenzen zur Herstellung des
dringend benötigten Streptomycins zu erwerben.
Waksman überredete nun auch seine Mitentdecker Schatz und
Bugie, «auf alle Einnahmen aus dem Streptomycin-Patent zugunsten der Rutgers-Forschungsstiftung zu verzichten».19 Schatz
entdeckte jedoch später, dass Waksman einen Vertrag mit der
Rutgers-Forschungsstiftung abgeschlossen hatte, der Waksman
persönlich 20% der Einnahmen aus dem Streptomycin-Patent
sicherte. Der erboste Schatz zog 1950 vor Gericht, was ihm eine
Abfindung und 3% der jährlichen Streptomycin-Lizenzgebühren
der Rutgers-Forschungsstiftung einbringen, aber – wie sich später zeigte – seine wissenschaftliche Karriere verhindern sollte.
Waksmans persönlicher Anteil an den Einnahmen wurde auf 10%
herabgesetzt, 7% wurden unter den anderen, an der Entdeckung
von Streptomycin beteiligten Mitarbeitern des Labors verteilt.
Waksman selbst reduzierte später seinen Anteil auf 5%.
Diese Regelung, einer Firma nicht mehr die alleinigen Rechte
an einem Antibiotikum einzuräumen, sollte Rutgers beibehalten
und führte letzlich dazu, dass die Antibiotika-Forschung an dieser
Universität eingestellt wurde musste.20
Enttäuschungen
Der Nobelpreis für Medizin ging im Jahr 1952 nur an Waksman
für «seine Entdeckung des Streptomycins, als des ersten gegen
Tuberkulose effektiven Antibiotikums», was Schatz und die an der
klinischen Testung von Streptomycin beteiligten Ärzte verbitterte.
Und: Streptomycin erwies sich leider nicht als das Wundermittel gegen Tuberkulose, für das man es anfangs gehalten hatte.
Es wirkte nicht bei allen Patienten und die «Heilung» war oft nicht
von Dauer. Kehrte die Tuberkulose bei den mit Streptomycin
behandelten Patienten zurück, so erwiesen sich die Tuberkelbazillen bei diesen Patienten nun oft als resistent gegen Streptomycin. Schlimmer noch, Streptomycin war auch wirkungslos bei
19
Zankl H. Wertvoller Bakterienkiller. In:
Kampfhähne der Wissenschaft. 1.Aufl.
Weinheim: Wiley VCH; 2010.
20 Siehe Anm. 16.
23
jenen, die sich bei Patienten mit gegen Streptomycin resistenter
Tuberkulose angesteckt hatten. Zudem schädigte Streptomycin
bei einigen Patienten die Hörnerven, etliche wurden durch die
Therapie taub oder schwerhörig. Die Situation verbesserte sich
etwas, als man in Amerika erstmals eine Kombinationstherapie
in kontrollierten klinischen Studien prüfte: Streptomycin in
Kombination mit para-Amino-Salizylsäure (PAS).
Geniale Überlegung: para-Amino-Salizylsäure
21
Bernheim F. The effect of salicylate on the
oxygen uptake of the tubercle bacillus.
Science. 1940 Aug 30;92(2383):204.
22 Bernheim F. The effect of various substances
on the oxygen uptake of the tubercle bacillus.
J Bacteriol. 1941 Mar;41(3):387-95
23 Ryan F. Tuberculosis: The greatest story never
told. Bromsgrove (UK): Swift Publishers Ltd;
1992.
24
Im Gegensatz zur Findung des Streptomycins war die Entdeckung von PAS zunächst nicht das Ergebnis umfangreicher
mikrobiologischer Experimente im Labor, sondern Frucht eines
genialen Gedankenexperiments. Im kriegsneutralen Schweden
las 1940/1941 der dänische Physiologieprofessor Jørgen Lehmann (1898–1989), Leiter des Zentrallabors des Sahlgrenska
Universitätsspitals, die Artikel seines Kollegen Frederick Bernheim (1905 bis vermutlich 1988) von der Duke University Medical School. Dieser berichtete davon, dass sich der Sauerstoffverbrauch von Tuberkelbazillen nach Zugabe von Acetylsalicylsäure
(Aspirin) erhöhte. Dies war von der Aspirin-Konzentration
abhängig21 und geschah auch erst nach einer gewissen Zeit, die,
wie Bernheim annahm, wohl dazu gebraucht würde, um «die
Acetylgruppe des Aspirins zu hydrolysieren». Bernheim hatte
zuvor den Einfluss mehrerer Substanzen auf den Stoffwechsel
der Tuberkelbazillen untersucht.22 Aspirin oder ähnliche Verbindungen könnten für Tuberkelbazillen wichtig sein, schlussfolgerte er. Lehmann spann diesen Gedanken weiter: Wenn man
Acetylsalicylsäure-Moleküle so modifizierte, dass sie von den
Tuberkelbazillen zwar zur Energiegewinnung aufgenommen,
dann dazu aber nicht mehr verwertet werden konnten, hätte
man vielleicht ein Heilmittel. Aber welche Art von Modifikation
sollte man am Aspirin vornehmen? «Tatsächlich war es sehr
einfach. Bei den Sulfonamiden befand sich eine Aminogruppe
in der para-Position. Wenn man diese Aminogruppe durch
eine andere Gruppe ersetzte oder sie an die ortho- oder metaPosition setzte, verminderte sich der bakteriostatische Effekt
oder verschwand ganz», 23 soll Lehmann seine Überlegungen
später beschrieben haben.
Lehmann schlug daher dem schwedischen mittelständischen
Unternehmen Ferrosan die Synthese eines modifizierten Aspirins
mit einer Aminogruppe in para-Position zur Acetylgruppe vor.
Diese Substanz, mit der auf dem Papier so einfach aussehenden
Struktur (siehe nebenstehende Formel), liess sich anfangs allerdings nicht einfach herstellen. Zudem war sie von deutschen
Chemikern schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts synthetisiert
worden und liess sich daher auch nicht mehr patentieren. Und
dennoch arbeitete ein Chemiker bei Ferrosan an einer neuen
Synthese und die Firma stellte Lehmann die Substanz für dessen
Laborversuche und später auch für die klinischen Studien zur
Verfügung.
Lehmann erdachte und prüfte PAS nicht nur eigenhändig im
Labor, er testete die Substanz auch an sich selbst. Erst nachdem
er die Substanz geschluckt und sich selbst injiziert hatte, gab
er sie zur Prüfung an einer kleinen Patientin frei, die an einem
Lymphom und an Knochentuberkulose litt. Im Frühling 1946
wurde die Presse über das Ergebnis der Testung mit weiteren
Patienten informiert.24 Noch im selben Jahr kam das Präparat in
den Handel und zu breiter klinischer Anwendung.
PAS hatte weder solche gravierenden Nebenwirkungen wie
Streptomycin, noch musste es wie dieses gespritzt werden; man
konnte es schlucken. Auch war PAS einfacher durch chemische
Synthesen herzustellen als das biotechnologisch erzeugte Streptomycin. Aber beide Medikamente hatten nur eine bakteriostatische
Wirkung, das heisst sie hemmten das Wachstum der Tuberkelbazillen, konnten sie aber nicht abtöten. Zudem entwickelten
sich schnell Resistenzen gegen beide Medikamente. Mit einer
Kombinationstherapie aus beiden Medikamenten konnte man
Patienten helfen, bis Erkrankungen mit neuen Tuberkelbazillen
auftraten, die gegen beide Mittel resistent waren.
para-Amino-Salizylsäure
Zu toxisch, aber doch den Weg weisend: ­­­
die Thiosemicarbazone
Bei Bayer hatte man die Tuberkulose-Forschung mit Ausbruch
des Zweiten Weltkrieges zunächst aufgegeben. Domagk, damals
tätig am Forschungsinstitut für experimentelle Pathologie und
Bakteriologie der Farbenfabriken Bayer in Wuppertal-Elberfeld,
befürchtete jedoch aufgrund seiner Erfahrungen im und nach
dem Ersten Weltkrieg eine neue Tuberkulose-Epidemie. Am
9. November 1940 riet er in einem Schreiben an das Management
von Bayer dringend dazu, die Tuberkulose-Forschung wieder
aufzunehmen. Schon bald nach Wiederaufnahme der Experimente entdeckte Domagk, dass von den Sulfonamiden «die thiazolhaltigen einen bemerkenswerten Hemmungseffekt gegenüber
Tuberkelbacillen entfalteten».25 Und bereits im November 1941
24
Ryan F. Tuberculosis: The greatest story never
told. Bromsgrove (UK): Swift Publishers Ltd;
1992.
25 Domagk G, Offe HA, Siefken W.
Weiterentwicklung der Chemotherapie
der Tuberkulose. Beitr Klin Tuberk Spezif
Tuberkuloseforsch. 1952 Aug 22;107(4):
325-37.
25
26
Domagk G. Lebenserinnerungen Band 1
S. 267 Bayer Archiv Leverkusen.
Mietzsch F. Die Pharmazeutische
Nachkriegsforschung der Farbenfabriken
Bayer Aktiengesellschaft. Medizin und
Chemie Bd.V. Weinheim/Bergstr.: Verlag
Chemie GmBH; 1956; S. 11-24.
28 Professor Fritz Mietzsch (1896–1958) wurde
1954 Leiter der Elberfelder Forschung.
29 Domagk G. Lebenserinnerungen in Bildern
und Texten. Leverkusen: Bayer AG; 1995;
S. 46.
30 Fust B, Wernsdorfer G, Wernsdorfer
W. Erfahrungsbericht des Teams
der Gesellschaft Schweizerischer
Tuberkuloseärzte zur klinischen Prüfung von
Rimifon. Schweiz Z Tuberk. 1955;12(Suppl
1):1-344.
27
26
Bayer Archiv Leverkusen
Tibione (Conteben)
war den Experten in Elberfeld bekannt, dass die Thiosemicarbazone eine bemerkenswerte antituberkulöse Wirkung im Kulturund Tierversuch aufwiesen. In der ersten Hälfte des Jahres 1944
musste diese Forschung aber erneut eingestellt werden: Nach
einer massiven Bombardierung war die Stadt Elberfeld nur noch
ein Trümmerhaufen. Die meisten von Domagks Mitarbeitern
waren obdachlos, verwundet oder tot.
Viele Schwierigkeiten mussten überwunden werden, um der
Tuberkulose-Forschung bei Bayer nach dem Krieg wieder Leben
einzuhauchen: Erst im Oktober/November 1945 gestattete die
britische Besatzungsmacht die Wiedereröffnung der Elberfelder
Forschungslaboratorien. Im kriegszerstörten Deutschland zu
diesem Zeitpunkt Materialien für die Forschung aufzutreiben,
war zudem alles andere als einfach: «Dazu kam, dass in den ersten
Nachkriegsjahren infolge der schwierigen Ernährungsverhältnisse
das für die pharmazeutische Forschung nun einmal unumgänglich notwendige Tiermaterial kaum zu beschaffen war, da es
entweder der menschlichen Ernährung zugeführt wurde oder
wegen Futtermittelknappheit gar nicht erst gezüchtet werden
konnte»27, erinnerte sich 1956 Fritz Mietzsch28 (1896–1958). Das
Hauptproblem war jedoch die Rekrutierung neuer Mitarbeiter.
Viele Mitglieder der alten Belegschaft hatten ihr Leben lassen
müssen oder waren durch den Krieg in alle Winde zerstreut worden. Dies galt übrigens auch für Domagks Familie: Seine Mutter
war auf der Flucht aus Ostpreussen verhungert. Seine Schwester
überlebte die Flucht und erreichte Wuppertal im Januar 1946 «in
bedauernswertem Zustand».29 Seine Frau und drei seiner Kinder
waren noch evakuiert.
Trotzdem kam die Forschung mit den Thiosemicarbazonen so
gut voran, dass Domagk 1946/1947 ihre klinische Erprobung für
gerechtfertigt hielt. Eine dieser Substanzen, das p-Acetylaminobenzaldehyd-thiosemicarbazon, erwies sich als besonders wirkungsvoll und sollte später in Europa als Conteben vermarktet
werden.
In den USA wurde es Tibione genannt, abgeleitet von «TB
one». Allerdings wurden die Erfahrungen über die klinische
Anwendung «nur zögernd und in relativ geringer Zahl publiziert, da sich das mittlerweile verfügbare Streptomycin, meist
zusammen mit PAS, als Mittel der Wahl durchsetzen konnte
und sich der Anwendungsbereich der Thiosemicarbazone wegen
ihrer toxischen Nebenwirkungen und der relativ bescheidenen
Wirksamkeit bei bestimmten Tuberkuloseformen mehr und
mehr einengte».30
Nur gering gegen Tuberkulose wirksam und
trotzdem viel bewirkend: ein B-Vitamin
Paris im Jahr 1945: Trotz eines entsprechenden Befehls von Hitler
hatten die Deutschen beim Abzug die Stadt nicht zerstört. Am
Institut Pasteur beschäftigte sich der Franzose Vital Chorine
mit Tuberkulose und fand heraus: Die Tuberkulose des Meerschweinchens lässt sich mit Nikotinsäureamid, einem Vitamin
des B2-Komplexes, positiv beeinflussen. Diese Neuigkeit wurde
von den Chemikern bei Bayer mit Interesse aufgenommen und
sollte etwas später auch deren Wirkstoffsynthesen beeinflussen.
Diese Erkenntnis liess aber auch Experten der Firma Roche
aufhorchen, der damals bedeutendsten Produzentin von Vitaminen. Neben dem Aufbau entsprechender Labor-Forschungskapazitäten für die Tuberkulose-Forschung liess Roche klinische
Studien mit Nikotinsäureamid bei Tuberkulose-Patienten in der
Domagk: «Mein Verdienst
an der Auffindung der
Tuberkuloseheilmittel ist im
übrigen die Tatsache, dass
ich 20 Jahre an dem fast allen
hoffnungslos erscheinenden
Problem unter steter
Gefährdung für mich und meine
Mitarbeiter arbeitete, selbst
alle Verantwortung für diese
Arbeiten trug und sie trotz aller
Enttäuschungen nicht aufgab.» 26
27
31
32
33
34
35
Der Mediziner Professor Dr. Med. Bernhard
Fust hatte sich bereits während seiner
Doktorandenzeit mit Tuberkulose beschäftigt.
1949 wurde er von der F. Hoffmann La
Roche & Co. AG als Leiter der Abteilung für
Chemotherapie berufen. Diese Position hatte
er bis 1967 inne und war gleichzeitig Dozent
an der Berner Universität.
HAR: PD.3.1.RIM-102670 b N589.
Wiesmann E, Wanner J, Tanner E. Erste
Beobachtungen von Rimifon Resistenz.
Schweiz Med Wochenschr. 1952 Aug
2;82(31):785-7.
Grunberg E. Schnitzer RJ. The in vivo
antitubercular activity of the combination
of p-aminosalicylic acid, nicotinamide
and tibione (Ro-1-6317). Report 6917 to
Management 7.3.1950.
HAR: PE1.S-106962a.
28
Robert Julius
Schnitzer (links)
und Emanuel
Grunberg testeten mit ihren
Mitarbeitern in
Nutley ab 1949
die Wirkung
der bei Roche
als Antituberkulosemittel
synthetisierten
Substanzen in
Mäusen.
Isonikotinsäurehydrazid (INH): ein Zwischenprodukt wird mehrfach Klinik-Kandidat
Abteilung für Chemotherapie der I.G. Farben, Werk Höchst bei
Frankfurt am Main.35
Schon bei Höchst arbeitete Schnitzer an einer chemotherapeutischen Behandlung der Tuberkulose. Am 24. August1938 erhielt
er dort als Nichtarier die Kündigung und nur wenig später, am
30. September, entzog man ihm die Approbation. «Er arbeitete
daraufhin im Jüdischen Krankenhaus – Cleaning the dishes», wie
er später berichtete.36 Am 12. November desselben Jahres wurde
er in das Konzentrationslager Buchenwald deportiert und im
Januar 1939 von dort mit der schriftlichen Verpflichtung entlassen, Deutschland innerhalb von vier Wochen zu verlassen.
Schnitzer schickte daraufhin seine Kinder Muriel und Bertram
mit einem Kindertransport nach Belgien und floh selbst mit seiner
Frau und den zehn Reichsmark, die er mitnehmen durfte, nach
Frankreich. Dort fand die Familie wieder zusammen. Schnitzer
arbeitete für einige Monate bei Rhône Poulenc und bewarb sich
auch bei Roche. Die Firma konnte für Schnitzer jedoch nicht
In den Chemotherapy Laboratories der Hoffmann-La Roche Inc.
in Nutley, New Jersey, begannen 1949 der deutsche Mediziner
Robert Julius Schnitzer (1894–1987) und der amerikanische Bakteriologe Emanuel Grunberg (1922–1995) mit der TuberkuloseForschung. Sie testeten Kombinationen von Nikotinsäureamid,
Conteben und PAS34 an intravenös mit H37Rv infizierten Mäusen.
Wie Domagk hatte Schnitzer zu diesem Zeitpunkt schwere
Jahre hinter sich und wahrscheinlich waren sich die beiden vor
dem Krieg sogar einmal begegnet. Geboren in Berlin, hatte Schnitzer dort von 1913 bis 1918 Medizin studiert. 1919 – als auch in
Berlin die Spanische Grippe wütete – war er Assistent an der Charité und danach neun Jahre in der Abteilung für Chemotherapie
am Berliner Robert Koch-Institut tätig. Ab 1928 war er Leiter der
Historisches Archiv Roche
Nikotinsäureamid
Schweiz und im benachbarten Frankreich, aber auch in Portugal
und in Italien, durchführen. Die Ergebnisse dieser klinischen
Studien fielen jedoch nicht eindeutig aus.
Die bei Roche in Basel tätigen Forscher Bernhard Fust31
(1910–1973) und Alfred Studer (1917–2005) bestätigten die
Befunde von Chorine in Tierversuch und zeigten, dass Nikotinsäureamid in hohen Dosen (2.8 Gramm pro Kilogramm
Körpergewicht) die Tuberkulose noch günstiger beeinflusst als
Streptomycin oder PAS.
Aber diese hohen notwendigen Dosen bedeuteten für Nikotinsäureamid letztlich das «Aus» als potenzielles Tuberkulose-Medikament. Denn wie in einem internen Bericht festgehalten wurde,
hätte man, um einen ähnlichen Effekt wie beim Meerschweinchen
zu erzielen, einem 60 Kilogramm schweren Menschen täglich 168
Gramm Wirkstoff verabreichen müssen.32 Aufgrund des Preises
und der Nebenwirkungen konnte das kein Medikament für Millionen von Patienten werden. Allerdings wurde das «PellagraVitamin» in weit geringeren Dosen dennoch in seltenen Fällen
eingesetzt, 1952 zum Beispiel bei einigen der ersten Patienten,
deren Tuberkelbazillen auch eine Resistenz gegen Isoniazid (INH,
Rimifon) entwickelten.33
Und doch bewirkten die Untersuchungen mit dem B-Vitamin
Gutes: Eine Molekülstruktur des Nikotinsäureamids, der Pyrindinring, sollte unverzichtbarer Bestandteil des ersten wirklichen
Tuberkulose-Heilmittels werden.
36
Lindner M, Lindner SH. Das Ende des
«Zauberbergs»: Robert Julius Schnitzer
und die erfolgreiche Bekämpfung
der Tuberkulose. Atemwegs- und
Lungenkrankheiten. 2004 Apr;198-203.
29
Historisches Archiv Roche
Die Infektion der Mäuse
erfolgte durch Injektion der
Bakterien in die Schwanzvene
der Tiere, hier vorgenommen
von der Assistentin Barbara
Lievan. Eigentlich wurden
für Tierversuche in der
Tuberkuloseforschung bevorzugt
Meerschweinchen eingesetzt.
Weil deren Haltung schwieriger
war und ausserdem mehr Platz
beanspruchte, der in Nutley
nicht vorhanden war, entschied
Schnitzer, die Versuche an
Mäusen durchzuführen.
37
Böhni, E. Montavon M, Studer, RO. Zum
Hinschied des Bakteriologen Emanuel
Grunberg: Ein Original mit Spürsinn und
Rückgrat. Roche Nachrichten. 1995; 3:7-8.
38 Fust B. Orientierung über das Antituberculo­
ticum Rimifon Roche. Schweiz Med Wochen­
schr. 1952 Mar 29;82(13):333-5.
30
sofort ein Visum erwirken. Deshalb ging Schnitzer zunächst für
zwei Jahre nach Kanada und arbeitete im Connaught Laboratory
der Universität Toronto. 1941 kam er dann als Leiter des chemotherapeutischen Labors zu Roche in Nutley. Ab 1946 arbeitete
er dort mit dem Bakteriologen Grunberg zusammen. Grunberg
hatte 1946 an der Yale Universität promoviert und arbeitete bei
Roche zunächst wie Schnitzer an Sulfonamiden.37
Als Schnitzer und Grunberg mit der Tuberkulose-Forschung
begannen, fanden sie sehr schnell heraus, dass die Kombination
von PAS, Nikotinsäureamid und Conteben die Tuberkulose bei
Mäusen stoppen konnte, auch wenn PAS und Nikotinsäureamid
in Dosen gegeben wurden, die für sich alleine wirkungslos waren.
Die drei Substanzen, so ihre Schlussfolgerung, wirken synergistisch zusammen. Schnitzer und Grunberg testeten auch viele neue
Substanzen, welche die Chemiker in Nutley, ausgehend von der
Struktur des Nikotinsäureamids und der allgemeinen Strukturformel der Thiosemicarbazone, synthetisierten. Darunter befand sich
auch das vom Chemiker Herrman Herbert Fox (wahrscheinlich
geb. 1912) erstmals am 12. August 1949 als Zwischenprodukt
erhaltene Isonikotinsäurehydrazid (INH), welches von Fox unter
der internen Präparate-Nummer Ro 2-3973 am 7. Juli 1950 zur
Prüfung auf antituberkulöse Wirkung eingewiesen wurde.
Grunberg und Schnitzer sollte diese Substanz im Sommer
1950 erstmals mit einer ausserordentlichen Aktivität gegenüber
Tuberkelbazillen überraschen.38 Wieder nutzten sie für ihre Experimente die mit H37Rv-Tuberkelbazillen infizierten Mäuse. Im
Report Nummer 7273 vom 20. Dezember 1950 berichteten sie
an das Management von Roche:
Isoniazid
«Eine Substanz, Ro 2-3973, schien eine ganz besondere
Aktivität aufzuweisen. Obwohl ihre Toxizität im gleichen
Bereich wie die anderer Mitglieder dieser Gruppe lag, war
die Aktivität in den mit Tuberkulose infizierten Mäusen
ungewöhnlich hoch, 20-mal höher als die von Streptomycin
und mehr als 10-mal höher als die von Tibione…
Ro 2-3973 scheint darüber hinaus noch eine weitere ungewöhnliche Eigenschaft aufzuweisen. Wie allgemein bekannt,
zeigen PAS und Streptomycin im Mäuseversuch einen strikten
bakteriostatischen Effekt. Wie von uns zuvor beschrieben
wurde, entwickeln die mit Tuberkelbazillen intravenös infizierten
Tiere gewöhnlich nach Abbruch der effektiven 21-tägigen
Behandlung nach weiteren drei Wochen eine Miliartuberkulose.
In einem ähnlichen Experiment mit Ro 2-3973 wurde gefunden,
dass Mäuse, intravenös infiziert mit einer Standarddosis von
M. tuberculosis H37Rv und 21 Tage lang behandelt mit einer
Dosis von 250 mg/kg oder 50 mg/kg, verabreicht mit der
Nahrung, nach drei weiteren Wochen ohne Behandlung
die erwartete Miliartuberkulose nicht entwickelten.»
31
Aufzeichungen im Laborjournal
von Herrman Herbert Fox vom 12.8.1949.
32
Herrman Herbert Fox synthetisierte bei Roche erstmals am
12. August 1949 Isonikotinsäurehydrazid (INH) und wies es
zur Testung als Antituberkulosemittel ein.
Historisches Archiv Roche
Iproniazid (Marsilid)
Im Dezember 1950 wiesen auch die Basler Laboratorien von
Roche Ro 2-3973 «zur Prüfung auf tuberculocide [abtötende]
Wirkung» ein. Es folgten Untersuchungen von Ro 2-3973 (INH)
und Ro 2-4572 (dem später Marsilid getauften Isopropyl-Derivat
von INH) an mit Tuberkulose infizierten Meerschweinchen und
Affen. Die Verträglichkeiten der Substanzen wurde an Affen,
Hunden, Ratten und Mäusen getestet; und die chronische Toxizität von INH in der Zeit vom Dezember 1950 bis Mai 1951
bestimmt.
INH hatte schon in den Kulturversuchen eine deutliche
Überlegenheit gegenüber anderen Derivaten gezeigt. Es konnte
noch in einer Verdünnung von 1 : 60 Millionen eine antituberkulöse Wirkung gegenüber H37Rv-Tuberkulosebakterien
entfalten. Zum Vergleich: Das Isopropylderivat wirkte nur
bis zu einer Verdünnung 1 : 600 000 hemmend auf Tuberkulosebakterien. Trotzdem wurden bei Roche weitere ähnliche
Verbindungen synthetisiert und im Labor getestet. Unter den
drei, die schliesslich von Edward Heinrich Robitzek (1912–1984)
und Irving J. Selikoff (1915–1992) am Sea View Hospital von
Staten Island, einem Städtischen New Yorker Institut für Tuberkulosekranke, ab Juni 1951 klinisch getestet wurden, waren
ein Glukosyl-Derivat von INH (ab dem 19. Juni 1951), das
Isopropyl-Derivat von INH (Testung ab dem 2. Oktober 1951)
und das INH selbst, welches als letztes erst ab dem 17. Dezember
1951 getestet wurde.39
Es waren die allerschwersten und hoffnungslosen TuberkuloseFälle, die erstmals eine dieser Substanzen in Dosen von zwei bis
vier Milligramm, später auch zehn Milligramm Substanz pro
Kilogramm Körpergewicht, erhielten. Alle anderen Behandlungsmöglichkeiten, die von strikter Bettruhe und einer medikamentösen Therapie mit Streptomycin oder Streptomycin und PAS
(bei den meisten Patienten), über chirurgische Resektionen der
Tuberkulose-Herde und bis hin zum Pneumothorax (bei einigen
Patienten) reichten, waren ausgeschöpft und erfolglos geblieben.
Die Patienten, zwischen zehn und 70 Jahren, grösstenteils jedoch
zwischen 20 und 39 Jahre alt, waren abgemagert, fiebrig, kraftund appetitlos und hatten starken Husten. In ihrem Auswurf
wimmelte es nur so von Tuberkulosebakterien.
Bei den meisten der bislang unheilbaren Kranken sank das
Fieber schon nach wenigen Tagen, manchmal sogar schon 36
Stunden nach Behandlungsbeginn. Und schon nach wenigen
Wochen stellte sich auch eine Gewichtszunahme ein, so dass
39
Robitzek EH, Selikoff IJ. Hydrazine derivatives
of isonicotinic acid (rimifon, marsilid) in the
treatment of active progressive caseouspneumonic tuberculosis; a preliminary report.
Am Rev Tuberc. 1952 Apr;65(4):402-28.
33
Diese ritterliche Absicht wurde Wirklichkeit, wenn auch auf
andere Art und Weise, als es sich alle Beteiligten damals wohl
vorstellten. Denn mehrere Firmen brachten das Medikament
1952 auf den Markt. Und so fiel der Preis dafür – schon wegen
der starken Konkurrenz – ziemlich bald sehr moderat aus. INH
in Kulturversuchen sowie an Tier und Mensch erforscht hatten
jedoch nur die Firmen Roche, Squibb und Bayer.
Die Tuberkulose war ein medizinisches Problem ersten Ranges auf beiden Seiten des Atlantiks. Im Nachkriegsdeutschland
aber war sie so allgegenwärtig geworden, dass sich beispielsweise
ein «Zentralkomitee zur Bekämpfung der Tuberkulose in der britischen Zone» gezwungen sah, ärztliche und Fürsorge-Richtlinien
für die Arbeitsvermittlung Lungentuberkulöser» aufzustellen.41,42
Die Firma Bayer betrieb am Forschungsstandort Elberfeld
nun nicht nur intensiv die Suche nach neuen TuberkuloseMitteln, ab September 1949 hatte die Firma auch das «alte»
Tuberkulose-Medikament PAS als Pasalon im Angebot, seit
Februar 1950 Streptomycin43 und seit 1950 das von der Firma
selbst entwickelte Conteben. Wie Schnitzer und Grunberg in
Amerika, testete auch Domagk in Deutschland Kombinationen
bereits vorhandener Tuberkulose-Mittel. Er führte umfangreiche
Experimente mit PAS, Streptomycin und Conteben in vitro mit
Tuberkulosebakterien auf verschiedenen Nährböden und in vivo
an mit humanen Tuberkelbazillen infizierten Meerschweinchen
sowie an mit Erregern der Rindertuberkulose infizierten Kaninchen durch.
Historisches Archiv Roche
alle nach etwa acht Wochen wieder ihr Normalgewicht erreicht
hatten. Manche nahmen innerhalb von neun bis 15 Wochen
Therapie fünf bis 14 Kilo zu! Der Hustenreiz wurde gelindert,
der Auswurf vermindert und der Allgemeinzustand der Patienten beträchtlich gebessert. Bei einigen waren sogar weder im
Magensaft noch im Auswurf Tuberkelbazillen nachweisbar. Die
Substanzen vermochten die Bakterien also wirklich abzutöten –
im Tier wie im Menschen, was bisher weder mit Streptomycin
noch mit PAS beobachtet worden war.
Als man Roche Firmenchef Emil C. Barell (1874–1953) bei
einem Besuch in den USA 1951 die ersten Ergebnisse mit INH
präsentierte, soll er gesagt haben:
«Gentlemen, dieses neue Roche-Medikament ist ein
solch bedeutender Beitrag zur Menschlichkeit, dass wir
es zu einem Preis vertreiben sollten, dass auch arme
Menschen überall auf der Welt es ohne Schwierigkeit
erhalten können. In diesem Fall sollten wir uns nicht
über Profite sorgen, sondern uns darauf konzentrieren, dass genug für Jeden da ist, der es benötigt.»40
34
Historisches Archiv Roche
Dr. Edward Robitzek im Sea View
Hospital von Staten Island.
Historisches Archiv Roche
Daniel Murphy, 61, war einer
der todgeweihten TuberkulosePatienten, an denen Isoniazid
erstmals getestet wurde.
Tuberkulosebakterien hatten
sich in seiner Zunge eingenistet,
die so geschwollen war, dass
er nicht mehr essen und fast
nicht mehr sprechen konnte. Bei
seiner Ankunft im Spital soll er,
gemäss Dr. Robitzek, mühsam
geäussert haben: «Ich glaube an
nichts mehr, je früher es zu Ende
geht, desto besser.» Während
der ersten Tage im Krankenhaus
wurde er künstlich ernährt. Es
dauerte ungefähr zwei Wochen
bis die Behandlung mit Isoniazid
ansprach; nach einem Monat
konnte er fast ohne Probleme
wieder essen und die Zunge sah
normal aus. Auf dem Bild ist er
mit seiner Krankenschwester
Effie K. Whitted zu sehen und hat
offensichtlich seinen Lebensmut
wiedergefunden.
In diesem, 30 Meilen von New
York entfernten Gebäude befand
sich das Labor, in dem die
antituberkulöse Wirkung von
Isoniazid bei Roche entdeckt
wurde.
40
Zobel A. Brief vom 10.7.1979 an Marcus
Tschudin, Roche Nachrichten, Historisches
Archiv Roche PE I.Z-1022291.
41 Bayer Archiv Leverkusen (BAL) 316 003 075
42 Die Aufgaben dieses Zentralkomitees
umfassten neben dem Arbeitseinsatz und
der Arbeitstherapie von Tuberkulosekranken
auch das Fürsorge- und Heilstättenwesen,
die Asylierung, Dispositions- und
Expositionsprophylaxe, Desinfektion,
Forschung und Wissenschaft, Soziologie,
die hygienische Volksaufklärung und
Propaganda sowie die laufende Statistik der
Tuberkulose.
43 Ich danke Frau Monika Gand, Bayer Archiv
Leverkusen für diese Information.
35
44
Domagk G. Lebens­erinnerungen in Bildern
und Texten. Leverkusen: Bayer AG; 1995; 55.
45 McDermott W. Isonicotinic acid derivatives
in tuberculosis treatment; history of the
development of the drugs. Trans Annu Meet
Natl Tuberc Assoc. 1952;48:421-4.
46 Domagk G, Offe HA, Siefken W. Ein weiterer
Beitrag zur experimentellen Chemotherapie
der Tuberkulose (Neoteben). Dtsch Med
Wochenschr. 1952 May 2;77(18): 573-8.
47 BAL 3160 003 089: Brief von Offe an
Domagk.
36
Bayer Archiv Leverkusen
Wie bereits erwähnt, kannte man bei Bayer auch die Arbeiten
mit dem Nikotinsäureamid. Und so kam man auch dort bald
der antituberkulösen Wirkung von INH auf die Spur. 44 Ausgehend von den Thiosemicarbazonen wurden systematisch
verschiedene Thiosemicarbazide und Carbonsäurehydrazide
getestet und dabei wohl am 28. März 1951 erstmals das INH.45
Domagk schilderte die Entdeckung der antituberkulösen Wirkung der Substanz in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift 1952 mit den Worten: «Zu besonders interessanten
Ergebnissen gelangten die weiteren experimentellen Untersuchungen als mir von Offe (Wissensch. Hauptlaboratorien,
Leverkusen) Substanzen zur Prüfung auf ihre tuberkulostatischen Eigenschaften zur Verfügung gestellt wurden, von denen
er auf Grund bestimmter Vorstellungen über die Beziehung
zwischen chemischer Konstitution und tuberkulostatischer
Wirksamkeit, über die wir an anderer Stelle berichtet haben,
besondere tuberkulostatische Eigenschaften erwartete. Die
Untersuchung dieser Substanzen erwies sich als sehr lohnend,
da es sich um eine für die Chemotherapie der Tuberkulose
völlig neuartige Stoffgruppe handelte, von der somit u. U. auch
eine andere Wirkungsweise auf den Tuberkelbazillus erwartet
werden konnte als von den bisher bekannten Tuberkulostatizis.
Die umfassende chemische Bearbeitung dieser Gruppe wurde
später gemeinsam von Offe und Siefken durchgeführt. Eine
grosse Anzahl von Säurehydraziden und davon abgeleitete
Hydrazidhydrazone sowie ähnlich gebaute zyklische Verbindungen – insgesamt über 500 Präparate – wurden geprüft. Mit
einigen Verbindungen dieser neuen Stoffgruppe, insbesondere
dem Isonikotinsäurehydrazid (Neoteben) sowie mit seinen
Hydrazonen, z. B. dem Glukosederivat und den Abkömm­
lingen von zyklischen und heterozyklischen Oxoverbindungen,
erreicht man im Experiment zum Teil erheblich günstigere
Resultate als mit PAS oder auch dem Streptomycin. Überraschend war dabei, daß Verbindungen aus der Reihe des
Nikotinsäurehydrazids unseren Ansprüchen im Tierexperiment nicht voll genügten, während entsprechende Derivate
der Isonikotinsäure-Reihe befriedigten.» 46
In den Unterlagen des Historischen Archivs von Bayer in
Leverkusen findet sich ein Brief des Chemikers Hans Albert
Offe (1912–1993) an Domagk vom 3. September 1951. Darin
schreibt er über das bei Bayer mit der Präparate-Nummer
OS 7 11 versehene INH: «Die Ergebnisse Ihrer in vitro-Versuche und einiger Ihrer Tierversuche am Isonikotinsäure-
hydrazid und seinen Derivaten legen den Gedanken nahe,
auch wenigstens eines der Derivate alsbald toxikologisch und
pharmakologisch von Dr. Hecht prüfen zu lassen… Die ersten
3 k g OS 711 sind am 31.7. 1951 zum Tablettieren gegeben
worden, weitere grössere Mengen sind bald fertig, so dass mit
der klinischen Prüfung im Oktober begonnen werden kann.» 47
Die Chemiker Hans Siefken
(links) und Hans Albert Offe
synthetisierten bei Bayer neue
Antituberkulosemittel, unter
ihnen auch Isoniazid.
37
Domagk schrieb daher am 6. September 1951 an Direktor
Mertens:
«Nur halte ich es für vordringlich, dass wenigstens über
OS 711 und seine Derivate in der mit Herrn Prof. Bayer
und Herrn Dr. Offe formulierten Weise eine vorläufige
Mitteilung erfolgt, um unsere Priorität zu wahren und die
Verdienste unserer Firma und unserer Laboratorien herauszustellen, in denen die Pionierarbeit geleistet worden ist,
ehe noch mehr durchsickert und nachgearbeitet wird.»48
Wenige Tage später besuchte Domagk in New York die Sitzungen
des XII. International Congress of Pure and Applied Chemistry,
auf welcher der Roche-Chemiker Fox gleich drei Vorträge über
synthetische Tuberculostatica hielt. In den veröffentlichten Kurzfassungen eines dieser Vorträge findet sich auch die Strukturformel von INH. Allerdings tauchte die Formel nur als Zwischenprodukt einer Synthese auf, die zu einem Thiosemicarbazon-Derivat
von INH führte.49
Warum war Fox das Risiko eingegangen, INH zu zeigen?
Vermutlich, weil es für ihn gar keines war. Die Substanz INH
Auf dem XII. International
Congress of Pure and Applied
Chemistry im September 1951
zeigte der bei Roche tätige
Chemiker Herbert Herman Fox
erstmals öffentlich die Formel von
Isoniazid (INH), allerdings nur als
Zwischenprodukt auf dem Weg
zur Synthese eines komplizierter
aufgebauten Thiosemicarbazons,
wie auf diesem Ausschnitt
aus dem Zeitungsband mit
Kurzfassungen der Vorträge
zu erkennen ist. Zu diesem
Zeitpunkt hatte Roche INH schon
zur Testung an TuberkulosePatienten eingewiesen.
38
an sich liess sich nicht mehr patentieren, denn sie war schon
1911 von Hans Meyer und Josef Mally an der Karls-Universität
in Prag synthetisiert, aber nicht weiter hinsichtlich ihrer biologischen Eigenschaften untersucht worden.50 Nahm Fox trotz
der überaus klaren Ergebnisse der mikrobiologischen Testung
im Labor die nicht patentierbare Substanz zu diesem Zeitpunkt
nicht als das Heilmittel ernst, welches es werden sollte? INH
war zwar, wie bereits erwähnt, von Roche mit zwei weiteren
Derivaten schon zur klinischen Testung eingewiesen, aber die
patentierbaren INH-Derivate hatten dabei Vorrang. INH aus
den Laboratorien von Roche wurde erst im Dezember 1951 bei
Tuberkulose-Patienten getestet.
Was mag in Domagk vorgegangen sein, als er den Foxschen
Kurzbeitrag las und darin die Formel von INH als Zwischenprodukt einer Synthese sah? In seinen überlieferten Tagebuch-Aufzeichnungen findet sich darüber nichts. Darin hielt er lediglich
fest, dass er auf dieser Konferenz dazu eingeladen wurde, aus
dem Stegreif einen 15-minütigen Vortrag über TuberkuloseMittel zu halten, da der Vortrag eines Italieners ausfiel. «Es war
mein erster unvorbereiteter Vortrag in englischer Sprache»,
schrieb er in seinem Bericht über die Amerika-Reise. 51 Domagk
berichtete in seinem improvisierten Vortrag ebenfalls über die
antituberkulöse Wirkung von Thiosemicarbazonen sowie über
die von Hydrazonen. Die Formel von INH zeigte er nicht.
Nach seiner Rückkehr nach Deutschland Anfang Oktober
veranlasste Domagk jedoch umgehend die Einweisung von OS
711 zur klinischen Prüfung bei Tuberkulose-Patienten durch
Professor Philipp Klee (1884–1978) von der Medizinischen
Klinik der Städtischen Krankenanstalten Wuppertal-Elberfeld.52
In Klees Klinik nannte man das Präparat Novoteben. Am 20.
Februar 1952 taufte Bayer OS 711 in «Neoteben» um. Dabei
handelte es sich um eine eingetragene Warenbezeichnung, die
schon einmal kurzfristig für eine andere, später wieder aufgegebene Thiosemicarbazon-Verbindung von Bayer genutzt worden
war, was noch zu einigen Missverständnissen führen sollte.
Domagk muss bereits im Dezember 1951 vom aussergewöhnlichen Potenzial von OS 711 überzeugt gewesen sein, denn er
schrieb an den Leiter des wissenschaftlichen Hauptlaboratoriums
der Farbenfabriken Bayer Leverkusen, Professor Dr. Otto Bayer,
am 4. Dezember 1951: «Ich bin begründet «optimistisch» und
würde es für richtig halten, wenn OS 711 und OF 807 schon heute
im Grossen hergestellt würden, auch wenn noch keine klinischen
Ergebnisse vorliegen, ausser der Tatsache, dass selbst OS 711,
48
BAL 316 003 089: Brief von Domagk an
Direktor Mertens vom 6.9.1951.
Fox HH. Synthetic tuberculostats: III.
Isonicotinaldehyde thiosemicarbazone
and some related compounds. XIIth
International Congress of Pure and Applied
Chemistry.1951 Sept 9–13; Abstract of
Papers. 299.
50 Meyer H. Mally J. Hydrazine derivatives of
pyridinecarboxylic acids. Monatshefte für
Chemie. 1912; 33:393-414.
51 BAL 316/236.
52 Brief an Professor Dr. A. Butenandt, Max
Planck Institut für Biochemie, Tübingen vom
24.4.1952.
49
39
53
BAL 316 003 089.
Bei OF 807 handelte es sich nach
Unterlagen im Bayer Archiv Leverkusen
um ein INH-Derivat, das Benzol-isonikotinsäurehydrazon.
55 Kauffman GB. Isoniazid – Destroyer of the
white plague. J Chem Educ. 1978;55(7):448-9.
56 Böhni, E. Montavon M, Studer, RO. Zum
Hinschied des Bakteriologen Emanuel
Grunberg: Ein Original mit Spürsinn und
Rückgrat. Roche Nachrichten. 1995; 3:7-8.
57 Lawrence Davis Barney war von 1944 bis
1965 President and Chairman of the Board
von Hoffmann-La Roche Inc., Nutley.
54
40
das die Pharmakologen als schlecht verträglich beurteilen, doch
beim Menschen überraschend gut verträglich ist. An der PAS
überlegenen Wirkung auch in der Klinik kann nach unseren experimentellen Ergebnissen überhaupt kein Zweifel mehr bestehen
und es wäre schade, wenn wir durch die klinischen Prüfungen
allzu viel Zeit verlören. Nur wenn bald soviel OS 711 vorrätig ist,
dass Sie allen Ansprüchen genügen, können Sie das Weltgeschäft
von PAS übernehmen und PAS aus dem Sattel heben.»53,54
Im Squibb-Institut für medizinische Forschung der amerikanischen Firma E.R. Squibb und Sons, welches ebenfalls in New
Jersey, in New Brunswick, nur rund eine halbe Auto-Stunde
vom Roche-Forschungsstandort entfernt, angesiedelt war, fand
man 1951 ebenfalls die antituberkulöse Wirkung von INH. Die
Forscher von Squibb und Roche in New Jersey kannten einander.
Inwieweit dies die fast zeitgleiche Entdeckung von INH gefördert
hat, darüber kann heute, 60 Jahre später, nur spekuliert werden.
Nach einem Artikel aus dem Jahr 1978 waren damals 40%
der wissenschaftlichen Mitarbeiter des Squibb-Institutes in die
Suche nach oral verfügbaren Tuberkulose-Medikamenten eingebunden. Eine Mannschaft von 24 Forschern testete mehr als
8000 Substanzen. Und auch bei Squibb war es wohl so, dass ein
Chemiker, Harry L. Yale, im Sommer 1951 INH (SQ 7425) «nur»
als Zwischenprodukt in einem sechsstufigen Syntheseprozess zu
einem vermeintlichen Tuberkulose-Mittel, dem Isonikotinsäurealdehyd-Thiosemicarbazon, synthetisierte. Er gab das Zwischenprodukt lediglich deshalb seinen Kollegen zum Testen, weil dies
so vorgeschrieben war.55
«Am Silvestertag des Jahres 1951 stellte sich heraus, dass die
Forscher der amerikanischen Firma Squibb zur selben Zeit die
gleiche Substanz testeten», erinnerten sich Roche-Forscher Jahre
später in den Roche-Nachrichten.56
Eile war geboten. Am 15. Januar 1952 trafen sich Vertreter der
Firmen Roche und Squibb und fanden dabei ganz offiziell heraus,
dass es sich in beiden Firmen bei dem verheissungsvollen KlinikKandidaten für ein Tuberkulose-Medikament um INH handelte.
Der Leiter der amerikanischen Niederlassung von Roche, Lawrence Davis Barney,57 schrieb am 16. Januar 1952 an Barell:
«Während es zunächst unglaublich klingt, dass zwei Firmen
unabhängig voneinander auf diese Substanz kommen würden, ist es bei weiterer Betrachtung durchaus plausibel. Der
Grund dafür ist, das Squibb in den vergangenen fünf Jahren
ein aktives Tuberkulose-Screening-Labor hatte, in dem in
dieser Zeit über 5000 chemische Verbindungen getestet
wurden. Die Hälfte davon wurde in ihren eigenen Laboratorien getestet… Wir haben weiterhin erfahren, dass Squibb
seit 1950 auf dem Gebiet Isonikotinsäure arbeitet.»58
Ende Januar 1952 einigten sich beide Firmen nach einigem Hin
und Her darauf, gleichzeitig mit der Meldung über die erstaunliche Heilkraft von INH an die Öffentlichkeit zu gehen. Sie sollte
«in einer führenden medizinischen Zeitschrift zuerst mitgeteilt
und dann auf einem öffentlichen Symposium New Yorker Ärzte
am 1. April 1952 in den Einzelheiten diskutiert werden…».59 Die
Presse sollte am kommenden Tag, dem 2. April 1952, informiert
werden.
Eine Sensationsmeldung geht um die Welt
Es kam anders: Der Leiter aller Städtischen Krankenhäuser New
Yorks, Dr. Marcus D. Kogel, wollte und konnte vielleicht auch
angesichts der spektakulären Heilerfolge und der «Pyjama-Parties» auf den Tuberkulose-Stationen, nicht warten. Ohne Rücksprache mit Roche beraumte er am Abend des 20. Februar 1952
eine Sonderpressekonferenz an, auf der von der antituberkulösen
Wirkung von Rimifon (INH), Marsilid (Isopropyl-Derivat) und
dem Glukose-Derivat von INH berichtet wurde.
«Infolge Indiskretion Kogel bringt amerikanische Presse Artikel Rimifon was uns zu entsprechenden Massnahmen zwingt»,
telegraphierte Roche Nutley am 21. Februar 1951 um 11.50 Uhr
nach Basel. Noch am selben Tag ging eine Meldung der Konzernzentrale an die Schweizer Depeschenagentur:
58
59
HAR: Brief von L.D. Barney an E.C. Barell
vom 16.1.1952
«Rimifon» die neue Hoffmann-La RocheErfindung, Abendblatt 26.2.1952.
41
«Im Verlaufe langjähriger Forschung ist es der Firma
Hoffmann-La Roche gelungen, ein neues Heilmittel gegen die menschliche Tuberkulose aufzufinden.
Die Substanz, «Rimifon» genannt, hat sich im Verlaufe
gross angelegter Versuche in Spitälern und Sanatorien als wirksamer und verträglicher als die bisherigen
Mittel erwiesen. Die Behandlungskosten werden mit
Hilfe des neuen Präparates ganz wesentlich gesenkt
werden. Es wird weiter geprüft und soll sobald möglich allgemein zugänglich gemacht werden.»
