04_Die Kunst Edvard Munchs und die Zeit um 1900
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04_Die Kunst Edvard Munchs und die Zeit um 1900
2 Die Kunst Edvard Munchs und die Zeit um 1900 Die Aufregung und Auflehnung war groß, als an einem Novembersonnabend in Berlin 1892 eine Ausstellung eines 28-jährigen Malers aus Kristiania eröffnet wurde. Einen Tag nach der Eröffnung sprachen die Zeitungen in Norwegen von einem Fiasko. Die Erregung entzündete sich nicht an den Motiven und Themen, sondern an der „schlampigen“ Malweise des Künstlers, die eine „Schande für die Kunst“ sei. Das „Berliner Tageblatt“ schrieb von „schrillen Scheußlichkeiten“, und 23 Mitglieder des Vereins Berliner Künstler forderten die sofortige Schließung der Ausstellung „aus Hochachtung vor Kunst und ehrlichem künstlerischen Streben“. Sieben Tage nach Eröffnung wurde die Ausstellung geschlossen, die Bilder abgehängt. Im konservativen Kaiserreich der Jahrhundertwende war die unfertige, handwerklich nicht den akademischen Anforderungen entsprechende Ausführung eines Bildes natürlich provokant und ungeheuerlich. Und doch war Munch über Nacht in aller Munde. Seine Malerei hatte eine heftige Debatte ausgelöst. Er war der Vorreiter in der Auseinandersetzung um die Moderne geworden. An das altmeisterliche Regelwerk, das sich über Jahrhunderte zuvor herausgebildet hatte, fühlte sich Munch nicht mehr gebunden. Der sorgfältige Bildaufbau und das „Malen nach der Natur“ waren ihm nicht länger heilig. Munch gestaltete Form, indem er fühlte. Doch mit welchen künstlerischen Vorgaben und Mitteln kann man innere Empfindungen zum Ausdruck bringen? Das äußere Abbild der Wirklichkeit lässt sich vielleicht noch nach akademischen Regeln und Konventionen in Szene setzen, doch dem inneren Seelenleben einen Ausdruck zu verleihen, dafür gibt es keine Vorgaben. In das Zeitalter Munchs fielen die großen Fortschritte der Psychologie. Die Seele wurde zum Gegenstand der Wissenschaft und der Malerei. Doch wie lassen sich innere Schreckensbilder, wie Verlust und Schmerz, auch äußerlich darstellen? Und die Liebe? Und wie der große Hoffnungsschimmer in der Dunkelheit? Munch war 21 Jahre jung, als er mit der Kristiania-Bohème in Berührung kam. Die geistig freie und unabhängige Umgebung progressiver Maler und Literaten belebte seine Gedanken. Der anarchistische Schriftsteller Hans Jaeger war Wortführer dieser Gruppe. Neben sozialreformerischen Ideen wurde in diesen Kreisen die freie Liebe diskutiert und praktiziert. Der Kontakt zu dieser Gruppe hinterließ bei Munch Spuren. Kristiania-Boheme II, 1895 Die Radierung ist erst in Berlin entstanden und gibt einen Rückblick auf die prägende Zeit in Kristiania. Man sieht bleiche Gesichter um einen Tisch. Von einer erhitzten Debatte über freie Liebe und Sexualität ist keine Spur. Nur die Rauchschwaden erinnern an eine längere Sitzung. Die letzte Flasche steht auf dem Tisch, das Obst in der Schale bleibt unangerührt. Der Alkohol spielte eine große Rolle in dieser Runde und hatte für Munch zeitweise katastrophale Folgen. Vor sich hinstarrend ist jeder dieser Männer mit sich selbst beschäftigt und hängt den eigenen Gedanken nach. Wie wird der fortgeschrittene Abend enden? Im Hintergrund steht eine Frau. Vermutlich handelt es sich nicht um Unterrichtsmaterial Edvard Munch / Die Kunst Edvard Munchs und die Zeit um 1900 3 eine Bedienung, denn in ihrer herausfordernden Pose mit den in die Hüften gestemmten Händen erinnert an viele Kompositionen Munchs. Dies ist die Frau, um die sich die Gedanken dieser Männer kreisen. Deutlich hat Munch in dieser Grafik das Problem aller Beteiligten herausgearbeitet. Das Unbehagen der sich emanzipierenden Frau und die Angst vor ihrer sexuellen Macht sind den Männern ins Gesicht geschrieben. Was nutzt all das Gerede über freie Liebe, wenn die Eifersucht, die