Grete Weil Der Brautpreis
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Grete Weil Der Brautpreis
Grete Weil Der Brautpreis Masterarbeit zur Erlangung des Mastergrades der Kultur- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Luzern vorgelegt von Judith Hélène Stadler von Schönholzerswilen TG Eingereicht am 10. Februar 2010 Genehmigt durch: Erstgutachterin: Frau Prof. Dr. Verena Lenzen, Universität Luzern Zweitgutachterin: Frau Prof. Dr. Anat Feinberg, Universität Heidelberg 1 2 Inhalt 1 Abkürzungen 6 Einleitung 7 Vorbemerkung zum Verständnis der Arbeit 10 Die Autobiografie in Abgrenzung zum autobiografischen Roman 11 2 Grete Weil: Biografie und Werk 12 2.1 Grete Weils Biografie 12 2.1.1 Vor 1933: Herkunftsfamilie, Prägungen, Freundschaften 12 2.1.2 Zwischen 1933 und 1945 19 2.1.3 Nach dem Krieg 1945 24 2.1.4 Grete Weils Identität 27 2.1.5 Grete Weils Motivation zum (autobiografischen) Schreiben 31 2.2 Grete Weils Werk 35 2.2.1 Überblick über das veröffentlichte Werk 35 2.2.2 Überblick über Grete Weils Altersromane 36 2.2.3 Einordnung von Grete Weils Werk 37 Einordnung in die Geschichte der deutschen autobiografischen 2.2.4 Literatur 37 Einordnung in die Geschichte der deutsch-jüdischen Literatur 41 Die Rezeption von Grete Weils Werks 45 3 3 Der Brautpreis 48 3.1 Die Darstellung der Figur Michal in den Samuelbüchern 48 3.2 Grete Weil und die Buber-Rosenzweig-Verdeutschung 49 3.3 Die Hintergründe von Der Brautpreis 50 3.4 Mögliche Gründe für die Wahl der Romanfiguren Michal und David 51 3.5 Die Bedeutung der Wahl der Protagonistin Michal 53 3.6 Analyse und Deutung von Der Brautpreis 54 3.6.1 Ein autobiografischer Roman 54 3.6.2 Der Titel 56 3.6.3 Stil, Leitworte, Wortfelder, Anspielungen, Zitate 56 3.6.4 Inhalt, Bau, Orte der Handlung, Zeitebenen, Bibelbezüge, Änderungen 60 Überblick 64 Figuren, Themen und mögliche Deutungen 66 Ich-Grete 66 Ich-Michal 71 David 79 Weitere Figuren 82 3.7 Grete Weils Vorgehen im Umgang mit dem biblischen Text 87 3.8 Die Rezeption von Der Brautpreis 91 4 Schlussbetrachtung 95 3.6.5 4 Anhang 97 Grete Weils Leben im Überblick 101 Abbildungsnachweis 102 Literaturverzeichnis 103 Primärliteratur 103 Sekundärliteratur 104 Nachschlagewerke 115 Artikel in Zeitschriften und Internetseiten 116 5 Abkürzungen Für Abkürzungen gilt das Abkürzungsverzeichnis der TRE. Um einen längeren Apparat zu vermeiden werden Grete Weils Werke folgendermassen abgekürzt: DB Der Brautpreis. Zürich/Frauenfeld: Verlag Nagel & Kimche 1988. LWAL Leb ich denn, wenn andere leben. Zürich/Frauenfeld: Verlag Nagel & Kimche 1998. MSA Meine Schwester Antigone. Zürich/Köln: Benziger Verlag 1980. G Generationen. Zürich/Köln: Benziger Verlag 1983. SF Spätfolgen. Zürich/Frauenfeld: Verlag Nagel & Kimche 1992. TB Tramhalte Beethovenstraat (1964). Zürich/Frauenfeld: Nagel & Kimche 1992. Im zweiten Kapitel verweisen im fortlaufenden Text Zahlen ohne Abkürzungen in Klammern auf Seiten in LWAL, im dritten Kapitel auf DB. 6 Einleitung Durch Herrn Prof. Dr. Walter Dietrichs Veranstaltung Übung König David im Frühlingssemester 2008 an der Universität Bern wurde ich auf Grete Weils Der Brautpreis (1988) aufmerksam.1 Die Lektüre berührte mich tief und hinterliess gleichzeitig einen sehr zwiespältigen Eindruck. Es drängten sich folgende Fragen auf: • Wer steht hinter diesem Roman, und inwiefern ist er autobiografisch? • Welchen Stellenwert hat Der Brautpreis im Gesamtwerk der Verfasserin? • Welche Bedeutung hat die Wahl der Protagonisten, und wie ist der Roman zu deuten? • Wie ist die Schriftstellerin mit dem Bibeltext umgegangen? Ich stellte bald fest, dass die Situation der Sekundärliteratur über Der Brautpreis prekär ist.2 Meine Masterarbeit stellt den Versuch dar, mehr Verständnis für Weil und den Stellenwert von Der Brautpreis – vor allem im Fach Judaistik – zu wecken. Dazu positioniere ich diese Schriftstellerin und ihren Roman in einen grösseren Zusammenhang, als dies bis anhin unternommen wurde, und beleuchte literaturwissenschaftliche, sozialgeschichtliche, psychologische und Gender-Aspekte. Was die Definition deutsch-jüdischer Schriftsteller, respektive die Bestimmung des ‚Jüdischen’ in der deutschsprachigen Literatur anbelangt, richte ich mich vornehmlich nach Hans-Otto Horch und Itta Shedletzky, aber auch nach Andreas A. Kilcher und Thomas Nolden.3 Da ich vor allem literaturwissenschaftlich an die biblischen Texte herangehe, nehme ich die David-Erzählung als Mythos und gute Literatur wahr.4 Für die Analyse und die Deutung von Der Brautpreis arbeite ich textimmanent. Wenn ich Weils Herkunftsfamilie mit anderen deutsch-jüdischen Familien derselben ZeitWie ich aufzeigen werde, ist es bezeichnend, dass ich im Rahmen einer theologischen Veranstaltung auf DB aufmerksam wurde. S. S. 84-85. Ebenso bezeichnend ist, dass ich vor dreissig Jahren Weils MSA in einer Frauenlektüregruppe las. S. S. 33-35. 2 Im deutschen Sprachraum ist folgende Monografie bis heute unübertroffen: Meyer, Uwe: „Neinsagen, die einzige unzerstörbare Freiheit“. Das Werk der Schriftstellerin Grete Weil. Frankfurt a.M./Berlin/New York/Paris/ Wien 1996. Darin wird u.a. DB besprochen. Alle nachfolgenden Arbeiten berufen sich auf die Dissertation dieses Germanisten. Auch ich verdanke ihm viele wertvolle Hinweise. Im amerikanischen Sprachraum ist folgende Rezeption von DB für nachfolgende Arbeiten wichtig: Lorenz, Dagmar C.G.: Keepers of the Motherland. German Texts by Jewish Women Writers. Lincoln/London 1997:278-285. Lorenz ist Judaistin. 3 Horch, Hans-Otto/Shedletzky, Itta: Die deutsch-jüdische Literatur und ihre Geschichte. In: Schoeps, Julius H. (Hg.): Neues Lexikon des Judentums. München 1992:291-294; Shedletzky, Itta: Existenz und Tradition. Zur Bestimmung des ‚Jüdischen’ in der deutschsprachigen Literatur. In: Dies./Horch, Hans-Otto (Hg.): Deutsch-jüdische Exil- und Emigrationsliteratur im 20. Jh. Tübingen 1993:3-14. Kilcher, Andreas B.: Einleitung. In: ders. (Hg.): Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur. Jüdische Autorinnen und Autoren deutscher Sprache von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Stuttgart/Weimar 2000:V-XX. Nolden, Thomas: Junge jüdische Literatur. Konzentrisches Schreiben in der Gegenwart. Würzburg 1995. Weiterführende Information s. S. 35, Anm. 134. Es wäre naheliegend, Weil mit anderen verfolgten, deutsch-jüdischen Schriftstellern zu vergleichen. Dies würde jedoch den Rahmen der Masterarbeit sprengen. Für Vergleiche mit Jean Améry oder Paul Celan s. Meyer 1996; mit Klaus Mann s. Giese, Carmen: Das Ich im literarischen Werk von Grete Weil und Klaus Mann. Zwei autobiographische Gesamtkonzepte. Frankfurt a.M./Berlin/New York/Paris/Wien 1997; mit Ruth Klüger s. Bos, Pascale R.: German-Jewish Literature in the Wake of the Holocaust. Grete Weil, Ruth Klüger, and the Politics of Address. New York/Hampshire 2005. 4 Für die literaturwissenschaftliche Sicht auf Weils Werk erwies sich Giese 1997 als hilfreich. 1 7 epoche vergleiche, arbeite ich vornehmlich mit dem sozialgeschichtlichen, gendergerechten Ansatz von Marion Kaplan.5 Bei der psychologischen Betrachtung von Weils Werk richte ich mich nach Wiliam G. Niederland und Peter Levine.6 Im ersten Kapitel erkläre ich, weshalb ich mich bei Weils Biografie für die Zeit vor und während des Dritten Reiches vor allem auf ihre literarische Autobiografie Leb ich denn, wenn andere leben (1998) und nicht – wie dies viele Rezipienten tun – auf Aussagen aus ihren autobiografischen Romanen stütze.7 Dazu gehe ich kurz auf den Unterschied zwischen einer Autobiografie in Abgrenzung zu einem autobiografischen Roman ein, zu dessen Gattung auch Der Brautpreis gehört, und erkläre Weils autobiografisches Konzept. Im zweiten Kapitel stelle ich mit Hilfe von Weils Autobiografie und Informationen aus Interviews das Leben dieser Schriftstellerin dar.8 Bei der Untersuchung von Weils Leben interessieren Themen, die in ihrem Werk, insbesondere in Der Brautpreis, auftreten. Da sich in diesem Roman eine autobiografisch geprägte Protagonistin, die ich im Folgenden IchGrete nenne, mit ihrem Jüdischsein auseinandersetzt, geht es vor allem um die Fragen nach der deutschen und der jüdischen Identität in Weils Herkunftsfamilie und inwiefern diese und die Erfahrungen im Dritten Reich Weils spätere Identität und ihr Sein geprägt haben. Ebenfalls geht es darum herauszufinden, welchen Einfluss die Verfolgungserfahrung auf Weils Motivation zu schreiben und ihr Schreiben im Allgemeinen ausgeübt hat. Von Interesse ist auch, wie Weil erinnert, was Erinnern bei ihr bedeutet, wie ihr Werk den Umgang mit Verfolgungserfahrung spiegelt und inwiefern der zeitliche Abstand zwischen dieser und ihrer Dokumentation im literarischen Werk sich in Inhalt und Form des Textes niederschlägt. Danach gebe ich einen Überblick über Weils veröffentlichtes Werk. Da ich ihre Altersromane als zusammenhängend erachte, gehe ich kurz auf deren Inhalt ein. Ich Kaplan, Marion A.: Jüdisches Bürgertum. Frau, Familie und Identität im Kaiserreich. Strobl, Ingrid (Trad.). Hamburg 1997. 6 Niederland, William G.: Folgen der Verfolgung. Das Überlebenden-Syndrom. Seelenmord. Frankfurt a.M. 1980; Levine, Peter A./Frederick, Ann: Trauma-Heilung. Das Erwachen des Tigers. Kierdorf, Theo/Höhr, Hildegard (Trad.). Essen 1998. 7 Dieser Titel ist eine Abwandlung von Johann Wolfgang Goethes Frage „Lebt man denn, wenn andre leben?“ in der sechsten Strophe seines West-östlichen Divan, Buch des Unmuts. LWAL fällt kürzer aus als ursprünglich geplant: Es sollte Weils umfangreichstes Werk werden. 1995 arbeitete sie noch am dritten Teil (Nachkriegszeit). Vgl. Interview in Giese 1997:212. Das Werk wurde offensichtlich nicht fertig und umfasst nur zwei Teile: Der erste beschreibt ihre Jugend und hat rund 120 Seiten, der zweite, der ungefähr gleich lang ist, berichtet über die Zeit des Exils bis 1947 und wird einerseits von einem ‚Vorspruch’ aus der Nachkriegszeit, anderseits durch einen Brief an Margarete Susman (1947) gerahmt. 8 Für Weils Lebensbeschreibung von 1947-1999 arbeite ich mit Informationen aus folgenden Interviews: Laudowicz, Edith/Pollmann, Dorlies: Grete Weil. Nicht dazu erzogen, Widerstand zu leisten. In: Dies. (Hg.): Weil ich das Leben liebe. Persönliches und Politisches aus dem Leben engagierter Frauen. Köln 1981:171-180; Koelbl, Herlinde: Jüdische Portraits. Photographien und Interviews von Herlinde Koelbl. Frankfurt a.M. 1989:256; Hildebrandt, Irma: Bin halt ein zähes Luder. 15 Frauenporträts. München, 2. Auflage 1991:220-224; Meyer 1996:13-39; Giese 1997:211-221; Exner, Lisbeth: Land meiner Mörder, Land meiner Sprache. Die Schriftstellerin Grete Weil. München 1998. Zum Vorbehalt gegenüber Exner s. Anm. 10 und 12. 5 8 versuche Weils Romane sowohl in die Geschichte der deutschen (autobiografischen) Literatur wie auch in die Geschichte der deutsch-jüdischen Literatur einzuordnen. Dann gehe ich der Frage nach der allgemeinen Rezeption Weils nach. Aufgrund der zweiten Protagonistin in Der Brautpreis, die ich im Folgenden Ich-Michal nenne, interessiert im dritten Kapitel die Darstellung der Figur Michal in den Samuelbüchern. Da Weil assimiliert war und rabbinische Literatur für ihr Werk nicht relevant ist, lasse ich diese weitgehend ausser Acht. Aufgrund der Komplexität der biblischen DavidErzählung, der eine Zusammenfassung nicht gerecht werden kann, verzichte ich darauf, zeige aber kurz die Bedeutung der Figur David im Judentum und im modernen Staat Israel auf.9 Von Interesse ist jedoch, mit welcher Intention Weil aus der Buber-RosenzweigVerdeutschung zitiert. Danach zeige ich die Hintergründe der Entstehung des Romans auf. Ich gehe der Frage nach, was Weil dazu bewogen haben könnte, einen Roman über die David-Erzählung zu schreiben und welche Bedeutung die Figur Ich-Michal als Protagonistin hat. Des Weiteren untersuche ich die Bedeutung des Titels, Weils Stil, Leitworte, Wortfelder, Anspielungen und Zitate in diesem Roman. Ich analysiere dessen Inhalt und Bau und arbeite die Orte der Handlung, Zeitebenen, Bibelbezüge und Änderungen bei den von Weil verwendeten Bibelstellen heraus. Ausführlich behandle ich die Figuren und ihre Themen und unternehme Deutungsversuche. Danach zeige ich Weils Vorgehen im Umgang mit dem biblischen Text auf. Abschliessend interessiert die Rezeption von Der Brautpreis, vor allem diejenige jüdischer Wissenschafter und Judaistinnen. Ich beschränke mich dabei auf wenige Meinungen, die ich als repräsentativ erachte. Im Fazit erscheint nach jedem Unterkapitel, bei längeren Unterkapiteln auch nach Abschnitten, nicht nur eine Zusammenfassung, sondern, wo es Sinn macht, auch mein Kommentar und meine Interpretation. Ich bemühe mich um eine gendergerechte Sprache und wechsle deshalb zwischen weiblichen und männlichen Formen, wobei bei weiblichen Formen männliche mitgemeint sind und vice versa. Die Schreibweise biblischer Namen variiert. Ich übernehme jeweils diejenige der verwendeten Literatur. Zum Aufbau, zur Entstehung und Theologie der David-Erzählung s. z.B. Hentschel, Georg: Die Samuelbücher. Die Königsbücher; Steins, Georg: Die Bücher der Chronik. In: Zenger, Erich (Hg.): Einleitung in das Alte Testament. Stuttgart, 5. Auflage 2004:230-262. Zur allgemeinen Interpretation der Figur David und zur Rezeption im Judentum im Besonderen s. z.B. die Artikel verschiedener Verfasser in Dietrich, Walter/Herkommer, Hubert (Hg.): König David – biblische Schlüsselfigur und europäische Leitgestalt. Stuttgart 2003:3-282. 9 9 1 Vorbemerkung zum Verständnis der Arbeit Nachdem Weil Jahrzehnte lang totgeschwiegen worden war, kam es in den achtziger und neunziger Jahren zu einer Fülle von Rezeptionen ihrer Werke. Ein vertieftes Studium zeigt jedoch die Inkompetenz und/oder Oberflächlichkeit vieler Rezipienten.10 Auffallend sind die vielen Beschönigungen der von Weil beschriebenen Ungeheuerlichkeiten, respektive Verharmlosungen traumatisierender Erlebnisse.11 Immer wieder ist auch zu beobachten, dass Aussagen von Weils Ich-Figuren aus ihren autobiografisch geprägten Romanen tel quel auf Weil übertragen werden.12 Vor allem als Weil ihr Alter Ego in Der Brautpreis Grete nennt, interpretieren dies Rezipienten dahingehend, dass eine völlige Identität zwischen dieser Figur und Weil besteht. Weil erinnert sich: „Einmal hat mich eine Frau ... gefragt, ob ich ein Bild von Michelangelos David habe. Und da habe ich gesagt: ,Ja, natürlich.’ Da habe ich ihr das Buch mit dem Michelangelo gebracht. Und da hat sie gesagt: ‚Ist das das Buch, was Ihr Vater Ihnen gezeigt hat?’ Mein Vater hat mir’s gar nicht gezeigt ... Solche Sachen, die erfindet man, ... nicht weil die Erinnerung schwach ist, sondern einfach, weil es schön ist.“13 Dieses Beispiel macht deutlich, dass Aussagen bezüglich eines kunstbewanderten Siegfried Dispeker nicht haltbar wären. Zwar gesteht Weil ein, dass ihr Gesamtwerk autobiografisch geprägt ist, einige Werke wie Meine Schwester Antigone, Generationen und Der Brautpreis seien sogar stärker autobiografisch als andere. Ihr bereite es einfach Spass, Dinge aus Z.B. behauptet die Germanistin Eichmann-Leutenegger u.a., Weil habe bei Hitlers Machtantritt bereits Erfolge als Schriftstellerin vorweisen können (Weils erste Veröffentlichung war Weihnachtslegende 1943. In: Das gefesselte Theater. Het tooneel in boeien. Amsterdam 1945:5-25; in Deutschland hatte sie bis 1980 keinen Erfolg. Vgl. LWAL 239), und 1935 sei sie mit ihrem Mann nach Holland gegangen (Edgar Weil emigrierte zunächst alleine. Vgl. LWAL 132-136). Eichmann-Leutenegger, Beatrice: Leicht zerstörbar sind die Zärtlichen. In: Orientierung Nr. 20. Zürich, 31. Oktober 1999:213-215. Die in Germanistik promovierte Exner schreibt, dass DB 1986 (statt 1988) erschienen sei. Exner, Lisbeth: Grete Weil. In: Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1945. Bd. II. Kraft, Thomas (Hg.). München 2003:1309-1311. Die Literaturwissenschafterin Giese gibt z.B. ein falsches Todesdatum von Walter Jockisch an. Giese 1997:17, Anm. 5. 11 Eichmann-Leutenegger (1999:213-215) spricht von Edgar Weils ‚Umkommen’ und von ‚nach Holland reisen’. Auch bei Focke ‚fand’ Edgar Weil in Mauthausen ‚den Tod’. Focke, Wenda: Die zerbrechliche Welt der menschlichen Angelegenheiten. Konstanz 2005:287. Laut Giese (1997:196,205-206) haben die Kriegserlebnisse bei Weil zunächst eine Sprachlosigkeit ausgelöst (Tatsache ist aber, dass Weil ab 1943 schrieb und nach Kriegsende in Westdeutschland keinen interessierten Verleger fand. Vgl. LWAL 192-227,230,239). 12 Z.B. Lorenz 1997:278-285. Auch Exner 1998, die wegen ihres reichen Bildmaterials wertvoll ist, ist nur mit Vorbehalt zu gebrauchen, da sie m.E. nicht wissenschaftlich arbeitet. Weil soll ihr Briefe und unveröffentlichte Manuskripte gezeigt und ihr am 26.3.,7.4.,11.4.,1.7.,18.7. und 4.8 1997 Interviews gewährt haben. Sie gibt zwar im letzten Teil ihrer Monografie Quellen an, zitiert aber für Weils Lebensbeschreibung ohne (Seiten-) Angaben aus ihren Romanen. Sie sieht ihr Vorgehen dadurch gerechtfertigt, dass die 91-Jährige durch Fragen nach Daten und Details ermüdet gewesen sei und sie jeweils auf ihre autobiografischen Romane verwiesen habe. Es ist für die Leserin schwierig herauszufinden, welche Informationen Exner aus Interviews hat und wo und mit welchem Recht sie aus den autobiografischen Romanen zitiert. Wenn die hochbetagte Weil schon durch Exners Fragen schnell ermüdete, nicht mehr selber Schreibmaschine schreiben konnte und den dritten Teil von LWAL nicht mehr fertig stellte, ist es m.E. fraglich, ob sie wirklich noch die Kraft fand, Exners ‚Studie’ einer wirklich ‚kritischen Lektüre’ zu unterziehen. Vgl. Exner 1998:7-8,121 und Giese 1997:212. In LWAL 160,166 weist Weil nur auf zwei Gegebenheiten hin, die aus MSA tel quel in eine Lebensbeschreibung übernommen werden könnten: Die Beschreibung ihrer Arbeit beim Jüdischen Rat und das Gespräch mit Edgar Weils deutschem Geschäftsführer. 13 Giese 1997:218. Das Interview fand am 25. Jan. 1995 statt. 10 10 ihrem Leben auf Romanfiguren zu transportieren.14 Ihre Romane seien aber nicht Autobiografien: „Es sind immer Teile drin, die einfach eben nicht autobiographisch sind.“ Auf die Frage, warum sie, nachdem sie in ihren Werken viel über sich preisgegeben habe, eine Autobiografie schreibe, antwortet Weil: „Vielleicht habe ich das Gefühl, dass ich gewisse Dinge aus meinem Leben in meinen anderen Werken noch nicht klar genug gesagt habe.“15 Einerseits haben Rezipienten Aussagen ihrer Protagonistinnen wortwörtlich genommen und auf Weils Leben bezogen, anderseits scheinen sie aber die Grundaussagen ihres Werks nicht verstanden zu haben, so dass Weil es als notwendig erachtete, eine Autobiografie zu verfassen.16 Die Autobiografie in Abgrenzung zum autobiografischen Roman Da ich für die vorliegende Arbeit einerseits Weils (literarische) Autobiografie für ihre Lebensbeschreibung verwende, anderseits einen ihrer (autobiografisch geprägten) Romane bespreche, gehe ich gleich zu Beginn kurz auf den Unterschied zwischen beiden Gattungen ein und versuche Weils autobiografisches Konzept zu erklären. Der Autobiografie gegenüber steht die Dichtung, die Fiktion. Bei Ich-Romanen und IchErzählungen, wie sie bei Weil vorliegen, wird von ‚autobiografischen Formen’ gesprochen. Im Gegensatz zu autobiografisch geprägten Romanen und Erzählungen besteht bei Autobiografien jedoch eine völlige Identität zwischen Autorin und Ich-Erzählerin. Die Autobiografie erfordert eine einheitliche Perspektive und eine feststehende Erzählerin, während der Spielraum des Romans viel grösser ist: Die Autorin kann mit verschiedenen Erzählweisen wie Erzählerwechsel und unterschiedlicher Perspektivenwahl arbeiten. Während die Autorin eines Ich-Romans der Frage nach Wahrheit und Lüge enthoben ist, werden Verfälschungen von Sachverhalten in Autobiografien nicht als Fiktion bezeichnet, sondern gelten als Lüge.17 Dieser Wahrheitsanspruch hat Weil daran gehindert, Leb ich denn, wenn andere leben mit der Gattungsbezeichnung Autobiografie herauszugeben:18„Ich bin eine äussert unwillige und deshalb wohl auch schlechte Lügnerin. Was ich sage, soll stimmen. Doch inwieweit trügt die Erinnerung? Und so sollte man dem Lesenden wie sich selbst zugestehen, dass zu einer Autobiographie auch Vgl. Giese 1997:211. Giese 1998:212. 16 Obwohl die vielen Interviews die Hochbetagte ermüdeten, wollte sie Auskunft über ihr Leben geben und Zeugnis ablegen. Vgl. Exner 1998:7. Weil schreibt, dass die Autobiografie von Gräfin Dönhoff sie zu LWAL motiviert habe. Diese hat ihr Werk im hohen Alter auf Drängen ihres Verlegers hin geschrieben. Er war der Meinung, dass nur noch wenige Menschen wüssten, was damals geschehen sei, und diese wenigen könnten nicht schreiben. Seine Worte waren für Weil eine Herausforderung. Vgl. LWAL 1998:4. 17 Vgl. Giese 1997:45-65. Weiterführende Information zum autobiografischen Schreiben allgemein s. z.B. Breuer, Ulrich/Sandberg, Beatrice: Einleitung. In: dies. (Hg.): Autobiographisches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Bd. I: Grenzen der Identität und Fiktionalität. München 2006:9-16. 18 1995 hatte sie erklärt: „Da ich mich nicht dauernd wiederholen kann, habe ich mich bei der Form meines nächsten Werkes für die Gattung ‚Autobiographie’ entschieden. Sie wird auch offensichtlich diesen Gattungstitel tragen.“ (Giese 1997:212) 14 15 11 Dichtung gehört.“ (LWAL 8) Weils Erklärung wäre nicht nötig gewesen. Es ist eine anerkannte Tatsache, dass eine Autobiografie immer im Spannungsfeld von Selbstaussage und Fiktion bleibt und Erinnerung trügen kann. Sie zeigt ihren hohen Wahrheitsanspruch, den selbst ihre Protagonistinnen haben. In Der Brautpreis fürchtet Ich-Grete nach einem Schlaganfall um ihr Gedächtnis: „Wer wird schon einen Autor ernstnehmen, dessen Gehirn eine Zeitlang ausgeschaltet war? ... verschweigen ... kann ich nicht. Es ist ein Teil von mir, die Wahrheit sagen zu wollen, zu müssen.“ (DB 76)19 Diese Aussage zeigt Weils autobiografisches Konzept, dem Fiktionales untergeordnet ist. Weil will in Romanen und Erzählungen bei historischen Fakten, ihren Erinnerungen an Erfahrungen im Dritten Reich, also bei ihrem Zeugnisablegen vor den deutschen Lesern, die Wahrheit sagen. Fazit: Weil bemüht sich stets – sei dies nun in ihrer literarischen Autobiografie oder in ihren autobiografisch geprägten Romanen und Erzählungen – um die Wahrheit, wenn es ums Zeugnisablegen geht. Das hindert sie nicht, bei ihren Ich-Romanen und IchErzählungen fingierte Wirklichkeitsaussagen zum Leben ihres Alter Ego vorzulegen. Durch den Gattungstitel Roman oder Erzählung ordnet sie ihr Werk eindeutig fiktionalem Erzählen zu und schafft sich so den Spielraum, auch Dichterisches in den Text einfliessen zu lassen. Es unterliegt künstlerischen Strukturgesetzen und ästhetischen Gesichtspunkten, auch wenn Wirklichkeitsaussagen überwiegen mögen.20 Für Weils Lebensbeschreibung sind also ihre autobiografisch geprägten Romane und Erzählungen nicht geeignet. 2 Grete Weil: Biografie und Werk 2.1 Grete Weils Biografie 2.1.1 Vor 1933: Herkunftsfamilie, Prägungen, Freundschaften Weils Grossvater väterlicherseits war Tuchhändler in München gewesen. Schon dessen Vater hatte diesen Beruf in Fürth ausgeübt und war dort einer der ersten Juden gewesen, der einen Schutzbrief bekommen hatte und sich in dieser Stadt hatte niederlassen dürfen. Seine Vorfahren waren Rabbiner in Franken gewesen, wo der Ort Dispek liegt, von dem der Familienname hergeleitet wird (9). Der Vater, Siegfried Dispeker, dem Weil nach eigenen Aussagen äusserlich wie charakterlich ähnlich ist, hatte Jahrgang 1865.21 Während Weils Mutter und ihr Bruder poli- Vgl. auch die Aussage der Ich-Figur in G 142: „Und jetzt muss ich erkennen, dass der Tag der Machtergreifung aus meinem Gedächtnis verschwunden ist ... Hohes Gericht, ich habe geschrieben und schreibe weiter. Die Wahrheit? Ich hoffe es. Die Wahrheit, nichts als die Wahrheit? Ich muss den Eid verweigern.“ 20 Vgl. Schweikle, Irmgard: Autobiographischer Roman. In: Schweikle, Günther und Irmgard (Hg.): Metzler Literaturlexikon. Stuttgart1984:34. 21 Der Jahrgang lässt sich aus der Bemerkung schliessen, dass der Vater 1937 72-jährig starb. Vgl. LWAL 14. 19 12 tisch eher rechts standen, galten ihr Vater und sie als die beiden ‚Linken‘.22 Siegfried Dispeker hatte in München Recht studiert, beschäftigte sich fast ausschliesslich mit Zivilfällen und war lange zweiter Vorsitzender der Münchner Anwaltskammer (11,12,14,20,32).23 Seine Tochter Grete „liebte er mit der ganzen Zärtlichkeit seines Herzens“ (14-15). Er weckte in ihr die Liebe zur Literatur. So las er der Sechsjährigen zuerst Hermann und Dorothea vor, was sie langweilte, dann Maria Stuart, was sie so begeisterte, dass sie mit der Zeit alle Rollen des Stücks auswendig konnte. Als sie zwölf war, las die ganze Familie mit verteilten Rollen Faust. Er nahm seine Tochter auch oft in die Oper mit, war jedoch enttäuscht, dass sie Verdi und Mozart lieber mochte als sein von ihm bewunderter Wagner. Seine Leidenschaft für die Berge sprang jedoch bald auf sie über (15,17).24 Im Gymnasium hatte Siegfried Dispeker mangels jüdischer Mitschüler am christlichen Religionsunterricht teilgenommen. Er besuchte nie die Synagoge, war aber im Vorstand der jüdischen Gemeinde in München und fungierte dort als juristischer Berater (15,20). Ihm zuliebe blieb seine Tochter bis zu seinem Tod Mitglied der jüdischen Gemeinde: „Wenn ich, was ich recht oft tat, sagte, ich wolle aus der jüdischen Gemeinde austreten, weil mich nichts, aber auch gar nichts mit dieser Religion verbinde und ich es für verlogen halte, so zu tun, als ob da doch etwas wäre, schaute er mich traurig an und meinte, es wäre feige, aus seinem Jüdischsein davonlaufen zu wollen und man müsse aus vielerlei Gründen die Tradition aufrechterhalten.“ (21) Noch 1935 beschwerte er sich beim Bürgermeister von Egern, dass vor seinem Wochenendhaus in roten Riesenbuchstaben ‚Judenschwein, packe dich fort‘ stand. Für ihn war ‚packe dich fort‘ kein bayrischer Ausdruck, und er meinte, dass diese Aussage dem Ansehen des Ortes schade. Als er 1937 im Sterben lag, weigerte sich der Assistenzarzt, ihm als Jude mit einer Beruhigungsspritze zu helfen (14,50). Die Vorfahren von Weils Mutter waren Händler aus dem Ries gewesen; ihr Vater war zu Reichtum gekommen und war Privatier. Isabella (Bella) Goldschmidt, Jahrgang 1875, hatte nur ein bisschen Französisch, Klavierspielen, Nähen und Kochen gelernt und Obwohl sich Weil schon früh für Politik interessierte und lange nach ihrer Rückkehr nach Deutschland Mitglied der SPD wurde, hielt sie sich zeitlebens vom politischen Alltagsgeschäft fern. Sie, die sich schon in den zwanziger Jahren emanzipierte, ging auch nicht für Frauenfragen auf die Strasse. Schreiben war ihr Medium für gesellschaftspolitische Auseinandersetzung. Vgl. Meyer 1996:17. 23 Siegfried Dispeker führte z.B. den Prozess für Isolde Beidler (Isolde von Bülow) gegen Cosima von Bülow und Siegfried Wagner, den er verlor. Vgl. LWAL 1998:15-16. Er war gern Anwalt. Auf dem Totenbett soll er in Fieberfantasien gesagt haben: „Herr Richter, Sie können mir glauben, diese Frau ist unschuldig.“ (LWAL 12) 24 Dies ist eine typische Verhaltensweise assimilierter deutscher Juden. Kultur ist ein Definitionsmerkmal der Klasse. Bürgerliche Liberale drängten Juden im 19. Jh. zwecks Integration zur Erweiterung ihrer Bildung. Diese sprachen darauf an, weil es ihnen so möglich wurde, Unterschiede in ‚Religion‘ und ‚Nationalität‘ zu überwinden. Sie verinnerlichten ökonomische und kulturelle Normen und wurden Verehrer und Verfechter vieler deutscher Werte. Vgl. Kaplan 1997:8,20-22. 22 13 keinen Beruf ergriffen. Als sie neunzehn war, hielt der 29-jährige Siegfried Dispeker um ihre Hand an.25 Nach der Heirat zog das junge Paar zu den Eltern von Bella Goldschmidt. Später wohnte Bella Goldschmidts Mutter, die mit ihrem verwitweten Schwager verheiratet gewesen war, bei den Dispekers. Weil hasste sie und entwickelte eine gewisse Abscheu vor alten Frauen, was ihr Verhältnis zum eigenen Älterwerden nicht erleichterte.26 Schon Weils Grossmutter hielt nicht viel vom traditionellen Judentum und ging nur am Abend des Versöhnungstages in die Synagoge (10,13-14,26-27,36-38). Die kleine, blonde und blauäugige Bella Dispeker war schnell, gescheit, witzig und mutig. Trotz ihrer scharfen und recht taktlosen Zunge wurde sie von den meisten geliebt.27 Sie sei ein sehr real denkender Mensch gewesen, habe alles Mystische für Spinnerei gehalten und von sich selbst behauptet, kein ‚Unterbewusstsein’ zu haben (22,28). Die Nazis habe sie nie ganz begriffen: „ ... sie hielt sie für Menschen, mit denen sich reden liess“ (23). Das Verhältnis zwischen ihr und ihrer Tochter gestaltete sich schwierig. Bella Dispeker konnte ihre Tochter nicht akzeptieren, wie sie war: „Sie wollte mich anders als ich bin: gesellschaftlich erfolgreich, oberflächlich, schön, mondän“, denn „sie bewunderte Künstler und Adlige und hatte bei diesen Vorlieben Glück.“28 Erst die Verfolgungszeit brachte die beiden Frauen einander nahe. Als Bella Dispeker 1961 starb, konnte sie den Erfolg ihrer Tochter also nicht erleben (23-24).29 Bruder Fritz war zwölf Jahre älter als Weil. Nachdem er zwei Semester Jura in Berlin studiert hatte, brach der Erste Weltkrieg aus. Er meldete sich sofort als Kriegsfreiwilliger zur Infanterie an die Front (25,31).30 Weil beschreibt ihn als „begabt, intelligent, sehr musikaDas Geburtsjahr der Mutter lässt sich aus dieser Bemerkung und derjenigen, dass der Vater 1937 72-jährig starb, errechnen. Vgl. LWAL 14. Von Mädchen aus so genannt besseren Kreisen wurde erwartet, dass sie früh heirateten und nur ‚ein wenig Klugheit und ein wenig Schliff‘ in die Ehe mitbrachten. Vgl. Kaplan 1997:23. Bella Dispeker scheint nie gearbeitet zu haben. Ein Jahrzehnt vor und zu Beginn des Kaiserreichs begann sich die Rolle der jüdischen Frau zu ändern: Die Geschäftspartnerin des Mannes wurde Hausfrau und Konsumentin. Im dritten Jahrzehnt des Kaiserreichs konzentrierten sich die meisten bürgerlichen Frauen auf die Erziehung ihrer Kinder. Vgl. Kaplan 1997:72-73,170. Bella Dispeker hatte nur zwei Kinder. Damit entsprach sie der Norm unter Jüdinnen, den ‚Erfinderinnen des Zweikindersystems‘. Der Trend zu kleinen jüdischen Familien hatte 1880 begonnen. Die jüdische Tradition spielte eine Rolle in der Einstellung zur Geburtenkontrolle, denn diese war nie pauschal verboten gewesen. Jüdische Frauen hatten mehr Macht innerhalb der Familie als christliche und taten nun alles, um Strapazen und Gefahren ständiger Schwangerschaften und Geburten zu reduzieren. Vgl. Kaplan 1997:62-67 26 Die Grossmutter hiess Jette Goldschmidt. Vgl. Exner 1998:10. Zum Thema Alter in DB s. S. 63-64,72. 27 Je unbürgerlicher ihre Freunde gewesen seien, desto mehr sei sie von ihnen verehrt worden. Der letzte sei Klaus Mann gewesen. 28 Im offenen Haus der Dispekers verkehrten Künstler, Intellektuelle, Adlige und Sozialisten. Vgl. Meyer 1996:15-16 und Anm. 35. 29 Bella Dispekers Sterbejahr lässt sich aus der Bemerkung, dass sie 86 Jahre alt wurde, errechnen. Vgl. LWAL 1998:29. 30 Dieses Verhalten ist typisch für assimilierte deutsche Juden. Weiterführende Information s. z.B. Schoeps, Julius H.: Deutschland seit 1871. In: Ders./Kotowski, Elke-Vera/Wallenborn, Hiltrud (Hg.): Handbuch der Geschichte der Juden in Europa. Bd. I. Länder und Regionen. Darmstadt 2001:78-89 (hier: 81-83). 25 14 lisch“ (31). Sie ist der Überzeugung, dass er ebenso gut hätte schreiben können wie sie. Er habe jedoch seine Talente, vom Klavierspielen abgesehen, einem bürgerlichen Leben zuliebe unterdrückt. Er war sehr attraktiv und hatte Erfolg bei den Frauen. Zunächst war er wie ein zweiter Vater für Weil. Beide, Vater und Bruder, wetteiferten um ihre Gunst und prägten sie. Mit der Zeit wandelte sich die geschwisterliche Beziehung zu einer prägenden Liebesbeziehung (31-32):31„Wann wir anfingen, uns leidenschaftlich zu lieben, weiss ich nicht mehr. Auch nicht, ob es einen wirklichen Einschnitt gab, in dem wir uns beide klar darüber waren ... Er formte mich so sehr, dass ich mein ganzes Leben lang mehr eine Schwester als eine Geliebte oder gar eine Mutter blieb.“ Selbst an der Verlobungsfeierlichkeit mit seiner ersten Frau zog es Fritz vor, mit seiner Schwester spazieren zu gehen. Dass über sie getuschelt wurde, machte ihnen nichts aus: „Sollten sie uns nur für ein Liebespaar halten, in gewisser Weise waren wir es.“ (32-33) Erst die Emigration riss die Geschwister auseinander. Anlässlich seines neunzigsten Geburtstags schickte ihm Weil die letzten zwei Zeilen aus Musils Gedicht ‚Isis und Osiris‘ („Unter hundert Brüdern dieser eine und er ass ihr Herz und sie das seine“) mit der Bemerkung, dass diese Stelle gut ihre gemeinsamen Jugendjahre beschreibe.32 Er habe weniger von dem Teil ihres Herzens gegessen, dem die Metaphern entstammen und sie zu wenig von dem Teil seines Herzens, dem die Musikalität entspringe. Nachdem er 91-jährig gestorben war, hatte sie das Gefühl: „Jetzt war auch der nächste Mensch von mir gegangen. Geblieben ist unendliche Leere und die trostlose Gewissheit, die Letzte in meiner Familie, ja, die Letzte eines ganzen Zeitalters zu sein.“ (34-35)33 Weil wurde als Margarete Elisabeth Dispeker am 18. Juli 1906 im Ganghoferhaus in Egern am Tegernsee (Oberbayern) geboren. Sie war ein ‚Ersatzkind‘ für ihre Schwester Dorle, die ein Jahr zuvor gestorben war. Emil Ganghofer, dem das Haus gehörte, war Fotograf. Seine Schwägerin, Grete von Schönthan, die gemeinsam mit Mann und Schwager den Raub der Sabinerinnen geschrieben hatte, hatte es Weils Eltern ‚mit ihrem Humor und Vgl. auch die enge Geschwisterbeziehung von Erika und Klaus Mann, welche Weil seit ihrer Jugend kannte. Vgl. Giese 1997:37-38. Vgl. auch das Thema Geschwisterliebe in MSA und DB. 32 ‚Isis und Osiris’ (1923) in: Musil, Robert: Gesammelte Werke I. Prosa und Stücke. Kleine Prosa. Aphorismen. Autobiographisches. Frisé, Adolf (Hg.). Hamburg 1978:465. Die Geschwister Isis und Osiris hatten sich laut ägyptischem Mythos bereits im Mutterleib begattet. Isis, eine Sonnengöttin, hat die Rolle der Gattin, Mutter und Schwester, Osiris, ein Mondgott, diejenige des Gatten, Vaters und Bruders. Weiterführende Informationen zum literarischen Inzestmotiv bei Musil s. z.B. Saiko, Gina: „Ach, wäre fern, was ich liebe!“ Zum Motiv des Inzests in Thomas Manns ‚Der Erwählte’ und Robert Musils ‚Der Mann ohne Eigenschaften’. Norderstedt 2006. 33 1970 war Weils zweiter Mann Walter Jockisch gestorben. Vgl. Meyer 1996:28. 1985 starb ihr Bruder. Weil gibt an, fünf Jahre an DB gearbeitet zu haben. Vgl. Hildebrandt 1991:222. Die Entstehung von DB fällt also in die Zeit, als sie um ihren Bruder trauert. In DB lässt Weil Ich-Michal und Ich-Grete um ihre Brüder trauern (94,141). 31 15 ihrer Natürlichkeit’ so angetan, dass sie ihr Kind nach ihr benannten.34 Zur Geburt der Tochter schenkte Siegfried Dispeker seiner Frau ein Grundstück in Egern, worauf ihr Wochenend- und Ferienhaus gebaut wurde.35 Weil beschreibt sich als verwöhntes Kind mit vielen Puppen, an denen sie aber nicht sonderlich interessiert war. Sie habe sich auch nie ein Kind gewünscht. Ihre grosse Liebe zu Hunden aber, die sich in ihrem Werk zeigt, entwickelte sich schon früh in Egern (14-15,39-43).36 Nicht nur Egern gefiel Weil sehr gut,37 auch den Hauptwohnsitz der Dispekers, München, liebte sie: „ ... seine gute Mischung aus nördlicher Rauheit und südlichem Glanz, ich mag die Menschen, ihren oft ins Grobe entgleisenden Charme, ihren Dialekt“ (51-52,55). In dieser Stadt besuchte sie ein privates Erziehungsinstitut und später eine ‚Höhere Töchterschule‘, nachdem sie sich als Zwölfjährige gegen das Gymnasium entschieden hatte. Sie hörte nicht gut und war deshalb im Diktat schlecht. Nach Beendigung ihrer Schulzeit wollte sie auf eigenen Füssen stehen. Doch sie bewarb sich vergeblich bei Verlagen und Zeitungsredaktionen. Man verwies sie auf ihren gut verdienenden Vater. Erst im Exil, wo sie als Fotografin arbeitete, verdiente Weil zum ersten Mal selber Geld. So begann sie, zwanzigjährig, den Stoff für das Abitur nachzuarbeiten. Sie bestand nach dem zweiten Versuch, nachdem sie zunächst im Zeichnen und im deutschen Aufsatz durchgefallen war (53-54,83-84).38 Im November 1923 putschte Hitler. Die Dispekers hörten vom Vorfall, erschraken, aber nahmen ihn nicht besonders ernst, denn es hatte seit Ende des Ersten Weltkrieges viele politische Unruhen gegeben. Doch dann drangen Nazis in Siegfried Dispekers Kanzlei ein, um ihn als Geisel zu verhaften, weil er im Vorstand der Anwaltskammer mitarbeitete. Da er zu dieser Zeit am Gericht tätig war, konnte ihn sein Sohn warnen. Zusammen mit seiner Tochter floh er nach Untergrainau (65). Danach ging das Leben weiter, „als wäre nichts geschehen ... Auszuwandern lag ganz sicher nicht im Bereich des Möglichen. Wohin auch? Wovon hätten wir in einem anderen Land leben sollen? Und warum? Nur weil ein Verrückter geputscht hatte? Nein, wir nahEs stellt sich hier die Frage, inwiefern Weil nicht nur ihren Vornamen von der Familie der Vermieter hatte, sondern auch bei ihrer Berufswahl, Fotografin und Schriftstellerin, von ihnen beeinflusst wurde. Doris von Schönthan, Enkelin von Grete und Franz von Schönthan (Komödienautor), war bei den Dispekers eine Art Pflegetochter. Durch sie lernte Weil Klaus Mann besser kennen. Vgl. Giese 1997:213. 35 Das Haus repräsentiert den Lebensstil der Dispekers: Äusserlich ist es dem Baustil der Gegend angepasst und zeigt die Heimatverbundenheit der Familie. Innen demonstriert es den bürgerlich-gediegenen, aber doch liberal-fortschrittlichen Lebensstil: Es verfügt über ein Herrenzimmer, eine moderne Küche und Schlafzimmer mit Jugendstildekor. Es verkehrten in diesem Haus u.a. der Heldentenor Leo Slezak, die Prinzessin Pilar von Bayern und der Schriftsteller und spätere Antisemit Ludwig Thoma. Vgl. Exner 1998:9 und Abb. 3 S. 96. 36 Weil hatte später eine Stieftochter. Vgl. LWAL 118-123. Über ihre Hunde Shagi, Ruschko und Zuno vgl. Giese 1997:217-218. In DB spielen Hunde bei Ich-Michal und Ich-Grete eine Rolle (14,71-72,182-187). 37 Vgl. ihre ‚Liebeserklärung’ an Egern in LWAL 47-50. Vgl. S. 22. 38 Das Abitur fand 1929 statt. Für den Aufsatz wurde sie nach den Verdiensten Lessings um die Wiedererweckung des deutschen Bewusstseins gefragt. In Weils Augen trat Lessing für Toleranz und nicht für nationales Nischendenken ein. So verfehlte sie in den Augen der Beurteiler das Thema. Vgl. Meyer 1996:14. 34 16 men es nicht sehr ernst, und als es wirklich ernst wurde, hatten wir uns daran gewöhnt zu sagen: So schlimm wird es schon nicht werden.“ (67) Danach engagierte sich Weil in einer zionistischen Jugendgruppe, wandte sich aber bald wieder von den zionistischen Ideen ab.39 Weils Kinderfreundschaften endeten fast alle tragisch. Ihre erste Liebe war Helmut, Fritz’ Freund. Er fiel als einer der ersten 1914 auf deutscher Seite. Ihre zweite Liebe war ihr Vetter Georges aus Paris. Sein Bruder, der auf französischer Seite als Beobachter an der Front eingesetzt worden war und nach einem Unfall bei einem seiner Einsätze immer ‚seltsamer’ wurde, ermordete ihn während eines Fronturlaubs (44-46). Diese beiden Todesfälle prägten Weil schon in ihrer Kindheit nachhaltig: „Helmut und Georges, meine beiden Kinderlieben, tot, ermordet ... ich begriff damals noch nicht, dass die Menschen Mörder sind, und es kam mir nicht in den Sinn, dass auch meiner grossen erwachsenen Liebe Ähnliches widerfahren könnte. Doch war ein Schatten auf meine besonnte Kindheit gefallen ... der nie mehr wich, der mich daran hinderte, jemals ganz gelöst und heiter zu sein.“ (46) In der Pubertät prägte ein weiterer Tod ihr Leben. Als sie vierzehn war, verkuppelte Weil ihre Cousine Lili mit einem Musiker. Als deren Eltern Lili den Kontakt mit ihm verboten, nahm sie sich das Leben. Zuvor schon waren die Freundinnen „von dem Gedanken besessen, dass es schön wäre, zu sterben“. Bei Lilis Tod musste sich Weil also auch noch mit Schuldfragen herumschlagen (60-64).40 Ihren ersten Mann, den um zwei Jahre jüngeren Edgar Weil, kannte sie „seit er auf der Welt war“, denn er war ein Cousin zweiten Grades, der Enkel des Bruders ihrer Grossmutter mütterlicherseits. Weil beschreibt ihn als zärtlich wie ein verspielter junger Hund. Als sie sechzehn war, verliebten sie sich ineinander, „so sehr, dass wir nie mehr voneinander loskamen“. Er soll ein schöner Junge gewesen sein: „schmal, mit dunkler Haut, weissen Zähnen und tief schwarzem Haar, das bei manchen Bewegungen kupfern glänzte“ (56-59). Ihren späteren zweiten Mann, Walter Jockisch, lernte Weil als Siebzehnjährige durch Edgars Bruder Hans kennen. Der hübsche, grosse, blonde Junge, der auch Edgars Freund war, gefiel ihr sofort. Als sie in Frankfurt am Main das Abitur wiederholte, vertiefte sich die Freundschaft mit Walter, der dort Germanistik studierte (68-72). Ihre Eltern scheinen sehr liberal eingestellt gewesen zu sein. Schon als Siebzehnjährige unternahm sie gemeinsam mit ihren Cousins und Freunden längere Radtouren. 1925 fuhr sie mit Fritz und ihrem Vetter Hans per Bahn über Wien, Budapest, Bukarest an die Schwarzmeerküste bis nach Izmir. 