Ebenso wurden die Niederlassungen von Roche in Montreal,
Johannesburg, Stockholm, Wien, Grenzach, Buenos Aires, Paris,
Mailand, Lissabon, Madrid und Montevideo mit dieser Mitteilung und einem längeren Text für die Redaktionen medizinischer
Zeitschriften versorgt, der «in diesem aussergewöhnlichen Fall als
Annonce»60 geschaltet wurde:
Rimifon «Roche» ein neues Antituberculoticum
In gemeinsamer Forschungsarbeit der Laboratorien der
Firma Hoffmann-La Roche wurde ein neues Heilmittel gegen
die Tuberkulose aufgefunden. Von einer Reihe von Pyridin­
verbindungen erwies sich Isonicotinsäurehydrazid, das unter
der Bezeichnung Rimifon in den Handel gebracht wird,
sowohl im Reagenzglas als auch bei experimenteller Meerschweinchen- und Mäusetuberkulose als besonders wirksam. Im Gegensatz zu den bisher in die Klinik eingeführten
Antituberculotica, die im Organismus vorwiegend die Vermehrung der Tuberkelbazillen hemmen, ist Rimifon anscheinend auch im Stande, die Krankheitserreger abzutöten.
42
Die klinischen Vorprüfungen ergaben ungewöhnlich
günstige Resultate. Febrile Patienten mit doppelseitiger käsiger Pneumonie, positivem Sputumbefund und hochgradiger
Asthenie, deren Zustand hoffnungslos erschien und durch
längere Kuren mit Streptomycin und p-Aminosalizylsäure
kaum oder nicht beeinflusst werden konnte, wurden unter
Rimifon in wenigen Tagen dauerhaft fieberfrei. Der Appetit
nahm in erstaunlicher Weise zu, sodass das Körpergewicht
im Laufe von 9-15 Wochen um 5-14 kg anstieg. Die für
Schwertuberkulöse charakteristische Apathie verschwand,
der Hustenreiz wurde gelindert, die Expectoration hörte
nach mehreren Wochen auf und bei einigen Patienten
liessen sich weder im Sputum noch im Magensaft Tuberkelbazillen nachweisen. Nebenwirkungen (Obstipation, Hyperreflexie, Schwindel) waren selten, flüchtig und harmlos.
Die systematische Untersuchung wird in gros­sem
Masstab fortgesetzt. Die Hersteller sind bereit, im Rahmen
des Möglichen Versuchsmengen an Interessenten
abzugeben.»61
Im amerikanischen Nutley glühten derweil die Telefondrähte
heiss: «Die vergangenen drei Tage waren, milde ausgedrückt,
hektisch ….» schrieb am Sonntag, den 24. Februar 1952, Barney
an Barell und etwas weiter im Brief: «Dr. Kogels MittwochnachtPressekonferenz startete eine Kettenreaktion von Telefonanrufen
die ganze Nacht hindurch, die seither die meiste Zeit tags- und
nachtsüber anhalten. Radio-, Presse-, Magazin- und andere
Schreiber ersuchen uns um Informationen…. Heute Mittag
treffen wir uns mit Vertretern der Nationalen TuberkuloseVereinigung, um ihnen zu erklären, dass Dr. Kogel auf eigene
Faust und ohne unsere Erlaubnis handelte…»62 Barney konnte der
60
61
62
HAR: LG.DE-101859p.
HAR: PD 31.RIM-102670.
HAR: Brief von L.D. Barney an Emil Barell
vom 24.2.1952.
43
Bayer Archiv Leverkusen Nachlass Professor Gerhard Domagk
Sache allerdings auch etwas Gutes abgewinnen: «Dieses verfrühte
Bekanntwerden kann Roche aber auch zum Vorteil gereichen.
Am Montagmorgen wird Dr. Sevringhaus die zwei Topleute der
Food and Drug Administration mit zum Sea View nehmen, für
eine erste Inspektion der klinischen Fälle …. Dies könnte unser
Gesuch auf Zulassung und die Erteilung derselben bei der FDA
beschleunigen.»
Prioritätenstreit
Während man bei Squibb eher gelassen erstaunt über die nahezu
zeitgleiche Entdeckung des INH reagiert hatte63, war man bei Bayer
mehr als überrascht über diese Neuigkeit. So sagte der Direktor
der Bayer-Werke Leverkusen, Dr. Mertens, in einem Interview
mit dem Nordwestdeutschen Rundfunk am 28. Februar 1952:
«Die sensationell aufgemachte Mitteilung der amerikanischen Presse, insbesondere der «New York Times», über
die Wirksamkeit und die chemische Zusammensetzung
des neuen amerikanischen Tuberkulosemittels zwingt
uns, aus unserer bisher geübten Reserve herauszutreten.
Überraschenderweise stellt sich nun heraus, dass die
neuen amerikanischen Präparate chemisch völlig identisch
mit den Tuberkulosemitteln sind, die in den letzten Jahren
in den Farbenfabriken Bayer entwickelt worden sind. Wir
können beim besten Willen nicht entscheiden, wie diese
Duplizität der Erfindungen zustande gekommen ist…..»
63
Im Historischen Archiv Roche befindet
sich eine Aktennotiz vom 7./8.2.1952: «Herr
Dr. Barell berichtete über den Besuch des
Präsidenten von Squibb. Letzterer kam doch
auf die Tuberkulose-Sache zu sprechen und
bemerkte, es sei eigenartig, dass zwei Firmen
gleichzeitig dasselbe Präparat gefunden
hätten, er lobte bei dieser Gelegenheit die
faire Handlungsweise von Nutley.»
44
Es blieb nicht bei diesem Interview, wie die deutsche Niederlassung von Roche in Grenzach Mitte März an die Konzernzentrale
in Basel berichtete, «Die Reaktion der Farbenfabriken Bayer auf
die ersten Mitteilungen über Rimifon aus den USA ist derart, dass
wir u. E. hierzu Stellung nehmen müssen. Der zweckmässigste
Weg dürfte sein, sich hier mit den in Frage kommenden Herren
der Farbenfabriken Bayer zu unterhalten und eine gemeinsame
Erklärung herauszugeben…
Es wird beispielsweise in einem bebilderten Artikel im «Quick»
Nr. 11 v. 16.3. angegeben, daß aus den Panzerschränken der I.G.
Farben bei der Besetzung im Jahre 1945 Forschungsergebnisse von
der Besatzungsmacht erbeutet wurden, die den «amerikanischen
Firmen Squibb und Hoffmann La Roche» zugänglich gemacht
wurden und ihnen die Grundlage für ihre jetzigen günstigen
Ergebnisse lieferten….»
In der Folge einigten sich im Juni 1952 beide Firmen darauf,
folgende gemeinsame Erklärung in deutschen und schweizerischen Fachzeitschriften64 zu veröffentlichen:
Tuberkulosebazillen im Auswurf
(Sputum).
«Die unterzeichneten Firmen stellen nach gegenseitiger
Einsichtnahme in die einschlägigen Akten fest, dass
sie im Rahmen einer voneinander völlig unabhängigen
Forschung auf dem Gebiet Tuberkulose das Hydrazid der Isonikotinsäure als Mittel zur Bekämpfung der
Tuberkulose erkannt haben. Das Isonikotinsäurehydrazid
wurde von beiden Firmen unabhängig voneinander im
Jahre 1951 in die klinische Erprobung eingewiesen.»
F. Hoffmann-La Roche & Co., Aktiengesellschaft, Basel, den 8. August 1952
Farbenfabriken Bayer, Leverkusen, den 8. August 195265
45
War die Forschung wirklich völlig unabhängig voneinander?
Nein, denn in renommierten wissenschaftlichen Fachzeitschriften
waren Artikel über die antituberkulöse Wirkung des Nikotinsäureamids und der Thiosemicarbazone und verwandter Verbindungen erschienen. Schon ein Blick auf die Struktur dieser Substanzen
lässt ahnen, dass wenn Chemiker ausgehend von diesen Strukturen mit Molekül-Bausteinen jonglieren, sie eines Tages auch das
INH in den Händen halten werden. In allen drei Firmen wurde,
ausgehend von Nikotinsäureamid und den Thiosemicarbazonen,
intensiv nach Tuberkulose-Medikamenten gesucht. Dabei wurde
– eher als Zwischenprodukt – auch INH synthetisiert und als
mögliches Tuberkulose-Mittel in die mikrobiologische Testung
eingewiesen. Und so nahmen die Dinge ihren Lauf.
Patente und Preise
Die verfrühte und überstürzte Mitteilung an die Laienpresse
bescherte Roche indes nicht nur Probleme mit Bayer. Die Firma
stand nun unter enormem Druck, die Wundermittel Rimifon und
Marsilid sowie entsprechende Informationen zur Dosierung und
Verträglichkeit auch liefern zu können. Allen Vorgängen, die mit
der Testung und Fabrikation von Rimifon zu tun hatten, wurde
erste Priorität eingeräumt. In einer internen Mitteilung wies Firmenchef Barell am 28. Februar 1952 zehn Abteilungen in Basel an:
Betrifft Rimifon
«In Anbetracht der äussersten Dringlichkeit bitte ich
Sie, alle Arbeiten im Zusammenhang mit Rimifon mit
allen Mitteln zu beschleunigen und dabei auch nicht vor
Samstags- oder Sonntagsarbeit zurückzuschrecken.»66
64
Gemäss den Unterlagen im Historischen
Archiv Roche erschien die Erklärung in
folgenden Fachzeitschriften: Deutsche
Apotheker-Zeitung, Deutsche Medizinische
Wochenschrift, Münchener Medizinische
Wochenschrift, Pharmazeutische Industrie
und Arzneimittelforschung, Experientia,
Schweizerische Apotheker-Zeitung,
Schweizer Medizinische Wochenschrift und
Helvetica Medica Acta.
65 Separatum Experientia. Vol.VIII/9 Basel:
Verlag Birkhäuser; 1952; 364.
66 HAR: N 589 PD3.1. RIM-102670.
46
Es gab viel zu tun. Informiert werden mussten ja neben den Standorten von Roche und den Redaktionen in aller Welt, vor allem
die Tuberkulose-Spezialisten, und besonders jene, die das Mittel
noch testen sollten. Mit Squibb hatte man sich darauf geeinigt,
welche Firma mit welchen Prüfärzten zusammen arbeiten würde,
mit Bayer wohl nicht. Auch musste das Medikament ja erst noch
zugelassen werden. Und nicht zuletzt sollte es jetzt in grossem
Ausmass produziert werden.
Vier preisgünstige Varianten standen für die Synthese von
INH zur Verfügung. Die Verfügbarkeiten der dafür benötigten
Ausgangsmaterialien auf dem Weltmarkt waren zu prüfen, denn
es war klar, dass man mit Wettbewerbern – zumindest mit den
beiden nun schon bekannten – um einige Ausgangsmaterialien
für die Synthesen konkurrieren würde.
Wie sich bald herausstellen sollte, konkurrierten um die Ausgangsstoffe auch andere Firmen. Trotzdem kam wohl niemand
bei Roche auf die Idee, wegen der zu erwartenden Konkurrenz
INH und dessen Isopropylderivat (Marsilid) nicht auf den Markt
zu bringen. Es gibt auch keine Hinweise darauf, dass Zweifel
bestanden hätten, den Bedarf an den Medikamenten decken zu
können. Denn in einer Medienmitteilung vom Februar 1952
heisst es:
«Die Hoffmann-La Roche Gesellschaft erklärt, dass
ausreichende Mengen der Medikamente verfügbar
sein werden, sobald die Massenproduktion ins Rollen
kommt. Es wird damit gerechnet, dass dieser Zeitpunkt bereits im Mai dieses Jahres sein wird.»67
Klar aber war den Verantwortlichen bei Roche, dass sie schneller
sein mussten als alle anderen, um der Welt zu zeigen: INH, das
ist das Medikament Rimifon von Roche.
Im März 1952 produzierte Roche INH an vier verschiedenen Standorten der Firma nach drei verschiedenen Verfahren:
In amerikanischen Nutley wurde es ausgehend von γ-Picolin
aus Steinkohlenteer, in Basel aus Zitronensäure und im deutschen Grenzach sowie im britischen Welwyn aus Pyridin hergestellt. Das hatte den Vorteil, nicht auf einen Ausgangsstoff
angewiesen zu sein. Mangel und Preistreiberei an einem der
Ausgangsstoffe für die Synthese von INH konnte so entgegen
gewirkt werden.
Am 5. März 1952 brachte Roche in der Schweiz INH als
Rimifon auf den Markt. Bereits ab dem 6. März 1952 wurden
Rimifon-Tabletten in alle Welt geliefert: zum Verkauf und für
klinische Studien. Bis zum 19. September 1952 wurden mehr als
137 Millionen Tabletten mit je 50 Milligramm INH ausgeliefert,
das heisst in diesem Zeitraum wurden bei Roche mindestes 7000
Kilogramm Wirkstoff INH zu Tabletten verarbeitet. Im Juni
1952 gab das «Pharmacopoeia Committee» in den USA INH
den Substanznamen Isoniazid.68
67
Pressemitteilung der Roche vom Februar
1952: Zwei Medikamente «stoppen
Tuberkulose».
68 HAR: PD.3.1. RIM-102670a; Brief von
P.J. Cardinal vom 19.6.1952 an Roche
47
70
71
72
73
In einem Schreiben vom 26.6.1952 wurde
festgehalten, dass «Marsilid jetzt neben
Rimifon in den U.S.A. dem Handel übergeben
wurde.»
HAR: PD.1.1.3.-101335.
Herman Herbert Fox, Passaic, N.J. assignor
to Hoffmann-La Roche Inc., Roche Park,
Nutley, N.J. a corporation of New Jersey:
Compositions for combating tuberculosis.
US Patent 2,596,069.
HAR: Brief von Dr. E.C. Barell and Mr.
L.D. Barney bezüglich Licenses under
prospectives use – patents for isonicotinylhydrazine – Roche /Squibb vom 8.4.1952.
HAR: Brief von L.D. Barney, Hoffmann La
Roche Nutley an Dr. Emil C. Barell vom
9.5.1952.
48
Historisches Archiv Roche
Historisches Archiv Roche
Isoniazid, das erste «Spezifikum»
gegen Tuberkulose, wurde
von Roche 1952 mit dem
Handelsnamen Rimifon auf den
Markt gebracht.
Das Isopropylderivat von Isoniazid, Iproniazid,
wurde unter dem Handelsnamen Marsilid ebenfalls
1952 von Roche auf den Markt gebracht. Es war
100fach weniger wirksam gegen TuberkuloseBakterien als Isoniazid, dafür aber sehr wirksam
gegen Depressionen, eine Indikation, für die es
1957, in geringeren Dosen, zugelassen wurde.
Bayer Archiv Leverkusen
69
Das Isopropyl-Derivat mit dem Roche Handelsnamen Marsilid erhielt später den Substanznamen Iproniazid. Es kam im
Juni1952 auf den Markt.69 Wie sich später zeigte, sorgte Marsilid
für eine ungewöhnliche Stimmungsaufhellung bei den Patienten. Es wurde daher 1957 auch als Antidepressivum zugelassen.
Die Aufklärung des zugrunde liegenden Wirkmechanismus
wies den Weg zu einer neuen Klasse von Antidepressiva: den
Hemmstoffen der Monoaminoxidase. Aufgrund seiner leberschädigenden Wirkung wurde Marsilid jedoch zum 1. Mai 1963
von Roche aufgegeben.70
Bayer liess INH in deutschen Tuberkulose-Heilstätten prüfen
und brachte es ebenfalls Anfang März 1952 unter dem Handelsnamen Neoteben in den Handel.
Zusätzlich zu den erwähnten Auseinandersetzungen zwischen
Roche und Bayer wurde von dritter Seite das Gerücht gestreut,
erst nach der Bekanntgabe der Heilwirkung des INH hätte Bayer
mit der Testung des Mittels begonnen. Dieses Gerücht konnte
entstehen, da der Name Neoteben, wie schon erwähnt, zuerst
einem anderen Präparat von Bayer zugedacht war. Bayer konnte
nachweisen, dass diese Vorwürfe haltlos waren. Dies brachte aber
nicht nur für Bayer, sondern auch für Roche viel Aufregung mit
sich. Firmenchef Barell sah sich gezwungen, gegenüber Bayer
richtigzustellen, dass Roche nicht Urheber dieser Gerüchte war.
Liess sich auch die Substanz INH an sich nicht patentieren,
so konnte der Roche-Chemiker Herman Herbert Fox am 7. März
1952 in den USA doch wenigstens ein Verwendungspatent einreichen. Es trug den Titel «Zusammensetzungen zur Bekämpfung
von Tuberkulose» und wurde am 6. Mai 1952 erteilt. Patentiert
wurden «Kompositionen», die neben INH (oder den Salzen dieser
Substanz, wie dem Monohydrochlorid) steriles Wasser (zwecks
Injektion der Substanz) oder Hilfsstoffe für die Tablettenherstellung wie Milchzucker, Stärkemehl, Talk, Stearinsäure und
ähnliches enthielten.71
Ein solches Verwendungspatent für das INH hielt Roche nur
für die USA, da man in Basel wohl mit Recht davon ausging, solche «use-patents » seien nur etwas für den amerikanischen Markt.
Mit Squibb hatte man sich darauf geeinigt, dass weder Roche der
Firma Squibb noch Squibb der Firma Roche Lizenzgebühren zu
zahlen hatte.72 Die Firmen einigten sich sogar darauf, dass diejenige der beiden Firmen, welche die Patentrechte erhalten würde,
die andere zu 50% an den anfallenden Lizenzgebühren beteiligen
würde.73 Auch die Firma Squibb, welche INH als Nydrazid auf den
Markt brachte, hatte eine Art Verwendungspatent eingereicht,
Bayer brachte Isoniazid ebenfalls 1952 auf den
Markt, unter dem Namen Neoteben.
49
«Bayer wisse, dass eine Unzahl von Unternehmungen
mit dieser Fabrikation beschäftigt seien. Es würden
nur wenige davon übrig bleiben. Je grösser die Fabrikation des Einzelnen sei, desto günstiger der Preis.
Ob wir nicht daran interessiert wären, unsere Substanz doch endgültig von Leverkusen zu beziehen?»
74
Anonym: The TB drug - A case for
commercial chemical development.
Chemonomics. 1952; Spring;3(3).
50
Roche blieb bei der eigenen Produktion. «Wir dürfen sicher sein,
im Rimifon ein Tuberkulostatikum zu besitzen, das die wenigen
bisherigen Tuberkulosemittel nicht nur aufs wertvollste ergänzen,
sondern wahrscheinlich mit der Zeit verdrängen wird», heisst
es vorsichtig optimistisch in einem internen Bericht bei Roche
aus dem Jahr 1952. Wer immer diese Zeilen auch geschrieben
haben mag, er sollte Recht behalten. INH ist bis heute das Mittel
Nummer 1 in der Tuberkulosebehandlung geblieben. Der Wirkstoff bereitete, wie es ein Medizinhistoriker einmal reimte, «dem
Rimifon Umsätze
Umsatz 20
(Mio. CHF)
18
16
14
12
10
8
6
4
2
Jahr
0
19501955196919651970197519801985199019952000
Sterben auf den Zauberbergen ein Ende» und rettet(e) Millionen
Tuberkulose-Patienten das Leben. Und er war und ist billig. 1953
kosteten 100 Tabletten mit 50 Milligramm INH 3.75 Franken.
Der Stundenlohn eines Betriebsarbeiters betrug damals 3.05
Franken. 75 Zum Vergleich: Zur erfolgreichen TuberkuloseBehandlung mit Streptomycin mussten pro Tag ein bis drei
Gramm des Antibiotikums eingesetzt werden76 und 1952 kosteten fünf Gramm Streptomycin 2.20 Dollar.77 In der Schweiz
dürften die meisten Tuberkulose-Patienten diese Kosten damals
aber nicht selbst getragen haben und nur einen geringen oder
gar keinen Selbstkostenanteil gezahlt haben. Denn seit «dem
1.1.1931 leistete der Bund Beiträge an Krankenkassen, die eine
Zusatzversicherung für Tuberkulose anboten. Die Tuberkuloseversicherung bestand aus einer Krankengeldversicherung, die
Taggelder ausbezahlte, und einer Krankenpflegeversicherung,
welche die Behandlung, die Medikamentation und einen Teil der
Kurkosten in einer zugelassenen Heilstätte übernahm.»78 1953
hatten über 90% der Wohnbevölkerung in Basel Anspruch auf
Leistungen der Tuberkuloseversicherung.
INH setzte indes nicht nur dem Sterben in den TuberkuloseSanatorien eine Ende, dieses Medikament läutete auch das Ende
dieser Heilstätten ein. Nicht zuletzt bedeutete dieses Medikament
damit auch eine finanzielle Entlastung der Krankenkassen, denn
die Kosten für die Sanatoriumsbehandlung waren viel höher als
75
Für diese Information danke ich Bruno Halm
vom Historischen Archiv Roche. HAR: PO.7102384 und MV.51-104544.
76 Hinshaw HC, Feldmann WH, Pfuetze KH.
Treatment of tuberculosis with streptomycin;
a summary of observations on one hundred
cases. J Am Med Ass 1946; 132 (13):778-782.
77 Für diese Information danke ich Pamela
Eisele, Global Media Relations, Merck & Co.,
Inc.
78 Gredig D. Die Entwicklung der Tuberkulose­
fürsorge 1930 bis 1961 In Gredig D.
Tuberkulosefürsorge in der Schweiz. Verlag
Haupt, Bern, 2000.
51
Bruno Halm, Historisches Archiv Roche
sogar schon im Januar 1952. Aber Squibb war mit der Testung
der Substanz am Menschen noch nicht so weit fortgeschritten.
Deshalb wurden Roche die Patentrechte erteilt. Die Einigung
der beiden Firmen war dennoch zu beiderseitigem Vorteil, denn
ohne sie hätte sich die Erteilung des Patents über Jahre hinziehen
können.
Im weiteren Verlaufe des Jahres 1952 brachten, trotz des
amerikanischen Verwendungspatents von Roche, neben Squibb
und Bayer gleich fünf weitere Firmen Isoniazid auf den Markt.
Es folgte was folgen musste: ein drastischer Preisverfall schon
im ersten Jahr. Kostete anfangs ein Kilo INH noch 5000 Dollar,
so brachte es schon kurze Zeit später in Pillenform nur noch ein
Zehntel davon ein. Als Wirkstoff kostete INH sogar nur noch
200 bis 300 Dollar pro Kilo. Und alles deutete auf einen weiteren
Preisverfall hin, der irgendwo bei 18 Dollar pro Kilo für die Substanz und etwa dem doppelten Preis für INH in Tablettenform
angesiedelt wurde.74
Gab es Bedenken hinsichtlich einer Unwirtschaftlichkeit?
In einem internen Bericht bei Roche vom 23. Juli 1952 über
ein Treffen eines Roche-Mitarbeiters mit dem kaufmännischen
Chef der pharmazeutischen Abteilung von Bayer in Leverkusen
heisst es:
die für INH. Die Basler Heilstätte beispielsweise stellte damals
4.50 Franken pro Tag in Rechnung und im Jahr 1952 garantierte
die Basler Oeffentliche Krankenkasse ihren Versicherten eine
Kurdauer von 1080 Tagen.79
1975 kostete die Jahresbehandlung mit INH bei einer täglichen Dosis von 300 Milligramm nur zwei bis drei englische
Pfund.80
Bis Mitte der 1990er Jahre wurde INH unter dem Handelsnamen Rimifon von Roche vertrieben. 1999 verkaufte Roche
die Marke an die Firma Laboratoires Laphal SA in Frankreich.81
Es hört niemals auf: resistente Keime
Aber auch gegen das INH allein werden Tuberkulosebakterien in
der Regel nach zwei bis drei Monaten resistent. Schon im Sommer
1952 erhielt Domagk auf seinen Wunsch hin aus vielen Teilen
Deutschlands Tuberkulosestämme zugesandt, die von Patienten
isoliert wurden, bei denen INH nichts mehr ausrichten konnte.
So erhielt er am 20. Juni 1952 Post aus der Hansestadt Hamburg:
«Auf Wunsch Ihres wissenschaftlichen Vertreters in Hamburg, Herrn Dr. Schürmann, übersenden wir Ihnen einen
Tuberkulosestamm, den wir bei unseren Neotebenversuchen
gewonnen haben und der sich im Tierversuch auf festen
Nährböden nach Hohn als resistent gegen 1g Neoteben
erwiesen hat… Der besagte Stamm wurde nach einer
21tägigen Neoteben-Behandlung mit 150 bis einschliesslich
400 mg Neoteben pro Tag isoliert. Leider konnten wir vor
Beginn der Therapie noch keinen Resistenzversuch ansetzen,
da uns die Ausgangssubstanz fehlte. Wir können deshalb
nicht entscheiden, ob der Stamm schon primär diesen
Resistenzgrad hatte… Der klinische Verlauf der Tuberkulose
zeigte bei dieser Patientin trotz Verabfolgung von insgesamt
etwa 19 g Nikotinsäurehydrazid keine Beeinflussung.»82
52
Bayer brachte 1953 Kombinationspräparate von INH und
Streptomycin auf den Markt, Orthomycin und Orthomycin
«forte».83 Mit der Dreierkombinationen von PAS, INH und Streptomycin wurde 1952/1953 eine Heilung in 93% der Fälle erreicht,
wenn acht bis zehn Monate täglich INH verabreicht wurde. 1955
waren Dreierkombinationen von PAS, INH und Streptomycin
oder Zweierkombinationen von Streptomycin und INH oder
PAS und INH gängige Praxis der Tuberkulosetherapie.84 Um
es gleich vorwegzunehmen: Die «Dreifachtherapie» mit PAS,
INH und Streptomycin sollte in den kommenden 15 Jahren die
Standardtherapie für alle Tuberkuloseformen bleiben, erforderte
aber Behandlungszeiträume von bis zu zwei Jahren. 85 Erst als
Mitte der 1960er Jahre Rifampicin entdeckt worden war, konnten
unter Einbeziehung von Pyrazinamid Tuberkulose-Therapien
kürzerer Dauer entwickelt werden. Diese kombinierten dann
aber auch mehr als drei unterschiedliche Medikamente um der
Resistenzbildung zuvorzukommen.
Taktieren und Paktieren
Aber begeben wir uns zurück in die 1950er Jahre: Sowohl bei Roche
als auch bei Bayer wurden ab 1952 etliche Isonikotinsäure-Derivate
synthetisiert und zum Patent angemeldet. So erteilte das deutsche
Patentamt am 29. April 1954 Herbert Herman Fox das Patent Nr.
910298 mit dem Titel «Verfahren zur Herstellung von Isonikotinsäurederivaten» auf dem Gebiete der Bundesrepublik Deutschland.86
«Die Farbenfabriken Bayer stellten 1955 Tuberkuloseärzten
mit Nicoteben comp ein Kombinationspräparat aus zwei tuberkulostatischen Komponenten, dem Isonicotinsäurehydrazid (INH)
und dem Isonicotinaldehyd-thiosemicarbazon zur Verfügung.
Jede 0.1 g schwere Tablette enthielt 8 Teile INH und 2 Teile des
Thiosemicarbazons.»87
«Unsere beiden Firmen entfalten auf dem Gebiet des Isoniazids bzw. seiner Derivate eine rege Tätigkeit. Dabei hat es sich
natürlicherweise ergeben, dass sich diese Tätigkeit auf gleiche
oder ähnliche Verbindungen erstreckt. Dieser Umstand hat
dann auch dazu geführt, dass sich Kollisionen zwischen den
beiderseitigen Patentanmeldungen entwickelt haben, und es
muss wohl erwartet werden, dass noch weitere solche Kollisionen entstehen. Die Bearbeitung solcher Fälle verlangt jeweils
von beiden Parteien grossen Aufwand, und überdies führt die
Erledigung von Streitverfahren durch behördliche Entscheidung
oft zu einer Durchlöcherung des gemeinsamen Patentbesitzes,
79
80
81
82
83
84
85
86
87
Gredig D. Die Tätigkeiten der
Tuberkulosefürsorge 1930 bis 1961. In:
Gredig D. Tuberkulosefürsorge in der
Schweiz. Verlag Haupt, Bern, 2000.
Springett VH. The treatment of tuberculosis.
Practitioner. 1975 Oct;215(1288):480-6.
Für diese Auskunft danke ich dem Leiter des
Historischen Archivs bei Roche, Alexander
Bieri.
BAL 316 003 082.
BAL Geschäftsbericht für das Jahr 1953
Farbenfabriken Bayer Aktiengesellschaft
Leverkusen.
Hupe W: Über den gegenwärtigen Stand
der Chemotherapie der Tuberkulose. Das
deutsche Gesundheitswesen 10 1145, 1955.
Murray JF: A century of tuberculosis. Am J
Respir Crit Care med 169, 1181-1186, 2004.
Patentanmeldung bekannt gemacht am
20.8.1953, Patenterteilung bekannt gemacht
am 25.3.1954, patentiert im Gebiet der
Bundesrepublik Deutschland vom 15.12.1951
an. Die Priorität der Anmeldung in den
V.St.v.A. vom 18.1.1951 war in Anspruch
genommen im Pat.No.2685580 = (ser.
No.206,732).
Von Arnim HH. Vorläufige Erfahrungen
in der Tuberkulosebehandlung mit dem
Kombinationspräparat Nicoteben® comp.
Beitr Klin Tuberk Spezif Tuberkuloseforsch.
1957;116(7):575-86.
53
Isoniazid-Nachfolger
Ironie der Geschichte: Bei den nachfolgenden TuberkuloseMitteln handelte es sich nicht um INH-Derivate. Warum denn
auch, die im Körper aktive Substanz eines INH-Derivates war ja
letztlich doch immer das INH selbst. Und zumindest dies war den
Forschern damals nicht ganz unbekannt, hatte doch der RocheForscher Bernhard Fust schon 1952 geschrieben:
«Die Kondensationsprodukte des Isonikotinsäure­hydrazids
mit Aldehyden sind alle mehr oder weniger wirksam, was bei
ihrem glatten Zerfall im Organismus unter Entstehung des
freien Isonikotinsäurehydrazids nicht verwunderlich ist.»90
54
Nachlass Professor Gerhard Domagk, Bayer Archiv Leverkusen
so dass Dritten die Ausnützung von ins Freie fallenden Teilen
der Forschungsergebnisse der Originalbearbeiter leicht möglich
wird. Es ist daher bei uns der Gedanke aufgetaucht, ob es nicht
zweckmässiger wäre, in einer gemeinsamen Besprechung mit
Ihnen den Versuch zu machen, eine direkte Verständigung über
das Kollisionsgebiet herbeizuführen. Wir erlauben uns daher,
Sie heute anzufragen, ob auch Sie eine solche Besprechung für
nützlich halten?», fragte die Basler Patentabteilung in einem Brief
vom 4. Februar 1955 bei Bayer an.88 Nachdem man sich gegenseitig Einblick in sämtliche Patente und Patentanmeldungen
gewährt hatte, wurde in einer Besprechung am 24. Juni 1955 in
Basel «folgendes vereinbart:
1. Die Parteien fechten ihre Schutzrechte nicht an.
2. Die Parteien erteilen sich gegenseitig keine Lizenz auf solche
Schutzrechte, bei denen keine Kollisionen mit den Schutzrechten des anderen Partners bestehen.
3. In den Fällen, in denen beide Parteien Patentanmeldungen eingereicht haben, die sich gegenseitig überschneiden,
gewähren sie sich gegenseitig eine Option auf eine Lizenz zu
Bedingungen, die noch vereinbart werden müssen.
4. Bei denjenigen Schutzrechten, wo die sachlichen Überschneidungen so stark sind, dass sich praktisch eine Trennung nicht
durchführen lässt, gewähren sich die Parteien gegenseitig
Freilizenzen.»89
Ein entsprechender, mehrseitiger, von Roche aufgesetzter
Vertrag wurde aber erst nach zähem Ringen im Januar 1956
unterzeichnet.
Bei der nächsten Substanz, die in den Reigen der auch heute noch
eingesetzten Tuberkulose-Medikamente aufgenommen wurde,
handelte es sich jedoch wieder um eine Substanz, die grosse
Ähnlichkeit mit dem B-Vitamin Nikotinsäureamid hatte. Beim
1952 erstmals an Tuberkulose-Patienten erprobten Pyrazinamid
(PZA) ist lediglich ein Kohlenstoffatom im aromatischen Ring
von Nikotinsäureamid durch ein Stickstoffatom ersetzt worden
(siehe Formeln auf Seite 56).
Die Aufklärung der tuberkelkillenden Wirkmechanismen von
INH und PZA sollte noch Jahrzehnte in Anspruch nehmen und
Heerscharen von Wissenschaftlern in Forschungseinrichtungen
in aller Welt beschäftigen. Im Jahr 2003 erschien eine Arbeit, in
der für PZA folgender Wirkmechanismus vorgeschlagen wurde:
Die Substanz dringt als so genanntes Prodrug, das heisst als eine
Vorstufe der eigentlichen Wirksubstanz, durch passive Diffusion und möglicherweise auch aktiven Transport in die Bazillen
ein. Dort wird sie durch ein Nikotinamidase/Pyrazinamidase
Testung von Neoteben im
Kulturversuch.
88
Brief der F. Hoffmann La Roche
Aktiengesellschaft Chemische Fabrik Basel
Abteilung VIII Patentabteilung an die
Farbenfabriken Bayer, Aktiengesellschaft,
Leverkusen Bayerwerk betreffend Patente
und Patentanmeldungen betr. IsoniazidDerivate. BAL: 367-025.
89 Aktennotiz über die Besprechung mit
Hoffmann-La Roche in Basel am 24.6.1955,
Leverkusen den 28.6.1955. BAL 367-026.
90 Fust B. Die Entstehungsgeschichte von
Rimifon »Roche». Sonderabdruck aus:
Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft
für innere Medizin. 58. Kongress 1952.
55
Pyrazinamid
Nikotinsäureamid
91
Zhang Y, Mitchison D. The curious
characteristics of pyrazinamide: a review. Int
J Tuberc Lung Dis. 2003 Jan;7(1):6-21.
56
(PZAase) genanntes Enzym in Pyrazinsäure umgewandelt, welche
aus den Bazillen herausdiffundiert. Herrscht in der Umgebung
der Bazillen ein stark saurer pH-Wert, so wird diese Pyrazinsäure protoniert und kann in dieser Form die Bakterienwand viel
schneller wieder in Richtung Bakterieninneres durchdringen, als
die ursprüngliche Form von PZA. Die Pyrazinsäure bringt so aber
auch Protonen mit in die Bazillen, was zu einer Übersäuerung von
deren Zytoplasma und damit zu deren Absterben führt. Dies geht
so lange gut, bis Mutationen die PZAase-Aktivität beeinträchtigen
und damit die Tuberkelulosebakterien auch gegen PZA resistent
werden lassen; und es funktioniert so lange, wie ein saurer pHWert in der Umgebung der Bazillen herrscht.91
Im Menschen wirkt PZA nur während der ersten zwei Monate
der Therapie. Es wird vermutet, dass Entzündungen zu Beginn
der Infektion dafür sorgen, dass in der Umgebung der Bazillen
ein saures Milieu entsteht, welches – wie erwähnt – notwendig
ist, damit PZA seine Wirkung entfalten kann. Soviel zum Wirkmechanismus von PZA. Wie aber wirkt nun INH?
Die Tuberkulose
und Massnahmen
zu ihrer Bekämpfung
im Zeitraffer
Hippokrates
(460–370 v.Chr.)
liefert die erste
Beschreibung der
Lungentuberkulose als
Phtisis = Auszehrung
und empfiehlt
diätische und
hygienische
Massnahmen.
René Théophile
Hyacinthe Laënnec
(1781–1826) erfindet
das Stethoskop,
beschreibt die
physischen Zeichen
der Tuberkulose in
verschiedenen Stadien,
deren gemeinsames
Merkmal die Tuberkel
sind.
um 400 v.Chr.
1819
1679
François de le Boë
(Sylvius)
(1614–1672)
veröffentlicht seine Schrift
«De Phtisi» und beschreibt
Knötchen in der Lunge,
welche die Lungenschwindsucht verursachen, wenn sie nicht
vernarben.
Hermann Brehmer
(1826–1889)
beginnt mit der
systematischen
Freilufttherapie
der Tuberkulose in
Görbersdorf (damals
Deutschland, heute
Polen). 1862 konnte
Johann Lukas er ein grösseres
Sanatorium eröffnen,
Schönlein
seine «Heilanstalt»,
(1793–1864)
die 1904 die grösste
prägt den
derartige Einrichtung
Begriff
«Tuberkulose». mit 300 Betten war.
um 1830
1849
1854
C.J.B. Williams
berichtet über
Heilerfolge bei
Tuberkulose mit
hohen Dosen
Lebertran, das
bedeutet mit hohen
Dosen Vitamin D.
Robert Koch
(1843–1910)
entdeckt den
bakteriellen
Erreger der
Tuberkulose.
1882
1865
Jean Antoine
Villemin
(1827–1892)
beweist mit
Tierexperimenten
die infektiöse
Natur der
Tuberkulose bei
Mensch und
Rind.
Carlo Forlanini
(1847-1918)
wendet erstmals
den künstlichen
Pneumothorax,
den er bereits
1882 theoretisch
beschrieben hatte,
zur chirurgischen
Behandlung der
Lungentuberkulose an.
Conrad Wilhelm
Röntgen
(1845–1923)
entdeckt die
X-Strahlen,
die eine frühe
Diagnose
der Lungentuberkulose
ermöglichen.
1888
1890
1895
1895
Koch entwickelt
das Tuberkulin
(Filtrat einer
TuberkelbazillenKultur), welches sich
später als Diagnoseaber nicht als
Heilmittel erweist.
Niels Ryberg Finsen
(1860–1904)
entwickelt eine
systematische
Lichttherapie zur
Behandlung der
Hauttuberkulose.
Erste erfolgreiche
Anwendung der von
Albert Calmette
(1863–1933)
und Camille Guérin
(1872–1961)
seit 1906 entwickelten
BCG (Bacille-CalmetteGuérin) Schutzimpfung
mit abgeschwächten
(Rinder-)
Tuberkelbakterien
in Frankreich, die
Wirksamkeit ist
umstritten.
1921
Albert Schatz
(1920–2005)
links im Bild, ein
Mitarbeiter von Selman
Waksman
(1888–1973),
rechts, isoliert das erste
gegen Tuberkelbazillen
wirksame Antibiotikum
aus Streptomyces
griseus Bodenbakterien:
Streptomycin.
1930
Lübecker
Impfunglück
76 Kinder sterben
durch ungenügend
inaktivierte
Tuberkelbazillen
der BCG-Impfung.
1943
1944
Gerhard Domagk
(1895–1964) entdeckt
bei Bayer die
antituberkulöse
Wirkung der
Thiosemicarbazone.
Die antituberkulöse
Wirkung des
Pyrazinamids
wird entdeckt.
1946/47
1952
Jørgen Lehmann
(1898–1989)
entdeckt das
erste chemische
Medikament gegen
Tuberkulose:
Para-AminoSalizylsäure (PAS).
1950/1951
Das erste chemische
Spezifikum gegen
Tuberkelbazillen mit hoher
Wirksamkeit:
Isoniazid (INH) wird
gleichzeitig und nahezu
unabhängig voneinander
von Forschern in den drei
Firmen Roche, Bayer und
Squibb entdeckt.
Die TuberkuloseTherapie erfolgt
in der Regel mit
INH, Rifampicin,
Etahmbutol und
Pyrazinamid. Die
multiresistenten
Tuberkulose-Fälle,
bei denen mindestens die zwei derzeit potentesten
Antituberkulotika,
INH und Rifampicin, wirkungslos
waren, und die
extensiv resistenten TuberkuloseErkrankungen, bei
denen zusätzlich
drei und mehr der
nachfolgend eingesetzten Zweitrangantituberkulotika versagen,
nehmen zu.
heute
1961
1966
1993
Ethambutol,
ein Antibiotikum
mit antituberkulöser
Wirkung wird
entdeckt.
Die antituberkulöse
Wirkung des
Antibiotikums
Rifampicin
wird entdeckt.
Aufgrund der starken Zunahme der
Tuberkulose
ruft die WHO den
globalen Gesundheitsnotfall aus.
Erste Untersuchungen zum Wirkmechanismus
von Isoniazid
«Sicher steht nur, dass die Tuberkelbazillen unter dem Einfluss
genügender Rimifon-Mengen ihre Vermehrung einstellen; gemäss
elektronenmikroskopischer Untersuchungen teilen sich zwar die
Kernäquivalente der Bakterienzellen noch, aber die protoplasmatische Zellteilung sistiert dann. Infolge noch unbekannter
Stoffwechselveränderungen unter dem Einfluss des Isoniazid
kommt es zu morphologischen Veränderungen und Verkümmerungen des Bakterienleibes, der schliesslich den Abwehrkräften
des Wirtsorganismus zum Opfer fällt. Ob hierbei eine VitaminVerdrängung oder Eingriffe im Fermentsystem eine Rolle spielen,
steht noch keineswegs fest,»92 hiess es in einem internen Bericht
von Roche zum Stand der Erfahrungen mit Rimifon aus dem
Jahr 1952.
Eines aber stand 1953 ganz gewiss fest:
«Andere Bakterien, Pilze, Protozoen und Virusarten
werden durch Isoniazid wenig oder nicht beeinflusst.
Isoniazid darf daher praktisch wohl als Spezifikum
gegen die Tuberkulose bezeichnet werden.»93
Einer der die Wirkung von INH und Iproniazid sowohl auf die
Tuberkulose-Bakterien als auch auf die behandelten Menschen
besser verstehen wollte, arbeitete in der Abteilung für Biochemie
und Bakteriologie an der Northwestern University Medical School
(Chicago): der Biochemiker Ernst Albert Zeller (1907–1987).
Er testete mit seinen Kollegen 1952 den Einfluss von INH und
Iproniazid auf Enzyme von Bakterien und Säugetieren. Genauer
gesagt: Sie untersuchten die Wirkung auf die Aktivität der bakteriellen Diaminoxidase und Guanidindeamidinase sowie der
Diaminoxidase und der Monoaminoxidase (MAO) von Säugetieren, weil zu jener Zeit bekannt war, dass alle basischen Antibiotika und basischen tuberkulostatischen Chemotherapeutika
die Aktivität der bakteriellen Diaminoxidase hemmen. 94 «Die
beiden neuen Tuberkuloseheilmittel wirken auch auf eine gereinigte Diaminoxydase aus Schweineniererinde…Auffallend stark
ist die Hemmung der Monoaminoxydase der Mitochondria aus
Rattenleber durch Iproniazid…»95, so ihr Ergebnis.
92
HAR:PD.3.1.RIM-105429 Derzeitiger Stand
der Erfahrungen mit Rimifon.
Fust B: Die Therapie der Tuberkulose
mit Isoniazid [Rimifon]; Sonderdruck
aus: Therapie der Lungentuberkulose
Lieferung 4 des Handbuches der Therapie
in Einzeldarstellungen. Bern: Verlag Hans
Huber; 1953.
94 López-Muñoz F, Alamo C. Monoaminergic
neurotransmission: the history of the
discovery of antidepressants from 1950s until
today. Curr Pharm Des. 2009;15(14):1563-86.
95 Zeller EA, Barsky J, Fouts JR, Kirchheimer
WF, Van Orden LS. Influence of isonicotinic
acid hydrazide (INH) and 1-isonicotinic2-isopropyl-hydrazide (IIH) on bacterial
and mammalian enzymes. Experientia.
1952;8:349-50.
93
65
Später erinnerte sich Zeller, dass INH die Diaminoxidase wie
erwartet hemmte, in der gleichen Konzentration aber keine
bemerkenswerte Wirkung auf die MAO hatte. Iproniazid dagegen erwies sich als ein so starker Hemmstoff für MAO wie keine
andere Substanz zuvor.96
Bakterienkiller gegen Depressionen
96
97
98
99
100
Healy D. Max Lurie – The enigma of Isoniazid.
The Psychopharmacologists II. London:
Arnold (a member of the Hodder Headline
Group); 1999; 119-34.
Salzer HM, Lurie ML. Anxiety and depressive
states treated with isonicotinyl hydrazide
(Isoniazid). AMA Arch Neurol Psychiatry.
1953 Sep;70(3):317-24.
Zu den auffallendsten Nebenwirkungen
zählten die Ärzte damals: «orthostatischen
Blutdruckabfall, fibrilliäres Muskelzittern,
Rigidität, Schwitzen, Obstipation,
Miktionsstörungen, Pulsverlangsamung
und Schläfrigkeit. siehe: Viollier, G, Quiring
E, Staub H. Einfluss von oral verabreichtem
Isonikotinsäurehydrazid und dessen
Isopropylderivat auf den Enzymhaushalt der
weissen Ratte. Helvetica Chimica Acta. 1953
Vol XXXVI Fasciculus III No. 92 724-30.
Salzer HM, Lurie ML. Depressive states
treated with isonicotinyl hydrazide
(Isoniazide); a follow-up study. Ohio Med.
1955 May;51(5):437-41.
Robitzek EH, Selikoff IJ. Hydrazine derivates
of isonicotinic acid (rimifon, marsilid) in the
treatment of active progressive caseouspneumonic tuberculosis; a preliminary report.
Am Rev Tuberc. 1952 Apr;65(4):402-28.
66
Im Herbst 1952 hatten die beiden am Cincinnati General Hospital
tätigen Psychiater Harry Salzer und Max Lurie begonnen, die
stimmungsaufhellende Wirkung von INH bei Patienten ohne
Tuberkulose, aber mit schweren chronischen, das heisst oft schon
jahrelang bestehenden Depressionen, zu erproben. «Psychiater
suchen immer neue und effektivere Chemotherapeutika für psychische Störungen», so ihre Motivation.97 Die als Nebenwirkung
beschriebene euphorisierende Wirkung des neuen TuberkuloseMittels schien ihnen denn doch etwas über die Freude hinauszugehen, die zu erwarten ist, wenn Patienten von einer als unheilbar
geltenden Krankheit genesen.
Einige ihrer depressiven Patienten waren zuvor erfolglos mit
«chemischen Mitteln» gegen Depressionen behandelt worden. Zu
diesen zählten damals Amphetamin, Barbiturate, andere Sedativa,
Vitamine und die Subkoma-Insulin-Therapie. Ein gutes Drittel
der Patienten hatte zuvor auch mehrere, bis zu 19 ElektroschockTherapien über sich ergehen lassen müssen, die bei schweren
Depressionen oft wirksam sind – allerdings nur für eine begrenzte
Zeit.
Diesen Patienten wurde nun dreimal pro Tag je 50 Milligramm INH verabreicht, denn bei dieser Dosis waren noch
keine Nebenwirkungen98 zu erwarten. Schwere Fälle erhielten
dreimal 100 Milligramm pro Tag. Von den 41 behandelten Patienten konnten die beiden Psychiater 28 von ihren Depressionen
befreien, und dies in der Regel innerhalb von sechs Monaten. Die
Schlaf-, Appetit- und Antriebslosigkeit der Patienten verschwand.
