Fazit - Fachjournalist

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Fachjournalist
Der behinderte Mensch – das defizitäre Wesen?
Zur Berichterstattung über Menschen mit Behinderung
Siegurd Seifert · 31. Juli 2015
“Barfuß oder Lackschuh” sang einst Harald Juhnke. Sicher hatte er mit diesem Lied in
keiner Weise an die Berichterstattung über Menschen mit Behinderung gedacht. Und
doch hat er sie mit diesen drei Worten auf den Punkt gebracht. Wie man fair und
sachlich über Menschen mit Behinderung berichtet, erläutert Siegurd Seifert,
Chefredakteur der Berliner Behindertenzeitung.
“Barfuß oder Lackschuh”: Über Menschen mit Behinderung wird entweder aus der
Leidensperspektive oder in Form der Heldendarstellung berichtet. Auf jeden Fall wird
der behinderte Mensch immer auf seine Defizite reduziert. Formulierungen wie “an
den Rollstuhl gefesselt”, “sie genießt das Leben trotz ihres Schicksals” oder “er leidet
an der Glasknochenkrankheit” sind in den Medien so verbreitet wie Vogelmiere im
Schrebergarten.
Berichterstattung über Exoten?
Dabei scheint es gar nicht so schwierig zu sein, über Menschen mit Behinderungen zu
schreiben. Doch allein diese Formulierung stellt sie bereits wieder als Wesen
außerhalb der Gesellschaft dar, als Exoten, die eine ganz besondere berichtenswerte
Leistung vollbringen: Sie leiden und meistern dennoch ihr Leben. Sie werden ganz
bewusst auf ein Defizit reduziert und daraus entsteht die Geschichte, im Guten wie im
Bösen. Der Fehler in der Berichterstattung liegt in dieser Reduzierung.
Ein Paradigmenwechsel …
1981 rief die UNO als das “Internationale Jahr der Behinderten” aus. 2003 wurde das
“Europäische Jahr der Menschen mit Behinderung” ausgerufen. Hinter dieser
Änderung der Terminologie steht ein Paradigmenwechsel. Behinderte sollen als
Menschen wahrgenommen werden und nicht als Exoten.
Sendungen im privaten Fernsehen, die behinderte Menschen dem Voyeurismus der
Zuschauer preisgeben wollen, haben glücklicherweise nicht mehr den Zuspruch wie
noch vor einigen Jahren. Das mag an dem geänderten gesellschaftlichen Bewusstsein
liegen, aber sicher auch am selbstbewussten Auftreten der Menschen mit
Behinderung und ihrer Interessenvertretungen.
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Denn sie formulieren ihre Meinung mittlerweile lautstark und bringen sie
öffentlichkeitswirksam an die Frau oder den Mann.
… und die Reaktion der Medien
Bei den Bemühungen um gesellschaftliche Anerkennung und ihrem Kampf gegen
gesellschaftliche Ausgrenzung wäre eine faire und sachliche Berichterstattung – vor
allem außerhalb ihrer eigenen Medien – sehr hilfreich. Die Wirklichkeit sieht oft
anders aus.
Es gibt Formate wie “selbstbestimmt!” im MDR, die aber eine Sendung von Menschen
mit Behinderung für Menschen mit Behinderung ist. Im normalen Sendeablauf
tauchen sie eher seltener auf.
Demonstration im Berliner Regierungsviertel
anlässlich des Europäischen Protesttags für
die Rechte behinderter Menschen (Foto:
Florian Griep)
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Jedes Jahr am 5. Mai wird
deutschlandweit der “Europäische
Protesttag für die Rechte behinderter
Menschen” durchgeführt. Auch in diesem
Jahr fand eine von einem Aktionsbündnis
organisierte Demonstration vom
Kanzleramt zum Brandenburger Tor statt.
Kurz vor dem Ziel wurde auf der Straße
eine Mauer der Vorurteile aufgebaut:
eine Mauer aus Kartons, auf denen viele
Vorurteile aufgeführt waren, mit denen
sich Menschen mit Behinderung den
lieben langen Tag herumplagen müssen.
Medienwirksam wurde diese Mauer von
Rollstuhlfahrern eingerissen. Nur: Die
Medien haben weder diese Aktion noch
die Demonstration und erst recht nicht
die Reden am Brandenburger Tor
wahrgenommen. Der RBB berichtete
beispielsweise stattdessen in seiner
Abendschau über eine Veranstaltung zum
gleichen Thema am Rathaus Lichtenberg,
die aber mehr Volksfestcharakter hatte
und bei Weitem nicht von dieser
politischen Tragweite war, wie die
zentrale Veranstaltung am
Brandenburger Tor.
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Janusköpfiger Journalismus?