1926 wurde sie nach London geschickt, um Englisch zu lernen. Nachdem Fritz sie abgeholt hatte, gingen die beiden ein paar Tage nach Belgien Vgl. Meyer 1996:18 und Exner 1998:17. Aus psychologischer Sicht stellt sich die Frage, inwiefern diese Todesfälle – und bei Lilis Selbstmord die damit verbundene Schuldfrage – später Weils Umgang mit der Ermordung ihres Ehemannes zusätzlich erschwerten und ihr ‚Überlebenden-Syndrom’ verstärkten. Zum ‚Überlebenden-Syndrom’ s. S. 26, Anm. 84. 39 40 17 und Holland, ein Land, das ihr schon damals nicht gefiel (18,33,128). Auch in sexuellen Angelegenheiten scheinen die Eltern ihrer Tochter freie Hand gelassen zu haben, denn Weil erklärt: „Wir waren ... die erste Generation, die sich sexuelle Freiheiten genommen hat.“ 41 Zunächst wollte Weil Jura studieren, um mit Fritz in Vaters Kanzlei zusammenzuarbeiten. Dann aber studierte sie ab 1929 wie ihr Cousin Germanistik „in der vagen Vorstellung, später einmal mit Edgar zusammen einen Verlag aufzumachen“ (87). Nachdem er doktoriert hatte, arbeitete Edgar in der pharmazeutischen Fabrik seines Vaters in Paris. Grete schrieb sich an der Sorbonne für Germanistik ein und lebte mit ihm in wilder Ehe zusammen. Um Auseinandersetzungen mit den Eltern zu vermeiden, beschlossen die beiden zu heiraten. Nach ihrer Vermählung im Juli 1932 wurde Edgar zweiter Dramaturg bei den Münchner Kammerspielen, während Grete in München weiterstudierte und in Frankfurt am Main über Bertuchs Journal des Luxus und der Moden zu promovieren beabsichtigte (87-89,97-100). Kurz nachdem im November 1932 die Nazis bei den Wahlen etwas an Stimmen verloren hatten, sah Weil im Volkstheater zufällig Hitler. Wegen eines absurden Satzes hatte er in der Pause auf sich aufmerksam gemacht. Sie beschreibt diese Begebenheit folgendermassen: „Ich ... blickte in Hitlers Augen. Keinen Meter von mir entfernt. Als ich ihn so aus der Nähe sah, schien er mir nichts als ein Schmierenschauspieler zu sein ..., so dass ich draussen Edgar berichtete, auf diesen Clown könne das deutsche Volk nicht hereinfallen, das sei vollkommen unmöglich.“ (102) Fazit: Die Dispekers können als assimiliert bezeichnet werden.42 Trotzdem gibt es in der Familie keine Konversionen und Mischehen,43 und es zeigt sich eine typisch jüdische ‚Heirats- und Familienpolitik‘: Die Grossmutter war vom verwitweten jüdischen Schwager geheiratet worden, ihre Tochter hat jung einen Juden geheiratet, und die jung Verheirateten sind zu den Grosseltern mütterlicherseits gezogen. Wie die meisten bürgerlichen jüdischen Frauen ihrer Zeit hat Bella Dispeker eine typische Mädchenerziehung genossen, arbeitet nicht und hat zwei Kinder. Auch Weil wird einen jüdischen Verwandten heiraten. Der Vater ist gegen einen Austritt aus der jüdischen Gemeinde. Doch von der ‚Heirats- und Familienpolitik‘, einer gewissen gefühlsmässigen und beruflichen Verbundenheit des Vaters zur jüdischen Gemeinde und einem sporadischen Besuch der Synagoge durch die Grossmutter abgesehen, verbindet Weils Herkunftsfamilie nichts mit dem traditionellen Judentum. Als typisch assimiliert gelten folgende Verhaltensweisen: Die Dispekers lesen deutsche Klassiker, insbesondere Goethe, der Vater schwärmt für Wagner, und Fritz meldet sich als Freiwilliger im Ersten Weltkrieg. Weil wird stark durch die Landschaft und die Menschen in Bayern geprägt. Mit dem Thema Tod, das ihr Werk kennzeichnet, wird sie schon als Kind konfrontiert. Zwischen Fritz und Grete Dispeker entwickelt sich eine innige Geschwister-Beziehung, ein Thema, das Weil in ihrem Werk aufgreift und mit dem sie bei Laudowicz/Pollmann 1981:172. Über ihre sonst unzärtliche Mutter schreibt Weil: „Als ich einmal nach einer schlecht ausgeführten Abtreibung sehr krank war ... nahm (sie) meinen Kopf in beide Hände und küsste mich.“ LWAL 29. Andeutungen über die Mutter kann entnommen werden, dass sich schon diese gewisse Freiheiten herausgenommen hat. Vgl. LWAL 29. 42 Assimilation bedeutet die vollständige Aufgabe einer religiösen und kulturellen Eigenart. Weiterführende Information s. z.B. Kaplan 1997:25-26. 43 Weiterführende Informationen zu Mischehen und Konversionen s. Kaplan 1997:19-20 und Richarz, Monika: Jüdisches Leben in Deutschland. Bd. 2. Selbstzeugnisse zur Sozialgeschichte im Kaiserreich. Stuttgart 1979:16-17. 41 18 gewissen Lesern Tabus bricht. Das ‚Wunschmädchen‘ wird durch ein liberales Elternhaus gefördert und entwickelt sich zu einer selbstbestimmten jungen Frau, die jedoch – wie ihre Eltern – den Ernst der politischen Lage nicht einzuschätzen vermag. 2.1.2 Zwischen 1933 und 1945 Nach Hitlers Vereidigung am 30. Januar 1933 blieb in Bayern scheinbar zunächst alles beim Alten. Obwohl die Kammerspiele als links galten, hätte ihr Direktor Otto Falckenberg nie gewagt, ein linkes Stück aufzuführen. Edgar und Grete Weil wollten deshalb einen Verein gründen, in dem solche Stücke im geschlossenen Kreis vorgelesen werden sollten. Doch der Schriftsteller Bruno Frank, den sie gerne dabei gehabt hätten, hatte sich bereits ins Ausland abgesetzt, so dass das Projekt nicht zustande kam. Anfang März 1933, kurz nach dem Reichstagsbrand, wurde Edgar Weil verhaftet, nachdem schon Falckenberg inhaftiert worden war. Edgar Weil war dabei beobachtet worden, wie er einen Brief aus Russland aus Falckenbergs Korrespondenz verschwinden liess. Nachdem es sich herausgestellt hatte, dass der Brief harmlos war, wurde Falckenberg freigelassen. Edgar Weil aber, der den Brief von Bruno Frank bei sich trug, wurde nicht so schnell laufen gelassen (103107). Grete Weil begann zu verstehen, was Faschismus bedeutet: „Ich begriff, dass, wenn man einen Menschen vierzehn Tage ohne Anklage, ohne Verhör grundlos festhielt, es auch vierzehn Wochen ... oder auch vierzehn Jahre sein konnten.“ (108) Nachdem sich Bella Dispeker bei der Frau von Hitlers Pressesprecher für Edgar Weil eingesetzt hatte, kam er frei, musste aber unterschreiben, dass er sich bedroht gefühlt und freiwillig in Schutzhaft begeben hatte. Grete und Edgar Weil wurde klar, dass sie Deutschland verlassen mussten. Sie sahen sich mit der Schwierigkeit konfrontiert, als Germanisten im Ausland eine Brotarbeit zu finden. Edgar Weil kündigte bei den Kammerspielen. Es folgte eine Zeit der Ratlosigkeit. Zunächst zogen die beiden nach Frankfurt am Main zu Edgar Weils Eltern. Der Schwiegervater begriff nicht, warum er seine florierende pharmazeutische Fabrik verkaufen sollte. Erst als man seine Arzneimittel aus der Liste der kassenzulässigen Medikamente streichen wollte, begann er sich zu fürchten. Edgar Weil überredete ihn, den Betrieb zu ‚arisieren‘. Gleichzeitig wurde an eine Verlegung in die Schweiz gedacht. Doch als versucht wurde, Rezepturen dorthin zu bringen, wurden die Weils denunziert. Es gab viel Streit in der Familie Weil, und das junge Paar sah sich nur noch selten. Im Sommer 1933 musste Grete Weil ihr Studium abbrechen. Ihr jüdischer Doktorvater Martin Sommerfeld war von einer Reise in die USA nicht mehr zurückgekehrt. Verzweifelt zog sie zu ihren Eltern nach Egern, die ihre Wohnung in München hatten aufge- 19 ben müssen, da sich nur noch wenige Arier von einem jüdischen Anwalt vertreten liessen (108-112). An Weihnachten 1933 versuchte sie ihrem Leben ein Ende zu setzen.44 Der Schwiegervater fand schliesslich einen Studienfreund, der bereit war, Geld in eine devisenbringende Zweigniederlassung in Holland zu stecken, um so Steuern zu sparen. Nur mit grösstem Unbehagen stimmte Weil zu, vor den Nazis in dieses Land, das ihr so missfallen hatte, zu fliehen. Sie absolvierte in München eine inoffizielle Anlehre als Fotografin beim Portraitfotografen Eduard Wasow, da 1936 keine Schule mehr Juden aufnahm, während ihr Mann zunächst alleine nach Amsterdam emigrierte (128-132). Fotografin schien für sie „einer der wenigen Berufe zu sein, mit dem man ohne grosse Kenntnisse, mit ein bisschen Geschick und offenen Augen sich ernähren kann “ (133). 1937 folgte Weil ihrem Mann ins Exil.45 Sie hatte Heimweh und weinte fast jeden Tag: „Die andere Sprache, die fremden Menschen, das flache Land. Sogar die Kühe haben eine andere Farbe als in Bayern.“ Die Zukunftsträume des jungen Paares waren ausgeträumt. Da Weil keine Arbeit fand, kaufte sie 1938 das Foto-Atelier der Emigrantin Edith Schlesinger in Amsterdam-Zuid und machte sich selbständig (136-138). Als im Sommer 1937 Siegfried Dispeker im Sterben lag, reiste Weil das letzte Mal nach Deutschland. Kurz danach wurde Bella Dispeker ohne Angabe von Gründen der Pass abgenommen. Während sie dies nicht schlimm fand und Auswandern als Schande betrachtete, bereitete die passlose Mutter ihren Kindern Sorge. Fritz Dispeker, der Ende 1938 nach London emigriert war, entwarf einen Plan, wie die Mutter wieder einen Pass erhalten und aus Deutschland herausgeholt werden konnte: Seine Schwester musste sich krank stellen und sich ein Attest mit der Diagnose einer tödlichen Krankheit beschaffen. Die Mutter dachte, es handle sich nur um einen Besuch in Holland. Weil musste ihr dann beibringen, dass es kein Zurück mehr gab. Erst als die Verhandlungen zum Verkauf ihrer pharmazeutischen Fabrik zu einem Spottpreis abgeschlossen waren, bekamen auch Edgar Weils Eltern ihre Pässe zurück und konnten 1939 ebenfalls nach Amsterdam emigrieren (139-143). Die Sommerferien 1939 verbrachten Edgar und Grete Weil in Crans im Kanton Wallis. Gerne wären beide in der Schweiz geblieben. Doch Edgars Eltern drängten zur Rückkehr nach Holland. Das Thema des verpassten ‚Nein-Sagens’ tritt später immer wieder in Weils Werk auf (144-146).46 In der Nacht vom 9. auf den 10. Mai 1940 wurde Holland von den Deutschen überfallen. Am 14. Mai versuchten Edgar und Grete Weil nach England zu fliehen. Doch das Boot, das sie dorthin hätte bringen sollen, erwies sich als Falle. Grete Weil begann in der Folge Zur Aufgabe des Studiums und den Selbstmordversuch s. Exner 1998:27-28. Gemäss Exner 1998:28 war sie seit dem 18. Dez. 1935 in Amsterdam angemeldet. 46 Vgl. das verpasste Nein-Sagen von Ich-Michal und Palthi gegen Isch-Boschets Aufforderung nach Machanaim zu ziehen (DB 96-97). 44 45 20 alles zu verbrennen, was sich als gefährlich erweisen konnte (148-153). Damals glaubte sie noch, dass es den Nazis nicht genügte, „dass jemand Jude ist, um ihn festzunehmen und umzubringen, es müssten auch noch andere, belastende Dinge hinzukommen“ (153). Im Oktober 1940 traten die Nürnberger Gesetze auch in Holland in Kraft, im Januar 1941 wurden alle Juden erfasst und erhielten in der Folge den J-Stempel in ihre neuen Personalausweise. Ende Februar 1941 wurden alle jüdischen Beamten entlassen. Als es im selben Monat zu Ausschreitungen im Judenviertel von Amsterdam kam, wurden die ersten 425 jungen jüdischen Männer festgenommen und ins KZ Buchenwald deportiert. In der Folge brach fast in ganz Holland ein Generalstreik aus. Für Grete Weil war dies „ein neues, ergreifendes, beruhigendes Erlebnis, dass ein ganzes Volk unserethalben sich mit einem mächtigen Feind anlegt“ (155-156). Am 11. Juni 1941 wurde eine Razzia in Amsterdam-Zuid durchgeführt, weil angeblich in einem von Deutschen besetzten Haus eine Explosion stattgefunden hatte. Edgar Weil hatte gerade auf der kubanischen Botschaft sein Visum abgeholt, um mit seiner Frau über Kuba in die USA einwandern zu können. Als er sich auf den Weg machte, um sich bei ‚arischen’ Holländern zu verstecken, wurde er verhaftet (156-157). Grete Weil schreibt über dieses traumatisierende Ereignis: „Man gebe mir eine Fackel, dass ich die Welt anzünden kann, die ganze Welt soll brennen ... Einmal habe ich geschrieben, dass ich eine Zeugin des Schmerzes bin. In diesem Augenblick ergreift er von mir Besitz und wird nicht mehr vergehen, mein Leben lang.“ (157-158) Vergeblich versuchte sie, den in Edgar Weils Firma von den Nazis eingesetzten, deutschen Geschäftsführer zu beschwören, sich bei der Gestapo für ihren Mann zu einzusetzen. Am 1. Juli 1941 erhielt sie die Nachricht, dass ihr Mann sich im KZ Mauthausen befinde. Es erreichten sie noch ‚zwei tieftraurige Briefe’. Edgar Weil schien sich nicht bewusst gewesen zu sein, dass auch sie bedroht war. Sie solle sich mit seinem Tod aussöhnen, hatte er, verdeckt für den Zensor, deutlich genug für sie, geschrieben. Von den im Februar festgenommenen Juden, die von Buchenwald nach Mauthausen verlegt worden waren, war Ende September keiner mehr am Leben. Anfang Oktober erhielt Grete Weil die Todesnachricht. Laut offiziellen Angaben war ihr Mann am 17. September gestorben. Weil dachte daran, sich das Leben zu nehmen. Sie sah jedoch davon ab, da sie zunächst nicht sicher war, ob die Todesmeldung eine sadistische Erfindung der Gestapo war. Später wollte sie ihrer Mutter nicht das antun, was sie selber gerade durchlitt. Was Mauthausen bedeutete, erfuhr sie durch Bekannte: Die Inhaftierten waren in einem Steinbruch zu Tode geschunden worden.47 Noch im selben Monat wurde sie Walter Jockisch in Amsterdam besucht. 47 Zu Edgar Weils Todesdatum s. Exner 1998:44. 21 Mitfühlend, aber hilflos stand er ihr zur Seite und versprach, nach dem Krieg mit ihr zusammen zu bleiben, falls beide überlebten (77,160-162,178). Im Juni 1942 wurde der Judenstern eingeführt, und die ersten ‚Säuberungen‘ begannen.48 Weil bezeichnet ihr Leben von damals als ‚vegetieren‘, ‚sich auflösen in Schmerz‘ (163). Sie begann für die Widerstandsorganisation Fotos für gefälschte Personalausweise anzufertigen.49 Im Juli bekam sie den Aufruf zum ‚Arbeitseinsatz unter polizeilicher Aufsicht‘ nach Deutschland. Aufgrund eines Schreibfehlers in ihrem Mädchennamen konnte sie nicht auf Anhieb gefunden werden. Als der zweite Aufruf kam, stand ihr Entschluss fest: Sie wollte um ihr Leben und dasjenige ihrer Mutter kämpfen. Sie sah keine Alternative und meldete sich beim Jüdischen Rat, der auf Geheiss der Besatzungsbehörde gebildet worden war (163-167).50 Rückblickend meint Weil: „Mir wäre wohler, ich wäre nicht dabei gewesen, wenn ich mir auch nichts vorzuwerfen habe, im Gegenteil, es ist mir gelungen, ein paar Erwachsene (durch Überreden, doch noch unterzutauchen) und viele Kinder (durch Überreden der Eltern, sie in christliche Familien zu geben) zu retten.“ (166)51 Weil und ihre Mutter bekamen ein rotes J in den Personalausweis, was bedeutete, dass sie zunächst vom ‚Arbeitseinsatz’ in Deutschland freigestellt waren. Zuerst musste Weil holländische Juden, die deportiert wurden, fotografieren. Danach kam sie in die Schouwburg, wo verhaftete Juden blieben, bis sie ins holländische Lager Westerbork verlegt und dann nach Auschwitz oder Sobibòr transportiert wurden. Sie hatte sich zum Nachtdienst gemeldet, da die Menschen meist nachts aus den Wohnungen geholt wurden. So hoffte sie, ihre Mutter retten zu können (166-168). Ihre Arbeit bestand im Tippen von Briefen für die Gefangenen. Sie schrieb „Bitten um Dinge, ... vermeintlich wichtige, da in Wahrheit überhaupt nichts wichtig ist, weil es sich ja um eine Reise in den Tod handelt, was manche ahnen, doch keiner weiss – oder ganz unwichtige wie Sofakissen, Tischdecken oder Kartenspiele. Nie bestellt sich einer ein Buch ... Es erstaunt mich zutiefst, dass alle das Gleiche schreiben ... immer ist da ausser der Bitte um vergessene Dinge noch der Auftrag, wen man verständigen soll, von wem man sich Hilfe erwartet. Von den 1941 in den Niederlanden lebenden mehr als 140’000 Juden wurden bis Kriegsende 102’000 ermordet. Dass mehr Juden als in anderen europäischen Ländern ermordet wurden, lag an der kooperationsbereiten holländischen Bürokratie. Am 22. Juni 1942 ordnete Eichmann den Transport von 100’000 Juden aus Holland, Belgien und Frankreich nach Auschwitz an. Die Mehrheit der Holländer reagierte nach dem Anlaufen der Deportationen nicht mehr mit Protesten. Neben Einzelpersonen versuchte nur noch die Widerstandsorganisation ‚Vrij Nederland‘ zu helfen. Weiterführende Information s. z.B. Hirschfeld, Gerhard: Niederlande. In: Benz Wolfgang (Hg.): Dimension des Völkermords. Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus. München 1991:137-165. 49 Vgl. Exner 1998:53 und der in Exner 1998:72 abgebildete Ausweis des holländischen Widerstands, der Weils illegale Tätigkeit seit 1942 bestätigt. 50 Der ‚Jüdische Rat’ setzte sich aus Juden zusammen, deren Aufgabe darin bestand, den Nazis zu helfen, die Deportationen in die Konzentrationslager zu organisieren. Die Mitglieder blieben zunächst vor der Deportation verschont. Zu Weils Erfahrungen mit dem ‚Jüdischen Rat’ s. LWAL 1998:166-170,173-174,183-185. Weiterführende Information zum umstrittenen ‚Jüdischen Rat’ s. z.B. Diner, Dan: Gedächtniszeiten. Über jüdische und andere Geschichten. München 2003:135-151. 51 Sie selber gewährte einem Mädchen Unterschlupf. Vgl. Exner 1998:53. 48 22 Keiner schreibt ein Wort der Liebe oder der Freundschaft, keiner ein Wort der Trauer. Ebenso irritiert es mich, dass niemand weint.“ (168) Bei ihrer Arbeit erfuhr Weil Ressentiments holländischer Juden deutschen Juden gegenüber. Manche glaubten, dass ihr Land ohne die deutsch-jüdischen Emigranten nie von den Nazis erobert worden wäre und dass nur sie, nicht aber die deutschen Juden deportiert würden. Angeblich waren in Westerbork, das ursprünglich vom jüdischen Komitee gegründet worden war, um die zu spät emigrierten, mittellosen deutschen Juden unterzubringen, die besten Posten von deutschen Juden besetzt (169-170). Weils Atelier wurde im selben Jahr geräumt. Die gesamte Einrichtung wurde als ‚Geschenk des holländischen Volkes‘ nach Deutschland abtransportiert. Zwischen dem 5. Juli 1942 und dem 29. September 1943 wurden Juden regelrecht gejagt. Weil erfuhr meist von älteren Holländern im Jüdischen Rat, die Kontakt zur ‚Hausratserfassungsstelle‘ hatten, wann eine Razzia angesagt war. So konnte sie ihre Mutter, Schwiegermutter und andere warnen. Als die Deutschen vom Leck erfuhren, wurden alle von der ‚Hausratserfassungsstelle‘ am 28. September inhaftiert. Am nächsten Tag wurden auch die in der Schouwburg Arbeitenden für die Deportation zurückgehalten. Zusammen mit zwei Arbeitskollegen entschied sich Weil zur Flucht durch den früheren Bühneneingang. Nachdem sie bei mehreren Leuten vergeblich geklingelt hatte und erfolgreich vor einem Polizisten geflohen war, begab sie sich zur ehemaligen Frau ihres schon deportierten Anwalts, die mit einem deutschen Offizier befreundet war. Die beiden halfen ihr, obwohl sie sie kaum kannten. Auch Bella Dispeker entging der Razzia. Obwohl sie von der bevorstehenden Deportation gewusst hatte, war sie schlafen gegangen. Als sie abgeholt werden sollte, ging sie ohne Stern zur Türe. Auf die Frage, ob im Hause Juden wohnten, entgegnete sie, dass sie dies nicht wisse, worauf die SS-Männer sich für die Ruhestörung entschuldigten. Danach tauchte auch sie unter (171,175-176,182-188,191-192). Weil versteckte sich bei einem Freund, dem Halbjuden Herbert Meyer-Ricard. Er verfügte über einen Halbjahrespass, der es ihm erlaubte, zur Sperrstunde das Haus zu verlassen. Auch er wusste nicht, wann er verhaftet würde. Er versteckte bereits seine deutsch-jüdische Freundin Vera bei sich. Weil blieb achtzehn Monate bei den beiden und übernachtete in einem ein Meter breiten Versteck hinter einer Bücherwand. Das Leben war unerträglich: Als starke Raucherin musste sie aufs Rauchen verzichten, und Vera war äusserst eifersüchtig. Herbert Meyer-Ricard und seine Freundin formten kleine Tiere aus Ton, die Weil anmalte und die danach an Warenhäuser verkauft wurden. Nur so konnten die drei überleben. Weil fälschte Lebensmittelkarten, damit Untergetauchte versorgt werden konnten, las und schrieb viel. An Weihnachten 1943 führte sie ihre Weihnachtslegende 1943 mit selbst 23 gemachten Papierpuppen in ihrem Versteck auf (189-194). 1944 schrieb sie Der Weg zur Grenze.52 Im Juni 1944 landeten die Alliierten in der Normandie. Die Untergetauchten warteten vergeblich auf das Ende des Krieges. Ab September 1944 waren die letzten Lager leer, alle Häftlinge waren deportiert worden. Weil, Meyer-Ricard und seine Freundin begannen zu hungern. Der Winter wurde sehr kalt. Das Heizmaterial ging aus, es gab keinen Strom und keine Kerzen mehr. Die drei waren auf illegale Blättchen und Gerüchte angewiesen. Da sie sich nun oft stritten, tauchte Weil für die letzten Kriegswochen bei ihrer Freundin Elisabeth, einer deutschen Jüdin, unter (228-233).53 Fazit: Heimatlosigkeit wird zu Grete Weils Thema, als es ihr nach Edgar Weils Inhaftierung klar wird, dass sie emigrieren muss. Das Thema des verpassten Nein-Sagens nimmt 1939 seinen Anfang, als Weil den Verbleib in der Schweiz ihrem Mann und ihren Schwiegereltern gegenüber nicht durchzusetzen fähig ist. Zwei Jahre später wird die Lage der Juden in Holland lebensbedrohlich. Nach der Ermordung ihres Mannes wird Weil ‚Zeugin des Schmerzes‘. Ihr Entscheid, durch ihr Weiterleben den Nazis Widerstand zu leisten, entwickelt sich später zu einer Überlebensschuld, ein Thema, das in ihrem Werk zentral sein wird. Bei ihrer Arbeit im Jüdischen Rat fühlt Weil sich auch in der ihr aufgezwungenen Schicksalsgemeinschaft fremd. Sie bekommt die Ressentiments holländischer Juden gegenüber deutschen Juden zu spüren. Ihre Arbeit beim Jüdischen Rat wird Weil später zum Vorwurf gemacht. 2.1.3 Nach dem Krieg 1945 Als die kanadischen Truppen nach der Kapitulation Deutschlands am 8. Mai 1945 in Amsterdam einzogen, hörte Weil, wie ein holländischer Jude sagte, dass er dafür sorgen würde, dass die deutschen Juden nun endlich aus ihrem Land verschwänden. Es wurde ihr klar, dass sie möglichst schnell nach Deutschland zurückkehren wollte: „Ich will schreiben, deutsch schreiben, in einer anderen Sprache ist es mir unmöglich, und dazu brauche ich eine Umgebung, in der die Menschen Deutsch sprechen. Ich will nach Hause, auch wenn ich weiss, dass alles, was ich früher geliebt habe, nicht mehr existiert. Ich will dorthin, wo ich hergekommen bin. Das Heimweh ist nicht kleiner, sondern grösser geworden in all den Jahren.“ (235-236) Als Staatenlose war es ihr jedoch lange nicht möglich, legal nach Deutschland zu reisen. Zuerst versuchte sie die pharmazeutische Firma ihres Mannes in Holland zu retten, arbeitete bei der Abfüllung und verhandelte mit Kunden und Lieferanten. Da sie als feindliche Ausländerin galt, hatte die Firma einen holländischen Verwalter, der über ihre Konten Zur Arbeit für die Widerstandsgruppe s. Exner 1998:56. Weihnachtslegende 1943 war Weils erste Publikation, die unter dem Pseudonym B. v. Osten 1945 in Amsterdam herauskam und in LWAL 195-227 nochmals auf Deutsch abgedruckt wurde. Der Weg zur Grenze blieb auf Weils Wunsch hin unveröffentlicht: Mit den Figuren Monika Mertons und ihrem Vetter Klaus erinnert sie an ihre Liebe zu Edgar. Weiterführende Informationen s. Werkverzeichnis Meyer 1996:339. 53 Das Haus von Weils Freundin befindet sich in unmittelbarer Nachbarschaft zu dem Haus, wo Anne Frank und ihre Eltern untergetaucht waren. 52 24 verfügte. In ihrer Freizeit schrieb sie Ans Ende der Welt. Vergeblich versuchte sie jedoch, durch einen literarischen Agenten einen Verleger dafür in Westdeutschland zu finden (238239).54 1945 reiste Weil nach Schweden und in die Schweiz. Als sie in der Schweiz gefragt wurde: „Wie lange war Holland eigentlich besetzt? Wenn Sie erzählen, klingt es, als seien es Jahrzehnte gewesen“, wurde ihr klar, dass sie nicht mit Menschen, die fast nichts mitgemacht hatten, zusammenleben konnte. Bitter war auch die Erfahrung, dass sie wegen des Vermerks ‚German born‘ in ihrem Staatenlosen-Pass nicht nach Norwegen reisen durfte (240-241). Als sie durch Zufall erfuhr, dass Walter Jockisch, der in den letzten Kriegsmonaten als Funker eingezogen worden war, noch lebte und als Regisseur an der Oper in Darmstadt und Frankfurt am Main arbeitete, entschloss sie sich im September 1946, illegal nach Deutschland zu reisen. Mit Zigaretten zahlte sie ihr Bahnbillet nach Frankfurt. Bei ihrem Wiedersehen beschlossen die beiden zusammen zu bleiben (236-238,241-244). Gemeinsam fuhren sie nach Bayern. Weil notiert über ihre Gefühle: „Ich befinde mich in einem Glücksrausch, weil alle Menschen Deutsch sprechen ... Wir fahren nach Egern. Ich schluchze kurz auf, als ich vor dem Gartentor stehe. Das Haus ... ist verwahrlost, aber unverändert ... Es ist Heimat wie eh und je.“ (244445) In einem Interview sagte sie: „In diesem Sinne hat Hitler mich nicht zu seiner Schülerin gemacht – dass ich ... das Gefühl bekommen hätte, ich würde nicht hierher gehören.“55 Weil unternahm nun alles, um legal nach Deutschland zurückkehren zu können. Doch noch im Frühjahr 1947 wurde ihr Ausreisegesuch von der amerikanischen Dienststelle in Den Haag abgelehnt. Um nochmals ein paar Tage in Deutschland verbringen zu können fälschte sie einen Brief eines Arztes, welcher besagte, dass eine vermeintliche Schwester in Darmstadt lebensgefährlich erkrankt sei. Sie liess sich in Holland ein Durchreisevisum in die Schweiz geben und in Bern ein Visum für Deutschland ausstellen, welches sie sich durch Vorgaben falscher Tatsachen und Fälschung gleich zwei Mal ‚verlängerte‘. In der Schweiz traf sie ihren Freund, den Rabbiner Robert Raphael Geis, und Margarete Susman. Beide zeigten Verständnis für ihren Wunsch, nach Deutschland zurückzukehren. Klaus Mann hingegen war entsetzt und versuchte sie durch lange Gespräche davon abzubringen (22,247-249). Nachdem Weil als Widerstandskämpferin anerkannt worden war und einen holländischen Pass bekommen hatte, konnte sie Ende 1947 nach Darmstadt ziehen, während ihre Mutter in Amsterdam blieb und später in Lugano wohnte. Der Bürgermeister von Egern begrüsste Weil gibt auch im Interview mit Giese 1997:217 an, Ans Ende der Welt direkt nach dem Krieg geschrieben zu haben. Zu diesem Werk, das erst 1949 in Ostdeutschland veröffentlicht wurde, s. S. 39-40. 55 Koelbl 1989:256. 54 25 Weil freudig mit einer die Ungeheuerlichkeiten verdrängenden und zugleich an Vergangenheit anknüpfenden Selbstverständlichkeit. Er stellte ihr die Personaldokumente aus, aufgrund derer ihr wieder die deutsche Staatsbürgerschaft zuerkannt wurde. In Holland meldete sie sich nie ab.56 Obwohl die Angehörigen ihres Mannes ihr Unterfangen verrückt fanden, versuchte Weil, die pharmazeutische Fabrik in Deutschland zurück zu bekommen. Rückblickend meint sie: „Auf den Fortbestand der Fabrik zu bauen, damit sie schnell in unseren Besitz zurückkam, war sicher das Gescheiteste, was ich in meinem Leben gemacht habe ... Meine Aufgabe war es, das für die Fabrik Erreichbare zu erkennen, oft gegen den Widerstand der Mitbesitzer, die richtigen Menschen an die richtigen Stellen zu bringen. Und diese Aufgabe habe ich gut erfüllt.“ Aufgrund dieses Unterfangens verfügte Weil Zeit ihres Lebens über genug Geld (84-86). Durch Walter Jockisch, der einen grossen Freundeskreis hatte, fühlte sie sich ‚nicht fremd im eigenen Land‘. Das Paar lebte in Darmstadt, Stuttgart, Berlin, Hannover und Frankfurt am Main. Das Musiktheater bestimmte den Alltag ihrer Beziehung. Weil hatte das Bedürfnis, ihren Partner in seiner Arbeit zu unterstützen. Durch ihn lernte sie die Komponisten Hans Werner Henze und Wolfgang Fortner kennen und verfasste für sie anfangs der fünfziger Jahre zwei Libretti. Sie begann für den Limes Verlag Übersetzungen zu schreiben, schrieb für das Programmblatt des Darmstädter Landestheaters und war freie Mitarbeiterin beim Rundfunk. 1960 heiratete sie Walter Jockisch. Gerne sah sie sich in der Rolle als Köchin, Chauffeuse und Gastgeberin. Die geringe Resonanz auf die Erzählung Ans Ende der Welt war für diese Gewichtung ausschlaggebend. Dennoch gab sie ihre eigenen literarischen Projekte nie auf. Schon in den fünfziger Jahren setzte sie sich intensiv mit der Figur Antigone auseinander. Durch ihre Arbeit beim Limes-Verlag lernte sie die Lektorin Marguerite Schlüter und den Verleger Max Niedermayer kennen, welche begeistert auf das Antigone-Manuskript und ihre in der DDR veröffentlichte Erzählung Ans Ende der Welt reagierten. Motiviert verfasste Weil Tramhalte Beethovenstraat (1963) und, nach einer Amerikareise, Happy, sagte der Onkel (1968). Der Limes-Verlag publizierte ihre frühe Erzählung und die beiden in den sechziger Jahren entstandenen Werke. Als trotz positiver Rezensionen das Echo der Leserschaft erneut ausblieb, liess sie ihren Kontakt zum Limes-Verlag einschlafen.57 Vgl. Exner 1998:73 und Giese 1997:220-221. Vgl. Meyer 1996:27-30 und Exner 1998:73-87. Das Libretto für die Oper Boulevard Solitude (1951) von Hans Werner Henze basiert auf Prévosts Roman Manon Lescaut. Weils Text zeigt eine dekadente Jugend. Das Libretto für die Oper Die Witwe von Ephesus (1952) von Wolfgang Fortner basiert auf der Novelle von Petronius Arbiter. Hier vergisst eine am Grabe klagende Witwe ihre Trauer in den Armen eines Soldaten. Beide Opern wurden von Jockisch inszeniert. Im Programmblatt des Darmstädter Landestheaters publizierte Weil in den fünfziger Jahren: Prosaskizzen, essayistische Texte, Textsammlungen zu Bühnenwerken, literaturhistorische 56 57 26 1969 erkrankte Walter Jockisch an Leukämie und starb 1970. 1974 zog Weil nach Grünwald bei München, in ihre alte Heimat, wo sie mit einem jüngeren Mann und einer sehr jungen Frau zusammenwohnte. Das Scheitern einer Wohngemeinschaft thematisiert sie in ihrem Roman Generationen (1983). Sie unternahm mehrere Reisen und fing wieder an zu fotografieren. Ihr zweiter Wohnsitz wurde Contra über dem Lago Maggiore. Kurz nach dem Tod ihres Mannes begann Weil an Meine Schwester Antigone (1980) zu arbeiten. Trotz positiver Rückmeldungen von Freunden fand sie dafür keinen interessierten deutschen Verlag. Da wurde ihr empfohlen, das Manuskript an den Benziger Verlag Zürich zu schicken. Die Lektorin Renate Nagel war begeistert. In den folgenden Jahren arbeitete sie erfolgreich mit ihr zusammen, auch als Nagel den Verlag Nagel & Kimche Zürich/Frauenfeld leitete.58 1988 erschien Weils Roman Der Brautpreis, 1992 ihr Erzählband Spätfolgen, 1998 ihre Autobiografie Leb ich denn, wenn andere leben. Die im hohen Alter sehr einsame Weil blieb eine leidenschaftliche Leserin: Thomas Mann, Robert Musil und Joseph Roth waren ihre Lieblingsautoren. Sie starb am 14. Mai 1999 in Grünwald bei München. Posthum wurde ihr Erzählband Erlebnis einer Reise (1999) veröffentlicht.59 Fazit: Schon kurz nach dem Krieg wird Weil klar, dass sie nach Deutschland zurückkehren will. Sie will ‚nach Hause’ und mit Walter Jockisch zusammenleben. Sie braucht eine Umgebung, wo Menschen Deutsch sprechen und will Deutsch schreiben. Die Schweiz stellt keine Alternative dar. Ihre Rückkehr wird Weil später zum Vorwurf gemacht. 2.1.4 Grete Weils Identität Vor dem Dritten Reich verstanden sich die Dispekers als säkulare Deutsche. Sie „feierten Weihnachten mit einer ... Riesentanne in Egern. Zu Ostern gab es in Garten und Haus versteckte Schokoladeneier. Fritz war nicht beschnitten“. Sie „gingen weder zur Kirche noch zur Synagoge, sprachen keine Gebete, redeten nicht über Gott ...“ (73) und christliche Feste wurden „natürlich ohne jede religiöse Bedeutung“ gefeiert.60 Diese Verhaltensweise war für assimilierte jüdische Familien typisch. Ein Bauer aus Bayern stand den Dispekers viel näher als ein Jude aus Polen, „schon weil wir nichts, aber auch gar nichts über den Juden aus Polen wussten“ (74). Mit ihrer bildungsbürgerlichen Erziehung verstand sich Weil als deutsche Intellektuelle. Doch dann wurde es lebensgefährlich, jüdisch zu sein, selbst für diejenigen, die sich nicht so definierten. Im Nachhinein fragt sich Weil: „Hat die kleine, die glückliche Grete irgendwann begriffen, dass sie ... durch ihre Geburt Betrachtungen und Reiseskizzen. Für den Limes Verlag übersetzte sie zahlreiche Werke aus dem Englischen und Holländischen. Weiterführende Informationen s. Werkverzeichnis Meyer 1996:337-344. 58 Vgl. Exner 1998:90-92,98. Weiterführende Informationen zu Renate Nagel, den Verlagen Benziger, Nagel & Kimche und Hanser s. z.B. http://specials.hanser.de/nk-25/geschichte.html, abgerufen am 2. Dez. 2009. 59 Vgl. Hildebrandt 1991:221. In ihrer Jugend liebte Weil v.a. André Gide und Thomas Mann. Von den Lyrikern schätzte sie Rilke, Goethe, Mörike, Platen. Später liebte sie Ingeborg Bachmann. Vgl. LWAL 81. Weils Nachlass befindet sich heute grösstenteils in der Münchner Stadtbibliothek Monacensia. 60 Laudowicz/Pollmann 1981:172. 27 in eine tödliche Falle gelaufen war? Es hat sehr lange Zeit gedauert, bis sie es begriff, und ich weiss noch nicht sicher, ob sie es heute ganz verstanden hat.“ (73) Im Exil hatte Weil Heimweh nach den Landschaften und Menschen, die ihre Jugend geprägt hatten (136,236). Wie stark sie sich Egern verbunden sah, zeigt folgende ‚Liebeserklärung’: „Ein Ort, in dem man jeden Weg ... kennt, jeden Baum, jede zarte Linie der Berge, jeden Geruch, jede Beleuchtung, jede bunt blühende Wiese ... Ein Ort, in dem man das Geräusch der Wellen kennt, die gegen das Ufer schlagen, ein See, den man oft von einem zum anderen Ufer durchschwommen hat ... Ein Ort, in dem man, tritt man in ein Geschäft ein, oft mit Namen und Handschlag begrüsst wird ... Ein Ort, in dem man im Winter, die Skier an den Füssen, die steilen Hänge hinaufsteigt, und in ein paar Schwüngen hinunterflitzt ... Ein Ort, in dem einen jeder kennt, wo man die Dispeker Gretel heisst, auch wenn man schon längst einen anderen Namen hat. Ein Ort, in dem man zu Hause ist ... auch dann noch, als über dem Ortsschild ein Transparent mit der Aufschrift hängt: ‚Juden betreten den Ort auf eigene Gefahr.‘“ (48-50) Nur die Sprache bildete im Exil ein Überbleibsel der Heimat: Weil las deutsche Bücher und schrieb Deutsch (z.B. 191).61 Nachdem die Juden unter dem Nazi-Regime ‚entmenschlicht’ worden waren, ging es den Überlebenden nach 1945 darum, so etwas wie Heimat und Würde wiederzugewinnen. Einige suchten ihre Identität und ihren Lebenssinn im Staat Israel und/oder in der jüdischen Tradition. Aufgrund ihrer säkularen Erziehung und ihrer Assimilation kam beides für Weil nicht in Frage. In ihrem Brief vom 1. August 1947 an Margarete Susman (250255) – nach der Lektüre von Susmans Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes (1946) – setzt Weil sich mit ihrer geplanten Rückkehr nach Deutschland und der Bedeutung ihres Jüdischseins auseinander. Sie fühlt sich heimatlos: „Ich habe die Heimat Deutschland verloren und keine andere dafür gefunden.“ Indem sie sich als ‚Weltbürgerin mit internationaler Gesinnung’ zu definieren versucht, konstruiert sie sich die Basis für ihre Rückkehr (252). Als Jüdin definiert sie sich als ‚Teil einer Gemeinschaft des Leidens, der Schmerzen’ (74). Wie andere überlebende, säkulare deutsch-jüdische Schriftsteller hat Weil die Vorstellung des innerjüdischen Zusammenhalts, der auf der gemeinsamen Leidenserfahrung beruht: „Mein Mann ist als Jude umgebracht worden, allein aus diesem Grund! Und ich bin als Jüdin verfolgt worden.“62 In ihrem Brief schreibt Weil, dass das ,jüdische Schicksal’ sie ‚mit seiner ganzen Wucht getroffen’ und ‚zerbrochen’ habe. Nachdem sie sich lange nur nach dem Tod gesehnt habe, könne sie nun wieder Ja zum Leben sagen, was sie sich aus ihrem Jüdischsein Vgl. auch Améry, Jean: Wieviel Heimat braucht der Mensch? In: ders.: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten (1966). Stuttgart, Neuausgabe 1977:74-101. Gemäss Keilson soll Weil nie richtig Holländisch gelernt haben. Rouleaux, Wil: „Meine Trauer ist tiefer als der Hass“ Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Hans Keilson zum 100. Geburtstag. In: NZZ, Samstag, 12. Dezember 2009, Nr. 289:59. 62 Koelbl 1989:256 61 28 heraus erkläre, ohne jedoch ‚das Volkshafte des Judentums’ für sich akzeptieren zu können (251-252). Ein Grund für ihre Rückkehr ist ihr Wille zur Versöhnung. Für sie gibt es keine Kollektivschuld: Sie unterscheidet klar zwischen Mitläufern, den „unzähligen, aus Trägheit des Herzens Schuldiggewordenen“, und den Nationalsozialisten (252). Sie will in deutscher Sprache über das Erlebte berichten und ihre Bücher in Deutschland publizieren. Hauptgrund für ihre Rückkehr ist jedoch ‚die Gemeinschaft mit einem Menschen’. Dass sie wegen Walter Jockisch schon so früh zurückgekehrt ist, bereut Weil nie (236,239,243-244,254-255). Im Nachhinein fragt sie sich jedoch: „ ... glaubte ich 1947 wirklich an die Bewältigung dessen, was nie und nimmer zu bewältigen ist? Es war ein Hoffnungsschimmer, der ... nicht wieder ausgelöscht werden konnte.“ (255) Weil trat nicht mehr in die neu gegründete jüdische Gemeinde ein. Sie erachtete es als ausreichend, dass sie sich vor aller Welt in ihren Büchern als Jüdin bekannte (21). Auf die eigene Frage: „Jude, was ist das?“, antwortet sie: „Ich habe es als Mädchen nicht gewusst und weiss es heute auch nicht genau ... Da gibt es einen Gott Jahwe, mit dem ich nichts anzufangen weiss. Da gibt es ein Land Israel, mit dem ich nichts zu tun habe. Trotzdem bin ich Jüdin. Alle sagen es. Ich sage es selbst, ... ohne zu zögern. Dabei rede ich doch sonst nicht daher, ohne zu wissen, wovon ich spreche ... Mache ich mir den Massstab der Nazis zu eigen: vier jüdische Grosseltern, acht jüdische Urgrosseltern? Wo gerate ich hin? Eine Rasse? Ein Volk? ... Man gerät in einen Sumpf, wenn man anfängt, darüber nachzudenken.“ (75) Zur Frage, was jüdische Identität ist, gibt es in der Tat verschiedene Definitionen oder: Verlegenheit.63 Sie wurde von Aufklärung, Antisemitismus und Zionismus bestimmt. Die Aufklärung hatte eine Säkularisierung, der Antisemitismus eine Bewahrung des Judentums bewirkt. Letzterer ist besonders als kollektive Erinnerung ein Grundmotiv jüdischer Identifikation. Hinsichtlich der Konstituierung jüdischer Identität ist der religiöse Charakter des Judentums wichtig.64 Heute hat sich das Verständnis jüdischer Identität pluralisiert, so dass nicht mehr von dem Judentum, sondern von Judentümern die Rede ist. Diese können aber nur dann angemessen beschrieben werden, wenn beständig nach neuen Beschreibungsschemata gesucht wird, die nebeneinander angewendet werden. So gibt es vielfältige Binnendifferenzierungen wie religiös/säkular, aschkenasisch/sephardisch, zionisisch/nichtzionistisch und regionale Differenzierungen, denn die jüdischen Identitäten von Juden in verschiedenen Staaten unterscheiden sich stark voneinander. Werden zusätzlich noch hisS. z.B. Meyer, Michael: Jüdische Identität in der Moderne. Frank-Strauss, Anne Ruth (Trad.) Frankfurt a.M. 1992; Goldberg, David Theo/Krausz, Michael (Hg.): Jewish Identity. Philadelphia 1993; Pfestroff, Christina: Der Name des Anderen. Das ‚jüdische’ Grundmotiv bei Jean-François Lyotard. Paderborn/München/Wien/Zürich 2004. Schoeps spricht von „Verlegenheit, die die offene Frage nach der ‚jüdischen Identität’ hinterlässt“ (6). ‚Judentum’ wird hier erklärt als „urspr. Bez. für die Religion der Juden, ist als Begriff nicht einheitl. definierbar“ (430). Schoeps, Julius H. (Hg.): Neues Lexikon des Judentums. München 2000. 64 Vgl. Meyer 1992:75,134-136. 63 29 torische Ausprägungen von Judentümern wie palästinisch/babylonisch oder religiös/assimiliert betrachtet, ergibt sich eine komplexe Matrix von Binnendifferenzierungen.65 Pfestroff ist der Ansicht: „Jeder Versuch ... einen gemeinsamen Nenner jüdischer Identität zu formulieren, steht ... in Gefahr, die Pluralität jüdischer Selbstdefinitionen zu missachten und einen eigenen normativen Begriff des Judentums zu propagieren.“66 Gemäss Horch/Shedletzky geht es bei der ‚jüdischen Substanz’ in den Werken deutschjüdischer Autoren um die „Auseinandersetzung mit jüdischer Tradition oder jüdischer Existenz ... innerhalb eines dominierend deutschen kulturellen Bewusstseins“.67 Weils Werk zeigt nichts anderes als ihre immer währende Beschäftigung mit der jüdischen Existenz, wobei ihr Blick vor allem die Jahre 1933 bis 1945 fokussiert.68 Bis zum Schluss ihres Lebens litt Weil unter Identitätsproblemen. Sie identifizierte sich zwar immer mit der deutschen Kultur69 und trat trotz negativer Erfahrungen für Assimilation ein – diese bringe meistens beiden beteiligten Völkern Gewinn – doch sie unterschied sich grundlegend von ihren vielen deutschen, christlichen Freunden: „ ... wir denken in den meisten Dingen sehr ähnlich, aber da gibt es eben einen Unterschied. Ich bin traumatisiert ...“70 Auf die Frage, ob sie Deutschland liebe, antwortete sie sehr energisch: „Nein!“, dann zögernd: „Vielleicht, irgendwie. Obwohl ich, weiss Gott, keinen Grund dazu habe. Zudem ist Liebe bestimmt nicht das richtige Wort. Trotzdem: es ist mein Land. Ob es mir gefällt oder nicht. Ich war lange Zeit, wie Hans Mayer sagt, ein Deutscher auf Widerruf. Der Widerruf ist widerrufen worden, ein gewisses Misstrauen bleibt.“71 Um sich wirklich als Jüdin fühlen zu können genügte es Weil nicht, sich der jüdischen Schicksalsgemeinschaft zugehörig zu fühlen: „Ich meine, dass zur jüdischen Identität doch in erster Linie Gottesglauben gehört – den ich nicht habe – und als zweites eine Liebe zu Israel und ein gewisses Eigentumsgefühl gegenüber diesem Land. Und das – das habe ich auch nicht.“72 Auch wenn Weil aufgrund ihrer Existenz jüdisch ist, ist es verständlich, dass ihr die von den Nazis aufgezwungene negative Definition ihrer Identität nicht behagte. Sie fühlte sich Zeit ihres Lebens weVgl. Pfestroff 2004:284-285 Pfestroff 2004:284 67 Horch/Shedletzky 1992:291. 