«Aber der exakte ‘modus operandi’ muss noch gezeigt werden»,
stellten sie 1954 fest.99
Lurie und Salzer hatten jedoch wohl übersehen, dass die
Ergebnisse der ersten klinischen Studien von Roche an Tuberkulose-Patienten mit INH und seinen Derivaten hauptsächlich
mit Iproniazid durchgeführt worden waren.100 Dieses Präparat
war 87 der insgesamt 97 Patienten verabreicht worden. Zunächst
fiel auch nicht auf, dass die Versuche mit INH allein nicht die
gleiche euphorisierende Wirkung hervorriefen. Ende 1952 wies
dann der Orthopäde David M. Bosworth, der beide Medikamente zur Behandlung der Knochentuberkulose testete, darauf
hin, dass Iproniazid «neben seiner bakteriostatischen Kontrolle
von Mycobacterium tuberculosis einen bemerkenswerten Effekt
auf Gewebe hat.»101
«Von da an entwickelten sich beide Präparate in ihrer klinischen Verwendung nach verschiedenen Richtungen», hiess es in
einer Ende der 1950er Jahre erschienenen Werbebroschüre von
Roche.102 Während das noch heute als Tuberkulose-Mittel eingesetzte INH (leider) nicht weiter als Antidepressivum untersucht
und genutzt wurde, machte Iproniazid für wenige Jahre Karriere
als erstes wirkliches Antidepressivum.
Vielleicht lag es daran, dass für INH kein Patentschutz
bestand, vielleicht aber auch daran, dass Iproniazid viel öfter
und ausgeprägter «neuropsychiatrische Nebenwirkungen» bei
den Tuberkulose-Patienten hervorrief als INH. Nicht zuletzt
waren es diese Psychose erzeugenden Nebenwirkungen, die das
«Aus» von Iproniazid als Tuberkulose-Medikament bedeuteten.
Aber es hatte damit den Psychiatern angezeigt: Es wirkt auch im
Gehirn und könnte dort «Mechanismen in Gang setzen, welche
zur Korrektur oder Anomalie mentaler Prozesse führen.»103
Iproniazid wirkte – wie die Experten es damals nannten –
als «psychischer Energizer» bei Patienten mit Depressionen. Es
erzeugte Gefühle des Wohlbefindens, steigerte ganz beträchtlich
den Appetit, gab Energie und verminderte das Schlafbedürfnis.
Eine typische Äusserung damaliger Patienten lautete: «Ich habe
mich seit Jahren nicht so gut gefühlt.»104
1956 fanden dann Forscher, darunter auch ein späterer Forschungsleiter von Roche, der Schweizer Alfred Pletscher (19162006), heraus, dass Iproniazid im Gehirn einen Anstieg des Serotonin- und Noradrenalin-Spiegels bewirkt.105 Beide Stoffe wirken
als Neurotransmitter, sind biogene Amine und werden durch
MAO abgebaut. Serotonin wird aufgrund seiner stimmungsaufhellenden Wirkung auch als Glückshormon bezeichnet.
Ein Jahr später, 1957, postulierten Nathan S. Kline (1916–
1983) und seine Mitarbeiter, dass diese antidepressive Wirksamkeit von Iproniazid wahrscheinlich auf die von Zeller gefundene
MAO-Hemmung zurückzuführen sei.106 Dies bestätigten weitere
Experimente mit anderen MAO-Hemmstoffen, die ebenfalls
Depressionen bekämpfen konnten; einige davon waren auch bei
Roche synthetisiert worden.
Im März 1955 hatte die FDA Marsilid zur Behandlung von
Tuberkulose in Dosen von zwei bis vier Milligramm pro Kilo-
101
102
103
104
105
106
5. Bosworth DM, Wright HA, Fielding JW.
The treatment of bone and joint tuberculosis;
effect of 1-isonicotinyl-2-isopropylhydrazine;
a preliminary report. J Bone Joint Surg Am.
1952 Oct; 34 A(4):761-71.
HAR PD.3.1.MAS-103620a Dossier über
Marsilid F. Hoffmann-La Roche & Co. A.G.
Basel.
Crane GE. Further studies on iproniazid
phosphate; isonicotinil-isopropyl-hydrazine
phosphate marsilid. J Nerv Ment Dis. 1956
Sep; 124(3):322-31.
Crane GE. Further studies on iproniazid
phosphate; isonicotinil-isopropyl-hydrazine
phosphate marsilid. J Nerv Ment Dis. 1956
Sep; 124(3):322-31.
Pletscher A. Wirkung von
Isonikotinsäurehydraziden auf den
5-Hydroxytryptaminstoffwechsel in vivo.
Experientia. 1956 Dec 15;12(12):479-80.
Loomer HP, Saunders JC, Kline NS:
A clinical and pharmacodynamic evaluation
of iproniazid as a psychic energizer.
Psychiatri Res Rep Am Psychiatr Assoc. 1957
Dec; 8: 129-41.
67
107
108
109
110
111
112
HAR: Fo32-102118
Wall Street Journal Staff reporter: HoffmannLa Roche Discovers new Drug for Mental
patients, The Wall Street Journal, Monday
April 8, 1957.
Emma Harrison: TB drug is tried in mental
cases. Use of Iproniazid at Rockland
indicates Energizing effect in case of
depression. The New York Times April 7, 1957.
Earl Ubell: Promise seen for Depressed TB
drug tested for mental ills. New York Herald
Tribune, Sunday April 7, 1957.
HAR: Fo32-102118.
Bailey SD, Bucci L. Gosline E, Kline NS, Park
IH, Rochlin D, Saunders JC, Vaisberg M:
Comparison of iproniazid with other amine
oxidase inhibitors, including W-1544, JB-516,
RO 4-1018, and RO 5-0700. ANN N Y Acad
Sci 1959 Sep 17;80:652-68.
68
gramm Körpergewicht zugelassen. Im März 1957 erfolgte die
Zulassung auch für die Behandlung von Depressionen, allerdings
in geringeren Dosen bis zu maximal 150 Milligramm täglich. Die
Packungsbeilage enthielt die Warnung: «Dies ist ein potentes
Arzneimittel, welches nur unter ärztlicher Kontrolle angewandt
werden soll.»107
Ein Tuberkulose-Mittel als neuartiges Medikament gegen
Depressionen: Das war den Redakteuren grosser amerikanischer
Zeitungen wie dem Wall Street Journal, der New York Times und
der New York Herald Tribune Anfang April 1957 den Besuch
einer Pressekonferenz von Roche und eine Meldung wert.108,109,110
Dies wohl auch, weil es New Yorker Ärzte waren, welche die Substanz nicht nur bei Patienten mit Depressionen erprobten, sondern
auch die antidepressive Wirkung mit der MAO-Hemmung in
Verbindung brachten. Am 6. April 1957 hatten die New Yorker
Experten unter der Leitung von Kline auf einer Psychiater-Tagung
in Syracuse (New York) darüber berichtet. Allerdings erschienen
diese Artikel in der amerikanischen Tagespresse eher auf den
hinteren Seiten.
In der Schweiz wurden 1957 noch klinische Versuche mit
Marsilid für die neue Indikation durchgeführt. Am 27. Mai 1958
war es dann aber auch hier soweit. Die Schweizerische Interkantonale Kontrollstelle für Heilmittel (IKS) in Bern genehmigte die
neuen Verwendungsempfehlungen für Marsilid zur Bekämpfung
depressiver Verstimmungszustände.111
«Zusätzlich zu dem bedeutenden therapeutischen Fortschritt, der sich darin widerspiegelt, dass seit ihrer Einführung
vor anderthalb Jahren über eine halbe Million Patienten mit
solchen Wirkstoffen behandelt wurden, glauben wir, dass der
Fortschritt bezüglich des Verstehens der Biochemie psychischer
Erkrankungen grössere Bedeutung hat», schrieben Kline und
seine Co-Autoren nicht wenig stolz 1959.112
Isoniazid: so einfach das Molekül, so komplex die Wirkung
Es gibt wohl nichts komplexeres als das menschliche Gehirn. Und
so mutet es schon ein wenig paradox an, dass die Aufklärung des
Mechanismus der antidepressiven Wirkung eines INH-Derivates
im Gehirn nur fünf Jahre in Anspruch nahm, die Aufklärung der
Ursachen der antituberkulösen Wirkung von INH dagegen mehr
als 50 Jahre. Es entbehrt auch nicht einer gewissen Tragik, dass
es allen an der Auffindung von INH beteiligten Akteuren nicht
Wall Street Journal
8. April 1957
New York Herald Tribune
7. April 1957
Ein Tuberkulose-Mittel als
neuartiges Medikament
gegen Depressionen:
Das war den Redakteuren
grosser amerikanischer
Tageszeitungen im April
1957 eine Meldung wert.
69
113
Middlebrook G: Isoniazid-resistance
and catalase activity of tubercle bacilli;
a preliminary report. American review of
tuberculosis 1954;69(3):471-472
114 Winder F: Catalase and peroxidase in
mycobacteria. Possible relationship to the
mode of action of isoniazid. Am Rev Respir
Dis 1960; 81: 68-78.
115 Der Roche-Mitarbeiter Jörg Benz hat diese
Abbildung mit InhA in Bänderdarstellung
basiernd auf den Daten von 1ZID mit dem
Programm PyMol Molecular Graphic System
erstellt. NADH ist die Abkürzung für NAD in
der reduzierten Form.
116 Vilchèze C, Jacobs WR: The Mechanism of
Isonziad Killing: Clarity through the scope of
Genetics Annu. Rev Microbiol. 2007;61:35-50.
70
vergönnt sein sollte, zu erfahren, warum INH letztlich Tuberkelbakterien wirklich abzutöten vermag.
Dabei handelt es sich auch bei der tötenden Wirkung von
INH auf Tuberkelbakterien schlussendlich wieder um die Hemmung eines Enzymes. Aber, und dies macht die Sache etwas
komplizierter und erforderte den Einsatz gentechnologischer
Untersuchungsmethoden zur Aufklärung des Wirkmechanismus,
es ist nicht das INH selbst, welches als Enzymhemmstoff auftritt,
sondern ein in den Tuberkelbakterien aus INH gebildetes so
genanntes Addukt.
Schon 1953 hatte der amerikanische Mikrobiologe Gardner
Middlebrook (um 1915–1986), durch Untersuchung mit INHresistenten Tuberkelbakterien herausgefunden, dass diese eine
geringe oder keine Aktivität des Enzymes Katalase aufwiesen.113
Katalasen sind Enzyme, die im Stoffwechsel anfallendes, für die
Zelle giftiges Wasserstoffperoxid zu Sauerstoff und Wasser umsetzen. Middlebrook hatte übrigens wie viele andere TuberkuloseForscher einen ganz besonderen Grund für seine wissenschaftlichen Arbeiten auf dem Tuberkulose-Gebiet. Sein Antrieb: Er
hatte selbst an einer Lungentuberkulose gelitten.
Die Katalase-Aktivität spielte also eine Rolle. Aber welche? Im
Jahr 1960 hatte Frank Winder die Hypothese aufgestellt, dass aus
INH freie Radikale gebildet werden, die für die bakterientötenden
Eigenschaften notwendig seien.114 1970 wurde herausgefunden,
dass INH die Synthese von den für Tuberkelbakterien lebensnotwendigen Bestandteilen der Zellwand hemmen kann. Dabei
handelt es sich um langkettige Fettsäuren, sog. Mykolsäuren. Biochemische Untersuchungen bestätigten dann, dass INH eigentlich
eine inaktive Vorstufe ist, die erst in den Tuberkelbakterien durch
eine Katalase in ein Isonicotinyl-Radikal umgewandelt wird, welches dann wohl die Mykolfettsäuren-Synthese hemmt und damit
den Zelltod bewirkt.
1987 hatte man dann die Werkzeuge in der Hand, das Genmaterial von Tuberkelbakterien gezielt zu verändern. Durch
Manipulationen des genetischen Bauplanes einzelner Enzyme
konnten die identifziert werden, die aktiv sein mussten, sollte INH
seine Wirksamkeit entfalten. Es waren, wie in den 1990er Jahren
gefunden wurde, das Katalase-Peroxidase Enzym KatG und die
NADH-abhängige Enoyl-ACP (Acyl carrier Protein) Reduktase
InhA, welche in die Mykolsäurebiosynthese involviert ist.
1998 stellte sich dann heraus, dass das INH-Radikal nicht
direkt an InhA bindet, sondern erst eine kovalente Bindung mit
Nikotinsäureamid-Adenin-Dinukleotid (NAD) eingehen muss.
NAD ist ein so genanntes Koenzym, das an zahlreichen Reaktionen im Stoffwechsel beteiligt ist.
Was für ein Wirkmechanismus! Ein kleines Molekül, das die
wachsartige, für Mykobakterien charakteristische Zellwand von
Tuberkulosebakterien durch passive Diffusion durchdringen kann,
wird in den Bakterien durch das Enzym KatG zum Radikal, formt
mit einem weiteren (Ko)-Enzym, NAD, ein Addukt und hemmt
so ein drittes Enzym, InhA, welches Bestandteile der einzigartigen
Membran der Tuberkelbakterien synthetisiert. Diese Hemmung
der Mykolsäure-Synthese bedeutet dann den Zelltod. Wenn alles
gut geht, sind die Forscher heute in der Lage, solche Wirkmechanismen von Medikamenten aufzuklären. Arzneimittel mit solchen
Wirkmechanismen über drei Stufen gezielt von vornherein zu
entwerfen und nicht durch ein Screening der antibakteriellen Wirkung von Substanzen an Erregerkulturen und infizierten Tieren
zu finden, ist aber auch heute noch nahezu unmöglich.
Mit genetischen Methoden wurden einige Mechanismen der
INH-Resistenz aufgeklärt. Einer besteht zum Beispiel darin, dass
die Tuberkelbakterien das Enzym InhA häufiger bilden. Eine
Mutation in der Steuersequenz des Gens, welches den Bauplan
für das Enzym InhA trägt, sorgt dafür, dass 20-mal häufiger inhA
mRNA gebildet wird.116 Die mRNA schleust den Bauplan für
ein Protein aus dem Zellkern zu den Eiweiss-Fabriken der Zelle.
Regeln Bakterien solcherart die Bildung eines Enzymes hinauf,
kann ihnen eine Hemmung desselben nicht mehr viel anhaben.
Isoniazid (INH) formt mit
dem Koenzym NADH einen
Komplex, der das Enzym InhA
hemmen kann. InhA spielt
eine Rolle in der Synthese
von Mykolsäuren, wichtigen
Zellwand-Bestandteilen von
Tuberkulosebakterien. 115 71
Foto: Catja Bruckmann
Denn auch wenn der Resistenzmechanismus bekannt sein sollte,
kann die Dosis eines Medikamentes in der Regel aufgrund der
Nebenwirkungen nicht in einem solchen Ausmass gesteigert
werden.
Die antituberkulöse Wirksamkeit von INH beschäftigt die
Forscher nach wie vor, besonders natürlich weil man die Resistenzbildungen besser verstehen und Angriffspunkte für neue
Antituberkulose-Mittel finden möchte. Vorschläge für weitere
Wirkmechanismen von INH wurden gemacht. Aber noch im
Jahr 2010 erschien eine Publikation, die einen für wahrscheinlich
gehaltenen Wirkmechanismus wieder in Zweifel stellte.117
Tuberkulose heute: wieder eine gefürchtete
Infektionskrankheit
117
Wang F, Jain P, Gulten G, Liu Z, Feng
Y, Ganesula K, et al. Mycobacterium
tuberculosis dihydrofolate reductase is not a
target relevant to the antitubercular activity
of isoniazid. Antimicrob Agents Chemother.
2010 Sep;54(9):3776-82.
118 Wang L. Isoniazid. Chemical and Engineering
News June 20. 2005, 76.
119 NIAID is a component of the National
Institutes of Health, which is part of the
U.S. Department of Health and Human
Services.
120 Porter, R. Die Kunst des Heilens. Eine
medizinische Geschichte der Menschheit
von der Antike bis heute Spektrum. Berlin,
Heidelberg: Akademischer Verlag, 2000; 492.
72
Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind heute zwei
Milliarden Menschen mit Tuberkulose-Erregern infiziert – ein
Drittel der Weltbevölkerung. Im Jahr 2010 steckten sich 8.8
Millionen Menschen neu an, rund 1.4 Millionen Menschen
starben an Tuberkulose und 5.7 Millionen Menschen wurden
dagegen behandelt. Die überwiegende Mehrheit dieser Menschen
schluckte in ihrem Medikamentencocktail auch INH. «Für die
Menschen, die eine Tuberkulose haben, die sich mit Arzneimitteln noch behandeln lässt, ist die Einnahme von INH oft eine
lebensrettende Massnahme»118 , lautet das Urteil von Christine
F. Sizemore, Leiterin der Abteilung für Tuberkulose, Lepra und
andere durch Mykobakterien hervorgerufene Erkrankungen
innerhalb der Division Mikrobiologie und Infektionskrankheiten
des National Institute of Allergy and Infectious Diseases.119
In den westlichen Wohlstandsländern wie der Schweiz, mit
nur 500 neuen Tuberkulosefällen pro Jahr, ist man sich der
Herausforderung der Menschheit durch diese Krankheit kaum
bewusst. Aber die Tuberkulose gehört noch immer zu den tödlichsten und mit Recht zu den am meisten gefürchteten Infektionskrankheiten des Menschen. Wie einst breitet sie sich aus, wenn
Not und Elend sowie Zusammenleben auf engstem Raum den
Anstieg von übertragbaren Erkrankungen fördern. Hinzu kommt,
dass die Immunschwäche-Krankheit AIDS seit den 1980er Jahren
zu einem Wiederanstieg der Tuberkulose beiträgt. «Von 1985 bis
1991 nahm die Tuberkulose in den USA um 12% und in Europa
um 30% zu. In jenen Regionen Afrikas aber, wo Tuberkuloseund HIV-Infektionen oft zusammen auftraten, stieg die Zahl der
Kranken um 300%.»120
Beispiel Indien: Isoniazid zur Prophylaxe und Therapie
Indien ist eines der am stärksten von Tuberkulose betroffenen
Länder. Jedes Jahr stecken sich auf dem Subkontinent 1.98 Millionen Menschen neu mit Tuberkulose an. Im Jahr 2010 starben in
Indien rund 320 000 Menschen daran.121 Die Seuche ist die häufigste Infektionskrankheit in dem Schwellenland mit 1.21 Milliarden Einwohnern und hat epidemische Ausmasse angenommen.
Die hohe Anzahl von Tuberkulosefällen dort ist sicherlich nicht
zuletzt auf die hohe Bevölkerungsdichte und die grosse Armut
weiter Bevölkerungsschichten zurückzuführen.
Ein weiterer Grund ist aber auch, dass es oft zu lange dauert,
bevor die exakte Diagnose gestellt wird. So kann ein Mensch mit
offener Tuberkulose in Indien sogar bis zu 15 andere Menschen
anstecken.
»Indien ist ein Land, in dem die Kosten für die Behandlung
von Krankheiten nicht rückerstattet werden. Eine Ausnahme sind
die nationalen Gesundheitsfürsorge-Programme der Regierung
oder jene für Angestellte der Regierung und einige wenige Personen, die eine Versicherung bis zu einer bestimmten Grenze
haben», erklärt Girish Telang, General Manager von Roche Products in Indien und weiter: »Die Bekämpfung der Tuberkulose
erfolgt im Rahmen eines solchen nationalen Programmes, aber
die diagnostischen und therapeutischen Massnahmen in den
Wo immer Menschen dicht
gedrängt unter schlechten
hygienischen Verhältnissen
leben, breiten sich Krankheiten
wie die Tuberkulose schnell
aus.
121
Tuberculosis country profiles. World Health
Organization [zitiert: 24.2.2012]. abrufbar
unter: http://www.who.int/tb/country/data/
download/en/index.html.
73
staatlichen Institutionen unterscheiden sich von denen in privaten Einrichtungen. In staatlichen Institutionen wird eine Tuberkulose bei den Betroffenen anhand klinischer Symptome sowie
grundlegender Untersuchungen wie Röntgenaufnahmen des
Brustkorbes, Untersuchungen des Sputums (Auswurf) und dem
Nachweis von Entzündungsmarkern diagnostiziert. Im privaten
Bereich dagegen kommen, wenn erforderlich, zusätzlich zu diesen
Basis-Untersuchungen auch bildgebende Untersuchungsmethoden wie die Magnetresonanz-Tomographie (MRT), PositronenEmissions-Tomographie (PET) und Computer-Tomographie
(CT) zum Einsatz. In-vitro-Diagnostika, basierend auf der
Polymerase-Kettenreaktion (PCR) zum Nachweis des genetischen Materials von Tuberkulosebakterien, werden hier ebenfalls
eingesetzt, je nach Anforderung und Bezahlbarkeit durch den
Patienten. Die Tuberkulosebehandlung wird im Rahmen des
nationalen Programmes von der Regierung bezahlt und schliesst
nicht nur die Medikamente, sondern auch Untersuchungen zum
Management der Tuberkulose in staatlichen Gesundheitseinrichtungen ein. Werden die Patienten dagegen in privaten Kliniken
und Institutionen behandelt, müssen sie für alle im Rahmen
einer Tuberkulose-Behandlung anfallenden Untersuchungen
und Medikamente selbst aufkommen.»
Dr. Ashok Mahashur, Lungenarzt am P.D. Hinduja National
Hospital & Medical Research Center ist davon übezeugt, dass
»wahrscheinlich jeder Inder einen Primärkomplex in seiner Lunge
oder in den angrenzenden Lymphknoten hat.” Seine Patienten
können die 10 000 Rupien zahlen, die eine PET-Untersuchung
kostet. Jede Woche sieht er drei bis vier Patienten, die sich neu
mit Tuberkulose angesteckt haben und 10 bis 15 Patienten,
bei denen die Tuberkulose-Infektion schon länger bekannt ist.
Normalerweise erkranken nur 10% der Infizierten, meist solche
mit einer eingeschränkten Funktion ihres Immunsystems. Weil
die Tuberkulose in Indien so häufig ist, gibt er INH prophylaktisch auch all jenen Patienten, die mehr als sechs Monate mit
Kortikosteroiden behandelt werden. Meist sind das Patienten,
die an schwerwiegenden Autoimmunerkrankungen wie Lupus
erythematodes oder rheumatoider Arthritis leiden.
Die unheilvolle Allianz der Immunschwäche-Krankheit AIDS
und der Tuberkulose charakterisiert der indische Epidemiologe
und Tuberkulose-Forscher Madhukar Pai, Associate Professor an
der MC Gill University Montreal, so: »HIV-Patienten mit einem
positiven Tuberkulose-Test haben ein um das Zehnfache erhöhtes
Risiko, das Krankheitsbild einer Tuberkulose zu entwickeln.»
Deshalb empfiehlt die WHO für mit HIV infizierte Jugendliche
und Erwachsene eine Tuberkulose-Prophylaxe-Therapie mit 300
Milligramm INH täglich für die Dauer von mindestens sechs
Monaten. Laut WHO-Report wurden im Jahr 2009 weltweit
80 000 Menschen mit HIV prophylaktisch mit INH behandelt.
In Indien sind schätzungsweise 2.3 Millionen Menschen mit
HIV infiziert. Erhalten diese Menschen alle INH zur Prophylaxe?
Er ist mit HIV und dem
Tuberkulose-Erreger infiziert
und hatte zahlreiche
Tuberkuloseherde im Gehirn
(Tuberculoma) und in der Lunge
(beidseitiger Befall). Sein
physisches Erscheinungsbild
zeigte die für Tuberkulose
typische Auszehrung. Mit vier
Medikamenten konnte seine
Tuberkulose bekämpft werden.
Quelle: Professor Dr.
Alaka Deshpande,
Direktorin des
Centre of Excellence
in HIV care in Grant
Med. College & Sir
JJ Group of Govt.
Hospital in Mumbai
74
75
Bei den hier mit der PET
aufgespürten aktiven Herden
im Nacken- und Brustbereich
könnte es sich um ein Lymphom
oder eine Tuberkulose handeln.
Wie die Biopsie ergab, war es
eine Tuberkulose. Die Patientin
erhielt eine medikamentöse
Therapie und überlebte.
Die starke Signalgebung
(Schwärzung) im Gehirn ist
nicht auf Tuberkulose- oder
Tumorherde dort zurückzuführen,
sondern physiologisch bedingt.
Das Gehirn nimmt sehr viel
Glukose auf.
Wo steckt der Tuberkuloseherd?
Dr. Ujwal Bhure Mumbai, SRL-Jankharia Imaging
Untersuchungen mit der Positronen-Emissions-Tomographie
Dr. Ujwal Bhure Mumbai, SRL-Jankharia Imaging
Auch dieser Patient überlebte
dank medikamentöser Therapie
seine Tuberkulose-Erkrankung.
Die Bilder in der oberen Reihe
zeigen den Patienten nach, in der
unteren Reihe vor der Therapie.
122
Harkirat S, Anand SS, Indrajit IK, Dash AK.
Pictorial essay: PET/CT in tuberculosis.Indian
J Radiol Imaging 2008;18:141-47.
76
Seit dem Jahr 2008 wird auch die Positronen-Emissions-Tomographie (PET) zur Tuberkulose-Diagnostik
eingesetzt.122 Dabei handelt es sich um ein bildgebendes Verfahren unter Einsatz einer radioaktiv markierten Substanz, welches meist mit der ComputerTomographie kombiniert wird (PET/CT). Wie bei der
Krebsdiagnostik mit PET, wird auch bei der Tuberkulose-Diagnostik ein mit radioaktivem Fluor markierter
Zucker (Glukose) eingesetzt, Fluor-18-Deoxyglukose
(18-FDG). Entzündungszellen, aber auch entartete
Zellen haben einen hohen Glukoseverbrauch. Deshalb reichert sich 18-FDG in Tumoren, aber auch
in Entzündungs- und Tuberkuloseherden an. Eine
Unterscheidung zwischen Tumor- und Tuberkuloseherd ist derzeit mit PET nicht sicher möglich. Aber
dieses Verfahren, bei dem der ganze Körper unter-
sucht wird, hilft dabei, die Krankheitsherde aufzuspüren, die bei Tumor- und Tuberkulosefällen oft überall
im Körper versteckt sein können. Eine Biopsie, das
heisst eine Entnahme von Material aus einem der aktivsten so gefundenen Herde führt dann zur richtigen
Diagnose. «Wenn die Diagnose Infektion (wie Tuberkulose) oder maligner Tumor einmal gestellt und mit
einer Therapie begonnen wurde, kann die Untersuchung mit PET/CT und 18-FDG gut zur Therapieverlaufskontrolle eingesetzt werden, weil sich der Erfolg
anhand der Stoffwechselveränderungen eher ablesen lässt, als anhand der anatomischen Veränderungen. Manchmal ändert sich die Grösse der Läsionen
nicht, aber die Stoffwechselaktivität nimmt beträchtlich ab, weil die aktiven kranken Zellen abgestorben
sind», erklärt Dr. Ujwal Bhure, ein PET-Spezialist aus
Mumbai, und dass «Entzündungs- und Infektionsherde mit grosser Wahrscheinlichkeit eine verringerte 18-FDG-Anreicherung in PET-Aufnahmen zeigen,
die 60 bis 90 Minuten nach Injektion des Radiotracers aufgenommen werden, während sich 18-FDG
in Tumorzellen mit der Zeit immer mehr anreichert.»
Anhand der Intensitäten von Aufnahmen nach einem
längeren Zeitraum erhalte man somit schon einen
ersten Hinweis.
77
Foto: Sabine Päuser
Professor Dr. Alaka Deshpande,
Mumbai: «Die Resistenz
der Tuberkelbakterien
gegen INH steigt in der
Allgemeinbevölkerung an.»
«Nein», sagt Frau Professor Dr. Alaka Deshpande, Leiterin des
Grant Medical College and Sir J J Gr. of Govt. Hospitals, eines
von der Regierung finanzierten Krankenhauses in Mumbai für
die mittleren und unteren Einkommensgruppen, in dem die Patienten kostenfrei behandelt werden. Und sie führt weiter aus: «Es
gibt keine kontrollierten Studien dafür und ausserdem steigt die
Resistenz der Tuberkelbakterien gegen INH in der Allgemeinbevölkerung an. Daher bevorzugen es die Ärzte hier die Tuberkulose
erst zu behandeln, wenn sie ausbricht. Es dauert acht bis 10 Jahre
bis sich aus einer HIV-Infektion das Vollbild AIDS entwickelt.
Während dieser Jahre erleben die HIV-Infizierten zwei- bis
dreimal den Ausbruch einer Tuberkulose-Erkrankung. In den
frühen Stadien, wenn die CD4-Zahl stabil ist, entwickelt der HIVPatient eine Lungentuberkulose. Wenn die Immunschwäche dann
zunimmt, entwickeln die Patienten eine extrapulmonale oder
eine in mehreren Organen auftretende Tuberkulose. Nach dem
überarbeiteten nationalen Programm zur Tuberkulose-Kontrolle
78
werden die an Tuberkulose Erkrankten in Katergorien nach den
Richtlinien der WHO eingeteilt und mit DOTs (Directly observed
therapy, short course) behandelt. Neu diagnostizierte Fälle werden
in die Kategorie 1 eingeteilt und erhalten für zwei Monate eine
Kombinationsbehandlung aus INH, Rifampicin, Ethambutol und
Pyrazinamid gefolgt von einer viermonatigen Therapie mit INH
und Rifampicin. Erleidet der Patient einen Rückfall oder lassen
sich nach zwei Monaten Therapie immer noch Erreger im Auswurf nachweisen, wird ihm zusätzlich intravenös Streptomycin
verabreicht.»
Aber auch Professor Deshpande setzt in vereinzelten Fällen
INH prophylaktisch ein: Wenn eine an Tuberkulose erkrankte
Mutter therapiert wird, bekommt der von ihr gestillte Nachwuchs
während sechs Monaten ebenfalls prophylaktisch INH. Wenn
Patienten mit Bindegewebs- und Knochenerkrankungen über
lange Zeit Steroide nehmen müssen, erhalten auch sie prophylaktisch INH.
Wie Professor Deshpande berichtet, ruft Rifampicin oft eine
INH-induzierte Gelbsucht hervor. Wenn ein Patient eine solche
Arzneimittel-bedingte Gelbsucht entwickelt, wird die medikamentöse Anti-Tuberkulose-Therapie so lange ausgesetzt, bis die
Gelbsucht verschwindet. Erst dann wird wieder schrittweise damit
begonnen: erst mit INH und Ethambutol, nach einer Woche mit
Rifampicin und dann mit Pyrazinamid. Erstaunlicherweise tritt
eine Gelbsucht dann nicht mehr auf.
In Professor Deshpandes Krankenhaus erhalten mittellose
Tuberkulose-Patienten INH kostenfrei. Wer in Indien seine
Medikamente selber zahlen muss, legt für 100 Tabletten mit je
300 Milligramm INH etwa 100 indische Rupien an, das entspricht
ungefähr zwei Dollar und dem Tagesverdienst eines einfachen
Arbeiters. Hinzu kommen dann allerdings noch die Kosten für
die Arztkonsultationen, die mit je 25 bis 100 Rupien für den
Besuch beim Allgemeinmediziner bis hin zu 500 bis 3000 Rupien
beim Lungenspezialisten zu Buche schlagen können, wie von Anil
Kukreja, Direktor Medical Affairs bei Roche Products in Indien
zu erfahren ist.
Die Tuberkulose war und ist eine Krankheit der Armut. Aber
bakterielle Infektionskrankheiten, die mit der Luft verbreitet
werden, machen nicht Halt vor Palasttüren. »Wir müssen
bedenken, dass die Tuberkulose auf dem Luftweg übertragen
wird. Wenn Sie also beispielsweise in Mumbai, der indischen
Hochburg multiresistenter Tuberkulose, in ein Taxi steigen
und der Fahrer hustet, können Sie nicht wissen, ob er eine
79
«Etwas muss in Indien geschehen. Es ist dringend.»
123
WHO report 2010 Global Tuberculosis Control
80
Der Arzt Dr. Hemant P. Thacker, Spezialist für Herz- und Stoffwechselerkrankungen am Bhatia Hospital in Mumbai, einem
Krankenhaus für die Mittelklasse, konkretisiert dies: «Neue
Arzneimittel werden gebraucht und schnelle diagnostische
Testverfahren, keine Testverfahren mit Antikörpern, sondern
PCR-basierte.» Er sieht 20 bis 30 Patienten am Tag, fünf bis sieben
davon haben eine Tuberkulose!
Gebraucht wird in der Tat ein billiger und schneller patientennaher Tuberkulose-Test (point of care test). Und dieser Test sollte
in Indien entwickelt werden, darüber waren sich die Experten
einig, die sich am 25. und 26. August 2011 in Bangalore auf der
Konferenz «TB-Diagnostik in Indien: Von Import und Imitation
zu Innovation» trafen. «Wir erkennen kaum 60% der Fälle, und
die undiagnostizierten Tuberkulose-Patienten sind neue Infektionsquellen. Die Fehldiagnosen sind ein weiteres Problem – es
gibt Dutzende fehlerhafter Bluttests zum Nachweis einer aktiven
Tuberkulose», so Madhukar Pai, der auch Co-Chairman der
neuen Arbeitsgruppe Diagnostika von Stop TB Partnership ist.
Akkuratere Testverfahren zum schnellen Nachweis der
Tuberkulose-Erreger werden also gebraucht, besonders solche,
die die medikamentenresistenten feststellen können. «Weltweit
führend im Bereich In-vitro Diagnostika hat Roche innerhalb
der Sparte Roche Applied Science die Mittel, um genomweite
Analysen verschiedener neuer medikamentenresistenter M. tuberculosis-Stämme vorzunehmen. Roche könnte so die Forschung
unterstützen, um die für eine Arzneimittel-Resistenz spezifischen
Gensequenzen von Tuberkulosebakterien zu finden», kommentiert Bhuwnesh Agrawal, der von 2007 bis 2012 General Manager
von Roche Diagnostics in Indien war.
Ausblick
Angesichts der hohen Anzahl mit Mycobacterium tuberculosis infizierter Menschen und des Verhaltens des Erregers, jahrzehntelang
im tierischen und menschlichen Organismus ruhend an Orten zu
persistieren, an denen Immunzellen ihn nicht aufspüren können,
scheint es fraglich, ob die Tuberkulose jemals ausgerottet werden
kann – was euphorisch im 20. Jahrhundert noch für möglich
gehalten, und mit grossen Anstrengungen auch versucht wurde.
Die Tuberkulose kann auch heute noch, unbehandelt, innerhalb
von fünf Jahren zum Tod führen.
Von 1995 bis zum Jahr 2009 wurden weltweit 41 Millionen
Tuberkulose-Patienten innerhalb von DOTs-Programmen
mit INH behandelt und sechs Millionen Leben gerettet, zwei
Millionen davon waren Frauen und Kinder.123 Noch ist das vor
60 Jahren entwickelte INH also Lebensretter für Millionen von
Tuberkulose-Patienten.
Im Jahr 2009 hatten weltweit schätzungsweise 250 000 Tuberkulose-Patienten eine multiresistente Tuberkulose, das heisst
mindestens die zwei derzeit potentesten Antituberkulotika, INH
und Rifampicin, waren bei ihnen wirkungslos. Nur 12% dieser
Dichtgedrängt, stundenlang in
öffentlichen Verkehrsmitteln
unterwegs – dies ist bei
Infektionskrankheiten, deren
Erreger, wie bei der Tuberkulose,
mit der Luft übertragen werden,
immer eine Gefahr.
Foto: Sabine Päuser
Erkältung hat oder eine Tuberkulose. Und die Klimaanlage
bläst die Keime vom Fahrer auf dem Vordersitz zu den Gästen
auf den Rücksitzen. Diese Ansteckungsgefahr ist in den überfüllten Bussen, die über das Land fahren, nicht weniger gering.
Es wurde mehrfach nachgewiesen, dass sich Menschen anstecken, wenn sie lange, für mehrere Stunden, in der Nähe von
Personen mit offener Tuberkulose reisen. Wir alle sollten uns
unserer Verantwortung für die Tuberkulose bewusst sein, denn
sie wird mit der Luft übertragen, die wir einatmen», mahnt
Lucica Ditiu von der im Jahr 2001 gegründeten Organisation
Stop TB Partnership.
Anjali Nayyar, Senior Vizepräsidentin der Global Health Strategies Company in New Delhi drückt es noch klarer aus:
81
Fälle wurden auch diagnostiziert.124 Und die extensiv resistenten Tuberkulose-Erkrankungen, bei denen zusätzlich drei und
mehr der nachfolgend eingesetzten Zweitrangantituberkulotika
versagen, nehmen zu.125 «Niemand in Europa ist 100% sicher
vor medikamentenresistenter Tuberkulose», so ein Vertreter der
WHO. Im September 2011 hat die WHO deshalb einen neuen
Plan zur Bekämpfung der Tuberkulose in Europa verabschiedet.
Das Ziel: Bis Ende 2015 sollen 85% aller Patienten diagnostiziert
und mindestens 75% von ihnen behandelt werden. Derzeit sind
nur 32% aller Patienten mit medikamentenresistenter Tuberkulose in Westeuropa diagnostiziert und viele brechen ihre Therapie
vorzeitig ab, was die Entwicklung resistenter Keime fördert.126
Dank
Leider ist heute, 60 Jahre nach der Entdeckung von Isoniazid
(INH), keiner der beteiligten Akteure mehr am Leben. Umso
dankbarer bin ich all Jenen, die mir bei der Spurensuche in der
Vergangenheit geholfen haben: allen voran Alexander Bieri und
seinen Mitarbeitern Bruno Halm und Dr. Lionel Löw vom Historischen Archiv Roche, aber auch den Mitarbeitern des Historischen
Archivs der Firma Bayer, besonders Hans Herrmann Pogarell.
Mein Dank gilt den Mitarbeitern des wissenschaftlichen Informationsdienstes von Roche, im Besonderen den Basler Mitarbeitern
Reinhard Bassermann und Carola Lefrank, die mir halfen, der in
den Datenbanken und der Literatur gefundenen Quellen, auch
wirklich habhaft zu werden und der Kollegin Sandra Digiacomo
aus Nutley, die dort die zitierten internen Forschungsberichte von
Herbert Herman Fox sowie Robert Julius Schnitzer und Emanuel
Grunberg «ausgrub».
Für die aktuellen MR-Bilder der Knochentuberkuloseherde in
der Wirbelsäule eines 34-jährigen Immigranten danke ich herzlich
Dr. Marius Schmid vom Medizinisch Radiologischen Institut in
Zürich. Für den Kontakt zu Dr. Schmid danke ich Oberarzt Dr.
Jan Fehr, Klinik für Infektionskrankheiten und Spitalhygiene des
Universitätsspitals Zürich, der in einem Vortrag auf solche Fälle
aufmerksam machte.
Mein herzlicher Dank gilt auch Dr. Silvia Gatti-McArthur,
von der ich wertvolle Hinweise zur antidepressiven Wirkung
von INH erhielt sowie Dr. Niggi Iberg und Dr. Gottlieb Keller,
die mich mit aktuellen Zeitungsberichten zur weltweiten Tuberkulose-Situation unterstützten. Herrn Dr. Gottlieb Keller danke
ich zudem für die Möglichkeit, in Indien vor Ort recherchieren
zu können. Den indischen Kollegen Dr. Girish Telang und Dr.
Anil Kukreja danke ich für ihre wertvolle Hilfe beim Finden von
Interviewpartnern in Mumbai.
124
Siehe Anm. 123
Vilchèze C, Jacobs WR: The Mechanism of
Isonziad Killing: Clarity through the scope of
Genetics Annu. Rev Microbiol. 2007;61:35-50.
126 Associated Press: Drug-resistant tuberculosis
spreading fast across Europe, WHO issues
new plan to fight disease. 14.9.2011.
125
82
83
Bactrim
Christoph Mörgeli1
1
Prof. Dr. Christoph Mörgeli, Medizin­
historisches Institut und Museum der
Universität Zürich, Hirschengraben 82,
CH-8001 Zürich, cmoergel@mhiz.uzh.ch.
Ganz herzlich danke ich Herrn Dr. Gottlieb
Keller, General Counsel der Roche
Holding AG, sowie den Mitarbeitern des
Historischen Archivs der F. HoffmannLa Roche AG in Basel, Alexander L. Bieri,
Bruno Halm, Dr. Lionel Loew wie auch
Regine Pötzsch für ihre kompetente und
freundliche Unterstützung.
84
Sulfamethoxazol
Trimethoprim
Die Substanz Cotrimoxazol – seit 1969 von der
Firma F. Hoffmann-La Roche AG als «Bactrim»,
von der Firma Burroughs Wellcome & Co. als
«Septrin» entwickelt, produziert und vertrieben
– gehört zu den wirksamsten und erfolgreichsten
Heilmitteln der bisherigen Medizingeschichte
überhaupt. Die Kombination der beiden antibiotisch wirksamen Arzneistoffe Sulfamethoxazol
und Trimethoprim im Dosis-Verhältnis fünf zu
eins bildete einen Welterfolg im Kampf gegen die Infektionskrankheiten. Beide sich gegenseitig potenzierenden Komponenten greifen
gleichzeitig, aber in unterschiedlicher Weise in den Bakterienstoffwechsel ein und bewirken einen erstaunlich intensiven bakterientötenden Effekt. Bactrim erzeugt eine gleichzeitige Blockade zweier
Enzyme innerhalb derselben Reaktionskette im Mikroorganismus.
Diese Enzymblockade bewirkt eine Hemmung der Purinsynthese
sowie von Thymidin und verunmöglicht daher
die Produktion von Desoxyribonukleinsäure
(DNS) und Ribonukleinsäure (RNS). Der damals
neuartige Doppeleffekt beeindruckte im Laborexperiment wie in der klinischen Anwendung am
Menschen durch eine Wirkungssteigerung im
Sinne einer Potenzierung, nicht bloss einer einfachen Addition.2 Die beiden Wirkstoffe zeigen
sich auch darum als gute Kombinationspartner,
weil sie über eine ähnliche Halbwertszeit verfügen und in bequemen
Intervallen von zwölf Stunden morgens und abends verabreicht
werden können. Zudem erweisen sich die Nebenwirkungen als
gering, und bakteriell infizierte Patienten können Cotrimoxazol
fast immer in Tablettenform einnehmen.
Fast zwei Milliarden Menschen behandelt
2
«Bactrim» Roche. Bakterizides BreitbandTherapeutikum. Hg. von der F. Hoffmann-La
Roche & Co. A.G., Basel o. J. [1969].
3 WHO Model Lists of Essential Medicines.
Siehe www.who.int/selection_medicines/
committees/expert/18/applications/FDC_622.
pdf
4 Bactrim Patient Exposure, 1969-31 March
2011. F. Hoffmann-La Roche AG.
5 Bactrim-Umsätze 1969-2010. Historisches
Archiv Roche, im Folgenden abgekürzt HAR
FR.2.3.5 – 107395.
86
Das im Jahr 1969 eingeführte Heilmittel Bactrim von Roche fand
1977 Aufnahme in die von der Weltgesundheitsorganisation
WHO herausgegebene Liste der unentbehrlichen Medikamente.3
Bis zum 31. März 2011 wurden 1,884 Milliarden Menschen – es
sind auch wiederholte Therapien möglich – mit Bactrim behandelt.4 Bei annähernd zwei Milliarden Menschen heilte Cotrimoxazol Infektionskrankheiten der oberen und unteren Atemwege, der
Nieren und Harnwege, der Geschlechtsorgane und des MagenDarm-Trakts oder es brachte doch in den allermeisten Fällen
zumindest erhebliche Besserung.
Schematische Darstellung des Wirkmechanismus von Bactrim
SMZ = sulfamethoxazole
TM = trimethoprim
Dihydrofolic acid
reductase
Dihydrofolic acid
synthetase
SMZ
Para-aminobenzoic acid
+
Dihydropteridin
TM
Dihydrofolic acid
Tetrahydrofolic
acid
Synthesis of
purines
DNA
RNA
Wie unentbehrlich antiinfektive Mittel sind, zeigt die
Tatsache, dass heute noch immer ein Drittel der
Weltbevölkerung an Infektionskrankheiten stirbt.
Nach der Markteinführung wurde Bactrim zu einem wichtigen
Präparat für Roche und erzielte bis 2011 einen Gesamtumsatz
von beinahe 10 Milliarden Franken.5 Für den Basler Pharmakonzern bedeutete das Medikament damit kommerziell ein
Produkt von mittlerer Bedeutung. Was hingegen die segensreichen Auswirkungen auf die gesamte Weltbevölkerung betrifft,
so gehört Bactrim zu den ganz grossen Produkten: Mit ihm
gelang es den Ärztinnen und Ärzten in den letzten gut vierzig
Jahren, mehr Menschen vor dem Tode zu bewahren, als sämt-
87
Werbeanzeige aus der
Ärztezeitschrift «Image
Roche» für Gantrisin Roche
(Wirkstoff Sulfisoxazol). Das
Bild demonstriert die leichte
Löslichkeit des besonders bei
Harnwegsinfekten eingesetzten
Medikaments, 1969
liche Kriege der Weltgeschichte an Opfern gefordert haben
(siehe Geleitwort).
Gerhard Domagk,
1920er Jahre
Auch wenn wir heute den noch in den 1970er und 1980er gehegten
therapeutischen Optimismus bezüglich der Überwindung aller
Infektionskrankheiten nicht mehr teilen können, bildete Bactrim
doch eine entscheidende Wegmarke zu deren Bekämpfung.
Exemplarisch zeigen Entwicklung, Produktion und Vertrieb
von Bactrim beziehungsweise Septrin eine erfolgreiche Kooperation mit dem britischen Pharmaunternehmen Burroughs
Wellcome6 ; die erfreuliche Zusammenarbeit zum Nutzen beider Partner funktionierte dank ähnlicher Interessen, Strukturen
und – trotz kleinerer Reibereien und Unstimmigkeiten im schon
damals hart umkämpften globalen Pharmamarkt – bemerkenswert intensiver und letztlich fairer Absprachen.
Historisches Archiv Roche
Historisches Archiv Roche
Wenn wir den Umsatz mit der Anzahl Behandlungen in
Verbindung setzen, so kostete eine durchschnittliche
Therapie mit Bactrim etwa fünf Schweizer Franken –
wahrlich ein bescheidener Preis im Vergleich mit der
Rettung von vielen hundert Millionen Menschenleben.
Sir Alexander
Fleming
Später Einstieg in die Chemotherapie
6
1880 von Silas Burroughs und Henry
Wellcome gegründet, seit 1995 Glaxo
Wellcome, heute GlaxoSmithKline.
7 1896 von Fritz Hoffmann-La Roche in Basel
gegründet.
8 Die von Roche eingeführten antibakteriellen
Präparate heissen: Sulfa Mesarco,
PerOsCillin, Gantrisin, Madribon, Gantanol,
Fanasil, Rimifon, Cycloserin Roche, Bactrim,
Nibrisin, Rocephin, Tibirox, Lorecin, Coactin,
Trimpex, Globocef, Quinodis, Marbofloxacin.
88
Roche7 ist vergleichsweise spät in die Chemotherapie zur Behandlung bakteriologischer Krankheiten eingestiegen. Dennoch vermochte der Konzern in Basel und in Nutley/New Jersey nach dem
Zweiten Weltkrieg eine stattliche Anzahl wichtiger antibakterieller Präparate zu entwickeln.8 Die Sulfonamide als synthetisches
chemisches Arzneimittel haben allerdings andere Firmen in die
Behandlung eingeführt. 1935 entdeckte der deutsche Pathologe
und Bakteriologe Gerhard Domagk die bakterienschädigende
Wirkung des «Prontosil» rubrum, eines Sulfonamid-Farbstoffs.9
Domagk forschte in der Bayer AG10 innerhalb der Firma I.G.
Farben in Wuppertal-Elberfeld.
Die Entwicklung der natürlich gebildeten Antibiotika als
Stoffwechselprodukte von Pilzen oder Bakterien begann bereits
1929 mit der Entdeckung des Penicillins durch den schottischen
Bakteriologen Alexander Fleming in London.11 Grossbritannien,
die Vereinigten Staaten und ihre Alliierten haben dieses bedeutende antibakterielle Heilmittel gegen Ende des Zweiten Weltkriegs eingesetzt; Roche hatte auf diesem Markt kaum grosse Forschungschancen. Dennoch wurden in der Niederlassung Nutley
auf Wunsch der US-Regierung seit 1943 neben der florierenden
Vitamin-Produktion grosse Mengen von Penicillin hergestellt.
