Hinweise für Schüler
Transcription
Hinweise für Schüler
Abitur 2003 Deutsch Gk Seite 1 Hinweise für Schüler Aufgabenauswahl: Von den vorliegenden vier Aufgaben ist e i n e auszuwählen und vollständig zu bearbeiten. Für Aufgabe I können Sie die Textvorlagen von Ganzschriften der gymnasialen Oberstufe nutzen. Bearbeitungszeit: Die Arbeitszeit beträgt 240 Minuten; zusätzlich stehen 30 Minuten Lesezeit für die Wahl der Prüfungsaufgabe zur Verfügung. Hilfsmittel: ein Nachschlagewerk zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung Hinweis: Die den Aufgaben zu Grunde liegenden Texte wurden nicht der neuen Rechtschreibung angepasst. Sonstiges: Geben Sie auf der Reinschrift die bearbeitete Aufgabe an und nummerieren Sie die Seiten fortlaufend. Für die Bewertung gilt die Reinschrift. Entwürfe können nur dann ergänzend herangezogen werden, wenn sie zusammenhängend konzipiert sind und die Reinschrift etwa drei Viertel des erkennbar angestrebten Gesamtumfangs umfasst. Abitur 2003 Deutsch Gk Seite 2 Aufgaben im Überblick Aufgabe I Peter Handke: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms Analysieren Sie den Textauszug und erörtern Sie die hier dargestellten Wirkungsmöglichkeiten von Literatur anhand Ihrer eigenen Leseerfahrungen. Aufgabe II Donata Elschenbroich: Weltwissen: eine erste Liste (1996) Analysieren Sie den Text und erörtern Sie die darin angesprochene Bildungs- und Erziehungsproblematik. Aufgabe III Josef Reding: Während des Films ... Analysieren und interpretieren Sie den Text. Setzen Sie sich mit der hier aufgeworfenen Problematik auseinander. Aufgabe IV Johann Wolfgang Goethe: Gesang der Geister über den Wassern Analysieren und interpretieren Sie das Gedicht. Abitur 2003 Deutsch Gk Seite 3 Aufgabe I Peter Handke: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms Analysieren Sie den Textauszug und erörtern Sie die hier dargestellten Wirkungsmöglichkeiten von Literatur anhand Ihrer eigenen Leseerfahrungen. ___________________________________________________________________________ Text zur Aufgabe I Peter Handke (geb. 1942) Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms 5 10 15 20 Die Wirklichkeit der Literatur hat mich aufmerksam und kritisch für die wirkliche Wirklichkeit gemacht. Sie hat mich aufgeklärt über mich selber und über das, was um mich vorging. Seit ich erkannt habe, worum es mir, als Leser wie auch als Autor, in der Literatur geht, bin ich auch gegenüber der Literatur, die ja wohl zur Wirklichkeit gehört, aufmerksam und kritisch geworden. Ich erwarte von einem literarischen Werk eine Neuigkeit für mich, etwas, das mich, wenn auch geringfügig, ändert, etwas, das mir eine noch nicht gedachte, noch nicht bewußte Möglichkeit der Wirklichkeit bewußt macht, eine neue Möglichkeit zu sehen, zu sprechen, zu denken, zu existieren. Seitdem ich erkannt habe, daß ich selber mich durch die Literatur habe ändern können, daß mich die Literatur zu einem andern gemacht hat, erwarte ich immer wieder von der Literatur eine neue Möglichkeit, mich zu ändern, weil ich mich nicht für schon endgültig halte. Ich erwarte von der Literatur ein Zerbrechen aller endgültig scheinenden Weltbilder. Und weil ich erkannt habe, daß ich selber mich durch die Literatur ändern konnte, daß ich durch die Literatur erst bewußter leben konnte, bin ich auch überzeugt, durch meine Literatur andere ändern zu können. [...] Ich habe keine Themen, über die ich schreiben möchte, ich habe nur ein Thema: Über mich selbst klar, klarer zu werden, mich kennenzulernen oder nicht kennenzulernen, zu lernen, was ich falsch mache, was ich falsch denke, was ich unbedacht denke, was ich unbedacht spreche, was ich automatisch spreche, was auch andere unbedacht tun, denken, sprechen: aufmerksam zu werden und aufmerksam zu machen: sensibler, empfindlicher, genauer zu machen und zu werden, damit ich und andere auch genauer und sensibler