68 Die von Weil beschriebene jüdische Zwangsgemeinschaft zeichnet sich vor allem durch Heterogenität aus. Bei ihr gibt es jüdische Männer, Frauen, Kinder verschiedenster Charaktere, Klassen und Schichtzugehörigkeit. Sie beschreibt auch Feindseligkeiten zwischen Juden verschiedener Nationalitäten. Die Jahrhunderte lange Verfolgung ist jedoch nicht ihr Thema. Vgl. z.B. LWAL 169-170. Vgl. auch Meyer 1996:200. 69 Koelbl 1989:256 70 Koelbl 1989:256. 71 Janssen-Jurreit, Marielouise: Vielleicht irgendwie ... In: Lieben Sie Deutschland? 1985:54. Zitiert nach Meyer 1996:161. Zu Mayer s. z.B. Mayer, Hans: Ein Deutscher auf Widerruf. 2 Bände, Frankfurt a.M. 1982/1984. 72 Koelbl 1989:256. Es stellt sich die Frage, ob Weil mit ihrer Vorstellung des Gottesglaubens nicht bis zu einem gewissen Grad christliches Gedankengut übernommen hat. Der Unterschied zwischen Christen und Juden besteht u.a. darin, dass ein Christ bekennen muss, dass er an Gott glaubt, während ein Jude larCy-Nb (Angehöriger Israels) ist, ohne seinen Glauben beteuern zu müssen. 65 66 30 der den Deutschen noch der jüdischen Gemeinschaft richtig zugehörig. Weder von den Deutschen noch von den Juden fühlte sie sich verstanden. Ähnlich wie Heinrich Heine habe sie unter ihrem Jüdisch- und Deutschsein gelitten (255). Fazit: Mit ihrer bildungsbürgerlichen, säkularen Erziehung versteht sich Weil als deutsche Intellektuelle. Durch das Dritte Reich wird sie heimatlos. Im Gegensatz zu anderen Überlebenden kann sie nach 1945 ihre Identität und ihren Lebenssinn nicht im Staat Israel und/oder in der jüdischen Tradition finden und kehrt – hauptsächlich wegen eines Mannes – nach Deutschland zurück. Es ist ihr ein Anliegen, mit den Mitläufern durch ihre Bücher in Kontakt zu treten. An eine deutsche Kollektivschuld glaubt sie nicht. Bis an ihr Lebensende leidet sie unter Identitätsproblemen. Zwar identifiziert sie sich mit der deutschen Kultur und empfindet Deutschland als ihr Land, doch lieben kann sie es nicht. Auch wenn sie sich aufgrund ihrer jüdischen Existenz als jüdisch hätte definieren können, ist es verständlich, dass ihr die negative, von den Nazis aufgezwungene Definition nicht behagt. Der Bruch in Weils Identität, bedingt durch ihre Erfahrungen im Dritten Reich, spiegelt sich in Weils Werk. Die von ihr beschriebenen Gefühle hinterlassen bei der Leserin den Eindruck von Widersprüchlichkeit. 2.1.5 Grete Weils Motivation zum (autobiografischen) Schreiben 1932 verfasste Grete Weil ihre erste Erzählung Erlebnis einer Reise, kann sie als Jüdin im Dritten Reich aber nicht publizieren. Nach dem Krieg will sie den Text nicht mehr veröffentlichen; anderes Schreiben ist nun vonnöten.73 Im Versteck versucht sich Weil mit ihrem Schreiben selbst zu behaupten:74„Die Nazis wollten mich umbringen, also hatte ich die Pflicht, dafür zu sorgen, dass sie es nicht konnten.“75 Es wird Grund und Antrieb für ihr Weiterleben: „Überleben hatte für mich nur einen Sinn, wenn ich schrieb...“76 Nach dem Krieg wird es ihr zum Bedürfnis, über die Verfolgungszeit zu berichten: „Weil so etwas nie mehr geschehen durfte.“ (78) Sie will Zeugnis ablegen und über die Befindlichkeit der Opfer berichten. Schreibend und publizierend will sie das Gespräch mit den aus ‚Trägheit des Herzens Schuldiggewordenen’ zu den Verbrechen im Dritten Reich suchen. Sie glaubt daran, dass sie nur ‚den richtigen Ton’ anschlagen muss, damit diejenigen, welche ‚das Ungeheuerliche’ nicht zerbrochen hat, verstehend hören können. Ihr ‚Da Vgl. Giese 1997:216-217. Die Erzählung wurde posthum veröffentlicht. Weil, Grete: Erlebnis einer Reise. Drei Begegnungen. Zürich 1999:6-74. Inhalt: Ein junges Paar trifft bei einer Bergtour einen sehr schönen Jungen, in den sich beide verlieben. Als er durch einen Stein verwundet wird, bleibt der Mann des Paares bei ihm. Im autobiografischen Text Und Ich? Zeugin des Schmerzes (SF 1992:101) äussert sich Weil über ihre Schreibmotivation und Themenwahl: „Hätte ich ohne Verfolgung geschrieben? ... Ja. Ich habe ... nie etwas anderes gewollt. Hätte ich anders geschrieben? Bestimmt. Ich wäre ja auch ein anderer Mensch geworden, wenn Edgar bei mir geblieben wäre.“ 74 Zu den Werken, die Weil im Versteck schreibt, s. S. 18 und Anm. 52. 75 Laudowicz/Pollmann 1981:178. Vgl. auch Young, James Edward: Beschreiben des Holocaust. Darstellung und Folgen der Interpretation. Schuenke, Christa (Trad.). Frankfurt a.M. 1992. Young zeigt auf, dass für viele verfolgte Juden ‚literarische Zeugenschaft’ zum einzigen Lebensgrund wurde. Sie schrieben aus der Angst heraus, dass nicht nur sie, sondern auch ihre schrecklichen Erfahrungen sonst für immer getilgt wären. 76 Weil, Grete: Nicht das ganze deutsche Volk. In: Süddeutsche Zeitung vom 22.11.1988:10. 73 31 Sein’ erachtet sie als eine Verpflichtung den Ermordeten gegenüber.77 Die Mitläufergeneration will jedoch Ende der vierziger, anfangs der fünfziger Jahre nicht zuhören. Für ihre Erzählung Ans Ende der Welt, die sie 1945 schreibt, interessiert sich in Westdeutschland kein Verlag.78 Als sie das Gespräch zwanzig Jahre später auf eine andere Weise in Tramhalte Beethovenstraat (1963) aufzunehmen versucht, verhallt auch dieses Reflexionsangebot ungehört.79 In den achtziger Jahren liegt die Schreibmotivation gemäss Weils Alter-Ego darin, wenigstens nachfolgende Generationen zu informieren (G 201).80 Sie will ‚aufrütteln’.81 Es gibt noch eine weitere Schreibmotivation: Weil leidet, wie sie es selber formuliert, an der Lebenskrankheit ‚Morbus Auschwitz’.82 Sie empfindet ‚alles’ um sich herum als ‚Spätfolge’, „weil die Hitler-Zeit so tiefe Spuren hinterlassen hat, dass keiner ... sich ihr entziehen kann.“83 Nach der Untersuchung ihres Werks und ihrer Aussagen in Interviews komme ich zum Schluss, dass Weil an einem ‚Überlebenden-Syndrom’ leidet und durch ihr autobiografisches Schreiben versucht, ihre traumatischen Erinnerungen immer wieder neu zu bearbeiten, anders zu ordnen und dadurch zu verändern.84 Sie versucht sich schreibend von den Das ‚geliebte und geheiligte’ Leben der Toten dürfe man nicht verwehen lassen, solange man selber dauert. S. Weils Brief an Margarete Susman 1947. LWAL 1998:252,254-255. 78 Inhalt: Im Zentrum dieser Erzählung stehen die Liebenden Annabeth und Ben. Die Weissagung für die holländische Jüdin Annabeth lautet, dass sie mit ihrem Geliebten ans Ende der Welt gehen werde. Diese Worte erfüllen sich ungeahnt in den Verbrennungsöfen der Nazis. Vgl. S. 29, Anm. 95, und S. 39-40. 79 Inhalt: Andreas, ein apolitischer, nicht-jüdischer, deutscher Berichterstatter wird Zeuge von Deportationen, die von der Schouwburg in der Beethovenstraat in Amsterdam aus geschehen. Zunächst glaubt er zu träumen, dann – angesichts der Ungeheuerlichkeit der Situation – er sei verrückt. Bei seinem jüdischen Nervenarzt wird er mit der Wahrheit konfrontiert. Er versucht dessen Sohn zu verstecken, was ihm nicht gelingt. Dieser wird im KZ Mauthausen umgebracht. Nach dem Krieg will Andreas als Schriftsteller Zeugnis ablegen. Doch er wird von der Erfahrung überwältigt, dass es keine Worte für das Geschehene gibt. Zudem prallt sein Bedürfnis vom Judenmord zu sprechen am neu konstituierten Literaturbetrieb der BRD ab, die Autoren hervorbringt, die jung sind und sich „einen Teufel um das Vergangene“ scheren (TB 158). In Mauthausen verliert er endgültig die Worte. Weiterführende Information zu diesem Roman s. Braese, Stephan: Jüdische Autoren in der westdeutschen Nachkriegsliteratur. Berlin/Wien 2001:105-167. 80 Zum Einwand Weils Aussagen tel quel zu übernehmen s. S. 4-6. Der Selbstmord von Primo Levi 1987 und die nachfolgende Lektüre von Die Untergegangenen und die Geretteten (deutsche Übersetzung 1990) wird einen Bruch in Weils Selbstverständnis als Zeugin auslösen. Nach der Publikation von DB, ab den neunziger Jahren, wird sie sich als ‚Zeugin des Schmerzes’ verstehen: „Wie aber hatte ich es zustande gebracht weiterzuleben mit allem Wissen in mir? Ich gedenke derer, die es nicht konnten, denke an Jean Améry, Primo Levi, Paul Celan und ... Bruno Bettelheim. Der Unterschied ist: Sie waren in Lagern – ich nicht. Während der anderthalb Monate ..., die Edgar in Mauthausen war ..., habe ich geglaubt, alle Schrecken, jede Qual, jeden durch Misshandlung zugefügten Schmerz und die ohnmächtige Verzweiflung ... miterlebt zu haben. Dieser Glaube ist mir ... seit einiger Zeit abhanden gekommen ... Primo Levi hat die Lager so minutiös beschrieben, dass das Unvorstellbare zum geformten Bild wurde. Über vierzig Jahre lang habe ich mir eingebildet, ein Zeuge zu sein, und das hat mich befähigt, so zu leben wie ich es getan habe. Ich bin kein Zeuge mehr. Ich habe nichts gewusst. Wenn ich Primo Levi lese, weiss ich, dass ich mir ein KZ nicht wirklich vorstellen kann. Meine Phantasie war nicht krank genug ... Ein paar Bücher habe ich geschrieben. Sie haben den Menschen erzählt von der Sinnlosigkeit, der Demütigung, vom schlechten Gewissen derer, die überlebt haben und immer und immer wieder vom niemals vergehenden Schmerz.“ SF 101-103. 81 Vgl. Hildebrandt 1991:221. 82 Begriff aus ihrer Rede Nicht das ganze deutsche Volk. In: Süddeutsche Zeitung vom 22.11.1988:10. 83 SF 101. 84 Begriff des Psychiaters Niederland (1980), Gutachter in Wiedergutmachungsprozessen, der die sehr lange vorherrschende Auffassung widerlegt, dass psychische Störungen von KZ-Häftlingen und Opfern, die in Verstecken überlebt haben, vorübergehend sind. Er schildert zerstörende Folgen der Verfolgung trotz Nachlassen der Stress-Situation. Langjährige Ächtung verknüpft mit der seelischen Belastung eines Leben in der 77 32 quälenden Erinnerungen zu dissoziieren.85 Gemäss neusten Forschungen bewirken ungelöste Traumata, „dass wir die betreffende Situation in einer Kreisbewegung immer wieder neu durchleben“.86 Weils Gedanken kreisen in ihrem Werk ständig um die Ermordung ihres ‚Geliebten’. Immer wieder geht es um die Hinterfragung ihrer eigenen Existenz als Überlebende.87 Es ist, als wollte Weil dieses Kreisen zur Ruhe bringen, indem sie das Unfassbare zu Papier bringt. Es ist, als wollte sie sich davon ‚wegschreiben’. In ihrer Autobiografie erwähnt Weil nur am Rande, dass sie versuchte, Menschenleben im Jüdischen Rat zu retten. Ihre Widerstandsaktivitäten spielt sie herunter, aus dem Schuldgefühl heraus, nicht genügend Widerstand geleistet zu haben.88 Durch die Jahrzehnte ist eine Veränderung bei der literarischen Bearbeitung von Weils Traumata, vor allem bei den Romanen, erkennbar. In Der Weg zur Grenze (1944, unveröffentlicht), Ans Ende der Welt (1949) und Tramhalte Beethovenstraat (1963) projiziert Weil Teile ihrer Erfahrungen auf Protagonisten, die fiktive Namen tragen, und schreibt in der dritten Person. In ihren Romanen der achtziger Jahre berichten Frauen in der Ich-Form von ihren Erfahrungen. Es kommen politisch-ideologische Aspekte dazu. Weil kann nun durch ihre Werke an der seit Ende der siebziger Jahre entstandenen Diskussion zur Vergangenheit Deutschlands teilnehmen. In Der Braupreis rücken die traumatischen Erfahrungen von IchIllegalität kommt seiner Meinung nach bis zu einem gewissen Grad der KZ-Belastung gleich, was die pathologischen Faktoren der fortwährenden Angst, chronischen Spannungen und des persönlichen Wert- und Geborgenheitsentzuges anbelangt. Paradox sei, dass Täter sich schuldlos fühlen, während Opfer von Schuldgefühlen gequält werden. Vgl. Weil in Hildebrandt 1991:221: „Die nächtlichen Bilder, die Schuldgefühle lassen sich nicht verdrängen.“ 85 Dissoziation ist eine erste natürliche Überlebensstrategie nach einem Trauma. In SF 98 wird eindrücklich das Symptom einer Dissoziation beschrieben: Nach Edgars Ermordung war Weil „alles so völlig gleichgültig ... Ein merkwürdiger Zustand des Schwebens, des Nicht-auf-der-Erde-Stehens“. Erregungszustände, Kontraktion, Dissoziation und das Gefühl der Hilflosigkeit bilden den Kern einer Traumareaktion, die u.a. durch den Verlust eines nahe stehenden Familienmitglieds ausgelöst werden können. Wenn ein Trauma nicht behandelt werden kann, dissoziiert ein Mensch als Überlebensstrategie immer wieder. Vgl. Levine 1998:63,134,139-141. In der Folge treten eine Reihe anderer Symptome auf. Selbst belanglose Dinge im Alltag können Erinnerungen auslösen, die Menschen in die traumatisierende Zeit zurückwerfen. Ein sog. Flash Back in die Nazi-Zeit wird bei Ich-Grete beschrieben (DB 221). Bei Ich-Michal werden weitere posttraumatische Zustände geschildert. Vgl. z.B. DB 82: „Lebendig eingemauert kam ich mir vor.“ Weil hat eine Vorliebe für die Figur Antigone, die lebendig eingemauert wurde. Gemäss Levine (1998:150) gehören „Gefühle der ... Isolation – des Todes bei lebendigem Leibe“ zu den Folgestörungen von Traumatisierungen, die sich erst nach längerer Zeit einstellen. Es ist davon auszugehen, dass Weil negative Erfahrungen mit der Psychologie gemacht hat, resp. ihr gegenüber Vorbehalte hat, vgl. z.B. G 102: „Ich bin es allein, von der es abhängt, ob ich mit meiner Geschichte leben kann.“ 86 Levine 1998:41. 87 S. v.a. MSA. 88 Vgl. LWAL 166. Vgl. Meyer 1996:22 und Exner 1998:72. Gemäss Levine (1998:41) entwickeln Menschen, denen es nicht gelingt, Traumata aufzulösen, das Gefühl, versagt zu haben. Schuld- und Schamgefühl ist in der gesamten Literatur Überlebender auszumachen, wobei ‚das Syndrom der Überlebensschuld’ nicht nur bei Überlebenden der Konzentrationslager vorkommt. Vgl. z.B. Frau M. und Frau R. in Niederland 1980:146-155,180-197. Überlebende können ihrem Schicksal keinen rational nachvollziehbaren Sinn geben. Der Mord an den europäischen Juden bleibt ein völlig ‚sinn- und zweckloses Ereignis’. Vgl. Diner, Dan: Negative Symbiose. Deutsche und Juden nach Auschwitz. In: Brumlik, Micha/Kiesel, Doron/Kugelmann, Cilly (Hg.): Jüdisches Leben in Deutschland seit 1945. Frankfurt a.M. 1986:251. Es ist ‚sinnlose Gewalt’. Vgl. Levi, Primo: Die Untergegangenen und die Geretteten. Kahn, Moshe (Trad.) München/Wien 1990:106. Ein solch ‚barbarischer Unsinn’ kann von Betroffenen nicht einfach ‚bewältigt’ oder ‚verarbeitet’ werden. 33 Grete etwas in den Hintergrund, es geht Weil nicht mehr nur um ein Zeugnisablegen. Vermehrt kommen nun Identitätsfragen und religiös-weltanschauliche Aspekte hinzu.89 Mit der Wahl ihres Schriftstellerinnen-Namens hält Weil ganz klar die Erinnerung an ihren ersten Mann lebendig, um dessen Tod alle ihre Werke kreisen.90 In ihren Altersromanen nennt sie ihn Waiki: Bruder/Schwester.91 Er steht meines Erachtens für ihre ermordeten jüdischen Schwestern und Brüder. Mit ihrem Schriftstellerinnen-Namen und durch ihr Schreiben nimmt Weil auf ihre Weise an der Erinnerungskultur des Judentums teil.92 Der plötzliche Erfolg von Meine Schwester Antigone (1980) hat Weil offensichtlich motiviert, innerhalb kurzer Zeit zwei weitere Romane zu schreiben: „Ich weiss noch um die tiefe Zufriedenheit, die mich überkam, als ich mich nach dem Erscheinen von ‚Meine Schwester Antigone’ zum ersten Mal in einem Hotel als Schriftstellerin eintrug. Ich bin keine Fotografin, keine Geschäftsführerin mehr, die ich jahrelang dem Namen und auch dem Pass nach für die pharmazeutische Fabrik war. Ich bin Schriftstellerin. Habe nie etwas anderes sein wollen. Gedachtes in Form bringen, das ist es. Das Glück, wenn es gelingt.“ (LWAL 79)93 Fazit: Für Weil ist Schreiben zur Zeit der Verfolgung Grund und Antrieb für ihr Weiterleben. Nach 1945 will sie Zeugnis über das im Dritten Reich Erfahrene ablegen, zunächst mit den Mitläufern in Kontakt treten, später nachfolgende Generationen informieren. Durch ihr Schreiben versucht sie aber auch, quälende Erinnerungen zu bearbeiten und hinterfragt ihre Existenz als Überlebende. Mit der Wahl ihres Schriftstellerinnen-Namens und ihrem Werk hält sie die Erinnerung an ihren ersten Mann lebendig, der stellvertretend für die ermordeten Juden steht, und nimmt so an der Erinnerungskultur des Judentums teil. Weil analysiert nicht den Faschismus oder das Dritte Reich als politisches System. Aber in MSA geht es ganz klar um Themen wie z.B. die RAF. Weiterführende Information s. Braese 2001:517-562. In DB sind viele Figuren genderbewusst und pazifistisch dargestellt. Weil äussert sich m.E. hier ansatzweise und indirekt durch ihre Figuren zur jüdischen Theodizee-, resp. Anthropodizeefrage nach Auschwitz. S. S. 70-71, 78-79. Für einen Überblick über die jüdische Theodizee-, resp. Anthropodizeefrage nach Auschwitz s. Lenzen,Verena: Jüdisches Leben und Sterben im Namen Gottes. Zürich, überarbeitete Neuausgabe 2002:131-150. 90 Mit ihrem Namen Jockisch hätte sie vom Ruf ihres zweiten Mannes profitieren können. 91 Waiki (Why’key) stammt aus dem Quechua, der Sprache, die in den Anden (Peru) gesprochen wird. Vgl. http://www.intiwasi.org/book.html abgerufen am 20.09.2009. Es ist davon auszugehen, dass Weil diesem Wort auf einer ihrer vielen Reisen begegnet ist. Vgl. S. 61, Anm. 238. 92 Israel ist das Volk des Gedenkens und der steten Erinnerung. Namen sind von sehr grosser Bedeutung. In Yad VaShem, der Erinnerungsstätte der Shoa in Jerusalem, werden die Namen aller Ermordeten aufgeführt. Indem man ihrer gedenkt, leben sie weiter. Erinnerung wird im Judentum durch die Feiertage immer wieder neu gestaltet. Sie findet auch im Jetzt statt. Die säkulare Weil praktiziert diese Art von Erinnerung jedoch nicht. Pessach, der Auszug aus Ägypten, dem Land der Sklaverei, findet bei ihr nicht statt: weder an Festtagen noch real. Sie ‚steigt’ nach 1945 nicht ins ‚verheissene Land Israel’ ‚auf’, sondern kehrt ins Land der Verfolger und Mörder, Deutschland/Ägypten zurück. Weiterführende Information zur jüdischen Erinnerungskultur s. z.B. Yerushalmi, Yosef Hayim: Zachor: Erinnere Dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis. Berlin 1982. Assmann, Jan: Religion und kulturelles Gedächtnis. München 2000. Zur Kritik am Staat Israel, der seine Identität auf dem Holocaust aufbaut und so erinnert s. z.B. Burg, Avraham: Hitler besiegen. Warum Israel sich endlich vom Holocaust lösen muss. Bischoff, Ulrike (Trad.). Frankfurt a.M./New York 2009. 93 Vgl. auch Weils Aussage in Giese 1997:216. 89 34 2.2 Grete Weils Werk 2.2.1 Überblick über das veröffentlichte Werk Weil hat vor allem Musiktheaterstücke, Erzählungen und Romane veröffentlicht:94 Ans Ende der Welt. Erzählung. Berlin (DDR): Verlag Volk und Welt 1949.95 Boulevard Solitude. Lyrisches Drama in sieben Bildern. Mainz: B. Schott’s Söhne 1951.96 Die Witwe von Ephesus. Pantomime nach einer antiken Novelle. Mainz: B. Schott’s Söhne o.J.97 Tramhalte Beethovenstraat. Roman, Wiesbaden: Limes Verlag 1963.98 Happy, sagte der Onkel. Drei Erzählungen. Wiesbaden: Limes Verlag 1968.99 Meine Schwester Antigone. Roman, Zürich/Köln: Benziger Verlag 1980.100 Generationen. Roman. Zürich/Köln: Benziger Verlag 1983.101 Der Brautpreis. Roman. Zürich/Frauenfeld: Verlag Nagel & Kimche 1988.102 Spätfolgen. Erzählungen. Zürich/Frauenfeld: Verlag Nagel & Kimche 1992. Leb ich denn, wenn andere leben. Zürich: Verlag Nagel & Kimche 1998. Erlebnis einer Reise. Drei Begegnungen. Zürich: Verlag Nagel & Kimche 1999. Wie Autorinnen anderer moderner Texte benützt Weil Alltagssprache und assoziative Darstellungsformen.103 Ab 1968 sind ihre Erzählungen in der Ich-Form geschrieben. Romane in der Ich-Form – aus der Perspektive einer alten Frau – publiziert sie ab 1980. Von ihren Musiktheaterstücken und ihrer literarischen Autobiografie abgesehen können alle ihre Werke als ‚indirekte Autobiografien’ bezeichnet werden.104 Für ihre Themen und Figuren schöpft sie aus dem eigenen Erfahrungsschatz. Die Trennung zwischen dem erzählenden Ich und dem Ich der Autorin ist verwischt.105 Fiktionale Elemente werden durch verschiedene Ebenen der Texte und die Einführung anderer Figuren realisiert.106 Doch Zu Weils Werkverzeichnis bis 1996 (inkl. ihre unveröffentlichten Werke, ihre Artikel und Übersetzungen) s. Meyer 1996:337-344. Vgl. auch Weils Nachlass in der Münchner Stadtbibliothek Monacensia. 95 Neuausgaben: Wiesbaden: Limes Verlag 1962; Frankfurt a.M: Fischer Taschenbuch 1987; Übersetzung ins Holländische: 1963. Weil gibt an, dieses Werk direkt nach dem Krieg geschrieben zu haben (Giese 1997:217). Wenda (2005:285) meint – ohne eine Quelle anzugeben – dass sie es 1943 geschrieben habe. 96 Weils Text zur Oper von Hans Werner Henze. Szenarium Walter Jockisch. Uraufführung: Landestheater Hannover 17.2.1952. 97 Partitur mit Weils Text. Musik von Wolfgang Fortner. 98 Neuausgabe: Zürich/Frauenfeld: Nagel & Kimche 1992. Erste Übersetzung ins Holländische: 1964. 99 Die Erzählung Das Haus in der Wüste (in SF 36-69) ist eine Neufassung von Happy, sagte der Onkel. 100 Übersetzungen: 1981 ins Italienische, 1982 ins Holländische, 1984 ins Amerikanische, 1994 ins Spanische. 101 Übersetzung ins Holländische 1984. 102 Übersetzungen: 1989 ins Holländische, 1991 ins Italienische, 1992 ins Amerikanische. 103 Vgl. Giese 1997:162. 104 Vgl. Giese 1997:22-23. Eine ‚indirekte Autobiografie’ ist gemäss Giese (Anm. 21), ein Autorenwerk, das nicht als Autobiografie bezeichnet wird, bei dem aber die Rezipienten aufgrund verschiedener Hinweise schliessen können, dass es autobiografisch geprägt ist. Bei Weil gibt es eine Vielzahl von Gemeinsamkeiten zwischen ihrer biografischen Situation und den geschilderten ‚pseudo-fiktionalen’ Lebensumständen ihrer Figuren im Hinblick auf die traumatischen Erfahrungen im Dritten Reich. Vgl. S. 60-81. 105 Vgl. Giese 1997:149. 106 In MSA sind es die Theben-Szenen mit Antigone, in DB Ich-Michals Erinnerungen aus der Zeit Salomos. 94 35 selbst zwischen ‚fiktionalen’ Lebensumständen der Figuren und der biografischen Situation Weils lassen sich Gemeinsamkeiten aufzeigen, und auch Neben-Figuren können Abspaltungen von Weils Persönlichkeit darstellen, respektive mit biografischen Elementen versehen sein.107 Zentraler Bereich in Weils gesamtem zu ihren Lebzeiten publiziertem Werk – abgesehen von ihren Übersetzungen und ihren Musiktheaterstücken – sind ihre Erfahrungen im Dritten Reich. Die Gemeinschaft, die Weil beschreibt, ist die durch die NSRassengesetze definierte ‚jüdische Zwangsgemeinschaft Europas 1933 bis 1945’.108 Fazit: In Weils Werk enthalten nicht nur in der Ich-Form geschriebene, sondern auch fiktionale Passagen autobiografische Mitteilungen. 2.2.2 Überblick über Grete Weils Altersromane In Weils Altersromanen gibt es folgende Ausgangspunkte, um auf ihren zentralen Bereich zu sprechen zu kommen: die behütete Kinder- und Jugendzeit, Erfahrungen nach ihrer Rückkehr nach Deutschland, Alter, Krankheit und bevorstehender Tod, wobei das erneute Ausgeliefertsein im Alter die Erinnerungen an die Verfolgungszeit verstärkt. Bei der IchFigur handelt es sich stets um dieselbe Person, die auf sich selber in vorhergehenden Romanen Bezug nimmt. Im Vordergrund stehen neben dem zentralen Bereich Themen wie Aussenseitertum, Heimat, jüdische, weibliche und männliche Identität, Homosexualität, Geschwisterliebe, Liebe allgemein, körperlicher Zerfall, Alter, Tod, Selbstmord und Einsamkeit. Weil probiert verschiedene Identitäten aus und spiegelt sich dazu an mythologischen Figuren. Sie halten aber der Realität des zwanzigsten Jahrhunderts nicht stand und werden verworfen. Alle drei Romane zeichnen sich durch mehrere Erzählebenen aus und sind durch eine assoziative Schreibweise und Perspektivenwechsel geprägt. In Meine Schwester Antigone (1980) wird die alte Ich-Erzählerin von Erinnerungen an die Nazizeit gepeinigt: Als Jüdin empfindet sie sich als Opfer, als Überlebende als Mitschuldige. Sie stellt sich die quälende Frage, warum sie keinen Widerstand geleistet hat. Die Vergangenheit lähmt sie, macht sie kommunikations- und handlungsunfähig und isoliert sie von der jüngeren Generation. Für ihre eigene Positionsbestimmung setzt sie sich mit der Antigone-Figur auseinander, die als Gegenentwurf zum eigenen Leben fungiert.109 Vgl. Giese 1997:203. Bsp.: Tramhalte Beethovenstraat spielt auf den Ort an, von wo aus der Protagonist Andreas (wie Weil) die Abtransporte von Juden in die KZ beobachtet. Andreas scheitert (wie sie) am deutschen Literaturbetrieb der Nachkriegsjahre, Sabine Lisser ist (wie sie) Fotografin, Daniel Rosenbusch wird (wie Edgar Weil) in Mauthausen umgebracht. 108 Begriff von Hilberg, Raul: Täter, Opfer, Zuschauer. Die Vernichtung der Juden 1933-1945. Frankfurt a.M. 1992:189. Wie Weil ohne die Rassengesetze und die Verfolgung geschrieben hätte, zeigt ihre Erzählung Erlebnis einer Reise (1932, posthum 1999), die mitnichten von ‚Jüdischem’ handelt. 109 Antigone aus der Tragödie des Dichters Sophokles beerdigt ihren Bruder Polyneikes gegen das Verbot ihres Onkels, des Königs Kreon. Sie stellt ihr Gewissen über sein Gesetz, weil sie glaubt, den Göttern mehr 107 36 Als ideale mythische Gestalt ist sie Sinnbild derjenigen, die Widerstand leisten und lieben. An ihrem Mut zum Neinsagen misst die Erzählerin ihr Handeln. Weils Antigone kehrt das Credo der klassischen Antigone („Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da“) um und tut das, was die Ich-Erzählerin als eigenes Versäumnis empfindet: Sie erschiesst den deutschen Hauptsturmführer.110 Die Identifikation gelingt nicht, und die Figur wird dekonstruiert. Generationen (1983) handelt in der Zeit, als Meine Schwester Antigone entsteht: Die alte Ich-Erzählerin lebt mit zwei jüngeren Frauen zusammen. Aus einem Dasein in Einsamkeit ist ein kompliziertes Leben zu Dritt geworden. Die Generationen verstehen einander nicht. Das Scheitern des Zusammenlebens bedeutet für die Ich-Erzählerin einen grossen Verlust. Trotzdem legt sie weiterhin schreibend Zeugnis über ihre Erlebnisse im Dritten Reich ab. Im Epilog tritt sie in direkten Kontakt mit der Antigone-Figur, die hier eine alte, dem Tod entronnene und in ihre Heimat zurückgekehrte Frau ist. In Der Brautpreis (1988) beschäftigt sich die alte Ich-Erzählerin mit ihrer jüdischen Identität. Dazu setzt sie sich mittels ihrer Projektionsfigur Ich-Michal mit der biblischen Tradition auseinander.111 Fazit: In Weils Altersromanen nimmt immer dieselbe Ich-Figur ihre Jugendzeit, Erfahrungen als Reimmigrantin und mit ihrem Alter verbundene Themen zum Ausgangspunkt, um auf den zentralen Bereich, die Erfahrungen von Verfolgung, zu sprechen zu kommen. 2.2.3 Einordnung von Grete Weils Werk Einordnung in die Geschichte der deutschen autobiografischen Literatur ‚Konventionelle’ deutsche Autobiografien richten sich nach Goethes Dichtung und Wahrheit, ein Werk, dem das Modell einer geglückten Biografie zu Grunde liegt: die Persönlichkeit gelangt zu ihrer humanen Bestimmung und lebt mit der Epoche und der Welt in Einklang. Schon Ende des 19. Jahrhunderts wurde nach neuen autobiografischen Möglichkeiten gesucht. Die mit Gefühlen beladene ‚Herzensschrift’ war nicht mehr das adäquate Mittel der Selbstdarstellung.112 Die ‚Sprachkrise’ setzte ein: Viele Autoren empfanden die Sprache als ‚verbraucht’ und suchten nach veränderten autobiografischen Ausdrucksmöglichkeiten. Einen Aufschwung erfuhr nun das Tagebuch. In der Neuromantik, die erst im Nationalsogehorchen zu müssen als den Menschen. Sie wird deshalb lebendig in ein Felsengrab eingemauert. Dem Hungertod entgeht sie durch Selbstmord. 110 Diese Stelle markiert das Scheitern der humanistischen Denktradition angesichts der Vernichtung der Juden. Weiterführende Information zu diesem Roman s. z.B. Weigel, Sigrid: Die Stimme der Medusa. Schreibweisen in der Gegenwartsliteratur von Frauen. Hamburg 1987:298-303. Erdle, Birgit: Grete Weil: Meine Schwester Antigone, Rez. In: Jens, Walter (Hg.): Kindlers Neues Literatur Lexikon, Bd. 12. München 1992:480-481. Meyer 1996:233-264. Giese 1997:133-137. Braese 2001:517-562. 111 In MSA 111 bezeichnete die Ich-Erzählerin die Beziehung zum Judentum noch als ‚lau und lasch’. 112 Vgl. Giese 1997:26-27. Vgl. Schneider, Manfred: Die erkaltete Herzensschrift. Der autobiographische Text im 20. Jahrhundert. München/Wien 1986:29. 37 zialismus endete, setzten Schriftsteller ihre Befindlichkeit in fiktiven Erzählstoff um und schrieben ‚innere Autobiografien’.113 Die traumatischen Erschütterungen des Individuums im zwanzigsten Jahrhundert zeitigten Folgen in der Literatur: Die Autoren der ‚Neuen Sachlichkeit’ der zwanziger und dreissiger Jahre reagierten auf das geistige und politische Chaos: Sie verbannten Poetisches und bevorzugten tatsachenorientierte Literatur.114 Es bildete sich der Typus der ‚offenen Biografie’: Sie belässt das Fragmentarische der Erinnerung und glättet keine Brüche. Die Rekonstruktion des Erlebten wird als Suchbewegung und als Experiment mit ungewissem Ausgang begriffen.115 Durch das Dritte Reich kam es zu einem radikalen Bruch in der deutschen Literaturgeschichte.116 Nach 1945 kehrten nur wenige der emigrierten Schriftsteller nach Deutschland zurück. Vor allem Vertreter der ‚inneren Emigration’,117 unpolitische Autorinnen und Debütanten standen vor dem ‚Nullpunkt’. 1947 gründete Hans Werner Richter die ‚Gruppe 47’, welche das Bild der bundesdeutschen Literatur bis in die sechziger Jahre hinein bestimmte.118 Sie hatte ein nüchternes Weltverständnis und verlangte zugunsten einer realistisch-veristischen Problemstellung die Zurückdrängung aller Ichhaftigkeit und ‚gefühlvoller Abseitigkeiten’.119 Dies hatte zur Folge, dass sich viele Autoren hinter einem fiktiven Protagonisten verbargen und ihre autobiografischen Werke als Erzählungen oder Romane ausgaben.120 Die Autobiografie wurde literarisiert. Auch Weil verbirgt sich in Tramhalte Beethovenstraat (1963) hinter ihrem fiktiven Protagonisten Andreas. Zum Tagebuch s. z.B. Franz Kafka, Thomas Mann, Arthur Schnitzler. Zur sog. ‚inneren Autobiografie’ s. z.B. Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1911), wo gemäss Paulsen die Sprache in Form eines Romans das Innere des Ichs einfängt. Paulsen, Wolfgang: Das Ich im Spiegel der Sprache. Autobiographisches Schreiben in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. Tübingen 1991:12-16. 114 Vgl. Paulsen 1991:53-55. Die wenige autobiografische Literatur von Autoren der ‚Neuen Sachlichkeit’ war nüchtern. Vgl. z.B. Erich Maria Remarques autobiografischen Roman Im Westen nichts Neues (1929). 115 Bsp. einer ‚offenen Autobiografie’: Walter Benjamin Berliner Kindheit um Neunzehnhundert (1932). 116 1933 wurden Bücher vieler deutschsprachiger Autoren von Rang und Namen verbrannt. Während des Dritten Reiches blühte die ‚Blut-und-Boden-Dichtung’. Weiterführende Information s. z.B. Serke, Jürgen: Die verbrannten Dichter. Frankfurt a.M. 1980. 117 Diesen Begriff nahm am 18. August 1945 Frank Thiess in der Münchner Zeitung ‚medienwirksam’ für sich in Anspruch: Er habe es vorgezogen, in Deutschland zu bleiben, statt ‚aus den Logen’ im Ausland zuzuschauen. Obwohl viele Literaten sich mit diesem Begriff zierten, verdiente ihn eigentlich nur Hermann Kasack. Er veröffentlichte im Dritten Reich fast nichts und lebte vom Geld, das seine Frau verdiente. Weiterführende Informationen zu Kasack s. Böttiger, Helmut/Dittrich, Lutz: Doppelleben. Literarische Szenen aus Nachkriegsdeutschland. Begleitbuch zur Ausstellung (im Literaturhaus in Berlin). Göttingen 2009:64-81. Reichert spricht von einer „fast bruchlosen Kontinuität der Zeit des Nationalsozialismus, die schamlos eine ‚Innere Emigration’ für sich geltend machte“. Reichert, Klaus: Vorbemerkung. In: Böttiger 2009: o.S. Weiterführende Information s. S. 39-40. 118 Weiterführende Informationen zu den Anfängen der Gruppe 47 s. Böttiger 2009:243-313. 119 Vgl. Paulsen 1991:110-113. 120 Z.B. Böll, Heinrich: Wo warst du, Adam? (1951). 113 38 In den sechziger Jahren kam es zur Politisierung der Literatur.121 Das ‚Ich’ war nicht wichtig.122 1968 war der Kulminationspunkt der politisch-gesellschaftlichen Protestbewegung. Danach begann die Umbruchstimmung in Resignation umzuschlagen. Statt politischem Engagement kam es zur Rückbesinnung auf die Individualität. In der Literatur wurde auf subjektiv-autobiografische Schreibmuster zurückgegriffen. Diese Tendenzwende wird ,Neue Innerlichkeit’ oder ‚Neue Subjektivität’ genannt. Das subjektive Schreiben zeichnet sich durch den schonungslosen Umgang mit persönlichen Erfahrungen aus. Situationen, in denen die eigene Identität zum Problem wurde, stehen im Mittelpunkt. Individuelle Lebensgeschichten erheben nicht mehr den Anspruch auf Ausserordentlichkeit, sondern stehen auch für andere. 123 Gefragt ist eine Literatur jenseits von Lüge und Verdrängung. Der Autobiografie als solcher wird ausgewichen. Für die Selbstdarstellung werden eher Romane und Erzählungen gewählt, bei denen das erzählende Ich und das Ich des Autors weitgehend identisch sind.124 Beim Schreiben autobiografischer Texte geht es nicht mehr nur um den Nachvollzug von Vergangenem, sondern um die Ergründung des eigenen Ich in einer komplizierten Welt. Die Form des Romans ermöglicht es einem Autor, im Gegensatz zur Autobiografie, Abstand zum Erlebten aufzubauen. Indem zwischen das schreibende und das beschriebene Ich eine Distanz gelegt wird, können traumatische Ereignisse besser bearbeitet werden.125 Neben Schriftstellern, die konventionelle Darstellungsmittel für Autobiografien verwendeten, wurde von einigen schon früh die Technik des Perspektivenwechsels eingesetzt, was die Auflösung der Chronologie zur Folge hatte. Auch diese Technik wird von den Neusubjektivisten eingesetzt. Bei der Neuen Subjektivität der siebziger Jahre liegen auch die Anfänge der ‚neuen deutschen Frauenliteratur’, die durch die Frauenbewegung Ende der sechziger Jahre ausgelöst wird und in den siebziger und achtziger Jahren einen Boom erlebt.126 Diese durch autobiografische Schreibmuster gekennzeichnete Literatur versucht die Position der Frau im komplizierten Netz gesellschaftlicher Unterdrückungsstrukturen zu bestimmen und Ansatzmöglichkeiten für die Überwindung ihrer Diskriminierung zu finden. Einer der Ausgangspunkte ist die Reflexion weiblicher Sexualität und die in heterosexuellen Beziehungen erzwunDiese Jahre sind z.B. geprägt vom Bau der Mauer, von der Kuba-Krise und dem Vietnam-Krieg. Vgl. Paulsen 1991:120-121. 123 Vgl. Richter-Schröder, Karin: Frauenliteratur und weibliche Identität. Theoretische Ansätze zu einer weiblichen Ästhetik und zur Entwicklung der neuen deutschen Frauenliteratur. Frankfurt a.M. 1986:111-113. 124 Vgl. Krechel, Ursula: Leben in Anführungszeichen. Das Authentische in der gegenwärtigen Literatur. In: Manthey, Jürgen (Hg.). Literaturmagazin 11, Schreiben oder Literatur. Hamburg 1979:80-107. Zitiert nach Giese 1997:83. 125 Vgl. Paulsen 1991:93-94. 126 Bekannte Werke der Frauenliteratur der siebziger Jahre sind z.B. Struck, Karin: Klassenliebe (1975), Stefan, Verena: Häutungen (1975). Weiterführende Literatur s. z.B. Weigel, Sigrid: ‚Frauenliteratur’ – Literatur von Frauen. In: Briegleb, Klaus/dies. (Hg.): Gegenwartsliteratur seit 1968. München/Wien 1992:245-276. 121 122 39 gene Entfremdung vom eigenen Körper, der zur Metapher für die gesellschaftliche Demütigung der Frau wird. Es werden Situationen geschildert, meist psychische und physische Grenzerfahrungen, in denen die Konstitution weiblicher Identität zum Problem wird. Indem Frauen die Wahrnehmung des eigenen Körpers zum Thema machen, kommt es zur Überwindung von Bildern über den weiblichen Körper, der bis anhin als Objekt männlicher Bedürfnisbefriedung beschrieben worden war. Die Autorinnen stellen Schlüsselerlebnisse dar, die in beinahe jeder individuellen Frauenbiografie Relevanz besitzen: zum Beispiel die erste sexuelle Beziehung, die Diskrepanz zwischen der Vorstellung romantischer Liebe und Ehealltag oder der eigene körperliche Zerfall. So können sich Leserinnen im Beschriebenen wieder finden.127 Immer mehr Frauen begannen ihre Erfahrungen niederzuschreiben. Sie empfanden Schreiben als einen Akt der Befreiung, „ein Auskotzen der Angst und der Wut hinsichtlich männlicher Gewalt“.128 Die Authentizität des Dargestellten vermittelt Identifikation und Betroffenheit.129 Oft wurde diese ‚Literatur’, die meist keinen grossen literarischen Wert aufwies, aber für Frauen von eminent wichtiger Bedeutung war, in Frauengruppen diskutiert. Weils Alterswerk kann zeitlich, von der formalen Gestaltung und den Themen her bei der Literatur der ‚Neusubjektivisten’ und der ‚neuen deutschen Frauenliteratur’ eingeordnet werden.130 Meine Schwester Antigone, Generationen und Der Brautpreis zeichnen sich durch den Rückzug ins Alltägliche und die Betonung des Individuellen aus. Weil ergründet in diesen Romanen, die sich durch Perspektivenwechsel auszeichnen, das eigene Ich und pflegt einen schonungslosen Umgang mit persönlich Erlebtem.131 Sie setzt bei Erfahrungen an, die ihre Identitätskonstitution zum Problem werden liessen und versucht durch schriftstellerische Bearbeitung, die therapeutische Funktion hat, ein neues Verständnis des eigenen Ich zu erlangen. Schwierigkeiten in Beziehungen, psychische Grenzerfahrung und die Beo- Vgl. Richter-Schröder 1986:110,113,129-136. Rheinsberg, Anna: Die Guten ins Töpfchen – die Schlechten ins Kröpfchen. Zur Situation schreibender Frauen. In: Frauenjahrbuch 79. Garen, Antje (Hg.). Naumburg/Ellenberg 1980:12. Zitiert nach Richter-Schröder 1986:137. 129 In der weiblichen Selbsterfahrungsliteratur lag die Gefahr der Beschränkung auf eine Perspektive des Leidens, durch die nicht nur Leiden rekonstruiert, sondern auch reproduziert wurde. Oft stand auch Männerfeindlichkeit Weiblichkeitsmythos gegenüber. Vgl. Richter-Schröder 1986:138-162. 130 Ab Ende der Siebzigerjahre werden Mythen in der deutschen Literatur Mode. Dies ist ein weiterer Grund für den Erfolg von Weils Altersromanen. Drei Jahre nach MSA publiziert z.B. Christa Wolf Kassandra, ein Werk, in dem sie den Trojanischen Krieg aus Kassandras Sicht beschreibt. Weiterführende Information zu Mythos und Geschichtserinnerung in der Gegenwartsliteratur s. z.B. Weigel 1987:267-312. 131 Vgl. Giese 1997:158-159. Neben alltäglichen Banalitäten schildert Weils Alter Ego seine Ängste, Bedürfnisse und sexuellen Erlebnisse. In MSA 37,146-148 schildert die 20-jährige Ich-Figur, wie sie in einem Lesben-Lokal einen Nazi kennen lernt, von dem sie schwanger wird, und nachher abtreibt. Mit 24 versucht sie sich das Leben mit Schlaftabletten zu nehmen (37-38). Inwiefern das Dargestellte autobiografisch ist, sei dahingestellt. Vgl. S. 4-6. Gemäss Exner (1998:123) versuchte sich die 27-jährige Weil aus Verzweiflung über die Trennung von ihrem Mann das Leben zu nehmen. In LWAL 29 schreibt Weil von einer Abtreibung. 127 128 40 bachtung des eigenen körperlichen Zerfalls sind bei ihr Schreibanlass, und ihre Figuren üben harsche Kritik am Opferdasein von Frauen in androzentrischen Gesellschaften. Und doch gibt es gewichtige Unterschiede. Weils Lebensgeschichte steht nicht für diejenige deutscher Leserinnen. Auch wenn sich Weil immer wieder mit Frauenfragen auseinandersetzt, stehen andere Themen im Vordergrund. Ihre Identitätsproblematik ist diejenige einer alten, überlebenden, deutschen Jüdin. Erfahrungen des Älterwerdens und die damit verbundene Einsamkeit, Krankheit, Gebrechlichkeit und gesellschaftliche Diskriminierung lösen bei ihr im Gegensatz zu anderen Frauen Erinnerungen an die Nazizeit aus. Im Gegensatz zu anderen Schriftellerinnen ist Weils primäre Schreibmotivation ihr ZeugnisAblegen-Wollen über das Dritte Reich. Weil schreibt auch nicht einfach gestrickte feministische Literatur. Das Opferdasein von Frauen in androzentrischen Gesellschaften stellt sie wegen weiblicher Unterstützung dieses Systems auch als selbstverschuldet dar.132 Fazit: Die Trennungslinie zwischen Autobiografie und fiktiven Gattungen wurde im zwanzigsten Jahrhundert aufgehoben. Mit der Gattung des autobiografischen Romans liegt Weil im Trend ihrer Zeit. Dass sie im Stil der Neusubjektivisten und der neuen deutschen Frauenliteratur schreibt und deren Themen aufgreift, ist sicherlich ein Grund ihres Erfolgs. Ihr Ausgangspunkt ist jedoch ein völlig anderer. Einordnung in die Geschichte der deutsch-jüdischen Literatur Was deutsch-jüdische Literatur ist, wurde im Lauf der Zeit verschieden definiert.133 Ich halte mich vor allem an die Definition von Horch/Shedletzky, die darunter das „literarische Werk jüdischer Autoren in deutscher Sprache, in dem explizit oder implizit in irgendeiner Form jüdische Substanz erkennbar ist“ verstehen. Diese entwickle sich „im Sinn einer Auseinandersetzung mit jüdischer Tradition oder jüdischer Existenz ... innerhalb eines dominierend deutschen kulturellen Bewusstseins“.134 Da Weils Erfolg mit demjenigen der jungen deutsch-jüdischen Literatur zusamVgl. S. 80. Weiterführende Information zur Kritik der Männlichkeit in der Frauenliteratur s. Venske Regula: Kritik der Männlichkeit. In: Gegenwartsliteratur seit 1968. 1992:267-276. 