Probekapitel - Franz Steiner Verlag

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Probekapitel - Franz Steiner Verlag
EINLEITUNG
I
m Herbst 1899 fand in Berlin ein Ereignis statt, dem weite Kreise Sympathie und
Zuspruch schenkten: die Tagung des Siebenten Internationalen GeographenKongresses, auf der alle Kulturnationen durch ihre Vertreter Rechenschaft gaben
über ihr Teilhaben an der räumlichen und wissenschaftlichen Erschließung der Erde.
Eine solche Zusammenkunft am Schluß des Jahrhunderts forderte naturgemäß zu
Rück- und Ausblicken auf. In seiner Eröffnungsrede skizzierte Ferdinand v. Richthofen den nicht geradlinigen Entwicklungsgang der Geographie von Alexander v.
Humboldt über Carl Ritter bis zu den „letzten dreißig Jahren“, in denen die von
Humboldt vorgezeichnete naturwissenschaftliche Bahn wieder eingeschlagen worden sei. Die inzwischen ins Unermeßliche angewachsene Stoffülle habe die Ausbildung ganz neuer Disziplinen zur Folge gehabt, zum Nachteil und zur Gefahr des
Geographen, sofern er sich zu „Übergriffen auf Nachbargebiete“ verleiten lasse, deren
Grundlagen er nicht beherrsche. Ziel der geographischen Wissenschaft sei auch heute
noch das Humboldtsche – die Erkenntnis des inneren Zusammenhangs der Erscheinungen. Als Ausdruck der „Vielseitigkeit geographischer Gesichtspunkte“ verwies
Richthofen auf das Vortragsprogramm des Kongresses, das ozeanologische, geodätische, klimatologische, morphologische, limnologische, biogeographische Themen
enthielt – eine Auslese also von Themen sowohl der Physiogeographie als der sog.
Hilfswissenschaften. Bereits in seiner Leipziger Antrittsrede, 1883, hatte Richthofen der Allgemeinen Erdkunde einen entschiedenen Vorrang vor der Länderkunde
(Chorologie) eingeräumt und damit ihre bevorzugte Pflege und Stellung im Wissenschaftsgebäude nachhaltig über viele Jahrzehnte, bis zu ihrer totalen Aufsplitterung,
bestimmt.
Es bleibt zu beachten, daß unter seinen zahlreichen Schülern, die seit den achtziger Jahren zur Verschärfung des Erdbildes nach allen Richtungen auszogen, keiner war, der sich nicht auch dem Chorologischen verschrieben hätte, ganz vornan
Sven Hedin. Von den deutschen Schülern seien genannt Erich v. Drygalski und
Theobald Fischer, Karl Futterer und Kurt Hassert, Alfred Hettner und Fritz
Jaeger, Fritz Machatschek und Ludwig Mecking, Siegfried Passarge und Alfred
Philippson, Wilhelm Sievers und Hans Steffen, Albert Tafel und Wilhelm Volz,
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Einleitung
Emil Werth und Georg Wegener. Sie alle huldigten ihrem großen Lehrer, der, obgleich kein gewinnender Redner – „sein Organ war nicht günstig“ –, allein durch
die „Wucht seiner Autorität“ gebot, als letzte geographische Instanz, als Verfasser
des China-Werkes, einer faustischen Schöpfung, deren Lichtbau dem Eintretenden
geistige Läuterung verhieß. Keiner von seinen Zöglingen, der nicht Außerordentliches erstrebte und Großes vollbrachte, die älteren noch umflort von den sorgenden
Gedanken des Meisters, bereichert durch seine fachlichen Zugaben. Diese erkorene
Schar bestimmte weitgehend den Forschungsgang der frühen Jahre.