Journalisten suchen im alltäglichen Leben
das Außergewöhnliche. Sie suchen immer
das Besondere, das Berichtenswerte. Sie
bauen Spannungsbögen auf, versuchen,
in ihren Geschichten eine gewisse
Dramatik zu entwickeln. Das funktioniert
wunderbar bei einem Porträt oder einer
Reportage über Ereignisse, die alle
interessieren.
Der Journalist sucht sich seinen
Protagonisten, führt ein oder zwei
Gespräche mit ihr oder ihm. Im günstigen
Fall begleitet er die Person eine gewisse
Zeit und taucht ein in die für ihn fremde
Welt. Oft sind psychologische Kenntnisse
gefordert, um das Gesehene richtig
bewerten zu können. Leser können so
durch diesen Artikel einen Bereich der
Welt kennenlernen, den sie nie betreten
hätten, ja gar nicht betreten könnten. Wie
sollte man vom Leben der Menschen in
Syrien erfahren oder in die Welt eines
Obdachlosen eintauchen, wenn der
Bericht, die Reportage uns das nicht
vermittelt.
“Mauer der Vorurteile” (Foto: Siegurd
Seifert)
Das Gleiche trifft auf Berichte über Menschen mit Behinderung zu. Da ist aber die
Sichtweise der Leser, Zuschauer und Zuhörer oft eine ganz andere als die der
behinderten Menschen. Peter Radtke, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft
“Behinderung und Medien”, gehört seit 2003 zunächst dem Nationalen, später dem
Deutschen Ethikrat an. Er ist Schauspieler und Schriftsteller. Er ist selbst behindert
und benutzt einen Rollstuhl. In einer Untersuchung zum Thema kommt er zu
folgendem Schluss:
“Tatsächlich … steckt der nichtbehinderte Journalist nicht in der Haut des
Menschen mit Behinderung. Folglich trifft auch seine Schlussfolgerung
nur in den seltensten Fällen zu. Nachdem auch die Leser, Radiohörer oder
Fernsehteilnehmer in der Regel nichtbehindert sind, halten sie die
Projektion des Außenstehenden für durchaus nachvollziehbar und machen
sie sich für Menschenbild von Personen mit Behinderungen zu eigen.
Hieraus ergibt sich die paradoxe Situation, dass die Berichterstattung zu
Behindertenthemen mitunter eher den Vorstellungen der
Nichtbetroffenen vom Alltag behinderter Menschen entspricht als der
tatsächlichen Situation.”
(www.bpb.de/apuz/27790/zum-bild-behinderter-menschen-in-den-medien)
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Perspektivenwechsel
Sollten nichtbehinderte Journalisten in Zukunft also die Finger von
Behindertenthemen lassen oder einfach nicht über Menschen mit Behinderungen
schreiben? Das wäre wohl der falscheste Weg. Wenn man Inklusion nicht auf den
gemeinsamen Unterricht von behinderten und nichtbehinderten Schülern beschränkt,
sondern darunter die Auflösung von Trennwänden zwischen verschiedenen
Bevölkerungsgruppen versteht, dann gehören solche Themen noch viel öfter in die
Medien. Aber bitte respektvoll und sachlich gut recherchiert. So viel Zeit muss sein.
Die Journalistin Rebecca Maskos richtete zusammen mit Raul Krauthausens
Sozialhelden die Internetseite leidmedien.de ein. Sie soll Journalisten ein paar
hilfreiche Handreichungen für die Berichterstattung über Themen behinderter
Menschen geben. Beide sind selbst behindert, wissen also ganz genau und im Sinne
Peter Radtkes, wovon sie sprechen. Dort wird mit einigen Phrasen aufgeräumt und es
werden Alternativen angeboten.
Als ich die Seite das erste Mal sah und dort las, man solle nicht schreiben “an den
Rollstuhl gefesselt”, dachte ich, das schreibt doch nun wirklich kein Mensch mehr.
Bereits beim täglichen Zeitungsstudium am nächsten Morgen lief mir genau diese
Phrase über den Weg. Dabei ist sie so falsch, wie es kaum falscher geht. Hätte sich
der Autor einmal die Frage gestellt, was denn für den Betroffenen die Alternative zum
Rollstuhl wäre, hätte er selbst darauf kommen können: Ein Mensch, der einen
Rollstuhl benutzt, ist nicht an ihn gefesselt – für ihn ist er ein Instrument seiner
Mobilität und damit seiner Selbstbestimmtheit.
In der eingangs zitierten “Barfuß oder Lackschuh”-Sequenz spiegelt sich die
Auffassung über behinderte Menschen wieder, wie sie oft – allzu oft – in den Medien
auftaucht. Tatsächlich, so Rebecca Maskos1, “sehen viele Menschen ihre Behinderung
jedoch nicht als permanentes Leiden an, sondern eher als eine Lebensform, mit der sie
sich arrangiert haben und die für sie eine organisatorische Herausforderung
darstellt”. Diese Herausforderungen sind mangelnde oder überhaupt fehlende
Barrierefreiheit und der gedankenlose Umgang mit behinderten Menschen. So
drückte eine Sprechstundenhilfe bei einem Arzt einer blinden Patientin etliche
Informationsschriften in die Hand mit dem Hinweis “Lesen Sie sich das mal bitte
durch”. Das Thema für einen Journalisten wäre also nicht, wie diese Frau trotz ihrer
Blindheit ihr Leben meistert (Heldenepos), sondern wie künstliche und unnötige
Barrieren aufgebaut werden.