Nach 1945 zeigte sich aber rasch eine Übersättigung des Marktes, so dass Roche in den USA die Produktion wieder einstellte.
Lediglich das oral einzunehmende Präparat «PerOsCillin» konnte
sich noch eine gewisse Zeit halten.
Trotz solcher Enttäuschungen wurde im Bereich Antiinfektiva
intensiv weitergearbeitet; in Nutley an den fermentativen Prozes-
9
Domagk, Gerhard: Ein Beitrag zur
Chemotherapie der bakteriellen Infektionen.
In: Deutsche Medizinische Wochenschrift 61
(1935), S. 241-251. – Siehe auch Grundmann,
Ekkehard: Gerhard Domagk. The first man
to triumph over infectous diseases. Münster
2004.
10 1863 von Friedrich Bayer und Johann
Friedrich Weskott in Barmen gegründet.
11 Hobby, Gladys L.: Penicillin. Meeting the
Challenge. New Haven / London 1985. –
MacFarlane, Gwyn: Alexander Fleming. The
Man and the Myth. Cambridge/Mass. 1984.
89
Robert J. Schnitzer,
Roche Nutley
Historisches Archiv Roche
Historisches Archiv Roche
Historisches Archiv Roche
Hans Spiegelberg,
Roche Basel, 1966
sen, also an der Stoffumwandlung durch Gärung, in Basel an den
Synthesen antibiotischer Substanzen. Roche Basel verkaufte die
unter Hans Spiegelberg fabrikationsreif entwickelte Synthese des
Breitbandantibiotikums Chloramphenicol. Zusammenfassend ist
aber festzuhalten, dass die grossen Forschungsanstrengungen im
Bereich Antibiotika im Gegensatz zu den Sulfonamiden wenig
Früchte getragen haben.12
Dabei ging es in den ersten Jahren auch in der Sulfonamidforschung von Roche eher schleppend voran. Domagks «Prontosil»
konnte entgegen in Basel und Nutley gehegter Hoffnungen nicht
rasch durch ein besseres Produkt verdrängt werden.13 Doch im
Jahr 1949 gelang es der Firma, mit «Gantrisin» ein neuartiges
Sulfonamid anzubieten und damit künftig den Sulfonamidmarkt
wesentlich mitzugestalten. Es war dem aus Deutschland vertriebenen Chemiker Max Hoffer, zusammen mit Heinz Moritz Wüest,
schon 1944 in Nutley gelungen, den Wirkstoff Sulfisoxazol herzu-
Historisches Archiv Roche
Heinz Moritz Wüest (links) und
John J. Aeschlimann (rechts) im
Gespräch, Roche Nutley, 1942
90
stellen.14 Gantrisin bedeutete eine Wegmarke in der Chemotherapie und wird noch heute – trotz seitheriger Resistenzentwicklung
– wegen seiner guten Verträglichkeit in der Kinderheilkunde und
bei Harnwegsinfekten eingesetzt.
1952 führte Roche das von H. Herbert Fox synthetisierte und
von Emanuel Grunberg und Robert J. Schnitzer als Antituberkulosemittel erkannte Isonicotinsäurehydrazid als «Rimifon» ein
– damals ein Markstein in der weltweiten Tuberkulosebekämpfung. 1956 folgte mit dem D-Cycloserin ein weiterer antibiotisch
wirksamer Arzneistoff gegen die noch immer grassierende Volkskrankheit Tuberkulose, an dem auch Forscher anderer Firmen
mitwirkten. Aufgrund seiner Toxizität wird D-Cycloserin jedoch
nur als Mittel zweiter Wahl bei Resistenz gegen andere Antibiotika
eingesetzt.
An Gantrisin wurde, wie überhaupt an den Sulfonamiden,
in den 1950er Jahren bei Roche weiterhin intensiv geforscht und
so das isomere, so genannte «Iso-Gantrisin» gefunden. 1956
entdeckte man das «Azo-Gantrisin». Aufgrund der Studien des
Innsbrucker Chemieprofessors Hermann Bretschneider brachte
Roche 1959 das Sulfadimethoxin «Madribon» auf den Markt,
das vor allem in der Kinderheilkunde ein breites Spektrum mit
guter Verträglichkeit und langer Wirkungsdauer verband. Die
Ärztefaltblatt «Madribon –
Ambulante Langzeittherapie»,
1960er Jahre
12
Fehr, Hans: 3 mal 25 Jahre, Fragmente aus
der Roche-Geschichte, Sondernummer der
«Roche-Zeitung», Basel 1970, S. 70f.
13 Peyer, Hans Conrad: Roche. Geschichte
eines Unternehmens 1896-1996. Mit einem
Geleitwort von Paul Sacher. Basel 1996,
S. 137.
14 Rürup, Reinhard: Schicksale und
Karrieren. Gedenkbuch für die von den
Nationalsozialisten aus der Kaiser-WilhelmGesellschaft vertriebenen Forscherinnen
und Forscher. Unter Mitwirkung von Michael
Schüring. Göttingen 2008, besonders S. 230231.
91
Arbeitsbesprechung in den
1960er Jahren.
Mit dem Gesicht zur Kamera,
v.l.n.r.: O. Isler, A. Pletscher,
O. Schnider, H. Spiegelberg,
M. Montavon, E. Böhni
Bezeichnung «Madribon» stammte übrigens von einem früheren,
nicht realisierten Vitaminpräparat.15 Bei der systematischen Prüfung aller Isomeren des «Madribon» fand Bretschneider auch das
lange wirksame Sulfadoxin «Fanasil» für die Tropenmedizin, das
mittels Einnahme einer einzigen Tablette eine Woche lang wirkte.
Gantanol – in Japan entwickelt
Das 1962 eingeführte neue Sulfonamid «Gantanol», das für die
spätere Entwicklung von Bactrim so entscheidend werden sollte,
war vorerst keine Forschungsleistung von Roche. Vielmehr hatte
die Firma, in zweifellos rationaler Zukunftsplanung, aber auch
mit dem nötigen Quentchen Glück, den Wirkstoff Sulfamethoxazol der japanischen Pharmaunternehmung Shionogi & Co., Ltd.16
abgekauft. In den Laboratorien von Shionogi in Osaka war 1958
das «Sinomin» (Sulfamethoxazol) entwickelt worden. Es handelte
sich bei Sinomin beziehungsweise Gantanol um eine Abwandlung
92
des Gantrisins (nor-iso Analoges) mit mittlerer Wirkungsdauer
(vier Tabletten pro Tag). Sulfamethoxazol kam mit beträchtlichem Erfolg gegen Harnwegsinfekte und Lungenentzündungen
zum Einsatz.17 Noch spezifischer im Unterleib wirkte das Nachfolgeprodukt «Uro Gantanol».18
Die für längere Zeit letzte Entwicklungsstufe in der Chemotherapie gegen bakterielle Infektionskrankheiten erreichte man
1968 durch das zusammen mit Burroughs Wellcome entwickelte
Kombinationspräparat Bactrim.19 Dieses Breitbandtherapeutikum sollte sich auf dem Heilmittelmarkt der 1970er und 1980er
Jahre als eines der wichtigsten Roche-Präparate bewähren. Voraussetzung für die Entdeckung des Bactrims war die vorgängige
Firmengeschichte: Die Beruhigungsmittel Librium (1960) und
Valium (1963) erzielten spektakuläre medizinische und geschäftliche Erfolge. Sie waren von dem in Nutley forschenden Chemiker
Leo Sternbach synthetisiert worden und prägten Roche während
der ersten Hälfte der 1960er Jahre.20 Dank dieser Benzodiazepine
flossen der Firma wesentlich mehr Mittel zu, als durch die 1933
eingeführten synthetischen Vitamine. Hatte der Umsatz 1946
noch 221 Millionen Franken betragen, wuchs er bis 1965 auf über
zwei Milliarden Franken.21 Dies war neben der grossen Nachfrage nach den neuen Produkten auch eine Folge des allgemeinen
wirtschaftlichen Aufschwungs und des Ausbaus des Krankenversicherungswesens in den westlichen Staaten. Die so erlangten
Ärztefaltblatt «Uro-Gantanol»,
1960er Jahre
15
Peyer (1996), S. 185.
1878 von Gisaburo Shiono in Osaka
gegründet.
17 «Gantanol» Roche: sulfamide moderne,
d’action de durée moyenne, doué de toutes
les propriétés des produits supérieurs.
Bâle 1968.
18 Fehr (1970), S. 63.
19Ibid.
20 Baenninger, Alex: The life and legacy
of valium inventor Leo Sternbach. New
York 2004. – Sternbach, Leo H.: Die
Benzodiazepin-Story. Basel 1986.
21 Bürgi, Michael: Pharmaforschung im
20. Jahrhundert. Arbeit an der Grenze
zwischen Hochschule und Industrie.
Zürich 2011, S. 34.
16
93
Historisches Archiv Roche
Leo H. Sternbach mit Max Hoffer
im Labor Bau 25 in Nutley,
1940er Jahre
22
23
24
25
26
27
Stauffacher, Werner: Alfred Pletscher (19172006). In: Jahresbericht der Akademie der
medizinischen Wissenschaften. Basel 2006,
S. 20.
Peyer (1996), S. 213-273.
1946 in Stolberg gegründet von Hermann
Wirtz, Sitz in Aachen.
Freitag, Walburga: Contergan: eine
genealogische Studie des Zusammenhangs
wissenschaftlicher Diskurse und
biographischer Erfahrungen. Münster 2005.
Peyer (1996), S. 187-188. – Bürgi (2011),
S. 129-130.
Auszug aus dem Roche- und SapacGeschäftsbericht 1966, Beilage zur RocheZeitung 1966/2, o. S. [4].
94
finanziellen Möglichkeiten des Unternehmens führten vor allem
in Basel und Nutley zu einer expansiven Bautätigkeit, zu der
Suche nach neuen Arbeitsgebieten, vor allem aber auch zu einem
massiven Ausbau der Forschungsmöglichkeiten. Seit 1956 koordinierte die Roche Research Management Group (RRMG) die gesamte
Forschungsorganisation, die 1967 über einen Forschungsetat von
134 Millionen Franken verfügte. Verschiedene Projektgruppen
vereinigten die Vertreter der einzelnen Forschungsgruppen zur
Bearbeitung eines bestimmten Vorhabens. Als medizinischer
Forschungsleiter von Basel präsidierte der Arzt Professor Alfred
Pletscher22 auch seine Kollegen im amerikanischen Nutley und
im englischen Welwyn. Pletscher führte seine Mitarbeiter an der
langen Leine, hegte aber ähnlich ehrgeizige Zukunftsvisionen wie
der neue operative Gesamtleiter, der Urner Arztsohn und Jurist
Adolf Walter Jann.23
Zunehmende Auflagen für Prüfverfahren
Die Basler Abteilung für experimentelle Medizin gliederte sich in
Pharmakologie, Biochemie, Chemotherapie, Pathologie, Physio-
logie, Hämatologie sowie die Versuchstierfarm in Füllinsdorf auf.
Immer wichtiger wurde auch die Abteilung für klinische Prüfung
der Präparate, die mit Krankenhäusern und Universitätskliniken
auf der ganzen Welt zusammenarbeitete. Die durch den unbedachten Einsatz des Schlaf- und Beruhigungsmittels «Contergan»
des deutschen Unternehmens Grünenthal GmbH24 verursachten
entsetzlichen Missbildungen Neugeborener löste einen Schock in
der Gesellschaft aus und führte seit 1961 zu wesentlich strengeren
Auflagen der staatlichen Kontrollbehörden.25 Speziell die Food
and Drug Administration (FDA) der USA erliess auf Weisung des
Kongresses verschärfte Zulassungsbedingungen für neue Medikamente und beanspruchte das Bewilligungsrecht für klinische
Tests. Neu bestimmte diese Behörde die wissenschaftlichen Verfahren, die Qualifikation des Personals, verlangte toxikologische
Versuche und auch Studien, wie die Arzneimittel im Organismus
verändert oder abgebaut wurden.26 Diese Auflagen sollten die
Entwicklungsphase bis zur Markteinführung von Bactrim nachhaltig prägen.
Der hohe Stand der westlichen Pharmaindustrie machte es
bereits damals immer schwieriger, neuartige und wesentlich
bessere Medikamente zu entwickeln. Die Entscheidung, ob
ein Präparat alle Kriterien bezüglich Wirksamkeit und den
Grad der zu verantwortenden Nebenwirkungen erfüllte, war
erst nach umfangreichen Studien möglich. Schon Mitte der
1960er Jahre waren zur Prüfung eines Medikaments die
klinischen Ergebnisse von 10 000 und mehr Patienten erforderlich. Eine Dauer von fünf Jahren vom Zeitpunkt der Synthese an bis hin zur Marktreife waren durchaus realistisch.27
Bei allem Verständnis für verantwortungsvolle Bewilligungsverfahren äusserte der Verwaltungsratspräsident von Roche, Adolf
Walter Jann, deutliche Kritik an ausufernden wissenschaftlichen
Prüfungen und geradezu unsinnigen Kontrollanforderungen
staatlicher Behörden, hinter denen er den Missbrauch für protektionistische Ziele vermutete. So mussten zahlreiche Versuche
95
und Tests im jeweiligen nationalen Rahmen wiederholt werden,
was einen riesigen bürokratischen Aufwand erforderte, Forschungsressourcen verschleuderte, die Medikamente verteuerte
und kleinere Firmen zum Aufgeben zwang.
1970 beschäftigte Roche in der Forschung weltweit etwa
3500 Personen.28 In Basel arbeiteten damals 300 Akademiker
mit durchschnittlich je drei Mitarbeitern in der Forschungsabteilung, also insgesamt 1200 Personen. Jährlich wurden 5000
neue Verbindungen synthetisiert, wobei nur etwa 30 das Stadium
der klinischen Prüfung erreichten und die Firma sich glücklich
schätzte, wenigstens zwei Präparate zur Marktreife zu führen.
Forschungschef Alfred Pletscher meinte denn auch am Chemistry
Meeting 1970:
Historisches Archiv Roche
Die Laboratorien des Instituts
für Immunologie (BII), in denen
auch Struktur und Funktion
der Antikörper untersucht
wurden, waren zweistöckig
angelegt und mit einer
Wendeltreppe verbunden, um die
Kommunikation zwischen den
Labors zu erleichtern (1971)
«Erfolgreiche Arzneimittel sind rar wie wundervolle Perlen. Ich bin
überzeugt, dass mit Individualismus die Chancen grösser sind
als mit Uniformität, dass wir solche köstliche Perlen finden.»29
28
29
30
31
32
33
34
35
36
Jann, Adolf W.: Auszug aus der
Präsidialadresse, in: Roche-Nachrichten 3
(1965), o. S. [4] – Fehr (1970), S. 73.
Isler, Otto: «Rückblick – Ausblick», Rapport
No. 71’855, Weihnachtskolloquium VI/
Chemie vom 23.12.1970, Mskr., 8.1.1971.
Bürgi (2011), S. 10.
Beide heute nicht mehr bestehend, siehe
Bürgi (2011), S.125-126.
Geschäftsbericht der F. Hoffmann-La Roche
& Co., 1962, S. 7.
Geschäftsbericht der F. Hoffmann-La Roche
& Co., 1963, S. 10.
Bürgi (2011), S. 130.
Referat von Kurt Feinstein, «RRMG» 1969,
S. 5. HAR FE.0.4 - 101129c. – Bürgi (2011),
S. 131.
Peyer (1996), S. 190.
96
Die Anfänge des Heilmittels Bactrim spielten sich vor dem
Hintergrund der allmählichen Umstellung von der Chemie zur
Biologie als Leitwissenschaft der industriellen Pharmaforschung
ab.30 Im Gegensatz zu den Chemikern zeigte sich, dass viele
junge Biowissenschaftler einer industriellen Tätigkeit skeptisch
bis ablehnend gegenüberstanden. Um diesen Graben zwischen
akademischer Grundlagenforschung und Industrieforschung
zu überwinden, gründete Roche 1967 in den USA (Nutley, NJ)
das Roche Institute of Molecular Biology (RIMB), kurz darauf in
Basel das Basel Institute for Immunology (BII). Auch herrschte
nach einem eigentlichen Pharmaschub in den 1950er Jahren,
der eine Vielzahl neuer Präparate hervorbrachte, in den 1960er
Jahren weltweit eine gewisse Innovationskrise. Davon war die
Firma Roche nicht ausgenommen, und sie machte sich Sorgen,
weil es ihr beispielsweise nicht gelang, genügend chemisch völlig
neuartige Spezialitäten auf den Markt zu bringen.32 Die Geschäftsleitung war darüber beunruhigt, dass mittlerweile tausende von
neuen chemischen Verbindungen geprüft werden mussten, bis
man eine zur Therapie geeignete Substanz gefunden hatte.33 Auch
die Forschungsarbeiten im Gebiet der Virologie erwiesen sich als
undankbar und stagnierten ohne einen Durchbruch in Form eines
Historisches Archiv Roche
Biologie statt Chemie als Leitwissenschaft
verkaufsfähigen Medikaments.34 Valium und Librium machten im
Jahre 1968 beängstigende 62% des gesamten Pharma-Umsatzes
aus. Die Verkaufsabteilung sprach im Zusammenhang mit diesem
riskanten Zustand von «zu vielen Eiern in einem Korb».35 Innerhalb von etwa zehn Jahren drohte der Ablauf der entsprechenden Patente, und damit bestand die dringende Notwendigkeit,
ertragreiche Nachfolgeprodukte auf den Markt zu bringen. Dies
war umso mehr angezeigt, als sich zeitgleich die Diskussion um
Nebenwirkungen und Suchtpotential von Beruhigungsmitteln
entfachte.36
Roche Institute for Molecular
Biology (RIMB), Nutley, New
Jersey, 1968
97
Mit effizienteren Testverfahren und besserer Erforschung der
biologischen Krankheitsursachen solle systematischer nach
Heilmitteln gesucht werden. Die Biologie – etwa die Stoffwechseluntersuchung von Bakterien – gehöre an den Anfang
jeder Arzneimittelentwicklung. Gerade angesichts verschärfter
Prüfungsanforderungen bei der Medikamentenzulassung
seien die Kosten der Entwicklung enorm gestiegen; Roche
müsse sich jeweils schon zu Beginn des Forschungsprozesses genaue Vorstellungen über die pharmakologische
Wirkung einer Substanz im menschlichen Körper machen.38
Gegenwehr der Chemiker
Die Chemiker leisteten gegen solche Zukunftsvisionen entschiedene Gegenwehr. Otto Isler39, der verdiente Vitaminforscher und
Chef der chemischen Forschungsabteilung, wies energisch auf
die Bedeutung der chemisch hergestellten Medikamente und
deren Verkaufserfolg für das Unternehmen hin. Er verwahrte sich
deutlich gegen biologische Theorien und Spekulationen, die mit
der Realität wenig zu tun hätten.40 Isler war sich aber durchaus
bewusst, dass mit der Chemotherapie für eine Pharmafirma Geld
98
Historisches Archiv Roche
Die Tranquilizer Librium und Valium, die Vitaminpräparate –
sowie immerhin bereits an dritter Stelle – die antibakteriellen
Sulfonamide, bildeten damals die Haupteinnahmequellen von
Roche. Es ging in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre darum,
neben dem einseitigen, risikobehafteten Verkaufserfolg der Benzodiazepine ein zusätzliches Standbein aufzubauen. Im Gremium
der Roche Research Management Group (RRMG), in der die Leiter der Forschungs- und Fabrikationsabteilungen der Standorte
Schweiz, USA und Grossbritannien vertreten waren, wurde eine
Neuausrichtung der Forschung verlangt.37 Drei Wissenschaftler
aus der Niederlassung im englischen Welwyn wiesen darauf hin,
dass die Chemiker die biologische Wirkung ihrer synthetisierten
Produkte nicht voraussagen könnten. Darum müsse die biologische Forschung zulasten der herkömmlichen chemischen
Aktivitäten ausgebaut werden.
Otto Isler in seinem Labor, 1975
zu verdienen sei und hatte sogar die Tuberkuloseforschung bei
Roche als eigentlicher Promotor angeregt.41 Arnold Brossi, der
Leiter der chemischen Forschung in Nutley (USA), äusserte zum
biologischen Ansatz ebenfalls eine gewisse Skepsis und meinte,
Erfolg und guter Ruf der Firma Roche seien den Erkenntnissen
der klassischen Synthesechemie zu verdanken, und grosse Investitionen in die biologische Forschung seien nicht angebracht.42
Dennoch zeigte die weitere Entwicklung, dass sich die Vertreter
der chemischen Disziplin in der Defensive befanden. Dies offenbarte sich auch augenfällig, als 1967 mit Alfred Pletscher erstmals
ein Mediziner und biomedizinischer Wissenschaftler die Leitung
der gesamten Konzernforschung übernahm.43
Otto Isler mag sich als Chemiker später etwas gerächt haben,
indem er die Bedeutung der Roche-Forschung bei der Konzeption
von Bactrim fast gänzlich in Frage stellte und den Forschungserfolg
hauptsächlich dem Wellcome-Konzern zuerkannte. Tatsächlich
warb der amerikanische Biochemiker George H. Hitchings, Forschungschef von Burroughs Wellcome in Tuckahoe, New York,
37
38
39
40
41
42
43
Pletscher, Alfred: 25 Jahre Roche-Forschung.
Erlebte Geschichte. In: Forschung bei Roche.
Rückblick und Ausblick. Hg. von Jürgen
Drews und Fritz Melchers. Basel 1989,
S. 44-45. – Bürgi (2011), S. 131.
Bürgi (2011), S. 132-134.
Brönnimann, R[oland]: Zum Hinschied von
Dr. Otto Isler. In: Chimia 46 (1992), S. 449. –
Notizen von einem Besuch bei Dr. Otto Isler.
In: Roche-Magazin 38 (1991), S. 36-46.
Isler, Otto: Continuity in Chimistry Research“,
5.6.1969. HAR FE. 0.4 - 103593 a. – Bürgi
(2011), S. 134-135.
Eine Frau von Format [Erika Böhni]. In:
Roche-Magazin 45 (1993), S. 46.
Weissbach, Herbert: Reflections on the Roche
Institute of Molecular Biology after 20 years.
In: Forschung bei Roche. Rückblick und
Ausblick. Hg. von Jürgen Drews und Fritz
Melchers. Basel 1989, S. 231-259, hier
S. 245-246.– Bürgi (2011), S. 135.
Peyer (1996), S. 222.
99
44
Isler (1971), S. 21f.
Turney, Jon: Rational drug design: Gertrude
Elion and George Hitchings. London 2011.
Autobiographie von Hitchings siehe
www.nobelprize.org/nobel_prizes/medicine/
laureates/1988/hitchings-autobio.html
46 Gegründet 1758, seit 1970 Ciba-Geigy AG,
seit 1992 Ciba AG, seit 1996 Novartis AG.
47 Gegründet 1883 als Gesellschaft für
chemische Industrie Basel, seit 1945 unter
Name Ciba, seit 1970 Ciba-Geigy AG, seit
1992 Ciba AG, seit 1996 Novartis AG.
48 Roche, Interne Mitteilung Nr. 366.
49 Protokoll der Informationssitzung, 29.9.1965.
45
100
Trimethoprim von Burroughs Wellcome
1953 erfolgte die Patentierung des Antibiotikums Trimethoprim,
dessen Wirkung gegen bakterielle Infektionen Hitchings und
Elion 1956 entdeckten. Das Medikament vermochte den FolsäureStoffwechsel von grampositiven und gramnegativen Keimen zu
hemmen und wurde von Burroughs Wellcome zur Therapie von
unkomplizierten Harn- und Luftweginfekten eingesetzt. In den
frühen 1960er Jahren begannen recht intensive Forschungskontakte zwischen Wellcome und Roche. Wellcome hatte zuvor den
Basler Firmen J. R. Geigy AG46 und Ciba AG47 vergeblich angeboten, im Bereich Trimethoprim zusammenzuarbeiten. Beide
lehnten ab, da sie die toxischen Wirkungen des Produkts für
unverantwortlich hielten. Auch als sich Wellcome 1963 an Roche
wandte, war die Skepsis vor allem bei den Mikrobiologen gross.
Die Kliniker liessen sich aber rasch von der bakterientötenden
Wirkung des Antibiotikums überzeugen. Die Forschungsleitung
zeigte sich ebenfalls offen in dem Bewusstsein, dass die bislang
eingeführten chemotherapeutischen Präparate wie Gantrisin,
Rimifon, Madribon und Gantanol einen wesentlichen Bestandteil
des Geschäftserfolgs bildeten. Allerdings wurde in einer internen
Mitteilung Mitte der 1960er Jahre vor den damaligen Verhältnissen auf dem Antiinfektiva-Markt im Allgemeinen und bei
den Sulfonamiden im Speziellen gewarnt.48 Es erfüllte die Verantwortlichen mit Sorge, dass die Sulfonamide gegenüber den
Antibiotika in der Defensive waren.49 Das von Roche entwickelte
Sulfadoxin Fanasil stelle ein Sulfonamid mit teilweise völlig neuen
Eigenschaften dar, weshalb sich seine Zukunftschancen auf dem
Markt nur schwer voraussagen liessen; es überwögen dennoch
Wellcome Trust, Wellcome Images
Historisches Archiv Roche
Arnold Brossi,
1973
viele Jahre mit theoretischen Argumenten und guten Tierversuchen vergeblich für die Kombination von Sulfonamiden. Man
schenkte ihm erst Glauben, als klinische Prüfungen erstaunliche
Erfolge zeigten.44 Hitchings stellte ein bedeutendes wissenschaftliches Aushängeschild für Wellcome dar, war er doch neben manch
anderen Entdeckungen auch Schöpfer des Leukämie-Heilmittels
Mercaptopurin und des Pyrimethamins gegen die Infektionskrankheit Toxoplasmose. Für seine Verdienste um die medikamentöse Bekämpfung der Infektions- und Krebserkrankungen
empfing er 1988, zusammen mit seiner Mitarbeiterin Gertrude
B. Elion, den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin.45 Roche
hatte es also im Fall von Burroughs Wellcome mit erstklassigen
Wissenschaftlern zu tun.
George Herbert Hitchings (1905-1998) und
Gertrude Belle Elion (1918-1999) im Jahr
1988. Sie arbeiteten während 30 Jahren in
den Forschungslaboratorien von Burroughs
Wellcome in den USA zusammen. Aufgrund ihrer
bahnbrechenden Arbeiten auf dem Gebiet der
Medikamentenentwicklung erhielten sie 1988 den
Nobelpreis für Medizin oder Physiologie
101
die positiven Merkmale, die es zu einem wertvollen Medikament
mit guten Marktaussichten machten. Immerhin sollte Fanasil
später zu den von der Weltgesundheitsorganisation WHO als
unentbehrlich bezeichneten Medikamenten – speziell gegen
Cholera – gehören.50
Erstaunlich wirksame Kombination
Nun drängte man in Basel darauf, noch wirksamere Arzneien zu
erforschen, zu erproben und zum klinischen Einsatz zu bringen.
Ein halbes Jahr lang wurde in den Laboratorien geprüft und
schliesslich entdeckt, dass die Kombination des Antibiotikums
Trimethoprim mit dem Sulfonamid Sulfamethoxazol (Gantanol)
ganz besondere Eigenschaften ergab.
Die antibakterielle Wirkung in den Petrischalen
erwies sich als erstaunlich und höchst interessant:
Eine Potenzierung zweier antibakterieller Substanzen
erschien vorerst unglaublich und nie dagewesen.51
Ausgedehnte Laborversuche liessen die Aktivität von Trimethoprim (TM) und Sulfamethoxazol (SMZ) alleine sowie in Kombination, und zwar gegen eine Reihe von entsprechend gefärbten
grampositiven und gramnegativen Bakterien, erkennen. Auf den
mikrobiologischen Testscheibchen (Disks) zeigte sich, dass die
keimfreien Zonen in Kombination grösser waren, als bei den
Einzelkomponenten. Zum selben Ergebnis führten Experimente
an Mäusen, die mit dem Bakterium Escherichia coli , dem häufigsten Erreger von Darminfekten, infiziert worden waren. Ebenfalls
ein Potenzierungseffekt zeigte sich in Mäuseversuchen beim
Streptococcus pneumoniae , dem häufigsten Erreger von Lungenentzündungen, der auch an andern Krankheitsbildern wie Hirnhautentzündung und Endokarditis beteiligt ist. Die Forscherinnen
und Forscher waren nicht nur von der Wirkungsintensität beeindruckt, sondern auch von der Wirkungsbreite der Kombination
von TM und SMZ. Deren antibakterieller Effekt erstreckte sich
auf ein überaus breites Erregerspektrum und erwies sich gegenüber bislang bekannten Breitbandantibiotika wie Ampicillin,
Tetracycline, Penicillin G, Chloramphenicol oder Phenethicillin
zumindest als ebenbürtig: Empfindlich auf das neue kombinierte
102
Präparat reagierte ein breites Spektrum von Bakterien, welche
Infektionskrankheiten der Atemwege, des Magen-Darm-Trakts,
des Urogenitaltrakts, der Haut und Weichteile sowie andere
Infektionen verursachen.52
Bald wurde die Kooperation zwischen den beiden Firmen
intensiviert; es kam zu immer neuen Gesprächen in Basel und
London. Im Sommer 1966 stellte die damals 44 Jahre alte Mikro­
biologin Erika Böhni ihre Forschungsergebnisse vor. Sie hatte
ihren englischen Vortrag auswendig gelernt und präsentierte eindrückliche Dias. Emanuel Grunberg, Leiter der chemotherapeutischen Forschung in Nutley, zeigte sich gemäss Böhnis Tagebuch
«so erfreut und erregt, dass er aufstand und sagte, er hätte gar nicht
gewusst, dass wir so etwas machten».53 Der sonst zurückhaltende
Giuseppe Reggiani, einer der bedeutendsten klinischen Forscher
bei Roche, nickte der Referentin das erste Mal beifällig zu.54
Der Vertrag mit Wellcome sollte schliesslich drei spezifisch
genannte Pyrimidin-Potentiatoren von Wellcome und zwölf
Sulfonamide von Roche umfassen. Man verpflichtete sich zur
gegenseitigen Information über neue galenische Fortschritte oder
Dosierungen. Auch der Austausch wissenschaftlicher Dokumente
war vorgesehen, wobei man in Basel streng darauf achtete, nur
Informationen und Verbindungen preiszugeben, die wirklich
Gegenstand der Zusammenarbeit waren.55
Roche und Wellcome wiesen als forschungsorientierte Unternehmen ein ähnliches Profil bei der pharmakologischen Kompetenz auf und verfügten über eine ähnliche, auf die Medizin
fokussierte Firmenkultur. Beide Unternehmen gehörten in der
globalen Welt der Heilmittelindustrie zu den wichtigsten Mitspielern und strebten nach höchster pharmakologischer Kompetenz
Der synergistische Effekt
von Bactrim wird mit einem
Sensibilitätstest mittels Disks in
einer Kultur von Staphylococcus
aureus sichtbar gemacht. Unten
links Sulphamethoxazol, unten
rechts Trimethoprim
50
WHO Model Lists of Essential Medicines.
Siehe www.who.int/selection_medicines/
committees/expert/18/applications/FDC_622.
pdf
51 Eine Frau von Format (1993), S. 45.
52 «Bactrim» Roche [1969], S. 23-25.
53 Böhni, Erika: Tagebuch Nr. VIII, Mskr.,
27.6.1966, [o. S.]. Nachlass Erika Böhni bei
Ernst Böhni, Stein am Rhein. Ich danke Herrn
Stadtrat Ernst Böhni ganz herzlich für die
Gewährung der Einsicht in die Tagebücher.
54Ibid.
55 Roche, Interne Mitteilung von M. Fernex
und H. Neumann, 10.12.1975. HAR FE.2.1 103531 o.
103
Ultimatum aus London
Im Herbst 1967 wurde in Basel die Projektgruppe «antibakterielle
Stoffe» gebildet und deren Leitung der Mikrobiologin Erika Böhni
übertragen. Der Hauptauftrag an die Gruppe lautete kurz und
bündig: Verteidigung der Roche-Sulfonamide und Suche nach
neuen antibakteriellen Stoffen.59 Böhni war anfänglich bezüglich
der Toxizität von Trimethoprim ebenfalls skeptisch, denn sie
fürchtete wie andere, dass die Potenzierung der Wirkung mit
einer Potenzierung der Toxizität einhergehen könnte. Die Laborversuche der Kombination von Trimethoprim mit dem Wirkstoff
von Gantanol, Sulfamethoxazol, offenbarten ihr aber zunehmend
überzeugende Resultate.
Manchmal blieben die Petrischalen, in denen man
die Hemmhöfe untersuchte, völlig sauber von jeglichem bakteriellen Bewuchs – als so effektiv erwies
104
sich die antibakterielle Wirkung. Dennoch wussten
die Forscher noch nicht, ob die Versuche jemals zu
einem verkaufsfähigen Präparat führen würden.60
Bald zeigte sich, dass eine Kombination von fünf Teilen Sulfamethoxazol zu einem Teil Trimethoprim in so geringen Mengen
verabreicht werden konnte, dass die Toxizität vertretbar erschien.
Doch selbst die ersten klinischen Prüfungen überzeugten die
kritischen Wissenschaftler noch nicht, und sie befürchteten,
Trimethoprim könne das Sulfonamid Gantanol und damit den
guten Ruf von Roche gefährden. Trotz zunehmender Begeisterung
von Erika Böhni behielten die Vorsichtigen in der Forschungsabteilung mit ebenfalls ernstzunehmenden Argumenten recht
lange die Oberhand. Ende 1966 stellte Burroughs Wellcome
aber ein Ultimatum und verlangte die rasche gemeinsame Einführung des Kombinationspräparats. Andernfalls – so drohte
London unverhohlen – würde Wellcome die Markteinführung
im Alleingang vorantreiben. Plötzlich kam gewaltige Bewegung
in das Projekt. Die kommerzielle Abteilung wollte die grossen
bisherigen Anstrengungen keineswegs vergeblich unternommen
haben.61 Dies bedeutete für Roche Basel enorme Anstrengungen.
Nach einem Tiefstand in den Jahren 1964/65 bildete der Bereich
Chemotherapie jetzt wieder einen Schwerpunkt des gesamten
Forschungsaufwandes und wurde auch personell verstärkt.62 Nach
einem Gespräch mit Direktor Otto Isler, der Erika Böhnis allzu
grosse Arbeitslast ebenso wie ihre Bedeutung für das Projekt
feststellte, vertraute Böhni ihrem Tagebuch an: «Ich merke, dass
viel von der antibakteriellen Chemotherapie erwartet wird.»63
Erika Böhni, im Grunde mehr «Macherin» als Forscherin,
zeigte sich bei der Propagierung des neuen Präparats ganz in
ihrem Element und voll auf der Höhe ihrer Aufgabe.64 Einmal von
einer Sache überzeugt, kannte sie keine Widerstände. Energisches,
rasches Vorgehen wurde nun in Basel zur obersten Maxime. Denn
als es darum ging, die Gebiete der Einführung zwischen Roche und
Burroughs Wellcome aufzuteilen, zeigte sich, dass Wellcome nur in
vergleichsweise wenigen Ländern vertreten war. Roche hatte sich
indessen seit der Firmengründung 1896 kontinuierlich ein dichtes,
globales Distributionsnetz aufgebaut und wurde darum in Bezug
auf die Markteinführung zum unbestrittenen Leader.65 In manchen
Ländern – etwa in Grossbritannien oder Neuseeland – wurde eine
gemeinsame Lancierung von Bactrim und Septrin vereinbart.
Historisches Archiv Roche
und Exzellenz. Speziell die Forschungsabteilungen und deren
Philosophien waren ähnlich ausgerichtet. Dennoch gab es selbstverständlich beträchtliche kulturelle Unterschiede zwischen dem
1880 gegründeten Londoner Unternehmen56 und der 1896 am
Basler Rheinknie eröffneten pharmazeutischen Fabrik. Die Verhandlungspartner in der britischen Metropole waren von weltläufiger Kultiviertheit, und Wellcome erwies sich als vornehme, elegante Firma, die noch immer von der Tradition der Kolonialzeit
geprägt war. Die vergleichsweise ans «Republikanisch-Schlichte»
gewöhnten Basler spürten in den Räumlichkeiten aus Mahagoni
und Marmor einen Hauch des vergangenen Imperialismus.57 Sie
waren von dem ungewohnten Umfeld durchaus beeindruckt
und empfanden die britischen Gastgeber als «höflich, nett, doch
bestimmt und präzis, sie sagen’s nur so ruhig und höflich», wie
Erika Böhni es in ihrem Tagebuch umschrieb. Weiter führte sie
aus: «Es fällt mir überhaupt auf, wie geschlossen die Wellcome
vorgehen, wie sicher und wie ruhig, auch in den bedrohlichsten
Lagen. Und darum werden sie dereinst die Welt wieder in ihre
Hände bekommen wegen dieser überlegenen Ruhe, die auf die
Praxis eines Handelsvolkes seit uralten Zeiten zurückgeht. Es sind
auch Seeräubertypen darunter, die haarscharf denken, sich nie
vergessen und aufbrausen, ‘but we shall go ahead’.»58
Erika Böhni,
1975
56
57
58
59
60
61
62
63
64
65
Church, Roy / Tansey, E. M.: Burroughs
Wellcome & Co.: Knowledge, trust, profit
and the transformation of the British
pharmaceutical industry. Lancaster 2007. –
Coe, Fred A.: Burroughs Wellcome Co. 18801980: pioneer of pharmaceutical research.
New York 1980.
Eine Frau von Format (1993), S. 45.
Böhni, Tagebuch Nr. VIII, 28.6.1966 [o. S.].
«Antibakterielle Stoffe», Protokoll Nr. 1,
10.10.1967, S. 1. HAR FE.0.3 - 103534 a.
Eine Frau von Format (1993), S. 45.
Ibid., S. 45.
Waldvogel, G[uy]: Bericht über mittelfristige,
projekt-orientierte Planung in der
Forschungsabteilung, 23.12.1968, S. 4. HAR
FE.0.4 - 103593 g, h.
Böhni, Tagebuch Nr. VIII, 29.10.1967, [o. S].
Interview mit Dr. Peter Anghern,
9. März 2012.
Eine Frau von Format (1993), S. 45.
105
Historisches Archiv Roche
Bernhard Fust,
1968
Erika Böhni – die «Miss Bactrim»
106
und promovierte 1949 mit einer Arbeit über die Bitterfäule an Kirschen.68 Nach kürzerer Tätigkeit in einigen
kleineren Firmen trat die 29-Jährige 1951 in die Dienste von Roche, wo sie bis zur Pensionierung 1984 volle
33 Jahre bleiben sollte. Sie begann als Mitarbeiterin
in der Basler Tuberkulose-Forschung bei Bernhard
Fust.69 Das von Roche 1952 eingeführte Tuberkulosemedikament Rimifon war ein so grosser wissenschaftlicher Erfolg, dass es in den Folgejahren zur sicheren
Basis der Abteilung und zu einer globalen Visitenkarte
für Roche auf dem Gebiet der antibakteriellen Chemotherapie wurde.
Der Bereich Chemotherapie war zuerst in der «Villa
Glaser» untergebracht, die später durch den modernen Bau 70 am Rheinufer ersetzt wurde. «Fräulein
Doktor Böhni» beherrschte die ihr unterstellten Labors
im Parterre des Forschungsbaus mit starker Hand. Sie
war eine geachtete, ja zuweilen gefürchtete Persönlichkeit, energisch, unermüdlich und temperamentvoll.
Mit ihren Ansichten hielt sie nie zurück, sondern äusserte sie direkt und unverblümt.70 Als Frau von Format und gesundem Menschenverstand war sie die
dritte Roche-Mitarbeiterin, die in der von Männern
dominierten Firma in die Direktionsetage aufstieg.71
Sie schrieb über Madribon72 und war nicht nur an
66
67
68
69
70
71
72
Historisches Archiv Roche
Die zupackende Bauerntochter Erika Böhni stand
1967 vor einem praktisch unbeackerten Feld. Zwar lagen sechs Jahre Experimente mit der Kombination von
Trimethoprim und Sulfamethoxazol hinter ihr, aber es
war noch nichts publiziert worden. Das Frühjahr 1969
wurde zum arbeitsreichsten ihres Lebens. Ostern, Auffahrt, Pfingsten, überhaupt jedes freie Wochenende
war Böhni damit beschäftigt, Publikationen, Vorträge
und Rapporte zu schreiben. Das rasche Arbeiten lag
ihr ausgesprochen; allzu exakten Zauderern gegenüber konnte sie durchaus ungeduldig werden.66
Erika Böhni wurde durch hartnäckigen Forschungseinsatz, Veröffentlichungen und Vortragsreisen zur wichtigsten Förderin, ja zum «Gesicht» des neuen Heilmittels «Bactrim». Die Roche-Mitarbeiter nannten sie
mitunter gerne «Miss Bactrim».67 Sie war am 13. Januar 1922 als Tochter eines Landwirts und Enkelin eines
Arztes im Städtchen Stein am Rhein geboren worden und behielt zeitlebens ihren unverwechselbaren
Schaffhauser Dialekt bei. Dort wuchs sie auf, absolvierte die Primarschule und danach die Kantonsschule
in Schaffhausen. Von 1941 bis 1947 studierte sie als
eine der ganz wenigen Frauen Biologie an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich, wo sie
sich zudem eine solide chemische Ausbildung erwarb,
Villa Glaser Bau 23 mit dem
Roche-Hochhaus Bau 52 im
Hintergrund, 1962. Einige Jahre
später wurde das ehemalige
Privathaus, das von Roche
Basel zu Laboratorien und
Büros umfunktioniert wurde,
abgerissen. Die neu gegründete
mikrobiologische Abteilung
unter der Leitung von Erika
Böhni zog zunächst hier ein
73
74
75
Ibid., S. 45. Interview mit Dr. Peter Anghern,
9. März 2012.
Interview mit Dr. Peter Anghern, 9. März
2012.
Böhni, Erika: Untersuchungen über die
Bitterfäule an Kirschen. Langensalza 1949.
Fust, Bernhard: Bericht über das Symposion
vom 28./29. November 1952 in Basel
[der] Gesellschaft Schweizerischer
Tuberkuloseärzte, Team zur klinischen
Prüfung von Rimifon. Unter Mitarb. von W.
Hausheer, M. Walter u.a. Basel 1952. – Fust,
Bernhard: Therapie der Tuberkulose mit
Isoniazid (Rimifon). Unter Mitarb. von E.
Böhni und W. Hausheer u.a. Bern 1953.
Vom Genuss, der Phantasie freien Lauf
lassen zu dürfen. Erika Böhni, ehemalige
Mikrobiologin bei Roche, lehrt Kinder
das Staunen vor den Wundern der Natur.
Steckenpferde (11). In: Roche Nachrichten 6
(1986), S. 5.
Zum Gedenken. Erika Böhni. In: Basler
Zeitung, 27.4.1999, S. 30.
Böhni, Erika: Tolerance and antibacterial
properties of 2,4-dimethoxy-6-sulfanilamido1,3-diacine ‚Madribon’ and some other
sulfonamides. In: Antibiotic medicine and
clinical therapy. New York 1959, S. 3-10.
Eine Frau von Format (1993), S. 46.
Vom Genuss (1986), S. 45.
Roche. Aus Tradition der Zeit voraus. Konzept
und Texte von Alexander L. Bieri. Basel 2008,
S. 26. – Guillet, Arnold: Dr. Erika Böhni zum
Gedenken. In: Steiner Anzeiger 13 (1999). –
Eine Frau von Format (1993),
S. 40-47.
107
108
Betriebsjubiläum bei Roche,
1976, Erika Böhni zusammen mit
Peter Angehrn (links) und Rudolf
L. Then (rechts)
Erika Böhni in ihrem Heim
in Stein am Rhein. Sie
liest in dem von ihr selbst
verfassten Kinderbuch
«Der Fischreiher», 1986
Historisches Archiv Roche
Ernst Böhni, Stein am Rhein
der Entwicklung des Chemotherapeutikums Bactrim,
sondern später auch am Antibiotikum Rocephin beteiligt. Im Bewusstsein, dass sich Bakterien auch an den
Wochenenden teilen und kontrolliert werden müssen,
suchte sie sich eine Wohnung in der Nähe des Werkgeländes; jahrelang traf man sie auch Samstags und
Sonntags im Labor an.73 Den Höhepunkt ihrer wissenschaftlichen Karriere erreichte Böhni nach eigenem
Bekunden aber mit den Forschungs- und Entwicklungsarbeiten rund um Bactrim. In ihrer Begeisterung
über die sich gegenseitig potenzierende Wirkung der
beiden Wirkstoffkomponenten Sulfamethoxazol und
Trimethoprim meinte sie rückblickend: «Man dachte,
jetzt spinnt die Böhni. Bis dann die Tatsache von anderen Bakteriologen bestätigt wurde. Es war eine tolle
und aufregende Zeit.»74
Nach ihrer Pensionierung schaute Erika Böhni ein für
allemal vom Mikroskop auf und wollte keine Mikroorganismen mehr sehen, sondern Pflanzen und Tiere,
kurz, die Natur als sinnvoll ineinander greifendes Ganzes. Zurück im stattlichen Elternhaus in Stein am Rhein
schrieb sie ein 77 Seiten umfassendes Kinderbuch
über den Fischreiher, der in der Rheinlandschaft zum
Alltag gehört. Das Buch wurde durch ihre Streifzüge
mit Grossnichten und Grossneffen durch die Natur
angeregt, wobei sich die Autorin bestrebte, naturwissenschaftliche Erkenntnisse weder zu simpel noch zu
kompliziert darzustellen. Als wirklich kindergerecht gelungenes Werk kann dieses durch die Autorin eigenhändig illustrierte Projekt freilich kaum bezeichnet werden. Erika Böhni verstarb am 3. Februar 1999 im Alter
von 77 Jahren im Haus ihrer Vorfahren.75
Ernst Böhni, Stein am Rhein
Feier zu Erika Böhnis 25jährigem
Betriebsjubiläum bei Roche,
1976. Die Dekoration bezieht
sich auf ihre Liebe zur Natur.
Erika Böhni war eine anerkannte
Expertin auf dem Gebiet der Pilze,
auf dem Bild im Hintergrund wird
sie als «Kräuterhexe» dargestellt
109
Ermutigende klinische Versuche
76
Vom Genuss (1986), S. 3.
Projektgruppe «Antibakterielle Stoffe»,
undatiert, S. 2. HAR FE.0.3 - 103534 a.
78 Projektgruppe «Antibakterielle Stoffe»,
10.12.1968, S. 1. HAR FE.0.3 - 103534 b.
77
110
Die Verbindung von Sulfamethoxazol und Trimethoprim im Verhältnis fünf zu eins zeigte 1966 in den Basler Laboratorien überaus
günstige Resultate, so dass man mit den klinischen Prüfungen
begann. Es war für die Forschungsleitung nunmehr absehbar, dass
die Kombination gewissen Anforderungen an ein BreitspektrumChemotherapeutikum genügte.76 Das neue Produkt mit überraschend starker bakterizider Wirkung schien geeignet, den Anteil
von Roche am Sulfonamidmarkt zumindest zu verteidigen, wenn
nicht weiter auszubauen. Zwar entwickelten sich Gantrisin und
Gantanol recht günstig, doch gerieten die langwirkenden Sulfonamide in jener Zeit wegen angeblicher Nebenwirkungen wie
schwerer allergischer Haut- und Schleimhautreaktionen (StevensJohnson-Syndrom) beziehungsweise einer ausgedehnten blasigen
Ablösung der Epidermis (Lyell-Syndrom) etwas in Misskredit.