Großes stand auch im Vordergrund des Berliner Kongresses: das Programm des
geplanten erstmaligen Auftretens Deutschlands in der Südpolarforschung. Waren
die räumlichen Verhältnisse der Nordpolarkappe durch Nansens „Fram“-Fahrt so
weit erhellt, daß die Annahme eines landfreien Meeres um den Pol berechtigt war,
so ließen die bisherigen punkt- und strichweisen Landsichtungen im Südpolarraum
auf eine große Kontinentalmasse schließen, deren weitere Umrißfestlegung wünschenswert erschien. Der vorgesehene Leiter der deutschen Expedition, Drygalski,
referierte über Plan und Aufgaben des Unternehmens, dessen finanzielle Sicherung
durch die Reichsregierung entschieden war. Von dem abschließenden Teil des Plans,
der eine Umfahrung der Antarktis auf der indisch-atlantischen Seite von WilkesLand bis zum Weddell-Meer vorsah, konnte später, zum Verdruß vieler, nichts verwirklicht werden.
Galt es im Südpolarmeer geographisch noch alles zu klären, so verlockten auch
immer noch die vielen kleinen und größeren Lücken in der räumlichen Kenntnis
der Kontinente zu lohnenden forscherlichen Taten. Die von Singer (L390, p. 314ff.)
veröffentlichten Kärtchen geben nur eine grobe Vorstellung vom Kenntnisstand um
die Jahrhundertwende. Afrika bot darauf das Bild einer reichlich mit „Unbekanntem“ gesprenkelten Fläche, ebenso das nördliche Nord-Amerika und Süd-Amerika
(Groß-Amazonien, nahezu alles zwischen den einzelnen Stromläufen; unberücksichtigt von der Sprenkelung blieben dabei seltsamerweise die Anden-Länder!), größere
Teile Asiens (Arabien, Tibet, die Mongolei, die hinterindischen Stromfurchen) und
Australiens mit Neu-Guinea und dem Bismarck-Archipel. Die Hauptziele deutscher
Forschung in den folgenden Jahrzehnten wurden Vorder-, Zentral- und Ost-Asien,
die deutschen afrikanischen und Südsee-Kolonien sowie die Anden-Länder SüdAmerikas.
Das neue Jahrhundert begann sehr früh schon mit einer Wendung zu vertiefender geographischer Erschließung begrenzter Raumausschnitte. „Wir erhalten jetzt in
den Vorträgen“, sagt Richthofen (Z. G. E. 1903, p. 331), „zumeist das abgerundete
Naturgemälde eines kleineren, aber gründlicher und allseitiger durchforschten Gebietes oder die Lösung eines geographischen Problems auf Grund der Untersuchungen einer eigens dazu unternommenen Studienreise, oder endlich die Ergebnisse geographischer Studien“. Die Epoche des Fachgelehrten war im Anzug, die Romantik
des Unbekannten im Schwinden, der Nimbus des großen Entdeckers nur noch Sven
Hedin vorbehalten.
Einleitung
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Richthofens Nachfolger auf dem Berliner Lehrstuhl für Geographie war Albrecht Penck, der Begründer der Glazialmorphologie, Verfasser (mit Eduard Brückner) des Werkes über die Alpen im Eiszeitalter. Sein hauptsächliches Forschungsinteresse galt sein Leben lang geologisch-morphologischen Fragen. Er betrieb rastlos
Feldstudien in Europa, Nord-Amerika, Süd-Afrika und Australien und war von erstaunlicher Schaffenskraft, sollte aber nicht einseitig, wie üblich, als Nur-Morphologe
gesehen werden, ist er doch auch Urheber einer Landeskunde des Deutschen Reichs
(1887), die jedem empfohlen sei, der den „anderen“ Penck sucht. Auf dem Berliner
Kongreß setzte er sich mit Nachdruck ein für seinen Plan einer Erdkarte im PolyederEntwurf und einheitlichen Maßstab 1 : 1.000.000, worüber er bereits sieben Jahre
zuvor in Bern gesprochen hatte. Gegen alle geäußerten Bedenken legte er das Projekt der Geschäftsführung des Kongresses zur Ausführung nahe: „Kartographie und
wissenschaftliche Geographie würden Hand in Hand arbeitend, gegenseitig reiche
Anregung und Befruchtung spenden.“ Im Unterschied zu Richthofen förderte er
vorrangig nur solche Arbeiten seiner Schüler – Walter Behrmann und Hermann
Lautensach, Herbert Lehmann und Fritz Machatschek, Otto Maull und Richard Pohle u. a. –, die spezielle, zumeist (glazial-) morphologische Probleme behandelten, und ging später so weit, die Stipendien der „Notgemeinschaft“ (s. weiter
unten) nur auf solche Reisen zu beschränken, die bestimmte Fragen aus der Allgemeinen Erdkunde zu klären suchten (L320, p. 476f.). Behrmann war wohl der einzige,
der eine regelrechte, alle Raumteile gleichermaßen ins Auge fassende Forschungsreise
ins Unbekannte (Neu-Guinea) unternahm.