im Grunde diesem Denken widerspricht, nicht auch zum Thema wird? Im Grunde wissen alle: Liebesglück lässt sich so nicht finden. Und Munch macht das zum Thema. Die Impulse, die Edvard Munch aus der Kristiania-Boheme empfing, drückten sich in immer wiederkehrenden Bildmotiven aus, die malerisch und grafisch bearbeitet wurden. Sogar die Bilder, die in dieser frühen Schaffensphase entstanden, riefen Proteste hervor. So auch das Bild Morgen von 1884: Morgen, 1884 Kaum vorstellbar, dass dieses Bild die Kritiker laut werden ließ. Aber es ging weniger um das Motiv, ein junges Mädchen, das auf der Bettkante sitzend den Blick zum Fenster richtet. Zehn Jahre zuvor hatten die Impressionisten ihre erste Ausstellung in Paris und ernteten nur Spott und Kritik. Wie in Paris erregten sich die Gemüter auch in Norwegen an der Malweise. Dieses schnelle skizzenhafte Auftragen von Farbe wirkt unfertig und roh. Für die Befürworter einer naturgetreuen akademischen Auffassung waren solche Bilder eine Katastrophe. Wie die französischen Maler missachtete auch der 21jährige Edvard Munch die Regeln der Kunst. Das helle Morgenlicht strömt durch das nur zum Teil zugezogene Fenster ins Zimmer und bannt mit seinen Strahlen weiche Farbinseln auf Körper, Kleidung, Bettwäsche, Holzvertäfelung und Gegenstände. Detailgetreue, realistische Pinselzüge werden zugunsten der Lichtwirkung dagegen aufgegeben. Ein 14-tägiges Stipendium ermöglicht Munch im Mai 1885 eine Reise nach Paris. In dieser Zeit lernte er die impressionistische Malweise kennen, die ihm ein Gefühl für Farbe und der Plain-Air-Malerei vermittelte. 1889 erhielt Edvard Munch das erste von drei Stipendien für einen Studienaufenthalt in Paris. Während das Publikum und die Kritiker Munchs Malerei in seinem Heimatland noch immer ablehnen, beginnt für den Künstler in Paris die systematische Auseinandersetzung mit der führenden französischen Kunst. Wichtiger als der Unterricht in den französischen Malschulen sind seine Besuche der großen Ausstellungen in Paris. Die entscheidenden Impulse empfängt er, indem er sich im künstlerischen Leben der Stadt orientiert. Auf die lichtdurchfluteten und skizzenhaften Gemälde des Impressionismus folgen schon bald Künstler, die sich von den oberflächlichen äußeren Natureindrücken abwenden. Immer stärker entsteht das Bedürfnis nach mehr Innerlichkeit, mehr Tiefe und Gehalt in der Malerei. Doch wie soll die neue Kunst aussehen? In Paris erreicht ihn die Nachricht vom Tod seines Vaters. Munch zieht sich in den kleinen Pariser Vorort St. Cloud zurück und verarbeitet das tragische Ereignis in Texten und Bildern. In sein Tagebuch Unterrichtsmaterial Edvard Munch / Die Kunst Edvard Munchs und die Zeit um 1900 4 schrieb er: „Es sollen nicht mehr Interieurs mit lesenden Männern und strickenden Frauen gemalt werden. Es müssen lebende Menschen sein, die atmen und fühlen, leiden und lieben.“ So kreiste seine Malerei fortan um die großen Themen wie Liebe, Eifersucht und Einsamkeit, Krankheit, Sterben und Tod. Die symbolgeladenen Bilder der folgenden Jahre zeigen die Seelenzustände des Künstlers. Weit weg von der impressionistischen Sicht auf die Oberfläche der Dinge macht Munch in seinen Bildern das Beunruhigende spürbar. Geschichten im Kopf des Betrachters entstehen mit großer Dramatik. Die Gedanken und Stimmungen des Künstlers lösen durch das Bild im Auge des Betrachters die gleichen Empfindungen aus. Er entführt uns mit seinen Bildern in eine Welt seiner und unserer Albträume. Mit einfachen Bildsymbolen gelingt es Munch das Unsichtbare, das Verborgene sichtbar zu machen. Das Unbewusste entdecken wir hinter Masken, in unergründlichen Wasseroberflächen, in monströsen Schatten, in geheimnisvollen Räumen. Es ist unsere menschliche Phantasie, die durch die Munch-Bilder angeregt wird. Schließlich erweckt alles Geheimnisvolle