Mit einigem Unbehagen musste Roche zur Kenntnis nehmen, dass
die Behörden gewisser Staaten die Indikationsgebiete einschränkten, was prompt auch zu einem Verkaufsrückgang von Madribon
führte und die Weiterentwicklung von Fanasil (Antiinfektivum
u.a. gegen Cholera und Lepra) erschwerte. Man wollte solche
Vorwürfe raschmöglichst mit entsprechenden Arbeitsgruppen
entkräften. Eine umso willkommenere Erweiterung der Indikationen für Sulfonamide bildete die Kombination Sulfamethoxazol/
Trimethoprim, die in der Human- wie in der Veterinärmedizin
vielversprechende Aussichten eröffnete.77 In der zweiten Hälfte
des Jahres 1968 konstatierte Roche dann die erfreuliche Tatsache,
dass sich Anzeichen einer Wendung in der Einstellung gewisser
Gesundheitsbehörden (auch in den USA) gegenüber den langwirkenden Sulfonamiden zeigten. Man hoffte darum auf eine
sulfonamidfreundlichere Zukunft.78
Am 4./5. Dezember 1967 wurde nach Prüfungsresultaten
an mehr als 1000 Patienten beschlossen, in Basel nur noch die
Mischung von Sulfamethoxazol/Trimethoprim im Verhältnis fünf
zu eins weiterzuprüfen, und zwar hauptsächlich als Tabletten zu
400mg Gantanol plus 80mg Trimethoprim. Burroughs Wellcome
machte gleichzeitig klar, dass London diese Kombinationsform
zum nächstmöglichen Termin – frühestens etwa September
1968 – einzuführen beabsichtigte. Roche Nutley setzte derweil
die klinische Prüfung der Gantrisin (Sulfisoxazol)/TrimethoprimKombinationen im Verhältnis 20 zu 1 und 10 zu 1 fort, während
die übrigen Roche-Zentren gemeinsam mit Burroughs Wellcome
die klinischen Prüfungen der neuen Tabletten intensivierten und
verbreiterten. Es wurden vorerst folgende Indikationen vorgeschlagen: Harnwegsinfektionen, chronische Bronchitis sowie
sonstige bakterielle Infektionen aller Fachgebiete. Das neue Mittel
sollte das breite Spektrum der Kombination in direkter Konkurrenz zu gebräuchlichen Antibiotika darstellen. Vergleichende
Untersuchungen erklärte man als durchaus erwünscht.79
Die Einführung des neuen Medikaments war immer parallel
mit Burroughs Wellcome vorgesehen. Obwohl auf eine wenig
günstige Preissituation für die Einführung von Sulfamethoxazol/
Trimethoprim hingewiesen wurde, fiel Anfang 1968 im Einverständnis mit der kommerziellen Abteilung der Beschluss, die
breite klinische Prüfung des Präparates mit den zusammen mit
Burroughs Wellcome festgelegten Anwendungsformen (feste
orale Form mit 400mg Sulfamethoxazol plus 80mg Trimethoprim
sowie Suspensionssirup mit gleichem Dosisverhältnis) nach den
bereits früher festgelegten Plänen durchzuführen und möglichst
rasch voranzutreiben. Vorläufig arbeitete man mit Tabletten,
doch wollte man noch abklären, ob stattdessen Steckkapseln oder
kapselförmige Presslinge als Handelsform zu prüfen seien.80
Im Laufe des Jahres 1968 wurden in verschiedenen Krankenhäusern zahlreiche klinische Studien mit der Kombination durchgeführt, deren Resultate insgesamt bemerkenswert erfreulich
ausfielen. Der Internist Paul Schnaars vom Zürcher Stadtspital
Waid beseitigte bei sechs von sieben Patienten mit chronischen
Harnwegsinfektionen nach zehn Tagen die Symptome.81 Im April
1968 folgten ermutigende Resultate aus Innsbruck, Marseille,
Glasgow, Wien, Wülfrath, Interlaken und Belp. Die klinische Prüfung erfolgte in den von Roche direkt bedienten «Basler Ländern»
mit den so genannten «Drapsules» (eine länglich geformte, von
Roche entwickelte Lacktablette); lediglich Roche London behielt
wegen drohendem Zeitverlust die Tabletten bei. Eine brauchbare
Sirupform lag noch nicht vor, und die Muster von Burroughs
Wellcome erwiesen sich als geschmacklich vollkommen ungeeignet. Dringend erwünscht waren die bei Wellcome seit langem
bestellten Disks, da vor allem in Deutschland die Prüfer diese
Testplättchen zum Bakteriennachweis verlangten. Im April 1968
entschied sich Burroughs Wellcome für die Markenbezeichnung
«Septrin».82
79
«Bactrim» – ein gelungener Markenname
Anfang 1968 wurde bei Roche im Rahmen eines «Überblicks über
die Therapie mit antimikrobiellen Wirkstoffen» der Kombination
VI/Klin. 16/67, 14.12.1967. HAR FE.0.3 103534 a.
VI/Klin. 2/68, 18.1.1968, S. 1. HAR FE.0.3 103534 b.
81Ibid.
82 VI/Klin. 8/68, 25.4.1968, S. 1-7. HAR FE.0.3 103534 b.
80
111
Sulfamethoxazol/Trimethoprim erstmals statistisch die Art und
Häufigkeit der Erreger aufgezeigt.83
Im Mai 1968 verfügte Roche über insgesamt 640 auswertbare Fälle
mit einer Erfolgsquote von 68%. Vor allem Harnwegsinfekte,
chronische Atemwegsinfekte, Tripper (Gonorrhoe) und unspezifische Harnröhrenentzündungen konnten zuverlässig geheilt
oder gebessert werden. Die Häufigkeit der Nebenwirkungen lag
bei 4,3%, wobei es dabei vor allem um Reaktionen der Haut
und des Blutbildes ging: «Wenn man sich vergegenwärtigt, dass
das Krankengut grösstenteils aus Sulfonamid-resistenten Fällen
bestand und die Prüfung nach sehr strengen Kriterien erfolgte, so
dürften die erreichten Erfolgsquoten dahingehend interpretiert
Historisches Archiv Roche
Bactrim Tabletten 200/40mg
und Bactrim forte Drapsules
800/160mg
112
Historisches Archiv Roche
Im Frühjahr 1968 stellte die Projektgruppe «Antibakterielle Stoffe» lapidar fest: «Kombination Gantanol (Sulfamethoxazol) und Trimethoprim im Verhältnis 5:1 lieferte
bisher erwartungsgemäss befriedigende Resultate. Die
bakteriologische Diagnostik und die Resistenzprüfung
wurden bei Frl. Dr. Böhni durchgeführt.»84 Dies bedeutete den Durchbruch und die eigentliche Geburt eines
der wirksamsten Heilmittel für die Menschheit.
werden, dass die Potenzierung von Sulfamethoxazol durch Trimethoprim sich auch klinisch eindeutig herausstellt.»85
Die Prüfung der Kombination sollte in der nun definitiv festgelegten galenischen Form der Drapsules mit 400mg Gantanol
und 80mg Trimethoprim möglichst breit und speditiv fortgeführt
werden; nur so waren die erforderlichen Unterlagen für Registrierung und Einführung rechtzeitig zu beschaffen. Vor allem
in Grossbritannien und Neuseeland drängte die Zeit, da man
in Basel parallel zu Wellcome liefern wollte, sobald die Bewilligungen der Gesundheitsbehörden vorlagen. Die übrigen Länder
sollten ab Herbst 1969 folgen. Tatsächlich erhielt das Projekt
nun beträchtlichen unternehmerischen Schub. Ergänzend zu den
bisherigen Indikationen wollte das Forschungsmanagement die
Wirkung auf folgende Infektionen klinisch geprüft und belegt
haben: Streptococcus haemolyticus bei Angina (Tonsillitis), resistente Staphylococcen als Erreger von Krankenhausinfektionen
(Hospitalismus), grampositive Coccen, bakterielle Infektionen
Neisseria gonorrhoeae, Aquarell
von Raoul Zingg nach einem von
ihm selbst hergestellten Präparat
83
Projektgruppe Antibiotica, 8.5.1968, S. 2. HAR
FE.0.3 - 103534 b.
«Antibakterielle Stoffe», Protokoll Nr. 3,
7.5.1968, S. 7. HAR FE.0.3 - 103534 b.
85 VI/Klin. 9/68, 13.-16.5.1968, S. 11. HAR FE.0.3
- 103534 b.
84
113
des Darmkanals wie Typhus, Paratyphus, Ruhr, Salmonellosen,
Cholera, bakterielle Hautinfektionen (Dermatologie, Chirurgie)
oder Malaria (akuter Anfall). Ausserdem seien die Daten des
Organismuseinflusses auf den Arzneistoff (Pharmakokinetik)
durch entsprechende Untersuchungen mit der Kombination zu
vervollständigen. Schliesslich sollten im Hinblick auf die Einführung genügend Publikationen vorbereitet werden.86
Am 30. Mai 1968 wurde festgehalten, dass die klinischen
Studien von Sulfamethoxazol/Trimethoprim zur Behandlung
von Atemwegs- und Lungeninfekten fortschritten. Die Kombination trug nunmehr den Firmenbegriff Ro 6-2580. Vergleichende Studien zur Wirksamkeit der Sulfonamidkombination mit
Antibiotika seien geplant.87 Mitte Juni 1968 stand fest, dass der
Markenname von Roche für die Kombination Sulfamethoxazol/
Trimethoprim «Bactrim» lauten sollte. Wer die Idee zu dieser
Bezeichnung hatte, ist leider nicht mehr zu ermitteln.
86
Ibid, S. 12.
Project Group «Antibacterials», Research
Steering Committee, Dept. VI, 30.5.1968. HAR
FE.0.3 - 103534 b.
88 VI/Klin. 10/68, 13.6.1968, S. 6. HAR FE.0.3 –
103534 b.
89 Ibid, S. 5-6.
90 VI/Klin.14/68, 5.9.1968. HAR FE.0.3 – 103534
87
114
Burroughs Wellcome operierte zu jenem Zeitpunkt sowohl in
England wie auf dem europäischen Kontinent bereits mit ihrem
Markennamen «Septrin» beziehungsweise «Eusaprim»; der Begriff
«Septrin» sollte die blutvergiftende, also septische Wirkung der
Keime ansprechen und war zweifellos vom Werbeeffekt her gesehen dem Namen «Bactrim» unterlegen. Umso mehr drängte die
kommerzielle Abteilung von Roche auf eine möglichst baldige
Verwendung der eigenen Marke in Veröffentlichungen, doch
konnte diese laut Auskunft der Rechtsabteilung zur Zeit noch
nicht freigegeben werden.88 Weiterhin erfreulich lauteten die
zunehmend eintreffenden Berichte über die klinischen Anwendungen des Medikaments, etwa von der Bernischen Heilstätte
Heiligenschwendi, aus Lautergrund/Deutschland, Montevideo
oder Linz.89 Besonders günstige Resultate erzielten die Ärzte in
Chile beim dort noch immer verbreiteten Bauchtyphus (Typhus
abdominalis). Behandelt wurden 15 Kinder zwischen eineinhalb
Historisches Archiv Roche
Fest steht, dass mit dem Markennamen «Bactrim» eine
in allen Sprachen eingängige, geschickte Bezeichnung
gefunden worden war, die für jedermann verständlich aussagte, wozu das Medikament dienen sollte
– dem Kampf gegen krankmachende Bakterien.
und 13 Jahren. Bei sämtlichen Patienten trat eine deutliche Besserung ein: «Dieses Resultat erscheint sehr günstig», konstatierte
man in Basel erleichtert. Um fortzufahren: «Verträglichkeit war
ausgezeichnet.»90
Streptococcus, Aquarell von
Raoul Zingg nach einem von ihm
selbst hergestellten Präparat
Sirup, Kinderdragées, Gelatinekapseln,
Injektionen
Ende Juni 1968 hatten die Galeniker bei Roche eine Sirup-Formel
ausgearbeitet, bei der das Problem des schlechten Geschmacks
durch Verwendung eines Adsorbates von Tonmineralien (Bentonit beziehungsweise Veegum) überwunden wurde. Bevor der
Sirup an die allgemeine klinische Prüfung abgegeben werden
konnte, musste die Freigabe der Wirkstoffe aus dem Adsorbat
im Magen-Darm-Trakt mittels Blutspiegeluntersuchung geprüft
werden. Erneut wies die Forschungsleitung auf die Dringlichkeit
der Beschaffung ausreichender Unterlagen über die Pharmako-
115
einen Erfolg für Wellcome. Anfang Oktober 1968 berichtete man
über die Weiterarbeit an den galenischen Formen, nämlich an
granulierten Gelatinesteckkapseln. Das Füllgewicht pro Kapsel
betrug 520mg; sie wurden mit einer Maschine von Höfliger &
Karg hergestellt.96 Das gleiche Wirkstoffgranulat unter Zusatz
von Gleitmitteln und eines Milchzuckergranulats konnte auch auf
der Parke-Davis-Maschine97 mit schnellster Abfüllgeschwindigkeit in Gelatinekapseln der Grösse 0 und einem Füllgewicht pro
Kapsel von 565mg gewonnen werden. Beide Produktionsarten
befanden sich seit Sommer 1968 in Stabilitätstesten. Im Laufe
des Monats November trafen die Originalkapseln in sattgelbdunkelgrauer Farbe ein, und man klärte die Abfüllbarkeit auf der
Zanasi-Kapselabfüllmaschine98 ab.
Injektionslösungen des Heilmittels boten wegen schlechter
und hinsichtlich Lösungs-pH sich widersprechender Löslichkeit gewisse Schwierigkeiten. Auch musste die Injektionsvari-
Maschinen zur Befüllung von
Hartgelatinekapseln, Zanasi
Z25R
Historisches Archiv Roche
Ärztefaltblatt für Bactrim Sirup,
speziell für die Pädiatrie, 1970
92
93
94
95
96
97
98
116
kinetik der Kombination Sulfamethoxazol/Trimethoprim beim
Menschen hin.91
Im August 1968 lagen die Muster einer neuen pädiatrischen
Form vor. Die Dragées enthielten nur ein Viertel der Wirkstoffmenge (100 Milligramm Sulfamethoxazol, 20 Milligramm
Trimethoprim) und waren entsprechend kleiner.92 Im selben
Monat traf auch der positive Entscheid der britischen Zulassungsbehörde (Dunlop Committee93) für die Zulassung von Gantanol/
Trimethoprim als pharmazeutische Spezialität ein. Somit konnten
Burroughs Wellcome und Roche die Kombination im Oktober
1968 gemeinsam in Grossbritannien einführen.94
Roche einigte sich mit der britischen Partnerfirma, für die
Kombination Sulfamethoxazol/Trimethoprim bei Publikationen
die Abkürzung TMP 1 / SM 5 zu verwenden.95 Dieser Entscheid,
so musste man sich in Basel mit einiger Unzufriedenheit eingestehen, bedeutete wegen der Erstnennung von Trimethoprim
Historisches Archiv Roche
91
b.
VI/Klin. 11/68, 27.6.1968. HAR FE.0.3 - 103534
b.
VI/Gal., 7.8.1968. HAR FE.0.3 –103534 b.
1963 nach dem Contergan-Skandal
gegründetes Committee on Safety of
Drugs (CSD) unter dem Vorsitz von Sir
Patrick Dunlop, 1970 Comittee on Safety on
Medicines, seit 2005 Commission on Human
Medicines.
VI/Klin. 12/68, 8.8.1968, S. 13. HAR FE.0.3 103534 b.
VI/Klein. 16/68, 3.10.1968, S. 14. HAR FE.0.3 103534 b.
1948 gegründetes Unternehmen in
Waiblingen, das Verpackungsmaschinen
für trockene pharmazeutische Produkte
herstellte und 1970 von der Bosch-Gruppe
übernommen wurde.
1866/67 in Detroit gegründete, ehemals
grösste pharmazeutische Fabrik der USA,
heute Teil der Firma Pfizer.
Nach dem Verpackungsunternehmen Zanasi
117
ante bezüglich Reizwirkung sowie Mischbarkeit mit Blut und
Toxizität untersucht werden. Nach Abschluss dieser Arbeiten
sollte die Forschungsabteilung entscheiden, ob Interesse an der
Weiterbearbeitung dieser Lösung bestehe. Die Einnahme von
Bactrim mittels Suspensionssirup und dessen Resorbierbarkeit
mit Veegum-Adsorbat war noch nicht untersucht worden. Auch
für die Zäpfchenform (Suppositorien) bestand Interesse, obwohl
sich vorerst die rektale Absorption der Gantanol-Substanz als
ungenügend erwies, was die Prüfung mit verschiedenen Zäpfchengrundlagen erforderte.99
Therapieerfolg von 77 Prozent
Fratelli S.r.L. in Sassuolo (Modena/Italien).
VI/Gal., 9.10.1968, S. 5. HAR FE.0.3 - 103534
b.
100 VI/Klin. 18/68, 14.11.1968, S. 1. HAR FE.0.3 99
118
Mitte November 1968 ergaben die Besprechungen, dass
Burroughs Wellcome die Einführung von Sulfamethoxazol/
Trimethoprim auf dem europäischen Kontinent raschmöglichst vornehmen wolle. Roche dagegen verfolgte eine eher
abwartende Haltung, weil sie für die Registrierung in andern
Ländern mehr Unterlagen, insbesondere über die Toxizität,
die blutschädigende Wirkung, den Wirkungsvergleich mit
andern Antibiotika etc. für erforderlich hielt als jene, die man
dem britischen Dunlop Committee vorgelegt hatte. Wegen
den entschieden geäusserten Absichten von Burroughs Wellcome fühlte sich Roche aber gezwungen, Bactrim wenigstens
in Deutschland möglichst ohne Zeitverzug einzuführen. In
Anbetracht der guten Korrelation zwischen Experiment und
klinischer Wirkung und einiger Fälle, bei denen Patienten über
zwei Jahre ohne bedeutsame toxische Wirkung dauerbehandelt
worden waren, sah Roche schliesslich für die Vorverlegung
der Einführung keine Hindernisse mehr. Alle in Vorbereitung
befindlichen Arbeiten zu Ro 6-2580 sollten nun so schnell wie
möglich zur Publikation gebracht werden.100
Eine gewisse Sorge hinsichtlich negativer genetischer Auswirkungen blieb allerdings vorderhand noch bestehen. Die Forschungsverantwortlichen verlangten Untersuchungen über die
Beeinflussung der Chromosomen. Als unverzichtbar hielt man
auch Forschungen an menschlichen Bindegewebszellen (Fibroblasten). Die Komponente Trimethoprim – so wurde nämlich
festgestellt – erzeugte in 15-facher therapeutischer Dosis am
Tier Missbildungen.101 Dr. Staiger von den Roche-Laboratorien
untersuchte zum Teil in Zusammenarbeit mit Werner Schmid
vom genetischen Labor am Kinderspital Zürich, wie die einzelnen Komponenten von Bactrim die Chromosomen ausserhalb
des Organismus (in vitro, d.h. im Reagenzglas) und im lebenden
Organismus (in vivo) beeinflussten.102
Ende November 1968 lagen der Fachgruppe «Chemotherapie» die Ergebnisse mit Tabletten und Drapsulen von 61 durch
Roche betreute Prüfer aus 15 Ländern vor. Das Total der auswertbaren Fälle wies in Bezug auf die therapeutische Wirkung
834, hinsichtlich der Verträglichkeit 918 Patienten aus. Die
Dosierung betrug meist zweimal eine oder zweimal zwei, ausnahmsweise zweimal drei Drapsulen beziehungsweise Tabletten
pro Tag. Die Behandlungsdauer erstreckte sich in der Regel über
fünf bis zehn Tage, konnte sich aber auch auf bis zu 50 Tage
ausweiten. In 642 der 834 therapeutisch auswertbaren Fälle ergab
sich ein guter Erfolg oder doch zumindest ein Teilerfolg. Dies
entsprach einer globalen Erfolgsquote von 77%. Zu etwa derselben durchschnittlichen Erfolgsquote von 78% gelangte auch
Burroughs Wellcome mit einer sich über 893 Patienten erstreckenden Datenbasis. Den Hauptanteil der behandelten Fälle
stellten die Infekte der Harn- und der Atemwege dar. Ferner
fanden sich, besonders bei Wellcome, eine erhebliche Zahl von
Urogenitalinfektionen. Zudem waren wesentlich kleinere, nicht
repräsentative Zahlen bei Infekten anderer Organe im Bereich
Ohren-Nase-Hals, Scharlach, Darminfekte inklusive Typhus,
Hautinfekte, eitrige Hirnhautentzündung und Gonorrhoe
vertreten. Vergleichende Prüfungen gegenüber den gebräuchlichen Antibiotika waren in mehreren Ländern im Gange. Die
Nebenwirkungen präsentierten sich bei den 918 auswertbaren
Fällen von Roche wie folgt: 3,38% Beschwerden im MagenDarm-Kanal, 2,07% Hautreaktionen, 0,22% sonstige allergische
Symptome, 0,98% hämatologische Reaktionen, 0,33% andere
Nebenwirkungen. Bei Wellcome berichtete man von keinerlei
Beschwerden hämatologischer Art, wobei dort allerdings keine
regelmässigen Blutbilduntersuchungen durchgeführt worden
waren; die Hautreaktionen von 1% erwiesen sich als durchwegs
leichter Natur.
Angesichts des Drängens von Wellcome entschloss sich Basel,
die Einführung von Bactrim in der Schweiz und in Deutschland
bereits im Frühjahr 1969 vorzusehen. Immer wieder wurden die
Laboratorien aufgefordert, für die noch nicht belegten zusätzlichen Krankheitsindikationen so rasch wie möglich Unterlagen
beizubringen, desgleichen ergänzende Untersuchungen über
die Pharmakokinetik und den Stoffwechsel. Der vorgesehene
Bactrim-Sirup auf der Basis eines Veegum-Adsorbates erforderte
vorgängig eine klinische Prüfung mittels Blutspiegelkontrollen
103534 b.
119
der Wirkstofffreigabe im Gastrointestinaltrakt.103 Der Suspensionssirup von Wellcome wurde nicht an Veegum adsorbiert,
sondern frei suspendiert. Zwar war auch das Roche-Präparat von
einer gewissen Bitterkeit. Doch konnte man in Basel befriedigt
feststellen: «Demgegenüber sind die Septrin-Suspensionen von
Burroughs Wellcome unvergleichlich bitterer.»104
Vergleichbar mit herkömmlichen Antibiotika
101
102
103
104
105
106
107
108
109
110
111
112
VI/Med., 4.11.1968. HAR FE.0.3 - 103534 b.
VI/Med., 18.11.1968. HAR FE.0.3 - 103534 b.
VI/Klin. 19/68, 2.-6.12.1968, S. 1-2. HAR
FE.0.3 - 103534 b.
VI/Gal., 11.12.1968, S. 9. HAR FE.0.3 - 103534
b.
Breitbandantibiotikum, das erstmals 1947 aus
Streptomyces venezuelae gewonnen wurde.
Breitbandantibiotikum, von Streptomyces
aureofaciens produziert, 1948 beschrieben,
1955 patentiert.
VI/Klin. 20/68, 19.12.1968, S. 1. HAR FE.0.3 103534 b.
Oxoid D.S.T. agar base, Hersteller und
Vertriebsspezialist von mikrobiologischen
Nährmedien und andern diagnostischen
Produkten in London, heute Teil von Thermo
Fisher Scientific.
Fortschrittsbericht der Projektgruppe
«Antibakterielle Stoffe», Rapport No. 37’765,
18.12.1968, S. 1 und 2. HAR FE.0.3 - 103534
b.
Minutes No 4, Research Steering Committee,
Department VI, 30.1.1969. HAR FE.0.3 103534 f.
London, W. R.: Cost-effectiveness and
information retrieval in the industry,
23.8.1973. HAR FE.2.1 - 103531 o.
Auszug aus dem Roche- und SapacGeschäftsbericht für das Jahr 1968. In:
120
Die Konzernleitung war sich klar bewusst: Wenn Roche für einige
wichtige Indikationen auf objektiver Grundlage fussende Belege
dafür beibringen konnte, dass Bactrim in der therapeutischen
Wirkung den bewährten Antibiotika wenigstens gleichwertig sei,
würde dies dem Präparat ein enormes kommerzielles Potenzial
verschaffen: «Weitere Vergleiche gegenüber Standard-Antibiotika
sind deshalb dringend erwünscht. Sie sollten vorzugsweise als
Doppelblindversuche durchgeführt werden.» Diese Versuche
erwiesen sich wegen der ungleichen Dosierungsintervalle zwischen Prüfungs- und Standardpräparaten als äusserst anspruchsvoll. Als Vergleichspräparate kamen in erster Linie Chloramphenicol105 (wirksam gegen Typhus, Cholera, Harnwegsinfekte) sowie
Tetracyclin106 (wirksam gegen Atemwegs- und Harnwegsinfekte)
in Frage.107
Es war vorgesehen, bakteriologische Untersuchungen im
Rahmen der klinischen Prüfungen noch bis zur Einführung
vorzunehmen und nachher nur noch beratende Funktionen für
die Kliniken und wissenschaftlichen Institute auszuüben. Die
Propagierung des Disktests sollte weitgehend der erfahrungsreichen Firma Oxoid108 anvertraut werden, die bereits zu diesem
Zeitpunkt ein Kombinationsdisk in ihr Sortiment aufnahm. Für
ein eingehenderes Studium der Pharmakokinetik wurden neue
Methoden ausgearbeitet. Auf dem veterinärmedizinischen Sektor
wurde das Kombinationspräparat von Wellcome für die Verwendung bei Hunden und Katzen mit dem Ziel klinisch geprüft, die
Humanspezialität für diese Kleintiere in England zu empfehlen.
Publikationen dazu waren 1969 zu erwarten. Roche nahm zu
diesen Prüfungen eine abwartende Haltung ein, konnte aber bei
Bedarf auf den Wellcome-Untersuchungen aufbauen.109
Im Oktober 1968 gelangte das Kombinationspräparat aus
Sulfamethoxazol und Trimethoprim unter den Markennamen
Septrin (Wellcome) und Bactrim (Roche) gleichzeitig auf den
britischen Markt.110 Die Wellcome Foundation in London gründete damals – was in Basel bewundernd und etwas neidisch ver-
folgt wurde – ein Clinical Information Department (CID). Dies
geschah mit der Begründung, dass das weltweite Interesse an
diesem neuen antibakteriellen Kombinationspräparat so gross
sei, dass die Firma die Publikationen professioneller verfolgen
und begleiten wolle.111 Roche reichte die Registrierungsvorlage für
Bactrim dem Deutschen Bundesgesundheitsamt Mitte Dezember
1968 ein. Dabei wurde das Indikationsspektrum auch auf leichtere
und akute Infektionen ausgedehnt und die klinische Prüfung
in dieser Richtung weltweit intensiviert. Die Basler hofften, für
diesen erweiterten Indikationsbereich im Jahre 1969 genügend
Unterlagen zur Verfügung zu haben, um dafür in den meisten
Ländern eine Genehmigung zu erhalten. Verschiedene Publikationen über die vielen experimentellen Befunde in vitro und in vivo
waren in Vorbereitung. Roche legte besonderes Gewicht auf den
Einfluss von Sulfamethoxazol in der Kombination, da Wellcome
– wie man am Rheinknie verdrossen feststellte – ausschliesslich
denjenigen von Trimethoprim betonte.
Der Roche-Geschäftsbericht für das Jahr 1968 konnte Kunden und Mitarbeiter erstmals über eine «neuartige Konzeption»
orientieren, nämlich die «Kombination eines unserer bewährten
Sulfonamide mit dem Pyrimidin-Derivat Trimethoprim». Das
neue Medikament unter der Marke «Bactrim» werde der Ärzteschaft gegenwärtig zur Verfügung gestellt. Die Indikationen hätten
sich zunächst auf schwere Infektionen der Harn- und Atemwege
beschränkt, bis viel versprechende Hinweise auf den therapeutischen Wert auch bei anderen Infektionen eingetroffen seien.112
Tatsächlich zeigte sich das Wirkungsspektrum von Bactrim
in den Kliniken ähnlich breit wie zuvor in den Laborversuchen. Bei den oberen und unteren Atemwegen heilte oder
besserte das Präparat Krankheiten wie Angina, Entzündungen der Nasennebenhöhle, der Rachenschleimhaut,
der Luftröhre oder der Lunge. Im Magen-Darm-Trakt
zeigten sich vorzügliche Resultate bei Darmentzündung,
Typhus und Paratyphus, im Urogenitaltrakt bei Blasen-,
Nieren- und Nierenbeckentzündung sowie bei der
Geschlechtskrankheit Gonorrhoe. Erfreulich präsentierte
121
sich die Wirkung von Bactrim auch bei bakteriellen
Erkrankungen der Haut und der Weichteile, etwa bei
Eiterausschlägen (Pyodermien) der Haut, bei Furunkeln,
Abszessen und überhaupt bei Wundinfektionen.113
Fieberhafte Publikationstätigkeit im Jahre 1969
113
114
115
116
Roche Nachrichten, Beilage zur RocheZeitung 2/1969, o. S. [4f].
«Bactrim» Roche [1969], S. 25.
Auszug aus dem Roche- und SapacGeschäftsbericht für das Jahr 1969, in: Roche
Nachrichten, Beilage zur Roche-Zeitung
3/1970, o. S. [5].
Projektgruppe «Antibakterielle Stoffe»
Nr. 2/69, 18.2.1969, S. 2. HAR FE.0.3 - 103534 f.
Projektgruppe «Antibakterielle Stoffe»
Nr. 3/69, 25.3.1969, S. 1. HAR FE.0.3 - 103534 f.
Historisches Archiv Roche
Diplococcus pneumoniae,
Escherichia coli, Neisseria
intracellularis, Proteus vulgaris.
Aquarelle von Raoul Zingg, nach
von ihm selbst hergestellten
Präparaten
Das ganze Jahr 1969 war die Basler Forschungsabteilung stark
mit der Bereitstellung von umfangreichen Unterlagen zur Einführung von Bactrim beschäftigt. 114 Daneben liefen intensive
Auswertungsarbeiten, Koordinationssitzungen, Tagungen und
Kongresse. Regelmässig trafen weiterhin Berichte von Ärzten aus
aller Welt über Behandlungsresultate mit Bactrim ein. Am 18.
Februar 1969 orientierte Erika Böhni an einem Treffen mit den
Verantwortlichen von Wellcome über die Einführungsarbeiten
von Bactrim. Dabei kam es zu Spannungen über die Beurteilung der beiden Komponenten. In London wurde bemängelt,
dass Roche in den Einführungsunterlagen für Deutschland das
bakterizide Trimethoprim nur als Potentiator des Sulfonamids
Gantanol (Sulfamethoxazol) hinstelle; dabei sei doch Trimethoprim die wichtigste Komponente der Kombination. Die Vertreter von Basel stellten demgegenüber klar, dass die Experimente
sowie die klinischen Resultate eindeutig dafür sprächen, dass
beiden Komponenten ein gleiches Gewicht zukomme. Zudem
sei Trimethoprim als einzelner Wirkstoff jahrelang zu hoch
dosiert angewandt worden, habe sich als toxisch erwiesen und
sei darum bei der Ärzteschaft auf Ablehnung gestossen.115 In der
Folge forschte Roche mit einer gewissen Hektik an den Strukturen
der Metaboliten von Trimethoprim, die vertraulich schon an
mehrere auswärtige Mitarbeiter herausgegeben worden waren. 116
Ein gemeinsames Symposium von Burroughs Wellcome und
Roche in England vom 31. März 1969 zeigte, dass Basel bei den
vorgelegten Publikationen ein Defizit aufwies; so konnte Roche
nur zwei experimentelle und sechs klinische Arbeiten vorstellen,
während Wellcome über zwei experimentelle und neun klinische
Arbeiten verfügte.117 Überdies mussten die Roche-Vertreter zu
ihrem Ärger zur Kenntnis nehmen, dass die Partnerfima nicht
davor zurückschreckte, «auch die unterschiedlichen galenischen
Formen zu ihren Gunsten auszuschlachten».118 Es wurde nämlich
versucht, nachzuweisen, dass bei der Einnahme von Drapsulen
gegenüber derjenigen von Tabletten niedrigere, etwas verspätete
122
123
Werbeanzeige aus der Ärzte­
zeitschrift «Image Roche» für
Gantanol Roche (Wirkstoff
Sulfamethoxazol). Das Bild zeigt
eine Kristallisationsaufnahme
einer Suspension von Proteus
vulgaris in einer Lösung von
Gantanol, 1969
gleiche schwache beziehungsweise fehlende fungizide Wirkung
aufwies.120
1969 stellte Roche die nachfolgenden galenischen Formen
für Bactrim bereit: Suspensionssirup, insbesondere für Kinder,
mit 200mg Sulfamethoxazol und 40mg Trimethoprim pro 5ml;
Injektionslösung mit empfohlener Dosis von 400mg Sulfamethoxazol und 80mg Trimethoprim pro 5ml; Suppositorien zu
400mg Sulfamethoxazol und 80mg Trimethoprim; Lacktabletten
(Drapsules) aus 400mg Sulfamethoxazol und 80mg Trimethoprim.121 Aufgrund der Produktionskapazitäten und Fabrikationsmöglichkeiten ging man in einigen Ländern von den Drapsule
genannten, lackierten Tabletten auf die runden, zuckerglasierten
Dragées als Handelsform über, etwa in der Schweiz und in den
Benelux-Ländern sowie in den lateinamerikanischen Ländern,
Spanien und der Türkei. Drapsules wurden hingegen für Grossbritannien, Deutschland, Frankreich, Österreich, Australien und
Fernost beibehalten.122
Mit «Optimismus» und «nötiger Agressivität»
Am 9. Mai 1969 fand ein von Wellcome für Ärztinnen und Ärzte
organisiertes Symposium über Septrin und Bactrim statt. Für
und mit einer grösseren Streuung versehene Blutspiegelkonzentrationen aufträten. Obwohl Roche den biologischen Unterschied
anzweifelte, befürchtete man dennoch den Ausbau zu einem
gefährlichen Marketing-Argument zugunsten von Septrin.
Mit Unmut verfolgte Roche auch, dass Burroughs Wellcome
mit einer zusätzlichen Form des Sirups für Erwachsene einen
Wettbewerbsvorteil zu erreichen suchte, was «in Anbetracht der
speziellen Konkurrenzsituation nicht zugelassen werden durfte».
Darum bereitete sich Roche vor, den Sirup überall dort ebenfalls einzuführen, wo die Partnerfirma dies auch tat.119 Versuche
zeigten auf, dass der Sirup im Glas so gut wie in Plastik gelagert
werden konnte und eine gleich gute bakterizide, wie auch die
124
Historisches Archiv Roche
Historisches Archiv Roche
Werbefaltblatt, 1970.
Abgebildet ist das gesamte
damals erhältliche
Bactrim-Sortiment mit den
zahlreichen unterschiedlichen
Darreichungsformen, die in
minutiöser Kleinarbeit von Roche
entwickelt wurden
117
Protokoll der Planungssitzung, 14.5.1969, S. 7.
Ibid., S. 2.
Protokoll der PA-Sitzung No. 5, 13.1.1970.
HAR FE 2.1 - 103531 o.
120 Roche, Interne Mitteilung Nr. 842, 6.11.1970.
HAR FE.2.1 - 103531 o.
121 VI/Klin. 2/69, 6.2.1969, S. 3. HAR FE.0.3 103534 f.
118
119
125
Historisches Archiv Roche
Daniel
Schwartz, 1987
122
VI/Klin. 7/69, 24.4.1969, S. 1. HAR FE.0.3 103534 f.
Böhni, E[rika]: The Chemotherapeutic
Activity of Combinations of Trimethoprim and
Sulphamethoxazole in Infections of Mice. The
Synergy of Trimethoprim and Sulphonamides.
Royal College of Physicians, London,
9.5.1969.
124 Schwartz, D[aniel] E. / Ziegler, W. H.: Assay
and Pharmacokinetics of Trimethoprim in
Man and Animal. Royal College of Physicians,
9.5.1969.
125 Hitchings, G[eorg] H.: Selective Inhibitors
of Dihydrofolate Reductase as Chemotherapeutic Agents. Royal College of
Physicians, 9.5.1969.
126 Bushby, S. R. / Hitchings, George H.:
Trimethoprim, a Sulphonamide Potentiator.
In: British Journal of Pharmacology 33 (1968),
S. 72-90.
127 Projektgruppe «Antibakterielle Stoffe»,
Protokoll Nr. 1/69, 12.2.1969, S. 5. HAR FE.0.3
- 103534 f.
128 Böhni, Tagebuch Nr. VIII, 9.5.1969 [o. S.]. –
Siehe auch Eine Frau von Format (1993),
S. 45.
129Ibid.
123
126
Roche referierten Erika Böhni123 und Daniel E. Schwartz124 , für
Wellcome George H. Hitchings125 und S. R. Bushby126. In Basel sah
man dem Zusammentreffen mit dem späteren Nobelpreisträger
Hitchings und dem ebenfalls exzellenten Bakteriologen Bushby
mit einem gewissen Bangen entgegen. Zwar war Wellcome zu
jenem Zeitpunkt über den Stand der Basler Forschung an Metaboliten von Trimethoprim orientiert, doch durften die laufenden
Untersuchungen nicht publik gemacht werden, bis Wirkung
und Patentierungsfähigkeit der neu isolierten, synthetisierten
Produkte abgeklärt waren. Man einigte sich bei Roche, nur von
«neuen Substanzen» zu sprechen. 127 Die Graphiker hatten für
Böhni zur Illustration der aus den Mäuseversuchen gewonnenen Erkenntnisse eigens aufwendige, farbige Dias hergestellt. Die
Referentin hatte gemäss eigenem Bekunden «kein bisschen Angst»
und beurteilte ihre Vorredner von Wellcome als «sehr mässig, in
den Dias wenig verständlich, viel zu viel für diese Ärzte». Ihren
eigenen Auftritt aber befand sie als vollkommen gelungen: «Da
wirkte mein Vortrag in einfachen Worten und neuen Bildern wie
eine Bombe. Alle hatten Freude, auch Frauen haben mir noch
in der Toilette gesagt, dass sie jedes Wort verstanden haben».128
Während Erika Böhni sich mit den Briten nach wie vor bestens
verstand, ärgerte sie sich über ihre Basler Kollegen: «Überhaupt
regen mich die Roche-Leute auf, immer schauen sie aufgeregt
zurück, wenn einer sie etwas fragt. Sie spielen gerne Komödie,
malen den Teufel an die Wand und wollen zeigen, was für tolle
Disputanten sie sind. […] Wir sind viel zu schwach für Burroughs
Wellcome, die sicher Roche auch aus psychologischen Gründen
ausgewählt haben, weil sie nämlich mit ihnen machen können,
was sie wollen. Und das ist ihnen voll und ganz gelungen.»129
Diesbezüglich sollte sich die aussergewöhnliche Mikrobiologin
getäuscht haben. Die Basler liessen sich beim Bactrim-Projekt
nicht über den Tisch ziehen – und Roche besteht im Gegensatz
zu Burroughs Wellcome noch heute als eigenständiges Unternehmen.
Am 14. Mai 1969 wurde Bactrim in einer Planungssitzung mit
25 Teilnehmern am Basler Firmensitz erörtert. Die bisherigen
Erfahrungen in England hätten gezeigt, dass Roche mit Bactrim
ein Präparat mit grossem Potenzial entwickelt habe. Eine spezielle
Herausforderung des Marketings stelle aber die Partnerschaft
mit einem Konkurrenten dar: «Es gilt daher, an diese Aufgabe
mit Optimismus, aber auch mit der nötigen Aggressivität heranzugehen, ohne verfehlte Rücksichtnahme sowohl auf unseren
Partner als auch auf unsere eigenen Sulfonamide.»130 Zwar müsse
man davon ausgehen, dass einerseits die herkömmlichen Sulfonamide, andererseits auch die Antibiotika von ihrem Mythos
einbüssen würden. Gerade deswegen scheine aber die Marktlage
für die Einführung eines neuartigen, antibakteriell wirksamen
Präparats günstig. Negativ ins Gewicht falle indessen das Joint
Venture mit der Firma Burroughs Wellcome, das den Briten
gewisse Vorteile verschaffe. Die neue Komponente des Präparats
stamme von ihnen, ein Sachverhalt, den sie zum Missfallen von
Roche auch entsprechend ausnützten. Allerdings glaubte sich
das Basler Unternehmen bezüglich Marketing-Organisation im
Vorteil. Die «Trimethoprim-Story» von Wellcome solle nicht
verheimlicht werden; im Gegenteil sei zu betonen, dass Trimethoprim erst dank Roche in Kombination mit einem Sulfonamid
zu einer brauchbaren Substanz geworden sei…131
Roche hatte sich in Sachen Bactrim bereits 1967 für die neuartige galenische Form der Drapsulen in der Ansicht entschieden,
dass diese dem modernen Antibiotika-Image näherkommen und
sich grundlegend von der bei Burroughs Wellcome üblichen Tablettenform unterschieden. Aus produktionstechnischen Gründen
konnten sich die Basler aber nicht gegen die Tablettenform durchsetzen. Die Abteilung «Spezialitätenentwicklung für Forschungspräparate» hatte darum für die meisten Länder, in denen die
Einführungsvorbereitungen noch nicht zu weit fortgeschritten
waren, den Verzicht auf die Drapsule und die Einführung in Dragéeform vorgeschlagen.132 Auch dieser Entscheid sei nun aber neu
zu überprüfen, da gemäss neuesten Marktuntersuchungen immer
mehr Antibiotika in Tablettenform auf den Markt kämen. Weil
überdies Tablettieranlagen in allen Roche-Fabrikationsstellen
vorhanden waren, entschied man, für Bactrim generell auf die
Tablettenform überzugehen.133 Erika Böhni kommentierte das
zähe Festhalten an der Drapsule und die darauf folgende Kapitulation in ihrem Tagebuch gewohnt scharfzüngig: Die Herren
von Roche wüssten nicht, «wie lächerlich sie gemacht werden mit
ihren Drapsulen, die von heute auf morgen verschwinden. Wir
haben nichts bestimmt mit unseren Drapsulen, wir können nichts
entgegnen.»134 In einer ganzen Reihe von Ländern wurde im Mai
1969 die Einführung von Bactrim bereits für das laufende Jahr
geplant, so in der Schweiz, in Zypern, im Libanon, in Deutschland,
in Australien, eventuell in Spanien, in Argentinien und in Brasilien
sowie in einigen arabischen und fernöstlichen Ländern.
Was die Bewerbung des neuen Produktes betraf, so stellte
sich die anspruchsvolle Aufgabe, die Möglichkeiten von Bactrim in ihrer ganzen Breite aufzuzeigen. Zur Marketingstrategie
130
Protokoll der Planungssitzung, 14.5.1969, S. 1.
HAR FE.0.3 - 103600
131Ibid.
132
133
PA-Protokoll, 29.4.1969, S. 3.
Protokoll der Planungssitzung, 14.5.1969.
127
hielt man den Dachslogan «Bactrim – dritte Generation in der
Chemotherapie bakterieller Infektionen» für geeignet. Die erste
Generation bildete demnach das Sulfamidochrysoidin (Prontosil)
von 1935, die zweite das Sulfamethoxazol (Gantanol) von 1962.
Jetzt ging es darum, das Neuartige an Bactrim hervorzuheben.
Dazu hielt die Planungssitzung fest: «Die Trimethoprim-Story
kann deshalb nicht umgangen werden. Sie muss in unserem Sinne
möglichst positiv ausgewertet werden.»135 In die «vordere Linie»
der Argumente gehöre als Resultat der Potenzierung der beiden
Wirkstoffe die bakterientötende Wirkung des Präparates. Als
Breitbandchemotherapeutikum sei daher Bactrim für schwere
wie für leichtere Fälle zu empfehlen.
134
135
136
137
138
139
140
141
HAR FE.0.3 – 103600.
Böhni, Tagebuch Nr. VIII, 9.5.1969 [o. S.].
Ibid, S. 5
Ibid., S. 6, 8.
Ibid., S. 6.
Ibid., S. 7.
Ibid., S. 7.
Projektgruppe «Antibakterielle Stoffe»,
Protokoll Nr. 2/69, 18.2.1969, S. 1. HAR FE.0.3
- 103534 f.
Böhni, Erika: Vergleichende bakteriologische
Untersuchungen mit der Kombination
Trimethoprim/Sulfamethoxazol in vitro
128
Weil es der Fima Burroughs Wellcome in Grossbritannien
gelungen war, die Krankenhäuser durch frühzeitige Vorstösse
und erweiterte klinische Prüfungen im grossen Stil weitgehend
für das Septrin zu gewinnen, sollten zumindest in Deutschland
und der Schweiz die bereits laufenden klinischen Studien stark
erweitert werden. Auch in Argentinien, Brasilien und Spanien
sowie in Fernost wollte Roche die Prüfungen an Patienten rasch
vorantreiben. In der Schweiz wurden die Spitäler bis zum Bezirksspital mit vereinfachtem Informationsmaterial und Fragebögen
ausgestattet, in Deutschland die Zahl der Krankenhäuser für die
erweiterten Prüfungen auf 300 ausgedehnt. 3 000 deutsche Ärzte
sollten sechs Wochen vor Einführung so ausgestattet werden, dass
jeder von ihnen 30 Patienten behandeln konnte. Die Apotheker
erhielten, wie bei Roche üblich, je eine Originalpackung aller
Dosierungen und Packungsgrössen.136
Burroughs Wellcome lieferte der Basler Produktion im Mai
1969 reibungsfrei 1 000kg Trimethoprim.137 Mehr Kopfzerbrechen
bereitete der offenkundige Mangel an den notwendigen wissenschaftlichen Veröffentlichungen. Im Frühjahr 1969 waren acht
wissenschaftliche Aufsätze pendent, bei denen aber abzusehen
war, dass sie erst ein Jahr später druckreif vorliegen dürften.
Dies ergab die unbefriedigende Situation, dass zum Zeitpunkt
der Einführung in der Schweiz keine einzige Publikation vorlag:
«Eine dringende Reaktivierung dieser Arbeiten ist daher angezeigt.»138 Man machte sich in Basel ernsthaft Sorgen darüber, dass
Burroughs Wellcome aus einem Minimum an klinischen Fällen
bereits publizistisches Kapital schlug und überlegte sich, ob Roche
Historisches Archiv Roche
Einführung in Krankenhäusern, bei Ärzten und Apothekern
«diesbezüglich nicht auch etwas grosszügiger werden muss».139
Auf Initiative von Roche Grenzach erschienen im Rahmen der
Einführungsmassnahmen denn auch neun Arbeiten in einem
Sonderheft der Zeitschrift «Chemotherapie».140 In dieser an die
Ärzte gerichteten Publikation zu Bactrim schrieb Erika Böhni
einen Aufsatz über die Bakteriologie.141
Am Jahrestreffen der Roche Research Management Group
(RRMG) in St. Moritz vom 11. bis 16. Juni 1969 konnte von
einem eindrücklichen Eintritt von Bactrim/Septrin in den bri-
Ärztebroschüre «Bactrim für die
Behandlung der Bronchitis», 1970
129
Ärztebroschüre «Bactrim» Roche
for therapy in ear, nose and
throat infections, 1974
Historisches Archiv Roche
Werbeanzeige aus der
Ärztezeitschrift «Image
Roche» für Bactrim bei
Urogenitalinfekten,
1970er Jahre
verfolgte Roche doch im Tierbereich weit weniger Interessen.