Anders als Penck lehrte Alfred Hettner seine Schüler „Länderkunde als Inhalt
und Wesen der Geographie begreifen“, und in diesem ganzheitlichen Sinne wurde
geforscht. Zu nennen wären vor allem Wilhelm Credner und Fritz Jaeger (auch
Richthofen-Schüler!), Heinrich Schmitthenner und Oskar Schmieder, Franz
Thorbecke und Carl Uhlig und nicht zuletzt Leo Waibel. Namentlich der AfrikaKunde kamen deren Arbeiten zugute, die in die Zeit der schönsten Blüte der deutschen Kolonialkartographie fielen.
Diese erwuchs aus der hohen Petermannschen Tradition in Justus Perthes’ Geographischer Anstalt, Gotha, und hatte bereits um die Jahrhundertwende im deutschostafrikanischen Schutzgebiet durch Anwendung der sog. „Schätzungsisohypsen“
und der Peiltisch-Triangulation einen Stand erreicht, dessen sich keines der anderen
Kolonialreiche rühmen konnte. Um das Jahr 1890 richtete das Reichs-Kolonialamt
das Kolonialkartographische Institut in der Verlagshandlung Dietrich Reimer (Inhaber: Ernst Vohsen), Berlin, ein, das zunächst unter Leitung Richard Kieperts stand,
unter seinen Nachfolgern Max Moisel und Paul Sprigade und deren Schülern aber
sich zu unbestrittener Weltgeltung aufschwang und alles an Mustergültigkeit, Originalität und Schaffensfülle übertraf, was koloniale Kartenarbeit bislang erreicht hatte.
Wer übersieht all die unzähligen, verstreuten, laufend ergänzten Kartenblätter kleiner, großer, übergroßer Maßstäbe – ein wahrer Kartenstrom –, die das deutsche koloniale Schrifttum, insonderheit die Mitteilungen aus den Deutschen Schutzgebieten und
deren Ergänzungshefte, so reich und einzigartig zieren! Wie klangvoll tönten einst
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die Namen der vielen jungen Meister, die den alten nacheiferten – W. Bobzin und
G. Erdmann, W. Grabert und F. Heine, B. Horn und C. Jurisch, H. Ketzer und
G. Krause, E. Lober und E. Lewerenz, A. Mühe und H. Nobiling, W. Rux und
F. Schröder, R. Schultze, G. Thomas und H. Wehlmann! Das Könnergeheimnis
der beiden Großmeister – Moisel und Sprigade – bestand darin, daß sie, die selbst
lange Jahre ohne autoptische Kenntnis der Schutzgebiete geblieben waren, wo immer
es anging, die Gemeinschaftsarbeit mit den Feld-Kartierern suchten und dadurch
zu sonst unerreichten Gipfelhöhen in der heiklen Wiedergabe der Geländeformen
gelangten. „Die Wegaufnahme war eine Ehrenpflicht jedes Reisenden“. Auf den Berliner Zeichentischen häuften sich Routenbücher und Krokis, Panoramaskizzen mit
Peilzahlen und Originalkonstruktionen, ausgeführt und eingesandt von Fach- und
Nichtfachleuten – Forschungsreisenden, Offizieren, Unteroffizieren, Beamten, Pflanzern, Missionaren, Ärzten und anderen. Es war ein rauschhaftes Schaffen, dessen
schöpferischer Glanz das Ephemerische jener einzigartigen Epoche um so schmerzhafter machte. Moisel und Sprigade ließen es sich auch angelegen sein, die in den
Kolonialdienst eintretenden Offiziere und Beamten theoretisch und praktisch – im
heimischen Gelände – in der Technik der Landaufnahme zu unterweisen. Von anderer Seite kam man ihnen nach. Zur Ausbildung in der astronomischen Ortsbestimmung wurden 1900 für Beamte und Offiziere des Kolonialdienstes Unterrichtskurse
eingerichtet, deren erster in Göttingen unter Leitung des bekannten Observators an
der dortigen Sternwarte, Prof. L. Ambronn, anlief; ein zweiter Kursus, unter Prof.