133 Zu deutsch-jüdischer Literatur als deutsche Literatur jüdischer Autoren s. Geiger, Ludwig: Die Deutsche Literatur und die Juden. Berlin 1910:12. Zu deutsch-jüdischer Literatur als jüdische Literatur s. Krojanker, Gustav: Vorwort. In: ders. (Hg.) Juden in der deutschen Literatur. Essays über zeitgenössische Schriftsteller. Berlin 1922:7-16. Zu deutsch-jüdischer Literatur als Literatur der deutsch-jüdischen Symbiose s. Susman, Margarete: Vom geistigen Anteil der Juden in der deutschen Geistesgeschichte. In: Schulte, Christoph (Hg.): Deutschtum und Judentum. Ein Disput unter Juden aus Deutschland. Stuttgart 1993:138-149. Zur heutigen Definition s. Kilcher 2000:VII-XX. 134 Horch/Shedletzky 1992:291. Vgl. auch Lamping, Dieter: Von Kafka bis Celan. Jüdischer Diskurs in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. Göttingen 1998:10-36,113-128, der Weil zu den jüdischen Literaten deutscher Sprache zählt. Vgl. auch Kilcher (2000:XIV-XVI), der die Ansicht vertritt, dass es nicht Aufgabe der Literaturwissenschaft sei festzulegen, was deutsch-jüdische Literatur ist. Vielmehr müsse sie literarische Selbstbestimmungsdiskurse zum Gegenstand machen und fragen, wie in jedem einzelnen Text der vieldeutige interkulturelle Raum der deutsch-jüdischen Literatur konstruiert und interpretiert wird. Die Singularitäten der Interpretationen manifestierten sich nicht in den Topoi jüdischer Identität, sondern erst in den Stellungsnahmen dazu. Da Kilcher ein Mosaik aus Porträts, Formationen und Perzeptionen des vielstimmigen Diskurses über das Judentum sichtbar machen will, wird Weil im Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur aufgenommen. Ich halte mich 132 41 menfällt, vergleiche ich ihr Alterswerk auch mit dieser. Bei der Definition, was junge deutsch-jüdische Literatur ist, halte ich mich an Nolden: Der Begriff ‚deutsch’ bezeichnet bei ihm die Sprache, der Begriff ‚jüdisch’ die gewählten Themen, der Begriff ‚jung’ die Autoren der zweiten und dritten Generation nach der Schoa.135 Zwischen 1820 und 1830 beginnt mit Schriftstellerinnen wie Rahel Varnhagen, Ludwig Börne und Heinrich Heine die Epoche der deutsch-jüdischen Literatur. Mit Autoren wie Alfred Döblin, Franz Kafka, Else Lasker-Schüler, Jakob Wassermann und Franz Werfel wurde während rund hundert Jahren aus deutscher Literatur eine jüdische und aus jüdischer Literatur eine deutsche. Zumindest im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts war die grosse ‚deutsche Literatur’ deutsch-jüdisch.136 In der Nacht vom 10. auf den 11. August 1933 wurden in der Aktion ‚Wider den undeutschen Geist’ an deutschen Universitäten Bücher von jüdischen Autoren verbrannt,137 danach wurden jüdische Verlage arisiert, ab 1940 alle Werke ‚voll- und halbjüdischer Verfasser’ indiziert und verboten. Viele Schriftsteller gingen ins Exil.138 Damit endete die deutsch-jüdische Literatur, wie sie seit dem frühen 19. Jahrhundert bestanden hatte: als deutsche Literatur in Deutschland. Jüdische Literatur deutscher Sprache entstand nun im Exil.139 Der Begriff ‚deutsch-jüdische Literatur’ wurde erst ab Ende der achtziger Jahre reflektiert und noch später wieder verwendet.140 Nach 1945 wurde die deutsche Literatur von nicht-jüdischen Schriftstellern dominiert.141 Deutsch-jüdische Schriftsteller, welche die Konzentrationslager überlebt hatten, emigrierabsichtlich vor allem an Horch/Shedletzky, da ihr Artikel 1992 herauskommt. Die in den USA tonangebende Rezipientin, die Judaistin Lorenz, die Deutsch beherrscht, beurteilt DB 1997. Zu Lorenz s. S. 87-88 und Anm. 290. Kilchers Artikel über deutsch-jüdische Literatur ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht veröffentlicht. Seine Definition ist für die heutige Beurteilung von Weils Werk wichtig. 135 Nolden (1995:9-13,31) ist der Ansicht, dass der kollektive Identitätsbegriff ‚jüdisch’ bei der jungen jüdischen Gegenwartsliteratur nicht als inhaltlich qualifizierbares Interpretationsmittel taugt. Die ethnische, kulturelle und religiöse Identität der Autoren sei zu verschieden. Junge deutsch-jüdische Autoren sind für ihn solche, die sich selber als Juden bezeichnen, einige Jahre in Deutschland oder Österreich gelebt haben und in deutscher Sprache schreiben. 136 Vgl. Lamping 1998:80-81. 137 Verbrannt wurden z.B. Werke von Georg Bernhard, Sigmund Freud, Alfred Kerr, Emil Ludwig, Ernst Toller, Kurt Tucholsky und Theodor Wolff. 138 Z.B. Alfred Döblin, Else Laske-Schüler, Lion Feuchtwanger, Bruno Frank, Hans Keilson, Alfred Kerr, Hermann Kesten, Ludwig Marcuse, Erich Mühsam, Joseph Roth, Ernst Toller, Franz Werfel, Arnold Zweig. 139 Weiterführende Information zur Vertreibung jüdischer Schriftsteller aus Deutschland, zur Situation der jüdischen Exilliteratur, zum jüdischen Diskurs im Exil s. z.B. Lamping 1998:79-98. 140 Reich-Ranicki sagte noch 1989, dass das Kapitel der deutsch-jüdischen Literatur endgültig abgeschlossen sei. Reich-Ranicki, Marcel: Über Ruhestörer. Juden in der deutschen Literatur. Stuttgart 1989:57. Kilcher (2000:VXX) reflektierte und verwendete den Begriff als Erster wieder. 141 Von Ilse Aichinger abgesehen, waren keine Juden Mitglieder der Gruppe 47. Vgl. Richter, Hans Werner (Hg.): Almanach der Gruppe 47, 1947-1962. Reinbek bei Hamburg 1962. Zur Gruppe 47 vgl. S. 32 und Anm. 118. Die deutsch-jüdische Exilliteratur war zu verschiedenartig, als dass es zu einem literarischen Zusammenhalt gekommen wäre. Vgl. Lamping 1998:135-136. 42 ten nach ihrer Befreiung.142 Paul Celans Todesfuge (1947), Nelly Sachs’ In den Wohnungen des Todes (1947) und Grete Weils Ans Ende der Welt (1949), Werke ‚über Auschwitz’ und ‚aufgrund von Auschwitz’, blieben ohne Resonanz.143 Die Vernichtung der europäischen Juden und der Erfolg deutscher Autoren, die trotz nationalsozialistischer Vergangenheit nach 1945 weiterhin bedeutende Literaturpreise erhielten, hinderten deutsch-jüdische Schriftsteller daran, nach Deutschland zurückzukehren.144 Von denjenigen, die eine Rückkehr wagten, scheiterten viele.145 Obwohl Weil vom Literaturbetrieb der BRD ignoriert wurde, versuchte sie immer wieder in grossen Abständen, Werke zu veröffentlichen. Mit vielen deutsch-jüdischen Schriftstellern der Nachkriegsliteratur hat Weil gemein, dass sie Schwierigkeiten mit ihrer jüdischen Identität hat. Ihre Distanz zum Judentum gründet im universalistischen Denken in der Tradition der Aufklärung, welches das assimilierte jüdische Bürgertum geprägt hatte. Wie zum Beispiel Hilde Domin, Jean Améry und Wolfgang Hildesheimer hat sie ihr Jüdischsein als Zugehörigkeit zu einer ‚Schicksalsgemeinschaft’ definiert. Diese Schriftsteller begriffen sich jenseits von nationaler und religiöser Identität als Juden und verstanden sich kaum als jüdische Autoren, die sich an ein jüdisches Publikum wenden; ihr Engagement galt vor allem der deutschen Leserschaft.146 Als Paul Celan sich 1970 das Leben nahm, kurz darauf Nelly Sachs starb und 1978 Jean Améry Selbstmord beging, schien das Ende der jüdischen Nachkriegsliteratur gekommen zu sein. Doch die jüdische Literatur in deutscher Sprache ging weiter: Jurek Becker und Edgar Hilsenrath zum Beispiel verwiesen mit ihren Romanen auf das Scheitern des deutsch-jüdischen Verhältnisses. Sie wurden die Wegbereiter der jungen deutsch-jüdischen Z.B. H.G. Adler und Jean Améry. Weiterführende Information zur Rezeption von Celan s. z.B. Lamping 1998:99-112,138-142. Der Begriff ‚aufgrund von Auschwitz’ stammt von Peter Szondi, der Adornos Satz, dass Lyrik nach Auschwitz barbarisch sei, folgendermassen deutete: „Nach Auschwitz ist kein Gedicht mehr möglich, es sei denn auf Grund von Auschwitz.“ Adorno, Theodor W.: Prismen – Kulturkritik und Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1953:31. Szondi, Peter: CelanStudien. Frankfurt a.M. 1972:102-103. 144 Kesten nennt folgende Autoren „preisgekrönte Nazis, Supernazis, SS-Männer, Hitler-Hymniker und QuislingPräsidenten zur Förderung des Faschismus“: Paul Alverdes, Gottfried Benn, Richard Billinger, Bruno Brehm, Georg Britting, Hermann Burte, Hans Carossa, Herman Claudius, Heimito von Doderer, Gerd Gaiser, Bernt von Heiseler, Hans Egon Holthusen, Ernst und Friedrich Georg Jünger, Erwin Guido Kolbenheyer, Max Mell, Franz Nabl, Wilhelm von Scholz, Ina Seid, Emil Strauss und Karl Heinrich Waggerl. Kesten, Hermann: Andere Völker – andere Sitten. In: ders.: Filialen des Parnass. 31 Essays. Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1984:271. Zitiert nach Lamping 1998:132. 145 Z.B. Alfred Döblin, der 1945 als Offizier der französischen Armee zurückgekehrt war und sich für eine Reedukation der Deutschen einsetzte, verliess 1953 die BRD wieder, da er dort nicht nur politisch, sondern auch literarisch scheiterte. Walter Mehring, der 1953 in die BRD zurückkehrte, verliess das Land fünf Jahre später, da er am westdeutschen Literaturbetrieb scheiterte. Ludwig Marcuse, der nach dreissig Jahren aus dem Exil zurückkehrte und in der BRD blieb, machte ähnliche Erfahrungen. Die meisten jüdischen Exilanten fühlten sich von der Gruppe 47 verdrängt, die beanspruchte, die deutsche Nachkriegsliteratur zu repräsentieren. Vgl. Lamping 1998:132-134. 146 Vgl. Lamping 1998:135-138. Weiterführende Information s. z.B. Hildesheimer, Wolfgang in Schultz, Hans Jürgen (Hg.): Mein Judentum. Stuttgart 4. Auflage 1991:263-274; Améry, Jean: Über die Unmöglichkeit, Jude zu sein. In: Ders. 1977:130-156; Domin, Hilde: Offener Brief an Nelly Sachs. Zur Frage der Exildichtung. In: Dies.: Gesammelte autobiographische Schriften. Fast ein Lebenslauf. München/Zürich 1992:173. 142 143 43 Literaten, die ab Anfang der achtziger Jahre mit ihren politischen und kulturellen Aktivitäten einsetzten.147 Ungefähr ab diesem Zeitpunkt begannen sich die nachgeborenen Deutschen für jüdische Kultur zu interessieren, und auch Weil wurde nun plötzlich rezipiert. Die Wiederentdeckung deutsch-jüdischer Literatur steht im Zusammenhang mit der Suche nach einer neuen deutschen Identität.148 Die jungen deutsch-jüdischen Autoren haben mit Weil gemein, dass es auch ihnen an rezipierbaren Modellen jüdischen Lebens mangelt. Auch bei ihnen bildete vor allem die nichtjüdische deutsche Umwelt das Gegenüber im Prozess der Identitätsbildung.149 Wie Weil sind sie meist säkular, auch ihre Literatur entsteht folglich nicht aus der Tradition heraus, und sie suchen wie sie nach ihren Rollen und ihrer Identität.150 Auch sie erfahren, dass das Gespräch mit den Deutschen schwierig ist. Was aber diese jüngere Generation deutschjüdischer Schriftsteller der älteren vorwirft, nämlich über ihre traumatische Vergangenheit geschwiegen zu haben, stimmt gerade bei Weil nicht: Sie ist eine Überlebende, die im gesellschaftlichen Simulationsraum der Texte immer diskutieren wollte, was der Normalisierung der Beziehung zwischen Juden und ihrer nichtjüdischen deutschen Umwelt und der Normalisierung zwischen den Generationen im Weg stand. Weil leidet genauso am Unverständnis zwischen den Generationen wie die junge deutsch-jüdische Schriftstellergeneration, nur dass die persönliche Erfahrung der nationalsozialistischen Verfolgung sie von der anderen Seite her von dieser trennt. Dass Weils Werk von einer nachgeborenen Jüdin als hilfreich erachtet wird, beweist die in Holland geborene Bos.151 Wie Weil kreisen die jungen deutsch-jüdischen Schriftsteller thematisch um die Schoa.152 Weil tut dies aber aus direkter Betroffenheit heraus. Und obschon der Grossteil der Werke der jungen deutsch-jüdischen Schriftsteller auch auf deren Lebensgeschichten basiert, ist die literarische Reflexion über die eigene Identität bei ihnen weniger Ausdruck von ‚subjek- Becker, Jurek: Jakob der Lügner (1969), Der Boxer (1976). Hilsenrath, Edgar: Der Nazi und der Frisör (1977), Bronskys Geständnis (1980). Vgl. Lamping 1998:152-153. Bekannte junge deutsch-jüdische Autoren der zweiten und dritten Generation sind z.B. Maxim Biller (*1960), Esther Dischereit (*1952), Lea Fleischmann (*1947), Barbara Honigmann (*1949), Gila Lustiger (*1963), Robert Menasse (*1954), Viola Roggenkamp (*1948). 148 Vgl. Zipes, Jack: The Contemporary German Fascination for Things Jewish: Toward a Minor Jewish Culture. In: Gilman, Sander L. (Hg.): Reemerging Jewish Culture in German Life and Literature since 1989. New York/London 1994:15-45 und Nolden 1995:15-23. 149 Zu deutsch-jüdischer Identität allgemein s. z.B. Mendes-Flohr, Paul: Jüdische Identität. Die zwei Seelen der deutschen Juden. Seifert, Dorthe (Trad.). München 2004. Zu Weils Identität s. S. 21-25. 150 Vgl. Nolden 1995:77. 151 S. Bos 2005. Weils Schilderungen halfen Bos, die Reaktionen ihrer Eltern- und Grosselterngeneration zu verstehen. Weiterführende Information s. S. 40, Anm. 163. 152 Nolden nennt dies ,konzentrisches Schreiben’ und versteht darunter nicht eine stilistische Technik oder eine historische Perspektivierung, sondern die Annäherung an Themen wie die Vernichtung in den Konzentrationslagern und ganz allgemein das Spannungsverhältnis zwischen den Nachfolgegenerationen der Schoa und den von Traditionen verbürgten kulturellen Mittelpunkten des Judentums. Nolden 1995:9-13. 147 44 tiver Betroffenheit’, sondern eher ein Versuch, am Beispiel der eigenen Erfahrung Auskunft über die kollektive Befindlichkeit der jungen jüdischen Bevölkerung zu geben.153 Wie Weil stehen die jungen deutsch-jüdischen Literaten in nationaler, kultureller und sprachlicher Differenz zum Staat Israel. Und wie Weils Werk entsteht – angesichts der historischen Schuld von Deutschland und Österreich – die junge jüdische Literatur aus der Randposition des kritischen Dissenses. Weils Werk und dasjenige der jungen jüdischen Literaten beziehen sich sowohl auf die historische wie auch auf die gegenwärtige Realität dieser Länder und beschäftigen sich mit der gesellschaftlichen Randposition der Autoren.154 Die jungen deutsch-jüdischen Literaten suchen nach Lösungsmöglichkeiten, wie sie sich als Erben einer nur noch rudimentär vorhandenen Kultur verstehen können.155 Meiner Ansicht nach zeigt Weil mit Der Brautpreis einen Ansatz auf, wie man sich als säkulare Jüdin nicht nur mit der jüdischen Existenz, sondern auch mit jüdischer Tradition beschäftigen kann: Indem sie ihr Schicksal an einer biblischen Figur spiegelt, versucht sie dieses in die Geschichte des jüdischen Volkes einzuordnen und anders zu verstehen. Fazit: Weil ist den jüdischen Nachkriegsliteraten zuzuordnen. Sie schreibt ‚aufgrund von Auschwitz’. Als deutsch-jüdische Schriftstellerin reflektiert sie vor allem ihre Existenz als Mitglied der jüdischen Leidensgemeinschaft und schreibt deutsch-jüdische Erinnerungsliteratur. Als Repräsentantin der deutsch-jüdischen Symbiose erinnert sie an deren Scheitern. Die junge deutsch-jüdische Literatur gleicht der ihrigen in gewissen Punkten. Weils Ausgangspunkt als Überlebende ist jedoch ein völlig anderer. 2.2.4 Die Rezeption von Grete Weils Werk „Bei Grete Weil haben die traumatischen Erlebnisse im Dritten Reich zunächst eine regelrechte Sprachlosigkeit ausgelöst, so dass sie erst Ende der vierziger Jahre mit der Veröffentlichung ihrer literarischen Arbeit begann“, schreibt Giese in ihrer Dissertation.156 Dies stimmt nicht. Weil schreibt 1943 Weihnachtslegende, 1944 Der Weg zur Grenze und gleich nach Kriegsende Ans Ende der Welt.157 Ihr literarischer Agent versucht vergeblich einen Verleger für Ans Ende der Welt in Westdeutschland zu finden. Erst in Ostberlin stösst er auf einer zweiten Reise auf den interessierten Volk und Welt Verlag. In der DDR wird dieses Werk zur Kenntnis genommen, und es kommt zu einer Reihe positiver Rezensionen. Weil wäre aber eine Rezeption in Westdeutschland wichtig gewesen, wohin sie zurückzukehren gedachte.158 Sie meint dazu: „Heute ... weiss ich, dass es eigentlich ein Skandal war, dass niemand im Westen sie (die Geschichte) wollte. Die jungen deutsch-jüdischen Autoren setzen bei ihrer eigenen Geschichte an, wo ihnen der Zugang zu den jüdischen Traditionen versperrt ist. Vgl. Nolden 1995:32. 154 Vgl. Nolden 1995:9-13,62. 155 Vgl. Nolden 1995:26-27. 156 Giese 1997:25, vgl. auch 205. 157 Vgl. S. 19,29. 158 Weiterführende Information zu den Rezensionen in Ostdeutschland s. Meyer 1997:145. 153 45 Doch noch ahne ich nichts von den Schwierigkeiten, denen ich viele Jahre lang begegnen werde, weil Literatur über dieses Thema unerwünscht ist.“ (LWAL 239) Dieser Skandal lässt sich dadurch erklären, dass in der BRD ein restauratives Klima entstand: Die Zeit war von Wirtschaftswunder, antisozialistischen Affekten und enormen Verdrängungsleistungen geprägt. Kritische Stimmen konnten sich kein Gehör verschaffen.159 Wie schamlos (Mit-)Schuldige sich wieder aufs gesellschaftliche Parkett begaben, zeigt sich an Kasimir Edschmid und Frank Thiess. Kasimir Edschmid, der bei der Gründung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung eine wichtige Rolle spielte, ständig deren Vizepräsident blieb und in den letzten Jahren vor seinem Tod 1966 Ehrenpräsident wurde und seinen Wohnort, Darmstadt, zu einer Art Verwaltungshauptstadt der Literatur machte, war eine der mächtigsten Figuren im BRD-Literaturbetrieb. Vor dem Krieg war er als Expressionist von der Bücherverbrennung betroffen gewesen, hatte sich in der folgenden Zeit aber von seiner langjährigen jüdischen Lebensgefährtin getrennt und 1943 mit seiner neuen Frau enge Verbindungen zum NS-Führungszirkel gepflegt.160 Auch Frank Thiess, eine andere wichtige Figur im Nachkriegsliteraturbetrieb, hatte sich mit den Nazis arrangiert. Später schimpfte er gegen Schriftsteller, die ‚aus den Logen und Parterreplätzen des Auslands’ zugeschaut hatten und nun in Deutschland nicht mehr willkommen waren.161 Als 1962 Ans Ende der Welt in der BRD publiziert wurde und ein Jahr später Tramhalte Beethovenstraat erschien, blieb die Resonanz weiterhin aus. Noch immer herrschte die Zeit des Verdrängens und Vergessens. Da Weil jüdische Opfer nicht mystifizierte, wurde sie selbst von deutschen Philosemiten nicht rezipiert.162 1964 wurde aber Tramhalte Beethovenstraat ins Holländische übersetzt und in den Niederlanden zu einem der wichtigsten Bücher über die NS-Besetzung, das an Schulen gelesen wurde. Obwohl Weil den Holländern keine Hommage abgibt, zählt sie zu den meistgelesenen deutschen Autorinnen.163 Vgl. Reichert: Einleitung. In: Böttiger 2009: o.S. Weiterführende Information Böttiger 2009:34-63. Vgl. auch S. 32, Anm. 117. 161 Frank Thiess in der Münchner Zeitung vom 18. August 1945. Eine regelrechte Verdrängungswut zeigte sich an der Person von Thomas Mann. Weiterführende Information Böttiger 2009:219-241. 162 Zur Darstellung der jüdischen Opfer in der Literatur der Nachkriegszeit s. z.B. Feinberg, Anat: Der permanente Ruhestörer: Juden in der deutschen Nachkriegsliteratur. Ein Ausblick. In: Horch, Hans-Otto/Denkler, Horst (Hg.): Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom Ersten Weltkrieg bis 1933/1938. Interdisziplinäres Symposion der Werner-Reimers-Stiftung Bad Homburg v.d.H. Dritter Teil. Tübingen 1993:380-387 (v.a. 382-387). Weiterführende Information zum Philosemitismus nach 1945 s. z.B. Zander, Ulrike: Christlicher Philosemitismus in Deutschland nach der Schoa. In: Diekmann, Irene A./Kotowski, ElkeVera: Geliebter Feind, gehasster Freund. Antisemitismus und Philosemitismus in Geschichte und Gegenwart. Festschrift zum 65. Geburtstag von Julius H. Schoeps. Berlin 2009:487-507. 163 Vgl. Meyer 1996:132-133. Die Rezeption von Weils Werk an holländischen Schulen erklärt das wertschätzende Werk der Mitte der sechziger Jahre in Amsterdam geborenen und dort aufgewachsenen Bos (2005). Als Enkelin einer überlebenden Grossmutter und eines in Birkenau ermordeten Grossvaters versuchte sie die Löcher in ihrer tabuisierten Familiengeschichte zu füllen. Bei der Untersuchung von Texten überlebender deutsch-jüdischer Schriftstellerinnen ging sie von der Frage aus, wie es Menschen wie ihrer Grossmut159 160 46 Erst mit Meine Schwester Antigone schafft Weil, inzwischen 74-jährig, beim Schweizer Benziger Verlag den Durchbruch. 1981 erhält sie für die Darstellung der Altersthematik den Wilhelmine-Lübke-Preis, 1983 den Tukan-Preis der Stadt München.164 Doch nur der Geschwister Scholl-Preis, den sie 1988 für Der Brautpreis erhält, ist ihr wichtig, weil sie dadurch mit Menschen vom deutschen Widerstand in Kontakt kommt.165 Der Fischer Verlag legt in den achtziger Jahren ihre frühen Werke neu auf. Zunehmend taucht ihr Name in Anthologien und Textsammlungen auf. Von den achtziger Jahren an kommt es zu Übersetzungen ihres gesamten Werks auch in andere Sprachen als Holländisch, und es wird Gegenstand der Literaturwissenschaft.166 Langsam wird Weil als deutsch-jüdische Schriftstellerin wahrgenommen.167 In grossen judaistischen Nachschlagewerken fehlt aber ihr Name bis heute.168 Fazit: Die Zeit nach dem Dritten Reich war sehr lange von enormen Verdrängungsleistungen geprägt. Der Literaturbetrieb wurde einerseits von Personen, die den Nazis nahe gestanden oder sich mit ihnen arrangiert hatten, anderseits durch die Gruppe 47 dominiert. Ein Grund für Weils Durchbruch lag am aufkommenden Interesse an der deutschen Vergangenheit und an jüdischer Literatur durch die Nachgeborenen.169 Im Gegensatz zu den deutschen Verlagshäusern verstand Renate Nagel vom Benziger Verlag Zürich die Zeichen der Zeit bei Weil zu lesen. Seit Ende der achtziger Jahre ist Weils Werk Gegenstand der Literaturwissenschaft. ter gelang, ihr Leben nach der Schoa weiterzuführen, und wie und warum es Überlebenden gelang, darüber zu schreiben. Vgl. auch S. 38, Anm. 151. 164 Den Wilhelmine-Lübke-Preis, der vom Kuratorium Deutsche Altershilfe verliehen wird, erachtet Weil als Missverständnis. Eine positive Bewertung des Alters sei nicht ihr Ziel gewesen. Vgl. Exner 1998:96. 165 Vgl. Giese 1997:218-219. 166 S. z.B. die Rezeption von MSA von Weigel 1987:298-303; dies., in: Gegenwartsliteratur seit 1968. 1992:264; Erdle, in: Kindlers Neues Literatur Lexikon. Bd. 12. 1992:480-481;. Zu Weil und ihrem Werks allgemein: s. z.B. Exner, in: Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1945. Bd. II. 2003:1309-1311. Zu Übersetzungen s. Werkverzeichnis Meyer 1996:337-339. 167 Während Weils Name z.B. in: Schütz, Hans J. (Hg.): Juden in der deutschen Literatur. Eine deutsch-jüdische Literaturgeschichte im Überblick. München/Zürich 1992:296 erst am Rand auftaucht, findet sich von Braese, Stephan im Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur. Jüdische Autorinnen und Autoren deutscher Sprache von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Kilcher, Andreas B. (Hg.). Stuttgart 2000:599-604 ein recht ausführlicher Artikel über sie. 168 So fehlt Weils Name gänzlich in: Neues Lexikon des Judentums. Schoeps, Julius H. (Hg.). München 2000; Kerbel, Sorell: Jewish writers of the twentieth century. New York/London 2003; Encyclopedia of Modern Jewish Culture, Vol 2. Abramson, Glenda (Hg.). London/New York 2005; Encyclopaedia Judaica, 2nd edition, Vol 20. Skolnik, Fred/Berenbaum, Michael (Hg.). 2007. Auch in Lexika über jüdische Frauen fehlt ihr Name, z.B. in Dick, Jutta/Sassenberg, Marina (Hg.): Jüdische Frauen im 19. und 20. Jahrhundert. Lexikon zu Leben und Werk. Reinbeck bei München 1993. 169 Folgende Schriftstellerinnen treten z.B. in den achtziger Jahren, Jahrzehnte nach den traumatisierenden Erlebnissen im Dritten Reich, an die Öffentlichkeit, werden übersetzt und in Deutschland rezipiert: Evelien van Leeuwen (Späte Erinnerungen an ein jüdisches Mädchen. Deutsche Übersetzung 1984), Carlotta Marchand (Wie durch ein Nadelör. Erinnerungen einer jüdischen Frau. Deutsche Übersetzung 1985), Cordelia Edvardson (Gebranntes Kind sucht das Feuer. Deutsche Übersetzung 1986). Das Interesse an ‚jüdischen Themen’ – sei dies Erinnerungsliteratur, Literatur von jungen deutsch-jüdischen oder von ins Deutsche übersetzten hebräischen Autoren – hält in Deutschland unvermindert an, auch wenn deren literarischer Wert z.T. fragwürdig ist. S. z.B. meine Seminararbeit Kontextualisierung und Analyse des Romans ‚Hochzeit in Jerusalem’ von Lena Gorelik, eingereicht am 28. August 2008 bei Frau Prof. Dr. Verena Lenzen, KSF, Universität Luzern. 47 3 Der Brautpreis 3.1 Die Darstellung der Figur Michal in den Samuelbüchern Der Brautpreis basiert auf der David-Erzählung aus der Sicht von Michal. Da Weil keine rabbinischen Interpretationen dieser Figur in ihrem Roman verwendet, gehe ich lediglich auf ihre biblische Darstellung ein.170 Das Schicksal von Michal wird im Wesentlichen in den Samuelbüchern beschrieben, wo die Geschichte der Entstehung des israelitischen Königtums beschrieben wird. Die wichtigsten Figuren sind hier Samuel, Saul und David, wobei David „unbestritten (als) die glänzendste Gestalt des alten Israel“ gilt.171 Michal hingegen hat eine Nebenrolle. Denn die Bibel, eine Sammlung androzentrischer Literatur, marginalisiert Frauen; meist ist nur noch die männliche Sicht auf sie erfahrbar.172 Die Samuelbücher berichten Folgendes über Michal: Sie ist die zweite und jüngste Tochter König Sauls (1Sam 14,49). Anstelle ihrer Schwester Merab wird sie mit David verheiratet, nachdem dieser den doppelten von ihm geforderten Brautpreis – zweihundert Vorhäute der Philister – entrichtet hat (1Sam 18,17-28). Saul hoffte, seinen Rivalen durch diese Forderung loszuwerden. Zweimal wird von Michal gesagt, dass sie David liebt (bha, 1Sam 18,20.28). Dies ist in der Bibel einmalig. Als Saul nach Davids Leben trachtet, verhilft Michal ihm zur Flucht, täuscht seine Verfolger und findet vor ihrem Vater die Ausrede, David hätte ihr gedroht, sie zu töten, wenn sie ihm nicht helfe (1Sam 19,10-17). Danach wird sie von ihrem Vater mit Palthi verheiratet (1Sam 25,43-44). Nachdem Abner sich mit IschBoschet, dem rechtmässigen Nachfolger Sauls, zerstritten hat, will er einen Vertrag mit David schliessen, damit dieser König über Israel werde. David fordert deshalb Michal zurück. Ihr Mann (hier Paltiel genannt) läuft weinend hinter ihr her, bis Abner ihn zurückschickt (2Sam 3,6-16). Als David leicht bekleidet vor der Bundeslade tanzt, als diese in seiGemäss bTal Sanh 21a ist Michal am Tag der Geburt ihres Kindes gestorben. Vorher sei sie kinderlos gewesen, da Palthi mit ihr nur eine Scheinehe eingegangen sei. Sie habe die fünf Kinder ihrer verstorbenen Schwester adoptiert. Michal sei mit Davids Frau Egla identisch, gehöre zu den schönsten Frauen, sei fromm gewesen und habe Gebetskapseln getragen. Vgl. Ginzberg, Louis: Legends of the Jews. Bd. 6. Philadelphia 1968:273-274. Das Tragen von Gebetskapseln macht Michal heute zum Vorbild für liberale jüdische Frauen. Weiterführende Information zu Michal in der rabb. Literatur s. z.B. Boldi, Daniel/Donnet-Guez, Brigitte: Michal in Rabbinic Literature. In: (Dies.): The Michal Affair. From Zimri-Lim to the Rabbis. Sheffield 2005:88-142. 171 Jüdisches Lexikon. Ein enzyklopädisches Handbuch des jüdischen Wissens in vier Bänden, Bd. II. Begründet von Herlitz, Georg und Kirschner, Bruno. Königstein 1928:46. 172 Frauen waren jedoch für den Aufbau von Gesellschaft und Kultur zentral. Aufgrund seiner Frauen wurde Davids Aufstieg erst möglich. Weibliche Charaktere in der Bibel decken mehr über männliche Vorurteile über Frauen als über deren wirkliches Leben auf. Weiterführende Information aus der Sicht feministischer Literaturtheorie s. z.B. Exum, Cheryl J.: Fragmented Women. Feminist (Sub)versions of Biblical Narratives. Sheffield 1993 (v.a. das Kapitel Michal: The Whole Story: 42-60). Zur Abfassungszeit von DB spricht Weiler z.B. die matriarchale Tradition von Michals Liebeswerbung aus 1Sam 18.17-28 an. Weiler, Gerda: Ich verwerfe im Lande die Kriege – Das verborgene Matriarchat im Alten Testament. Köln 1983. Vgl. ihre Überarbeitung zwecks Vermeidung von Antijudaismen: Das Matriarchat im Alten Israel. Stuttgart/Berlin/Köln 1989:195,207. 170 48 ne neue Residenzstadt Jerusalem überführt wird, trägt ihm dies die Kritik Michals ein: Er habe sich mit seinem Gebaren als König Israels blossgestellt. Ihre Kritik zeitigt schwerwiegende Folgen: Bis zum Tage ihres Todes kann sie kein Kind gebären. (2Sam 6,14-23).173 Fazit: Michal spielt in der David-Erzählung eine Nebenrolle. Doch das Wenige, das die Leserin über diese Figur erfährt, weist auf die Ausserordentlichkeit und Tragik dieser Figur hin, die eine signifikante Rolle im Aufstieg Davids spielt. Auf ihre Gefühle wird nicht Rücksicht genommen: Sie wird im Machtkampf zwischen den Sauliden und David zerrieben. Es kümmert Saul nicht, dass Michal David liebt, wenn er ihm zunächst Merab geben will. Ihre Gefühle kümmern ihn auch nicht, wenn er David die Falle mit dem Brautpreis stellt. Nach seiner Flucht verheiratet er sie an Palthi. David nimmt sie diesem rücksichtslos gegenüber dessen Gefühlen weg. Später empfindet die Königstochter seinen Tanz ungebührlich. Ihre Kritik hat ihren sozialen Tod zur Folge.174 3.2 Grete Weil und die Buber-Rosenzweig-Verdeutschung Weil zitiert im Ich-Michal-Teil gelegentlich aus der Buber/Rosenzweig Verdeutschung.175 Buber und Rosenzweig hatten einen Gegenentwurf zur Luther-Übersetzung gewagt, die alle nachfolgenden Übersetzungen, auch die jüdischen, geprägt hatte. Die wichtigste Entscheidung der beiden Übertragenden war es gewesen, die mündliche Qualität176 und Tradition des geschriebenen Wortes frei zu legen, also nicht zu übersetzen, sondern vom Hebräischen her denkend zu verdeutschen.177 Ihr oberstes Prinzip bestand darin, zur Grundbedeutung jedes hebräischen Wortes vorzudringen. Bei Namen versuchten sie Klang und Bedeutung zu übertragen und setzten sich vom zeitgenössischen deutschen Sprachgebrauch ab. Ihre Bibel ist deutsch und jüdisch, ohne das christlich vorgeprägte Sprachmaterial. Sie schrieben ein „erfundenes Urdeutsch und eine Hebraisierung des Deutschen“.178 Rosenzweig schwebte das „Wunder der Vermählung der beiden Sprachgeister“ vor, das dann eintritt, wenn „das empfangende Volk aus eigener Sehnsucht“ dem fremden Volk entgegenkommt. Und In 2Sam 21,8-9 ist noch die Rede davon, dass David die fünf Söhne von Michal (evtl. von Merab) den Gibeonitern ausliefert, von denen sie exekutiert werden. In 1Chr 15,29 wird ebenfalls erwähnt, dass Michal Davids Tanz unpassend fand und ihn deshalb verachtete. Von Kinderlosigkeit ist hier aber nicht die Rede. 174 Ein Jahr nach Erscheinen von DB deutet Navè Levinson Michal richtig als ‚eine der dramatischsten Gestalten der Bibel’. Navè Levinson, Pnina: Was wurde aus Saras Töchtern? Frauen im Judentum. Gütersloh 1989:132. 175 Vgl. Weils Bemerkung am Ende des Romans o.S. Weiterführende Information s. S. 52-53. 176 Buber und Rosenzweig gliederten den Text „in Einheiten (Kolen), die zugleich Atemeinheiten und Sinneinheiten sind“. Buber, Martin: Zur Verdeutschung des letzten Bandes der Schrift. Beilage zum vierten Band. Die Schriftwerke. Heidelberg, 6. Auflage der neu bearbeiteten Ausgabe von 1962, 1986. 177 Deshalb entschieden sich Buber und Rosenzweig bei der Verdeutschung für den so genannten Leitwortstil, ein Verfahren, das auch hier Assoziationen zu anderen Bibelstellen hervorrufen sollte. Weiterführende Information zum ‚Geist der hebräischen Sprache’ s. z.B. Rosenzweig, Franz: Zweistromland. Kleinere Schriften zu Glauben und Denken. In: Ders. Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften III. Dordrecht/Boston/ Lancaster 1984:719-721. Weiterführende Information zum Prozess der Übertragung s. z. B. Rosenzweig, Franz: Sprachdenken. Arbeitspapiere zur Verdeutschung der Schrift. In: Ders.: Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften IV. 2. Band Sprachdenken – Die Schrift. Dordrecht/Boston/Lancaster 1984. 178 Reichert, Klaus: Zeit ist’s. Die Bibelübersetzung von Franz Rosenzweig und Martin Buber im Kontext. Stuttgart 1993:25. 173 49 diese historische und ‚nationale’ Konstellation schien nun gekommen zu sein: Sie dachten, dass von den deutsch sprechenden Juden eine solche Vermählung der Geister vollzogen werden konnte. Rosenzweig war sich sicher, dass die Übertragung Generationen überdauern würde und sein primäres Zielpublikum, die Juden, daraus die deutsche Sprache lernen würden.179 Diese Verdeutschung wird heute in jüdischen Kreisen jedoch kaum verwendet. In jüdischen Haushalten steht meistens die Zunz-Übersetzung. Nach der Schoa erinnerte sich das christliche Deutschland an dieses letzte grosse jüdische Geschenk an die deutsche Kultur. Noch heute wird die Buber-Rosenzweig-Verdeutschung vor allem in gebildeten christlichen Kreisen geschätzt.180 Dass Weil aus dieser Verdeutschung zitiert, zeigt, an welches Publikum sie sich mit ihrem Werk primär wenden möchte. Gleichzeitig erinnert sie damit an die untergegangene deutsch-jüdische Kultur. Als eines der letzten überlebenden ‚Kinder’ dieser Kultur zitiert sie aus einer Übertragung, die ursprünglich auch für sie gedacht war, für sie als assimilierte Jüdin, die nicht mehr Hebräisch beherrschte. Fazit: Indem Weil aus der Buber-Rosenzweig-Verdeutschung zitiert, wendet sie sich an ein gebildetes deutsches Publikum. Sie erinnert damit an die ausgerottete deutsch-jüdische Kultur, deren ‚Kind’ auch sie war. 3.3 Die Hintergründe von Der Brautpreis Nach eigenen Angaben hat Weil erst im Zusammenhang mit diesem Roman „richtig angefangen“ sich „für Jüdisches zu interessieren“.181 Als er erscheint, ist sie 82-jährig. Die Arbeit daran dauerte fünf Jahre. Während dieser Zeit erlitt Weil einen Herzinfarkt, von dem sie sich nur langsam erholte, und ihr Bruder starb.182 Um für ihren Roman zu recherchieren unternahm sie im Frühjahr 1986 erstmals eine Reise nach Israel, vor allem an die Stätten der David-Geschichte. Folgende Gründe hatten sie bis anhin davon abgehalten, dorthin zu reisen: Durch den Zweiten Weltkrieg traumatisiert hatte sie Angst vor den Kriegen in Israel. Auch fürchtete sie sich vor dem Gefühl, selbst in diesem Land nicht dazuzugehören. Ihre Haltung gegenüber dem Staat Israel war zudem kritisch.183 Nach ihrer Reise wusste Rosenzweig, Franz: Die Schrift und Luther 1926:99-101. Ders.: Brief 1078. In: Briefe und Tagebücher. 2. Bd. Rosenzweig, Rachel/Rosenzweig-Scheinmann, Edith (Hg.). Haag 1979:1085, zitiert nach Reichert 1993:26. 180 Vgl. Ben-Chorin, Schalom: Jüdische Bibelübersetzungen in Deutschland. In: Year Book IV. Leo Baeck Institute. London 1959:327. 181 Koelbl 1989:256. In Weils Nachlass in der Münchner Stadtbibliothek befindet sich noch das unveröffentlichte Manuskript Abraham. Bathseba (u.a.). Zum Essay Zur Gestalt des Nathans, in dem Weil sich mit ihrem assimilierten Selbstverständnis als deutsch-jüdische Intellektuelle auseinandersetzt s. Meyer 1996:171-184. 182 Vgl. Hildebrandt 1991:220-222 und LWAL 35. 183 Zum Datum der Israelreise vgl. Exner 1998:106. 1982 verurteilt Weil in einem Interview die israelische Politik gegenüber den Palästinensern, dem Libanon und Südafrika. Vgl. Meyer 1996:193-194. 179 50 Weil definitiv, dass sie nicht in dieses Land gehörte, es blieb ihr fremd. Aber sie empfand „eine tiefe Zärtlichkeit für das Land und seine Bewohner“. Seine Zukunft sah sie pessimistisch: Es seien zu viele Feinde da, und ihr mache jeder Nationalismus, auch der israelische, Angst.184 Fazit: Hintergrund von Der Brautpreis ist Weils Interesse für ihre jüdischen Wurzeln. Die den Schreibprozess verzögernde Krankheit und den Tod des Bruders integriert sie in den Roman. Auch ihre Israel-Erfahrungen schlagen sich im vorliegenden Werk nieder. Hier zeigt sich wiederum die Widersprüchlichkeit von Weils Gefühlen. 3.4 Mögliche Gründe für die Wahl der Romanfiguren Michal und David Der Rückgriff auf eine biblische Gestalt als Deutungsmodell jüdischer Existenz geschieht bei Weil spät. Bei vielen Schicksalsgenossen ist er als direkte Reaktion auf die Erfahrungen im Dritten Reich zu verstehen. Sie versuchten so den Identitätskonflikt zu lösen, der aus dem akkulturierten Selbstverständnis und antisemitischer Fremdzuschreibung entstanden war, um der schwer erträglichen Existenz einen Sinn zu geben.185 Vor allem Hiob wurde eine wichtige Figur in der Literatur Überlebender.186 Als nicht religiös sozialisierte Jüdin kann Weil nicht auf diese Figur zurückgreifen.187 Dass sie eine biblische Frauen- und nicht eine biblische Männerfigur als Spiegel wählt, lässt sich mit der Entstehungszeit des Romans erklären, als Frauen sich mit Frauen identifizieren wollten, um sich selber besser verstehen zu lernen. Damit ist aber nicht erklärt, warum Weil die Figur Michal wählt. Mit einer David-Erzählung kann Weil auf ein noch breiteres Publikum hoffen. Ein Kontrapunkt zur erfolgreichen androzentrischen David-Literatur ihrer Zeit fehlt bis anhin. Ausserdem kann Weil ihre eigene Biografie an Michal – wie an keiner anderen biblischen Figur – spiegeln. So sagt Weil, sie sei eine ‚schlechte Hasserin’,188 und in ihrem gesamten Werk geht es immer wieder um das Thema Liebe. Das auffälligste Wort in den von Michal in der Bibel überlieferten Passagen ist ‚lieben’.189 Ihr Schicksal kann Weil nicht in der Zeit der Stammmütter wiederfinden. Dazu braucht sie eine ‚politische Zeit’: die Zeit der Staatengründung. Einerseits ist die Figur Michal wie Weil ein Opfer androzentrischer und chauvinistischer Strukturen, anderseits ist sie wie sie eigen- und widerständig. Obwohl MiKoelbl 1989:256. Vgl. DB 225. Vgl. Horch/Shedletzky 1992:293. 186 Z.B. bei Karl Wolfskehl und Margarete Susman. Weiterführende Information zu Hiob in der Literatur s. Oberhänsli-Widmer, Gabrielle: Hiob in jüdischer Antike und Moderne. Neukirchen-Vluyn 2003 und Schrader, Ulrike: Die Gestalt Hiobs in der deutschen Literatur seit der frühen Aufklärung. Frankfurt a.M./New York/Paris 1992. 187 Vgl. dazu Weils Brief an Susman in LWAL 250-255. 188 Vgl. Koelbl 1989:256 und Giese 1997:221. Weil fühlte sich stark durch folgenden Satz der Figur Antigone angesprochen: „Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da.“ 189 Auch im Hohen Lied ist Liebe wichtig. Aber an Sulamith kann sich Weil nicht spiegeln. Diese Figur hat nicht die Dramatik der Figur Michal. Ich-Michal wird aber ihre Dienerin Sulamith mit dem ‚aschenfarbenen’ Haar lieben. Weil spielt damit auf Celans Todesfuge an. Vgl. S. 52. 184 185 51 chal in der Bibel nur von Männern her definiert ist, ist ihr starker Charakter noch spürbar: Sie wählt ihren Mann selber aus Liebe in einer Zeit, da Gefühle kein Kriterium für Ehen sind und Frauen ihre Gatten nicht selber auswählen können; und sie kritisiert später das ungebührliche Verhalten ihres Ehemannes in einer Zeit, als Frauen nichts zu sagen hatten.190 Indem Weil aus Michals Sicht über David berichtet, kann sie das Verhältnis zwischen Individuum und Geschichte durchleuchten, was einem ihrer weiteren Anliegen entspricht. Für Weils Suche nach den jüdischen Wurzeln ist die David-Figur besonders geeignet, hat sie doch eine sehr grosse Bedeutung für das Judentum und das heutige Israel.191 Dem biblischen David werden viele Psalmen zugeschrieben. Hauptquelle der DavidErzählung ist aber 1Sam 16 - 1Kön 2; 1Chr 11-29. Die Wurzel seines Namens, dwd, bedeutet ‚Geliebter’.192 Er gilt als Repräsentant der Gottesherrschaft, gehorsamer ‚Knecht Gottes’ und gerechter König. Seine Erwählung bezieht sich auch auf seine Nachkommen. Das Haus Hillel leitete sich von einer davidischen Nebenlinie ab, während die Institution des Exilarchen in Babylonien sich bis ins 15. Jahrhundert in direkter Linie auf ihn bezog. Davids Aspekte der Thoratreue und des politisch-militärischen Retters wurden Bestandteile der Zukunftserwartung. Der ‚Davidsohn’ erhielt einen festen Platz in der jüdischen Endzeiterwartung. Pflicht dieses ‚gesalbten Königs’ (Messias) ist es, sich der Thora zu unterstellen und ‚die Kriege des Herrn’ zu führen. In orthodoxen Kreisen blieb die traditionelle Eschatologie im 19. Jahrhundert lebendig, verband sich dann mit der Palästinabewegung und im zwanzigsten Jahrhundert mit dem religiösen Zionismus. Bei der Gründung Israels hofften diese Kreise, den Staat Israel durch Regierungsbeteiligung in eine Art messianische Herrschaft verwandeln zu können. Propagandistisch unterstützten die säkularen zionistischen Parteien mit Zitaten biblischer Verheissung diese Idee. Nach dem Sechs-Tage-Krieg (1967) wurden Zionismus und Judentum gleichgesetzt. Mit den besetzten Gebieten schien die Vision eines ‚ganzen Landes Israel’ in Erfüllung gegangen zu sein, und es kam und kommt – gefördert durch die israelische Regierung – deshalb zu völkerrechtswidrigen ‚Besiedlungen’ durch fundamentalistische und rechtsextreme Kreise, die auch von fundamentalistischen Christen unterstützt werden, die so ihrerseits das Kommen ‚ihres Messias’ her- Hier gehe ich von den Samuelbüchern aus, welche die Sitten der Zeit, in der Michal lebte, so darstellten. Wie die Wirklichkeit ausgesehen haben könnte, s. z.B. Exum 1993:42-60 und Weiler 1989:195,207. 191 Weils Grossvater hatte ein Buch über David geschrieben. Vgl. LWAL 9. Vielleicht wollte sich Weil, der Familientradition folgend, aber aus weiblicher und nicht-religiöser Sicht, mit dieser Figur auseinandersetzen. 192 Für eine Zusammenfassung der David-Erzählung, Quellen und eine historisch-kritische Interpretation s. z.B. Halpern, Baruch: David. In the Bible. In: Encyclopaedia Judaica, 2nd edition, Vol 5. Skolnik, Fred/Berenbaum, Michael (Hg.) 2007: 444-451, hier 446. 190 52 beizwingen wollen. In Israel gilt David als Nationalheld. Die israelische Flagge zeigt den Davidstern, und Jerusalem, die Stadt Davids, wird als Hauptstadt beansprucht.193 Die in der Bibel facettenreich dargestellte Figur David eignet sich zudem geradezu für eine literarische Bearbeitung.194 Gemäss Eckstein liegt die Bedeutung der David-Erzählung in der durch die Struktur entwickelten Ambiguität. Dieser Text verweigert sich einer Festlegung auf eine eindeutige Aussage. Er verlangt von der Leserin, sich der Möglichkeit verschiedener, gleichberechtigter Lesarten zu stellen. Ambiguität und die aus diesem Verfahren resultierende Autoreferentialität des Textes sind zudem Eigenschaften, die in moderner Poetik als ausdrückliches Ziel des Werks angestrebt werden. 