existieren können, damit ich mich mit anderen besser verständigen und mit ihnen besser umgehen kann. [...] (1967 v) aus: P. Handke. Prosa. Gedichte. Theaterstücke. Hörspiel. Aufsätze. Suhrkamp Verlag. Frankfurt a. M. 1969 Abitur 2003 Deutsch Gk Seite 4 Aufgabe II Donata Elschenbroich: Weltwissen: eine erste Liste (1996) Analysieren Sie den Text und erörtern Sie die darin angesprochene Bildungs- und Erziehungsproblematik. ___________________________________________________________________________ Text zur Aufgabe II Donata Elschenbroich (geb. 1945)1 Weltwissen: eine erste Liste (1996) 5 10 15 20 25 30 ... Ein siebenjähriges Kind sollte vier Ämter im Haushalt ausführen können (etwa: Treppe kehren, Bett beziehen, Wäsche aufhängen, Handtuch bügeln). Es sollte ein Geschenk verpacken können. Zwei Kochrezepte umsetzen können, für sich und für einen Freund, für sich selbst und für drei Freunde. Es sollte einmal ein Baby gewickelt oder dabei geholfen haben. Es sollte gefragt haben können, wie Leben entsteht. Es sollte eine Vorstellung davon haben, was bei einer Erkältung in seinem Körper vorgeht, und eine Wunde versorgen können. Das Kind sollte wissen, wie man drei verschiedene Tiere füttert, und Blumen gießen können. Ein siebenjähriges Kind sollte schon einmal auf einem Friedhof gewesen sein. Es sollte wissen, was Blindenschrift ist, und vielleicht drei Wörter in Blindenschrift (oder Gehörlosensprache) verstehen. Es sollte zwei Zaubertricks beherrschen. Drei Lieder singen können, davon eines in einer anderen Sprache. Es sollte einmal ein Musikinstrument gebaut haben. Es sollte den langsamen Satz einer Sinfonie vom Recorder dirigiert haben und erlebt haben, dass die Pause ein Teil von Musik ist. Es sollte drei Fremdsprachen oder Dialekte am Klang erkennen. Drei Rätsel, drei Witze erzählen können. Einen Zungenbrecher aufsagen können. Es sollte drei Gestalten oder Phänomene in Pantomime darstellen können und Formen der Begrüßung in zwei Kulturen. Ein Gebet kennen. Reimen können, in zwei Sprachen. Ein chinesisches Zeichen geschrieben haben. Eine Sonnenuhr gesehen haben. Eine Nachtwanderung gemacht haben. Durch ein Teleskop geschaut haben, zwei Sternbilder erkennen. Wissen, was Grundwasser ist. Was ein Wörterbuch ist, eine Wasserwaage, eine Lupe, ein Katalysator, ein Stadtplan, ein Architekturmodell. In einer Bücherei gewesen sein, in einer Kirche (Moschee, Synagoge ...), in einem Museum. Einmal auf einer Bühne gestanden haben und einem Publikum mit anderen etwas Vorbereitetes vorgetragen haben. Ein siebenjähriges Kind sollte einige Ereignisse aus der Familiengeschichte kennen, aus dem Leben oder der Kindheit der Eltern oder Urgroßeltern. Und etwas aus der eigenen Lebensgeschichte: zwei Anekdoten über sich selbst als Kleinkind erzählen können. Wissen, zu welcher Zeit - der Eltern, der Großeltern - das Haus gebaut ist, in dem man wohnt. Einen Streit aus zwei Positionen erzählen können. Ein Beispiel für Ungerechtigkeit beschreiben. Konzepte kennen: Was ist ein Geheimnis, was ist Gastfreundschaft, was ist eine innere Stimme, was ist Eifersucht, Heimweh, was ist ein Missverständnis. Ein Beispiel kennen für den Unterschied zwischen dem Sachwert und dem Gefühlswert von Dingen ... 1 Donata Elschenbroich arbeitet am Deutschen Jugendinstitut in München auf dem Gebiet der international vergleichenden Kindheitsforschung. Abitur 2003 Deutsch Gk 35 40 45 50 55 60 Seite 5 Empörung löste diese Liste zunächst oft aus. Übersteigerte Ansprüche! Wörter in Blindenschrift lesen, ein chinesisches Zeichen schreiben - das kann ich ja selbst nicht. »Das hat jemand geschrieben, der keine Kinder hat.« Eine Sinfonie vom Recorder dirigieren bildungsbürgerlich! Zwei Zungenbrecher aufsagen, drei Lieder kennen - warum nicht sechs, oder gleich fünfzehn? »Grundwasser - den Kindern die Schlechtigkeit der Welt aufladen. Welche Ökonudel hat sich das ausgedacht.