und Unerklärliche Neugier und Interesse. Das Gemälde Vision ist solch ein eigenartiges und geheimnisvolles Bild. Vision, 1892 Das Gemälde zeigt einen menschlichen Kopf mit geschlossenen Augen in der unteren, dunkleren Bildhälfte. In der oberen, helleren Bildhälfte gleitet ein weißer Schwan dahin. Auf den ersten Blick verstört das Bild und macht uns ratlos. Vision ist ein Werk, das sich nicht eindeutig und leicht interpretieren lässt. Hier entwickelt Munch ein Repertoire an Bildzeichen, die er in den folgenden Jahren weiter entfalten wird. Auf verschiedene Weise bringt der Maler Kopf und Schwan miteinander in Beziehung. In der unteren, dunklen Bildhälfte erscheint das Wasser wie ein düsterer, unheilvoller Abgrund, in dem der Kopf gleich versinken wird. Jede Hoffnung und Lebendigkeit scheint aus dem fahlen Gesicht gewichen. Zu dem Schwan besteht eine rein geistige Beziehung. Der Schwan ist ein Symbol für Schönheit und Anmut, wegen seines weißen Gefieders auch für Reinheit und Unschuld. Und der Schwan verbindet die Elemente Luft und Wasser. Obwohl dieses Tier ein großer und schwerer Vogel ist, schafft er es, sich in die Luft zu erheben. Es ist ein Krafttier, welches in der Lage ist, die eigene Schwerkraft zu überwinden. Und der Mensch? Besitzt er die Macht und die Kraft, die Schwere der Traurigkeit und Depression zu überwinden? Zeigt uns Munch in der Vision einen Hoffnungsschimmer, sich selbst aus dem Sumpf der Schwermut herauszuziehen? Am Ende des 19. Jahrhunderts schwankten die Menschen zwischen Weltuntergangsstimmung und Fortschrittseuphorie. Die widersprüchlichen Erscheinungen wurden auch von der Literatur und der Unterrichtsmaterial Edvard Munch / Die Kunst Edvard Munchs und die Zeit um 1900 5 bildenden Kunst aufgegriffen. Von seiner eigenen inneren Gemütslage ausgehend visualisiert Munch mit dem Bild Der Schrei die verzweifelte Seite des zu Ende gehenden Jahrhunderts: Angst und Apokalypse. Die Kunst des ausgehenden 19. Jahrhunderts entwickelt sich so im Spannungsfeld zweier Weltanschauungen, die unversöhnt nebeneinander bestehen. So richtet sich der Blick einerseits hinter die Oberfläche der Dinge, der die Welt der Träume, Visionen und inneren Vorstellungen deutet und gleichzeitig geht die Sicht nach vorne, auf eine zukunftsorientierte, realistische Auseinandersetzung mit der äußeren materiellen Wirklichkeit. Auch das hat Munch bildhaft zum Ausdruck gebracht. Mädchen am Fenster, 1893 Helles Mondlicht fällt durch das Fenster ein und beleuchtet den Fußboden. Der Mond taucht den Raum mit seinen blauen und braunen Farbtönen in ein geheimnisvolles Licht. Ein Mädchen steht barfuss im weißen Nachthemd am Fenster und schaut auf die Straße hinunter. Nur die Gardine vermittelt etwas Behagliches, Wohnliches, Schützendes. Stilistisch spiegelt das Gemälde Edvard Munchs Beschäftigung mit dem Impressionismus wider. Das sparsame Interieur wird vom Künstler spannungsreich in Szene gesetzt. Der Bildraum ist mit kräftigen Linien für Fensterrahmen und Fensterkreuz strukturiert und gibt dem Bild damit eine gewisse Ordnung und Bedeutung. Das Fenster wird zur Grenze zwischen Draußen und Innen, zwischen Öffentlichkeit und Privatheit. Der dunkle Innenraum steht für das innere Erleben und wird zu einem Spiegel der Seele, während der neugierige Blick durch das Fenster auf die äußere Wirklichkeit weist. Edvard Munch schätzt das Unsichtbare höher ein als das Sichtbare. Das Erträumte, das Rätselhafte, das Unbewusste erscheint ihm bedeutungsvoller. Der Ursprung seiner Bilder findet sich im Dunkel der Erinnerungen und Träume, die auf vergangene Erlebnisse und Vorstellungen verweisen. Munchs Beitrag zur modernen Kunst besteht in erster Linie in der kühnen Direktheit seiner Malerei, die auf alles Nebensächliche zugunsten einer Steigerung des psychischen Ausdrucks reduziert. Seine Bildsprache