195 Fazit: Als nicht religiös sozialisierte Jüdin sucht Weil eine andere biblische Figur als ihre Leidensgenossen, an der sie ihr Schicksal spiegeln will. Die Figur Michal ist nicht nur wegen ihrer Liebesfähigkeit, ihrer Eigen- und Widerständigkeit und ihrer Tragik, sondern auch wegen ihres Gatten, David, von Interesse. Dieser hat eine grosse Bedeutung für das Judentum und das heutige Israel. Die Wahl der David-Erzählung weist darauf hin, dass es Weil um eine Auseinandersetzung mit der Zeit der Staatengründung geht. Zudem inspiriert die David-Erzählung von ihrer Struktur her zu einer literarischen Bearbeitung. 3.5 Die Bedeutung der Wahl der Protagonistin Michal Biblische Literatur wurde von androzentrisch denkenden Autoren und Autorinnen für eine androzentrische Gesellschaft produziert. Die darin vorkommenden marginalisierten Frauen sind dabei androzentrische Konstrukte, die nicht nur in der biblischen Literatur, sondern auch in der Auslegung marginalisiert werden. Dies ist auch im Fall der Figur Michal passiert. Gendergerecht denkende Exegetinnen – christliche und jüdische – suchen heute nach weiblichen Stimmen, die von ‚literarischen Mördern’ in Texten noch nicht vollends zum Schweigen gebracht worden sind. Weil ist eine Vorreiterin: Sie liest im deutschen und englischen Sprachraum die David-Erzählung als Erste aus der Perspektive der Figur Michal, die in der Bibel nur noch einen minimalen Teil einer zusammenhängenden Erzählung ihres Vaters, Gatten und Bruders einnimmt.196 David ‚lebt’ bei ihr nur durch sie. Erst Vgl. Maier, Johann: Judentum, Glauben, von A bis Z. Geschichte, Kultur. Freiburg i.B. 2001:99-101,130-131,286. Weiterführende Information zur allg. Interpretation der Figur David im Ersten Testament und zur Rezeption im Judentum im Besonderen s. z.B. die Artikel verschiedener Verfasser in Dietrich 2003:3-282. 194 S. z.B. dramatische Bearbeitungen vor DB: Gide, André: Saül (1889); Lawrence, David Herbert: David, a play (1926); Jahnn, Hans Henny: Spur des dunklen Engels (1952). Weiterführende Information: Fontain, Raymond-Jean/Wojcik, Jan (Hg.): The David Myth in Western Literature. Indiana 1980. Die Faszination des Stoffes hält unvermindert an: s. z.B. Lindgren, Tony: Bat Seba. Stockholm 1984 (deutsch: 1987); Horie, Hildegard: David. Der Geliebte (1993); Gauger, Hans-Martin: Davids Aufstieg (1993); Massie, Allan: King David (1995); McKenzie, Steven L.: King David. A Biography (2002). Zu früheren David-Romanen s. S. 82-83. 195 Vgl. Eckstein, Pia: König David. Eine strukturelle Analyse des Textes aus der Hebräischen Bibel und seine Wiederaufnahme im Roman des 20. Jahrhunderts. Bielefeld 2000:385-386,389. Eckstein bespricht DB in ihrer Analyse nicht. 196 Vgl. ‚Michalwerke’ nach DB: Edghill, India: Queenmaker: A Novel of King Davids Queen (1999); Brandes, Yochi: Melachim Gimel (2008); Smith, Jill Eileen: Michal. A Novel. The Wives of King David I (2009). Zu hebr. Werken 193 53 nach Weil beschäftigen sich Exegetinnen ausführlich mit dieser Figur.197 Indem Weil als Schriftstellerin und nicht als Theologin einer weiblichen biblischen Randfigur eine Stimme verleiht, erreicht sie ein grösseres Publikum und sensibilisiert so auf ihre Weise Frauen. Sie zeigt auf, dass gewisse Frauenerfahrungen in androzentrischen Machtgefügen über die Jahrtausende immer wieder vorkommen.198 Fazit: Weil hat eine Vorreiterrolle: Als Erste beschäftigt sie sich intensiv mit der Tragik der biblischen Figur Michal und stellt David aus deren Sicht dar. 3.6 Analyse und Deutung von Der Brautpreis 3.6.1 Ein autobiografischer Roman Formal sind in Der Brautpreis verschiedene Erzählebenen mit unterschiedlichen Handlungssträngen auszumachen. Diese lassen sich zum Teil autobiografischem, zum Teil fiktionalem Schreiben zuweisen: Mittels Ich-Grete berichtet Weil über ihre traumatisierende Verfolgungszeit im Dritten Reich, mittels Ich-Michal erzählt sie die Geschichte von König David aus dem Blickwinkel von Sauls Tochter. Obschon Ich-Grete klar Weils Alter-Ego darstellt, das aber auch Fiktives beinhaltet, spiegelt sich Weil auch in Ich-Michal. Denn die fiktionalen Textstücke von Ich-Michal sind nicht nur unter ästhetischen Gesichtspunkten eingefügt worden. Ich-Grete strebt durch die Auseinandersetzung mit dieser fiktiven Figur Aufschluss über ihre eigene Person an. Ich-Michal ist ihr Vehikel zur Selbsterkenntnis. Somit haben auch die fiktionalen Ich-Michal-Teile Auswirkung auf die autobiografische Prägung des Romans. Aufgrund biografischer Übereinstimmungen nicht nur zwischen IchGrete und Weil, sondern auch zwischen Ich-Michal und Weil können fiktionale Elemente von Ich-Michal in Bezug zur Autorin gesetzt werden.199 Wie ich im Folgenden ausführlich aufzeigen werde, weist Ich-Michal folgende Parallelen zu Weil auf:200 • Sie ist eine sehr alte, einsame, jüdische Frau.201 • Sie erzählt aus ihrem früheren Leben. Dauernd fühlt sie sich von Schatten vergangener Zeiten bedroht.202 vor DB s. Clines, David J.A.: Michal Observed: An Introduction to Reading Her Story. In: ders./Eskenazi, Tamara C. (Ed.): Telling Queen Michals Story. An Experiment in Comparative Interpretation. Sheffield 1991:157-174. 197 S. z.B. Exum 1993:42-60. 198 Eckstein (2000:385-386) ist der Meinung, dass theologische und exegetische Untersuchungen bei Rezipientinnen oft ein Gefühl des Unbefriedigtseins hinterlassen, weil sie nicht den Text erarbeiten, sondern sich über den Text mit ihren Fragen auseinander setzen. 199 Den fiktionalen Passagen von Ich-Michal wird dadurch manchmal der Eigenwert genommen. Vgl. Giese 1997:155-157. 200 Diese Parallelen gelten nur z.T. für Ich-Grete: Diese betätigt sich nirgends subversiv und hat keine ‚Mutter-Beziehung’ zum Kind ihres Mannes. Zu Weils subversiven Tätigkeiten s. S. 16-17,27 und LWAL 166169,173-174, Meyer 1996:22, Exner 1998:72. Zu Walter Jockischs Tochter s. Anm. 209. 201 Weil bezeichnet Ich-Michal nicht als Israelitin sondern als Jüdin (vgl. z.B. 169). 54 • Sie hat eine inzestuöse Liebesbeziehung zu ihrem älteren Bruder, der vor ihr stirbt.203 • Sie ist in für die Nachwelt prägende Geschichte involviert und erlebt Wahnsinn, Verrat, Krieg, Mord und Totschlag in ihrer nächsten Umgebung. Sie kann nicht aus ihrem Schicksal ausbrechen, macht sich am Tod anderer mitschuldig und überlebt barbarische Zeiten mit brutalen Herrschern und deren Anhängerschaft.204 • Sie hat nicht heldenhaft wie Antigone ‚Nein’ gesagt und sich mit gewalttätigen Herrschern bis zu einem gewissen Grad arrangiert. Trotzdem bringt sie sich durch subversive Tätigkeiten in Gefahr.205 • Sie folgt nicht dem ‚Mainstream’ und hat eine klare eigene (feministisch und pazifistisch geprägte) Meinung. Sie hört nicht auf, diese zu äussern, auch wenn niemand zuhören will.206 • Sie fühlt sich ihrem ‚Stamm’, den Israeliten/Juden gegenüber, nicht innig verbunden, versucht sich aber trotzdem für dessen Angehörige einzusetzen.207 • Sie muss fliehen, hat Identitätsprobleme und keine wirkliche Heimat.208 • Sie heiratet zwei Mal, bleibt kinderlos, hat aber eine ‚Mutter’-Beziehung zum Kind ihres Gatten.209 Lange Zeit muss sie ohne ihre Ehemänner leben.210 Zu Weil, für die es nur ‚Spätfolgen’ gibt, s. Und Ich? Zeugin des Schmerzes. In: SF 98-106. Zu Ich-Michal s. S. 80. 203 Zu Weil s. S. 9 und LWAL 31-35, zu Ich-Michal s. S. 65 und DB 15,94-95. 204 Zu Weils Unterstützung der Nazis durch ihre Arbeit im Jüdischen Rat s. Anm. 50. Zu Ich-Michals Unterstützung des Volksverführers David durch Heirat, Fluchthilfe und Rückkehr an seinen Hof (als Repräsentantin des Saulidischen Königshauses) s. S. 66,69 und DB 25,48-49,99-102,119. 205 Zu Weils subversiven Tätigkeiten im Jüdischen Rat und im holländischen Widerstand, mit welchen sie sich in Gefahr bringt s. S. 16-17 und LWAL 166-169,173-174, Meyer 1996:22, Exner 1998:72. Zu IchMichals gefährlichen subversiven Tätigkeiten s. S. 69 und DB 57-58. 206 Zu Weils Leben als emanzipierte Frau (ohne sich als solche zu bezeichnen), ihrer ‚wilden Ehe’ mit Edgar Weil in Paris, ihrer späten Heirat mit Walter Jockisch, ihrem Leben ohne Familie und Kinder, ihrer Haltung Religion und Politik gegenüber, ihrer Rückkehr nach Deutschland, mit der sie den Nazis, die sie umbringen wollten, die Stirn bietet, ihrer Beanspruchung dieses Landes und seiner Sprache, in der sie immer wieder von dem Erlebten berichtet, auch wenn sie lange eine Art Selbstgespräch führt s. S. 7,10-12,18-21. Zu IchMichals emanzipiertem Bewusstsein und den Freiheiten, die sie sich herausnimmt: ihrer verbotenen Liebe zu ihrem Bruder, ihrer verbotenen vorehelichen sexuellen Beziehung zu David, ihren Zweifeln am androzentrischen Konstrukt Jahwe, ihrer Verurteilung des Missbrauchs dieses Gottes zur Legitimisierung von Macht und Gewalt, ihrer Meinung über das Volk, ihren Meinungsäusserungen dem nicht zuhörenden David gegenüber s. S. 65-72 und z.B. DB 15,25,34,43-44,98,174,192. 207 Zu Weils Versuchen, Juden zu helfen, obwohl sie sich in der ‚jüdischen Zwangsgemeinschaft’ fremd fühlt s. S. 16-17 und Anm. 200. Zu Ich-Michals Gefühl der Fremdheit ihrer Herkunftsfamilie gegenüber und ihrem Einsatz für Merabs Söhne s. z.B. DB 15,17-18,38,54,95,147-148 und vgl. S. 72,76-79. 208 Zu Weils Flucht nach Holland, nachdem sie von den Deutschen zu einer zur Vernichtung bestimmten Jüdin gemacht worden ist, ihrem Gefühl der Fremdheit im Exil, ihren Identitätsproblemen nach dem Dritten Reich, ihrem Misstrauen den Deutschen gegenüber s. S. 13-14,17-18,21-25. Zu Ich-Michals Gefühl der Fremdheit in Machanaim nach der Flucht vor dem mit den Philistern verbündeten David und ihrem SichUnwohl-Fühlen in Salomos Palast s. z.B. DB 13,98 und vgl. S. 72. 209 Walter Jockisch heiratet in erster Ehe eine Frau, damit deren Kind, das sie von einem Ausländer erwartet, ‚arisch’ eingestuft wird. Zu Weils Mutter-Beziehung ‚seiner’ Tochter Michele gegenüber s. LWAL 118-123. Zu Ich-Michals ‚Mutter’-Beziehung zu Davids Sohn Absalom s. DB 161-162 und S. 79-80. 202 55 • Sie erleidet den sozialen Tod.211 Fazit: Trotz der formalen Ausgestaltung des Textes als Roman mit eindeutig fiktionalen Passagen können diese zum Teil auch als autobiografische Textstücke gelesen und interpretiert werden. Denn fiktionale Handlungsstränge sind zur Verdeutlichung der authentischen Aussagen eingefügt und potenzieren die autobiografische Prägung des Werks. 3.6.2 Der Titel Der Titel bezieht auf den Preis, hundert Philister-Vorhäute, den David Saul für die Vermählung mit Michal bezahlen muss und den er freiwillig verdoppelt. Er ist ein erster Hinweis auf die im Roman thematisierte weibliche Geschichtserfahrung: Frauen sind Tauschobjekte, ,Handelsware der Männer’ und ‚Werkzeug der Politik’ (36,103). Mit dem Brautpreis verändert sich Ich-Michals Leben grundlegend: David erwirbt sie rechtlich von ihrem Vater, eine Handlung, die ihm seine Karriere zum König ermöglicht. Der schreckliche Brautpreis hat für sie eine Traumatisierung und Kinderlosigkeit zur Folge (39-44,47). Er markiert einen seelischen Bruch, der sich durch ihr ganzes Leben ziehen wird. Die Beziehung zu David wird danach ambivalent bleiben: Einerseits sehnt sie sich nach seiner ‚kulturellen Seite’, seiner Musik und Dichtung, anderseits stösst sie seine machtpolitische Seite ab. Wie ich im Folgenden noch ausführlich aufzeigen werde, ist dieser Titel mehrdeutig: Er spielt auch auf Ich-Grete, respektive auf Weil und die assimilierten Juden generell an: auf ihre ‚Vermählung’ mit den Deutschen. Der Brautpreis für die Verbindung mit den Deutschen war für die assimilierungswilligen Juden zu hoch. Im Unterschied zur DavidErzählung besteht der Brautpreis der assimilierten Juden nicht in der Ermordung von Angehörigen eines anderen Volkes, sondern in ihrer Ausrottung durch die Deutschen. 212 Fazit: Der Titel bezieht sich sowohl auf die traumatisierende Erfahrung von Ich-Michal durch ihren geliebten David als auch auf diejenige von Ich-Grete, respektive diejenige von Weil und anderen assimilierten Juden, durch ihre geliebte Heimat Deutschland. 3.6.3 Stil, Leitworte, Wortfelder, Anspielungen, Zitate Weils Schreibstil ist durch kurze, zum Teil unvollständige Sätze gekennzeichnet.213 Die Autorin gebraucht meist eine nüchterne Alltags-, seltener eine poetische Sprache. Nach Zu Weils erstem Mann, der umgebracht wird und ihrem zweiten, der 1970 an Leukämie stirbt s. S. 15,21. Zu Ich-Michals erstem Mann, der beinahe umgebracht worden wäre und ihrem zweiten, der ihr weggenommen wird und zum Tod beider s. DB 48-49,99-102,118,235. 211 Zu Weils sozialem Tod in Deutschland ab 1933, ihren durch das Dritte Reich verursachten Identitätsproblemen, ihrem Totgeschwiegenwerden durch die Deutschen bis 1980 und von der Judaistik bis heute s. S. 21-25,39-41,85-89. Zu Ich-Michals sozialem Sterben, das mit ihrer Liebe zu David beginnt s. S. 66-67,72. 212 Weil spielt auch mit ihren Zitaten aus der Buber-Rosenzweig-Verdeutschung auf die jüdische Vision der Vermählung des jüdischen und deutschen Geistes an, die brutal zerschlagen wurde. Vgl. Rosenzweig 1926:99-101. 213 Vgl. S. 29. 210 56 Stellen in empfindsamer Sprache kommt es zu Brüchen.214 Auffällig sind die vielen Fragen, die Ich-Grete und Ich-Michal an sich selber richten. Wenn Ich-Grete kurz und sachlich von der Ermordung ihres Ehemannes berichtet, erinnert der Stil an die neutrale Berichterstattung heutiger Medien über Gräuel unter der Rubrik In Kürze. Nichts lässt die Schrecken der Nazi-Zeit erahnen. Geschickt stellt Weil Rapport mit den Deutschen her, welche seit einigen Jahren vermehrt Berichte über das Dritte Reich aus dem Fernsehen kennen.215 Die Leserin erstarrt bei Ich-Gretes Nacherzählung der Schilderung einer Mutter über Mengeles unmenschlichen Versuch: Er wollte herausfinden, wie lange es dauert, bis ihr Säugling verdurstet (164). In Der Brautpreis treten folgende Leitworte und in deren Zusammenhang folgende Wörter gehäuft auf: Leitworte/Wortfeld Liebe / Hass Schönheit / Hässlichkeit Leben / Tod Krieg / Friede Jahwe / Mensch jüdisch / deutsch Schmerz Angst Alter Musik Traum lieben, lieb, Liebhaber, (Herz) / hassen schön / hässlich leben, überleben, weiterleben, Lebender, Lebenswillen / tot, Tote, Todschlag, töten, totschlagen, sterben, Leben nehmen, umbringen, erdolchen, vergiften, erschlagen, steinigen, zerschmettern, erschiessen, auslöschen, fallen, Brudermord, Mörder, ermorden, vernichten, niedermetzeln Krieger, Held, Feind, kämpfen, verwüsten, Sieger, siegen, Überlebende, Schrecken, Gräuel, Grauen, Sühne, Blut, Rache, Verfolgung, verfolgen, Flucht, fliehen, weglaufen / friedlich, Schalom Gott / Bruder, Schwester, Sohn, Kind Jude, Jüdin, Jiddin, jiddisch, Judesein, fremd / Deutsch, Deutsche, Deutscher, Deutschland schmerzen, quälen, trauern, Trauer, traurig, weinen, leiden, Leiden, erstarren Gefahr, fürchten alt, krank, Krankheit, nicht vergessen Lied, singen, Klang, Harfe, Flöte, hören träumen, Sehnsucht, Wunsch, wünschen Dies ist z. B. nach der Beschreibung der Liebesnacht (25), des Wiedersehens mit David (114), wie auch bei einer Naturbeschreibung (105-106) der Fall. 215 Rapport ist ursprünglich ein Begriff aus der Hypnose. Rapport ist hergestellt, wenn der Patient das Gefühl hat, von der Therapeutin verstanden zu werden. Heute wird darunter ein für die Kommunikation förderlicher Kontakt zwischen Sender und Empfänger einer Botschaft verstanden. Weiterführende Information s. Ötsch, Walter/Stahl, Thies: Das Wörterbuch des NLP. Das NLP-Enzyklopädie-Projekt. Paderborn 1997:161. Die Leserschaft kennt z.B. Shoah (1985), den vierteiligen Dokumentarfilm des Regisseurs Claude Lanzmann, in welchem Zeitzeugen über die KZs befragt werden. Der Film enthält Aufnahmen von Treblinka, Auschwitz, Chelmo und Warschau aus den Jahren 1974-1985, jedoch kein Archivmaterial. Lanzmann fragt akribisch nach und filmt auch, wenn Zeugen die Fassung verlieren. Neben Opfern lässt er auch Täter zu Wort kommen. Das Anliegen des umstrittenen Films ist es, ein Gefühl der unmittelbaren Teilnahme hervorzurufen. Der Bayrische Rundfunk sorgte – wie schon bei der Fernsehserie Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss (Regie Chomsky 1978) – für eine Ausstrahlung im Dritten Programm, die in Bayern verspätet und zu einem ungünstigen Sendetermin erfolgte. Weiterführende Information: Lanzmann, Claude: Shoah. Düsseldorf 1986. 214 57 Der Roman weist folgende Anspielungen auf: von Platens Tristan (8),216 Paul Celans Todesfuge (56),217 Thomas Manns Josephsroman (187),218 Erika Manns Briefe (143), Musils Isis und Osiris (141),219 Haseks Der brave Soldat Schwejk (142), Lessings Nathan der Weise und Shakespeares Der Kaufmann von Venedig (182-184).220 Weil gibt an, dass ihre Bibelzitate aus der Buber-Rosenzweig-Verdeutschung stammen.221 Sie verwendet aber, selbst bei Zitaten aus dieser Übertragung, meist die christlichdeutsche, respektive die in der Wissenschaft übliche Schreibweise von Namen und Begriffen.222 Es wäre jedoch voreilig, daraus zu schliessen, dass sie dies nur tut, weil sie assimiliert ist oder damit nur Rapport zu den deutschen christlichen Leserinnen aufbauen will. Mit wenigen hebraisierenden Schreibweisen wie Yerushalayim oder Scheol (91) setzt Weil den Ich-Michal- vom Ich-Grete-Teil ab und positioniert damit Erstere im Alten Israel. IchGrete lässt sie von Jerusalem berichten (222). Auffällig ist, dass Weil – ohne zu zitieren – wie Buber-Rosenzweig zum Beispiel von ‚Weltzeit’ spricht (115). Damit grenzt sie sich von der christlichen Phänomenologie der Ewigkeit ab.223 Entgegen Weils Aussage stammt nur ein Teil ihrer Zitate aus der Buber-RosenzweigVerdeutschung. Bei der Übernahme von direkten Reden richtet sie sich meist nicht danach,224 sondern scheint eine Reihe anderer Übersetzungen verwendet und kombiniert zu haben. Nur im achtzehnten Kapitel (198-218) kommen bei zitierten direkten Reden vermehrt vereinzelte Ausdrücke aus der Buber-Rosenzweig-Verdeutschung vor.225 Nur folgende Psalmen, Elegien und Teile direkter Reden stammen aus dieser Übertragung: Vgl. S. 21, Anm. 59, S. 54-55. Vgl. S. 45, Anm. 189. 218 Vgl. S. 21, Anm. 59, S. 61-62, Anm. 238-239. 219 Vgl. S. 9 und Anm. 32. 220 Vgl. S. 63-65. 221 Erste Teile der Verdeutschung erschienen 1925, der vollständige Text kam ab 1954 heraus. Zur Entstehungsgeschichte s. Buber, Martin/Rosenzweig, Franz: Die Schrift und ihre Verdeutschung. Berlin 1936. Weil verwendet nur die Bücher der Geschichte und Die Schriftwerke. An welche Ausgabe sie sich hält, gibt sie nicht an. Für meine Analyse arbeite ich mit Buber, Martin/Rosenzweig, Franz: Bücher der Geschichte. Heidelberg, 8. Auflage der neu bearbeiteten Ausgabe von 1955, 1985 und Buber, Martin: Die Schriftwerke. Heidelberg, 6. Auflage der neu bearbeiteten Ausgabe von 1962, 1986. 222 S. z.B. die Namen der Figuren. Das Tetragramm JHWH, welches im Judentum nicht ausgesprochen werden darf und z.B. mit Adonaj (Herr) oder HaSchem (Der Name) umschrieben wird – Buber-Rosenzweig verwenden dafür ER – schreibt Weil wie schon der jüdische Heym ,christlich’ als Jahwe aus. Heym, Stefan: Der König David Bericht. München 1972. In der Wissenschaft werden von jüdischer Seite meist ‚christliche Begriffe’ verwendet, da sie Allgemeingut sind. 223 Vgl. S. 86-87. Vgl. Meyer 1996: 281. 224 Die direkten Reden von 1Sam 18,18 (35) und 1Sam 19,17 (58) stammen z.B. klar nicht aus der BuberRosenzweig-Verdeutschung. 225 S. z.B. Davids Rede an seine Krieger im Kampf gegen Absalom aus 2Sam 18,4 (212); der Bericht über Absaloms Tod aus 2Sam 18,31 (215); Joabs Rede an den verzweifelten David aus 2Sam 19,7 (218). 216 217 58 Seite Zitat aus .../ Art des Zitats 22 22-23 42,202 Ps 24,7 Ps 24,10 Rut 1,16-17a Treuschwur 46 1Sam 18,7 (1Sam 29,5) Lobgesang auf David 2Sam 1,26 Elegie für Jonathan Ps 1,1-6 90 113 (Mitte) 121 2Sam 3,31.33.35.3839 Elegie für Abner 203 2Sam 15,21-22 Dir. Rede Ittaj/David 203 2Sam 15,34 Dir. Rede: Davids Auftrag für Cuschajs Rede an Absalom 2Sam 16,7 Schimis Schimpfen über David 2Sam 19,1 Elegie für den toten Absalom 207 215 Veränderungen (Generell gilt: Weil übernimmt keine Ausrufezeichen, es sei denn es handle sich klar um einen Ausruf. Bei direkten Reden verändert sie die Anrede und passt sie ihrem Prosafluss an.)226 Keine Kolen Keine Kolen Rut 1,16:,drängen’ statt ‚dringen’ (42) ‚dich zu verlassen’ fehlt (202) ‚Vom Dir-Folgen’ statt ‚vom Dir-folgen’ ‚will auch ich gehn’ statt ‚will ich gehn’ (42) ‚Denn wohin du gehst, will ich gehen, und wo du nachtest, will ich nachten dir gesellt. Dein Volk ist mein Volk und dein Gott ist mein Gott’ fehlt (202) Keine Kolen (keine neue Zeile und keine Gedankenstriche) ‚Gefreundet’ Grossschreibung Ps 1,1 ,Weg der Sünde’ anstatt ‚Weg der Sünder’ Ps 1,2 ‚über Seiner Weisung’ anstatt ‚seiner Weisung’ Ps 1,3 Komma fehlt nach ‚wie ein Baum’ 2Sam 3,33 Kein Komma nach Abner 2Sam 3,35 ‚Wenn’ Grossschreibung, ‚irgend etwas’ statt ‚irgendwas’ 2Sam 3,39 Keine Kola (Kein Gedankenstrich und keine neue Zeile) nach ‚Zerujasöhne’ Diese Verse, z.T. nur halb zitiert, wurden zu einer zusammenhängenden ‚Elegie für Abner’ zusammengeführt. Keine Kolen 15,21 ‚So wahr’ anstatt ‚sowahr’ ‚Herr und König’ anstatt ‚Herr König’ Interjektion ‚ja’ weggelassen ‚an dem Ort, an dem er sein wird’ anstatt ‚an dem Ort, wo mein Herr König sein wird’ ‚sein Diener’ statt ‚dein Diener’ Keine Kolen 15,34 ‚ich war’s viele Jahre’ statt ‚ich wars von je’ Keine Kolen Nur ein Mal ‚zieh ab’ ‚wäre ich doch statt deiner gestorben’ statt ‚dass ich selber statt deiner gestorben wäre’ Die aufgeführten Veränderungen lassen sich nicht dadurch erklären, dass Weil mit früheren BuberRosenzweig Ausgaben gearbeitet hat. Möglicherweise beabsichtigte sie diese bewusst. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass sie sich durch Lektorat, Korrektorat und durch die für den Druck Verantwortlichen (Grossschreibung nach Zeilenumbruch) eingeschlichen haben. Es zeigt sich leider generell, dass der Verlag wenig Wert auf Rechtschreibung und einheitliche Schreibweise legt. Zur fehlerhaften Rechtschreibung s. z.B.: Heute nacht (159), der Ihrige (Mensch) (184); zu einer uneinheitlichen Schreibweise s. z.B.: Scheol (91,160). 226 59 Im achtzehnten Kapitel (198-218) kommt es zu einem Bruch in Weils Stil: Die weiterhin in zeitgenössischem Deutsch verfassten Frauendialoge (204) kontrastieren mit einem zum Teil äusserst schwerfälligen, antiquierten Redestil der Männer. Der Lesefluss wird dadurch gehemmt, das Verständnis des Textes erschwert. Dieses Kapitel weist eindeutig auf eine Überforderung der Autorin mit der biblischen Vorlage hin, die Bibeldeutsch nicht mehr als bewusstes Stilmittel einsetzt. Ich erwarte von einem Lektorat und/oder Korrektorat, dass es hier eingreifen würde. Fazit: Weils Schreibstil ist durch kurze Sätze und viele unbeantwortete Fragen gekennzeichnet. Entgegen ihrer Aussage stammt nur ein Teil ihrer Zitate aus der BuberRosenzweig-Verdeutschung. Der Gebrauch von Namen und Begriffen aus dieser Übertragung oder aus christlich geprägtem Umgangswortschatz ist einerseits Stilmittel, anderseits Abgrenzungsmöglichkeit gegenüber gewissen religiösen Vorstellungen. Einige Stellen zeigen die Überforderung der Autorin, Bibeldeutsch in zeitgenössisches Deutsch zu übertragen. Die Leitworte stehen im Zusammenhang mit Weils Hauptthemen.227 3.6.4 Inhalt, Bau, Orte der Handlung, Zeitebenen, Bibelbezüge, Änderungen Der Brautpreis besteht aus alternierenden Kapiteln, in denen die alte Ich-Grete und die alte Ich-Michal assoziativ in Jahrtausende überspringender, monologartiger Wechselrede über ihr gegenwärtiges und früheres Leben berichten. Der zweistimmige Roman, in Vergangenheits- und Gegenwartsformen geschrieben, spielt auf mehreren Zeitebenen, umfasst 21 unnummerierte Kapitel ohne Überschriften und hat rund 230 Seiten. Acht Kapitel, welche rund 48 Seiten umfassen, also ungefähr 21 Prozent des Romans ausmachen,228 sind aus der Sicht von Ich-Grete geschrieben, der Rest aus der Sicht von Ich-Michal. Das erste und das letzte Kapitel aus der Sicht von Ich-Grete rahmen den Roman: Im ersten Kapitel erinnert sie sich an die Zeit, als sie noch sehr jung war, im letzen Kapitel ist sie mir ihrer Erzählung in der Jetzt-Zeit angelangt und sehr alt. In beiden Kapiteln setzt sie sich mit Bildkunst auseinander: Mit der Darstellung des David von Michelangelo und Rembrandt. Im ersten Satz des Romans weist die junge jüdische Protagonistin auf ihre christlichen Namen hin.229 Sie empfindet ihr Deutsch- und Jüdischsein als Bereicherung: Begabung komme da oft heraus. Sie weiss aber kaum etwas vom Judentum, Bayern ist ihre Heimat, Antijudaismus will sie nicht wahrhaben. Zunächst bewundert sie Michelangelos schönen, heldenhaften David, den sie vor allem als Florentiner wahrnimmt, obwohl sie sich auch immer wieder stolz daran erinnert, dass er Jude gewesen war. Vielleicht ahnt sie Vgl. S. 60. Die Ich-Michal-Passagen umfassen also nicht rund zwei Drittel – wie dies Meyer (1997:279) berechnet hat – sondern fast vier Fünftel des Textes. 229 Nomen ist Omen: Ihr Name ist mit demjenigen von Goethes Protagonistin in Faust identisch. Zu Weils Namensgebung vgl. LWAL 40, resp. S. 9-10. 227 228 60 schon, wie ihre Liebe zur deutschen Kultur ausgehen wird, als sie neben seine Darstellung, von Platen zitierend, „Wer die Schönheit angeschaut mit Augen ist dem Tode schon anheimgegeben“ schreibt (8). Nachdem sie Rembrandts Bild mit dem kleinen hässlichen Judenjungen David, der vor Saul spielt, kennen gelernt hat, ist sie unschlüssig, welche Darstellung, die ‚zwei Pole des Menschseins’ zeigen, besser in ihre Welt passt. Sie hängt beide in ihrem Zimmer auf. Aufgrund der verschiedenen Darstellungen fragt sie sich, wie der biblische David wirklich gewesen sein könnte, und dies ist der Aufhänger und Rahmen für den Roman (7-12). Im letzten Kapitel zieht die sehr alte Ich-Grete Bilanz: Rembrandts Judenjunge, der Auschwitz nicht überlebt hätte, steht ihr eindeutig näher. Michelangelos David findet sie immer noch schön, aber sein Abbild würde sie nicht mehr an die Wand hängen. Ihre durch die Verfolgung verursachten Traumata haben ihre Sichtweise verändert. Sie identifiziert sich jetzt klar mit dem Judentum, indem sie von ‚unserem Volk’ spricht. Den biblischen David, der ihr durch die intensive Beschäftigung einerseits nahe gekommen, anderseits aber fremd geblieben ist, nimmt sie als ihren Ahnen wahr. Von ihm und ihrer Ahnin Michal trennt sie vor allem ihr Wissen um Auschwitz, das sie bis zum letzten Atemzug quälen wird (236-237). Sie hatte versucht, die David-Erzählung als Deutungsmodell jüdischer Existenz zu nehmen und war damit an Grenzen gestossen: Der Blick in die Geschichte des alten Israel ermöglicht kein Verständnis für Auschwitz. Auschwitz ist und bleibt ein absoluter Zivilisationsbruch, der die ganze Weltgeschichte veränderte. Das erste Kapitel begann mit dem Wort Ich, das letzte endet mit dem Wort Tod. Ich-Grete teilt der Leserin die Ereignisse während der Entstehung ihres Romans mit: Sie erleidet einen Herzinfarkt, kurz darauf einen Schlaganfall, ist in der Folge lange krank (7280,142-143), verliert ihren geliebten Bruder (141), hat als Gesprächspartner nur noch ihren Hund (182-187), schaut sich Filme über die Befreiung von Auschwitz und über Nathan und Shylock an (163-165,182-184) und reist das erste Mal nach Israel (219-225). Die Handlung spielt im Tessin, in Oberbayern (z.B. 72-80) und in Israel (219-225). Aus der Jetzt-Zeit schaut sie zurück. Ihr Erinnerungshorizont umfasst folgende Zeitabschnitte: ihre Kindheit (7-12), ihre Flucht nach Holland, die Ermordung ihres Mannes und ihr Untertauchen (50-52), ihre Rückkehr ins Land der Mörder nach dem Krieg (135-140)230 und ihre Diskriminierungen als Jüdin, aber auch als Deutsche (165-166).231 Im Vergleich zu früheren Romanen sind die Erinnerungen an die Zeit bis 1948 äusserst knapp gehalten: Sie machen rund fünfzehn Seiten, also nur knapp sieben Prozent des Romans aus. Nachdem Ich-Grete 1945 das Wort Jude nicht mehr hören wollte (52), kann sie nach ihrer Rückkehr nach Deutschland, in der Mitte des Romans – nach Kapiteln – erstmals dazu stehen, Jüdin zu sein (135-139). 231 Sie erinnert auch an die bis vor kurzem für Farbige geltenden Diskriminierungen (186). 230 61 Wie in einem Theaterstück tritt die Figur Ich-Michal im zweiten Kapitel, aufgerufen durch die Frage von Ich-Grete, was wohl David alles gewesen sei, auf die Bühne und erzählt aus ihrer Sicht. Ich-Michal lebt als alte Witwe in ständiger Angst vor Bathseba im Palast Salomos in Jerusalem. Obwohl die biblische Michal in 2Sam 6,23 das letzte Mal auftritt, schaut Ich-Michal aus der Zeit nach König Davids Tod (nach 1Kön 2,10) auf ihr Leben zurück. Die Jetztzeit ist Salomos Herrschaft in Zeiten des Friedens (26-27,235) während des Baus des Ersten Tempels und des Königspalastes (127). Sie erzählt manchmal von der Frühgeschichte: von den Israeliten als Nomadenvolk ohne Land, von der Versklavung in Ägypten, vom Auszug und der Landnahme (14,55; v.a. Ex, Jos). Ich-Michals ursprünglicher Wohnort war Gibea. Mit ihrer Herkunftsfamilie musste sie vor David nach Machanaim fliehen. Später wurde sie von ihm nach Hebron geholt und zog dann zusammen mit seinen anderen Frauen mit ihm nach Jerusalem. Sie selber erinnert sich • wie Samuel ihren Vater Saul als König einsetzte und sich die Königsfamilie in der Folge ‚feine Manieren’ zulegte (14,16-17,58; 1Sam 9-10) • wie Saul die Amalekiter ausrottete und Samuel König Agag eigenhändig erschlug, nachdem ihn Saul hatte verschonen wollen (17; 1Sam 15) • wie Saul seinen Verstand verlor und David an den Hof kam (17-20; 1Sam 16,14-23) • an die ‚Legende’ von Davids Sieg über Goliath (28-33; 1Sam 17) • an die Auseinandersetzungen zwischen David und Saul (34-49; 1Sam 18-19) • an Doegs Massaker an der Priesterschaft von Nob, ihrer Frauen und Kinder, wegen deren Unterstützung von David (66-69; 1Sam 22) • an die Schlacht gegen die Philister am Berg Gilboa, in der Saul und Jonathan getötet wurden (88-90; 1Sam 31) • an die Stationen von Davids Aufstieg: an die ‚Legende’ seiner Salbung durch Samuel (45; 1Sam 16,1-13), seine Ernennung zum König über Juda, den Konflikt mit Sauls rechtmässigem Nachfolger Isch-Boschet (88-99; 1Sam 31; 2Sam 1-3), seine Königsherrschaft über alle Stämme Israels nach dessen Tod (122; 2Sam 4,1-5,4), die Eroberung Jerusalems, das politisches und religiöses Zentrum wurde (124-125,130-134; 2Sam 5-6), den Sieg über die Philister (128-129; 2Sam 8,1) • an die Stationen von Davids Niedergang: seinen obszönen Tanz und den Bruch mit ihr (132-134; 2Sam 6,14-23), seine Liebe zu Bathseba und die Tötung von Urija (152-157; 2Sam 11), die Folgen seiner Affäre mit Bathseba (156-159,170-171; 2Sam 12,1-23), die Vergewaltigung Tamars durch Amnon und die Rache Absaloms (175-181; 2Sam 13), Absaloms Rebellion, die Flucht aus Jerusalem und die Entscheidungsschlacht (199-218; 62 2Sam 15,1-19,16), die Ernennung Salomos zum Thronfolger (231-232; 1Kön 1,28-30) und sein Ende (228-230, 1Kön 2,10) Ebenfalls im zweiten Kapitel berichtet sie von ihrem ersten Stelldichein mit David. Er hatte ihr vorgespielt, vorgesungen und sie geliebt.232 Im neunten Kapitel, genau in der Mitte des Romans – nach Seitenzahlen – spielt und singt er ihr nach seiner Rückforderung von Palthi Psalm 1 vor (114).233 Beide sind gerührt und weinen. Gleich danach kommt es zur Peripetie im Schicksal der Protagonistin: Palthi stirbt (118), und es kommt zum Bruch mit David (132-134). Das zweitletzte Kapitel, in dem Ich-Michal das letzte Mal auftritt, berichtet von der letzten Begegnung mit dem greisen David. Er greift nochmals zur Harfe, kann aber nicht mehr singen (233). Es ist, als sei ihm vor lauter Morden und Kriegführen im Namen Jahwes und wegen seiner Gier nach Bathseba das Singen abhanden gekommen.234 Der Vorhang zu seinem Zimmer fällt definitiv hinter Ich-Michal, als Bathseba auftaucht und sie verscheucht. Später trauert Ich-Michal um die Musik, die mit David starb. Im letzten Kapitel nimmt Ich-Grete diesen Vorhang, der hinter Ich-Michal, hinter ihrem Leben und ihrer Liebe gefallen ist, zum Anlass, ebenfalls aus der Geschichte wegzutreten. Am Ende des zehnten Kapitels, in der Mitte des Romans – nach Kapiteln – kommt es zum Streit zwischen David und Ich-Michal, der das Ende der von der Bibel überlieferten Michalerzählung bildet (132-134; 2Sam 6,20-23). Während in der Bibel Michal von diesem Moment an sozial tot ist und totgeschwiegen wird, wird Ich-Michal hier erst zur bewussten Person. Sie weiss, dass ihre Einsicht und ihr Widerstand zu spät kommen, bereut und versucht als eigenständige Person so gut wie möglich ihr Leben weiter zu führen. Nach dem Streit kommt es zur Peripetie im Schicksal Davids: Bathseba tritt auf die Bühne. Dass er kurz zuvor ausgerechnet Psalm 1,1-6 für Ich-Michal sang, ist im Lichte seiner Sünden paradox. Er hat mehr Lust an der skrupellosen Bathseba als an ‚Seiner Weisung’, und für ihn gilt nicht mehr: „der wird so sein wie ein Baum an Wassergräben verpflanzt, der zu seiner Zeit gibt seine Frucht und sein Laub welkt nicht: was alles er tut, es gelingt“ (113; Ps 1,3). ‚Dreitausend Jahre’ (50) trennen die Erlebniswelten der beiden Frauen, deren Bindeglied David darstellt, die aber viele Gemeinsamkeiten haben: ihr Geschlecht, das Erleben von unmenschlicher Gewalt, Mord und Totschlag im allernächsten Umfeld, die Bedrohung ihres Lebens, ihre Machtlosigkeit dieser Gewalt gegenüber, peinigendes Schuldgefühl und Im gleichen Kapitel wird auch die misslungene Hochzeitsnacht beschrieben, wo selbst Davids Flötenspiel nicht mehr hilft (44). 233 Ps 1 wird nicht explizit David zugeschrieben. 234 Vgl. das Sprichwort: Wo man singt, da lass dich ruhig nieder, denn böse Menschen haben keine Lieder. 232 63 gleichzeitig das Nicht-Ausbrechen-Können aus ihrem Schicksal.235 Ich-Michal lebt am Anfang der jüdischen Geschichte in Israel, Ich-Grete hingegen sieht sich am Ende jüdischer Geschichte, und das Land Israel bleibt ihr fremd. Unüberwindbar trennt die beiden vor allem der Zivilisationsbruch des Dritten Reiches: die Kapitulation des aufgeklärthumanistischen Denkens (185,236-237). Der Brautpreis endet mit „Ich, die Spätgeborene, muss mit dem Wissen um Auschwitz mein Leben zu Ende bringen, es wird mich quälen bis zum letzten Atemzug. Wie Michals Leben ist auch mein Leben zu Ende. Es wird nicht mehr viel geschehen, ausser dem einen, über das ich ... nicht mehr berichten kann: der eigene Tod“ (237). Überblick Kap. 1 (7-12) Ich-Grete Erinnerung ab ca. 15-jährig, vor dem Dritten Reich. Rahmen: Michelangelos und Rembrandts David. Junge Ich-Grete bewundert das Bild von Michelangelos David, hängt aber Rembrandts David daneben. Frage: Was war David? Kap. 4 (53-60) Ich-Michal Bezug: 1Sam 19,13-17 Junge Ich-Michal nach Davids Flucht: Überlistet Häscher, Lüge vor Vater. David wird Räuber. Abstecher Vorzeit: Israeliten als Nomadenvolk, in Ägypten, Verheissung, Moses. Landnahme: in Frage gestellt: Warum Vorbewohner ausrotten? Warum sich bei Krieg auf Jahwe berufen? Erfahrung alte Ich-Michal: Alle lieben Menschen tot (56), denkt an Selbstmord, wird von Erinnerungen geplagt (60) Änderung: Ich-Michal wird von Häschern blutig geschlagen. Jonathans Zeichen veranlasst sie zur Lüge von 1Sam 19,17. Kap. 2 (13-49) Ich-Michal Bezug: 1Sam 14,49-19,12; Rückblick auf 1Sam 8-12 (16-17); Abstecher in Vorzeit: Nomaden (14), Jericho (18), Schöpfung (29; Gen 2,22), Ruths Heiratsversprechen (42; Ruth 1,16-17) Erinnerung ab ca.15-jährig. Verrückter Saul. David kommt an Hof, wird Jonathans Liebe. IchMichal verliebt sich in seine Musik (19-21). Kampf gegen Goliath. Brautpreis. Saul stellt David nach. Davids Flucht. Änderung: Ich-Michal liebt Bruder. Liebesnacht mit David vor Heirat. Jonathan und David kämpfen gegen Goliath. Brautpreis hat Kinderlosigkeit zur Folge. Kap. 5 (61-69) Ich-Michal Bezug: 1Sam 21-22;25 Junge Ich-Michal beginnt kritisch zu denken: Was ist Norm? Was die meisten tun? Will nach eigenem Gesetz leben. Erfährt von Antigone. Was ist gut und böse? David ist Gefäss ihrer Liebe. David heiratet Abigail. Er geht zu Priestern von Nob. Saul lässt alle erschlagen. Änderung: Jonathan rettet Abjatar. Abjatar flieht zu Ich-Michal. Sie schickt ihn zu David. Kap. 3 (50-52) Ich-Grete Erinnerung an eigene Flucht. War zur Jüdin gemacht und zur Vernichtung bestimmt worden. Ermordung ihres Mannes. Überleben: einzige Form des Widerstands. Wichtigkeit von Antigone, Unwichtigkeit von David. Erinnerung an letzte Kriegsmonate. Nach Krieg: will nach Deutschland zurückkehren. Kap. 6 (70-80) Ich-Grete Sehr alte Ich-Grete über JudeSein: Wort Jude wird zum Bekennerzwang wegen Verfolgung und Ermordung ihres Mannes. Jude-Sein kann ohne Gottesglauben nicht mit Inhalt gefüllt werden (70) Hund Shagi (nach Abishag) hat Bewegungsfreiheit. Sie ist durch Herzinfarkt und Schlaganfall eingeschränkt. Fühlt sich im Spital Locarno ausgeliefert und gefoltert. Sagt im Koma: „Ich habe Auschwitz.“ Fühlt sich erst in bayrischem Spital daheim. Nachher hat sie Depressionen. Fragt sich, warum sie krank geworden ist (72-80). Nach Meyer (1996:293) ist Ich-Michals Geschichte diejenige eines misslingenden Lebensversuches, das eigene Gesetz zu verwirklichen, und Ich-Gretes Geschichte diejenige eines geglückten Überlebensversuches. 235 64 Kap. 7 (81-93) Ich-Michal Bezug: 1Sam (24); 25,43-44; (26); 27,29-31; 2Sam 1-2; 4,4 Junge Ich-Michal: Nach Davids Flucht wie ‚lebendig eingemauert’. Verheiratung mit Palthi. David: Lehensmann bei Achisch, Saul stellt ihm nach. Sauls und Jonathans Tod. Mischboschet/MefiBoschet (92,147 =Meribaal) wird auf Flucht fallen gelassen. Änderung: 1 Sam 24/26 zusammengezogen. Kap. 10 (126-134) Ich-Michal Bezug: 2Sam 5,17-6,23 Ich-Michal in mittlerem Alter: Leben in Jerusalem. David schlägt Angriffe der Philister zurück (128129), holt Bundeslade nach Jerusalem (130-133), Bruch zwischen ihr und David (133-134=Mitte des Romans nach Kapiteln) Änderung: Zusammenzug 2Sam 5,17-25 und 8,1: Philister greifen nur einmal an und werden endgültig geschlagen. David holt Bundeslade von ihnen zurück. Kap. 13 (152-162) Ich-Michal Bezug: 2 Sam 11,1-17; 12,1-14 Ich-Michal in mittlerem Alter: David begeht mit Bathseba Ehebruch. Natans Gleichnis (152-159). Sehr alte Michal: Träumt von der Scheol, wo sie Jonathan und Absalom trifft, aber keine Liebe mehr spürt (159-160). Änderung: Ich-Michal hat Idee von Urijas Heimurlaub, macht sich an seinem Tod mitschuldig. Absalom liebt Ich-Michal wie seine Mutter (160-162). Kap. 16 (182-187) Ich-Grete Sehr alte Ich-Grete: Zuhörerin und Geliebte ist nur noch Hund Shagi. Schaut Fernsehfilm zum Thema Nathan/Shylock, guter/böser Jude. Auseinandersetzung mit Jüdischsein und heutiger Diskriminierung und warum IchMichal Protagonistin ihrer Geschichte ist. Kap. 8 (94-103) Ich-Michal Bezug: 2Sam 2,1-11; 3,1.3.6-16 Sehr alte Ich-Michal: Tod des Bruders: das Schlimmste. Junge Ich-Michal: Muss in Machanaim leben. David, König über Juda, Isch-Boschet, König über Israel: Krieg. David hat mehrere Frauen. Konflikt zwischen Abner und Isch-Boschet wegen Rizpa. Abner verhandelt mit David über Michal. David fordert Michal zurück. Änderung: Michal ist Abners Werkzeug gegen David. Muss deshalb nach Machanaim ziehen. Palthi wird als Bauer und als Ehemann übergangen. Kap. 11 (135-143) Ich-Grete Ich-Grete in mittlerem Alter: Erste illegale Einreise nach Deutschland 1947. Grund: Hat erfahren, dass Urs lebt. Nach Waikis Tod: gegenseitiges Versprechen – falls beide überleben – zusammen zu bleiben. Trifft verschiedene Juden: Kann erstes Mal dazu stehen Jüdin zu sein (135-139=Mitte des Romans nach Kapiteln). Zweite illegale Einreise: 1948. Sehr alte Ich-Grete: Krankheit und omnipräsenter Tod. Mit Tod des Bruders stirbt Teil von ihr. Identitätsfragen als alte Frau (141-143). Kap. 14 (163-169) Ich-Grete Sehr alte Ich-Grete schaut Sendung zur Befreiung von Auschwitz. Motivation zur Rückkehr: Deutschland ist ihr Land, das sie nicht mag, Deutsch ihre Sprache (163-165). Deutsche Identität ist klar, jüdische nur insofern, als dass sie Teil der Leidensgemeinschaft ist. Beschäftigung mit David und Ich-Michal ist wegen jüdischen Wurzeln. Etwas Neues hat damit angefangen. Erlebt Diskriminierungen als Deutsche und Jüdin (165-166). Kap. 17 (188-197) Ich-Michal Bezug: 2Sam 13,37-39; 14,1.2125.28-33; 15,1.12 Änderung: Ich-Michal bedrängt David, Absalom zurückkehren zu lassen. Wird von ihm nur einmal empfangen. Bathseba und er wollen ihn ausschalten, um Salomo auf Thron zu bringen (194-196). Achitophel zieht sich von David zurück, Kap. 9 (104-125) Ich-Michal. Bezug: 2Sam 2,18-23; 3,1-5,9 Sehr alte Ich-Michal: Ist leidend, will Vorbild sein. In mittlerem Alter: Rückkehr zu David. Mitte des Romans nach Seiten: Er singt Ps 1 (114). Wird seine Vertraute. Tod Palthis. Ermordung Abners, Ischboschets. David wird Israels König, erobert Jerusalem (120125). Änderung: Abner bringt Joab um, weil er allein David zum König machen will. David schuldet ihm Dank: Er klettert in Jerusalem als Erster aus der Quelle (120,125). Kap. 12 (144-151) Ich-Michal Bezug: 2Sam 21,1-9.14 Sehr alte Ich-Michal: Angst. Ich-Michal in mittlerem Alter: jahrelange Trockenheit, Jahwe fordert von David Sühne wegen Sauls Vergehen an den Gibeoniten (145-146). Nachdem Sauls Nachkommen getötet sind, fällt Regen. Abigail und Ich-Michal können David nicht von Auslieferung abhalten. Abigail stirbt, Bathseba kommt (147-151). Änderung: Blutsühne reicht für Regen. Rizpas Widerstand wird nicht erwähnt. Kap. 15 (170-181) Ich-Michal Bezug: : 2Sam 12,15-23; 13 Ich-Michal in mittlerem Alter: Davids und Bathsebas Kind stirbt (171). David schickt Tamar zu Amnon, weil dieser vorgibt, krank zu sein. Amnon vergewaltigt und hasst sie. Bathseba gibt Tamar die Schuld für die Vergewaltigung (174-176). Absalom bringt Amnon um und flieht nach Geschur (179-181). Kap. 18 (198-218) Ich-Michal Bezug: 2Sam 15,2-37; 16,5-22; 18,1-5.9-14.24-32; 19,1-9 Ich-Michal in mittlerem Alter: Absalom reisst Königtum an sich. David flieht nach Machanaim. Entscheidungsschlacht: Absalom wird von Joab umgebracht. David trauert um ihn. Zurechtweisung durch Joab. 65 Kap. 19 (219-225) Ich-Grete Sehr alte Ich-Grete ist erstes Mal in Israel. Wird konfrontiert mit alten Amerikanern aus ursprünglich deutschem Judentum, kleinbürgerlichen, orientalischen Juden, orthodoxen Juden, israelischen Kontrollen. Erleidet Flash Back. Gefühle der Fremdheit und der Zärtlichkeit in Israel. weil er die Art, wie die Ehe seiner Enkelin zustande kam, missbilligt (189). Wird Absaloms Freund. Kap. 20 (226-235) Ich-Michal Bezug: 2Sam 24,1-2.10, 1Kön 1,1.28-30.39; 2,10 Sehr alte Ich-Michal wird nach Jahren zu David gerufen. Zieht Bilanz seines Lebens. Versöhnung. Nach seinem Tod trauert sie um seine Musik, die mit ihm starb. Änderung: David macht Volkszählung, um zu wissen, wie viele Männer er zur Vernichtung aller Feinde einsetzen kann. Änderung: Gelübde des NichtJahwe-Anhängers Absalom ist schnell durchschaut (200). Kap. 21 (136-137) Ich-Grete Rahmen: Michelangelos und Rembrandts David. Frage, wie David war, bleibt unbeantwortet. Der sehr alten Ich-Grete ist Rembrandts David näher. Unterschied zwischen ihr (und David) und Ich-Michal: Zivilisationsbruch Auschwitz. 