Man war sich in der Konzernführung bewusst, dass es im ersten
Jahr der Einführung Länder geben werde, wo etwa gleich viele
Mustertabletten wie Verkaufsware auf den Markt gelangen würden. Dies sei aber angesichts der speziellen Problematik einer
Doppeleinführung gerechtfertigt und trotz des finanziellen
Aufwandes auch vom Rentabilitätsstandpunkt her vertretbar.143
Eine attraktiv aufgemachte, illustrierte Einführungsbroschüre zu
Bactrim erschien in zahlreichen Sprachen Ende 1969. Sie umfasste
84 Seiten und versprach schlagwortartig einen gezielten Vorstoss
in die Infekttherapie, ein völlig neuartiges Wirkungsprinzip, eine
reziproke Potenzierung und eine Breitband-Bakterizidie, also ein
breites Wirkungsspektrum der Keimabtötung von grampositiven
wie auch gramnegativen Bakterien.144 Die Broschüre war in fünf
Kapitel unterteilt und enthielt auch eine Produkte-Information
in Stichworten, die es dem eiligen Arzt ermöglichte, «nach fünf-
130
Historisches Archiv Roche
und in vivo. In: Dokumente zu Bactrim.
Chemotherapy 14, Suppl. Basel 1969.
Minutes of the Roche Research Management
Group Meeting, June 11-16, 1969, St. Moritz/
Switzerland, S. 26 f. HAR FE.0.4 - 103593 g, h.
143 RRMG 1969, Antibacterials (incl. Sulpha
drugs), S. 2. HAR FE.0.4 - 103593 g, h.
144 «Bactrim» Roche. Bakterizides BreitbandTherapeuticum, o. O.[Basel], o. J. [1969]. –
«Bactrim» Roche. Broad spectrum bactericide,
o. O. [Basel], o. J. [1969]. Ausserdem in
Dänisch, Schwedisch, Norwegisch, Finnisch,
142
tischen Markt berichtet werden. Gleichzeitig war man bereit,
die Position von Roche in Konkurrenz zu Wellcome entschieden zu verteidigen. Es wurde grundsätzlich beschlossen, die
Sulfonamid-Forschung voranzutreiben. In Basel sollten pharmakologische, klinische und stoffwechselbedingte Studien zu
Bactrim weitergeführt werden.142 Klinische Versuche an mittlerweile 2 500 Patienten hatten gute Resultate im Respirations- und
Urogenitaltrakt erbracht. Nun galt es, auch die Wirkungsweise
gegen schwerere Erkrankungen wie Typhus, Cholera, Knochenmarks- und Hirnhautentzündung zu erproben. Gelassen nahm
das Forschungsmanagement zur Kenntnis, dass Wellcome die
Kombination Trimethoprim und Sulfamethoxazol auch in der
Veterinärmedizin bei Hunden und Katzen einzuführen plante,
131
minütiger Lektüre das Präparat richtig anzuwenden».145 Unter
Einschluss von Prospektserien und Sonderdrucken sollten den
Arzt nicht weniger als 27 Bactrim-Aussendungen in den ersten
zwölf Monaten nach der Einführung erreichen. Vier verschiedene
Typen von Inseraten waren in den wichtigsten medizinischen
Zeitschriften geplant.146 Im Rahmen der vorgesehenen Kleinsymposien schien es vorerst allerdings nicht möglich, spezielle Filme
über Bactrim herzustellen.147
Erika Böhni
während ihres
Besuchs in
Japan, 1969
145
146
147
148
149
150
151
152
Portugiesisch, Spanisch, Ungarisch und
Griechisch.
Protokoll der Planungssitzung, 14.5.1969, S. 8.
HAR FE.0.3 - 103600
Schweizerische Ärztezeitung, Therapeutische
Umschau, Praxis, Médecine et Hygiène,
Medical Tribune, Ars Medici, Image. Siehe
Protokoll der Planungssitzung, 14.5.1969,
Beilage Promotogramm Bactrim Schweiz,
21.5.1969. HAR FE.0.3 - 103600.
Ibid., S. 9.
Eine Frau von Format (1993), S. 45.
Böhni, Tagebuch Nr. IX, 18.6.1969 [o. S.].
Ibid, 14.8.1969.
VI/Klin. 2/69, 6.2.1969, S. 3. HAR FE.0.3 103534 f.
Eine Frau von Format (1993), S. 45. – Siehe
dazu Mayekawa, Seiro: Masterpieces of the
132
Am 24. Juni 1969 wurde für die Supervisoren der «Basler Länder»
– also jener kleineren Märkte in Europa, Afrika und Fernost, die
direkt mit Produkten beliefert wurden – und die Ärztebesucher
der Schweiz ein Bactrim-Kolloquium in Basel veranstaltet. Für
die übrigen Ärztebesucher fanden in den folgenden Monaten
Kolloquien im Ausland statt. Allein für die Schweiz wurden im
ersten Jahr rund 1,85 Millionen Franken für die Einführungskampagne ausgegeben.
Für Erika Böhni bedeuteten diese Monate einen geistigen und
körperlichen Einsatz bis hin zur Erschöpfung. Ihr oblag nämlich
die Aufgabe, für Bactrim eine neue Sensibilitätsprüfung in den
verschiedensten Laboratorien durchzusetzen. Dazu bedurfte es
eines spezifischen Mediums, um die Wirksamkeit plastisch zu
demonstrieren, galt es doch, die potenzierenden Eigenschaften
des Kombinationspräparats drastisch vor Augen zu führen. Dafür
kamen die bereits erwähnten Disks der Firma Oxoid wie gerufen.
Auf Nährböden gelegt, machen diese die bakterientötende Wirkung visuell sichtbar. Für einen Ärztebesucher war die Einführung
einer solchen Labormethode jedoch eine allzu anspruchsvolle
Aufgabe, weswegen Erika Böhni dafür hinzugezogen wurde.148 Für
sie typisch erscheint ihr Kommentar zu einer dieser Veranstaltungen, die sie in Schweden durchzuführen hatte: In Stockholm
ging es am 18. Juni 1969 «besonders gut, weil viele Bakteriologen
da waren und wenig Zuhörer».149 Zum 6. Internationalen Chemotherapiekongress reiste Böhni im August 1969 nach Tokio
und referierte dort ebenfalls über ihre Arbeiten mit den BactrimDisks. Ihre vorherige Aufregung war nach eigenem Bekunden
«nicht der Rede wert: Alles geht gut, mit dem Mikrofon, mit den
Bildern, ich erhalte einen Applaus wie niemand. Farbig, fröhlich,
klar: Das zieht immer.»
Ernst Böhni, Stein am Rhein
Promotionstouren bis zur Erschöpfung
Böhni erhielt nach ihrem Vortrag «die höchsten Komplimente» und erwiderte darauf, ganz Roche-Frau: «Für
eine rechte Firma mache ich auch etwas Rechtes.»150
Das Vortragsprogramm wurde ergänzt durch Präsentationen von
klinischen Prüfungsergebnissen, die von den lokalen Studienleitern bestritten wurden.151 Mit Freude erinnerte sich Erika Böhni
später an freundliche Kontakte mit der japanischen Bevölkerung
und über ihren Besuch im Nationalmuseum für westliche Kunst:
«Dort habe ich den schönsten Segantini meines Lebens gesehen.
Der ist in keinem Katalog zu finden, aber ich sehe ihn noch vor
mir, der war einfach wundervoll.»152
Weitere Reisen führten Erika Böhni in die Niederlande,
nach Italien, Griechenland, im Herbst 1969 aber auch nach
Südafrika. Der dortige Niederlassungsleiter hatte die vierzehntägige Tour entlang der Ostküste generalstabsmässig
133
vorbereitet und verlangte von Böhni, dass sie «länger und
lauter» rede. In der Erinnerung meinte sie: «Jede Minute
war ausgebucht, vom Aufstehen bis spät nach Mitternacht:
Apéros, Vorträge, Diskussionen mit Bakteriologen und
Klinikern. [...] Am zehnten Tag sind wir dann endgültig
zusammengeklappt. Wir konnten einfach nicht mehr.»153
National Museum of Western Art Tokyo. Tokio
1983.
Eine Frau von Format (1993), S. 46.
154 Böhni, Erika: Über antibakterielle
Eigenschaften der Kombination
Trimethoprim/Sulfamethoxazol im Vergleich
mit Antibiotika. In: Schweizerische
Medizinische Wochenschrift 99 (1969),
S. 1505-1510.
155 Fortschrittsbericht Nr. 2 der Projektgruppe
«Antibakterielle Stoffe», 14.10.1969, S. 3 f.
HAR FE.0.3 – 103534 f.
156 VI/Klin. 2/69, 6.2.1969, S. 3. HAR FE.0.3 103534 f.
157Ibid.
158 Obituaries, Emanuel Grunberg, Bacteriologist,
72. In: The New York Times, 29.1.1995.
159 United States Patent Office, 3’515’783,
2.6.1970. HAR FE.2.1 - 103531 o.
160 Bactrim-Meeting with FDA, 17.4.1972. HAR
FE.2.1 - 103531 o.
161 Fey, Hans: Zum Hinschied von Prof. Dr. Ernst
Wiesmann. In: Schweizerische Gesellschaft
für Mikrobiologie, Info 25 (1989), S. 62-64.
162 Abt. PA/5, 17.2.1970, S. 3. HAR FE.2.1 103531 o.
163 RRMG, Sitzung vom 12.6.1970, Princeton/
New Jersey, HAR FE.04 - 103593 f.
164 Minutes of the Roche Reserach Management
153
134
Erika Böhni verfasste eine Orientierung in der «Schweizerischen
Medizinischen Wochenschrift», worin sie die antibakteriellen
Eigenschaften herkömmlicher Antibiotika mit jenen von Bactrim
verglich. Auf Nährböden wie im Tierexperiment an Mäusen und
Ratten zeigte sie auf, wie der Hemm- beziehungsweise Abtötungseffekt von Bactrim bei vier bakteriellen Krankheitserregern
den Antibiotika Oxytetrazyklin und Chloramphenicol überlegen
war.154
Im Rahmen der weltweiten Einführungsvorbereitungen
wurden die klinischen Prüfungen intensiv vorangetrieben, um
die nötigen Unterlagen für die Registrierung in den einzelnen
Ländern bereitzustellen. Die Mitarbeiter verfassten Berichte
über zahlreiche experimentelle und klinische Studien und hielten Vorträge an Tagungen, Symposien und Kongressen. In den
Roche-Labors kombinierten die Forscher weitere Sulfonamide
mit Potentiatoren, allerdings mit eher bescheidenem Erfolg.155
Während die klinischen Prüfungen in Belgien, Deutschland,
Frankreich, Italien, Österreich und in der Schweiz auf breitester
Basis liefen, war die Zahl der Prüfungsstellen in verschiedenen
anderen Ländern, speziell in Australien, Neuseeland, Fernost, der
Niederlande oder Skandinavien noch unbefriedigend. Deshalb
unternahm man dort verstärkte Anstrengungen, «nicht zuletzt
auch, um zu verhindern, dass Burroughs Wellcome in diesen
Gebieten einen Vorsprung gewinnt».156 Wegen der Konkurrenzsituation wurde eine möglichst breite Streuung des Präparates im
Sinne einer Voreinführungskampagne angestrebt, wobei Roche
auch in Kauf nahm, dass mancherorts die Prüfung nicht nach den
von der Firma sonst geforderten strengen Kriterien durchgeführt
wurde.157
Weitere Einführungsmassnahmen
Im Jahr 1970 wurde Bactrim mit Patentnummer 1’103’931 in
Deutschland zugelassen, und etwas später auch in Spanien. Am
2. Juni 1970 erfolgte die Patentierung auf Antrag von Emanuel
Grunberg158 , des bedeutenden Tuberkuloseforschers und Chef
der chemotherapeutischen Abteilung von Roche Nutley, mit ausführlicher Beschreibung durch das United States Patent Office als
Nr. 3’515’783.159 Die Aufsichtsbehörde FDA interessierte sich vor
allem für die Auswirkung bei Schwangerschaften, was man in der
Folge mittels zahlreicher Experimente und Studien untersuchte.
Bislang bestanden nämlich keine Studien an Schwangeren und
an Frauen, die eine Schwangerschaft beabsichtigten.160
Ernst Wiesmann161, ordentlicher Professor für Mikrobiologie
in Zürich und einer der wichtigsten Bakteriologen der Schweiz,
konnte dank Bactrim für eine Zusammenarbeit gewonnen
werden, «nachdem diesbezügliche Versuche jahrelang keinen
Erfolg gezeigt haben». Dieser «Meinungsmacher» erschien als so
wichtig, dass man ihn für seine Stellungnahmen zu Bactrim mit
1 200 Franken entschädigte und ihm ein Jahr lang das Monats­
gehalt für eine Laborantin in gleicher Höhe bezahlte.162
Am Jahrestreffen der Roche Research Management Group
(RRMG) vom Juni 1970 in Princeton/New Jersey konnte von
der weltweiten Markterschliessung und von der Erprobung zweier
neuer galenischer Formen berichtet werden, einerseits ein Kindersirup und Suspensionen für Erwachsene, sowie andererseits die
intramuskuläre Injektion.163 Am Treffen von 1971 im englischen
Broadway wurde angesichts des sich abzeichnenden Markterfolgs
erneut die Notwendigkeit betont, die Position im Sulfonamidbereich gegenüber Burroughs Wellcome zu konsolidieren und
zu verbreitern. Die Trimethoprim-Forschung von Roche in
Nutley hatte stark dazu beigetragen, dass man der Partnerfirma
selbstbewusst entgegentreten konnte. Ein Workshop in Basel
vom 3./4. Mai 1971, an dem die drei Roche-Forschungszentren
vertreten waren, befasste sich mit den klinischen Fortschritten
und beriet die weitere Koordination.164 Anlässlich eines Treffens
mit C. Madden von Wellcome vom 28. Juli 1971 in Basel in Bezug
auf die Zukunft der Bactrim/Septrin-Zusammenarbeit gaben sich
die Mitarbeiter von Roche betont zurückhaltend, während der
Engländer erstaunlich offen über den Erfahrungsmangel von
Wellcome im Sulfonamidbereich berichtete; Madden räumte ein,
dass die Marktstellung von Septrin ausserhalb Grossbritanniens
unbefriedigend sei und dass personelle Wechsel bevorstünden.
135
Basel zweifelte, ob Wellcome die Zusammenarbeit fortsetzen
würde, wenn London auf Dauer die zweite Geige würde spielen
müssen.165
Firmenintern wurde eine «Projektgruppe Bactrim» gebildet,
um in Doppelblindstudien aufzuzeigen, dass das neue Medikament effektiver war als vergleichbare Komponenten und ein
breites Anwendungsspektrum umfasste.166 Zu ihrer Freude erfuhr
Erika Böhni 1971, dass ihr Roche einen Erfinderanteil an Bactrim zugestand. Im selben Jahr wurde sie als einzige Frau zur
Prokuristin befördert.167 Auch die Mitarbeiter von Roche waren
mächtig stolz auf das neue Heilmittel. Im Rahmen eines Porträts
des Penicillin-Pioniers Alexander Fleming stellten die «RocheNachrichten» 1971 selbstbewusst fest:
«In der Geschichte der antibakteriell wirkenden Substanzen hat Roche in Zusammenarbeit mit dem englischen
Pharmaunternehmen Wellcome Foundation den vorläufig
letzten Markstein gesetzt, und zwar mit ‚Bactrim’, einem
bakterientötenden Chemotherapeutikum mit breiter
Wirkung. Es wird erfolgreich eingesetzt bei Infektionen
der Haut, der Atemwege, der Nieren und der ableitenden Harnwege, der weiblichen und der männlichen
Genitalorgane und des Magen-Darm-Traktes.»168
Erfüllte Erwartungen «in jeder Hinsicht»
Im Jahr 1970 erreichte Bactrim 57 Millionen Franken Umsatz,
1971 bereits mehr als das Doppelte, nämlich 118 Millionen. 1972
übertraf Bactrim mit 161 Millionen Franken Umsatz erstmals den
5-Prozent-Anteil des Gesamtkonzerns.169 Ganz zweifellos hatte
die Gruppe der Antiinfektiva dank dem erfreulichen Erfolg des
neuen Produkts erheblich an Bedeutung gewonnen, auch wenn
Bactrim die früheren Chemotherapeutika in den Schatten stellte
und zurückdrängte. Anfang der 1970er Jahre zeichnete sich ab,
dass das Medikament in zahlreichen Ländern in die vordere Reihe
der pharmazeutischen Spezialitäten rückte.170 Mit Befriedigung
kommentierte man in Basel die Einführung in immer neuen Staa-
136
ten: «Diese Spezialität erfüllt die in sie gesetzten Erwartungen
in jeder Hinsicht.»171 Der 7. Internationale Kongress für Chemotherapie in Prag im August 1971 zeigte, dass sich auch die
osteuropäischen Mediziner lebhaft für Bactrim interessierten.172
Überhaupt vermochte sich das Medikament rasch als globales
Mittel der Wahl zu etablieren.
Die Basler Roche-Zentrale meinte zu den Verkäufen des
neuen Antiinfektivums: «Bactrim wurde von der Ärzteschaft
sofort aufgenommen und hat sich inzwischen zu einem
Standardpräparat entwickelt, obwohl die Einführungs­
phase noch nicht in allen Ländern abgeschlossen ist.»173
Am Treffen des Forschungsmanagements vom Juni 1972 in
Territet bei Montreux hofften die Vertreter von Roche Nutley auf eine gute künftige Marktsituation auch für die USA.
Zuhanden der amerikanischen Behörden waren zahlreiche
Unterlagen bereitzustellen, da man die europäischen Daten in
den Vereinigten Staaten nicht verwenden konnte. In Nutley
wurde eine neue Synthese von Trimethoprim entdeckt und als
Ro 20-5662 intensiv erforscht. Es ging dem Konzern darum,
gegenüber Wellcome marktmässig die Führung zu bewahren,
und darum dachte man in Basel bereits an mögliche Nachfolger
von Bactrim. Ein Nachfolgeprodukt sollte helfen, auf Dauer die
Unabhängigkeit von Burroughs Wellcome zu erlangen.174 Man
studierte weiterhin den Metabolismus von Trimethoprim und
synthetisierte die von dieser Gruppe isolierten vier Hauptmetaboliten in genügender Menge für eine genauere chemotherapeutische und toxikologische Prüfung. Doch alle vier Produkte
unterlagen als Potentiatoren dem Trimethoprim. Ein einziges
isomeres Nebenprodukt erwies sich vorerst als gut verträglicher,
hoffnungsvoller Potentiator. Dennoch wurde weiter hartnäckig
versucht, mit zielgerichteten chemischen Arbeitsprogrammen
neue Potentiatoren für weitere Kombinationen zu finden.175 Auch
gewisse veterinärmedizinische Abklärungen wurden nicht vernachlässigt, seien es Injektionslösungen, Tabletten, Pulver zur
oralen Anwendung oder Zusätze zu Medizinalfutter.176
Roche Grenzach (Deutschland) erforschte die Bactrim-Injektionslösung und entsprechende Therapieergebnisse sowie die Ver-
165
166
167
168
169
170
171
172
173
174
175
176
Group Meeting, June 10-15, 1971, Broadway/
GB, S. 39. HAR FE.0.4 - 103593 i.
Confidential Note to Dr. Herrero and Dr.
Feinstein, 3.8.1971. HAR FE.2.1 - 103531 o.
Ro 6-2580 Bactrim Project Group, Report for
1971 RRMG Meeting. HAR FE.0.4 - 103593 i.
Böhni, Tagebuch Nr. IX, 26.7. und 22.12.1971
[o. S.].
Roche-Nachrichten, Beilage zur RocheZeitung 1/1971, S. 27.
Interne Mitteilung Nr. 135, 16.4.1973,
Konzern-Übersicht, PharmaVerkaufsergebnisse 1967-1972, S. 23, 26.
HAR FR.2.3.5 - 101304.
Auszug aus dem Roche- und SapacGeschäftsbericht für das Jahr 1970. In: Roche
Nachrichten, Beilage zur Roche-Zeitung
3/1971, S. 4.
Auszug aus dem Roche- und SapacGeschäftsbericht für das Jahr 1971. In: Roche
Nachrichten, Beilage zur Roche-Zeitung
2/1972, S. 4.
The Wellcome Foundation Ltd to F.
Hoffmann-La Roche, 20.10.1971. HAR FE.2.1
- 103531 o.
Auszug aus dem Roche- und SapacGeschäftsbericht für das Jahr 1972. In: Roche
Nachrichten, Beilage zur Roche-Zeitung
2/1972, S. 4.
Minutes of the Roche Research Management
Group Meeting, June 15-20, 1972, Territet/
Montreux, S. 20 f. HAR FE.0.4 - 103593 k.
Rapport No. 37’766, 14.10.1969, S. 2. HAR
FE.0.3 - 103534 f.
Übersicht über die veterinärmedizinische
Prüfung von Ro 6-2577, Stichtag 1.3.1972.
137
träglichkeit bei 668 Patienten. Die Erfolgsquote von 86% wurde als
«recht zufriedenstellend» beurteilt, ebenso die allgemeine und die
lokale Verträglichkeit. Man beabsichtigte 1973 die baldige Einführung der intramuskulären Gabe auch für die Schweiz.177 Meldungen über Schwierigkeiten ging man bei Roche unverzüglich nach.
Als die Städtischen Krankenanstalten Düsseldorf von Trübungen
beziehungsweise Ausfällungen in der Bactrim-Ampullenlösung
berichteten, wurde die Mischung in Basel sofort nachvollzogen
und der Grund im aussergewöhnlich hohen Säuregrad des verwendeten Wassers gefunden; auch ein Manipulationsfehler konnte
nicht völlig ausgeschlossen werden.178 Zudem wurden die stetig
zunehmenden Studien zahlreicher Universitätskliniken – etwa zu
den Nebenwirkungen179 – aufmerksam verfolgt.
1973 entwickelte Roche das Kao-Bactrim mit Kaolin in
Sirupform für Kinder wie auch für Erwachsene gegen die Ruhr
(Dysenterie). Dieses Medikament gegen Durchfall eignete sich
vor allem für südliche und tropische Länder, während an einer
Einführung in Europa weniger Interesse bestand.180 Wellcome
arbeitete derweil an dispersiblen Tabletten mit Primojel, ein nicht
patentfähiges Produkt, das aber dennoch als Geschäftsgeheimnis
deklariert wurde.181
Historisches Archiv Roche
Hahnenklee-Symposium 1973,
Titelseite des Tagungsberichts.
Die von Roche organisierten,
jährlich stattfindenden
Symposien im Kurort Hahnenklee
galten ab 1973 spezifisch
Themen zur Infektiologie. Das
erste Symposium im Jahre 1973
befasste sich allgemein mit
Bactrim. Die nachfolgenden
Symposien konzentrierten sich
auf eine jeweilige Indikation des
Medikaments, beispielsweise
im Folgejahr den Infektionen der
Atmungsorgane
Nummer drei hinter Valium und Librium
177
178
179
180
181
182
183
HAR FE.2.1 - 103531 o.
Rapport Nr. 54 338, 23.3.1973. HAR FE.2.1 103531 o.
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Aktennotiz von J. Morgan über Besprechung
mit C. Madden (Wellcome), Basel,
138
Das jährliche Roche-Symposion im Oberharzer Kurort Hahnenklee befasste sich 1973 mit der Bakteriologie, Pharmakologie und
klinischen Anwendung von Bactrim.182 Auch die regelmässigen
Bactrim-Treffen zwischen den Partnerfirmen wurden Mitte der
1970er Jahre fortgesetzt. Man beschloss für die Einführung in
Indien eine enge Kooperation, beriet über den Preisdruck durch
die US-Regierung und empörte sich über die Behörden in Norwegen, die glaubten, Bactrim/Septrin sei ein Medikament zweiter
Wahl.183 Die Zusammenarbeit mit Wellcome bot aber immer
wieder gewisse Reibungsflächen. Die Generaldirektion von Roche
überlegte im Frühjahr 1974, wie eine Senkung des Lieferpreises von Trimethoprim von Wellcome um 34% erreicht werden
könne; man war der Meinung, dass auch Nutley für ihre Produktion nur diesen Preis bezahlen sollte. Zudem war abgesprochen,
dass Burroughs Wellcome Septrin in Pakistan einführen solle,
während Roche den iranischen Markt mit Bactrim versorgen
wollte. Weil Wellcome aber entgegen den Abmachungen doch
nach Iran vorstiess, wollte man für Pakistan eine Entschädigung
einfordern. Roche London hatte eine wasserlösliche Bactrim-Tab-
lette entwickelt und wollte diese rasch einführen, «um gegenüber
Burroughs Wellcome einen Vorsprung zu haben». Man gedachte
damit wegen der Diskussionen um Indien und Pakistan allerdings
noch zwei Monate zuzuwarten – vor allem wegen Indien, wo
Wellcome zur Einführung bereit war, während Roche Bombay
die Bewilligung zur Einführung noch nicht erhalten hatte.184
Mitte 1975 ging bei Burroughs Wellcome das Gerücht um, dass
Roche in England ein Verfahren zur eigenständigen Herstellung
von Trimethoprim vorantreibe. Überhaupt neige Roche zu der
Auffassung, sie sei seit Februar 1975 frei, die Substanz selber zu
produzieren. Aus Basel kam indessen beruhigender Bescheid:
Wellcome brauche sich solange keine Sorgen zu machen, als die
Preise für Trimethoprim vernünftig seien.185
1974 konnte Roche bekannt geben, dass Bactrim ausserhalb
der USA ein so grosser Erfolg sei, dass es unter den RocheProdukten mittlerweile hinter Valium und Librium die dritte
9./10.1.1974. HAR FE.2.1 - 103531 o.
Auszug aus GD-Protokoll No 13 vom 22.28.4.1974. HAR FE.2.1 - 103531 o.
185 Aktennotiz von M. Mathez, 27.6.1975. HAR
184
139
186
187
188
189
190
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- 103531 t,u.
Ruf als Chemotherapeutikafirma gestärkt.
In: Roche Nachrichten, Ausgabe Oktober,
140
Aquarell für eine BactrimWerbeanzeige des Basler
Graphikers und Karikaturisten
Christoph Gloor, 1970er Jahre
Historisches Archiv Roche
Stelle einnehme. Die Einführung in den US-Markt werde das
Verkaufsvolumen noch steigern; in den Vereinigten Staaten
war das dort 1973 eingeführte Medikament nämlich erst gegen
Harnwegsinfekte zugelassen. Ein breiteres Anwendungsspektrum
erschien daher als sehr wünschenswert.186 Am Meeting des RocheManagements 1975 im englischen Great Fosters wurde über die
neuesten klinischen Bactrim-Studien berichtet, so etwa über
die Testberichte von Tabletten und pädiatrischen Suspensionen
gegen verschiedene Infektionen. Ermutigende Resultate zeigten
die Therapien bei Bakterienruhr oder bei Infektionen mit dem
Pilz Pneumocystis carinii , der damals als möglicher Erreger von
Lungenentzündung beurteilt wurde. Studien über Behandlungen
von Mittelohrentzündungen sahen ebenfalls vielversprechend
aus, ebenso Untersuchungen über Hirnhautentzündungen oder
über Krankheitserreger wie Staphylokokken, Streptokokken,
Escherichia coli und Klebsiella. Untersuchungen über Infektionen
der Harnwege mit 10 oder 28 Tagen Behandlung zeigten mit
Bactrim-Gaben bessere Resultate als mit anderen Produkten.
Erfolge bei chronischen Prostata-Entzündungen waren ebenso
offensichtlich wie bei Gonorrhoe. Auch die Injektionslösungen,
die bei schweren Infektionen zur Anwendung kommen sollten,
wurden ständig weiterentwickelt.187 So befand sich die BactrimAmpullenlösung für intramuskuläre Verabreichung seit Anfang
1975 in intensiver klinischer Prüfung. Es handelte sich dabei
um 3ml-Ampullen mit 800mg Sulfamethoxazol und 160mg Trimethoprim in einer 52-prozentigen Glycofurol-Lösung – eine
Kombination mit Verdoppelung der Wirkstoffe, die später in
Tablettenform als «Bactrim forte» auf den Markt kommen sollte.
Die Therapieresultate und die allgemeine Verträglichkeit waren
bei 138 Patienten aus acht Ländern «recht zufriedenstellend».188
Der Kao-Bactrim-Sirup sowie ein Bactrim Balsamico befanden
sich ebenfalls in Prüfung; diesbezüglich zog es Basel vor, mit
Wellcome keine Informationen auszutauschen.189
Der 9. Internationale Kongress für Chemotherapie in London
vereinigte vom 13. bis 18. Juli 1975 2 000 Spezialisten mit fast
tausend Referaten. Immerhin 60 davon betrafen wissenschaftliche Erfahrungen mit Roche-Präparaten, über 30 handelten
von Bactrim, so dass man in Basel zufrieden konstatierte, dass
Roche ihren Ruf als Chemotherapeutica-Firma stärken konnte.190
Währenddessen blieb die Zusammenarbeit auf dem Gebiet von
Bactrim und möglichen Nachfolgepräparaten zwischen Roche
und Wellcome eng. Beide Unternehmen erforschten etwa eine
weitere Trimethoprim/Sulfonamidkombination, nämlich Trime-
thoprim/Sulfadiazin. Man suchte laufend neue Potentiatoren und
tauschte zur Auswahl der geeignetsten Arzneimittel-Kandidaten
wissenschaftliche Unterlagen aus. 191 So informierten sich die
Teilnehmer des gemeinsamen Treffens bei Burroughs Wellcome
in Beckenham, North Carolina, vom 17. bis 19. Dezember über
neueste Tierexperimente und über die Fortschritte der Forschung
zur Kombination Trimethoprim/Sulfadiazin, wobei eine Zusammenarbeit beschlossen wurde. Dieses enge Zusammengehen sollte
auch auf neue Potentiatoren ausgedehnt werden.192
Gefahr im Anzug: Trimethoprim als
Einzelpäparat
Für Beunruhigung sorgte Anfang 1976 in Basel, dass Trimethoprim von einer finnischen Firma kommerzialisiert wurde und
ausserdem von Konkurrenzfirmen Bestrebungen im Gang waren,
Trimethoprim als Einzelpräparat zu verwenden. Diese Einfüh-
4/1975, S. 1.
Zusammenarbeit mit Wellcome auf
dem Gebiet von Bactrim und möglichen
Nachfolgepräparaten, Interne Mitteilung,
10.11.1975. HAR FE.2.1 - 103531 q,r.
192 M. Fernex und H. Neumann: Zusammenarbeit
mit Wellcome auf dem Gebiet von Bactrim
und möglichen Nachfolgepräparaten, Interne
Mitteilung, 10.11.1975. HAR DE.2.1 - 103531
191
141
t,u.
Notiz Trimethoprim als Einzelspezialität,
8.1.1976. HAR FE.2.1 - 103531 p.
194 Havas, L.: Die Wirksamkeit und
Verträglichkeit von Trimethoprim als
Einzelpräparat (präliminärer Bericht),
17.2.1976. HAR DE.2.1 - 103531 t,u.
195 Böhni, Erika: Einige Gedanken über die
Gefahr der alleinigen Anwendung von TM,
Mskr., 19.2.1976, S. 4. HAR DE.2.1 - 103531
t,u.
196 Lacey, R. W. / Lord, V. L. / Gunasekara, H. K. /
Leibermann, P. J. / Luxton, D. E.: Comparison
of trimethoprim alone with trimethoprim
sulphamethoxazole in the treatment
of respiratory and urinary infections
with particular reference to selection of
trimethoprim resistance. In: Lancet 1, Nr.
8181, juin 1980, S. 1270-1273. – Brumfitt,
W. / Hamilton-Miller, J. M. / Havard, C. W. /
Transley, H.: Trimethoprim alone compared to
cotrimoxazole in lower respiratory infections:
pharmacokinetics and clinical effectiveness.
In: Scandinavian Journal of Infectious
193
142
prim.197 Stets auf der Suche nach einem Nachfolgeprodukt, kombinierte man Trimethoprim und Sulfadiazin im Verhältnis eins
zu drei (Ro 12-2510). Untersucht wurden bei dieser Kombination
die Aktivität in vitro und in vivo, die pharmakologischen und
pharmakokinetischen Eigenschaften, die Nebenwirkungen, die
Toxikologie beim Tier und schliesslich die klinische Anwendung.
Es ergab sich eine erstaunlich günstige Diffusion von Sulfodiazin
ins Bronchialgewebe, ins Bronchialsekret und in den Speichel, was
eine gute chemotherapeutische Wirkung bei Luftwegsinfektionen
versprach.198
Am 10. Internationalen Kongress für Chemotherapie vom
18. bis zum 23. September 1977 trafen sich in Zürich gegen 3 000
Wissenschaftler; es wurden über 60 Referate zu Roche-Produkten
gehalten, darunter viele wiederum über Bactrim.199 1981 publizierten John Marks, Arzt und Leiter von Roche London, sowie
der Basler Mikrobiologe und Roche-Forscher Pierre Reusser eine
umfassende Monografie zu Bactrim.200 Aufgrund des neuesten
Standes der wissenschaftlichen Erkenntnisse zeigten sie darin
das Konzept des Heilmittels, die wissenschaftliche Grundlage,
den klinischen Einsatz, die Nebenwirkungen sowie spezifische
Produkte-Informationen auf. Hatte die Literaturliste bei der
Einführungsbroschüre von 1969 lediglich 51 Titel umfasst 201,
waren es jetzt 941202 .
Den Rekordumsatz erreichte Bactrim mit 441 Millionen Franken im Jahre 1985, 16 Jahre nach der Einführung und genau im
Jahr des Patentablaufs von Valium, dem damals meistverkauften
Medikament von Roche. Zum Erfolg von Bactrim trug zweifellos
auch der gehäufte Einsatz des Medikaments gegen bakterielle
Infektionen bei, welche als Folge der Immunschwäche AIDS
auftraten. Cotrimoxazol (unter anderen Bactrim) wird von der
Weltgesundheitsorganisation WHO nach wie vor als einfache, gut
verträgliche und kostengünstige Vorbeugung gegen Nebeninfektionen bei HIV-Patienten im Erwachsenen- und Kindesalter in
Drittweltländern empfohlen.203 Diese pragmatische Massnahme
des UNO-Aidsprogramms kommt mit Kosten von acht Dollar
pro Kopf und Behandlungszyklus aus. Demgegenüber kostete
im Jahr 2000 eine klassische antivirale Kombinationstherapie im
Westen rund 15 000 Dollar pro Monat. Die von der WHO geförderte Massnahme wurde allerdings teilweise als diskriminierend
beurteilt und stiess deswegen auf scharfe Kritik.204
Die Verkaufszahlen von Bactrim waren trotz kleinem Einbruch 1978 kontinuierlich angestiegen und hatten 1981 die
400-Millionen-Grenze überschritten. Angesichts der auslaufen-
Historisches Archiv Roche
rung als Einzelspezialität bedeutete ganz zweifellos eine Gefahr
für Bactrim/Septrin, und zwar für die Verkäufe wie auch für die
Kombination als Ganzes. Man wollte sich bei Roche sorgfältig auf
geeignete Gegenmassnahmen vorbereiten und erwog sogar, Trimethoprim vorsorglich als Einzelsubstanz für ganz beschränkte
Indikationen in den USA anzumelden. Doch kam man zu dem
Schluss, dass alles unternommen werden müsse, um eine Einführung von Trimethoprim als Einzelsubstanz um jeden Preis
zu verhindern.193
Ausgehend von Literaturstudien stand es um die klinischen
Ergebnisse für Trimethoprim nicht sehr gut.194 Erika Böhni
schrieb ihre Gedanken darüber in gewohnter Prägnanz nieder («Bitte nicht abgeben an Wellcome»). Sie sah den möglichen Grund der Propagierung einer alleinigen Anwendung
von Trimethoprim im Ablauf der Patente. Alles sei schon mal
dagewesen: Man habe vor 20 Jahren das Trimethoprim in den
USA und später auch in der Schweiz allein abgegeben; dies mit
gewissen chemotherapeutischen Erfolgen, aber auch mit schweren Nebenwirkungen. Blutschäden und sogar Todesfälle seien
damals aufgetreten, und genau darum wurde ein Sulfonamid
beigegeben. Erst die Kombination erlaubte es, solche Nebenwirkungen ohne Beeinträchtigung der chemotherapeutischen
Aktivitäten zu reduzieren. Der Effekt – argumentierte Böhni
– wurde mit der Kombination sogar noch verstärkt und die
Resistenzentwicklung erfolge langsamer. Gerade darum wurde
das Trimethoprim in den USA nur in Kombination zugelassen.
Roche habe zahllose chemotherapeutische Versuche mit überzeugenden Resultaten durchgeführt, und zwar experimentell
wie klinisch. Die Bactrim-Pionierin kam in ihrem Bericht über
den drohenden Alleingang von Trimethoprim zum Schluss:
«Wir zerstören damit selbst (wenn auch nur Wellcome) unser
ganzes, gemeinsam während zwölf Jahren mühsam entwickeltes Konzept und damit auch alle zukünftigen hoffnungsvollen
Kombinationen dieser Art.»195
Tatsächlich gelang es in der Folge aber nicht, das «Trimethoprim Mono» (Infectotrimet) als Einzelsubstanz zu verhindern;
es gab sogar Forscher, die dem Trimethoprim als Einzelsubstanz
eine bessere Verträglichkeit zuschrieben, da das Medikament
ohne Sulfonamid auskomme.196
Auch an anderen Kombinationen wurde weiterhin geforscht,
wobei Roche zum Schluss kam, dass Sulfamoxol in seinen antibakteriellen Qualitäten dem gebräuchlichen Sulfamethoxazol
vielfach unterlegen war, auch in Kombination mit Trimetho­
Pierre Reusser
am Arbeitsplatz
Bau 74, um 1985
Diseases 17, Nr. 1 (1985), S. 99-105.
Böhni, Erika: Hemmende und abtötende
Wirkung zweier Trimethoprim-SulfonamidKombinationen, Mskr., 26.11.1975. HAR
DE.2.1 – 103531 t,u.
198 Kombination Trimethoprim + Sulfadiazin (1 +
3), Ro 12-2510, Beschreibung für die Klinik.
HAR FE.2.1 - 103531 s.
199 Sechzig Referate über RocheChemotherapeutika. In: Roche Nachrichten,
Ausgabe Dezember, 5/1977, S. 14.
200 Marks, John / Reusser, Pierre: ‚Bactrim’
Roche. A Broad-spectrum Antibacterial
Agent With Maintained High Bacterial
Sensitivity. 1. Aufl. Basel 1981. 2. Aufl. Basel
1983.
201 «Bactrim» Roche. Bakterizides BreitbandTherapeuticum (1969), S. 80-84.
202 Marks, John / Reusser, Pierre: ‚Bactrim’
Roche (1983), S. 121-165.
203http://www.roche.com/de/corporate_
responsibility/patients/access_to_healthcare/
developing_countries/who_essential_
medicines.htm
204 Alles für die Nationale Sicherheit. Afrikas
Aids-Katastrophe: USA finanzieren neue
Menschversuche. In: Die Wochenzeitung,
197
143
Ablauf des Patentschutzes
Bactrim Umsätze
Umsatz 450
(Mio. CHF)
400
350
300
200
150
100
50
0
Jahr
1965
1970 197519801985199019952000 2005 2010
24.2.2000, S. 1.
Bactrim-Umsätze 1969-2010. HAR FR.2.3.5 107395.
206 Falsch und tödlich. Gefälschte Medikamente
und Flugzeugersatzteile gefährden
Menschenleben. In: Cash, 29.4.1994.
207 Drusano, G[eorge] L. e.a.: Bactrim today.
205
144
den Patente nach 1989 und zunehmender Nachahmerpräparate
fiel der Umsatz von Bactrim seit 2008 unter 100 Millionen Franken.205 Mit gefährlichen Fälschungen mussten sich Roche und
Wellcome seit 1982 in Deutschland und im Libanon befassen.206
1988 verfasste George L Drusano, Pharmakologe am Albany
Medical College in New York, das Buch «Bactrim today».207 Mit
zahlreichen eindrücklichen Graphiken zeigte er kurz vor Ablauf
des Patentschutzes den therapeutischen Erfolg von Bactrim noch
einmal auf. Keine trockenen wissenschaftlichen Therapiestatistiken und schon gar nicht kommerzielle Umsatzkurven können uns
aber aufzeigen, welche Wirkung Bactrim bei den vielen hundert
Millionen behandelter Patientinnen und Patienten verschiedensten Alters hatte. Jeder individuelle Behandlungserfolg bei
Säuglingen, Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen und Senioren
ist für die Kranken wie auch für ihre Angehörigen eine enorme
Erleichterung, geschehe es in der indischen Grosstadt, mitten im
afrikanischen Regenwald oder auf einer abgelegenen kanadischen
Farm. Speziell für die Entwicklungsländer bedeutete Bactrim
einen bedeutenden Behandlungsfortschritt bei oft lebensgefährlichen Krankheiten.
Bruno Halm, Historisches Archiv Roche
250
Nach Ablauf des Patentschutzes verschärfte sich erwartungsgemäss der Wettbewerb. Es wurden zahlreiche Nachahmerprodukte
auf den Markt gebracht, die bis zu 50% billiger verkauft wurden.
Für 20 Tabletten des Generikums «Goprim» etwa bezahlte man
1994 unter 11 Franken, anstatt über 20 Franken, wie für das Originalpräparat.208 Mitte der 1990er Jahre ging eine Bactrim-Packung
in der Schweiz für 15 Franken an die Apotheker und wurde für
20 Franken verkauft. In Frankreich kostete die gleiche Packung
22 Francs, war also fast viermal billiger. Gewiss konnte Roche
mit der unterschiedlichen Währungsentwicklung argumentieren, doch war immerhin zu bedenken, dass das Produkt bei der
Einführung in beiden Ländern noch gleich teuer gewesen war.209
Als das Bundesamt für Sozialversicherungen für kassenpflichtige
Medikamente den Preis festsetzte, wurde Bactrim nach dem Jahr
2000 bedeutend billiger.210 Der Preis ist heute in allen Märkten
etwa halb so hoch wie für die günstigsten klassischen Antibiotika.
Die Tablette zu 480mg Cotrimoxazol (400mg Sulfamethoxazol +
80mg Trimethoprim) wird beispielsweise in Indien für 42 Cents
angeboten, in Thailand für knapp einen Dollar. Aber der Verkaufspreis ist oftmals sogar noch tiefer; Angebote für 14 Cents
pro Tablette sind keine Seltenheit. Staatliche Gesundheitsorganisationen und Hilfswerke kaufen jedoch direkt bei den Herstellern
ein und erzielen damit grosse Rabatte.
Die WHO beziffert deswegen die Kosten für eine Tagesdosis Cotrimoxazol auf weniger als 10 Cents, womit
das Produkt für eine enorm grosse Zahl von Menschen
erschwinglich ist. Aufgrund des breiten Wirkungsspektrums und des günstigen Preises wurde Cotrimoxazol so
zu einem der meistverwendeten Antiinfektiva weltweit.
Am 27. Februar 1994 erhob die englische «Sunday Times» in
fetten Lettern schwere Vorwürfe gegen Bactrim/Septrin. Seit 1969
seien in Grossbritannen wegen dieses Medikaments 113 offizielle Todesfälle aufgetreten, und die Dunkelziffer sei gewiss noch
wesentlich höher. Roche bestritt die offizielle Zahl der Todesfälle
nicht, wohl aber die angebliche Dunkelziffer, weil Grossbritannien
München, Bern 1988.
Warum billige Produkte, wenn’s auch teure
gibt? In: Cash, 20.8.1993.
209 Medikamentenpreise. Apotheker hat den
Wettbewerb erfunden. In: Facts, 18.7.1996,
S. 30.
210 1000 Medikamente werden massiv billiger. In:
208
145
Cash, 14.6.1996, S. 1.
Medikamente sind (fast) nie harmlos.
Englische Sonntagszeitung klagt Bactrim an.
In: Tages-Anzeiger, 2.3.1994, S. 68.
212 Flutwelle. Der grosse Sammeltag: Nach der
Spenden-Gala waren es über 100 Millionen!
In: Blick, 8.1.2005, S. 8.
213 Ärzte verordnen häufig falsche Antibiotika.
In: SonntagsZeitung, 20.9.2009, S. 71.
214 Prof. Dr. Terapong Tantawichien, Head of
Infectious Disease Unit, Chulalongkorn
University Hospital and Medical School,
Interview vom 21.7.2011.
211
146
über ein vorzügliches Meldesystem bezüglich Nebenwirkungen
von pharmazeutischen Produkten verfüge. Auch stellte man die
tragischerweise Verstorbenen in Beziehung zu den fünf Millionen
allein in Grossbritannien geheilten Patienten.211 Neben solchen
negativen Schlagzeilen sollten die guten nicht vergessen gehen:
Angesichts der Tsunami-Flutkatastrophe Ende 2004 in acht asiatischen Ländern spendete Roche der schweizerischen «Glückskette»
zur dringend benötigten medikamentösen Versorgung von 80 000
Überlebenden 220 000 Packungen Bactrim und Rocephin im Wert
von einer Million Franken.212
Gewiss, die Euphorie der siebziger und frühen achtziger Jahre
des 20. Jahrhunderts, wonach das Problem sämtlicher Infektionen mit Impfungen und Medikamenten gelöst werden könne,
ist mittlerweile verflogen. Speziell bei bakteriellen Infektionen
ist vermehrt mit beunruhigenden Resistenzentwicklungen und
reduzierter Immunabwehr zu rechnen. Die grenzenlose Mobilität und der Tourismus, aber auch Naturkatastrophen, Krieg,
Hunger und Armut erzeugen als unerwünschte Nebenwirkung
die Verschleppung bekannter und die Bildung neuer Mikroorganismen und somit die Entstehung neuer Krankheiten. Das
Medikament Bactrim stösst da ebenfalls an seine Grenzen. Fast
25% der Escherichia-Coli Bakterien, die Harnwegsinfekte verursachen, reagieren nicht mehr auf das Heilmittel.213
Trotz solch nachdenklicher Ausblicke bleibt die Geschichte
von Bactrim die Geschichte eines Medikaments mit eindrucksvollem bakterientötendem Effekt, beispielhafter therapeutischer
Wirkung, noch immer geringer Resistenz und guter Verträglichkeit. Viele hundert Millionen Menschen auf allen Kontinenten
verdanken Cotrimoxazol ihr Leben. Bactrim steht heute nicht
mehr konkurrenzlos da, sondern teilt sich den Markt mit vielen
Generika, die teilweise zu ausgesprochen tiefen Preisen verfügbar sind. Die Stärke der Marke «Bactrim» zeigt sich in einem
Satz des Infektiologen Professor Terapong Tantawichien vom
Chulalongkom University Hospital in Bangkok: «Wir therapieren hier viele Patienten mit Nachahmerprodukten von Bactrim.
Sollte aber meine Mutter an einem Infekt der Atemwege oder
des Unterleibes leiden, würde ich sie mit Bactrim behandeln.»214
Dank der Hartnäckigkeit der beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bei Roche und Burroughs Wellcome
ist es gelungen, mit Cotrimoxazol ein aussergewöhnliches
Medikament zu schaffen, ohne das eine effektive und kostengünstige Behandlung bakterieller Infektionen in den meisten
Ländern der Welt heute nicht möglich wäre. Durch die grossen
wissenschaftlichen und finanziellen Anstrengungen, welche die
beiden Firmen unternommen haben, stehen der Welt zudem
verschiedenste galenische Formen für alle Altersgruppen und
Krankheitsfälle sowie gesicherte Daten zu dem Produkt zur
Verfügung. All dies ist nach dem Patentablauf Allgemeingut
geworden und wurde damit für die kostenlose Nutzung frei
verfügbar.