Grenzen des guten Geschmacks?
Vor einiger Zeit startete die Aktion Mensch eine Plakataktion zum Thema Inklusion.
Auf einem der Fotos waren zwei Mädchen im Teenager-Alter zu sehen und im
Hintergrund saß ein gleichaltriger Junge im Rollstuhl. Das eine Mädchen sagte zum
anderen: “Darf man Jungen doof finden, auch wenn sie im Rollstuhl sitzen?”
Eine interessante Frage, finden Sie? Wenn das Individuum Mensch mit Behinderung
als ebensolches Individuum wahrgenommen wird wie jedes andere auch, gelten
natürlich die gleichen Regeln. Dann ist man beliebt oder unbeliebt, sympathisch oder
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unsympathisch.
Auf meinem Schreibtisch liegt eine kleine Broschüre mit Blindenwitzen. Ihr Titel ist
“Das habe ich kommen sehen”. Sie wurde mir bei einem Empfang des Beauftragten
der Bundesregierung für behinderte Menschen vom Herausgeber Dr. Thomas Nicolai
überreicht. “Bitte veröffentlichen Sie die Witze auch”, gab er mir mit auf den Weg.
Nicolai darf das, er ist selbst blind und war damals im Vorstand eines
Blindenverbandes. Darf ich das aber auch?
Die taz veröffentlichte am 30.11.2013 eine Glosse zum Thema Blindenfußball: “Aua,
huch, oh, nanu, uups, oje, hoppla, ach, seufz, o weh … Sorry, Schiri, ich dachte, Sie
wären dieser verdammte Torpfosten!”
Das Portal Blindenfußball-Online schrieb am 3. Dezember daraufhin: “Ist jene
Äußerung der genannten Redaktion noch von Meinungs- und Pressefreiheit gedeckt
oder werden hier sowohl rechtliche Grenzen, als auch diejenigen des guten
Geschmackes überschritten? Dürfen derartige Äußerungen neben dem
angesprochenen Spieler auch eine gesamte Behindertensportart verunglimpfen oder
sind sie einfach nur respektlos?”
Dieser Meinung schlossen sich viele Menschen mit Behinderungen und Vertreter ihrer
Verbände an.
Die Seite leidmedien.de griff das Thema auf startete eine Facebook-Umfrage, ob man
Witze über behinderte Menschen publizieren kann oder nicht. Eine der Meinungen
war, dass Witze über behinderte Menschen nur behinderten Menschen erlaubt sein
sollten. Also sollten Blondinen-Witze besser nur von Blondinen erzählt werden und die
Ostfriesen erzählen sich jetzt die Witze über sich auch nur noch selbst. Hier stoße ich
mit meinem inklusiven Weltbild an Grenzen.
Fazit
Auch ein Mensch mit einer wie auch immer gearteten Beeinträchtigung ist in erster
Linie und vor allem ein Mensch mit sehr vielen unterschiedlichen
Charaktereigenschaften. Sie oder er haben lediglich eine Eigenschaft zusätzlich: Sie
oder er ist behindert. Mehr ist das aber nicht. Diese Eigenschaft hat bei dem einen
mehr Gewicht, bei dem anderen weniger. So wie ein nichtbehinderter Mensch lustiger
und der andere melancholischer veranlagt ist.
Kein Journalist würde seine ganze Geschichte auf dieser einen Charaktereigenschaft
aufbauen. Der Protagonist wird als vielschichtiges und widersprüchliches Wesen
dargestellt werden, denn daraus erwächst die Spannung.
Bei behinderten Menschen scheint diese Vielschichtigkeit verloren gegangen zu sein:
Alles dreht sich um diese eine Eigenschaft und wie der Protagonist damit umgeht. Der
Mensch mit Behinderung wird auf sein Defizit reduziert, es wird das, was er kann,
außer Acht gelassen.
Titelillustration: Esther Schaarhüls
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Das Magazin Fachjournalist ist eine Publikation des Deutschen FachjournalistenVerbands (DFJV).
Der Autor Siegurd Seifert ist freier Journalist in Berlin und
schreibt überwiegend über Themen behinderter Menschen in
Tages- und Fachzeitschriften. Er ist Chefredakteur der
Berliner Behindertenzeitung und führt Workshops mit
Studenten der Freien Journalistenschule Berlin durch.
Dieser Beitrag wurde publiziert am Freitag den 31. Juli 2015 um 13:30
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