3.6.5 Figuren, Themen und mögliche Deutungen Im Folgenden gehe ich nur auf Figuren des Romans ein, die wichtig sind und/oder denen Weil eine besondere Rolle zuschreibt, die so vom biblischen Text nicht vorgegeben ist. Weil übernimmt viele, aber nicht alle Figuren der biblischen David-Erzählung.236 Da Figuren und Themen stark miteinander verknüpft sind, behandle ich sie in demselben Kapitel. Es geht in diesem Roman um Identität, die jüdische, die geschlechts- und altersbezogene, Alter, Heimatlosigkeit, Kunst, Liebe, Hörigkeit, Selbstbezogenheit, (Selbst-)Hass, Ehebruch, Lug, Trug, Volksverführung, Schuld, (unterlassener) Widerstand, Gottesvorstellungen, (Ohn-)Macht, Opfer-Sein, Gewalt, Krieg und Pazifismus. Im Fazit fasse ich jeweils nicht nur das Wichtigste zusammen, sondern versuche auch eine Deutung vorzunehmen. Klare Eins-zu-Eins-Zuordnungen scheinen mir jedoch nicht möglich zu sein. Die alte deutsch-jüdische Schriftstellerin Ich-Grete versucht ihr Jüdischsein anhand von Erinnerungen und anhand ihrer Beschäftigung mit der David-Erzählung aus der Sicht der Figur Michal und einer damit verbundenen Israel-Reise zu ergründen.237 In ihrer Kindheit „erfuhr sie so gut wie nichts“ vom Judentum und lernte nur „hebräische Gedichte auswendig herunterleiern, ohne Hebräisch zu können“. Bayern war ihre Heimat, und sie wandte den Kopf ab, wenn „Wenn’s Judenblut vom Messer spritzt“ gesungen wurde (9). Sie bewunderte Michelangelos ‚Il Gigante’, als sie noch nicht wusste, „was Helden für die Welt bedeuteten“ (8). Mit einer Religion, die das Bild verwirft, konnte sie nichts anfangen (9). Nachdem ein Volksheld an die Macht gekommen war und sich die Lage für Juden zugespitzt hatte, musste Ich-Grete als junge Frau nach Holland fliehen. Für die Deutschen war sie nun „nur So erwähnt Weil z.B. nicht alle Frauen und Kinder Davids, dafür erscheinen zusätzlich z.B. Dienerinnen. Die alternierende Struktur zwischen zwei Ich macht in diesem Roman – im Gegensatz zu den anderen in den achtziger Jahren entstandenen Romanen – die Namensgebung der Erzählinstanzen notwendig. 236 237 66 Jüdin. Tag und Nacht, Nacht und Tag. Eine zu Vernichtende ... Jüdin als Zustand. Ich hatte vier jüdische Grosseltern, das zählte. Meine Sprache und meine Kultur waren deutsch, das zählte nicht.“ Dass sie nicht religiös war, zählte ebenfalls nicht (50-51). Ihr Mann Waiki wurde in Mauthausen ermordet.238 Direkt nach dem Krieg wollte sie das Wort Jude nicht mehr hören (52). Doch als sie bei ihrer illegalen Rückkehr nach Deutschland zwei Mal auf Juden traf und von ihnen als Jüdin erkannt wurde, konnte sie erstmals zu ihrem Jüdischsein stehen (137-139). Danach befiel sie ein ‚Bekennerzwang’: Sie erwähnte ihr Jüdischsein, auch wenn niemand es hören wollte. Doch ohne Gottesglauben gelang es ihr nicht, es mit Inhalt zu füllen (70). Ich-Grete reflektiert den Entstehungsprozess ihrer Ich-Michal-Erzählung. Auf die eigene Frage, warum sie sich mit David beschäftigt, antwortet sie: „Die jüdische Wurzel, natürlich. Auch Neugier und die Vermutung, dass nicht nur Mythos und Geschichte der Griechen, sondern auch der Juden kennenswert seien.“ (168) Ich-Michal dient ihr „als Gefäss, in das ich meine Gedanken, meine Wünsche und das, was mir vernünftig erschien, füllen konnte“ (169). Ihre Motivation, was die Wahl ihrer Protagonistin anbelangt, begründet sie folgendermassen: „So muss ich tief hinabsteigen in dunkle Bereiche und komme zu der Erkenntnis, dass es wohl das Mythische ist, warum ich Michal zur Protagonistin meiner Geschichte gemacht habe.“ (187)239 Für ihre Recherchen reist Ich-Grete nach Israel. Es geht ihr dabei um ‚die Anschauung’ der Topografie und der Tierwelt. Bis jetzt hat sie diese Reise hinausgeschoben. Und tatsächlich erlebt sie hier die Widersprüche ihrer deutsch-jüdischen Identität voll und ganz: Einerseits dokumentiert Yad Vashem ihre Geschichte, anderseits bleibt ihr, wie befürchtet, sonst ‚alles’ fremd. Sie hat nicht das Gefühl, nach Hause zu kommen, wie sie es in Rom hat (221-223). Zudem leidet sie auch hier an ‚Morbus Auschwitz’, einer ‚Spätfolge’ eines von Verfolgung geprägten Lebens. So lösen jüdische Kleinbürger in Eilat ein Flash Back aus: „ ... ich ... kann keinen Bissen herunterbringen, glaube, jeden Augenblick werde SS hereinmarschieren und uns alle mitnehmen. Der Schock dauert die ganze schlaflose Nacht über ... “ (221). In Weils Altersromanen heisst der erste Mann der Ich-Figur Waiki, der zweite Urs. Zur Bedeutung des Namens Waiki Bruder/Schwester s. S. 28, Anm. 91. Einerseits drückt Weil durch diesen Namen ihre enge Verbundenheit zu Edgar aus, der wie ein Bruder unersetzlich ist. Vgl. Ich-Michals Aussage zur Unersetzlichkeit eines Bruders nach Jonathans Tod in Anlehnung an Antigones Aussage (91). Vgl. die Bindungen zwischen Weil und Fritz (LWAL 31-35), resp. zwischen Ich-Grete und ihrem Bruder (141). Anderseits betont Weil durch diesen Namen, dass Edgar für alle ihre ermordeten jüdischen Brüder und Schwestern steht. 239 Hier bezieht sich Ich-Grete auf Thomas Manns 1937 in Zürich gehaltene Rede Zum Problem des Antisemitismus, in der er begründete, weshalb er Joseph und seine Brüder (1933-1943) schrieb. Mann sagte, es gehe ihm nicht um ein ‚Juden-’, sondern um ein ‚Menschheits-Epos’, und er wolle „vom Menschen selbst und allem, was für sein Schicksal typisch ist“ schreiben. „Nun ist aber ... das Typische immer zugleich das Mythische, und ich bin mir klar darüber, dass ich mit diesem erzählerischen Unternehmen eine neue Stufe meiner Produktion beschritten habe, die meiner Jugend fremd war.“ Mann, Thomas: Zum Problem des Antisemitismus. In: ders.: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Bd. XIII. Nachträge. Frankfurt a.M. 1974:486-487. Ein Jahr zuvor hatte er sich aus Anlass zu Freuds 80. Geburtstag über die ‚mythisch-typische Anschauungsweise’ geäussert: Der Mensch „möchte das Alte im Neuen wiederfinden und das Typische im Individuellen“. Mann, Thomas: Freud und die Zukunft (1936). In: ders.: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Bd. IX. Reden und Aufsätze 1. Frankfurt a.M. 1974:472-473. Vgl. Meyer 1996:289-293. 238 67 Ich-Grete kommt zum Schluss, dass sie sich trotz ähnlicher Leidenserfahrungen von ihrem Spiegel Ich-Michal in der historischen Dimension, die Auschwitz markiert, unterscheidet (236-237).240 Was ihr ‚Gefäss’ Michal aus der ‚Tiefe’ und den ‚dunklen Bereichen’ heraufbringt, ermöglicht keine ‚mythische’ Identifikation mit ihr (vgl. 169,187). Auch wenn sie diese Figur durch die intensive Beschäftigung lieb gewonnen hat, steht ihr die griechische Heldin Antigone als todesmutige Neinsagerin näher: „Nie war sie mir, wie Antigone, eine bewunderte und wegen ihres Mutes beneidete Schwester. Keine tiefe Verwandtschaft zwischen mir und dieser herumgestossenen, von den Männern oft missbrauchten Frau. Nur Sympathie und Mitleid, dass sie leben musste am Anfang der Zeiten ... in dem Chaos, in dem es kaum Recht, kaum Unrecht gab, musste sie sich entscheiden, Partei ergreifen und das schwierige, von allen Seiten bedrohte Leben bestehen.“ (169) Dennoch antwortet Ich-Grete auf die eigene Frage, ob sie durch die Beschäftigung mit Michal und David jüdischer geworden sei: „Ja sicher, irgend etwas hat angefangen, das vorher nicht da war. Ein neues Thema in meinem Leben, ein neuer, mir bisher unbekannter Stoff. “ (168) Was ihre jüdische Identität anbelangt, kommt Ich-Grete zu folgenden Schlüssen: • Sie ist nicht – wie ihre Vorfahren – jüdisch in einem religiösen Sinn: „Einer meiner Vorfahren ... hat ein dickes Buch publiziert, das Pardes David ... heisst. Das Buch, hebräisch gedruckt, für mich unlesbar, angeblich Bibel- und Talmudkommentare, sagt mir nichts.“ (167, vgl. LWAL 9) • Sie fühlt sich nicht einer jüdischen Weltgemeinschaft zugehörig: Amerikanische Juden stossen sie ab: „ Ich ... will nichts mit ihnen zu tun haben, wie sie auch nicht mit mir, ich weiss ..., wie sehr sie ... missbilligen, dass ich in Deutschland lebe ...“ (219-220). Mit Juden, welche nicht dem jüdisch-deutschen Grossbürgertum entstammen, kann sie sich nicht identifizieren: „Sie sind sehr orientalisch, laut und unmanierlich, was mich bei Juden mehr stört als bei anderen Leuten ... Kleinbürgermief hängt über dem ... Speisesaal.“ (220) • Sie spürt keine Verbundenheit zu Israel: „Jetzt bin ich da, meine Emotionen gerieten nicht in Verwirrung ... in keinem Augenblick das Gefühl, nach Hause zu kommen ...“ (222). und ist dem israelischen Geschichtsverständnis gegenüber kritisch eingestellt: „Massada, ... eine ... bewegende, gewiss Kinder begeisternde und ihnen ihr Leben lang teure Heldensage“ (224).241 Ich-Grete kann nicht „das Alte im Neuen wieder finden und das Typische im Individuellen“. S. Mann 1974:472-473. In der Festung Massada leisteten Zeloten den Römern bis 73 n.u.Z. Widerstand. Flavius Josephus berichtet, dass durch das Los Männer bestimmt wurden, die alle und dann sich selber zu töten hatten, als die Situation ausweglos wurde. Vgl. Flavius Josephus: Der Jüdische Krieg. Buch VII. Endrös, Hermann (Trad.). München 2. Auflage 1982:546-561. Dieser Mythos wurde wichtiger Bestandteil zionistischer Ideologie. Die Abschlussmanöver der militärischen Grundausbildung endeten zwischen 1965 und 1991 auf der Festung. Die Bedeutung fand auch im militärischen Eid ‚Massada darf nicht mehr fallen’ seinen Ausdruck. Massada war also, als DB entstand, nicht einfach eine ‚kinderbegeisternde’ Legende, sondern, gerade wegen der Schoa, identitätsstiftend. Mit ‚kinderbegeisternd’ bezieht sich Ich-Grete wahrscheinlich auf die sehr jungen israelischen Soldaten. Sie zielt damit aber vermutlich auch auf ihre eigene kindliche Begeisterung für Michelangelos heldenhaften David. An dieser Stelle drückt Weil durch ihre Protagonistinnen einen Widerspruch aus, der möglicher240 241 68 Während sie, wenn Antisemitismus aufflammt, das Gefühl hat, nicht gemeint zu sein, hat sie doch ein starkes Bewusstsein „für alle Juden Verantwortung zu tragen ... Wenn ich mich schlecht benehme, benehmen sich auch alle Juden schlecht“ (187). Sie bleibt vor allem von der Geschichte her jüdisch definiert, und ihre Identität beschränkt sich auf das „einzige Rudiment einer Identität, die Leidens-, Schicksalsgemeinschaft“, denn sie hat „als Jüdin erfahren, was Leiden bedeutet“ (167). Ich-Grete zeigt aber durch ihre Figuren Palthi und Jonathan ihre Vision von Jüdischsein, die auch ‚Rabbi Jesus’ vorgelebt hat. Nicht Massada, sondern „die unendlich rührende, in Jerusalem und am herrlichen See Genezareth ... lebendig werdende Geschichte Jesu, des zarten, seinen Feinden vergebenden Rabbi“ berührt sie (224-225). Als sie vor der Klagemauer kontrolliert wird, würde sie gerne sagen, sie sei Jüdin, und Juden sprengten nichts in die Luft: „Aber sie sprengen. Vielleicht hat dieses, ihnen von Gott verheissene Land sie immer zu Kämpfern gemacht.“ (224) Auch die Schilderung des Films Nathan-Shylock, in dem neben dem guten Juden der böse gezeigt wird, gibt Aufschluss über Ich-Gretes Verständnis von ihrem Jüdischsein (182). Kortners Shylock-Darstellung berührt sie zutiefst.242 Sie fühlt sich „zu Hause in seinem in höchster Musikalität wie eine Arie vorgetragenen Rede“ über sein Jude-Sein, auch wenn niemand in ihrer Umgebung je so gemauschelt hat. Doch auch wenn sie sein „wollüstiger Schrei, Ra-ache, den er ansetzt wie ein Tenor das hohe C“ erregt, kennt sie dieses Gefühl nicht, will es nicht kennen. Ihre Erklärung dafür lautet: „Irgendetwas Urjüdisches, Urmythisches muss es sein.“ (183) Sie bemitleidet Shylock, „weil die Mittel für seine Ra-ache so ungeheuer beschränkt sind“ (184). Nach ihrer intensiven Beschäftigung mit der David-Erzählung kommt Ich-Grete zum Schluss: David ist „ ... ein charismatischer Mörder, ein guter Musiker, ein guter Dichter, ein erfolgreicher Feldherr, wahrscheinlich ein guter Liebhaber ... ein Glaubender, sichtbar von Gott gesegnet“ (168-169). Ein weiteres wichtiges Thema für Ich-Grete ist ihr Alter.243 Sie wird mit schweren Krankheiten konfrontiert und fragt sich: „War es mein stets vorhandenes Schuldgefühl, dass ich ... überlebte? War es, weil ich die Schmerzen der Verfolgung und die Trauer um Waiki zum Thema ... gemacht habe? Mein Wissen um Auschwitz und dass ich dieses ... dauernd mit mir herumschleppe?“ (79) Doch während sie Angst vor dem Ausgeliefertsein im Spital hat, verspürt sie keine vor dem Tod, weise in ihr selber besteht: Während Ich-Michal Antigones Widerstand und Selbstmord als vorbildlich erachtet, hat Ich-Grete nichts für den selbstmörderischen Widerstand in Massada übrig. 242 Der 1892 in Wien geborene österreichisch-jüdische Fritz Nathan Kohn (Fritz Kortner) emigrierte 1937 nach New York und kehrte 1947 nach München zurück, wo er als ‚Regie-Ikone des BRD Theaters’ 1970 starb. Shylock war seine Lebensrolle. Möglicherweise spielt Ich-Grete auf eine der folgenden Aufnahmen an: Am 26. Oktober 1968 strahlte das österreichische, am 2. März 1969 das deutsche Fernsehen seine Interpretation von Shakespeares Der Kaufmann von Venedig aus, in der er nicht nur die Rolle des Shylock innehatte, sondern auch Regie führte. Vgl. http://www.imdb.de/title/tt0248938/releaseinfo abgerufen am 11.11.09. 1966 hatte Syberberg einen Film über Fritz Kortner als Shylock bei den Münchner Kammerspielen gedreht. Vgl. http://www.syberberg.de/syberberg2/Kortner_02_QT.html abgerufen am 11.11.09. Schon im Versteck war Ich-Grete überzeugt, dass Juden Leben bewahren und Nichthassen ein typisch jüdisches Gefühl ist (52). 243 Vgl. Améry, Jean: Über das Altern. Revolte und Resignation (1968). Stuttgart, Neuausgabe 1979. 69 denn „im Nichts kann es kein Auschwitz geben“ (72). Schlimm ist für die bis anhin selbständige Frau, dass sie abhängig wird und aufgrund von Gedächtnisschwierigkeiten Gefahr läuft, nicht mehr ernst genommen zu werden. Sie wird nicht mehr als ‚Frau in ihrem Alter’, als ‚unverwechselbare Person’, die eigenständig denkt und schreibt, wahrgenommen, sondern nur noch als alte, kranke Achtzigjährige (143). Die psychischen Folgen sind verheerend: Alter bedeutet für sie nicht nur Einschränkung und Verzicht. Die Erinnerungen an das Ausgeliefertsein und den Identitätsverlust während der Verfolgung verschärfen ihre psychischen Probleme (70-80).244 Fazit: Ich-Grete bildet die Spurensuche nach ihrer jüdischen Identität ab und zeigt auf, dass das Ausgeliefertsein und der Identitätsverlust im hohen Alter die Präsenz von belastender Erinnerung verstärkt. Auch wenn sie sich zugesteht, durch die Beschäftigung mit der David-Erzählung jüdischer geworden zu sein, erstaunt nicht, dass die jüdische Identität der assimilierten Deutschen nach wie vor auf einem ‚Rudiment einer Identität’, der jüdischen Leidensgemeinschaft, basiert. Interessant ist jedoch ihre Bemerkung zur Figur David als ein von Gott sichtbar gesegneter Glaubender (169). Auch wenn Weil wahrscheinlich diese Wahrnehmung nicht teilt, gesteht Ich-Grete sie hier explizit anderen Juden zu. Ich-Grete muss mit der Ermordung ihres Mannes und der systematischen Vernichtung der Juden irgendwie umgehen können, um weiterleben zu können. Dazu bietet sich als Vorbild Nathan der Weise (1749, resp. 1779) an. Lessings Figur findet einen Umgang mit dem Schmerz über den Verlust seiner Familie, die in einem christlichen Pogrom ermordet wurde. Doch auch Nathan ist nur durch diese Leidenserfahrung jüdisch. Er repräsentiert nicht das herkömmliche Judentum sondern die Aufklärung; seine Humanität und Vernunft stehen über den Religionen.245 Ich-Grete steht mit ihrer Nathan-Rezeption in einer ‚jüdischen Tradition’, die ihren Ursprung in der Aufklärung hat.246 Sie hat die Anforderungen der christlichen Welt an die deutschen Juden, welche durch diese Figur verkörpert werden, verinnerlicht. Juden müssen bei ihr bessere Menschen und Vorbilder sein, wie etwa ihr den ‚Feinden vergebender Rabbi Jesus’.247 Wenn sie ihren Willen zum Guten als „etwas Urjüdisches, Urmythisches“ nennt, meint sie damit Lessings Nathan. Trotz Hitlers ‚Endlösung’ anstelle von Lessings ‚Zeit der Vollendung’ will sie das Gefühl von Rache nicht kennen, auch wenn Kortners ‚wollüstiger Schrei’ in seiner Rolle als Shylock sie ‚erregt’.248 Dass er nicht Weiterführende Information zum Thema Einfluss von Lebensereignissen und Wohlbefinden im Alter s. z.B. Höpflinger, François/Stuckelberger, Astrid: Alter, Anziani, Vieillesse. Bern 1999:35-36,40. 245 Vgl. Mayer, Hans: Aussenseiter. Frankfurt a.M. 1975:341. 246 Vgl. die Passage in Weils Brief an Margarete Susman in LWAL 252, wo sie es 1947 als ihre Pflicht ansieht, durch ihr Dasein (als Mensch und als Jude) das ihre zu tun und zu versöhnen. Weil veröffentlichte schon früh einen kurzen Nathan Artikel: Weil, Grete: Zur Gestalt des Nathan. Gedanken einer jüdischen Emigrantin. In: das neue forum. 6. Jg., Heft 2. Darmstadt 1956/57:22-24. Sie drückt hier ihren Glauben an Dichter aus, deren Aussage weit über ihre Zeit hinausreicht. Weiterführende Information zu Weils Artikel s. Meyer 1996:171-184. Vgl. die Meinung der Abiturientin Weil in ihrem Aufsatz über Lessing S. 10, Anm. 38. Weiterführende Information zur Figur Nathan und seiner Rezeptionsgeschichte s. Fischer, Barbara: Nathans Ende? Von Lessing bis Tabori: Zur deutsch-jüdischen Rezeption von ‚Nathan der Weise’. Göttingen 2000. S. auch den Stellenwert von Vernunft sowohl bei Ich-Grete wie auch bei Ich-Michal (z.B. 169,171). 247 Vgl. hierzu auch die Wahrnehmung Jesu als Lehrer der Sittlichkeit, Rabbi oder Bruder durch jüdische Wissenschafter vor DB: Klausner, Joseph: Jesus von Nazareth. Seine Zeit, sein Leben und seine Lehre. Fischl, Walter (Trad.). Berlin 1930:573-574. Buber, Martin: Zwei Glaubensweisen. Zürich 1950; Ben-Chorin, Schalom: Bruder Jesus. Der Nazarener in jüdischer Sicht. München 1967; Flusser, David: Die rabbinischen Gleichnisse und der Gleichniserzähler Jesus. 1. Teil. Das Wesen der Gleichnisse. Bern/Frankfurt a.M./Las Vegas 1981. 248 Die Figur Shylock wird schon früh von Antijudaisten zum Zerrbild des gierigen, zornigen Juden gemacht. Weiterführende Information zur Figur Shylock und ihrer Rezeptionsgeschichte s. z.B. Feinberg-Jütte, Anat: Siebtes Bild: „Shylock“. In: Schoeps, Julius H./Schlör, Joachim (Hg.): Bilder der Judenfeindschaft. Antisemitis244 70 besser sein kann als andere Menschen, bringt Shylock mit seiner Rede: „Ich bin ein Jude. Hat nicht ein Jude Hände ... ?“ (183) auf den Punkt. Im Gegensatz zu Lessings Nathan verspürt Shakepeares Shylock Hass bei Ungerechtigkeit und will sich verteidigen, wenn er angegriffen wird. Auch das Gefühl der Leserin gegenüber Ich-Gretes Urteil zu Ich-Michal und Antigone bleibt zwiespältig: Allzu klar ist, dass ihr aufgrund ihres ‚Überlebenden-Syndroms’ Antigone näher sein muss als die stille Rebellin Ich-Michal, die ihr in ihrer Art mehr gleicht: Wie Ich-Michal leistet Ich-Grete nicht vehement Widerstand und fühlt sich deshalb Zeit ihres Lebens schuldig. Es ist jedoch eine Tatsache, dass widerständige Einzelfiguren im Dritten Reich den Verlauf der Geschichte nicht verändert und erst im Nachhinein zum Nachdenken angeregt haben. Ein einzelner Heldentod ist nicht wirklich eine Option. Hier ist IchMichal realistischer, die sich dem gewalttätigen David verweigert und immer wieder mit ihm weint.249 Denn nur wenn viele Menschen gemeinsam im richtigen Moment Unrecht ein ‚Nein’ entgegensetzen, kann Geschichte anders verlaufen, können ‚MenschenlebenOpfer’ und Opfer von Überlebensschuld verhindert werden, einer Schuld, die paradoxer nicht sein kann. Der Leserin wird bei der Lektüre die Tragweite ihrer fehlenden Solidarität mit Opfern bewusst. Liebe, Opfer-Dasein, Gewalt und Macht bestimmen das Leben der dunkelhaarigen, schwarzäugigen Ich-Michal (44,113). Sie liebt ihren Bruder Jonathan: „ ... wir küssen uns. Leidenschaftlich, zärtlich, wie Mann und Frau“. Diese Liebe wird nur durch das von den Propheten verkündete Geschwisterliebe-Verbot getrübt (15). Als er fällt, ist Ich-Michal untröstlich. Das Bild seines mit gespreizten Armen am Stadttor von Beth Schan aufgehängten Leichnams quält sie (89). Er hat sie mehr geprägt als alle anderen Menschen. Ihr Entsetzen, bruderlos zu sein, ist grenzenlos. Sie hat sich nie als Geliebte, Ehefrau oder Mutter, sondern immer als Schwester gefühlt. Er war ihre sie ergänzende Hälfte (94-95). Als David an den Hof kommt, entwickelt sich eine Dreiecksbeziehung zwischen ihm, Jonathan und Ich-Michal. Anfangs verkörpert der zarte Junge für sie nichts anderes als Musik (20-22). Misstöne klingen aber schon bald an. Als er sie das erste Mal sieht, zuckt „um seinen grossen Mund, ein freches, begehrendes Lächeln“ (22). Auf ihren Wunsch hin wird sie von Jonathan David zugeführt. Sie verkehrt nur dieses eine Mal sexuell mit ihm.250 Denn als Krieger und mus, Vorurteile und Mythen. Augsburg 1999:119-126. Zionisten sahen schon früh nicht mehr in der Figur Nathan ein Vorbild. Simon erkannte in der Figur Shylock einen wirklichen Juden. Simon, Ernst: Lessing und die jüdische Geschichte (1929). In: Ders.: Brücken. Gesammelte Aufsätze. Heidelberg 1965:215-219. 249 S. Weil zu Antigone und Sophie Scholl in Hildebrandt 1991:224: „Unbequeme, die uns zum Denken zwingen. Erreicht haben sie beide nichts, nichts hat sich geändert in Theben, nichts in Deutschland, aber wie viel ärmer wäre unsere Welt ohne Antigone, ohne Sophie.“ Zu den Auswirkungen von ‚Heldentum’ in Familiensystemen über Generationen hinweg und zu den Grenzen des ‚Antigone-Modells’ s. z.B. von Aretin, Felicitas: Die Enkel des 20. Juli 1944. Leipzig 2004. Eigentlich trennt Auschwitz Ich-Grete nicht nur von Ich-Michal, sondern auch von Antigone. Vgl. die Dekonstruktion von Antigone in MSA. 250 Schon Heyms Michal (1972:38) sagte über David: „Er stillte meines Vaters König Saul Begehr ... er lag mit meinem Bruder Jonathan ... und in der Nacht ... kam er später zu mir und nahm mich ... Ich glaubte damals, er sei der menschgewordene Gott Baal, Lust des Fleisches in Person, und doch ausgestattet mit jener Gleichgültigkeit, welche nur die Götter besitzen.“ Hans Henny Jahnn zeigt David in Spur des dunklen Engels (1952) als Strichjungen. Zum Liebesverhältnis DavidJonathan-Saul aus theologischer Sicht s. z.B. Schroer, Silvia/Staubli, Thomas: Saul, David und Jonatan – eine Dreiecksgeschichte? Ein Beitrag zum Thema Homosexualität im Ersten Testament. In: Bibel und Kirche 51. 1996:15-22. 71 Held verändert er sich. Von dem Moment an, als er Sauls Forderung nach dem Brautpreis ernst genommen hat, zieht sich Gewalt wie ein blutiger Faden durch sein und Ich-Michals Leben. Ihre Schuld und ihr Opfer-Dasein nimmt mit ihrer Liebe zu ihm seinen Anfang. Sie wird – wie sie es formuliert – mit Tränen von zweihundert um ihre Männer weinenden Philisterinnen gekauft. Die sie umgebenden Männer finden die Episode mit den Vorhäuten witzig. Sie jedoch sieht sich und David als ‚zwei blutbesudelte Kinder’ vor dem Altar stehen. Aufgrund des unsinnigen Brautpreises verweigert sie sich David sexuell, nachdem sie seine Frau geworden ist. Er versucht, sie zu brechen. Doch: „Ich war nicht zu brechen, weil ich gebrochen war.“ (40,41,47) Mit der Übergabe des Brautpreises beginnt Davids Weg zum Thron. Ihr ganzes Leben lang wird sie sich fragen, ob er sie je geliebt hat oder ob sie als Königstochter „nur eine Sprosse der Leiter ... war, auf der er aufstieg“ (25). Ihre Liebe wird schmerzhaft ambivalent bleiben: David, der Krieger und Räuber, später der Mörder und König, der sich schuldlos fühlt, nur weil er nicht selber tötet, stösst sie ab (60), seine Musik und Dichtung aber zieht sie an. Die Faszination, die von seiner künstlerischen, sensiblen Seite ausgeht, hindert sie daran, sich selber zu sein: eine Rebellin gegen die von seiner anderen Seite begangenen Untaten, die er immer wieder mit den Worten „Jahwe hat es gewollt“ rechtfertigt. Bis zum Bruch mit ihm gehört sie sich nicht mehr selber. Ich-Michal wird, nachdem sie David zur Flucht verholfen hat, kostenlos an Palthi ‚verscherbelt‘. Dieser unansehnliche Mann, ein wirklicher Jude, ist kein Held. Da er in ihr Davids Frau respektiert und sie nicht berührt, bleibt auch diese Ehe kinderlos. Ich-Michal beginnt ihn zu lieben. Ab und zu sehnt sie sich noch nach Davids Musik und seiner Schönheit (82-86,233). Als dieser sie zurückfordert, wehrt sie sich nicht. Sie weiss, dass Befehlsverweigerung Krieg nach sich zieht und will verhindern, dass Menschen ihretwegen sterben (100-103). Als sie David wieder sieht, sind ihre Gefühle verwirrt. Dennoch weiss sie, „dass nichts mehr gut werden wird. Zuviel Vergangenes steht zwischen uns, ist nicht mehr auszulöschen“ (112). Es geht dabei um mehr als den Brautpreis. Erst als er ihr Psalm 1 vorspielt, fühlt sie sich ihm wie in der ersten Liebesnacht zugehörig, ohne jedoch sexuellen Kontakt mit ihm zu haben. Er macht sie zu seiner Vertrauten, obwohl sie sich nicht für Staatsgeschäfte erwärmen kann (114,118,124): „Zu gross war mein Entsetzen davor, was ein König wie Saul anrichten kann.“ (92-93) Doch David will meistens nicht ihre Meinung erfahren. Er will, dass sie zuhört, wenn er von seinen Plänen erzählt. Vergeblich versucht sie, ihn von der Blutsühne an den Sauliden abzubringen und ihn davon abzuhalten, Tamar zu Amnon zu schicken 72 (124,146-148,174). Abners Wunsch, dass Ich-Michal aus David einen guten König mache, kann nicht in Erfüllung gehen (103). Als David ekstatisch vor der Bundeslade tanzt und sich dabei vor dem Volk entblösst, erfasst sie zunächst Zorn über seine ‚schamlose Zurschaustellung’, danach muss sie lachen. Abjatar erzählt David davon und verflucht sie zu Unfruchtbarkeit. Als David sie wegen ihrer Kinderlosigkeit als Frau, ‚die zu nichts taugt’ auslacht, ist der Bruch komplett: „Dieser Tag, an dem David erhöht und ich erniedrigt wurde, ist ein Wendepunkt.“ (133-134) Nach diesem Vorfall steht sie David kritisch gegenüber. Als er Isch-Boschets Mörder umbringen lässt, meint sie: „Das hätte mein Künstlerkönig nicht tun sollen. Für mich war er der Dichter, Sänger, Musiker, dem es nicht anstand, Herr über Leben und Tod zu sein.“ (122) Ihre Meinung über ihn als König formuliert sie nun deutlich: „David war begabter, kühner als die meisten. Doch ich glaube nicht, dass die Hochbegabten, Kühnen, Ehrgeizigen ein Glück für die Welt sind.“ (92-93) Dennoch kommen die beiden nie ganz voneinander los (171). Sie bleibt in der Rolle seiner Vertrauten, distanziert sich aber klar von seinen Untaten: „Ich habe David nie geholfen, seinen Ruhm zu vergrössern. Bathseba hat das getan.“ (92-93) Trotz Bathsebas Einfluss auf David gibt sie nie auf, ihm gegenüber klar zu ihrer Meinung zu stehen. Durch Davids Verschulden an Tamars Unglück verschlechtert sich die Beziehung noch mehr. Was Ich-Michal an David noch liebt, ist seine ‚klare, helle Vernunft’ (171-172). Obwohl sie sich ihm nicht mehr zugehörig fühlt, empfindet sie in seinen schweren Stunden ein starkes Gefühl für ihn, zweifelt aber daran, dass es sich dabei um Liebe handelt. Aus diesem Grund begleitet sie ihn auf seiner Flucht vor Absalom (202,207). In ihrer zweiten Lebenshälfte zählt für Ich-Michal die Liebe zu Davids zweiter Frau Abigail und Maachas Sohn Absalom (115,119,127,149,161162). Fazit: Das Motiv von Michals Liebe zu David wird bei Weil um dasjenige der inzestuösen Liebesbeziehung erweitert. Sie schafft so eine Parallele zu Antigones Liebe zu ihrem Bruder. Ich-Michals Liebe zu Jonathan erlebt später seine Verkehrung in Tamars Vergewaltigung durch Amnon (173). Paradox ist bei Weil, dass gerade Sauls Musiktherapeut IchMichals Seele ‚bezirzt’ und sie kurz danach für den Rest ihres Lebens traumatisiert. Der Brautpreis – der ein Machtspiel zwischen Saul und David darstellt, bei dem sie die Rolle einer ohnmächtigen Figur innehat – löst bei ihr einen Bruch aus, der durch ihr ganzes Leben geht. Anstatt des zarten Sängers bekommt Ich-Michal einen schönen Helden zum Mann (26), den Weil meines Erachtens nach dem Vorbild von Michelangelos DavidDarstellung gestaltet. Weils Erklärung für Ich-Michals Kinderlosigkeit infolge ihrer sexuellen Verweigerung ist aus Frauensicht absolut nachvollziehbar. Einerseits macht Davids Musik und Dichtung Ich-Michals Lebenssinn aus, seine Vernunft fasziniert sie, anderseits stösst er sie als Krieger, Räuber, Mörder und König ab. Ihre Liebe ist Hörigkeit von seiner kulturell hoch stehenden Seite. Auch nach dem Bruch, als sie sich nicht mehr sicher ist, ob das starke Gefühl gegenüber David in schwierigen Situationen Liebe ist (207), kann sie nicht anders, als sich ihm gegenüber loyal zu verhalten. 73 Doch nicht nur wegen ihrer Hörigkeit, sondern auch wegen ihrer Determinierung durch Geschlecht und Rolle kann Ich-Michal nicht diejenige sein, die sie in Wirklichkeit ist. Männer bestimmen über sie: Zwei Mal verschachert sie ihr Vater wie ein Viehhändler an einen Mann (39,83); und David fordert die Königstochter nur aus strategischen Gründen zurück. Es gelingt ihr lediglich, eine innere Unabhängigkeit zu bewahren: Sie hinterfragt überlieferte Normen und falsche Führer. Auch wenn sie sich nicht wie Antigone das Leben nimmt: Ihre subversive Haltung endet in Einsamkeit und sozialem Tod. Mit dem unansehnlichen, aber zartfühlenden und fürsorglichen Palthi, den Weil meines Erachtens nach dem Vorbild von Rembrandts Darstellung des ,Judenjungen David’ gestaltet, erfährt Ich-Michal eine völlig anders geartete Liebe, die auf Gegenseitigkeit beruht und partnerschaftlich ist. Weils Darstellung von Palthis Liebe zu Ich-Michal ist naheliegend: In der biblischen Erzählung wird erwähnt, dass er weinte und ihr nachlief, als sie ihm weggenommen wurde. Mit seinem ekstatischen, obszönen Tanz vor der Bundeslade entblösst David vor IchMichal voll und ganz seine fragwürdige Männlichkeit und seinen lächerlichen Glauben an seinen persönlichen Gott Jahwe, der Frauen ausschliesst und mit dem er soeben die feindlichen Völker besiegt hat. Erkenntnis über David, diesen ‚kleinen Gottesableger’,251 fällt ihr endlich wie Schuppen von den Augen. Sie sieht plötzlich, welchem Irrtum sie mit ihrer ‚Liebe’ zu diesem Mann aufgesessen ist, erfährt sich erstmals in Abgrenzung zu ihm als eigenständige Frau, als Person, und wird sich ihrer Mitschuld an seinem Aufstieg schmerzlich bewusst. Zorn erfasst sie. Kurz darauf bricht Gelächter wie ein Hustenanfall aus ihr hervor, welches sich von der in der Bibel selbstbewusst vorgetragenen Kritik der Königstochter klar unterscheidet. Ein weiterer Unterschied zur biblischen Erzählung besteht darin, dass Abjatar sie wegen ihres Gelächters verflucht, denn dieses ist klar ein Akt der Auflehnung: Es demontiert Davids Pathos, sein Heldentum, seinen Gott.252 Das Verhältnis zwischen Ich-Michal und David erinnert an Weils Verhältnis zu Deutschland: Die Kultur zieht sie an, die Barbarei stösst sie ab. So wie Ich-Michal glaubte, durch ‚Jahwes Engel’ (21), David, Lebenssinn zu finden, glaubten viele assimilierte Juden, in der deutschen Kultur Sinn zu finden. So wie Ich-Michal durch ihre ‚furchtbare Liebe’ (19) vergass, wer sie war, verloren viele deutsche Juden wegen der Assimiliation ihre Identität. Ich-Michals Gefühle nach ihrer Rückkehr zu David spiegeln Weils Gefühle nach ihrer Rückkehr nach Deutschland: Ich-Michals Gefühle sind verwirrt, sie versucht versöhnlich zu sein, aber eigentlich weiss sie, dass zuviel Vergangenes zwischen ihr und David steht, das nicht auszulöschen und nicht wieder gut zu machen ist (112-113). Nur seine ‚kulturelle Seite’ lässt sie sich ihm zugehörig fühlen (114). Eine Vereinigung kommt auch für ihn nicht mehr in Frage (118). Wie Ich-Michals Meinung nach ihrer Rückkehr David nicht interessiert (124,146-148,174), interessiert Weils Meinung nach ihrer Rückkehr die Deutschen nicht. Wie Ich-Michal sich eigentlich nicht für Politik interessiert (118), sich aber dauernd zu Davids unethischem Verhalten äussert, klagt die im Grunde unpolitische Weil das ungeheuerliche Verhalten der Deutschen immer wieder in ihrem Werk an. (Vermeintlich) unterlassener Widerstand, Schuld und Selbsthass werden wichtige Themen in Ich-Michals zweiter Lebenshälfte. Sie kennt die Geschichte der widerständigen Antigone von Jonathan (62)253 und bewundert diese Figur, weil sie „ihrem eigenen Gesetz, der Treue zum Begriff von Christina Thürmer-Rohr. Vgl. Liebs, Elke: Frauengestalten der Bibel in der Weltliteratur. In: Potsdamer Studien zur Frauen- und Geschlechterforschung: Welche Zukunft? Perspektiven der Frauen- und Geschlechterforschung in den Disziplinen. Heft 1/1999:86-91. Vgl. auch das Lachen Absaloms, der sich gegen seinen Vater auflehnt (199). 253 Weil setzt die David-Erzählung vor 3000 Jahren an (50). Sophokles Antigone wurde erstmals um 442 v.u.Z. in Griechenland aufgeführt, wobei nicht auszumachen ist, wann und wo der Stoff genau entstand. 251 252 74 Bruder, und nicht dem willkürlichen Gesetz des Onkels gefolgt war“. Sie selber erachtet sich als zu schwach, ihrem eigenen Gesetz zu folgen. Vor ihrem Bruch mit David war ihr Mut wegen ihrer Liebe zu ihm gelähmt: „Sie, das Kostbarste, das ich besass, galt es zu schützen.“ (62) Danach muss sie sich aber vorwerfen, dass sie ihren Rat David nicht verweigerte, als er seinen Ehebruch vertuschen wollte. Sie hatte sich geehrt gefühlt, gefragt worden zu sein, hatte einerseits Mitleid mit Bathseba empfunden, die Gefahr lief, gesteinigt zu werden, und anderseits vermeiden wollen, dass ihr Ungeborenes als Davids Kind galt, denn sie erahnte schon den Charakter dieser Frau (153-157). Zu spät realisierte sie, dass sie sich an Urijas Tod durch ihren Tipp – ihn nach Hause zu schicken, um ihm das Kind unterschieben zu können – mitschuldig machte und der skrupellosen Bathseba zu ihrer Stellung verhalf. Ihr Ekel und ihr Hass dieser Frau gegenüber helfen ihr nicht, im Gegenteil: indem sie sie hasst, hasst sie sich selber (153-157). Schon nach Doegs Massaker hatte sie nicht nur ihren Vater und Jahwe, sondern vor allem sich selber gehasst (68). Sie wirft sich auch vor, dass es ihr nicht gelang, David von der Ausrottung der Sauliden abzubringen und ihn davon abzuhalten, Amnon zu Tamar zu schicken (146-148,174). Im Nachhinein bereut sie auch, dass sie sich Davids Forderung nach ihrer Rückkehr nicht widersetzt hat (119). Doch auch wenn sie nicht offensichtlich Widerstand geleistet hat, ist sie auf ihre Art eine Rebellin: • Vor der Ehe fühlt sie sich als Mädchen diskriminiert: Sie darf kein Pferd besitzen. Wenn es ihr aber notwendig erscheint, entwendet sie eines (14-15,29). Sie zögert nicht, mit David Geschlechtsverkehr zu haben (25), auch wenn Jungfräulichkeit vor der Ehe verlangt wird (43-44). Nach der Heirat sollte sie so viele Kinder wie möglich gebären, die als Krieger für Jahwes Volk kämpfen, denn: „Solange sein Volk lebt, lebt auch Er“ (46). Sie wird nie Kinder haben und sich David und seinem Kriegsgott verweigern. • Obwohl von Loyalitätsgefühlen ihrem Vater gegenüber geplagt, rettet sie David das Leben (48-49,54) und riskiert damit ihr eigenes: Sie wird von den Häschern zusammengeschlagen. Hätte Jonathan sie nicht davon abgehalten, hätte sie ihrem Vater die Wahrheit gesagt und wäre wahrscheinlich von ihm deswegen getötet worden (57-58). • Sie entwickelt Riesenkräfte, so dass David sie nicht vergewaltigen kann (44). Bei seinem Tanz vor der Bundeslade bricht sie in Gelächter aus. Nachdem er sie anfangs mit dem Weil geht es also nicht um reale Zeitebenen. Wie Moses in der rabb. Literatur kann ihre Antigone, die beispielgebende Nein-Sagerin, in ihren Romanen auf jeder beliebigen Zeitzeitebene und an jedem beliebigen Ort auftauchen. Zwischen den Figuren Ich-Michal und Antigone gibt es folgende Parallelen: Beide Königstöchter lieben ihren Bruder. Ich-Michals Gefühl, nachdem sie David zur Flucht verholfen hat, erinnert an die zur Strafe lebendig eingemauerte Antigone: „Eine verlassene Frau ohne Kind, ohne Scheidungsbrief, das armseligste Geschöpf der Welt ... Lebendig eingemauert kam ich mir vor“ (82) Nachdem ihr Bruder Jonathan gefallen war, sagt sie in Anlehnung an Antigones Aussage vor Polyneikes, dass im Gegensatz zu Mann und Kind der Bruder unersetzlich ist: „Man kann sich andere Freunde, andere Lieben wählen, einen Bruder nicht.“ (91) 75 Satz „Jahwe will nicht, dass Frauen sich in Männersachen einmischen“ daran hinderte, ihm gegenüber zu ihrer Meinung zu stehen (19), tut sie dies nachher klar und deutlich (z.B. 192). Sie versucht später immer wieder, ihn von Brutalitäten abzuhalten (147,156). • Zuerst ist sie „fromm“ und „von der Gewissheit durchdrungen, dass Jahwe, unserm Herrn, die Welt gehört, und dass Er uns, gerade uns, auserwählt hat, Ihm zu dienen“ (15-16). Erst als sie erfährt, dass Samuel ihre Beziehung zu Jonathan verbietet, ‚stösst’ sie sich an einem seiner Gebote ‚wund’: Sie war der Meinung, dass Jahwe an ihrer Liebe Wohlgefallen hat. Aber sie weiss aus Erfahrung, dass das, was Jahwe ihr noch verzeihen würde, vor diesem hart richtenden Propheten keine Gnade fände (14-16). Als sie Jahwe wegen ihrer Liebe zu David, die sie als Verrat an der Liebe zu ihrem Bruder empfindet, um Hilfe bittet, gibt er ihr kein Zeichen. Sie beginnt zu zweifeln, „dass diese unsichtbare von uns entdeckte und Gott genannte Kraft, die Himmel und Erde geschaffen hat, gewillt oder auch nur fähig ist, mir, Michal, ein Zeichen zu geben“ (23). Sie fragt sich, ob Jahwe einfach eine Bezeichnung der Kraft ist, aus der die Menschheit entstanden ist und in die sie zurückkehrt, eine Kraft, welche Israel nicht wirklich kennt und welche ihrerseits Israel nicht kennt. Ein letztes Gebet richtet sie in Verzweiflung wegen ihres wahnsinnigen Vaters an Jahwe. Sie bittet darum, dass sie Zeit ihres Lebens imstande sein werde zu lieben. Dieses Gebet scheint erhört worden zu sein, wenn auch nicht in der Form, wie sie sich das gewünscht hätte (54-56). Eine gewisse Unabhängigkeit kann sie von David – der Kriege und Morde mit den Worten „Jahwe hat es gewollt“ (19) rechtfertigt – nur bewahren, indem sie seinen immer grausamer werdenden Gott ablehnt (43). Aus der Tatsache, dass Jahwe beim Massaker an den Priestern von Nob nicht eingriff, schliesst sie, dass er nichts dagegen hatte und beginnt ihn zu hassen (68-69). Sie hat ihre eigene Vorstellung davon, was nach dem Tod passiert: Jonathan ist für sie unwiderruflich im dunklen Reich der Toten, der Scheol (91). Im Gegensatz zu David glaubt sie nicht, dass Tote in der Nähe der Lebenden bleiben (112). Dennoch gibt es für sie so etwas wie eine Seele: So wie aus dem verwesenden Leib etwas Neues entstehe, zum Beispiel Bäume, müsse es sich auch mit der Seele verhalten. Auch sie werde in unendlich viele Teile zerfallen und „Neues wird aus ihr spriessen, bis jetzt nie Gedachtes, nie Gefühltes vielleicht“ (119). Als sie mit David nach Machanaim flieht, will sie Palthis Grab nicht sehen, es bedeutet ihr nichts. Es ist ihr auch nicht wichtig, zusammen mit jemandem begraben zu sein. Zusammen leben ist ihr wichtig (211). Für ein gutes Leben und für Frieden sind ihrer Meinung nach die Menschen zuständig. Frauen kommt dabei die Rolle als Bewahrerinnen zu. Sie träumt davon, dass sie eines Tages nicht mehr als Ware betrachtet werden, sondern in der Politik vertreten sind und Männer vor Gewalt und 76 Krieg zurückhalten. Zusammen könnten dann Frauen und Männer „verstehend dem Lied des Lebens lauschen“ (123, vgl. 231). Sie wird nie atheistisch. Nur Davids Gottesvorstellung kann sie nicht teilen. So sagt sie als alte Frau zu ihm: „Wenn Jahwe der Gott ist, den ich mir vorstelle, will er keinen Krieg, kein Morden.