147
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149
Rocephin
Keystone
Urs B. Schaad
150
Giuseppe Brotzu
152
Im Jahre 1945 untersucht Giuseppe Brotzu in Sardinien eine
Wasserprobe aus der unmittelbaren Umgebung der Stelle, an
der die Kloake ins Meer fliesst. Er vermutet, dass die zu beobachtende Selbstreinigung des Meerwassers teilweise dadurch
zustande kommt, dass sich Mikroorganismen mit Hilfe selbst
entwickelter Abwehrstoffe gegenseitig bekämpfen und vernichten. Aus der Wasserprobe isoliert er einen Pilz mit dem Namen
Cephalosporium acremonium und entdeckt, dass dieser antibiotisch wirksame Stoffwechselprodukte bildet und ausscheidet,
die gegen eine ganze Reihe von Krankheitserregern wirksam
sind. Brotzu legt grössere Kulturen des Pilzes an und versucht,
ausreichende Mengen dieser antibiotischen Abwehrstoffe zu
gewinnen: Er will mit ihnen klinische Versuche durchführen
und ihre Struktur aufklären. Der erste Teil dieses Vorhabens
gelingt: Brotzu spritzt diese konzentrierten Stoffe Patienten
mit verschiedenen Infektionen. Die Heilerfolge sind gut: Das
erste Heilmittel einer Gruppe von Antibiotika, die später nach
ihrem Erzeugerpilz mit dem Sammelbegriff «Cephalosporine»
bezeichnet werden, ist entdeckt.
Beim zweiten Teil seines Vorhabens scheitert Brotzu . Er ist
mit seinen beschränkten Möglichkeiten nicht in der Lage, den
antibiotisch aktiven Stoff in genügend reiner Form zu isolieren,
um strukturelle Studien unternehmen zu können. 1948 kommt
er jedoch mit englischen Penicillin-Forschern aus Oxford in
Kontakt, welche die Aufgabe der Produktion, der Isolierung und
der Strukturaufklärung des antibiotischen Prinzips von Cephalosporium acremonium mit Begeisterung in Angriff nehmen. Im
Jahre 1954 isolieren zwei dieser Forscher (E. P. Abraham und G.
G. F. Newton) aus dem Pilz zwei Komponenten: Das Penicillin
N (mit dem chemischen Grundgerüst des Penicillins) und das
Cephalosporin C. Dieses Cephalosporin C erweist sich als eine
Substanz mit ausserordentlich interessanten Eigenschaften: Im
Gegensatz zu Penicillin N ist Cephalosporin C säurebeständig
und widerstandsfähig gegen das Enzym Penicillinase, einem von
bestimmten Bakterien gebildeten Abwehrstoff, der Penicillin aufspaltet und somit inaktiviert. Diese Penicillinase-Resistenz führt
dazu, dass mehr und mehr Patienten mit Infektionskrankheiten
auf die Behandlung mit Penicillin nicht mehr oder nur noch
ungenügend ansprechen. Bestimmte Bakterien sind also gegen das
klassische Antibiotikum resistent geworden. Röntgenstrukturanalysen ergeben, dass Cephalosporin C ein Grundgerüst besitzt,
Keystone
Entdeckung der Cephalosporine
Cephalosporium acremonium
das als Beta-Lactamdihydrothiazin-Ringsystem bezeichnet wird.
Da die so genannte Seitenkette am Grundgerüst des Moleküls
gleich aussieht wie diejenige von Penicillin N, liegt folgender
Schluss nahe: Die wertvolle Widerstandsfähigkeit von Cephalosporin C gegen den bakteriellen Abwehrstoff Penicillinase ist
nicht auf die Seitenkette, sondern auf das erwähnte Ringsystem
zurückzuführen. Unverzüglich machen sich Wissenschafter
daran, den Cephalosporin-Grundkörper herzustellen. Dieser soll
experimentell bearbeitet, das heisst chemisch modifiziert werden,
um Cephalosporine zu synthetisieren, die Infektionskrankheiten
wirkungsvoller bekämpfen sollen, als je zuvor.
Damit fiel der Startschuss zur weltweiten CephalosporinForschung, die in den sechziger, siebziger und bis ca. Mitte der
achtziger Jahre die Ausrichtung der meisten forschenden Pharmafirmen entscheidend mitprägte. Das Cephalosporin-Gerüst
erwies sich als äusserst interessantes Substrat für die erwähnten
chemischen Modifikationen: Unzählige wirksame und untoxische
Cephalosporine wurden entdeckt.
Antibakterielle Wirkung
Der Begriff «Antibiotikum » ist auf das Lateinische «Anti»
(gegen) und das Griechische «Bios» (Leben) zurückzuführen.
Als Antibiotika werden alle chemischen Substanzen bezeichnet,
die die Entwicklung der Mikroorganismen «in vitro» (in der
Labor-Anordnung) und «in vivo» (im Organismus) hemmen;
153
Beta-Lactam
AminoCephalosporansäure
als gleichwertiger Begriff kommt heute vielmals die Bezeichnung
Antiinfektiva zum Einsatz, da die erwähnte Übersetzung des
Begriffs Antibiotika («gegen Leben») beim Laien falsche Assoziationen hervorrufen könnte.
Die verschiedenen Antibiotika unterscheiden sich in vielen
Kriterien, wobei für Anwender und Patienten der Wirkungsmechanismus und insbesondere das Wirkungsspektrum im
Vordergrund stehen – und natürlich auch die möglichen Nebenwirkungen. Weitere Unterschiede betreffen Ursprung, chemische
Zusammensetzung sowie die Art der Resistenzentwicklung.
Die Cephalosporine und die Penicilline bilden die «Antibiotika-Familie» der Beta-Lactam-Antibiotika. Diese Substanzen
haben den Beta-Lactam-Ring gemeinsam; bei den Cephalosporinen ist an diesen Beta-Lactam-Ring ein Dihydrothiazin-Ring
(ergibt die 7-Amino-Cephalosporansäure) und bei den Penicillinen ein Thiazolidin-Ring angehängt (ergibt die 6-AminoPenicillansäure).
Neben dieser Strukturverwandtschaft besitzen die Beta-Lactam-Antibiotika denselben Wirkungsmechanismus: Die bakterizide Wirkung
auf empfindliche Keime – das heisst diese Bakterien werden abgetötet – kommt durch Hemmung der Zellwandsynthese zustande. Wichtigster Angriffspunkt ist das Murein-Gerüst, eine
Eiweiss-Zucker-Verbindung (Peptidoglycan);
das Murein sorgt für chemische Widerstandskraft und Festigkeit der Bakterien. Sowohl
die Cephalosporine als auch die Penicilline verbinden sich mit
Enzymen, die am Aufbau des Murein-Skeletts beteiligt sind. Die
ungenügend synthetisierte Zellwand vermag das Bakterium nicht
vor den Kräften des osmotischen Druckes zu schützen, es platzt
und geht zugrunde. Die Beta-Lactam-Antibiotika können also nur
Bakterien angreifen, die sich im Wachstumsstadium befinden,
sich also vermehren; ruhende Bakterien werden nicht abgetötet.
Antibiotikaresistenz
Die Resistenz der Bakterien gegen Antibiotika ist bis heute ein
Problem von grösster Aktualität; es betrifft mittlerweile praktisch
alle Substanzen und alle Erreger.
Für die klinische Anwendung bedeutet Resistenz, dass die
minimale Konzentration des Antibiotikums, die zur Zerstörung
(bakterizide Wirkung) oder zur Wachstumshemmung (bakte-
154
riostatische Wirkung) notwendig ist, am Infektionsherd nicht
erreicht werden kann.
Neben der natürlichen und gut bekannten Resistenz spielt die
erworbene Resistenz eine viel wichtigere Rolle. Die erworbene
Resistenz basiert auf Chromosomen-Mutation oder auf Übertragung von genetischem Material.
Die durch Mutation erworbene Resistenz kommt selten vor
und gewinnt nur unter Selektionsdruck, das heisst bei sehr langer
Anwendung des die Resistenz verursachenden Antibiotikums,
an klinischer Bedeutung. Durch Antibiotika-Wechsel und/oder
Antibiotika-Kombination lässt sich diese Resistenzentwicklung
verhindern.
Die durch Übertragung erworbene Resistenz erklärt gute 90%
der in der Klinik relevanten Antibiotika-Resistenzen. Verschiedene
komplexe Mechanismen kommen für die Übertragung von genetischem Material in Frage, das die Resistenzeigenschaften enthält.
Cephalosporin-Forschung
Amino-Penicillansäure
Wie erwähnt, startete in den frühen sechziger Jahren die weltweite
und zunehmend rasante Entwicklung neuer Cephalosporine.
Die chemische Modifikation der verschiedenen Seitenketten
der 7-Cephalosporansäure sollte Wirkung und Verträglichkeit
optimieren. Der prognostizierte Markt war riesig und prägte die
Motivation der involvierten Forschergruppen.
Bei Roche war der Ausgangspunkt für das CephalosporinProgramm im Jahre 1969 die Erkenntnis, dass die Firma mit
den Sulfonamiden und Bactrim zwar eine starke Stellung bei
den Allgemeinpraktikern hatte, aber im Spitalmarkt kaum
präsent war. So wurde in den chemischen und medizinischen
Abteilungen beschlossen, ein Syntheseprogramm für semisynthetische Penicilline und später zusätzlich auch für Cephalosporine aufzubauen. Zu dem Zeitpunkt waren also bereits etliche
Konkurrenzfirmen auf diesem Gebiet erfolgreich tätig und der
Zugang für neue Firmen wurde durch die vorhandenen Patente,
die zum Teil sehr breit abgefasst waren, erheblich erschwert.
Auch waren die Forschungs­gruppen bei Roche kleiner als bei
der Konkurrenz.
Die Synthese und die Entwicklung von Rocephin basiert auf
einem ungewöhnlich grossen Engagement und Teamwork von
Chemikern, Pharmakologen, Mikrobiologen, Toxikologen, Galenikern, Pharmakokinetikern, Verfahrenstechnikern, Klinikern
und Marketingspezialisten.
155
Peter Angehrn
«Ich musste jedes Mal zittern, bis ich wieder eine
­Bewilligung erhielt. Da die Aussichten höchst ungewiss waren, kamen der Forschungsleitung mit der Zeit
verständlicherweise Bedenken. Ich musste manchmal
meine ganze Überredungskunst aufbieten. Die war
glücklicherweise nicht gering, denn ich war überzeugt,
eine gute Substanz finden zu können.»
Wie bereits erwähnt, bildete auch die komplizierte Patentlage
grosse Schwierigkeiten. Praktisch jede Pharmafirma war auf dem
Gebiet der Cephalosporine tätig: Es gab schon eine ganze Menge
eingeführter Produkte, und die meisten der in Frage kommenden
chemischen Verbindungen waren von den führenden Firmen mit
Patenten geschützt worden.
Die ersten Verbindungen, die Roland Reiner zusammen mit
seinem Cheflaboranten Urs Weiss synthetisierte, erfüllten die
156
Historisches Archiv Roche
Historisches Archiv Roche
Historisches Archiv Roche
Roland Reiner
In den ersten Jahren waren der Chemiker Roland Reiner, der Mikrobiologe Peter Angehrn und der Biologe Peter Probst zusammen
mit ihren Mitarbeitern die wichtigsten treibenden Kräfte. Peter
Angehrn erinnert sich in einem Brief, datiert vom 1. November
2010: «Es ist in der Regel das faszinierende Zusammenwirken
von verschiedenen Faktoren und Personen zur richtigen Zeit
am richtigen Ort, was zu erfolgreichen Entdeckungen führt.
Ausserdem braucht es eine gehörige Portion Glück. So war es
auch bei Rocephin.»
Als Roland Reiner 1969 auftragsgemäss begann, sich mit
Cephalosporinen auseinanderzusetzen, stand er vor einem elementaren Problem: Den chemischen Grundkörper, die erwähnte
7-Cephalosporansäure, gab es bei keinem einzigen Feinchemikalien-Händler zu kaufen. So musste Reiner diese Grundsubstanz
aus einem sich bereits im Handel befindenden Cephalosporin
isolieren, indem er die Seitenkette des betreffenden Moleküls
abspaltete. Die Sache hatte allerdings einen nicht unbeträchtlichen Haken: Das Antibiotikum, das Reiner für seine Arbeit
gleich hundertgrammweise benötigte und sich von der Apotheke
beschaffen musste, war teuer. Jede Bestellung kostete Tausende
von Franken. Reiner erinnerte sich:
an ein möglichst breites antibakterielles Wirkungsspektrum
gestellten Ansprüche nicht einmal annähernd. Der entscheidende
Beitrag auf biologischer Seite bestand darin, dass – entgegen den
Usanzen – in die antibakterielle Charakterisierung der Testsubstanzen auch ein pharmakokinetisches Screening eingebaut
wurde. Das war nicht «branchenüblich» und rational kaum zu
begründen, zumal es in Fachkreisen als unwahrscheinlich galt,
dass ein Penicillin oder ein Cephalosporin im Organismus eine
lange Verweildauer habe könnte.
Das Vorgehen war stufenweise: Peter Angehrn identifizierte
im In-vitro- und In-vivo-Screening unter mehreren hundert
Testpräparaten einige Dutzend Substanzen, die aktivitätsmässig
genügend interessant ausschauten, um sie pharmakokinetisch zu
prüfen. Dies geschah dann bei Peter Probst an Ratte und Kaninchen in relativ aufwändigen Untersuchungen. Natürlich war ein
gutes pharmakokinetisches Verhalten keine Vorbedingung für die
Entwicklung einer Substanz: Verschiedene Testsubstanzen wurden
v.l.n.r.: P. Probst, M. Fernex,
U. Weiss, R. Reiner, P. Angehrn,
A. Furlenmeier, R. P. Hug
157
aufgrund ihrer ausgezeichneten antibakteriellen Eigenschaften
trotz uninteressantem pharmakokinetischen Profil weiterbearbeitet. Aber letztlich zeigten diese im Vergleich zu Konkurrenzpräparaten Schwächen und wurden wieder aufgegeben.
Während dieser Jahre – 1969 bis 1977 – gab es in der Firma
Roche wiederholt intern und extern abgestützte Meinungen
und Ratschläge, das ehrgeizige Vorhaben, nämlich ein neues
innovatives Cephalosporin zu synthetisieren, abzubrechen. Entscheidend war, dass die Forschungsleitung den Forschungs- und
Entwicklungsteams Vertrauen entgegenbrachte und diese auch
in kritischen, das heisst nahezu frustrierenden Situationen zum
Weitermachen motivierte; es herrschte ein erfreulich kreatives
Arbeitsklima. Die teils vernichtenden Beurteilungen von internen und externen Expertengremien wurden nicht übergewichtet,
denn sowohl die Forscher als auch ihre Vorgesetzten glaubten
an ihre Chance.
Zwischen 1969 und 1977 wurden bei Roche über 400 Cephalosporin-Derivate synthetisiert und auch weiter untersucht, natürlich nicht alle im selben Ausmass. Keine Verbindung wies jedoch
überzeugende Qualitäten auf allen drei anvisierten Eigenschaften
auf – nämlich ein breites antibakterielles Spektrum, Resistenz
gegen die damals bekannten Beta-Lactamasen (von gewissen Bakterien produzierte Enzyme, die die Ringstruktur der Beta-LactamAntibiotka aufspalten) sowie eine möglichst lange Verweildauer
im Patienten.
Rocephin wird entdeckt
In den letzten Tagen des Jahres 1977 fanden Roland Reiner und
Urs Weiss einen noch verunreinigten Wirkstoff, der im August
1980 von der Weltgesundheitsorganisation den Namen Ceftriaxon erhielt. Er bekam die interne Bezeichnung Ro 13-9904.
Roland Reiner erinnert sich:
«Um das Produkt in der notwendigen Reinheit zu erhalten,
mussten wir es unbedingt in kristalliner Form herstellen.
Nun kristallisieren aber Cephalosporine äusserst ungern.
Mein Cheflaborant und ich schlugen uns tagelang mit diesem Problem herum.»
158
Vier Wochen später hatten sie es geschafft: Am 26. Januar 1978
sammelten sich am Boden eines Laborgefässes 3,5 Gramm eines
beigen, grobkörnigen Pulvers: Rocephin war geboren!
Ro 13-9904 war die allererste Testsubstanz, die bei Roche
innerhalb der Reihe der sogenannten Cephalosporine der dritten
Generation synthetisiert wurde, nachdem Hoechst-Roussel den
Reigen in dieser Substanzklasse mit Cefotaxim eröffnet und 1977
diese epochemachende Erfindung in einer Publikation offen gelegt
hatte. Peter Angehrn und sein Team stellten eine ausgesprochen
hohe und breite antibakterielle Aktivität von Ro 13-9904 fest; in
den drei zusammen mit Peter Probst durchgeführten Tiermodellen (Maus, Ratte, Kaninchen) zeigten sich unerwartet ausgeprägte
Wirkungen gegen die verschiedenen experimentellen Infektionen,
und zwar eindeutig stärker, als dies die Resistenzprüfungen auf
den Nährböden erklären konnten. Also lag die Vermutung nahe,
dass die seit Jahren gesuchte, lange Verweildauer im Organismus
gefunden war. Verschiedene pharmakokinetische Untersuchungen – insbesondere am Kaninchen – bestätigten die ungewöhnlich
lange Persistenz von Ro 13-9904. Mehrere Stunden nach der
Injektion gewonnene Blutproben zeigten weiterhin ausgeprägte
Bakterizidie (bakterientötende Eigenschaften) auf den Nährböden, und zwar mit grosser Wahrscheinlichkeit bedingt durch die
unveränderte Substanz, wie dies verschiedene Testanordnungen
vermuten liessen.
Bereits knapp fünf Monate nach Beginn ihrer Untersuchungen
fassten Peter Angehrn und Peter Probst ihre Beobachtungen in
einem internen Forschungsbericht, datiert vom 19. Juni 1978,
zusammen:
«Die Ergebnisse zeigen, dass sich Ro 13-9904 in vitro und
in vivo durch eine hervorragende Wirksamkeit auszeichnet.
Es übertrifft die übrigen Substanzen bei der Mehrzahl der
geprüften Bakterienstämme deutlich an Aktivität, wobei
die gute Wirkung gegen die gefürchteten, besonders widerstandsfähigen Stämme von Pseudomonas aeruginosa
besonders ins Gewicht fällt. Im Plasma des Kaninchens erreicht Ro 13-9904 nach intramuskulärer Injektion eine hohe
und lang andauernde antibakterielle Aktivität… Gestützt
159
auf die vorliegenden günstigen Befunde schlagen wir vor,
die Vorbereitungen für die orientierende klinische Prüfung
von Ro 13-9904 einzuleiten, und diese im Hinblick auf die
rasche Entwicklung im Cephalosporin-Sektor zügig voranzutreiben.»
Andreas Furlenmeier
Historisches Archiv Roche
Historisches Archiv Roche
Peter Angehrn und
Peter Probst fassten ihre
Beobachtungen in einem
internen Forschungsbericht zusammen
Historisches Archiv Roche
Rocephin wird eingeführt
160
Im Juli 1978 gab die Forschungsleitung grünes Licht für die Weiterentwicklung von Ro 13-9904. In den Laboratorien der Chemiker Andreas Furlenmeier und Rudolf Hug wurde in kürzester Zeit
und unter Mobilisierung aller Kräfte eine Synthese in Kilomengen
des neuen Cephalosporins ausgearbeitet und umgesetzt.
Die Toxikologie am Tier führte man an Ratte und Hund
durch. Die Befunde am Hund waren beunruhigend: Der Toxikologe Karl Schärer stellte fest, dass die Verabreichung von Ro
13-9904 zur Bildung von zentimetergrossen Gallensteinen führte.
Der Substanz schien kein Erfolg beschieden zu sein. Dies war
vielleicht der kritischste Punkt während der Entwicklungsphase.
Niemand hätte Schärer einen Vorwurf machen können, wenn
er zu diesem Zeitpunkt das toxikologische Risiko als zu gross
für Untersuchungen am Menschen eingestuft hätte. Doch er
Karl Schärer
161
Historisches Archiv Roche
phin im Unterschied zu allen anderen Beta-Lactam-Antibiotika
dem Patienten nur einmal pro Tag intravenös appliziert werden
musste.
Die Leitung der klinischen Prüfung lag in den erfahrenen
Händen von Michel Fernex, der vom Potential von Ro 13-9904
von Anfang an überzeugt gewesen war. Zusammen mit seinem
Assistenten, Ladislaus Havas, brachte er das Präparat mit unglaublicher Dynamik in einer Rekordzeit von nur drei Jahren durch die
klinische Entwicklung. So konnte Ro 13-9904 schon am 27. Mai
1982 in der Schweiz unter dem Markennamen Rocephin eingeführt
werden. Sein Werdegang von der erstmaligen Synthese im Labor
bis zur Marktreife hatte also nicht einmal fünf Jahre gedauert.
Der Grossteil der Ärzteschaft bekundete Skepsis gegenüber
den neuen Cephalosporinen. So schrieb der Autor dieses Kapitels
(Urs B. Schaad) im Jahre 1983 in einer Fortbildungsreihe für
Kinderärztinnen und Kinderärzte:
Ro 13-9904 konnte
schon am 27. Mai 1982
in der Schweiz unter dem
Markennamen Rocephin
eingeführt werden
162
und alle anderen involvierten Forscher wollten weitermachen.
Karl Schärer führte mit einem ausgeklügelten Dosierungsschema
eine zusätzliche Prüfung am Affen durch. Er wollte beweisen,
dass das Gallenstein-Problem in erster Linie spezifisch beim
Hund auftritt, was ihm auch gelang. Allerdings wurden auch
am Menschen später Ausfällungen mit Rocephin beobachtet,
jedoch erwiesen sich diese glücklicherweise in den allermeisten
Fällen als harmlos.
Da im Verlauf der Vorbereitung auf die klinische Prüfung
keinerlei weitere toxikologische oder sonstige Hindernisse auftraten und auch die Substanzherstellung im Kilomassstab gut
voran kam, wurden im Mai 1979 die ersten Untersuchungen
am Menschen eingeleitet. Anfänglich war es durchaus unsicher,
ob und wie sich die günstige Pharmakokinetik am Tier auf den
Menschen übertragen liess. Die gefundene Plasma-Halbwertszeit
von 6 bis 8 Stunden und der Ausscheidungsmodus via Leber und
Nieren waren optimal, und erstere ermöglichte es, dass Roce-
«Die Diskussion der Stellung der Cephalosporine in der
Kinderheilkunde stellt eine schwierige und heikle Aufgabe
dar. Die grosse Anzahl der zurzeit erhältlichen Cephalosporin-Antibiotika, die unzähligen wissenschaftlichen
Publikationen, die persönlichen Erfahrungen und die Flut
von Werbeargumenten erschweren die fundierte, objektive
und emotionslose Beurteilung dieser Medikamente für den
pädiatrischen Alltag in Praxis und Klinik.» Und weiter: «Die
Resultate zweier kürzlich (1981) in der Schweiz durchgeführten Umfragen ergaben, dass die Indikationen zur Cephalosporin-Anwendung von der Mehrzahl der befragten
Ärzte mit Zurückhaltung gestellt werden. Rund drei Viertel
betrachten die Cephalosporine als Reserve-Antibiotika, welche weitgehend der Klinik vorbehalten sein sollten.»
Auch die Marketing-Abteilung von Roche stand der Einführung von Rocephin eher negativ gegenüber. Da war einmal die
163
Historisches Archiv Roche
Historisches Archiv Roche
Klaus Stoeckel
Roy Cleeland
164
schwierige Patentlage, die bedingte, dass Roche anderen Firmen
weiterhin beträchtliche Royalties zu bezahlen hatte. Auch galt die
technische Synthese im grossen Massstab immer noch als teuer.
Zudem schien dem Marketing die «Einmal-pro-Tag-Verabreichung» kein grosser Vorteil zu sein. Diese Vorbehalte führten
dazu, dass bei einem erreichbaren Marktanteil von 2 – 4% drei
Jahre nach der Einführung lediglich ein Umsatz von 40 bis 60
Millionen Franken prognostiziert wurde. Die Entscheidungsgremien von Roche teilten diese Ansichten des Marketings nicht,
sondern folgten den Argumenten der Rocephin-Teams.
Grosse Verdienste am Erfolg von Rocephin kommen auch
dem Pharmakokinetiker Klaus Stoeckel und den amerikanischen
Kollegen in Nutley zu. Stoeckel lieferte in Publikationen und
vielen Vorträgen fachlich kompetent und sehr einprägsam die
wissenschaftliche Basis für das einzigartige pharmakokinetische
Verhalten von Rocephin und vermochte so, die Vorbehalte der
Ärzteschaft abzubauen. Zusammen mit Klaus Stoeckel bestimmte
und publizierte ich die pharmakokinetischen Resultate von
Rocephin bei Säuglingen und Neugeborenen. Die günstigen
pharmakokinetischen Eigenschaften von Rocephin – vor allem
eine unüblich lange Eliminations-Halbwertszeit von sechs bis
sieben Stunden – wurden auch in diesen Altersgruppen bestätigt.
Die Roche-Mitarbeiter in Nutley unter der Leitung von
Roy Cleeland leisteten grosse Arbeit bei der Vorbereitung der
nordamerikanischen Infektiologen auf die später so erfolgreiche Einführung von Rocephin. Ich prüfte während meines
Forschungsaufenthaltes in Dallas (USA) als Erster Rocephin
im Kaninchen-Meningitis-Modell und konnte eine ausgezeichnete Wirksamkeit sowohl gegen Escherichia coli als auch gegen
B-Streptokokken nachweisen.
Die Resultate der in vielen Ländern durchgeführten klinischen Studien bestätigten, dass sich Rocephin hervorragend als
Medikament gegen zahlreiche bakteriell bedingte Infektionskrankheiten eignet. Die wichtigsten der geprüften Indikationen
waren Sepsis (Blutvergiftung) und Meningitis (Hirnhautentzündung), Infektionen des Skeletts und der Weichteile inklusive
Wundinfektionen sowie Infektionen der Luftwege, der Nieren
und der Harnwege inklusive Geschlechtskrankheiten. Eine
wesentliche Indikation war auch die perioperative Prophylaxe.
Innerhalb weniger Jahre avancierte das innovative, hoch
potente und nur einmal täglich zu verabreichende Rocephin
weltweit zur Nummer 1 unter den injizierbaren Antibiotika.
Dieses einmalige Medikament brachte Roche ein grosses
und nachhaltiges Renommee und sorgte zudem bis zum
Ablauf der Patente für Umsätze in Milliardenhöhe.
165
Besondere Aspekte von Rocephin
Struktur von Rocephin
Rocephin ist, wie bereits dargestellt, ein semisynthetisches
Cephalosporin, das im Rahmen des Cephalosporin-Programms
bei Roche entdeckt wurde: In den Jahren 1969
bis 1978 wurde nach einem innovativen Präparat gesucht, das ein breites Wirkungsspektrum, Resistenz gegen die damals bekannten
Beta-Lactamasen (von gewissen Bakterien
produzierte Stoffe, die die Ringstruktur der
Beta-Lactam-Antibiotika aufspalten) und eine
lange Eliminations-Halbwertszeit im Patienten
aufweisen sollte.
Die an der 7-Amino-Cephaloransäure hängende Seitenkette am rechten Teil der Struktur
unterscheidet sich grundsätzlich von jener
anderer Cephalosporine und ist für die meisten der aussergewöhnlichen antibakteriellen und pharmakokinetischen Eigenschaften von Rocephin verantwortlich (Rocephin – C18 H16 N8
Na2 O7S3).
damals bekannten Enzyme, die Cephalosporine zu inaktivieren
vermögen.
Diese breite und potente antibakterielle Wirksamkeit beinhaltet für die klinische Anwendung von Rocephin die beiden
folgenden wichtigen Vorteile:
1
Rocephin eignet sich zur Behandlung schwerster invasiver
Infektionskrankheiten wie zum Beispiel Meningitis (Hirnhautentzündung) und Sepsis (Blutvergiftung), oder akuter Infektionen
im Bereich praktisch aller Organsysteme.
«Few diseases have been affected more by the advent of
antimicrobial therapy than bacterial meningitis.»
Quagliarello VJ, Scheld WM, N Engl. J Med 1997 336:708
Rocephin
Die antibakteriellen Eigenschaften von Rocephin beinhalten ein
breites Spektrum und eine gute Beta-Lactamase-Stabilität.
Das eindrückliche gramnegative Sprektrum umfasst insbesondere die Enterobakterien (Escherichia coli, Klebsiella sp.,
Enterobacter sp., Serratia sp., Bartonella sp., Citrobacter sp., Proteus, Salmonella, Shigella, partiell auch Pseudomonas aeruginosa
und Acinetobacter sp.), die verschiedenen Haemophilus -Keime
(Beta-Lactamase-negative und – positive Stämme), sowie die
Neisseria-Keime (Neisseria meningitidis und Neisseria gonorrhoea).
Von den grampositiven Krankheitserregern sind vor allem
Streptococcus pneumoniae , Streptococcus pyogenes und Streptococcus agalactiae sowie – etwas weniger ausgeprägt – Staphylococcus
aureus gegen Rocephin empfindlich.
Die Wirksamkeit von Rocephin ist gegen Anaerobier limitiert und gegen Mycoplasmen, Ureaplasmen und Mycobakterien
inexistent. Die Stabilität von Rocephin gegen Beta-Lactamasen
umfasste zum Zeitpunkt der Einführung die meisten dieser
166
Urs B. Schaad
Antibakterielle Wirksamkeit
Septisches Neugeborenes
Septisches Kleinkind
Septischer
Schock mit
Multiorgan­
versagen
167
Urs B. Schaad
Dank der antibiotischen Behandlung verbesserte sich die Prognose
der gefürchteten eitrigen Hirnhautentzündung entscheidend. Die
eitrige Meningitis wurde zur wichtigsten Indikation für den Einsatz
von Rocephin, und dies weltweit und seit drei Jahrzehnten.
Die wichtigsten bakteriellen Meningitis-Erreger im Kindesund Erwachsenenalter sind Meningokokken, Pneumokokken
und Haemophilus influenzae; H. influenzae Typ b ist dank der
im Säuglingsalter eingesetzten aktiven Schutzimpfung praktisch
verschwunden, noch nicht aber in vielen Entwicklungsländern, die
sich diese Impfung nicht leisten können. Trotz aller Fortschritte –
insbesondere der verbesserten Frühdiagnostik, der spezialisierten
Intensivbetreuung und der wirksamen Antibiotika – bleibt die
Prognose der eitrigen Meningitis ernst: Je nach Patientenalter,
Art des Erregers und Beginn sowie Qualität der Betreuung und
Behandlung beträgt die Sterblichkeit 3 bis 30% und die Defektheilung (Residuen) 10 bis 50%.
Urs B. Schaad
Schwere Retardation and
Hydroecephalus nach
Neugeborenen-Meningitis
Gram-negative Diplokokken
im Liquor-Ausstrich
(Meningokokken)
Gram-positive Diplokokken
im Liquor-Ausstrich
(Pneumokokken)
Gram-negative
pleomorphe
Bakterien
im LiquorAusstrich
(Haemophilus
influenzae)
168
Ausgeprägte spastische
Cerebralparese nach
Pneumokokken-Meningitis
2
Auch für den sogenannten «blinden» Therapiebeginn
– das heisst bei noch unbekanntem Erreger beziehungsweise
auch bei Verdacht auf eine schwere invasive Infektion – besitzt
Rocephin die notwendigen antibakteriellen Eigenschaften.
Bereits wenige Jahre nach der Einführung von Rocephin wurden sogenannte Extended-Spektrum Beta-Lactamasen (ESBL)
gefunden, also von verschiedenen Enterobacteriaceae (insbesondere Klebsiella sp. und Serratia sp.) produzierte Enzyme, die
alle damals bekannten Beta-Lactam-Antibiotika zu inaktivieren
vermochten. Nach Einzelberichten folgten rasch auch Spitalausbrüche, zunächst in Frankreich und in den USA, später auch
in vielen anderen Ländern. Auch der ab ca. 1985 eingeführten
neuen Klasse der Beta-Lactam-Antibiotika, den Carbapenemen,
erging es nicht besser: Einige Darmbakterien konnten genetisches
Material aufnehmen und weitergeben, das die Produktion von
Carbapenemasen (also Beta-Lactamasen, die Carbapaneme zu
hydrolisieren vermögen) ermöglicht. Diese Resistenzentwicklungen führten zudem zum Auftreten von sogenannten Extensively
Drug-Resistant (XDR) Bakterien, die zum ersten Mal im Jahre
2008 in Indien (New Dehli) entdeckt wurden, und die auch gegen
praktisch alle anderen Antibiotika-Klassen unempfindlich sind.
Leider wurden solche multiresistente Enterobakterien in viele
andere Länder mit entsprechenden klinischen Konsequenzen eingeschleppt, glücklicherweise in der Regel als isolierte Fälle beziehungsweise lediglich als Kleinstausbrüche. Diese ausserordentlich
beunruhigenden und bedrohlichen, weltweiten Resistenzentwicklungen führten zu einer länderübergreifenden, epidemiologischen
169
Erfassung und zu harmonisierten Empfehlungen hinsichtlich
deren Diagnostik, Prävention und Betreuung.
Pharmakokinetik
Die hohe Affinität von Rocephin (Ceftriaxon) zu Serumalbumin
erklärt seine besondere Verteilungs– und Eliminationskinetik.
Diese Eiweissbindung ist im Vergleich zu den anderen Cephalosporinen einerseits ausgeprägter und andererseits konzentrationsabhängig.
Die ausserordentlich lange Eliminations-Halbwertszeit beruht
auf fehlender tubulärer Sekretion und relativ geringer glomerulärer Filtration, wobei insbesondere letztere durch die hohe
Serumalbumin-Bindung begründet ist. Die quantitativ bedeutende biliäre Elimination (ca. zu einem Drittel) von Rocephin
bewirkt, dass dessen Eliminationsgeschwindigkeit weniger von
Cefamandol
Konzentration
300
Cefapirin
200
Cafalotin
100
Cefoxitin
Cefmenoxim
Cephalosporin
Ausschei-
«Recovery» im Urin «Recovery» dungsweg
in der Galle
Metabolit(en)
1.Generation
Cefazoin
Cefalotin
Cefapirin
Renal
Renal
Renal
70-≈100% in 24 Std.
60–70% in 6 Std.
70% in 6 Std.
–
–
–
–
Desacetylcefalotin (35%)
Desacetylcefapirin
2.Generation
Cefamandol
Cefonicid
Cefonicid
Ceforanid
Cefoxitin
Cefuroxim
Renal
Renal
Renal
Renal
Renal
Renal
65–85% in 8 Std.
99% in 24 Std.
79% in 12 Std.
60–64% in 24 Std.
85% in 6 Std.
89% in 8 Std.
–
–
–
–
–
–
–
–
–
–
–
–
3.Generation
Cefmenoxim
Renal
81–88% in 24 Std.
–
Cefoperazon
Renal, biliär
20–30% in 24 Std.
70–80%
Cefotaxim Renal
≈60% in 6 Std.
–
Cefsulodin
Renal
50–60% in 24 Std.
–
Ceftazidim
Renal
92% ind 24 Std. –
Ceftizoxim Renal
≈100% in 24 Std.
–
Ceftriaxon
Renal, biliär
33–67%
33–67%
Latamoxef
Renal
60–90% in 24 Std.
–
–
<1% metabolisiert
Desacetylcefotaxim (15–25%)
UP1 und UP2 (20–25%)
–
–
–
Nach biliärer Exkretion durch Darmflora inaktivierter Metabolit
–
50
Cefotaxim
Cefuroxim
Cefazolin
10
Ceftazidim
Ceftizoxim
5
Cefsulodin
Latamoxef
Cefoperazon
Ceforanid
Cefmenoxim (Plasma)
1,0
Cefoperazon (Serum)
Cefotaxim (Serum)
0,5
Cefsulodin (Plasma)
Ceftazidim (Serum)
Cefotetan
Ceftizoxim (Serum)
Ceftriaxon (Plasma)
Cefonicid
Latamoxef (Serum)
Ceftriaxon
012345678910
Stunden
170
0,1
024681012141618202224
Stunden
der Nierenfunktion abhängig ist, und somit Dosierungsanpassungen nur bei schwerer Niereninsuffizienz notwendig sind.
Auch für die von Rocephin in Körperflüssigkeiten und Geweben
erreichten hohen und lange persistierenden Konzentrationen
spielt die hohe und konzentrationsabhängige Eiweissbindung
eine wichtige Rolle.
Die Tatsache, dass der ungebundene (freie) Anteil von
Rocephin antibakteriell wirksam ist, impliziert «hohe» Verabreichungsdosen, was bei der grossen therapeutischen Breite einen
Vorteil bedeutet.
Rocephin wird nicht metabolisiert, so dass kinetische Arzneimittel-Wechselwirkungen im Sinne von kompetitiver Eliminationshemmung oder Enzyminduktion nicht zu befürchten
sind. Auch eine kompetitive Hemmung der tubulären Sekretion
kommt nicht vor, im Gegensatz zu vielen anderen Beta-LactamAntibiotika. Die hochgradige Affinität von Rocephin zu Serumalbumin birgt das Potential der gegenseitigen Verdrängung von
171
ebenfalls stark eiweissgebundenen Stoffwechselprodukten oder
Medikamenten, was in sehr seltenen Situationen zu berücksichtigen ist (zum Beispiel die Verdrängung von Bilirubin bei Ikterus,
besonders im Neugeborenenalter).
Aus diesen aussergewöhnlichen pharmakokinetischen Aspekten resultieren die folgenden, weiteren vier wichtigen Vorteile .
3
Dank der langen Eliminations-Halbwertszeit kann Rocephin einmal täglich dosiert werden und erlaubt dadurch, dass die
parenterale antibiotische Therapie frühzeitig oder gar von Anfang
an ambulant durchgeführt werden kann, was sich sowohl für
den Patienten und sein Umfeld als auch auf die entstehenden
Kosten günstig auswirkt. Die intramuskuläre Verabreichung ist
eine wertvolle Variante, nicht nur in der ambulanten Patienten-Betreuung, sondern auch für hospitalisierte Patienten, bei
denen der intravenöse Zugang schwierig ist, zum Beispiel bei
Kleinkindern, adipösen Patienten und Senioren. Die pharmakokinetischen Eigenschaften sind nach der intramuskulären Gabe
durchaus mit der Verteilungs- und Eliminationskinetik nach
intravenöser Gabe vergleichbar und die lokale Verträglichkeit
ist gut. Aufgrund der raschen und vollständigen systemischen
Verfügbarkeit von Rocephin sind Konzentrationen im Plasma
zwei Stunden nach intramuskulärer Gabe gleich hoch wie nach
intravenöser Verabreichung.
4
Die lange Verweildauer hoher Konzentrationen am Ort
des Infektes erklärt das sehr gute klinische Ansprechen auch von
Infektionskrankheiten auf den Wirkstoff, bedingt durch in vitro
nur mässig empfindliche Bakterien.
5
Dank fehlender Metabolisierung von Rocephin im Organismus bleibt die gesamte verabreichte Dosis bis zur Ausscheidung
antibakteriell aktiv.
6
Die über Nieren (Urin) und Leber (Galle) stattfindende
Ausscheidung von Rocephin – wobei ein Organ den Ausfall des
anderen übernehmen kann – bedeutet, dass die Dosierung lediglich bei massiv eingeschränkter Nieren- und/oder Leberfunktion
anzupassen ist.
Toxizität und Nebenwirkungen
Rocephin wurde ausgedehnten toxischen Prüfungen an Nagern,
Kaninchen, Hunden und Affen unterzogen. Die Substanz erwies
sich bezüglich akuter und subakuter Toxizität, Fötotoxizität,
Mutagenizität und lokaler Toleranz als sicher.
Rocephin ist intravenös sehr gut verträglich und nur sehr
selten klagen die Patienten über einen temporären Schmerz kurz
nach der Injektion. Für die intramuskuläre Applikation bewährt
sich die Auflösung in einer 1%igen Lidocain-Lösung. Somit darf
die lokale Verträglichkeit als problemlos bezeichnet werden.
Die systemische Verträglichkeit entspricht den guten Resultaten mit andern Beta-Lactam-Antibiotika; hinzu kommen die
bereits aufgeführten Vorteile der praktisch fehlenden Wirkung
auf die Nierenfunktion und die extrem seltenen Interaktionen
mit anderen Arzneimitteln sowie auch mit Alkohol. Schwere
Nebenwirkungen sind ausserordentlich selten und beinhalten
neben Anaphylaxie potentielle Konkrementbildung in Gallenblase
oder Nieren (Calcium-Salze), Hämolyse (arzneimittelinduzierte,
immunologisch vermittelte Zerstörung der roten Blutkörperchen)
sowie Verdrängung von Bilirubin von der Albuminbindung, mit
potentieller Relevanz bei Ikterus (Gelbsucht), besonders im Neugeborenenalter.
Tabelle 1
Die sieben wichtigsten Vorteile von Rocephin
1 Behandlung von schwersten invasiven Infektionskrankheiten(z.B. Hirnhautentzündung, Blutvergiftung)
2 Geeignet für «blinden» Therapiebeginn
3 Dosierung 1x täglich, intravenös oder intramuskulär, erlaubt frühzeitige ambulante Behandlung bzw. ambulante
parenterale Antibiotika-Therapie von Anfang an
4 Gutes Ansprechen auch von Infektionen bedingt durch in vitro nur mässig empfindliche Bakterien
5 Gesamte Dosis bleibt im Organismus antibakteriell aktiv
6 Gemischte Ausscheidung über Nieren (Urin) und Leber (Galle)
7 Weitgehend fehlende Toxizität und gute Verträglichkeit
172
173
7
Fehlende Toxizität und die sehr guten lokalen und systemischen Verträglichkeiten bilden einen weiteren wichtigen Vorteil
von Rocephin.
Die in Tabelle 1 aufgeführten, insgesamt sieben wichtigen
Vorteile von Rocephin implizieren einen nachhaltigen Nutzen in
Bezug auf Klinik und Ökonomie.
Klinische Anwendung
Die beiden antibakteriell begründeten Vorteile – Eignung zur
Behandlung schwerster Infektionskrankheiten und Einsatz als
blinder Behandlungsbeginn –, zusammen mit den pharmakokinetisch erklärten Eigenschaften der hohen klinischen Wirksamkeit
auch gegen in vitro nur mässig empfindliche Bakterien sowie
fehlende Metabolisierung und die hohe Sicherheit, erklären das
unvergleichlich breite Indikationsspektrum von Rocephin.
Die wichtigsten Indikationen für Rocephin sind die schweren,
auch als invasiv bezeichneten Infektionskrankheiten, die in der
Mehrzahl der Fälle über den Blutweg (hämatogen) entstehen, das
heisst die Bakterien erreichen die Infektionsherde mit dem Blut.
Dazu gehören neben der eigentlichen Sepsis (Blutvergiftung) die
meisten Formen der Hirnhautentzündung (Meningitis) sowie
ein Teil der Infektionen der Lungen, des Skeletts, des Abdomens
und anderer Organe. Auch zahlreiche nichthämatogen bedingte
bakterielle Infektionen im Bereich des Abdomens, der Nieren
und Harnwege, des Skeletts, der Weichteile und der Haut sowie
174
der unteren und oberen Luftwege inklusive Hals-Nasen-OhrenBereich (HNO) können mit Rocephin geheilt werden. Spezielle
Erwähnung verdienen die perioperative Infektionsprophylaxe
und Behandlung, Infektionen bei eingeschränkter Immunabwehr,
sowie die Neuroborreliose (Lyme Krankheit) und ausgewählte
Formen der Mittelohrenentzündung.
Dieses ausserordentlich breite und kaum je von einem anderen Antibiotikum nur annähernd erreichte Anwendungsspektrum
beruht also auf breiter therapeutischer Wirksamkeit und grosser
Sicherheit. Für Patienten, Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegefachpersonen bedeutet dies einen nachhaltigen medizinischen
Nutzen, der bis heute andauert.
Ökonomische Aspekte
Für die Einsparungen – in der Klinik (an Pflege und Überwachung, an notwendigem Material und an Pflegeaufwand), im
Labor (Kontrollbestimmungen vor allem der Nieren- und
Leberfunktionen) sowie für weniger Spitaltage und geringere
Medikamentenkosten – sind hauptsächlich die drei vorgängig
genannten Vorteile (1) einmal tägliche Dosierung, (5) fehlende
Metabolisierung und (6) gemischte Ausscheidung durch Niere
(Urin) und Leber (Galle) verantwortlich. Dieser nachhaltige
ökonomische Nutzen von Rocephin auf die Gesundheitskosten
wird nachfolgend anhand einiger kurz nach der Einführung von
Rocephin publizierten Beispiele detaillierter dargestellt.
In den Jahren 1979 bis 1981 wurden am Centre Hospitalier
Universitaire Vaudois (CHUV) 132 schwere, häufig bakteriämische, durch gramnegative Darmbakterien verursachte Infektionen
bei 127 erwachsenen Patienten mit Rocephin behandelt; davon
waren 80 Infektionen vorgängig mit anderen Antibiotika ohne
Erfolg therapiert worden. Bei 65 Episoden wurde Rocephin 2x
täglich und bei 67 Episoden 1x täglich verabreicht; die hohe
Heilungsrate von insgesamt 86% und die sehr gute Verträglichkeit waren in beiden Gruppen gleich. Eine detaillierte und
umfassende Kostenberechnung zeigte beachtliche Einsparungen
mit Rocephin. Im Vergleich zur 4x täglich zu verabreichenden
Standard-Antibiotika-Therapie ergab die 1x täglich verabreichte
Rocephin-Therapie hinsichtlich Pflegeaufwand und Material
(Nadel, Spritze, sterile Flüssigkeiten zur Auflösung und intravenösen Verabreichung der Antibiotika) eingesparte Kosten
von 31,38 Franken pro Tag. Somit wurden bei jedem Patienten
mit der damals üblichen Hospitalisationsdauer von 21 Tagen
Urs B. Schaad
Urs B. Schaad
Infiltrat
(bakterielle
Pneumonie)
rechter
Unterlappen
Periphere Facialisparese
bei Lyme Borreliose
175
658,98 Franken eingespart. Die eigentlichen Medikamentenkosten für Rocephin waren mit denen der damals verwendeten
Standard-Antibiotika vergleichbar. 25 dieser Patienten konnten
ambulant betreut werden; damals wurden der Personaleinsatz
und das Verbrauchsmaterial für die einmalige Rocephin-Gabe
zu Hause mit 40 Franken berechnet. Im Jahre 1981 betrugen am
CHUV die Durchschnittskosten pro stationärem Patiententag 460
Franken, so dass die ambulante Behandlung für jeden Patienten
eine tägliche Einsparung von 420 Franken bedeutete. Heute liegen
diese Kosten in der Schweiz um 3 bis 4 Mal höher und entsprechend natürlich auch die Einsparung.
Im Jahre 1986 wurden aus Newark (Saint Michael’s Medical
Center, Newark, NJ, USA) die Resultate von 38 mit Rocephin
behandelten Patienten mit schweren systemischen Infektionen
(davon 20x Osteomyelitis und 4x Cellulitis) vorgestellt, wobei
das klinische Ansprechen, die bakteriologische Eradikation, die
Ausheilung und die Verträglichkeit sehr gut waren. Die wichtigste und relevanteste Kosteneinsparung war die Verkürzung
der Hospitalisationsdauer um 60%. Schon damals wurden an
diesem Krankenhaus die Kosten der meisten Patienten gemäss
DRG (Diagnosis-Related Groups, Medicare) abgerechnet.
Ebenfalls im Jahre 1986 fasste Russel Steele (Arkansas) die
relevanten Vorteile der Rocephin-Therapie bei pädiatrischen Patienten hinsichtlich klinischer Anwendung und Kosteneinsparung
zusammen. Für die Klinik stellte er die hohe und breite antibakterielle Aktivität, die Resistenz gegenüber den Beta-Lactamasen,
die gute Penetration in den Liquor cerebrospinalis sowie die
weitgehend fehlende Toxizität in den Vordergrund. In Bezug
auf die ökonomischen Vorteile diskutierte Steele im Detail die
Einsparungen bei den Medikamenten-Kosten (insgesamt notwendige Menge), bei der Verabreichung (Material, Pflegeaufwand)
und beim Monitoring (Bestimmung von Medikamentenspiegeln).