Schnauder, begann 1901 an der Potsdamer Sternwarte (D. K. B. 1901, p. 326). Weitere
solcher Ausbildungsmöglichkeiten wurden geschaffen.
Aus der kolossalen Vielzahl der Arbeiten des Kolonialkartographischen Instituts
heben sich säulengleich vier Großleistungen heraus:
1.der Große Deutsche Kolonialatlas, der bei Kriegsausbruch bis auf Deutsch-Südwest-Afrika in 26 Blättern vorlag;
2. Moisels einunddreißigblätterige Karte von Kamerun mit drei Ansatzstücken im
Maßstab 1 : 300.000 (1914 abgeschlossen);
3. Sprigades zehnblätterige Karte von Togo im Maßstab 1 : 200.000 (1908 abgeschlossen);
4. Sprigades und Moisels neunundzwanzigblätterige Karte von Deutsch-Ostafrika
mit sechs Ansatzstücken im Maßstab 1 : 300.000 (1895 von R. Kiepert begonnen;
bis 1911).
Durch ihre Geländedarstellungen – Formlinien mit leichter Schummerung – zeichneten sich diese Karten auf das vorteilhafteste aus vor den in dieser Hinsicht leeren
Kartenblättern der Kolonialnachbarn, als deren Prototyp Paul Pelets Atlas des Colonies Françaises, 1902, genannt sei. So läßt sich mit Eckert (L69, p. 449) von einem
„deutschen Kolonialkartentypus“ sprechen. Die Kunst der Geländedarstellung hatte
kurz vor 1914 eine Höhe erreicht, wie sie noch keine der amtlichen Karten Deutschlands aufwies (L83, p. 124). In einem früheren ausführlichen Artikel der Dépêche coloniale (Nr. 3838, 25. Juni 1908) über die deutsche Kartenarbeit heißt es, daß auch
Frankreich eine große Anstrengung gemacht habe, über seine Kolonien genaue und
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moderne kartographische Unterlagen zu veröffentlichen; als Entschuldigung für die
rückständige Publikation wird vorgebracht, daß sein Kolonialreich zehnmal größer
sei als das deutsche, „mais tous les coloniaux seront d’accord pour reconnaître que
notre cartographie coloniale est plus de dix fois en retard sur la cartographie coloniale
allemande.“ Aber nicht nur in den Kolonien! Unbestritten ist der hohe Rang deutscher kartographischer Arbeiten in Vorder-, Zentral- und Ost-Asien, in den tropischen und randtropischen Hochgebirgen und anderswo.
Mit der kolonialen Enteignung Deutschlands im Ersten Weltkrieg brach dort
auch die deutsche Forschung ab. In Deutsch-Südwest konnten jedoch Jaeger und
Waibel sowie E. Kaiser und W. Beetz ihren gerade begonnenen Studien und Aufnahmen noch fünf Jahre ziemlich ungestört nachgehen (Z. G. E. 1919, p. 304; 479. I,
p.5). Die anderen Schutzgebiete sollten Deutschland lange Jahre verschlossen bleiben.