“ (231) An anderer Stelle äussert sie die Meinung: „Männer bringen sich gegenseitig um und machen den Frauen Angst. So will es Jahwe, und alle finden es ganz natürlich. Ich kann mir einen Gott, der das wünscht und zulässt, nicht vorstellen.“ (98) • Sie kritisiert die Landnahme ihrer Vorfahren und die ständig wiederkehrenden Kriege mit den Nachbarvölkern (55-56). Den Bruderkrieg zwischen David und Isch-Boschet, in dem sie als Werkzeug missbraucht wird, erachtet sie als beklagenswert (98). Sie klagt die Männer und ihr Gotteskonstrukt, das Kriege fordert, an: „Leere Worte: Jahwe hat es gewollt. Kriege führen, Menschen umbringen, Menschen ins Unglück stürzen ... Dieser furchtbare Gott.“ (19) Ihrer Meinung nach sehen sich die Israeliten von den Amalekitern, Ammonitern und Philistern angegriffen, obwohl jeweils nicht auszumachen ist, wer zuerst angreift (26). Für Ich-Michal ist klar, dass die Philister zuerst in Kanaan waren. Sie sieht die wirtschaftlichen Abhängigkeiten der beiden Völker: Die Philister liefern und reparieren den Israeliten die Waffen, mit denen sie sich gegenseitig bekämpfen, während die Israeliten ihnen im Gegenzug Getreide geben (27). Als Lehensmann des Königs von Achisch lernt David viel von diesem kulturell hoch stehenden Stamm (128). Sie ist der Ansicht, dass auch die Philister sich vor dem Anderssein der Israeliten fürchten. Ein Kriegsgrund war „schnell gefunden, er lag auf der Strasse herum, man musste ihm nur einen Namen geben“ (28). Sie sieht im „Frieden, das einzige wichtige Ziel, Vorbedingung für alles andere“ (103). Im Konflikt zwischen Absalom und Amnon stellt sie in Anspielung auf Kain und Abel die Frage, ob nicht jeder Mord letztlich ein Brudermord sei (179). Ihrer Ansicht nach müsste sich jeder Mensch das Elend, das ein Krieg über die Menschen bringt, vorstellen können, damit dauerhafter Friede werde (230). Fazit: Ich-Michal handelt von Anfang an subversiv: • Sie lehnt sich gegen ihre Rolle als Frau auf und hält von Normen nicht viel. • Trotz Loyalitätskonflikten stellt sie sich gegen ihren wahnsinnigen Vater. • Von ihrem kriegerischen Mann lässt sie sich nicht vergewaltigen und nimmt als kinderlose Frau den sozialen Tod in Kauf. • Sie entwickelt eigene Überzeugungen. Ihr wird klar, dass ihr Kinderglaube zu nichts taugt und Jahwe nur ein Gott für Männer ist. Nach Doegs Massaker wirft sie die Theodizeefrage auf (68). Nicht ein Gott, sondern die Menschen sind aus ihrer Sicht für gutes Leben zuständig. Sie sehnt sich nach Gleichberechtigung der Geschlechter, von der sie glaubt, dass sie die Welt friedlicher macht, wird aber mit der Tatsache konfrontiert, dass Frauen nicht nur Lebensbewahrerinnen sind, wie sie anfangs glaubt, sondern dass sie – wie Bathseba – das androzentrische System stützen. Ich-Michal wird nie Atheistin. Durch den Satz „Wenn Jahwe der Gott ist, den ich mir vorstelle, will er keinen Krieg, kein Morden“ 77 (231) macht sie klar, dass sie sich nicht gegen eine höhere Macht ausspricht, sondern lediglich die androzentrische Gottesvorstellung nicht teilen kann. Obwohl es für sie eine Seele gibt, aus der nach dem Tod Neues entsteht, ist ihr das jetzige Leben wichtig. • Als Pazifistin zeigt sie ein anderes Geschichtsbild von Israel. Während die biblische Geschichtsschreibung Landnahme und Staatengründung als religiös motiviert darstellt, ist sie aus ihrer Sicht Propaganda (55-56). Alle Kriege bedeuten für sie letztlich Brudermord. Friede ist für sie das einzig wirkliche Ziel. Indirekt kritisiert Weil hier die Politik Israels gegenüber den Palästinensern. Bei der Szene, als David vorgibt, dass Jahwe die Israeliten mit einer Dürre für Sauls Untaten an den Amoritern straft und nun Blutsühne fordert, in Wahrheit aber um seinen Thron fürchtet und die Sauliden aus dem Weg räumen will, wird der Leserin klar, dass sich die alte Ich-Michal nichts vorzuwerfen hat: Zusammen mit Abigail hat sie vehement Widerstand geleistet (146-148). Auch den Selbstvorwurf, sich Davids Rückforderungsbefehl nicht widersetzt zu haben, kann die Leserin nicht gelten lassen: Hat Ich-Michal vergessen, dass ihr Widerstand Krieg bedeutet hätte? David hätte sie einfach mit Gewalt zurückgeholt. Einzig dem von David erbetenen Tipp zur Vertuschung seines Ehebruchs hätte sich IchMichal verweigern müssen (154). Es nützt aber Ich-Michal nichts, wenn sie Täter hasst. Hass schlägt immer in Selbsthass um.254 Heimatlosigkeit und ihre Identität als (alte) Frau sind weitere Themen von Ich-Michal, die anders ist als andere. Ausser Jonathan steht ihr kein Familienmitglied nahe. Als Mitglied der Königsfamilie ist ihr auch das Volk fremd. Sie versteht dessen fragwürdiges Verlangen nach Wundern und Helden nicht (34). Das Umbringen von Menschen ist für sie „der Gipfel des Anormalen“, und sie fragt sich: „ Entsteht aus der Meinung der meisten die Norm? War, wenn die meisten einem Mörder nachliefen, das Morden normal?“ (61) Mit ihrer Familie muss sie vor David und seinen Verbündeten in das ihr fremde Machanaim fliehen (98). Als sie später mit David vor Absalom ebenfalls dorthin fliehen muss, kennt sie dort niemanden mehr (211). An Davids und an Salomos Hof, wo ihr Bathseba nachstellt, fühlt sie sich nie zu Hause. Als alle Menschen, die sie je geliebt hat, gestorben sind, denkt sie an Selbstmord (60). Ohne wirklich krank zu sein, ist das Alter für sie an und für sich eine Krankheit. Sie nimmt sich zusammen, da sie den Jungen Vorbild sein will, auch wenn sie weiss, dass das Leben eigentlich umsonst ist (104-105). Denn als Frau ohne Kinder ist sie wertlos: David lacht sie deswegen aus, und Bathseba hält ihr dasselbe vor (134,234). Fazit: Bei Ich-Michals Thema der Heimatlosigkeit fühlt sich die Leserin an Weils Gefühle erinnert. Wie für Ich-Michal in Machanaim alles fremd war, fühlte sich Weil in Holland fremd. Während es bei Weil um ihre verlorene Identität als assimilierte deutsche Jüdin geht, geht es bei Ich-Michal um ihre Identität als Frau. Schon früh wurde Ich-Michal durch die unsägliche Brutalität von Männern ‚entfraut’. Während sie in jungen Jahren ihrem Bruder Schwester und Frau war, ist sie für ihre Gatten nicht Ehefrau, sondern nur Schwester (118). Frauen werden von androzentrischen Gesellschaften auf ihre Gebärfähigkeit reduziert. Nicht erst im Dritten Reich war es wichtig, dem Führer Kinder zu gebären. Antigones Satz „nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da“ hat Weil immer wieder beschäftigt. Sie wollte das Zerstörungswerk der Nazis nicht fortführen und sich selber durch Hass zerstören. Vgl. Anm. 188. 254 78 Was das Thema Alter anbelangt, ist langes Leben für Ich-Michal nicht wie sonst in der Bibel Segen, sondern Fluch. Alter bedeutet für Ich-Michal wie für Ich-Grete Einsamkeit und ständige Präsenz von belastender Vergangenheit. Musik und Frömmigkeit machen eine Seite von David aus, Ehebruch, Mord, Totschlag und Krieg die andere. Am Anfang ist der blonde Junge wie ‚Jahwes Engel’: Seine Musik hüllt die Zuhörenden ein und hebt sie in den Himmel. Sein Harfenton jubiliert, und seine helle Stimme ist voll Kampfeslust und Frömmigkeit (21-22,25). Auch später vermag die männlich gewordene Stimme des erwachsenen Mannes mit Bart, aus der Stolz über sein Auserwähltsein und seine Gottesnähe herauszuhören ist, entzücken und beglücken (111114). Im ersten Teil seines Lebens ist er Musiker, Sänger, Krieger und Räuber, im zweiten wird er König und Mörder. Obwohl er einen Psalm verfasst, in dem er sich als jemanden, der ständig ‚Lust an Seiner Weisung’ hat, darstellt (113-114), begeht er Ehebruch und lässt morden, ohne seine Hände je schmutzig zu machen (60,88,156). Schon vor der BathsebaAffäre hat er ein schlechtes Gewissen, was sein Blutvergiessen anbelangt. Aus diesem Grund kann Natan Macht über ihn gewinnen (130). David hat ein ganz bestimmtes Gottesbild: Während Ich-Michal glaubt, dass Usa aus Aufregung gestorben ist, als er die herunterfallende Bundeslade halten wollte, ist David überzeugt, dass dieser durch seine Berührung den Zorn Jahwes heraufbeschworen hat (131132). Als jahrelang kein Regen fällt, opfert er seinem Gott die Sauliden (146-149). Bei Abigails Tod weint er ‚erstaunt’ ein paar Tränen, weil der ihm „alles gewährende Jahwe ... etwas, was er gern behalten hätte, genommen hat“. Er fordert ihn auf, ihm dafür eine neue Frau zu geben (150-151). Auf der Flucht vor Absalom verschont er den ihn beschimpfenden Schimi, weil er glaubt, dass Jahwe ihm deshalb Gutes widerfahren lässt. Erst nach Absaloms Tod stellt er sein erstes anklagendes ‚Warum’ an ihn (207,217). Bis zum Ende seines Lebens bleibt er davon überzeugt, dass Friede kein möglicher Zustand für Menschen ist, weil Jahwe keinen Frieden will. Er vermutet, dass er sein Lebensziel, alle Feinde zu vernichten, nicht erreichte, weil er eine Volkszählung durchführen liess, was Jahwe erzürnte (229-231). Lug, Trug und Volksverführung sind weitere Seiten des ambitiösen David. Er ist ein Gaukler, „der die Menschen dahin verzauberte, ihn so zu sehen, wie er gesehen sein wollte“ (45, vgl. 87). Einerseits will er Goliath erschlagen haben, anderseits behauptet er, nie einen Menschen eigenhändig getötet zu haben. Auf diesen Widerspruch angesprochen, antwortet er nervös, dass dieser kein Mensch, sondern ein Tier gewesen sei (30).255 In Tat und Wahrheit lässt er Jonathan aus nächster Nähe mit Goliath kämpfen, während er aus sicherer Distanz seinen 255 In den 1970-er Jahren rechtfertigte in der BRD die RAF Mord mit ähnlichen Argumenten. 79 Stein schleudert (32). Einerseits bringt er die Legende, dass er schon in Bethlehem von Samuel gesalbt worden sei, in Umlauf, anderseits sagt er, er kenne ihn nicht (45). In Nob erschwindelt er sich von Abimelech Goliaths Schwert (66). Er zieht Ich-Michal in heikle Situationen hinein, so dass auch sie nicht umhin kommt, zu lügen und zu betrügen.256 Am Anfang vergöttert das Volk David, hält ihn für unverwundbar und liebt in ihm den schönen jungen Sieger (34). Als er Saul in der Höhle verschont, meint Ich-Michal: „Er wusste, was das Volk liebte: Helden, die edel gegen ihre Feinde sind ... Er hatte ein Ziel und ging unbeirrt darauf zu.“ (87) Als Greis ist David verbittert, da sein Volk „genug vom Töten und Getötetwerden“ hat und sein Ziel, alle Feinde zu vernichten, nicht mehr teilt (229-230). Liebe, Hörigkeit, Selbstbezogenheit und Hass sind Davids Themen. Seine Liebesfähigkeit ist fragwürdig. So weiss Ich-Michal, dass er Jonathan geliebt hatte, „soweit er überhaupt lieben konnte“ (90). Eine Heirat hat bei ihm meist strategische Gründe (98). Ausser bei Bathseba ist er nicht fähig, auf Gefühle anderer einzugehen (154). Schon in der Hochzeitsnacht missverstehen sich Ich-Michal und er. Während sie ihm einen Sohn schenken will, der „ein grosser Sänger, ein Prinz“ ist, „vor dem die Menschen sich neigen, weil er ihnen den Frieden gebracht hat“, stellt er ihn sich als Krieger vor (44-45). Von Bathseba abgesehen, hört er Frauen nicht zu; sie müssen ihm zuhören (118,124). Nur wenn es ihm nicht gelingt, kühlen Kopf zu bewahren – was bei seiner Gefährdung durch Saul (48) und bei der Bathseba-Affäre (153-154) der Fall ist – folgt er Ich-Michals Rat. Bathseba, von der er hörig ist, bekommt eine solche Macht über ihn (177), dass nicht einmal seine Kinder mehr in seinem Herzen Platz haben (170). Aus diesem Grund kann er seine Nachkommen nicht richtig einschätzen (172,192). Als aber Amnon und Absalom ermordet werden, sind Davids Verzweiflung und Trauer echt (181, 216-217). Aus Abners Sicht hätte es Hoffnung für eine positive Entwicklung Davids als König gegeben (103). Doch diese wird durch den Bruch mit Ich-Michal, Abigails Tod und die Beziehung zu Bathseba zerschlagen. Morde lässt David durch Joab ausführen. Lange ist ihm sein Feldherr Mittel zum Zweck. Salomo wird er aber damit beauftragen, diesen zu töten, weil er Abner umgebracht hat. Denn für David gab es „keine Versöhnung, keine Milde, Hass bis zum Grab“ (121). Alter und Tod werden auch Davids Themen. Beim ,hohlwangigen, zahnlosen Greis’ erinnert nichts mehr an ‚Jahwes Engel’ (228). Er ist traurig und verbittert: Er hat erkannt, dass Bathseba ihn nur ausgenützt hat. Am Schluss seines Lebens gesteht er Ich-Michal seine Sie lügt bei der Trauung, betrügt die in der Hochzeitsnacht Wartenden mit einem ‚Jungfräulichkeitsbeweis’, belügt Davids Häscher und ihren Vater (42-45,53,58) und schlägt vor, Urija mit Bathseba zusammenzubringen, um Davids Ehebruch zu vertuschen (154). Diese charakterliche Seite zeigt sie bei Palthi nicht. 256 80 Zweifel am Sinn des Lebens: „Was ist Grösse, Michal? Ruhm für die Gegenwart? Für die, die nach uns kommen?“ (229) Seine Lebensziele hat er nicht erreicht, einzig auf die Hauptstadt Jerusalem ist er stolz. Auch wenn die beiden sich über Krieg und Frieden nicht einig werden, versuchen sie sich zu versöhnen (228,231-232,234). Zusammen träumen sie vom erfüllten Leben: „Still liegen wir zusammen, uns streichelnd, küssend. Wissend, was wir versäumt haben.“ Als Bathseba kommt und Ich-Michal vertreibt, kann er ihr gegenüber seine Gefühle zu IchMichal aussprechen: „Sie war es. Ich habe sie geliebt.“ (234) Nach seinem Tod trauert IchMichal „um die Musik, die mit ihm starb, die mir mehr bedeutet als seine der Welt gehörende Grösse“ (235). Fazit: Wie der biblische ist auch Weils David facettenreich: Er ist Musiker, Dichter, Krieger, Machtpolitiker, Mörder, Volksverführer und Glaubensfanatiker. Die Gottesbilder des Weilschen David sind durch die David-Erzählung vorgegeben: Sein zürnender Gott hat sein Vorbild in 2Sam 6,7 und 2Sam 24, wobei die Volkszählung bei Weil verändert dargestellt wird. Sein Sühne fordernder ‚Wettergott’ gleicht demjenigen von 2Sam 21: Hier bereitet Gott der Hungersnot aber erst ein Ende, als David den Sauliden ein ehrenvolles Begräbnis gestattet. Dass Weils David die Sauliden ausliefert, weil er sich durch sie bedroht sieht, ist ein nahe liegender Schluss. Wenn es um Menschenleben geht, verfährt Weils David mit seinem Gott nach dem Grundsatz ‚do ut des’ (146-149 vgl. 2Sam 21; 150-151,207). Eine Entwicklung seines Gottesbildes ist erst nach Absaloms Ermordung feststellbar (217). Doch bis zu seinem Tod stellt Krieg für David eine Art Gottesdienst dar (230-231). Davids Hang zu Lug und Trug ist auch durch die biblische Erzählung vorgegeben (v.a. 2Sam 11,1-17). Die populären Lieder zeugen von seiner Wirkung auf das Volk (1Sam 18,7; 29,5). Weil arbeitet seine volksverführende Seite noch mehr heraus und spielt wahrscheinlich damit auf Hitler an: Ihr David verfolgt ein genaues Ziel, nutzt die ‚Dummheit’ des Volkes aus und ergreift günstige Gelegenheiten. Hinter seinem anfänglich bescheidenen Auftreten verbirgt sich ein ehrgeiziger, frecher Charakter, und er hat grössenwahnsinnige Züge (32,35,93). Was die David-Goliath-Episode anbelangt, ist Weils David schlau, hinterlistig und in seinem Verhalten gegenüber Jonathan skrupellos. Die Themen des Weilschen David, Liebe, Hörigkeit und Hass, sind ebenfalls von der biblischen Erzählung inspiriert. Dass Ich-Michal seine Liebesfähigkeit in Frage stellt (90), ist naheliegend. Im biblischen Text wird nirgends erwähnt, dass David liebt: Er wird geliebt. Seine Gendergrenze ist schon in der Bibel nicht klar, wird er doch von Frauen und Männern sexuell begehrt.257 Dass in der biblischen Erzählung Salomo, obwohl nicht Erstgeborener, auf den Thron kommt, ist mit Bathsebas Einfluss auf David zu erklären, die als Hörigkeit interpretiert werden kann (1Kön 1-2). Moderne Sichtweise ist hingegen, dass David wegen Bathseba seine Kinder vernachlässigt und ihre Verhaltensweisen deshalb nicht einschätzen kann (170,172,192). So erklärt Weil Tamars Vergewaltigung, Amnons Ermordung und Absaloms Aufstand: Da David Amnon nicht kennt, durchschaut er seinen Plan nicht und schickt Tamar zu ihm. Da David auch Tamar nicht kennt, bezichtigt er sie, durch Bathseba beeinflusst, Amnon verführt zu haben und lässt dessen Untat ungesühnt (192). Durch sein unsensibles Verhalten zwingt David Absalom zur Rache an Amnon. Ich-Michal spiegelt Davids helle und musische, Bathseba seine dunkle, ambitiöse und skrupellose Seite. Nachdem zuerst Ich-Michal seiner musischen Seite hörig war, ist David später Bathsebas skrupelloser Seite hörig. Er ‚vergöttert’ sie (170), nachdem er zuvor von sei- 257 Vgl. Schroer/Staubli 1996:15-22. 81 ner Umgebung ,vergöttert’ worden war (34). Abhängig wird er auch von Joab dem Schlächter. Obwohl er ihn hasst, benutzt er ihn. Der facettenreiche Weilsche David erinnert an die verschiedenen Seiten Deutschlands, vor allem an diejenigen vom Anfang des zwanzigsten Jahrhundert bis nach dem Zweiten Weltkrieg. Zu spät erkennt er, dass nicht Bathseba, welche mit ihrer ‚kulturlosen Seite’ an das Nazitum erinnert, seine wirkliche Liebe war. Weil lässt David über seine Fehler vor IchMichal weinen (233). Er zeigt eine Trauer, welche die Autorin sich von Deutschland lange erhofft hatte. Wie Davids Musik gestorben ist, existiert die deutsche Kultur und die humanistische Tradition aus der Zeit vor dem Dritten Reich nicht mehr. So wie aus Ich-Michals und Davids Ehe kein Kind entstand, kam es nach dem Dritten Reich, dem traumatisierenden Bruch, nicht mehr zu einer fruchtbaren ‚kulturellen Liebesverbindung’ zwischen Juden und Deutschen. Weitere Figuren Palthi, Ich-Michals schüchterner, zweiter Mann mit seiner grossen Nase ist hässlich (8284). Ich-Michal und er führen eine gute Ehe „obwohl sie mit körperlicher Liebe nichts zu tun hatte. Palthi vergass nie, dass ich ... Davids Eigentum war“ (84). Sie liebt ihn wie einen Bruder, und er verehrt und beschützt sie (102,86). Als Bauer muss er kein Soldat, kein Held sein: „Palthi war ein Jude, wie ich mir vorstellte, dass ein Jude zu sein hatte: ohne kriegerischen Ehrgeiz, nicht rachsüchtig, geduldig, mitleidend, gerecht, menschlich und sanft.“ (85) Er ist nicht nur bodenständig, sondern auch humorvoll und romantisch. Oft lachen die beiden zusammen. Sie können gut miteinander reden und erfinden für einander Gedichte. Jeder Tag ist ein Fest für sie. Palthi weint, als Jonathan umkommt und als Ich-Michal ihm weggenommen wird. Als nach dem Sieg der Philister die Sauliden fliehen, will Palthi bei seinen Tieren bleiben und widersetzt sich Isch-Boschet, der ihm nach Machanaim zu ziehen befiehlt (85-86,89,91-92,95-98,101). Schliesslich gehorcht er doch, denn „wir waren beide dazu erzogen, das zu tun, was uns gesagt wurde ...“. Im Nachhinein fragt sich Ich-Michal: „Warum haben wir ... nicht nein gesagt? Wir waren ... zu unerfahren, um zu wissen, dass Neinsagen immer oder doch fast immer eine Möglichkeit und meistens die bessere ist. Was hätte Abner uns tun können? Uns töten? Und wenn schon. Keinem von uns beiden lag am Leben ...“ (96-97). Kurz nach ihrer Rückkehr zu David stirbt Palthi. Sie fühlt sich ihr Leben lang schuldig, dass sie sich David nicht widersetzt hat (119). Fazit: Der hässliche Palthi ist ein guter Mensch, während der schöne David ambigue bleibt. Auch charakterlich ist er das Gegenteil von David. Er ist der Inbegriff von Weils wahrem Juden. Zudem stellt er einen emanzipierten Mann dar. Obwohl es unwahrscheinlich ist, dass Weil auf die rabbinische Auslegung der Figur Palthi anspielt, sieht ihr Palthi dem rabbinischen ähnlich: Er zügelt seine Leidenschaft und berührt Michal nicht.258 In Weils Palthi spiegelt sich vieles: Dessen sanftmütige Art erinnert an Edgar Weil.259 Wie Palthi und Ich-Michal von Isch-Boschet aufgefordert werden, nach Machanaim zu ziehen, werden Grete und Edgar Weil von Paula Weil dazu gedrängt, nach Holland zurück zu Vgl. Ginzberg 1968:273-274. Vgl. die Darstellung von Edgars zärtlicher Art in LWAL 58. Palthi ist für Ich-Michal wie ein Bruder. Der Name Waiki (Bruder) steht auch für Edgar. 258 259 82 kommen.260 Ich-Michals und Palthis Ehe könnte für die ‚jüdische Zwangsgemeinschaft’ stehen, in die Weil wider Willen geriet. So wie aus der Ehe zwischen Ich-Michal und Palthi kein Kind resultiert, kommt es zu keiner nachhaltig fruchtbaren Verbindung von Weil mit dem Judentum, weil sie darunter vor allem eine Religionsgemeinschaft und Zionismus versteht. Palthi könnte aber auch für Holland stehen. Weil empfand diesem Land gegenüber Liebe und Dankbarkeit, fand es aber hässlich. Es kam zu keiner fruchtbaren ‚kulturellen Liebesverbindung’ von Weil mit diesem Land.261 Saul wird wegen seiner Grösse und seiner Gutmütigkeit zum König gesalbt. Als er sich weigert, den Amalekiterkönig Agag – und als ursprünglicher Bauer auch dessen Tierherden – zu töten, verflucht ihn Samuel in Jahwes Namen und verkündet ihm, jemand anderer werde an seiner Statt König werden. Als er Agag eigenhändig vor Sauls Augen erschlägt, verliert dieser in der Folge den Verstand: Er wandert ruhelos im Palast umher, kämpft gegen die Luft, brüllt wie ein Tier, schluchzt und weint. Nur durch Davids Musik lässt er sich beruhigen. Voll Liebe sieht er ihn an, wenn er vor ihm spielt (15-18,22-23). Doch bald erkennt er die Gefahr, die von David ausgeht: dass dieser die Liebe des Königshauses – seine, Jonathans und Ich-Michals Liebe – betrügt und diejenige des Volkes missbraucht. Doch er ist ohnmächtig, sein Rasen umsonst. Mit dem grausamen Brautpreis versucht er ihn loszuwerden (37,39). Gnadenlos stellt er ihm nach und lässt die Priester von Nob ausrotten, als er erfährt, dass David bei ihnen gewesen ist (66-68). In der entscheidenden Schlacht gegen die Philister soll er sich selber umgebracht haben (89). Fazit: Saul ist Samuels Werkzeug. Sein Widerstand gegen ihn endet im Wahnsinn. Eine Hoffnung wäre sein geliebter Musiktherapeut gewesen, doch dieser trachtet nach seinem Thron. Es kommt zum erbitterten Machtkampf zwischen den beiden. Saul schreckt vor keiner Untat zurück, seinen Widersacher zu vernichten. Weil hält sich mit ihrer SaulDarstellung ziemlich genau an die biblische Vorlage. Der biblische Saul steht für die Zeit der israelitischen Staatengründung. Weils Saul steht möglicherweise für Deutschland zur Zeit der Staatsgründung bis nach dem Ersten Weltkrieg. Achinoam hingegen tut immer, was ihrem Rang und der Norm entspricht. Ohne Vorgaben wäre sie unfähig zu handeln (61,91). Das „wundersam war mir deine Liebe über Liebe der Frauen“ in Davids Klagegesang für Jonathan findet sie nicht normal (90-91; 2Sam 1,26). Fazit: Achinoam tut das ‚Normale’ weiter, auch nachdem die Welt um sie herum nicht mehr ‚normal’ und Saul wahnsinnig geworden ist. Ihr Verhalten erinnert an Mitläufer eines Systems, die Alltag und Religionsausübung trotz ‚irrsinniger’ Ungeheuerlichkeiten ‚normal’ gestalten. Weil wollte im Sommer 1939 mit ihrem Mann in der Schweiz bleiben, fügte sich aber der Schwiegermutter und bereute es später bitter. Vgl. LWAL 144-146. Vgl. S. 14. 261 Vgl. Keilson über Weil in Rouleaux 2009:59. Vgl. Anm. 61. 260 83 Jonathan ist schön, schlank, gross und vom Charakter her weich und erpressbar. Obwohl er verheiratet ist, stört seine Ehe die Liebe zu seiner Schwester nicht. Die Ehe ist Pflicht: als Thronfolger muss er Nachkommen haben. Auch seine Liebe zu David ist körperlicher Art: „Sie (David und Jonathan) küssen sich lang.“ (20,24) Obwohl Jonathan kein Held sein will und Krieg ihm ‚ein fremder Zustand’ ist, setzt er sich im Kampf gegen Goliath ein, damit IchMichal David heiraten kann. Als David dem toten Goliath den Kopf abschlägt, hat Jonathan eine Vision: Er sieht eine Krone auf dessen Haupt und ist nun überzeugt, dass David König über Israel werden muss. Seine eigene Rolle sieht er als Priester oder Schreiber. Für Ich-Michal ist Jonathan ‚Israels gute, Israels wahre Seele’ (31-33,38). Nach Davids Flucht ist er ihre einzige Stütze (58). Bei Doegs Massaker rettet er Abjatar (67). Seine Loyalität zu David findet erst ein Ende, als dieser zu den Philistern überläuft (86). Fazit: Wie in der biblischen Vorlage ist auch die Gendergrenze von Weils Jonathan verwischt. Bei Weil hat er aber zusätzlich eine sexuelle Beziehung mit seiner Schwester. Die Verbindung der Geschwister erinnert an diejenige von Antigone und Polyneikes, respektive an diejenige von Weil und ihrem Bruder.262 Weils Jonathan ist pazifistisch, während die Bibel von einem kriegerischen Jonathan berichtet (1Sam 13,1-4; 14,1-46). Biblisch ist, dass Jonathan wegen seiner Liebe zu David den Thronanspruch aufgibt. Weils Jonathan stellt das Gegenstück zu David dar: Ihm liegt nichts daran, König und Krieger zu sein, er ist ‚Israels gute, Israels wahre Seele’ (31), während normalerweise David als ‚Verkörperung der Seele seines Volkes’ rezipiert wird. Das Bild von Jonathans Leichnam am Stadttor lässt die Leserin an den gekreuzigten Jesus denken (89). Samuel ist der wirkliche Herrscher, der verhört, richtet, verurteilt und dem alle gehorchen müssen. Der Prophet und Nachfolger Moses ist alt, hager, hat einen verkniffenen Mund und kleine böse Augen. Er behauptet Jahwes Willen zu kennen. Als Saul sich weigert, Agag zu töten, erschlägt er den Wehrlosen eigenhändig (16-17). Erst auf der Flucht vor Saul trifft ihn der Weilsche David das erste Mal: Er „läuft dorthin, wo die Macht ist“ (58). Fazit: Weils Samuel-Darstellung fällt nur negativ aus. Als Vertreter fanatischen Gedankengutes vernichtet er nicht nur Feinde, sondern auch Landsleute gnadenlos, wenn sie nicht seinen Gesetzen, respektive denjenigen seines Gottes Jahwe folgen. Die Art des Weilschen Samuel erinnert an nationalsozialistischen Fanatismus. Abjatar ist der Sohn des Hohepriesters Abimelech. Ich-Michal kümmert sich liebevoll um ihn, nachdem er vor Doegs Blutbad gerettet worden war (67-69). Als sie die Theodizeefrage wegen des Massakers an unschuldigen Priestern, deren Frauen und Kinder aufwirft: „Warum lässt Jahwe das zu?“, kennt er die Antwort: „Nichts geschieht ohne seinen Willen. Er ist ein strenger und gerechter Gott. Wahrscheinlich wollte er uns für etwas bestrafen ... Wir haben ... gefehlt.“ (68) Vgl. LWAL 31-35 und S. 9. Sie erinnert auch an die Verbindung zwischen Grete und Edgar Weil, denn Ich-Michals Worte nach Jonathans Tod entsprechen denjenigen Weils nach der Ermordung ihres Mannes. Vgl. LWAL 157-158 und S. 15. 262 84 Lakonisch zitiert er Hiob 1,21: „Er hat gegeben. Er hat genommen, der Name des Herrn sei gelobt.“ (68) Später, als Davids oberster Priester, ist er ein eiskalter, harter und eitler Mann, der streng seinem strengen Gott dient und Ich-Michal verflucht (117,133). Fazit: Die Geschichte von Weils Abjatar ist der biblischen nachempfunden, wobei Jonathan und Ich-Michal eine wichtige Rolle bei seiner Rettung zukommt. Abjatars Haltung angesichts der Ungeheuerlichkeit von Doegs Massaker erinnert an Deutungsmodelle der ‚Holocaust-Theologie’, die in den sechziger Jahren vor allem in den USA entstanden ist.263 Amnon ist vierschrötig, grob, unbedacht und hat von David die Hemmungslosigkeit geerbt. Er erlebte eine schwierige Jugend: Während der Flucht seiner Eltern hungerte und fror er (111,172,194). Nach Tamars Vergewaltigung beschuldigt er sie, sich ihm an den Hals geworfen zu haben (176). Fazit: Amnons Haltung erinnert an Kreise, die den Juden die Schuld an ihrer Verfolgung zuschieben, die Schilderung seiner Jugend an die Tendenz, kriminelle Handlungen im Nazireich psychologisierend erklären zu wollen. Abigail ist schon etwas älter. Sie ist sich bewusst, dass sie für David nur ‚Zwischengeplänkel’ war. Ihr gemeinsames Kind ist gestorben. Trotzdem sieht sie die Sonnenseiten des Lebens. Sie wird Ich-Michals ‚unerwartetes, spätes Glück’. Als es ihr nicht gelingt, zusammen mit Ich-Michal David daran zu hindern, die Sauliden auszuliefern, weint sie lange. Das Bild ihres Helden ist zerstört. Kurz darauf stirbt sie (64-65,116-117,127,148-150). Fazit: Weils Abigail verkörpert Realitätssinn, Unbeschwertheit und steht für Frauensolidarität. Ihr Tod kurz nach Davids Untat weist auf ein ‚gebrochenes Herz’ hin. Maacha ist ein „scheues Wesen, eine Nomadin, die besser in ein Zelt passen würde als in einen Palast“ (115). Sie glaubt an Geister und gilt als Zauberin. Den Schatten über ihren Kindern bemerkt sie, kann ihn aber nicht wegzaubern. Sie mag es nicht, dass ihr Sohn Absalom sich zu Ich-Michal hingezogen fühlt. Nach Tamars Vergewaltigung verabscheut sie diese als Teil Davids. Absaloms Blutrache ist für sie selbstverständlich (115,160-162,173,181). Fazit: Weils Maacha ist Repräsentantin eines archaischen Glaubens mit Praktiken, die in Davids Ära erfolglos sind. Mit ihrem Verhalten Ich-Michal gegenüber erinnert sie an die Haltung gewisser amerikanischer Juden der assimilierten Weil gegenüber. Absalom ist ein „Engel Jahwes“, der „mit dem Flammenschwert ... richtet und kämpft“. Von David hat er die Entschlusskraft geerbt (116,193-194). Er hat eine innige Beziehung zu seiner Schwester Tamar und zu Ich-Michal, die er ,meine Mutter’ nennt und von der er überzeugt ist, dass sie in einem früheren Leben seine Frau war. Er glaubt an Geister, gute und Ignaz Maybaum sieht die nationalsozialistische Judenvernichtung als ‚churban’ (Zerstörung), die ‚gesera’, (Fügung und Urteil Gottes) ist und als Sündentilgung wirkt. Vgl. Lenzen 2002:138. 263 85 schlechte Tage. Mit Davids Glaubenssystem kann er nichts anfangen (60,161). Nachdem er Amnons Tat gesühnt hat, setzt er sich zunächst nach Geschur ab (181). Da er weiss, dass Bathseba ihn ausschalten will, reift sein Entschluss zur Rebellion (194,196). Fazit: Von seinem Glaubenssystem abgesehen, entspricht Weils Absalom ziemlich genau der biblischen Vorgabe. Er repräsentiert ein neues Glaubenssystem, das mit Elementen der Religion seiner Mutter Maacha versehen ist. Seine Rebellion gegen das Regime, das kein Recht spricht und ihn in seinen Rechten beschneiden will, scheitert, so wie der vereinzelte Widerstand gegen das Hitlerregime, zum Beispiel des deutschen Adels oder einzelner Theologen. Tamar mit den „schwermütigen ... Augen, die alles Leid vorwegzunehmen scheinen“ ist als Kind verschlossen und gleichzeitig verspielt wie ein kleines Tier (116,161,170). Als junge Frau lacht sie viel und erweist sich als begabt: So ist sie ist eine exzellente Bäckerin. Nach der Vergewaltigung durch ihren Halbbruder Amnon ist sie ein ‚jäh erloschenes Licht’, sieht aus wie eine uralte Frau und gilt als entehrte Wahnsinnige (172-173,177,192). Fazit: Weils Tamar, Amnons Opfer, wird nochmals zum Opfer gemacht. Ihre Vergewaltigung wird ihr von Bathseba und David als selbstverschuldet zur Last gelegt. Sie erinnert an die Opfer der Nazis, die das Grauen zwar überlebt haben, aber beschuldigt werden, es selber verschuldet zu haben und die als tote Überlebende gelten.264 Bathseba, die verführerische, alles beschmutzende, skrupellose Täterin, ist oft in Weiss gekleidet und strahlt Kälte aus. Sie hasst Ich-Michal seit der ersten Begegnung. Sie kann es nicht ausstehen, dass diese vor ihr Davids Frau gewesen ist. Sie trägt Ich-Michal auch nach, dass diese sie, als sie nach ihrem Ehebruch schwanger war, hilflos sah. Sie hat nie zu stillende Ansprüche, ist nur auf ihren Vorteil bedacht und lehnt Menschen ab, die sich ihr nicht bewundernd zu Füssen werfen. Schon bald mischt sie sich in Staatsgeschäfte ein. Sie hindert David daran, etwas gegen Amnon zu unternehmen (115,153-154,157,176177,234). In schweren Stunden steht sie David nicht bei. Auf der Flucht vor Absalom weint sie, weil ihre Schönheit Schaden nehmen könnte (204,217). Nach Davids Tod verfolgt sie Ich-Michal wie einen Schattten. Sie kennt ihre Angst und kostet sie aus (13). Fazit: Weils Bathseba, die Gegenfigur zu Abigail, spiegelt Davids dunkle und skrupellose Seite, ist aber im Gegensatz zu ihm völlig ‚kulturlos’. Sie ist der Inbegriff einer Frau, die das androzentrische System trägt und an ihre Kinder tradiert. Frauensolidarität ist für sie ein Fremdwort. Sie erinnert an die Nazis, die Opfern die Schuld gaben. Ihr Wirken nach Davids Tod erinnert an die Schatten Nazideutschlands, gegen die Weil nicht ankam.265 Tamars Verspieltsein erinnert an Edgar Weils Verspieltsein (wie ein junger Hund). Vgl. LWAL 96. Vgl. Corn, Alfred: Bathsheba and the Nazis. In: New York Times, 10.5.1992. (http://www.nytimes.com/ 1992/05/10/books/bathsheba-and-the-nazis.html abgerufen am 14.10.2009). Corn formuliert in einem Nebensatz die Vermutung, dass Bathseba u.a. Nazitum symolisieren könnte. Vgl. auch die negative Darstellung Bathsebas in Heym 1972:162-185. David ist auch dort Bathsebas williges Werkzeug. 264 265 86 Salomo ist das ungeliebteste von Davids Kindern (121).266 Schon früh stellt Bathseba die Weichen für seine Zukunft. Als Kind ist er altklug, eingebildet und lernbesessen (172,177). Später, als König, hat er für Propaganda-Aktivitäten Zeit, weil sein Vater „alle Feinde so endgültig besiegt hat“, dass er „seine Prunkbauten errichten und den Ruf vermehren kann, der weiseste König zu sein“ (26, vgl. 127). 267 Bathseba ist an seinem Hof sehr präsent (13). Fazit: Entgegen der biblischen Darstellung ist die Weisheit von Weils Salomo nicht ein Geschenk Gottes (1Kön 5,9-14). Er betreibt Geschichtsklitterung. Seine Herrschaft erinnert an die BRD, wo Friede herrscht, aber altes Gedankengut immer noch vorhanden ist. Joab ist dafür zuständig, dass Urija umkommt. Weils Joab ist es zudem zu verdanken, dass Jerusalem eingenommen wird (121,125 Vgl. 2Sam 5,6-9). Davids Feldherr hat bei ihr den Beinamen ‚der Schlächter’, nachdem er Abner ermordet hat (120). Fazit: Weils Joab erinnert an Hitlers ‚Schlächter’.268 Achitophel, Bathsebas Grossvater und Davids Berater, bezeichnet Abner als „den gescheitesten Menschen unter den Völkern“ (107). Fazit: Achitophel ist der Inbegriff des gescheiten Juden. Weil bedient sich hier eines nicht unproblematischen Klischees. Natan verbietet David schon vor der Bathseba-Affäre den Tempelbau, weil dieser zu viel Blut vergossen hat (117,130). Fazit: Weils David wird negativer dargestellt, als dies in der Bibel der Fall ist. Natan spielt bei Weil ansonsten eine untergeordnete Rolle. 3.7 Grete Weils Vorgehen im Umgang mit dem biblischen Text Ruth Klüger weist darauf hin, dass Frauen anders lesen als Männer.269 Dies ist auch bei Weils Bibellektüre der Fall: Sie lässt Michal die geschichtliche Situation und ihre eigene Position aus der kritischen Perspektive einer emanzipierten Frau des zwanzigsten Jahrhunderts betrachten. Leerstellen zu Michal im Text der David-Erzählung füllt Weil auf und Hierin gleicht er Hellers Salomo. Heller, Joseph: God knows. New York 1984. Deutsche Übersetzung: Weiss Gott. Danehl, G. (Trad.). München 1985. 267 Hierin gleicht er Heyms Salomo. 268 Z.B. den meist gesuchten Kriegsverbrecher Aribert Heim, den ‚Schlächter von Mauthausen’ oder den Nazischergen Heinz Barth, den ‚Schlächter von Oradour’. 269 Klüger, Ruth: Frauen lesen anders. München 1996. Weiterführende Informationen zu Klüger s. dies.: Weiter leben: Eine Jugend. Göttingen 1992 und dies.: Katastrophen: Über deutsche Literatur Göttingen 1994. Zu Klüger und Weil s. Bos 2005. 266 87 interpretiert ihre Verhaltensweise aus Frauensicht. Textstellen über männliche Protagonisten werden von ihr gekürzt, geändert oder ausser Acht gelassen.270 Weil schildert, was IchMichal von der (der Leserin bekannten) David-Erzählung am eigenen Leib erlebt und was sie von Jonathan, Palthi, Abner oder den Frauen am Brunnen erfährt. Obwohl die stete Wiederkehr von Krieg und Vernichtung den Hintergrund ihres Lebens bilden, erzählt IchMichal nur das Wenigste davon nach. Aus ihrer Sicht ist das brutale Weltgeschehen durch die Herrschenden und das Volk, das Helden liebt, verschuldet. Sie geht mit der kriegerischen Geschichte des alten Israel, der Staatengründung, dem Propheten Samuel, den Königen Saul, David und Salomo hart ins Gericht: Samuel ist ein taktierender ‚Königsmacher’ (58), die Amtsführungen der Könige Saul und David haben nichts mit göttlicher Eingebung zu tun, und Salomo kommt nicht durch göttliche Fügung auf den Thron. Ihre Sicht auf die Geschichte ist entmythologisierend.271 Immer wieder fragt Ich-Michal nach Möglichkeiten des Widerstandes.272 Indem Weil Ich-Michal das Wort leiht, kann sie David als Staatsmann und Privatperson darstellen. Obwohl ihr Urteil über ihn als Politiker vernichtend ist und sie ihn als Helden demontiert, zeichnet sie von ihm als Privatperson nicht nur ein negatives Bild. Vor allem bleibt der ‚mythische‘ Zauber des Psalmendichters, Harfenspielers und Sängers unangetastet (22-23,113-114). Sie zeigt seine Tragik auf: Seine dunklen Seiten werden durch Bathseba verstärkt, während Ich-Michal vergeblich seine lichten zu fördern versucht. Er weint, nicht nur wenn er machtlos ist, sondern auch wenn er gerührt ist oder bereut (44,114,233). Weil stellt Frauen nicht stereotyp gut, Männer nicht stereotyp böse dar. Lediglich am Anfang des Romans macht es den Anschein, dass nur Männer brutal sind, Geschichte machen und für Frauen den Mittelpunkt ihres (Opfer-) Daseins bilden. Doch es sind die Frauen, welche schon bald mit ihren Heldenliedern den Krieger David stützen (46), und in der zweiten Hälfte des Romans tritt die Täterin Bathseba auf, welche am Schluss die Fäden der Politik in Händen hält. Weil stellt verschiedene Männertypen dar: den ohnmächtig agierenden Saul, den ehrgeizigen, ambiguen David, den unmenschlichen, fanatischen Sa- Jonathan spielt eine pazifistische, Saul eine Neben- und Adonija keine Rolle. Was Jonathan anbelangt, wird 1Sam 13,1-4; 14,1-46 weggelassen. Die Ereignisse ab 2Sam 21,10 werden nicht nacherzählt, von 1Kön ist nur Davids Krankheit, sein Tod, die Nachfolge Salomos und dessen rege Bautätigkeit von Interesse. 271 Weil ist aber von wissenschaftlichen Erkenntnissen neuerer Zeit weit entfernt, welche die Bibel als Geschichtsbuch verwerfen: Vgl. z.B. Finkelstein, Israel/Silberman, Neil A.: David und Salomo. Archäologen entschlüsseln einen Mythos. Seuss, Rita (Trad.). München 2006. 272 Rizpas Widerstands lässt Weil unerwähnt (2Sam 21,10-14), da er wahrscheinlich nicht in das von mir (bei den Figuren) beschriebene Konzept von Weil passt. Auch weniger wichtige Erzählungen werden ausser Acht gelassen: z.B. diejenige der Frau von Tekoa (2Sam 14,1-20), diejenige mit Ziba (2Sam 16,1-4) und Schobi (2Sam 17,27-29). 270 88 muel und die ‚wahren Juden’, respektive die ‚guten, wahren Seelen Israels’, die friedfertig sind: Palthi, Jonathan und der seinen Feinden vergebende Rabbi Jesus. Weil hat sich offensichtlich gründlich mit der David-Erzählung auseinandergesetzt. Sie scheint mit verschiedenen Übersetzungen gearbeitet zu haben. Viele Details zeugen davon, dass sie sich mit der Kulturwissenschaft des Alten Israel vertraut gemacht hat.273 Einiges weist auch darauf hin, dass sie sich wahrscheinlich von Heyms Der König David Bericht (1972) und Hellers God Knows (1984) inspirieren liess.274 So fallen folgende Parallelen zwischen Der König David Bericht und Der Brautpreis auf: Während Heyms Roman als Abbild der DDRWirklichkeit, als Abrechnung mit Sozialismus und Stalinismus interpretiert werden kann,275 kann Weils Roman als eine Anspielung auf Wirklichkeiten im Vorkriegs-, Naziund Nachkriegsdeutschland gelesen werden. Schon Heyms positiv und selbstbewusst dargestellte Michal ist für dessen David-Erzählung eine der wichtigsten Zeuginnen, die wie Weils Michal nur noch in der Vergangenheit lebt und ausser ihrem Zeuginnen-Sein keine Bedeutung mehr hat.276 Zu God knows fallen folgende Parallelen auf: Hellers uralter Protagonist David rekapituliert wie Weils uralte Michal das Leben. Beides sind tragische Figuren: Sie sind überflüssig, respektive für die Nachwelt störend, trauern verlorenen Lieben nach und beschäftigen sich mit Schuld.277 Gemeinsam ist allen drei jüdischen Romanschriftstellern – die alle aus einer anderen Perspektive einen David-Roman in der Ich-Form schreiben – dass sie den David-Mythos und die Zeit der Staatengründung dekonstruieren und säkularisieren. Alle drei stellen Machtpolitiker dar, welche ihr Handeln religiös verVergleiche mit Chouraqui zeigen, dass Weils Roman dem damaligen kulturwissenschaftlichen Stand entspricht. Chouraqui, André: Die Hebräer. Geschichte und Kultur zur Zeit der Könige und Propheten. Stuttgart 1975. Zu Ich-Michals Brautschmuck (41) vgl. ders. 147,151; zu Davids Bart (111) vgl. ders. 146. Zu Davids Instrumenten (21,44) vgl. ders. 210-213. Zu Klima und Ackerbau (55,145) vgl. ders. 156, zu Tieren (29,132) vgl. ders. 157, zu verschiedenen Völkern, v.a. den Philistern (26-27,128) vgl. ders. 41. Zu der ‚romantischen Liebe’ (21), der Rolle des Vaters bei der Eheschliessung und beim Aushandeln des Brautpreises (39,83), der Jungfräulichkeit vor der Ehe, deren Beweis mit einem blutbefleckten Tuch erbracht wird (44), vgl. ders. 174; zu Davids Polygamie und den daraus resultierenden Schwierigkeiten (63-64,115,153) vgl. ders. 173; zur verbotenen Liebe zwischen Jonathan und Ich-Michal (16) vgl. ders. 171,175; zur verbotenen Liebe zwischen Jonathan und David (20,91), zum Ehebruch von Bathseba und David, die mit Steinigung geahndet wird (154), vgl. ders. 175,179; zur Unterordnung der Frau (59) vgl. ders. 183. Zum nur sehr selten vorkommenden Selbstmord (89,214) vgl. ders. 152; zum Zerreissen von Kleidern und Singen von Klageliedern als Zeichen der Trauer nach einem Todesfall (90,91,121), zum Verbleib in der Scheòl nach dem Tod (91) vgl. ders. 188. Zu der mit einem Feuerstein gemachten Beschneidung (27) vgl. ders. 182. Was die Philister anbelangt (128), verfügt Weil über ein Wissen, das über Chouraqui hinausgeht. 