« Allein die Form, eine Liste - wie pedantisch! »Ein Theoriefurz.« Sollen damit künftig alle Kinder durchgecheckt werden? Den Gesprächen gab der Ärger Energie. Und muss man sich nicht wehren gegen die Zumutung, gegen diese prometheische Anmaßung? Wird man bei der Konstruktion einer optimalen Kindheit nicht immer zugleich das Negative, das Defizit definieren? Erzeugt man beim Ausphantasieren des Guten nicht zugleich das Schlechte, die depravierte2, die ungebildete Kindheit? Wendet sich das Ideal nicht immer gegen den konkreten Menschen, das konkrete Kind? Kann eine ideale Kindheit besser sein als die reale, die erlebte? Ist nicht der wirkliche Mensch der höhere Wert als der wünschbare Mensch? Ist der optimale Siebenjährige ein totalitäres Konstrukt? Ein Missverständnis! haben wir entgegnet. Das ist keine Checkliste der bei den Kindern abzuprüfenden Fertigkeiten und Erfahrungen. Eher schon ist es eine Checkliste der Pflichten der Erwachsenen. Es soll ihrer Selbstverpflichtung dienen: Welche Bildungsgelegenheiten schulden wir den Siebenjährigen? Ein Versprechen: dafür zu sorgen nehmen wir uns vor, wir Eltern, Erzieher, Nachbarn. Angeboten soll es den Kindern werden. In den Horizont der Erwachsenen sollten diese Möglichkeiten in den ersten sieben Lebensjahren ihrer Kinder irgendwann einmal getreten sein ... Fülle spricht von der Macht des Möglichen. Nicht alle Beispiele für Bildungs-Anlässe können in ein einziges Kinderleben gepresst werden [...]. Das überstimulierte Kind, bis zum Anschlag gefördert, belagert, pädagogisch umkreist, überfordert ... Nein, als Generation sind die Siebenjährigen gemeint! Und doch: Keine dieser Gelegenheiten sollte in einem Kinderleben grundsätzlich von vorneherein ausgeschlossen sein. Nur so kann ein Bildungskanon für die frühen Jahre heute aussehen. Die Überlegenheit des Möglichen über das Wirkliche muss immer spürbar bleiben. Das Wirkliche darf das Mögliche nicht so reduzieren, dass sich der Horizont schließt [...] aus: D. Elschenbroich. Weltwissen der Siebenjährigen. Verlag Antje Kunstmann GmbH. München 2001 2 verschlechtert, entartet Abitur 2003 Deutsch Gk Seite 6 Aufgabe III Josef Reding: Während des Films ... Analysieren und interpretieren Sie den Text. Setzen Sie sich mit der hier aufgeworfenen Problematik auseinander. ___________________________________________________________________________ Text zur Aufgabe III Josef Reding (geb. 1929) Während des Films ... 5 Während des Films, als die Haut- und Knochenbündel der ermordeten Häftlinge wie Tierkadaver über eine hölzerne Rutsche in den Graben torkelten, dachte der 18jährige Portokassenverwalter: Greuelpropaganda! Man will uns verschaukeln. Uns fertigmachen. Schuldkomplexe wecken. Das haben die Wiedergutmachungshausierer vom Dienst fabriziert. Ausländer stellten den Film zusammen. Na also. Wahrscheinlich Juden. Die anderen sollen sich an ihre eigenen Nasen packen. Was machen die Franzosen mit den Algeriern? Die Amerikaner mit den Negern? Und damals? Was haben die Russen mit unseren Frauen gemacht? Und die englischen Luftgangster mit unseren Ruhrgebietsstädten? Hoffentlich kommt gleich wieder was vom Vormarsch. Rommels Panzer in Afrika ... 10 15 20 25 30 35 ... dachte der 30jährige Filmkritiker Dr. Basqué: Hart, aber sicherlich mit der Wirklichkeit übereinstimmend. Unästhetisch! Aber es ist eben ein Dokumentarfilm. Das Thema müßte mal dichterisch gemeistert werden. Man müßte eine überzeugende Story darum bauen. Vielleicht könnte ich meinen alten Stoff aus der Schreibtischlade holen, das Treatment1 zu »Liebe vor düsterem Hintergrund«. Die Journalistik befriedigt mich auf die Dauer nicht. Man sieht ja, wozu alles gerinnt: zum Foto, zum verregneten, unkünstlerischen Film. Ich werde das in meiner Kritik vermerken, gesperrt! ... ... schloß die 52jährige Lehrerin Bordeler die Augen. Ich hätte hier nicht hineingehen sollen, dachte sie. Wieder die konvulsivischen