Die sog. „Kolonialschuldlüge“ hatten, wie der erste deutsche Kolonialkongreß nach
dem Kriege, in den Räumen der Berliner Universität, 1924, nochmals groß zu Tage
brachte, eigene Deutsche auf dem Gewissen. „Der Feindbund hat … geradezu sich
darauf berufen, daß ja deutsche Parlamentarier das ungeheuerlichste Material gegeben hätten, woraus klar hervorgehe, daß die Deutschen nicht fähig und nicht berechtigt seien, Kolonien zu besitzen. Als Beweis sind, wie unwidersprochen oftmals in der
Presse festgestellt worden ist, in den Versailler Verhandlungen die Parlamentsreden
von zwei ehemaligen Abgeordneten genannt worden, nämlich die der Herren Noske
und Erzberger. Den unverantwortlich in die Welt geschleuderten Beschuldigungen
dieser beiden Herren also verdanken wir die koloniale Schuldlüge“ (Verh. d. Dt. Kolonialkongresses. 1924, p. 30).
Nicht nur in den Kolonien – in allen Weltteilen trat eine von den Alliierten
inszenierte Flaute in der deutschen Forschung ein. Im Oktober 1918 beschlossen englische Gelehrte, Deutsche aus allen internationalen Verbänden auszuscheiden, „was
das Diktat von Versailles dann unter seine Bestimmungen aufnahm“ (P. M. 1936,
p. 262). Der offizielle Ausschluß Deutschlands von den internationalen Geographenkongressen währte bis 1931 (Erdkunde. 1948, p. 361). Am meisten bedrückte das
Forschungsverbot der sog. Mandatsverwaltungen in den Schutzgebieten (G. Z. 1940,
p. 57). Hinzu kam die „Unterbrechung des unentbehrlichen Verkehrs mit den ausländischen Fachgenossen, die sich noch jahrelang unter der Nachwirkung der Kriegspsychose dem Schriftenaustausch mit deutschen Gelehrten verschlossen“ (P. M. 1939,
p. 138). Der Frieden ließ noch auf sich warten; er lastete, wie Penck sagt (Z. G. E. 1919,
p. 304), „wie ein Alpdruck auf uns, er beseitigt die Spannungen nicht, sondern löst
neue aus.“ Die Ächtung der deutschen Wissenschaft wurde zur Hysterie. Dem Nestor
der Afrika-Forschung, dem Gründer (1875) der „Société Khédiviale de Géographie“
in Kairo, Georg Schweinfurth, widerfuhr die Schmach, daß auf der im April 1924
in Kairo tagenden „Internationalen geographischen Union“, von der Deutschland
ausgeschlossen war, der von den belgischen Teilnehmern gestellte Antrag, ihn durch
ein Begrüßungstelegramm zu ehren, abgelehnt wurde (M. D. S. 1925, p. XIII).
So war denn die deutsche Forschung isoliert, das Reich zudem völlig verarmt.
Wie sollte es weitergehen? Diese Frage berührte alle deutschen Wissenschaften und
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damit die Grundlagen unserer Kultur. Nur ein aufbegehrender nationaler Plan vermochte Rettung zu bringen. Auf Ersuchen der Preußischen Akademie der Wissenschaften und führender wissenschaftlicher Körperschaften wurde unter Vorsitz des
Staatsrates Dr. Friedrich Schmidt-Ott im Oktober 1920 die „Notgemeinschaft der
Deutschen Wissenschaft“ gegründet – „gedacht als ein Selbstverwaltungskörper der
gesamten deutschen Wissenschaft, in dem alle zur Abwehr der drohenden Gefahr
geeigneten Kräfte zusammengefaßt und wirksam gemacht werden sollen“ (Notgem. I. 1922, p. 5). Der Aufruf richtete sich an sämtliche Erwerbsstände (Landwirtschaft, Handel, Banken, Industrie, Handwerk, Gewerbe), an private Geldgeber, an
deutschfreundliche Kreise des Auslandes und fand auch den Regierungszuspruch.