ist flächenhaft vereinfacht, formelhaft verdichtet und farblich intensiviert, was einen wesentlichen Einfluss auf viele Künstler in Deutschland ausübte. Die Abkehr vom Naturalismus führte zu einer neuen Akzentuierung: Nicht mehr die möglichst getreue Wiedergabe der Wirklichkeit, sondern die Erkundung der seelischen Innenwelt des Menschen ist sein Thema. Unterrichtsmaterial Edvard Munch / Die Kunst Edvard Munchs und die Zeit um 1900 6 Arbeitsanregungen Der 5 Sinne-Check Betrachte das Bild Kristiania-Boheme II. Welche Sinne werden angesprochen? Formuliere Sätze dazu. Schreibe nun eine Geschichte mit den gleichen Personen aber mit anderen Sinneseindrücken. Zeichne das entsprechende Bild dazu. Hörbeispiel 1: Claude Debussy, Nuages, 1900 Hörbeispiel 2: Edvard Grieg, Peer Gynt-Morgenstimmung,1876 Höre das Stück Nuages bzw. Morgenstimmung bewusst an. Welche bildnerischen Vorstellungen tauchen auf? Welche Farben entsprechen deinem Empfinden nach am ehesten dem seelischen Ausdruck dieser Musik? Versuche dein Hörerlebnis in ein figürliches Bild umzusetzen. Farben machen Stimmung Betrachte das Bild Das Mädchen am Fenster. Gib der dargestellten Szene eine andere Stimmung. Versuche die Farbgebung mit Worten zu beschreiben (z. B. beunruhigend, laut, fröhlich, schrill etc.). Gefühle – Gefühle Aussuchen und Ausschneiden möglichst stimmungsvoller eindeutiger Gesichtsausdrücke aus Zeitungen und Illustrierten (eventuell Schwarz-Weiß-Kopien herstellen). Das Gesicht nun auf neutrales Zeichenpapier kleben. Gesicht und Hintergrund werden nun durch entsprechende Farbwahl so gestaltet, dass ein bestimmtes Gefühl erzeugt wird. Assoziationen zu Bildausschnitten (Vorlage 1 und 2) Wie bei einem Weihnachtskalender werden einzelne Türen zu der Grafik Kristiania-Boheme II geöffnet, die einen kleinen Ausschnitt des Bildes freigeben. Danach wird die Tür geschlossen und eine andere aufgeklappt. Die jeweiligen Assoziationen zu dem gesehenen Bildteil werden aufgeschrieben und zu einer plausiblen Geschichte entwickelt. Im nächsten Schritt wird nun diese Geschichte zeichnerisch umgesetzt. Aus der Erinnerung können die kleinen Bildausschnitte aufgenommen werden. Dennoch entsteht durch das Nichtgesehene und die eigenen Assoziationen ein anderes Bild als die Vorlage, die erst zum Schluss in der Gesamtheit gezeigt wird. Bildfolge: Vorher – Jetzt – Nachher Betrachte das Bild Mädchen am Fenster und entwickle nun eine Bildfolge. Übertrage das MunchMotiv auf ein Blatt und gestalte es nach der Vorlage. Nun entwirfst du zwei weitere Szenen dieses Motivs. Die eine spielt sich vorher, die andere nachher ab. Variante: Gestalte die drei Bilder der zeitlichen Reihenfolge nach mit unterschiedlichen künstlerischen Stilmitteln: Szene 1: naturalistisch ► naturgetreue Wiedergabe von Form und Farbe Szene 2: impressionistisch ► Form löst sich im Licht auf; fleckenhafter Farbauftrag; Farbe wie sie uns im Licht erscheint Szene 3: expressionistisch ► Form stark vereinfacht, verzerrt und flächig; Farbe drückt Empfinden/Gefühl aus Menschenbild 1900 Zeichne ein Menschenbild: Der Mensch ist verzweifelt, unglücklich, er fühlt sich einsam und verloren. Wie muss dieser Mensch aussehen? Zeichne ein weiteres Menschenbild: Der Mensch ist hoffnungsvoll, will handeln, wirken, ändern. Wie sieht dieser Mensch aus? Weltbild 1900 Unterrichtsmaterial Edvard Munch / Die Kunst Edvard Munchs und die Zeit um 1900 7 Zeichne ein Weltbild: Die Welt wird bedroht durch Katastrophen, Seuchen, Naturgewalten, Kriege – die Welt geht unter! Zeichne ein Bild der Apokalypse. Zeichne ein anderes Weltbild: Eine Welt der Freiheit und Brüderlichkeit, eine Welt in der das WirGefühl zählt, eine Welt sozialer Bestrebungen, eine Weltpolitik die Halt gibt. Wie sieht diese Welt aus? Unterrichtsmaterial Edvard Munch / Die Kunst Edvard Munchs und die Zeit um 1900