Krämpfe im Magen. Aber der Film wurde im Kollegium als zeitgeschichtlich informativ empfohlen. Damals in der Frauenschaft hat man uns von diesen Furchtbarkeiten nichts gesagt. Wir haben Schulkinder gespeist und unverheirateten Müttern geholfen, spürbar und ohne Moralin. Und der Kollege Jokodek? Von dem man bis heute noch nichts weiß? Er hatte Feindsender abgehört und die Meldungen verbreitet, und ich habe ihn angezeigt, wie es meine Pflicht war. Pflicht? Dummheit. Aber dafür habe ich gebüßt. Drei Jahre im Internierungslager. War auch kein Zuckerlecken. Ob Jokodek wohl zu Tode gekommen ist, wie - wie - die da - auf der Leinwand, auf dieser verfluchten, sachlichen Leinwand? Ich muß hinaus ... ... aß der 45jährige Prokurist Selbmann Erdnüsse, gesalzene Erdnüsse aus einer fröhlichbunten Frischhaltepackung. Er bemühte sich, ein Knistern der Tüte zu vermeiden. Niemand sollte gestört werden. Selbmann zerkaute die Nüsse sorgfältig ... ... machte der Oberprimaner Teppenbruch mit der Sprechstundenhilfe Lindenfeldt Schwitzehändchen. Schwitzehändchen, so hieß der Ausdruck für das Händchenhalten während der Vorstellung mit der Begleiterin. Der Oberprimaner hätte gern seinen Arm um die 1 Vorentwurf für ein Drehbuch Abitur 2003 Deutsch Gk 40 Seite 7 Schulter des Mädchens gelegt. Aber sein Taschengeld reichte nur für einen Parkettplatz in der Mitte des Kinos, und dort geniert er sich. Hoffentlich ist der Film bald zu Ende, dachte der Oberprimaner Teppenbruch. Ich muß aufpassen. Vielleicht fragt man beim Abi nach den Vorgängen von damals. Sollen die Alten doch selbst die Suppe auslöffeln, die sie sich eingebrockt haben. Wenn der Film vorüber ist, wird es draußen dunkel sein ... ... dachte die Sprechstundenhilfe Lindenfeldt: warum schleppt er mich in einen solchen Problemfilm? Aber wenn der Film vorüber ist, wird es draußen dunkel sein ... 45 50 55 ... verfiel die Eintrittskarte des Kriminalrats Mutt. Er hatte sie im Vorverkauf durch seine Tochter holen lassen, weil er fürchtete, vor dem Kino würde sich eine Schlange bilden. Doch dann entschloß sich Kriminalrat Mutt, auf den Besuch dieses Filmes zu verzichten. Man soll die Vergangenheit nicht unnötig aufwühlen, dachte er. Kriminalrat Mutt war früher Oberscharführer Mutt ... ... übergab die Kassiererin Trimborn dem Kinobesitzer Mengenberger die Abrechnung. „Außergewöhnlich!“ sagte Herr Mengenberger und lachte. „So gerammelt voll haben wir es lange nicht mehr gehabt, Trimbörnchen, was? Da müssen wir schon sehr weit zurückrechnen. Bis in die Kriegszeit hinein. „U-Boote westwärts.“ Oder noch weiter zurück. „Sturmführer Westmar!“ Jedenfalls irgend etwas mit West ... (1957) aus: J. Reding. Nennt mich nicht Nigger. Kurzgeschichten. Bitter Verlag. Recklingshausen 1978 Abitur 2003 Deutsch Gk Seite 8 Aufgabe IV Johann Wolfgang Goethe: Gesang der Geister über den Wassern Analysieren und interpretieren Sie das Gedicht! ___________________________________________________________________________ Text zur Aufgabe IV Johann Wolfgang Goethe (1749 - 1832) Gesang der Geister über den Wassern 5 10 15 Des Menschen Seele Gleicht dem Wasser: Vom Himmel kommt es, Zum Himmel steigt es, Und wieder nieder Zur Erde muß es, Ewig wechselnd Strömt von der hohen, Steilen Felswand Der reine Strahl, Dann stäubt er lieblich In Wolkenwellen Zum glatten Fels, Und leicht empfangen Wallt er verschleiernd, Leisrauschend Zur Tiefe nieder. 20 Ragen Klippen Dem Sturz entgegen, Schäumt er unmutig Stufenweise Zum Abgrund. 25 Im flachen Bette Schleicht er das Wiesental hin, Und in dem glatten See Weiden ihr Antlitz Alle Gestirne. 30 35 Wind ist der Welle Lieblicher Buhler; Wind mischt vom Grund aus Schäumende Wogen. Seele des Menschen, Wie gleichst du dem Wasser! Schicksal des Menschen, Wie gleichst du dem Wind! (Erstdruck 1789) aus: M. Bertram (Hg.). Digitale Bibliothek der deutschen Literatur. Direct Media Publishing GmbH. Berlin 2000