Damit begann die kulturfördernde Hilfe dieser neuen Organisation, die bis zu deren
Aufgehen (1933) in die „Deutsche Forschungsgemeinschaft“ so unendlich segensreich
für alle wissenschaftlichen Bestrebungen war. Und in hohem Maße auch für die geographische Forschung! Und nicht zu spät, denn gegen Mitte der zwanziger Jahre
lockerten sich für Deutschland die Fesseln der Einengung und Isolierung; knarrend
öffneten sich wieder die Tore zur Welt. Neues Aufschwingen verband sich mit festen
Forschungszielen; frische, hoffnungsvolle Kräfte standen bereit, sich in der geographischen Tradition zu bewähren. Der „Notgemeinschaft“ erster Stipendiat, der einen
außereuropäischen Erdteil (Brasilien) betrat, war der Frankfurter Privatdozent Otto
Maull. Es folgten, in zeitlicher Ordnung, Fritz Klute (Argentinien, Chile) und Leo
Waibel (Mexiko), Otto Berninger (Chile) und Hans Mortensen (Chile), Bruno
Dietrich (Nord-Amerika) und Richard Pohle (West-Sibirien), Heinrich Schmitthenner (China) und Franz Termer (Guatemala), Walter Geisler (Australien) und
Fritz Jaeger (Mexiko), Carl Troll (Süd-Amerika) und Wilhelm Credner (Siam).
„Da die schlimmste Not im Lande beseitigt ist, steigert sich der Wille zu Forschungsreisen bei den deutschen Geographen, der nur mit Hilfe der Notgemeinschaft befriedigt werden kann“ (Notgem. V. 1926, p. 173). Gesteigerten Willen zu Forschungsreisen
bekundeten auch: Herbert Knothe (Spitzbergen) und Hans Maier (Teilnehmer an
Walther Stötzners Mandschurei-Expedition), Willi Rickmer Rickmers („DeutschRussische Alai-Pamir-Expedition“) und Karl Sapper (Süd- und Mittel-Amerika),
Ludwig Kohl (Süd-Georgien) und Alfred Wegener (Grönland), Helmuth Kanter
(Süd-Amerika) und Otto Jessen (Angola, mit weitgehender Unterstützung von anderer Seite), Emil Trinkler (Zentral-Asien) und Hermann Lautensach (Korea),
Erich Obst (Süd-Afrika) und Carl Troll (Ost- und Süd-Afrika).
Alle diese Männer verdankten ihre Reisen und ihre wissenschaftlichen Erfolge
dem kraftvollen, nie erlahmenden Einsatz Schmidt-Otts, dessen 70. Geburtstag,
1930, unter lebhaftesten Dank- und Ehrenbezeugungen gefeiert wurde, deren höchste
die Verleihung des Adlerschildes des Reiches durch den Reichpräsidenten v. Hindenburg war. In Schmidt-Otts letztem Bericht (Notgem. XII. 1933, p. 12) heißt es:
„Die Notgemeinschaft ist von allen, die zu ihrem Aufbau mitgewirkt haben, in heiliger V a t e r l a n d s l i e b e [so im Original!] unternommen, um durch die Erhaltung
der Wissenschaft zum allgemeinen Besten und zum Wiederaufbau des deutschen
Volkes beizutragen.“
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In die Nachkriegszeit fällt der Siegeslauf der Photogrammetrie – ein frühes Pflegekind des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins – als bestes Verfahren zur
kartographischen Aufnahme auch der schwierigsten Hochgebirgspartien. Seitdem
bereits 1911 optisch-mechanisch an Spezialgeräten stereoskopische Bilder ausgewertet
werden konnten, hatte man dies Verfahren auf engbegrenztem Raum da und dort
schon häufiger angewandt. Genauigkeit, Schnelle und Wirtschaftlichkeit waren seine
sprechenden Vorzüge vor den bisherigen Aufnahmemöglichkeiten. Nur damit ließen
sich Formenschatz und Höhengliederung vollständig und sicher in allen Feinheiten