274 Weiterführende Information zu Heym s. z.B. Eckstein 2000:217-293, zu Heller s. z.B. Eckstein 2000:319386. Vgl. v.a. die Figuren David, Michal, Bathseba und Salomo. 275 Bei den Rezensenten bestand keine Einigkeit, ob David oder Salomo als Stalin zu lesen war. Weiterführende Information s. Eckstein 2000:226-230. 276 Heym 1972:34-41,67-73,133-142. 277 Weils Michal ist das Gegenstück zu Hellers Michal. Letztere hatte keine Kinder, weil David sich dem ‚verbitterten Zankteufel’ und der ,giftigen Hexe’ sexuell verweigerte. Sie sei frigide gewesen, habe einen Sauberkeitsfimmel gehabt und immer auf ihre königliche Abstammung hingewiesen und ihn in der Rolle als König ignoriert. Sie sei nicht eine einzige Philistervorhaut wert gewesen. Vgl. Heller 1985:13,3940,42,107,179,288. 273 89 brämen.278 David wird bei allen als äusserst ich-bezogen dargestellt, und alle greifen die im Bibeltext angelegte Ambiguität seines Charakters auf. Im Gegensatz zu Heym und Heller glättet Weil jedoch die in der David-Geschichte angelegten Erzählbrüche. Sie übernimmt die Version von 1Sam 16,18.21, was das Kennenlernen von Saul und David anbelangt und lässt 1Sam 17,55-56 ausser Acht. Sie glättet den Erzählbruch zwischen 1Sam 31,4-6, wo sich Saul selber umbringt und 2Sam 1,1-10, wo er einen Amalekiter beauftragt, ihn zu töten. Dass sie Sauls Tod nicht thematisiert, wird daran liegen, dass er bei ihr eine Nebenrolle innehat. Aus diesem Grund geht Weil wahrscheinlich auch nicht auf 1Sam 28 – Saul bei der weisen Frau von En-Dor – ein. Zudem ist Übersinnliches für sie nicht von Interesse. Bemerkenswert ist ihr Umgang mit Legenden: Weil lässt Jonathan „die Geschichte“ über Goliath erzählen, „wie sie wirklich war. Ehe sie zur Legende wird“ (31), wobei offen bleibt, wer Goliath tötete (30-33). Die Legende von Davids Salbung in Bethlehem lässt sie ihn selber in Umlauf bringen (45). Obschon von Weil wahrscheinlich nicht beabsichtigt, kann ihr Text als feministischer Midrasch mit pazifistischer Aussage gelesen werden. Zwei Jahre nach Erscheinen von Der Brautpreis kommt Plaskows Standing again at Sinai heraus.279 Plaskow fordert eine Neuprägung jüdischer Erinnerung, in der auch Frauen präsent sind und sieht Midraschim als Mittel dazu: „Die rabbinische Rekonstruktion der jüdischen Geschichte war ... nicht Geschichtsschreibung, sondern Midrasch. Von der unendlichen Bedeutungsfülle biblischer Texte ausgehend, nahmen die Rabbinen Texte, die unklar oder störend waren, und schrieben deren Fortsetzung. Sie trugen ihre eigenen Fragen an die Bibel heran und fanden Antworten ... Das Schreiben von Midraschim – zugleich ernst und spielerisch, imaginativ und metaphorisch – ist ein Prozess mit offenem Ausgang, der sich den Feministinnen leicht angeboten hat ... wenn auch sein Selbstbewusstsein modern ist, so ist die Grundüberzeugung des feministischen Midrasch doch ganz traditionell. Er beruht auf der rabbinischen Überzeugung, dass die Bibel bis auf den Es gibt natürlich eine Reihe gewichtiger Unterschiede zwischen Weil und Heller, resp. Weil und Heym, auf die in diesem Rahmen nicht eingegangen werden kann. Vgl. im Gegensatz zur Deutung von David bei Heym, Heller und Weil diejenige von Susman, Margarete: Deutung biblischer Gestalten. Stuttgart/Konstanz 1955:88-131. David ist bei ihr König, Held, Sänger und Dichter Gottes in einem (130). 279 Midrasch ist vom Verb Crd abgeleitet, das ‚suchen, fragen’ bedeutet. Im rabb. Sprachgebrauch bedeutet Midrasch das auf die Bibel bezogene Studium. Konkret bedeutet Midrasch das Ergebnis der Bibelauslegung, die nicht auf eine bestimmte Methode fixiert ist. Vgl. Stemberger, Günter: Einleitung in Talmud und Midrasch. München, 8. Auflage 1992:232-233. Plaskow, Judith: Standing again at Sinai. Judaism from a Feminist Perspective. San Francisco 1990, resp. dies.: Und wieder stehen wir am Sinai. Eine jüdisch-feministische Theologie. Merz, Veronika (Trad.). Luzern 1992. Wie Weil, aber von religiöser Seite her, kritisiert Plaskow das Vorbild des androzentrischen Gottes als hierarchischer Herrscher für die vielen Systeme der Dominanz, die Menschen für sich selbst erschaffen: „Als heiliger König wählt er das Volk Israel als sein Volk. Als heiliger Krieger sanktioniert er die Zerstörung von Völkern, die als die Andern gesehen werden. Als heiliger Gesetzgeber verordnet er die Unterordnung der Frauen in der jüdischen Gemeinschaft.“ Plaskow 1992:164. Auch Plaskow (1992:151) definiert ihr Jüdischsein pazifistisch und kritisiert die israelische Palästinenserpolitik. Während Weil sich bei ihrer Kritik auf das Gedankengut der Aufklärung beruft, nimmt Plaskow für ihre Argumentation auf Ex 22,20 Bezug. 278 90 heutigen Tag zum Sprechen gebracht werden kann.“280 Weil gebraucht die Bibel als Geschichtsbuch des Alten Israel und trägt ihre Fragen an die ‚Michal-Erzählung’ heran, die nur unvollständig überliefert ist. So bringt sie die Bibel für sich – und für andere Frauen – zum Sprechen. Fazit: Der Brautpreis stellt Weils Versuch dar, sich mit ihren Wurzeln im Judentum zu befassen. Dafür setzte sie sich gründlich mit der David-Erzählung auseinander: mit verschiedenen Bibelübersetzungen, Davidromanen und der Kulturwissenschaft des Alten Israel. Wie religiöse Juden geht sie davon aus, dass die David-Erzählung Teil der jüdischen Frühgeschichte ist. Im Gegensatz zu diesen verneint sie aber die religiösen und politischen Aspekte dieser Geschichtsschreibung und entmythologisiert, respektive säkularisiert sie. Sie macht einen Schritt heraus aus der androzentrischen und chauvinistischen Ideologie des Textes und kreiert eine gendergerechte, pazifistische ‚Sub-Version’ zum Mythos der Staatengründung durch drei von Gott erwählte Könige (1Sam 10,1; 1Sam 16,13; 1Kön 1,32-40.46-48). Indem sie Ich-Michal das Wort verleiht, kann sie David als Staatsmann und als Privatperson darstellen. Wenn sie den Blick auf die Wiederkehr von Krieg und Vernichtung – einen Wiederholungszwang innerhalb der Geschichte – lenkt, reflektiert sie nicht, wie Gott in das brutale Weltgeschehen eingreift, sondern fragt nach Möglichkeiten des Widerstandes von Menschen. Indem sie, wenn auch wahrscheinlich unbeabsichtigt, einen feministischpazifistischen Midrasch schreibt, macht sie, etwas ‚typisch Jüdisches’: Sie vergegenwärtigt und aktualisiert jüdische Vergangenheit im Jetzt. 3.8 Die Rezeption von Der Brautpreis Der Brautpreis wird in deutscher Sprache von Nagel & Kimche sechs Mal aufgelegt, und es werden Exemplare im fünfstelligen Bereich verkauft. Die deutschsprachige Taschenbuchausgabe des Fischer Verlags wird 19'000 Mal verkauft und erlebt zwischen 1991 bis 1998 fünf Auflagen.281 Ein Grund für den Erfolg dieses Romans liegt sicherlich darin, dass er von David handelt. Damit lag Weil im Trend ihrer Zeit, und deshalb wurde ihr Roman auch von christlichen Theologen und von jüdischer Seite besprochen. Während Erstere ihn durchwegs positiv rezipieren,282 sieht dies von jüdischer Seite her anders aus. Im Fol- Plaskow 1992:81-82. Auskunft von Dorothee Binder vom Nagel & Kimche Verlag vom 18.12.2009. Die Taschenbuchauflage ist vergriffen. Auskunft von Sigrid Schmitt vom Fischer Verlag vom 17.12.2009. De bruidsprijs des Gooi & Sticht Verlags erlebte eine Auflage mit 2'500 verkauften Exemplaren. Auskunft von Luk van Oorschool vom Gooi & Sticht Verlag vom 17.12.2009 und von Bèr Deuss vom 18.12.2009, der sich für die holländische Übersetzung und Verlegung einsetzte (Erscheinungsjahr 1989). Der Roman wurde nicht mehr aufgelegt, weil Deuss Gooi & Sticht verliess. Gemäss Deuss war die Rezeption des Romans in Holland durchwegs positiv. Der Godine Verlag in Boston, der The Bride Price herausgab, reagierte nicht auf meine Anfragen. 282 Z.B. Motté, Magda: „Esthers Tränen, Judiths Tapferkeit“. Biblische Frauen in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Darmstadt 2003:122-126; Gellner, Christoph: Schriftsteller lesen die Bibel. Die Heilige Schrift in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Darmstadt 2004:53-65; Wuckelt, Agnes: „Der Brautpreis“. Die jüdische Schriftstellerin Grete Weil im Dialog mit David. In: Dillmann, Rainer (Hg.): Bibel-Impulse. Film-Kunst-Literatur-Musik-Theater-Theologie. Berlin 2006:107-123. Dietrich, Walter: Von David zu den Deuteronomisten. Studien zu den Geschichtsüberlieferungen des Alten Testaments. Stuttgart 2002:113-114; Ders.: David. Der Herrscher mit der Harfe. Leipzig 2006:239-241. 280 281 91 genden beschränke ich mich auf eine jüdische Rezeption aus Deutschland und auf ein paar wenige jüdische Reaktionen aus den USA. Edna Brocke, Lehrbeauftragte für Judentumskunde an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr Universität Bochum, ist der Ansicht, dass bei Weil das ,christlich Eingeübte’ durchbreche und dass sie christliche ‚Antijudaismen’ übernehme. Unter ‚christlich Eingeübtem’ versteht sie Folgendes: Weil schreibe von der Klagemauer statt von der Westmauer, schreibe das Tetragramm aus und passe die Namen griechisch-lateinischer Schreibweise an.283 Die angeführten ‚Antijudaismen’ beziehen sich auf Ich-Michals Aussagen nach der Ausrottung der Priester von Nob durch Saul und der in der Folge später von David gutgeheissenen Opferung ihrer Verwandten durch die Gibeoniter (69,148). Dass Ich-Michal der Glaube an den androzentrischen Gott ihres Vaters und ihres Ehemannes abhanden kommt, die ihre ‚Untaten’ mit ihm rechtfertigen, ist meines Erachtens nicht als ‚Antijudaismus’ zu werten. Ich-Michal kommt aufgrund der erlebten Ungeheuerlichkeiten, wie vielen Juden angesichts der sinnlosen Schoa, ihr ursprünglicher Glaube abhanden.284 Brockes Überreaktion ist in ihrer Zeit zu verstehen: Feministische christliche Theologinnen hatten die androzentrische Sicht so verinnerlicht, dass auch sie in den siebziger und anfangs der achtziger Jahre mit Antijudaismen zu arbeiten begannen. Weil zeichnet in ihrem Roman aber weder ein negatives Bild eines patriarchalen, orthodoxen rabbinischen Judentums, noch macht sie Sündenbockzuweisungen im Sinne jüdischer Matriarchatszerstörung im Altertum. Auch Jesus stellt sie nicht als frauenfreundlichen Erlöser dar (224-225).285 Umständlich erklärt Brocke, warum Antigone Weil näher steht als Ich-Michal. Dabei entgeht ihr vollends, dass die unter Überlebensschuld leidende Ich-Grete sich lieber mit der heldenhaften Figur Antigone identifizieren würde. Unverständlich bleibt, dass die sprachwissenschaftlich ausgebildete Brocke nicht zwischen der Schriftstellerin Weil und ihrem Brocke, Edna: Aus der Hebräischen Bibel für Nachgeborene erzählt. Von der Tragik einer jüdischen Deutschen. Zu Grete Weils Roman ‚Der Brautpreis’. In: Kirche und Israel. Neukirchener Theologische Zeitschrift, 4. Jg., Heft 1/1989:77-78. Die 1943 in Israel geborene, seit 1968 in Deutschland wohnhafte Brocke studierte Politwissenschaft, Anglistik und Judaistik, ist im jüdisch-christlichen Dialog engagiert, Leiterin der Alten Synagoge Essen und Mitbegründerin der oben genannten Zeitschrift. Zu Weils durchdachter Vorgehensweise s. S. 52. 284 Vgl. S. 70-72. Ben-Chorin betont den Unterschied zwischen dem biblischen Hiob als ‚unschuldig Leidender’, „der sich in seinem Leid anklagend-fragend an Gott wendet“, und dem modernen Menschen, „der angesichts der Leiden Gott verliert, ihn leugnen muss.“ Ben-Chorin, Schalom: Die Antwort des Jona. Zum Gestaltwandel Israels – ein geschichts-theologischer Versuch. Hamburg 1956:24. 285 Christliche Theologinnen behaupteten z.B. jüdischer Sexismus sei gravierender als christlicher, denn Jesus als Feminist habe das alte patriarchale Gottesbild abgelöst. Vgl. z.B. Heschel, Susannah: Jüdisch-feministische Theologie und Antijudaismus in christlich-feministischer Theologie. In: Siegele-Wenschkewitz, Leonore (Hg.): Verdrängte Vergangenheit, die uns bedrängt. Feministische Theologie in der Verantwortung für die Geschichte. München 1988:72-73. Für einen Überblick der Antijudaismus-Diskussionen in der feministischen Theologie s. z.B. Wallach-Faller, Marianne: Die Antijudaismus-Diskussion in der feministischen Theologie. In: Dies.: Die Frau im Tallit. Judentum feministisch gelesen. Brodbeck, Doris/Domhardt, Yvonne (Hg.) Zürich 2000:21-25. In der Folge kam es zu Korrekturen. S. z.B. Gerda Weilers Überarbeitung Das Matriarchat im Alten Israel (1989) des ursprünglichen Ich verwerfe im Land die Kriege – Das verborgene Matriarchat im Alten Testament (1984). 283 92 Alter-Ego unterscheidet und Weil schriftstellerische Freiheiten abspricht, indem sie kritisiert, dass ihr David blond ist.286 Trotz ihrem weitgehenden Unverständnis für den Roman ist Brocke zugute zu halten, dass sie Weils Mut bewundert, den diese mit ihrem Roman beweist. Auf der Suche nach ihrer Identität als Frau, als Jüdin, als Deutsche und als Mensch habe sie versucht „‚das eigene Haus’ zu bestellen, die eigene Biographie für sich selbst – aber auch exemplarisch für andere – zu deuten“. Brocke dankt Weil am Schluss ihres Artikels „für Redlichkeit und Geschick, mit denen sie die Vielfalt der sie plagenden Fragen offen legt“.287 Als 1992 die Übersetzung The Pride Price erscheint,288 stösst Weils Definition ihres Jüdischseins in den USA auf grösste Skepsis. Viele jüdische Amerikaner erachten es immer noch als Verrat, dass Weil nach Deutschland zurückgekehrt ist. So lautet ein Kommentar: „ ... she (Weil) remains largely unknown in this country (USA). When her name comes up here, it is usually not in discussion of her literary merit: Weil ... has chosen to live there (Germany) ever since. This has dismayed many Jews, who cannot sympathize with Weils profound but paradoxical evaluation of her own Judaism and see her German citizenship as treachery.“289 Folgende Aussage über The Pride Price zeigt den amerikanischen Fokus und Filter der Wahrnehmung auf: „Her main goal is to explain her 1947 decision to return to Bavaria, where she still lives.“290 Die Figur Ich-Grete begründet ihre Rückkehr jedoch nur in wenigen Sätzen: Einerseits kam sie wegen ihres Freundes, anderseits wegen ihres Landes, in dem ihre Sprache gesprochen wird, zurück (136,165). Die Rechtfertigung ihrer Rückkehr ist mitnichten Hauptthema. Für Dagmar C.G. Lorenz, Leiterin des Instituts für Jüdische Studien an der Universität Illinois in Chicago, liegt das Unverzeihliche bei Weils vermeintlicher Unfähigkeit, respektive ihrem vermeintlich fehlenden Willen, sich von den Tätern zu distanzieren: „ ... Weil projects certain aspects of her own experience onto him (David), including her self-doubts regarding her work for the ‚Judenrat’ in Amsterdam. Michal and the anything but likeable Bathseba represent yet other facets of Vgl. Brocke 1989:73-74. Gemäss 1Sam 17,42 hat David rote Haare. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht ist es aber einleuchtend, dass Weils David blond sein muss. Ich-Michal und David stellen Gegensätze dar: „Nun ja, wir waren schön. Jeder für sich und zusammen erst recht. Er so hell, ich so dunkel.“ (47) Dass David verschiedene Seiten Deutschlands spiegelt, wird durch sein Blond-Sein unterstrichen. Es gibt Stellen, die beweisen, dass Brocke den Roman nicht sorgfältig gelesen hat. Während Weil über die Beziehung von Ich-Grete zur Figur Ich-Michal schreibt: „Niemand beschäftigt sich so intensiv mit einem Menschen, ohne ihn schliesslich liebzugewinnen.“ (169), behauptet Brocke (1989:74), dass Weil ihre Protagonistin nicht wirklich habe lieb gewinnen können. 287 Brocke 1989:78. 288 Weil, Grete: The Bride Price. Barett, John S. (Trad.). Boston: Godine 1992. 289 Milton, Edith: Cutting giants down to size. In: Women’s Review of Books. Vol IX, Nos. 10-11, July 1992 zitiert nach Meyer 1997:133, Anm. 96. 290 Budman, Matthew: Novel merges biblical story with personal odyssey. In: The Northern California Jewish Bulletin, Oct. 9 1992 zitiert nach Meyer 1997:133-134, Anm. 97. Vgl. auch Corn 1992: „ ... she wants to explain her decision in 1947 to return to Bavaria ...“ Auch hier wird nicht zwischen Weil und ihrem Alter Ego unterschieden. Was Weil anbelangt, ist sie erst 1974 nach Bayern gezogen. Corns Rezeption ist ansonsten eine Ausnahme: Sie ist nicht nur wohlwollend, sondern überträgt Weils Botschaft auch auf die amerikanische Wirklichkeit von Rassismus und Frauenfeindlichkeit. Mir ist aber nicht bekannt, ob er jüdisch ist. 286 93 the author, namely, her association with the fate of the perpetrators from whom she is unable or unwilling to distance herself.“291 Weil verkenne zudem die biblischen Werte: „In opposition to biblical law, Weil, through the eyes of Michal, portrays passion and luxury as positive and the heroic male virtues ... as destructive.“292 Diese Äusserung beweist, dass Lorenz den Roman nicht sorgfältig gelesen hat – nirgends zeigt die Figur Ich-Michal eine besondere Vorliebe für Luxus – und zeigt klar ihre Haltung ‚biblischer Geschichte’ gegenüber. An anderer Stelle äussert sie die Meinung, dass „the persecuted Jews of Europe are given preference over the victorious Jews of the Bible and in Israel“.293 Lorenz sieht nur die negative Seite bei Weils David: Er trage Hitlers Züge. Sie ist der Ansicht, dass es Weil darum gegangen sei, die Wurzeln von Genozid, Ethnozentrismus und Frauenunterdrückung beim Judentum zu suchen und zu finden.294 Es gehe ihr darum zu zeigen, dass der „‚Sonderweg’ leading to Nazism, rather than beginning in nineteenth-century Germany, started among Jews at the time of David“.295 Sie könne sich jüdischem Erbe nur annähern, indem sie es zerstöre. Aus ihrer Randposition in Deutschland erkläre sich auch ihr Fokus auf den schwachen, marginalisierten Frauencharakter Michal.296 Weil wird in den USA an religiösen Definitionen von ‚Jewishness’ gemessen, ein Unterfangen, das scheitern muss.297 Fazit: Weil richtet ihre Romane primär an ein christliches deutsches Publikum. Da sie sich mit Der Brautpreis erstmals mit jüdischer Existenz und Tradition auseinandersetzt, wird sie auch von jüdischer Seite rezipiert. Von dieser wird sie jedoch meist nicht verstanden und/oder löst Aggressionen aus. In Deutschland wird Der Brautpreis im Zusammenhang der Antijudaismus-Diskussionen in der feministischen Theologie gedeutet. In den USA wird die Ansicht tradiert, dass es als Verrat gilt, ins ‚Land der Mörder’ zurückzukehren. Nachgeborene Juden scheinen über das assimilierte deutsche Judentum nicht Bescheid zu wisLorenz 1997:282. Diese Aussage ist falsch: vgl. LWAL 166,252. Andere Aussagen sind konfus. Vgl. z.B. Lorenz 1997:280 und DB 146: „(Weil) speculates ... if she might have had children, had the Nazis not come to power.“ Lorenz stammt ursprünglich aus der BRD, wo sie auch studierte. Vgl. z.B. http://muse.jhu.edu/demo/ women_in_german_yearbook/v023/23.1lorenz.html, abgerufen am 15.12.2009. Nachfolgende Arbeiten in den USA beziehen sich auf Lorenz, s. z.B. Fuchs, Miriam: Biblical Renarratization as Autobiographical Intertext. Grete Weil’s ‚The Bride Price’: A Novel. In dies.: The Text is Myself. Women’s Life Writing and Catastrophe. Madison, Wisconsin/London 2004:139-161. 292 Lorenz 1997:283. 293 Lorenz 1997:281. 294 Vgl. Lorenz 1997:283. 295 Lorenz 1997:284. 296 Vgl. Lorenz 1997:284-285. 297 Die negative Rezeption in den USA wird Weil nicht erstaunt haben. Schon 1968 thematisiert sie in Happy, sagte der Onkel eindrucksvoll Verhaltensweisen amerikanischer Juden, ihre Verdrängungsmechanismen und ihren Realitätsverlust. Vgl. auch DB 219-220, wo Ich-Grete ihnen überhebliches Gehabe vorwirft. Erst in neuerer Zeit kommt etwas Verständnis für The Bride Price auf. Mattson ist der Ansicht, dass Weil versucht habe, sich mit ihrer säkularen Version ins Gefüge der jüdischen Geschichte einzuweben. Während Lorenz die Ansicht vertritt, dass Weils Versuch, sich der jüdischen Tradition zu nähern, gescheitert ist, weil die gefühlsmässigen und kulturellen Unterschiede zum Judentum zu gross sind, meint Mattson, dass es Weils Angelegenheit sei, ihre Suche nach jüdischer Identität als gelungen oder nicht zu beurteilen. Vgl. Lorenz 1997:284 und Mattson, Michelle: Grete Weil, a Jewish Author? German Studies Review. Vol 27, No. 1 (1. Feb. 2004):113-127 (hier 125) s. www.jstor.org/stable/1433552 abgerufen am 18.6.2009. Mattson, die, wie aus ihrem Artikel zu schliessen ist, jüdisch ist, hat einen Lehrstuhl für moderne Sprachen und Literatur am Rhodes College in Memphis inne. Vgl. http://www.rhodes.edu/images/content/Modern_languages_Docs/CV_ -_Mattson.pdf, abgerufen am 11.10.2009. 291 94 sen, respektive nicht darüber Bescheid wissen zu wollen. Obwohl das Gefühl, nicht offen Widerstand geleistet zu haben, Weil ein Leben lang quält und seinen Ausdruck immer wieder in ihrem Werk findet, wird ihr von gewissen jüdischen Kreisen ihre Arbeit als Schreibkraft beim Jüdischen Rat nie verziehen. Es ist äusserst bedenklich, dass nachgeborene Wissenschafterinnen, die sich über die Tradition als jüdisch definieren, Weil wegen ihrer säkularen Haltung das Jüdischsein absprechen. Jeder Versuch, heute einen gemeinsamen Nenner jüdischer Identität zu formulieren, birgt die Gefahr in sich, die Pluralität jüdischer Selbstdefinitionen zu missachten.298 Auch wenn Weil jüdisch-selbstkritisch, amerika- und israelkritisch ist, was als Nestbeschmutzung empfunden werden kann, erwarte ich von wissenschaftlich gebildeten Personen, dass sie wissenschaftlichen Abstand zu dem von ihnen untersuchten Gegenstand zu wahren fähig sind und ihn auch sorgfältig untersuchen. Es ist sicher wichtig, dass Erinnerung an die Verfolgung nicht der traurige Inhalt des Judentums bleibt. Doch es entbehrt jeglichen Anstands und Feingefühls, einem überlebenden Opfer des deutschen Terrors sein Judentum – selbst, wenn es ‚nur’ auf der ,jüdischen Existenz’ basiert – abzusprechen. Die ‚Ausschliesslichkeit’, mit der gewisse jüdische Kreise beurteilen, was Jüdischsein bedeutet, wird ein Grund sein, weshalb Weils Name auch heute noch nicht in grossen judaistischen Nachschlagewerken auftaucht. Schlussbetrachtung Weils autobiografischem Konzept ist Fiktionales untergeordnet: Sie will in Romanen und Erzählungen bei historischen Fakten und bei ihrem Zeugnisablegen die Wahrheit sagen. Durch die Gattungstitel ordnet sie ihr Werk aber fiktionalem Erzählen zu und schafft sich so den Spielraum, auch Dichterisches in den Text einfliessen zu lassen. Aus diesem Grund habe ich mich für Weils Lebensbeschreibung auf ihre literarische Autobiografie Leb ich denn, wenn andere leben (1998) und Interviews und nicht – wie dies viele Rezipienten tun – auf Aussagen aus ihren autobiografischen Romanen gestützt. Mit dem Thema Tod, das ihr Werk kennzeichnet, wird Weil schon als Kind konfrontiert. Das Thema der Geschwisterliebe hat seinen Ursprung in ihrer Liebe zum Bruder. Ihre Herkunftsfamilie zeigt typische Verhaltensweisen assimilierter Juden. Als Weil im Dritten Reich der jüdischen Zwangsgemeinschaft zugeordnet wird, zerbricht ihr Selbstverständnis als deutsche Intellektuelle. Nach 1945 kann die säkular Erzogene ihren Lebenssinn nicht in der jüdischen Tradition finden. Da sie nicht Zionistin ist, ist ein Leben in Israel keine Option. Sie kehrt, vor allem wegen Walter Jockisch, nach Deutschland zurück. Zwar identifiziert sie sich mit der deutschen Kultur, und dieses Land ist für sie nach wie vor ihre Hei- In gewissen jüdischen und judaistischen Kreisen scheint nur das Judentum, welches sich auf die jüdische Tradition stützt, als das ‚richtige’ zu gelten. Kilcher (2000:XIV) fordert eine ‚Mehrdeutigkeit’ dessen, was als ‚jüdische Identität’ gilt. Er erachtet „Zweifel an der Möglichkeit der Rede von der jüdischen Kultur bzw. Literatur ... da notwendig, wo sie auf potentiell ideologischen Zuweisungen beruht, die von der jüdischen Identität als einer Eindeutigkeit, einem Kollektiv oder einer Essenz ausgehen“. Pfestroff (2004:284) ist der Ansicht, dass die diskriminatorische Logik von Konzeptionen jüdischer Tradition, die nur den eigenen normativen Begriff des Judentums propagieren, sich in beklemmender Weise mit antijudaistischer Logik treffe. 298 95 mat, doch lieben kann sie es nicht mehr. Zeit ihres Lebens fühlt sie sich weder Deutschen noch Juden richtig zugehörig und weder von den einen noch von den anderen verstanden. Diese Zwiespältigkeit erklärt unter anderem das Unbehagen der Leserin ihren Texten gegenüber. In der Verfolgungszeit wird Schreiben für Weil Grund und Antrieb für ihr Weiterleben. Nach 1945 will sie Zeugnis über das im Dritten Reich Erfahrene ablegen. Mit der Wahl ihres Schriftstellerinnen-Namens und ihrem Werk hält sie die Erinnerung an ihren ersten Mann lebendig, der stellvertretend für die ermordeten Juden steht, und nimmt so an der Erinnerungskultur des Judentums teil. Ihr Werk stellt auch den Versuch dar, quälende Erinnerungen in ihr Weiterleben einzuordnen, zu bearbeiten und ihre Existenz als Überlebende zu hinterfragen, was bei der Leserin Unbehagen auslöst. Es steht ihr aber nicht zu, über Weils Arbeit im Jüdischen Rat, dank welcher sie überlebt hat, zu urteilen. Vielmehr muss sie sich fragen, wie sie in Weils Situation reagiert hätte. Da diese Frage nicht wirklich zu beantworten ist, hinterlässt sie vor allem Hilflosigkeit. Klar ist jedoch, dass die Ursache für die entstandene Schuld nicht bei Weil liegt. In ihrem frühen Werk projiziert Weil Teile ihrer Erfahrungen auf Protagonisten mit fiktiven Namen und schreibt in der dritten Person. In ihren Altersromanen berichtet stets dieselbe alte Frau in der Ich-Form von ihren Erfahrungen, und es kommen politischideologische Aspekte hinzu. Weil wird sehr lange in Westdeutschland nicht rezipiert. Die Zeit nach dem Dritten Reich ist von enormen Verdrängungsleistungen geprägt. Der Literaturbetrieb wird von Personen dominiert, die selber Nazis gewesen waren, diesen nahe gestanden oder sich mit ihnen arrangiert haben. Zudem kann sich kaum jemand durchsetzen, der nicht der Gruppe 47 angehört. Ein Grund für Weils Erfolg in den achtziger Jahren liegt am aufkommenden Interesse der Nachgeborenen an der deutschen Vergangenheit. Dass Weil im Stil der Neusubjektivisten und der neuen deutschen Frauenliteratur schreibt und deren Themen aufgreift, ist sicherlich auch ein Grund ihres Erfolges. Sie ist aber den jüdischen Nachkriegsliteraten zuzuordnen, die ‚aufgrund von Auschwitz’ schreiben. Als deutsch-jüdische Schriftstellerin reflektiert sie ihre Existenz als Mitglied der jüdischen Leidensgemeinschaft und schreibt deutsch-jüdische Erinnerungsliteratur. Als Repräsentantin der deutsch-jüdischen Symbiose erinnert sie an deren Scheitern. Die junge deutsch-jüdische Literatur, welche wahrscheinlich vom gleichen Publikum gelesen wird, gleicht der ihrigen in gewissen Punkten. Weils Ausgangspunkt als Überlebende ist jedoch ein völlig anderer. Weils Interesse an ihren jüdischen Wurzeln bildet den Hintergrund für Der Brautpreis. Erstmals setzt sie sich in einem für die Öffentlichkeit bestimmten Werk nicht nur mit der ihr 96 aufgezwungenen Existenz als Jüdin, sondern auch mit jüdischer Tradition auseinander. Zwar werden keine jüdischen Lebensformen im Sinne von Tradition und Religion dargestellt. Aber die religiös nicht sozialisierte Weil setzt sich als Erste intensiv mit der DavidErzählung aus Michals Sicht auseinander. Sie versucht ihr Leiden in der jüdischen Geschichte des Alten Israel zu spiegeln und so in einen grösseren Zusammenhang zu stellen. Michal, die in der biblischen Erzählung eine Nebenrolle spielt, ist nicht nur von Interesse wegen ihrer Liebesfähigkeit, ihrer Eigen- und Widerständigkeit und ihrer Tragik, sondern auch wegen ihres Gatten David, bei dessen Aufstieg sie eine entscheidende Rolle spielt und der eine grosse Bedeutung für das Judentum und das heutige Israel hat. Es geht Weil offensichtlich um eine Auseinandersetzung mit der Zeit der Staatengründung und der ersten Königreiche im Alten Israel. Indem sie aus der Buber-Rosenzweig-Verdeutschung zitiert, wendet sie sich an ein gebildetes deutsches Publikum und erinnert damit an die ausgerottete deutsch-jüdische Kultur, deren ‚Kind’ auch sie ist. Es wäre aber naiv anzunehmen, dass die über achtzigjährige, säkular erzogene Weil wegen ihrer Beschäftigung mit irgendeiner biblischen Figur auf traditionell jüdische Denkmuster und biblische Sinnmodelle zurückgegriffen hätte, die zum Beispiel Leiden als Gottes Prüfung für Liebe, Gerechtigkeit oder Gehorsam interpretieren. Sie betreibt keine Sinngebung des Sinnlosen. Ihre Figur Ich-Michal beschäftigt sich zwar mit religiösen Fragen und stellt die Theodizee-Frage, entwickelt aber eigene Vorstellungen. Diese dürfen meines Erachtens nicht als atheistisch oder areligiös bezeichnet werden. Wie religiöse Juden geht Weil davon aus, dass die David-Erzählung Teil der jüdischen Frühgeschichte ist. Im Gegensatz zu diesen verneint sie jedoch die religiösen und politischen Aspekte dieser Geschichtsschreibung und entmythologisiert, respektive säkularisiert sie. Sie kreiert eine gendergerechte, pazifistische ‚Sub-Version’ zum Mythos der Staatengründung. Wenn sie den Blick auf die Wiederkehr von Krieg und Vernichtung – ein Wiederholungszwang innerhalb der Geschichte – lenkt, reflektiert sie nicht, ob es Gott ist, der in das brutale Weltgeschehen eingreift, sondern fragt nach Möglichkeiten des Widerstandes der Menschen. Indem sie, wenn auch wahrscheinlich unbeabsichtigt, einen feministischpazifistischen Midrasch schreibt, macht sie wiederum etwas typisch Jüdisches. Sie vergegenwärtigt und aktualisiert jüdische Vergangenheit im Jetzt. Der Brautpreis ist ein verschlüsselter Roman. In Ich-Michal spiegelt sich meines Erachtens Weil, respektive das assimilierte deutsche Judentum. Der facettenreiche Weilsche David erinnert an die verschiedenen Seiten Deutschlands. Ich-Michals ambivalente Beziehung zu David erinnert an Weils Verhältnis zu diesem Land. Während Ich-Michal Davids musische und vernunftbezogene Seite liebt und ein Leben lang nicht davon loskommt, fühlt sich 97 Weil von der deutschen Kultur ein Leben lang angezogen. So wie Ich-Michals Liebe zu David einseitig ist, war die Liebe der assimilierten Juden zu Deutschland einseitig. So wie nur David von der Beziehung mit Ich-Michal profitiert hat, haben schliesslich nur die Deutschen von der Verbindung mit den assimilierten Juden profitiert. Während sich IchMichal von der brutalen Seite Davids abgestossen fühlt, ist Weil von der deutschen Barbarei angewidert. Der Titel spielt auf zwei verschiedene gescheiterte Vereinigungen, respektive Brüche an. Eine totale Vereinigung mit David ist für Ich-Michal nach dem grossen Bruch in ihrem Leben, dem freiwillig verdoppelten Brautpreis bestehend aus zweihundert Philistervorhäuten, und diversen weiteren Brüchen nicht mehr möglich. Auch Weil bewahrt ihr Misstrauen Deutschland gegenüber nach dem grossen Bruch in ihrem Leben, verursacht durch das Dritte Reich, und mag nicht mehr von Liebe zu diesem Land sprechen. Obwohl sie nach dem Krieg noch an Versöhnung glauben und mit den Deutschen über das Vergangene sprechen will, hören diese ihr – wie auch Ich-Michal dies mit David erlebt – nicht zu. So wie David Ich-Michal erniedrigt, wird Weil von den Deutschen gedemütigt. Wie sehr sich Weil danach sehnt, dass die Deutschen bereuen, zeigt sich daran, dass David am Schluss des Romans Ich-Michal zu sich ruft und über das in der Vergangenheit Verpasste weint. So wie die uralte Ich-Michal Davids Musik und Vernunft nachtrauert, trauert die betagte Weil der deutschen Kultur mit ihrem aufgeklärten Gedankengut nach. Ich-Michals und Davids Verbindung kann nach Davids traumatisierendem Brautpreis kein gemeinsames Kind entspringen. Nach dem traumatisierenden Bruch, verursacht durch die Nationalsozialisten, kann es auch nicht mehr zu einer fruchtbaren ‚kulturellen Liebesverbindung’ von Juden mit Deutschen kommen, wie dies zum Beispiel in der deutschen Literatur vor den dreissiger Jahren der Fall war. Wie Ich-Michal unter Salomo erlebt Weil in der BRD Friedenszeiten. So wie aber Ich-Michal dauernd von Bathseba verfolgt und bedroht wird, wird auch Weil immer wieder durch Schatten der Vergangenheit eingeholt. Die Zwangsverbindung von Ich-Michal zu Palthi erinnert an diejenige von Weil zu Holland oder zum Judentum. Die Figur Palthi ist der Inbegriff von Weils Jude, der friedfertig, gerecht und menschlich zu sein hat. Weils pazifistische Figur Jonathan, nicht David, ist ‚Israels wahre Seele’. Mit Jonathan und Palthi entwirft diese Schriftstellerin ihre Vision des Jüdischseins und richtet sich dabei nach dem Vorbild von Lessings Nathan. Indem Weil den Missbrauch von Religion für Gewalt im Alten Israel anprangert und biblische Figuren dekonstruiert, kritisiert sie auch religiösen Zionismus und rechtsgerichtete israelische Palästinenser-Politik. Mit diesem Unterfangen ist sie bei weitem nicht die einzige Jüdin, und es geht ihr dabei nicht um einen Schlag gegen das Judentum. Mit ihrer Kritik an religiösen, respektive ideellen, androzentrischen und chauvinistischen Systemen ist Weil 98 feministisch-pazifistisch zu verstehen. Sie entlarvt gefährliche Welt- und Gottesbilder und fragwürdige ‚Helden’ und zeigt auf, dass Leid durch Träger jeder androzentrischen Kultur hervorgerufen und durch Unterdrückte, auch durch Frauen, gestützt und gefördert wird: sei dies nun in der griechischen Kultur, im Alten Israel oder in Deutschland. Mit ihrer Michal-Geschichte geht es ihr darum zu zeigen, dass menschliches Leiden zu allen Zeiten vorkommt und kein Volk davon ausgeschlossen ist. Doch auch wenn sie Menschen in anderen Zeiten und Kulturen Leiden zugesteht, betont Ich-Grete, dass der Unterschied zwischen ihr und Ich-Michal bei Auschwitz liegt: im bis anhin in der Geschichte nie da gewesenen Ausmass der Unmenschlichkeit des Dritten Reiches, in dem Menschen alleine aufgrund ihrer Geburt zur Vernichtung bestimmt waren. Das Ausmass der deutschen Barbarei ist einzigartig in der Geschichte und stellt einen totalen Bruch mit allem bisher Gekannten dar. Da sich das Leid des jüdischen Volkes im Dritten Reich für Ich-Grete jeglichem Verstehen entzieht, kann ihr auch die Spiegelung der eigenen Geschichte an biblischen Figuren nicht glücken. Die traumatische Erinnerung macht aus Ich-Gretes Überlebensgeschichte ein fortwährender problematischer Versuch des Weiterlebens, der ihr nur gelingt, wenn sie sich nach dem Vorbild von Lessings Nathan richtet und ihr Jüdischsein pazifistisch definiert. Antigones Satz „Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da“ ist für die Ich-Figuren in Weils Alterswerk wichtig. In Der Brautpreis zeigt IchMichal noch deutlicher auf, worum es geht: Jeder Hass schlägt mit der Zeit in Selbsthass um. Nicht nur das Gefühl der Zugehörigkeit zur jüdischen Leidens- und Schicksalsgesellschaft ist Ich-Gretes jüdische Substanz, sondern auch ihr Glaube an den ‚guten und friedfertigen’ Juden, der seinen Ursprung in der Aufklärung hat und den andere Juden nach dem Dritten Reich nicht mehr als Vorbild nehmen können. Weils Blick auf die Bibel bleibt also von ihren Erfahrungen geprägt: Obwohl in Der Braupreis Ich-Gretes Erfahrungen im Dritten Reich in den Hintergrund rücken, spiegeln sie sich ganz klar in Ich-Michals Erlebnissen im Alten Israel. Meine Masterarbeit stellt den Versuch dar, der assimilierten Weil, die durch Nazideutschland zur Jüdin gemacht wurde und Zeit ihres Lebens unter einem Identitätsbruch litt, gerecht zu werden und mehr Verständnis für sie und den Stellenwert von Der Brautpreis – vor allem im Fach Judaistik – zu wecken. Da Weil sich vornehmlich an die deutschen Leserinnen richtet, wird sie vor allem von Germanisten rezipiert. Diese wissenschaftliche Wahrnehmung ist einseitig. Da Weil sich mit Der Brautpreis mit jüdischer Existenz und Tradition auseinandersetzt, wird sie auch von jüdischer Seite und von der Judaistik rezipiert. Bedauerlicherweise wird jedoch bis anhin von dieser Seite nicht gewürdigt, dass Weil in der Tra99 dition des Gedenkens und Erinnerns an die ermordeten Juden steht. Es wird nicht bemerkt, dass sie mit Der Brautpreis eine Art Midrasch schreibt. Sie löst Unverständnis und vor allem Aggression aus. Diese Reaktionen lassen sich dadurch erklären, dass in den USA heute noch ins ‚Land der Täter’ Zurückgekehrte, die zudem noch für den Judenrat gearbeitet hatten, als Verräter betrachtet werden und Nachgeborene nicht mehr über das deutsche Judentum Bescheid wissen (wollen), das schon seit der Aufklärung durch Brüche mit Traditionen gekennzeichnet ist und verschiedenste Formen der Transformation und Transgression erlebt hat.299 Für gewisse Judaistinnen ist nur traditionelles, respektive religiöses Judentum das einzig richtige. Wahrscheinlich taucht Weils Name aus diesen Gründen nicht in grossen judaistischen Nachschlagewerken wie der Encyclopaedia Judaica auf. Nach den Nazis hat die ausschliessliche und ausschliessende Definition von Judentum als Religion, die von Weil übernommen wird, die Identitätsfindung dieser Autorin zusätzlich erschwert. Leider hat sie sich nicht für Entwicklungen im Judentum interessiert und nicht realisiert, dass sie mit ihrer Auffassung, was Judentum alles sein kann, in den dreissiger Jahren stehen geblieben ist. Denn heute gibt es mehr Wahlmöglichkeiten als Assimilation, religiöses Judentum oder Zionismus. Ich erachtete es als begrüssenswert, wenn auch von jüdischer Seite und von der Judaistik ein konstruktiverer Umgang mit dieser zu Recht unbequemen Schriftstellerin gefunden würde. Weil hätte es sicherlich geschätzt, in die Encyclopaedia Judaica aufgenommen zu werden: Mit dem Eintrag ihrer Werke unter dem Stichwort ,Weil’ würde ihres ermordeten Mannes – stellvertretend für die von den Nazis ermordeten Juden – gedacht. Dieses Erinnern war für Weil Zeit ihres Lebens zentral. 299 Vgl. Kilcher 2000:XVI. 100 Anhang Grete Weils Leben im Überblick 1906 geb. am 18. Juli als Margarete Elisabeth Dispeker, Egern (Oberbayern). 1923 8. Nov. Hitlerputsch. Flucht mit Vater von München nach Untergrainau. 1929-1933 Abitur in Frankfurt a.M. , Studium Germanistik in Frankfurt, Paris, München. 1932 Heirat mit Edgar Weil. 1933 Abbruch des Studiums. Erste Erzählung Erlebnis einer Reise (posthum veröffentlicht). Edgar Weil in ‚Schutzhaft‘. 1935 Verlegung Firma Weil nach Holland. Emigration Edgar Weils. Grete Weil: Anlehre zur Fotografin in München. 1937 Folgt ihrem Mann nach Amsterdam. Letzte Deutschlandreise anlässlich des Todes von Sigfried Dispeker. 1938 Übernahme des Ateliers von Edith Schlesinger. Bella Dispeker wird aus Deutschland herausgeholt. Fritz Dispeker emigriert nach London. 1940 9./10. Mai: Überfall der Deutschen auf die Niederlande. Fluchtversuch scheitert. 1941 Einführung Meldepflicht für Juden. Aberkennung deutscher Staatsbürgerschaft. 11. Juni: Verhaftung Edgar Weils, 17. Sept.: Ermordung im KZ Mauthausen. 1942 Auflösung des Fotoateliers. Erste grosse Deportationen ab Juli. Arbeitet beim Jüdischen Rat in Amsterdam als Schreibkraft. Zusammenarbeit mit holländischem Widerstand: Fertigt Fotos für gefälschte Ausweise an. 1943 Taucht vor letzter grosser Deportationswelle unter. Fälscht für Widerstandsgruppe Lebensmittelkarten und schreibt. 1945 Erhält niederländische Firma Weil zurück, arbeitet dort und schreibt. Ab 1947 Rückkehr nach Deutschland, lebt mit Jockisch zusammen. Kämpft um Firma Weil. Arbeitet als Schriftstellerin, Lektorin, Übersetzerin, Rundfunkmitarbeiterin. 1960-1970 Mit Regisseur Jockisch bis zu seinem Tod verheiratet. 1980 Literarischer Durchbruch mit Meine Schwester Antigone. 1986 Erste Reise nach Israel im Rahmen von Der Brautpreis. 1988 Roman Der Brautpreis kommt heraus. Geschwister-Scholl-Preis. 1999 Weil stirbt am 14. Mai in Grünwald bei München. 101 Abbildungsnachweis Titelblatt, Ausschnitt eines Fotos der Statue David (1501-1504) von Michelangelo di Lodovico Buonarroti Simoni (1475-1564), Galleria dell’Accademia, Florenz: www.florence-italy-apartments.com/images/Florence-David-Michelangelo.jpg, abgerufen am 17.01. 2010. Titelblatt, Ausschnitt eines Fotos des Gemäldes David spielt Harfe vor Saul (1655-1660) von Rembrandt Harmenszoon van Rijn (1606-1669), Mauritshuis, Den Haag: www.uni-leipzig.de/ru/bilder/helden/b5-43.jpg, abgerufen am 17.01.2010. 102 Literaturverzeichnis Primärliteratur Weil, Grete: Ans Ende der Welt. Erzählung. Berlin (DDR) 1949. Dies.: Boulevard Solitude. Lyrisches Drama in sieben Bildern. Mainz 1951. Dies.: Die Witwe von Ephesus. Pantomine nach einer antiken Novelle. Mainz o.J. Dies.: Tramhalte Beethovenstraat. Roman. Wiesbaden 1963. Dies.: Happy, sagte der Onkel. Drei Erzählungen. Wiesbaden 1968. Dies.: Meine Schwester Antigone. Roman. Zürich/Köln 1980. Dies.: Generationen. 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