Relevante ökonomische Vorteile wurden sowohl für die stationäre
als auch für die ambulante Behandlung berechnet.
In den Jahren 1984/1985 wurde am Saint Vincent Medical
Center in Toledo (Ohio, USA) die Machbarkeit eines frühen
Wechsels von stationärer zu ambulanter Betreuung bei 98 erwachsenen Patienten mit schweren bakteriellen Infektionskrankheiten
(24x Skelett, 22x Haut/Weichteile, 17x Abdomen, 16x Lunge, 12x
Gefässe, 4x Nieren, 1x Meningitis, 1x Endometritis) untersucht.
Das klinische und bakteriologische Ansprechen auf die intravenöse Gabe von zwei Gramm Rocephin einmal täglich war bei
insgesamt 96% sehr gut (82 Patienten geheilt, 13 Patienten gebes-
176
sert). Die Verträglichkeit erwies sich als gut, bloss 13 Patienten
litten unter Nebenwirkungen (8x Durchfall, 4x Hautausschlag, 1x
Bauchkrämpfe). Gemäss den klar definierten Kriterien im Sinne
einer genügenden Besserung erfolgte der individuelle Wechsel
von stationärer zu ambulanter Betreuung. Bei einer durchschnittlichen Behandlungsdauer von 20 Tagen ergaben sich für die 98
Patienten insgesamt 1956 Therapietage, davon 924 (47,2%) nach
der Spitalentlassung. Daraus ergab sich eine Einsparung von
nahezu einer halben Million US-Dollar.
Das breite und ausgeprägte antibakterielle Spektrum, die
einmaligen aussergewöhnlichen pharmakokinetischen
Eigenschaften und das vorteilhafte Nebenwirkungsprofil
erklären die beachtlichen Vorteile von Rocephin mit einem
nachhaltigen Nutzen in Bezug auf Klinik und Ökonomie.
Rocephin erlaubt eine Vereinfachung der erfolgreichen Behandlung von Infektionskrankheiten sowie eine Entlastung
der Gesundheitskosten, Vorteile, die sowohl den Industrienationen als auch den Entwicklungsländern zugute kommen, und dies auch noch nach Ablauf der Patentfrist.
177
Bedeutung von Rocephin heute
Ablauf der Patente
In den Jahren 1997 bis 2005 sah sich das Unternehmen mit dem
weltweiten Ablauf der Patentrechte von Rocephin konfrontiert.
Als das weltweit am häufigsten eingesetzte injizierbare Antibiotikum war Rocephin für Roche zum umsatzstärksten Produkt
geworden. Die Herstellung von Ceftriaxon als Generikum war
somit ein ausserordentlich attraktives Unterfangen und die entsprechenden Angebote schossen dann auch wie Pilze aus dem
Boden. Bereits Ende 1999 wurden 2012 verschiedene CeftriaxonGenerika gezählt, hergestellt in 38 verschiedenen Ländern, am
häufigsten in Asien, gefolgt von Süd-/Mittelamerika und Osteuropa.
Der Ablaufprozess der Patente hatte 1997/1998 in Südamerika
und Asien begonnen, erreichte dann 1999/2000 Europa und fand
seinen Abschluss 2005/2006 in Nordamerika (USA, Kanada).
Eine spezielle Expertengruppe (Post-Patent-Strategy Task
Force) bei Roche analysierte die Situation und entwickelte Strategien, um den Anteil im Ceftriaxon-Weltmarkt möglichst hoch zu
behalten. Mit dem Auftauchen der Generika war für das attraktive
Antibiotikum Ceftriaxon eine durch tiefere Preise und fehlende
ärztliche Beratung – im Sinne einer Indikationsbeschränkung –
bedingte Marktausweitung zu erwarten. Die Post-Patent-Strategy
Task Force behandelte die Themen Verkaufszahlen, Preise,
Herstellung und Vertrieb, sowie auch die für Originalpräparate
üblichen, jedoch für Generika fehlenden Kosten in Bezug auf
Forschung und wissenschaftliche Information.
Die weltweite Expansion des Marktes nach Ablauf der Patentrechte wurde auf etwa 300 Tonnen Ceftriaxon für das Jahr 2010
geschätzt, was im Vergleich zum Jahre 1997 (150 Tonnen)
eine Verdoppelung bedeutete: Als wichtigste treibende Kräfte
wurden die bereits erwähnten Aspekte Preiszerfall (geschätzter
Rückgang 60 bis 70%) und Indikationserweiterung (fehlende
ärztliche Beratung) erkannt. Hinzu kam noch der Druck, den
die für die Gesundheitskosten Verantwortlichen im Hinblick auf
die vermehrte Anwendung dieses einmaligen und nun billigen
Medikamentes ausübten. Als mögliche «kontrollierende» Aspekte
dieser Markt-Expansion wurden restriktive Empfehlungen von
Fachgremien genannt. Auch eine durch engagierte Promotion
von neu registrierten Antibiotika bedingte Verlagerung von
178
Rocephin zu diesen neu entwickelten Medikamenten wurde in
Betracht gezogen.
In Bezug auf Herstellung und Vertrieb der CeftriaxonGenerika musste die Task Force grosse Unklarheiten hinsichtlich der Zuständigkeiten für die Produktion des Rohmaterials
beziehungsweise für die Konfektionierung und Auslieferung
der injizierbaren Ampullen feststellen. Zudem wurde klar, dass
sich diese unzähligen Lieferanten weder an Preislisten noch an
Rabattvorgaben hielten: Die Spitäler wurden als Hauptabnehmer
mit allen denkbaren Marketing-Tricks angegangen.
Auf Empfehlung der Post-Patent Strategy Task Force entwickelte Roche einen standardisierten Analyse-Prozess zur
objektiven Überprüfung der Ceftriaxon-Generika hinsichtlich
Herstellung und Konfektionierung. Unterschiedliche Qualitäten
wurden untersucht: Das Aussehen beziehungsweise die Reinheit
des Ceftriaxon-Pulvers (insbesondere keine Klumpen oder Körner), die Farbe (idealerweise gebrochenes Weiss), die Reinheit der
zur Injektion hergestellten Lösung (klar und ohne Partikel) sowie
mehrere chemische Prüfungen (Reinheit der Rohsubstanz, Trübung der Lösung, Qualität des Wassers, Fehlen von Lösungsmitteln). Über 20 Generika aus acht verschiedenen Ländern wurden
so analysiert und mit dem Originalpräparat Rocephin verglichen.
Die Resultate ergaben keine bedeutenden Abweichungen zwischen diesen Generika und Rocephin, sodass juristische Schritte
zur Eindämmung der Generika-Proliferation nicht in Frage
kamen. Die bei Roche untersuchten Ceftriaxon-Generika waren
alle als in den entsprechenden Ländern zugelassene Medikamente
beschafft worden; auf die Analyse von Nachahmerpräparaten aus
dubiosen Quellen wurde bewusst verzichtet.
In Ergänzung zu diesem standardisierten Analyseprozess im
Roche-Mutterhaus in Basel wurden von Roche-Niederlassungen
in mehreren Ländern, allen voran in China, auch die Verpackungen der Generika mit denjenigen von Rocephin verglichen.
Sowohl die Kartonschachteln, die Qualität von Karton und
Beschriftung als auch die Stechampullen, die Qualität von Glas,
Verschluss und Beschriftung widerspiegelten in vielen Fällen die
bei den Generika angewandten Sparmassnahmen und zeigten
somit im Vergleich zum Originalpräparat teils markante Mängel.
In Konkurrenz mit den Generika
Während der letzten Jahre des 20. Jahrhunderts verlor Roche also
zunehmend die Kontrolle über eines der grössten Produkte der
179
Pharmageschichte. Zu diesem Zeitpunkt machte Rocephin über
10% des Roche-Umsatzes aus. Mit sehr viel Einsatz und Sorgfalt
sammelte die bereits erwähnte Post-Patent Strategy Task Force
alle erdenklichen Daten und Tatsachen hinsichtlich der Generika
und listete diese in einer zentralen Datensammlung. Ende 1999
befanden sich dort Angaben zu 132 Generika aus Asien, 95 aus
Lateinamerika und 30 aus Osteuropa.
Für eine möglichst starke Position im Wettbewerb mit
den Generika in den verschiedenen Ländern erstellte die Task
Force umfassende SWOT-Analysen (Strenghts, Weaknesses,
Opportunities, Threats) aus Sicht von Rocephin und aus Sicht
der Generika. Diese theoretischen Überlegungen galt es dann
für die einzelnen Ländervertretungen individuell zu gewichten
und daraus die angepasste Strategie zu bestimmen. Aus diesen
SWOT-Analysen sind nachfolgend die wichtigsten Überlegungen
zusammengefasst.
180
erwarten; Probleme für die Generika sind limitierte Ressourcen
für Promotion und Betreuung sowie mögliche Engpässe bei der
Herstellung.
Chancen (Opportunities)
Für Rocephin gilt es insbesondere, in die Stärken zu investieren: Qualität, Professionalität, Vertrauen und Support. Neben
der Pflege der Hauptindikationen sind Innovationen wichtig,
vor allem im ambulanten Bereich im Sinne einer Förderung
der ambulanten parenteralen Antibiotika-Therapie. Essentiell
für das Originalpräparat ist die Sicherung der Unterstützung
durch die führenden Experten in Medizin und Mikrobiologie.
Die Chancen der Generika werden durch die Preispolitik auf
der Ebene der Spitäler und der allgemeinen Gesundheitskosten
bestimmt.
Stärken (Strengths)
Bedrohungen (Threats)
Für Rocephin und die Generika stehen die im Kapitel «Besondere
Aspekte von Rocephin» beschriebenen Vorteile im Vordergrund,
basierend auf dem breiten und ausgeprägten antibakteriellen
Spektrum, der einmaligen Pharmakokinetik und dem vorteilhaften Nebenwirkungsprofil; natürlich waren diese Aspekte zum
damaligen Zeitpunkt für das Originalpräparat «bewiesen» und für
die Generika «zu erwarten». Die Hauptunterschiede: Für Rocephin höchste Qualität und Professionalität in allen Belangen:
Herstellung, Vertrieb, Information und Betreuung, sowie das
Renommee und der Support bei den Ärzten, basierend auf den
seit mehr als 20 Jahren publizierten Leistungen in Forschung
und Klinik; die Hauptstärke der Generika war und ist natürlich
der tiefe Preis.
Für Rocephin und die Generika stellen die zunehmende Resistenzentwicklung beziehungsweise die dadurch begründeten
restriktiveren Anwendungsempfehlungen auf der einen Seite,
und die erfolgreiche Einführung neuer Substanzen mit daraus
resultierender Einbusse (schwindendes Interesse, rückläufiger
Marktanteil) auf der anderen Seite relevante Bedrohungen dar.
Die zunehmende Bedeutung der Medizinalkosten «bedroht»
das «teurere» Originalpräparat, der weitgehende Mangel an
Vertrauen und Innovation das Generikum.
Aus diesen SWOT-Analysen für Rocephin und die Generika
entwickelte die Task Force die sogenannte 4-P-Strategie basierend auf Produkt, Positionierung, Promotion und Preis. Zu
Schwächen (Weaknesses)
Tabelle 2
Aus beider Sicht sind die fehlende Möglichkeit einer Umstellung
von parenteraler auf orale Behandlung, die nicht optimale antibakterielle Aktivität gegen Anaerobier und Staphylokokken sowie
die Resistenzentwicklung zu nennen; auch die vor allem auf Spitäler beschränkte Anwendung, das heisst der weitgehend fehlende
Markt in der Arztpraxis, betrifft beide, Rocephin und Generikum.
Nach Ablauf der Patente werden mit Rocephin weniger neue
Studien durchgeführt und bedeutende Neuerungen sind kaum zu
Die 4-P-Strategie
1 Das Produkt
Wirksamkeit und Sicherheit, Produktion und Auslieferung
2 Die Positionierung
Innovationen: Konfektionierungen, Indikationen
3 Die Promotion
Medizinisch-wissenschaftliche Information und Betreuung der Anwender
4 Der Preis
Angepasste Preisgestaltung
181
diesen 4 Themen wurden die für das Originalpräparat relevanten
Vorteile aufgelistet. Die verschiedenen Roche-Vertretungen hatten die Aufgabe, die für ihre Region zutreffende Priorisierung
vorzunehmen (Tabelle 2).
Das Produkt (Product)
Hier stehen die seit der Einführung im Jahre 1982 gemachten
guten Erfahrungen betreffend Wirksamkeit und Sicherheit
von Rocephin im Vordergrund. Wichtig sind der reibungslose
Ablauf von der Produktion bis zur Auslieferung, das Angebot
der im Vergleich zu den Generika unterschiedlichen und anwendungsfreundlicheren Konfektionierung (Ampullen zu 250 mg,
500 mg, 1 g und 2 g), der Auflösemittel (für intravenöse und
intramuskuläre Verabreichung) sowie der Einzel- und Grossverpackungen.
Die Positionierung (Position)
Für die Spitäler als «Grossabnehmer» ist der Preisunterschied
zwischen Original und Generikum wichtiger als für den ambulanten Bereich mit den entsprechenden Konsequenzen für die
Preisgestaltung. Zur Stärkung der Positionierung eignen sich die
genannten Innovationen, insbesondere im Bereich der ambulanten parenteralen Antibiotika-Therapie, also die Möglichkeit
der intramuskulären Verabreichung, sowie neue Indikationen
wie komplizierte Mittelohrinfektionen, und eine prolongierte
Behandlungsdauer bei Skelettinfektionen.
Die Promotion (Promotion)
Die oben genannte Priorisierung der Positionierung bestimmt
weitgehend die Promotionsanstrengungen. Mit der Konkurrenzierung zwischen Originalpräparat und Generikum verliert der
ärztlich-wissenschaftliche Aspekt stark an Bedeutung gegenüber
dem preisdominierten Einfluss der Administration. Neben der
Aufrechterhaltung der Information für alle muss eine gewisse
Konzentration der medizinischen Betreuung, inklusive Unterstützung von Forschung und Lehre, auf die loyalen beziehungsweise neuen Abnehmer des Rocephins stattfinden, wobei diese
Veränderungen transparent und offen kommuniziert werden
sollen. Eine Neu-Instruktion und Umschulung der Ärztebesucher ist unumgänglich.
182
Der Preis (Price)
Für die Festsetzung der Preise und Rabatte gelten zunächst zwei
wichtige Vorgaben: Die Kunden empfinden gegenüber einem
bewährten Originalmedikament Präferenz, aber nicht Loyalität, und zum Zeitpunkt des Patentablaufs sollte keine generelle
Preissenkung stattfinden, da eine solche Unverständnis und Vertrauensverlust hervorruft. Diese beiden Grundlagen, zusammen
mit den regionalen Besonderheiten, bestimmen die Preispolitik.
Den speziellen Konfektionierungen, der intramuskulären Verabreichung beziehungsweise den kleineren Dosierungen für die
pädiatrischen Patienten ist besondere Beachtung zu schenken;
solange diese nur als Rocephin erhältlich sind, kann dadurch der
Entscheid des Abnehmers stark beeinflusst werden.
Die Erfahrung lehrt, dass mit dem Verschwinden der nicht
überlebensfähigen Generika-Hersteller – in der Regel nach wenigen Jahren – die «rasante » Talfahrt der Preise stoppt und sie sich
in eine «moderate » Bergfahrt umwandelt.
Ambulante parenterale Antibiotika-Therapie
Während der letzten zwei bis drei Jahrzehnte breitete sich die
OPAT (Outpatient Parenteral Antibiotic Therapy, Ambulante
Parenterale Antibiotika Therapie) ausgehend von den USA über
alle Erdteile aus und stellt heute weltweit eine wichtige Stütze der
Patientenversorgung dar.
Die treibenden Kräfte für die OPAT sind die Vermeidung der
mit einer Betreuung im Spital einhergehenden Bürden: Kosten,
nosokomiale Infektionen – also im Krankenhaus erworbene
Infektionen – sowie die psychische Belastung bedingt durch die
Trennung von Familie und vertrauter Umgebung. Die eingesparten Kosten betreffen vorwiegend Personal und Infrastruktur. Das
Fehlen der Familie und des Zuhauses macht vor allem Kindern
und Senioren zu schaffen; diese Einbussen an Lebensqualität sind
objektiv messbar.
Die nosokomialen Infektionen stellen weltweit eine bedeutende und leider weiterhin zunehmende Problematik dar. Die
Häufigkeit nimmt zu und der durch antibiotikaresistente Bakterien verursachte Anteil steigt: In den USA stecken sich jedes
Jahr über zwei Millionen hospitalisierte Patienten mit resistenten Keimen an und ca. 100 000 von ihnen sterben daran. Diese
hochgefährlichen und oft hoch ansteckenden Problembakterien
stammen einerseits aus dem Spital, insbesondere aus Nassberei-
183
Historisches Archiv Roche
erhalten. Die Betreuung ist entweder ausschliesslich ambulant
oder zunächst stationär bis zur erwünschten Besserung. Die
wichtigsten mittels OPAT erfolgreich behandelbaren Infektionen
betreffen Skelett, Haut und Weichteile, Harnwege, untere und
obere Luftwege, aber auch unklares Fieber und invasive Infektionen wie Meningitis, Sepsis und Endokarditis.
Ein bewährter, spezieller Anwendungsort der OPAT ist der
«Transnet-Phelophepa-Gesundheitszug» in Südafrika; dieser
rund 350 Meter lange Zug bietet seit 1993 in verschiedenen abgelegenen, ländlichen Orten der dortigen Bevölkerung medizinische
Grundversorgung an.
Für alle relevanten Aspekte einer ambulanten parenteralen
Antibiotika-Therapie – Wirksamkeit, Sicherheit und Compliance – sind die entsprechenden Qualitäten des Antibiotikums
entscheidend: potentes, breites, antibakterielles Spektrum, günstiges Nebenwirkungsprofil und die 1x tägliche Anwendung, int-
184
chen wie Duschen, Wasserhähnen, Wasserabläufen sowie aus
Belüftungs- und Klimaanlagen, und andererseits von kolonisierten Menschen, vor allem von Mitpatienten, seltener von Personal
oder Besuchern. Die an sich definierten Hygienemassnahmen
im Krankenhaus – im Vordergrund stehen die strikte Händedesinfektion, die baulichen Massnahmen sowie bei Bedarf die
Isolation beziehungsweise die Dekontamination der Keimträger – werden vernachlässigt, da sowohl an Personal- als auch an
Investitionskosten gespart werden muss. Neben der eigentlichen
Hygiene sollen in Zukunft auch zwei weitere Entwicklungen den
Kampf gegen die nosokomialen Infektionen unterstützen: Der
rasche und sichere Nachweis der Bakterien (Schnelldiagnostik)
und Schutzimpfungen gegen resistente Keime wie Pseudomonas
aeruginosa, Clostridium difficile und Staphylococcus aureus.
Die wichtigsten Voraussetzungen für die ambulante parenterale Antibiotika-Therapie (OPAT) sind Wirksamkeit, Sicherheit
und Compliance, wissenschaftlich adäquat untersucht an den
in Frage kommenden Indikationen und Patientengruppen. Die
Patienten können im Spitalambulatorium, in der Arztpraxis oder
auch zu Hause das Antibiotikum intravenös oder intramuskulär
Historisches Archiv Roche
Der «Transnet-PhelophepaGesundheitszug»
in Südafrika
Roche ist externer Hauptsponsor
des Transnet-Phelophepa-Zuges
und unterstützt dieses Projekt
seit 1994
185
Aktuelle Position
Auch 30 Jahre nach der Einführung nehmen das Rocephin und
die Ceftriaxon-Generika weltweit eine wichtige Stellung bei
der erfolgreichen Therapie der Infektionskrankheiten ein. Die
wiederholt beschriebenen Vorteile – basierend auf den vorteilhaften antibakteriellen, pharmakokinetischen und toxikologischen Eigenschaften – bedeuten auch weiterhin eine vereinfachte
Behandlung und somit einen nachhaltigen Nutzen für Klinik
und Ökonomie.
Die mit dem Ablauf der Patentrechte beziehungsweise mit
dem Auftauchen der Generika beschriebene Problematik im Sinne
der «4-P-Themen» (Produkt, Positionierung, Promotion, Preis),
die ebenfalls im Detail dargestellte Resistenz-Entwicklung und die
engagierte Promotion neuer Antibiotika durch die Konkurrenz
konzentrierten sich vor allem auf die Industriestaaten. Auch die
wiederholt geäusserten Bedenken hinsichtlich der Sicherheit im
Neugeborenen- und im Seniorenalter fand vorwiegend in Europa
und Nordamerika Beachtung. Die Grundlagen für die Zurückhal-
186
Rocephin Umsätze
Umsatz
(Mio. CHF)
2000
1800
1600
1400
1200
1000
800
600
400
200
0
Jahr
1980
198519901995200020052010
tung einer Anwendung von Ceftriaxon im Neugeborenenalter,
insbesondere bei unreifen Frühgeborenen, sind das Potential der
Verdrängung von Bilirubin von der Albuminbindung mit der
theoretischen Gefahr eines Kernikterus, sowie die durch insgesamt neun publizierte Fallberichte untermauerte Gefahr einer
potentiell lethalen Bildung von Ceftriaxon-Calcium-Komplexen
in Nieren und/oder Lungen bei der gleichzeitigen intravenösen
Verabreichung von Ceftriaxon und Calcium. Bei geriatrischen
Patienten wird vor den extrem seltenen Nebenwirkungen der
ceftriaxoninduzierten hämolytischen Anämie und den Konkrementbildungen in Gallenwegen/Gallenblase gewarnt, und als theoretische, allerdings nie publizierte Gefahr, die Konkrementbildung in Nieren und Lungen erwähnt. Neugeborene und Senioren
haben einige Gemeinsamkeiten betreffend der Vulnerabilität des
Wasser-Elektrolyt-Haushaltes und der Gewebe: Am Lebensanfang
steht die Unreife, am Lebensende die Alterung.
Aus den Verkaufszahlen von Roche geht hervor, dass sich
die Verkäufe von Rocephin auf der Liste der umsatzträchtigsten Produkte von Rang 1 (1 290 Mio Franken) im Jahre 1998
auf Rang 20 (311 Mio Franken) im Jahre 2010 reduzierten. Am
gesamten Umsatz war das Produkt 1998 mit 10% beteiligt, doch
fiel dieser Anteil bis 2010 auf unter 1%. Die stärksten Rückgänge
fanden mit dem Ablauf der Patente in Europa 1999/2000 und in
Nordamerika 2005/2006 statt.
187
Roche
ravenös oder intramuskulär. Somit stellt Rocephin (Ceftriaxon)
ein für die OPAT hervorragend geeignetes Antibiotikum sowohl
für erwachsene als auch für pädiatrische Patienten dar. In den
meisten Publikationen über OPAT ist Rocephin (Ceftriaxon) das
am häufigsten eingesetzte Antibiotikum, gefolgt von Teicoplanin.
Sowohl der Ort und die Art der Durchführung der Antibiotikagaben, als auch die in Frage kommenden Infektionskrankheiten variieren je nach Land beziehungsweise Kontinent. In den
USA zum Beispiel werden die Antibiotikagaben in der Regel zu
Hause und als Kurzinfusion verabreicht; in den meisten Ländern
Europas geschieht dies im Spitalambulatorium und ebenfalls
intravenös, mit Ausnahme von Italien, wo die intramuskuläre
Verabreichung bevorzugt wird. In peripheren Medizinaleinrichtungen in vielen Entwicklungsländern wird ebenfalls in der Regel
die intramuskuläre Anwendung bevorzugt.
Für die Akzeptanz und die Verbreitung – also den Erfolg –
der ambulanten parenteralen Antibiotika-Therapie in einem
gegebenen Umfeld muss diese Methode im Interesse aller Beteiligten liegen: Patient, Arzt, Administration und Kostenträger.
Ein professionelles und nachhaltiges Engagement der beteiligten
Fachkräfte – Ärzte, Pflege, Logistik – ist eine unabdingbare Voraussetzung, denn die Ansprüche sind hoch und dürfen nicht
unterschätzt werden.
Im Jahre 2010 verteilten sich die Anteile der Rocephin-Verkäufe
wie folgt: Asien 30,8%, Japan 20,6%, Westeuropa 18,3%, Lateinamerika 15,8%, sogenannte CEMAI-Länder (Central and Eastern
Europe, Middle East, Africa and Indian Subcontinent) 13,5%,
Nordamerika 0,5% und übrige Länder 0,5%. Die Länderliste
führten China mit 22,9% und Japan mit 20,6% an, gefolgt von
Italien (12,2%), Mexico (6,8%) und Brasilien (3,3%), sowie weiteren 72 Ländern auf allen Kontinenten.
In China findet zur Zeit eine im Rahmen der vorgängig
beschriebenen 4-P-Strategie (Produkt, Positionierung, Promotion, Preis) gesteuerte, interessante Entwicklung statt, um das
Originalpräparat Rocephin gegenüber den über 100 (!) Konkurrenz-Generika zu behaupten. Eine im Jahre 2011 realisierte Preisreduktion von minus 30% soll durch eine Umsatzsteigerung von
durchschnittlich je 15% in den Jahren 2011 bis 2013 profitmässig
aufgefangen werden. Die auf Seite 181 aufgelisteten Überlegungen
zu den 4-P’s werden angepasst gewichtet und angegangen: Die
guten Erfahrungen mit dem Produkt, die bewährte Positionierung
Tabelle 3
Verkäufe (in Mio CHF und in Mio Einheiten) und Preisentwicklung 2000 – 2010 für Rocephin und
Ceftriaxon-Generika zusammen (MIDAS™ Services, IMS Health)
Ceftriaxon
Asia WesternCEMAI* Latin North JapanTotal
(Rocephin and Pacific
Europe
(excl. Amerika America
Generics)
Russia)
Ceftriaxon
Rocephin
Mio CHF
2000
209
383
61
39
491
44
1227
1048 (85%)
2010
335 308
15910785811075
230(21%)
Veränderung
+126 -75+98+68-406+37 -152
-818
+60%
-20%+161% +174% -83% +84%
-12%
-78%
Mio Einheiten 2000
30.5
28.4
38.0
3.6
17.5
4.1
122
61 (50%)
(Standard 2010
102.5 41.1
168.919.926.511.0 37031 (8.4%)
Units)
Veränderung+72 +12
+130.9+16.3+9.0+6.9 +248
-30
CHF pro Einheit
+236%
+45%+344%+453% +51%+168% +203%
2000
6.85
13.49
1.61
10.83
28.06
10.73
10.05 17.18 (171%)
2010
3.27 7.490.945.383.21 7.36 2.91
7.42 (255%)
Veränderung-3.58 -6.00 -0.67 -5.45 -24.85 -3.37
-7.14
-9.76
-52% -44%-42%-50%-89%-31% -71%
*CEMAI, Central and Eastern Europe, Middle East, Africa and Indian Subcontinent
188
-49%
-57%
von Rocephin in der stationären und ambulanten Anwendung,
die eigentliche Promotion bei den Anwendern im Sinne ärztlichwissenschaftlicher Betreuung sowie die eben erwähnte Preisgestaltung in Form einer sofort wirksamen Reduktion von -30%.
Die von der Firma IMS Health (International Market Service, USA) zusammengestellten internationalen Verkaufsdaten
(MIDAS™ Services, Multinational Integrated Data Analysis
Services) der letzten 10 Jahre (2000 – 2010) zeigen die von der
Firma Roche (Post Patent Strategy Task Force) antizipierten Entwicklungen. Die Angaben in Tabelle 3 betreffen einerseits den
Gesamtumsatz für das Antibiotikum Ceftriaxon, also die Verkäufe
des Originalpräparats Rocephin und der zahlreichen Generika
zusammen, und andererseits die Zahlen für Rocephin. Der Anteil
von Rocephin betrug in den Jahren 2000 und 2001 noch ca. 85%,
in den Jahren 2002 bis 2004 ca. 75% und im Jahre 2005 noch ca.
60%; mit dem Ablauf der Patentrechte in Nordamerika 2005/2006
gingen dann die Rocephin-Anteile am finanziellen Gesamtumsatz
nochmals deutlich zurück auf 30% bis 35% in den Jahren 2006
bis 2009; im Jahre 2010 machte Rocephin noch 21% aus.
Bei Betrachtung der totalen Verkaufssummen (also für Originalpräparate und Generika zusammen) ergeben sich keine
beeindruckenden Veränderungen: je etwa 1 300 Mio Franken in
den Jahren 2000 bis 2002, ca. 1 400 Mio Franken in den Jahren
2003 bis 2005, und schliesslich ein Einpendeln auf je ca. 1 000
Mio Franken in den Jahren 2006 bis 2010. Nur bei gleichzeitiger Berücksichtigung der total verkauften Einheiten (Standard
Units) widerspiegeln sich Marktausweitung und Preiszerfall :
Die Verkäufe nahmen um mehr als das Doppelte (plus 203%)
zu, nämlich von 122 Millionen Einheiten im Jahr 2000 auf 370
Millionen Einheiten im Jahre 2010, was einer grob berechneten
Preisreduktion von 10,05 Franken auf 2,91 Franken pro Einheit
entspricht, also einem Preiszerfall von nahezu drei Viertel (minus
71%).
Die entsprechenden Angaben für das Originalpräparat Rocephin zeigen für die Jahre 2000 bis 2010 (Tabelle 3) einen Rückgang des finanziellen Umsatzes von minus 78%, eine Halbierung
der verkauften Einheiten (minus 49%) und eine Preisanpassung
von auf weniger als die Hälfte (minus 57%).
Auch die Aufteilung dieser MIDAS-Daten auf die 6 Verkaufsregionen zeigt interessante Aspekte. In Tabelle 3 finden sich die
Veränderungen in den 10 Jahren zwischen 2000 und 2010 für
totale Verkäufe in Millionen Franken, für verkaufte Einheiten in
Millionen und für den daraus berechneten Preiszerfall.
189
Wie bereits erwähnt, zeigen die totalen Verkaufssummen wenig
Veränderungen: von 1 227 Millionen Franken im Jahre 2000
auf 1 075 Millionen Franken im Jahre 2010. Für die einzelnen
Regionen sieht dies allerdings sehr unterschiedlich aus: deutliche Einbrüche in Nordamerika (-83%) und Westeuropa (-20%),
eindrückliche Zunahmen in den übrigen Regionen, angeführt in
absoluten Zahlen (+126 Mio Franken) von «Asia Pacific» (Südostasien, China, Australien, Neuseeland) und einer entsprechenden
prozentualen Zunahme von Lateinamerika (+174%) und den
CEMAI-Ländern (+161%).
Die anhand der total verkauften Ceftriaxon-Einheiten dokumentierte, substantielle Marktausweitung auf mehr als das Doppelte
– als Konsequenz der Proliferation der Generika – konzentriert
sie sich vor allem auf Lateinamerika (+453%), die CEMAI-Länder
(+344%) und «Asia Pacific» (+236%).
Der Preiszerfall von nahezu drei Viertel (-71%) ist mit minus
89% noch ausgeprägter in Nordamerika und beträgt in den übrigen
Regionen um die minus 50%, mit Ausnahme von Japan mit lediglich minus 31%, dies allerdings bei relativ sehr kleinen Umsätzen.
Indikationsspektrum heute
An den im Unterkapitel «Klinische Anwendung» (Seite 174) aufgelisteten Indikationen für Rocephin beziehungsweise Ceftriaxon
hat sich in den letzten drei Jahrzehnten grundsätzlich wenig verändert, natürlich mit gewissen Unterschieden zwischen «reichen»
Industrie- und «armen» Entwicklungsregionen.
Parallel zur vorgängig analysierten Marktausweitung, die
sich insbesondere auf die CEMAI-Länder, Lateinamerika und
Südostasien/Pazifik konzentriert, wird in diesen Regionen Ceftriaxon nach wie vor sehr häufig als empirische (das heisst erste
Wahl bei Diagnosestellung) beziehungsweise blinde (fehlender
Erregernachweis), antibiotische Therapie für verschiedenste
schwere Infektionskrankheiten eingesetzt, namentlich auch bei
Meningitis (Hirnhautentzündung), Sepsis (Blutvergiftung), und
bei Lokalisation im Bereich von Lungen, Skelett und Abdomen
sowie bei Patienten mit geschwächter Immunabwehr. Die Industrieländer in Westeuropa und Nordamerika mit nur geringer
Marktausweitung setzen Ceftriaxon zurückhaltender, das heisst
gezielter ein. Zwei der wichtigsten Gründe dafür wurden wiederholt genannt: Resistenz-Entwicklung und Promotion neuer
Substanzen; beide haben in diesen Ländern grosses Gewicht.
Die im Detail abgehandelte ambulante parenterale Antibiotika-
190
Therapie (OPAT, Outpatient Parenteral Antibiotic Therapy) mit
Ceftriaxon (Seite 183) ist global von grosser Bedeutung.
In den letzten Jahren (2008 bis 2011) publizierte Studien
über Erfahrungen mit Ceftriaxon bestätigen diese Aussagen. Die
grossen Vorteile von Ceftriaxon bei der Behandlung der akuten
bakteriellen Meningitis im Kindesalter sind offensichtlich, besonders auch in Gebieten mit einfachster medizinischer Infrastruktur
und im Hinblick auf eine von 10 auf 5 Tage verkürzte Therapie­
dauer. In der pädiatrischen Infektiologie in Entwicklungsländern
nimmt Ceftriaxon eine sehr breite und wichtige Stellung ein,
unter anderem bei bakteriellen Darminfektionen, unklarem Fieber bei Neutropenie sowie bei schwerer akuter Unterernährung.
In den letzten Jahren publizierte Resultate mit Ceftriaxon im
Erwachsenenalter bestätigen die guten Erfahrungen als Therapie bei Lungenentzündungen, intraabdominellen Infektionen,
Geschlechtskrankheiten und febrilen Neutropenien, sowie als
perioperative Infektionsprophylaxe bei verschiedenen Eingriffen.
Insbesondere konnte eine Reduktion sowohl von Wundinfektionen als auch von nosokomial (im Krankenhaus) erworbenen
Urin- und Lungenentzündungen nachgewiesen werden. Eine
interessante Studie aus zehn Universitätsspitälern in Korea bestätigte die praktischen Vorteile der antibiotischen Behandlung mit
Ceftriaxon im Sinne einer korrekten Indikationsstellung und
guten Compliance.
Anzahl behandelter Patienten
Seit der Einführung im Jahre 1982 wurden bis Ende Januar 2012
weltweit 141,7 Millionen Patienten mit Rocephin behandelt.
In der Annahme einer mittleren Tagesdosis von einmal
1,5g Ceftriaxon pro Tag – die Tagesdosen betragen je nach
Körpergewicht des Patienten und Schwere der Krankheit zwischen wenigen 100mg bis in der Regel maximal 4g – sowie einer
durchschnittlichen Behandlungsdauer von zehn Tagen – weiter
Bereich von Einmaldosis über 1, 3, 7, 10, 21 Tage und länger, je
nach Indikation – und in Berücksichtigung der von der Firma
IMS Health zusammengestellten internationalen Verkaufsdaten
(MIDAS™ Services, vgl. auch Tabelle 3) ergibt die Hochrechnung
folgende Zahlen: Während der 17 Jahre von 1982 bis 1999 wurden
weltweit ca. 165 Millionen Patienten mit Ceftriaxon therapiert,
davon ca. 121 Millionen (73,3%) mit Rocephin. Während der
folgenden 12 Jahre zwischen 2000 und 2011 waren es total ca. 215
Millionen Patienten, ca. 20 Millionen (9,3%) davon mit Rocephin.
191
Millionen und in Sao Paulo etwa zwölf Millionen Menschen. In
Rio de Janeiro dominieren ein blaues Meer, schöne Strände und
Berge sowie eine sympathische Lebensfreude, in Sao Paulo hingegen ein gigantisches Hochhausmeer, pulsierendes Geschäftsleben
und tolerante Multinationalität. Die umfassende und ausgezeichnete Organisation der zahlreichen Besuche verschiedener Spitäler
und Institute sowie die kundige Führung hatte Roche Brasilien
übernommen.
Shutterstock
Land und Leute. Der französische Anthropologe Michel Maffesoli (geboren 1944 in der kleinen Ortschaft Graissessac in den
Cevennen, Département Hérault) schrieb vor einigen Jahren:
Brasilien verkörpert das Emotionale und Gefühlsbetonte wie
wenige andere Kulturen, eine Vorstellungswelt, in der die Gefühle
als Widerstand gegen die Schwierigkeiten herangezogen werden.
Das Positive, die Motivation und das Lächeln dominieren, die
Probleme können noch so gross sein – Brasilien ist ein echtes,
ausgeglichenes, stolzes Land der Zukunft. Das demokratische
politische System funktioniert, die Wirtschaft boomt, die Währung ist stabil, das Umweltbewusstsein macht Fortschritte.
Rio de Janeiro
Medikamente. In Brasilien herrscht ein ausserordentlich raues
Klima im Handel mit den Arzneimitteln, sowohl zwischen privatem und öffentlichem Markt, als auch zwischen Originalsubstanz
und Generika. Die Verkäufe für Privatpatienten, die vorwiegend
Sao Paulo
Somit profitierten zwischen 1982 und 2011 weltweit ca. 380 Millionen Patienten jeglichen Alters, also von Frühgeborenen über
Kinder und Erwachsenen bis hin zu Senioren, von einer Behandlung mit Ceftriaxon, davon erhielten wie erwähnt ca.141 Mio
(37,1%) das Original Rocephin. Diese eindrücklichen Zahlen
werden in den nächsten Jahren weiterhin anwachsen, denn die
Erfolgsgeschichte von Rocephin und den Ceftriaxon-Generika
geht weiter.
Beispiel Brasilien
192
Shutterstock
Brasilien, das grösste und zurzeit vielversprechendste Land in
Südamerika, ist für Roche von grosser Bedeutung. Auch hinsichtlich Rocephin war und bleibt Brasilien eine wichtige Region. Ende
August 2011 erhielt ich die Gelegenheit, in den beiden Städten Rio
de Janeiro und Sao Paulo die aktuelle Position von Rocephin zu
analysieren. Beide sind Millionenstädte – in Rio leben etwa sechs
193
194
in Privatspitälern betreut werden, machen lediglich um die 10%
der totalen, mit Medikamenten erzielten Umsätze aus. Diese
10% bedeuten allerdings deutlich höhere Profite als die Verkäufe
für die «staatlich» versicherten Patienten. Der öffentliche Markt
betrifft insbesondere die öffentlichen Spitäler und wird vom Staat
sehr streng kontrolliert.
Jedes neue Medikament wird zuerst im Privatmarkt eingeführt; die Registrierung für den allgemeinen Gebrauch ist aufwändig, langwierig und bedeutet eine Preisreduktion von mindestens
40%. Zudem ist eine Voraussage hinsichtlich Akzeptanz und
Stellung in den öffentlichen Spitälern in der Regel sehr unsicher,
so dass längst nicht alle primär für den Privatmarkt registrierten
Arzneimittel sich dieser Hürde stellen. Für die meisten allgemein
zugelassenen Medikamente verlangt der Staat seit einigen Jahren,
dass die Produktion in Brasilien erfolgt. Dazu dient der sogenannte «Technology Transfer» im Rahmen der «Private Public
Partnership». Somit wird gewährleistet, dass Herstellung und
Überwachung qualitativ gleichwertig sind wie im Herkunftsland;
diese Verlagerung wird mit einer Verlängerung der Patentdauer
von bis zu fünf Jahren belohnt.
Etliche der oft sehr zahlreichen bis unzähligen Generika sind
in Brasilien mangelhaft, trotz der staatlichen Kontrollbemühungen. Dies betrifft insbesondere auch die pharmakologisch
aktiven Anteile («Active Product Ingredients», API), also die
Wirksamkeit. Viele dieser aktiven Rohsubstanzen stammen aus
dubiosen Quellen in Asien, vor allem aus Indien und China. Die
Urs P. Schaad
Urs P. Schaad
Produktionswerk von Roche
Brasilien in Jacarepaguá
(Rio de Janeiro)
Die Privatkliniken bieten den Patienten
nicht selten alle Annehmlichkeiten eines
Hotels der Luxusklasse, während in den
öffentlichen Krankenhäusern teilweise
bedenkliche Zustände herrschen
möglichen Nachteile für den Patienten sind somit bedeutsam,
manchmal lebensbedrohlich, da das unbewusst unterdosiert
eingesetzte Generikum nicht wirkt.
In den meisten öffentlichen Spitälern entscheidet einzig und
allein der Preis die Wahl einer Substanz, so dass für staatlich
versicherte Patienten praktisch ausschliesslich Generika eingesetzt
werden, was natürlich auch für Ceftriaxon gilt.
195
Historisches Archiv Roche
Originalpräparat im Gegensatz zu den meisten der insgesamt
15 Generika auch in Kleinpackungen angeboten wird, sowohl
was die Anzahl als auch die Stärke der Dosen für pädiatrische
Patienten anbelangt.
Rocefin i.m. 500mg/1g
Krankenhäuser. Zwischen den privaten und öffentlichen Spitälern bestehen in Brasilien gewaltige Unterschiede, sowohl was
Bausubstanz und Platzverhältnisse, als auch was Organisation
und Administration anbelangt. Die Privatkliniken bieten den
Patienten nicht selten alle Annehmlichkeiten eines Hotels der
Luxusklasse, während in den öffentlichen Krankenhäusern teilweise bedenkliche Zustände herrschen. Auch die Ausbildung,
das Erscheinungsbild und die Motivation des administrativen
Personals – und somit alle Abläufe – sind im Privatspital merklich und spürbar besser als im Staatsspital. Die Pflegenden und
insbesondere auch die Ärztinnen und Ärzte leisten hingegen in
allen Spitälern eine sehr gute und hoch engagierte Arbeit.
Rocephin. Im Jahre 2011 erreichten in Brasilien alle Cephalosporine zusammen einen Jahresumsatz von knapp 400 Mio. BRL
(Brasilianische Reals), was etwa 1% des gesamten Arzneimittelgeschäftes ausmachte. Was bereits erwähnt wurde, gilt auch für
die Cephalosporine: ca. 90% des Handels betreffen die staatlich
versicherten Patienten. Somit dominieren die Generika über die
Originalsubstanzen in einem vergleichbaren Ausmass (ca. 90%).
Der Anteil des Originalpräparates «Rocefin» am brasilianischen Umsatz mit Ceftriaxon betrug im Jahre 2011 noch ca. 10%
(Rang 4) der Verkäufe in Brasilianischen Reals, und ca. 20%
(Rang 3) der verkauften Einheiten. Diese «Diskrepanz» bei
den prozentualen Anteilen wird natürlich nicht durch billigere
Einheitspreise für «Rocefin» erklärt, sondern dadurch, dass das
196
Stellung in der Klinik. Das Original «Rocefin», beziehungsweise
die Ceftriaxon-Generika nehmen in Brasilien auch fast drei
Jahrzehnte nach der Einführung im Jahre 1985 eine beachtlich
hohe Stellung ein, im öffentlichen wie im privaten Spital. Zudem
wird dieses Antibiotikum bei schweren invasiven bakteriellen
Infektionen als erste Wahl eingesetzt, insbesondere bei Verdacht
auf beziehungsweise Diagnose von Hirnhautentzündung, Blutvergiftung und Lungenentzündung, aber auch bei noch unklaren
Krankheitsbildern, allein oder kombiniert mit anderen Antibiotika. In diesem Zusammenhang verdienen zwei von verschiedenen
brasilianischen Infektiologen gemachte Aussagen Erwähnung:
– Das vor allem bei jungen Ärztinnen und Ärzten zirkulierende
«geflügelte Wort»: «Pelo sim, pelo nâo – Rocefin», was soviel
bedeutet wie «Im Zweifelsfall – Rocephin»!
– In der grossen Antibiotika-Familie nehme das «Rocefin»
(Ceftriaxon) die Position eines reifen jungen Erwachsenen
ein!
Auch in der ambulanten parenteralen Antibiotika-Therapie
wird «Rocefin» (Ceftriaxon) sehr häufig eingesetzt, intravenös
wie auch intramuskulär.
Von allen befragten Infektiologen, Internisten und Pädiatern
wurden die Wirksamkeit von «Rocefin» (Ceftriaxon) als sehr
zuverlässig, die Sicherheit als sehr hoch, und die Anwendung als
sehr einfach bezeichnet.
Weltweit weisen Rocephin und die Ceftriaxon-Generika
auch 30 Jahre nach der Einführung beachtliche und nachhaltige medizinische und wirtschaftliche Vorteile bei der
erfolgreichen Behandlung verschiedenster Infektionskrankheiten auf, und dies sowohl bei pädiatrischen als auch bei
erwachsenen Patienten.
197
Dank
Ausgewählte Literatur
Den nachfolgend erwähnten Personen gebührt grosser Dank
für ihre wichtigen Beiträge bei der Erstellung dieses Kapitels:
­Alexander Lukas Bieri, Curator The Roche Historical Collection
and Archive, Basel; Bruno Halm, Historisches Archiv Roche,
Basel; Jan P. Timmermans, International Portfolio Business
Manager Roche, Basel; Peter Angehrn, pensionierter Mikrobiologe Roche, Basel; Peter J. Probst, pensionierter Medical Manager
Roche, Basel; Maria Cristina Santos, Special Projects Manager,
Produtos Roche, Sao Paulo, Brazil.
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Biographien
Dr. rer. nat. Sabine Päuser (geb. 1967) in Berlin, arbeitet als wissen-
schaftliche Redakteurin und Wissenschaftsjournalistin bei Roche
in Basel. Nach einem Chemiestudium und einer Promotion auf
biophysikalischem Gebiet an der Humboldt Universität zu Berlin
im Jahre 1993 arbeitete sie mehrere Jahre in der Krebsforschung
im Universitätsklinikum Benjamin Franklin der Freien Universität Berlin. Bevor sie zu Roche kam, war sie vier Jahre als
Chefredakteurin der medizinisch-diagnostischen Fachzeitschrift
mta Spektrum in Frankfurt am Main tätig.
Prof. Christoph Mörgeli (geb. 1960) ist Dozent für Geschichte
der Medizin am Medizinhistorischen Institut und Museum
der Universität Zürch. Nach dem Studium der Geschichte, der
politischen Wissenschaft und der Deutschen Sprache promovierte er 1986 über den Zürcher Arzt und Politiker Johannes
Hegetschweiler zum Dr. phil. I. Im Jahre 2001 wurde er zum
Titularprofessor der Universität Zürich ernannt. Christoph Mörgeli verfasste zahlreiche Publikationen zur medizinihistorischen
Museologie, zu Zürichs Medizingeschichte sowie zur Rolle der
Ärzte im Rahmen von Politik und Gesellschaft.
Prof. Urs B. Schaad (geb. 1945) schloss im Jahr 1971 sein Medi-
zinstudium an der Universität Bern ab und spezialisierte sich
daraufhin auf Pädiatrie und Infektiologie. Ab 1981 baute er die
Abteilung für Pädiatrische Infektionskrankheiten an der Universitäts-Kinderklinik, Inselspital Bern, auf. Von 1993 bis 2010
wirkte Urs B. Schaad als Direktor und Professor für Pädiatrie am
Universitäts-Kinderspital beider Basel. Seit seiner Emeritierung
hält er diverse Verpflichtungen in Forschung und Lehre an der
Universität Basel, zudem berät er pharmazeutische Unternehmen in Zürich, Basel und Genf. Urs B. Schaad ist Mitglied und
Mitgründer verschiedener bedeutender Institutionen auf dem
Gebiet der Infektiologie und hat zahlreiche Fachpublikationen
veröffentlicht.
201
Editiones Roche
Basel