erfassen. 1912 hatten Fritz Klute und Eduard Oehler die Hochregionen des Kilimandscharo auf diese Weise erstmals vermessen. Die „Deutsch-Russische Alai-PamirExpedition“ 1928 bot dann Gelegenheit, das Verfahren auf einem größeren Gebirgsausschnitt zu erproben. Ihr geodätischer Leiter, Richard Finsterwalder, entschloß
sich dazu aufgrund seiner reichen Meßerfahrungen in den Alpen. Ihm kam dabei
gerade zugute der 1926 von der Firma Zeiss, Jena, entwickelte Feldphototheodolit,
ein gegenüber der bisherigen Ausrüstung handliches Gerät, das Photogrammeter und
Theodolit in einem war. So kam das Gerät in Zentral-Asien erstmals zu breiterer
Anwendung. Innerhalb von sechs Wochen konnte ein Gebiet von der Flächengröße
der Insel Rügen fast lückenlos messend erfaßt werden. Die daraus hervorgegangene
Karte des Seltau stand den modernen Karten europäischer Gebirge in nichts nach.
Im Jahre 1931 vermaß Karl Wien photogrammetrisch den gewaltigen Zemu-Gletscher des Kangchendzönga im Sikkim-Himalaya – die erste genaue Aufnahme eines
Himalaya-Gletschers und seiner formenreichen Bergflanken in großem Maßstab. Im
selben Jahr vermaß die Arktis-Expedition des Luftschiffes „Graf Zeppelin“, mit den
neuesten Instrumenten ausgestattet, größere Teile des Insel- und Festlandes zwischen
Spitzbergen und der Taimyr-Halbinsel; innerhalb weniger Tage wurde Erstaunliches geleistet, wozu früher Jahre vonnöten gewesen wären. Die photogrammetrische
Aufnahme der Cordillera Blanca in Peru durch Bernard Lukas, Erwin Hein, Karl
Heckler und Hans Kinzl sowie die der Nanga-Parbat-Gruppe durch Finsterwalder und Walter Raechl in den dreißiger Jahren empfahlen sich als unüberbietbare
Paradestücke der tropischen und subtropischen Hochgebirgskartierung. Schließlich
führte die „Deutsche Antarktische Expedition 1938–1939“ die ersten luftphotogrammetrischen Arbeiten – Photofernflüge – in Neu-Schwabenland aus; die von Otto v.
Gruber, Jena, geschaffene Karte des Wohlthat-Massivs war die erste dieser Art des
ganzen antarktischen Festlandes.
Der neue Aufschwung trug der Geographie aus allen Weltgegenden ungeheuere
Wissensschätze ein, die geordnet und länderkundlich gemeistert sein wollten. Stärker
als zuvor ging es dabei um die Frage nach dem „Wie“ der Darstellung. Das große
Wort Friedrich Ratzels – „Wissenschaft genügt nicht, um die Sprache der Natur
zu verstehen“ – kannte jedermann, danach zu verfahren, wußte niemand. Man ließ
sich in vielen klugen methodologischen Betrachtungen über ein Thema aus, das für
die geographischen Klassiker – Forster, Humboldt, Poeppig u. a. – nie ein Thema
gewesen war, denn der Schöpferische bedarf derlei Anweisungen nicht. Allenthalben
regte sich Kritik an Hettners „länderkundlichem Schema“, dem eine klare Logik
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Einleitung
indes nicht abgesprochen werden konnte und das in manchen Fällen, wie bei ersten Feld-Bestandsaufnahmen, gar nicht zu entbehren war, da es dem „naturgemäßen
Ordnungsprinzip“ entsprach. Wie wenig doktrinär überhaupt sein Verfechter damit
hervortrat, erhellt aus seinem Bekenntnis: „Ich stehe nicht an, zu behaupten: wer nie,
sei es literarisch, sei es auch nur im mündlichen Vortrag, eine länderkundliche Komposition entworfen hat, ist überhaupt kein rechter Geograph“ (G. Z. 1908, p. 568).
Komposition heißt Synthese, und um diese hauptsächlich ging es den länderkundlichen Neuerern. Lebhaft erörtert wurde die Frage, welcher darstellerischen (künstlerischen) Mittel sich ein Geograph bedienen dürfe, ohne den Boden der Wissenschaft
zu verlassen. Gute Schilderungen allein machten noch keine Geographie. Selbst das
„Totalbild“ war noch nicht alles, wie Ewald Banse in einer frühen Sturm-und-DrangAnwandlung behauptete (G. Z. 1911, p. 393f.). Drei Jahre später schuf er die Türkei
(L11), „eine moderne Geographie“, ein einzigartiges Werk, das in den hundert Jahren
seines Bestehens nach Gestaltungshöhe und brillantem Anschauungsgehalt noch von
keinem anderen ausgestochen worden ist; aber den strengen Anforderungen einer
wissenschaftlichen Länderkunde konnte es nicht genügen. Das „Künstlerische“ ist
Feind der Wissenschaft. In den zwanziger Jahren erstrebte Banse die Einführung des
Expressionismus in die Geographie, was nicht sein bester Einfall war (s. die bedenkliche Probe Borrmanns aus Sumatra [83] ); später gab er sich entschieden gemäßigter.
Er war überhaupt der einzige, der durch eigene literarische Taten genugsam zeigte, was
er methodisch forderte, ohne daß sich ihm ein gleichgestimmter Weggefährte beigesellt hätte. Wie aber ließen sich Robert Gradmanns „harmonisches Landschaftsbild“
(L114) und Wilhelm Volz’ „Rhythmus in der Geographie“ (L448a) in Taten umsetzen? Niemand hat je nach diesen Rezepten etwas Ordentliches zustande bringen
können – „taubes Saatgut“ (P. M. 1925, p. 250)! Wichtig und klar dagegen waren die
Reformgedanken, die der Island-Forscher Hans Spethmann in seiner Dynamischen
Länderkunde (395) vortrug. Unzufrieden mit den zeitgenössischen Länderkunden,
wandte er sich gegen das übliche statistische Verfahren nach starrem Schema. Er legte
das Schwergewicht auf die einen Erdraum beherrschenden Kräfte, die er nach ihrer
Wirkung als Kräftegruppen (auch technische, politische, religiöse) behandelt wissen
wollte, und zwar nach dem Grad ihrer Wichtigkeit. „Länderkundliche Kräfte sind
solche, die ein Erdraumbild gestalten. Die Wertung aller länderkundlichen Kräfte eines Erdraumes ist seine länderkundliche Erkenntnis, ist Erdraumkunde“ (395, p. 115).
Sein Arbeitsverfahren nannte er „dynamisch“. An mehreren länderkundlichen Entwürfen – Antarktika, Island, Irak u. a. – machte er sein Verfahren deutlich, dem er jeweils die statische Methode vergleichend gegenüberstellte. Seine Studie enthält mehr
anregende, kernige, weiterführende Gedanken als alle methodologischen Schriften
zusammen aus jener Zeit. Sie fand in Drygalski einen kräftigen Fürsprecher, denn
„es ist jetzt hohe Zeit, daß ebenso wissenschaftlich wie anschaulich geschriebene länderkundliche Werke entstehen“ (M. G. G. M. 1929, p. 156).
Die hohe Zeit ließ nicht auf sich warten. Im Jahre 1930 eröffnete Fritz Klute das
von ihm herausgegebene Handbuch der Geographischen Wissenschaft (L178c) mit dem
Bande Afrika und damit ein Werk, das, als es 1940 in zwölf Quartbänden abgeschlos-