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TICKER +++ start ticker +++ Am Mittwoch den 08. September findet im Rahmen des free & easy-Festivals im Backstage eine von uns veranstaltete Podiumsdiskussion zum Thema Sozialstaat statt. Ganz kurz zur Erklärung: Es ist gewollt, dass das diesmalige Cover in Schwarz-Weiß aus der Reihe tanzt, und kein Druckfehler. +++ ende ticker +++ Impressum: Links im Druck - Die Mitgliederzeitschrift der Münchner Jusos Druck: V.i.S.d.P. : Redaktion: Layout: Auflage: Erscheinungsweise: Osiris Druck, Karl-Heine-Str. 99, 04229 Leipzig Hanna Kappstein, c/o Jusos München, Oberanger 38/IV, 80331 München Hanna Kappstein, Jürgen Glatz, Simone Burger, Philipp Obermüller, Jakob Rinkewitz, Quirin Schimeta, Viola Unger, Phillip Obermüller, Mike Raab (Cover) 500 11 Ausgaben pro Jahr Wir freuen uns über Mitarbeit, Kritik, Artikel und andere Rückmeldungen; Kontakt über lid@jusos-m.de oder über Philipp Obermüller, tel. 14 72 92 52. Namentlich gekennzeichnete Artikel geben nicht unbedingt die Meinung des Herausgebers wieder. Die Redaktion behält sich vor, Artikel abzulehnen oder zu kürzen. Wenn Sie spenden wollen: Jusos München, Konto-Nr. 111 500, Stadtsparkasse München, BLZ 701 500 00. Wir stellen Ihnen unaufgefordert eine steuerabzugsfähige Spendenquittung aus. EDITORIAL Editorial Inhalt 04 Schwerpunkt Fehldiagnose Globalisierung QUIRIN SCHIMETA 11Vorstellung Der Vorstand stellt sich vor - Teil 2 12 Schwerpunkt Die US-Politik im Irak JÜRGEN GLATZ 15 Schwerpunkt socialismo o muerte JAKOB RINKEWITZ 18 Interview DR. ERNST WOLOWICZ 23 Das letzte Wort PHILIPP OBERMÜLLER Die Qualität internationaler Beziehungen ist Gegenstand unzähliger politischer Stellungnahmen und wird gerne als Maßstab guter Regierungsarbeit herangezogen. Kaum ein Staatsbesuch vergeht, ohne dass die beiderseitigen guten Beziehungen angepriesen werden. Und ist dies doch einmal anders (siehe die Spannungen zwischen Deutschland und den USA während des Irak-Krieges, die ja inzwischen angeblich wieder ausgeräumt sind), gibt das Anlaß zu besorgten Stellungnahmen von Seiten der Journalisten. Richtig interessant wird es deshalb in der Regel erst, wenn diese vermeintlich so guten Beziehungen (wieder) auf den Prüfstand kommen. Man nehme beispielsweise die Hamburger Prozesse zum 11. September, um sich ein Bild von der Realität internationaler Rechtshilfe zu machen. Wichtige Zeugen können nicht gehört werden, weil die USA dies unter Hinweis auf staatliche Geheimhaltungsinteressen verweigern. Die nach deutschen rechtsstaatlichen Prinzi pien daraus unweigerlich folgende Konsequenz des Freispruchs aus Mangel an Beweisen wird Deutschland dann paradoxerweise als Schwäche ausgelegt. Beruhigend ist in diesem Zusammenhang zwar, dass die hiesigen rechtsstaatlichen Mechanismen funktioniert haben, traurig jedoch, dass zumindest auf Ebene der Politik der durch die USA aufgebaute Druck zuweilen Früchte zu tragen scheint. Es entsteht jedenfalls leicht der Eindruck, als müsse sich Deutschland für diese rechtsstaatlichen Prinzipien entschuldigen, als müsse endlich ein Exempel statuiert werden, um den ersten Freispruch im Fall Mzoudi oder vielleicht auch das Nein Deutschlands zum Irak-Krieg zu kompensieren. Es menschelt eben auch in der großen Politik bisweilen sehr. Und so ist es zwar menschlich gesehen nachvollziehbar, dass Äußerungen wie die des amerikanischen Justizministers Ashcroft nach Mzoudis Freispruch (Ich bin enttäuscht) Otto Schilys Wunsch nach einer Art Wiedergutmachung bekräftigen mögen, politisch gesehen aber ist dies doch sehr bedenklich. Da zeigt sich wieder einmal, wie wichtig eine unabhängige Justiz ist. HANNA KAPPSTEIN 02 03 SCHWERPUNKT Fehldiagnose Globalisierung Ein Gespenst geht um in der politischen Arena das Gespenst der Globalisierung. Zahlreiche Gruppierungen haben sich zu einer Allianz vereinigt, um dieses Gespenst zu bekämpfen: Umweltaktivisten, ehemalige Währungsspekulanten, amerikanische Gewerkschafter, Intellektuelle aller Couleur, radikale französische Bauern, reißerische Publizisten. Auf der anderen Seite: wo ist eine Regierungspartei, die Einschnitte in das soziale Netz nicht mit den Sachzwängen der Globalisierung rechtfertigt, wo die Arbeitgebervereinigung, die diese nicht als unzureichend für den bestehenden globalen Wettbewerb kritisiert? Zweierlei geht aus dieser Tatsache hervor: 1. Die Globalisierung wird von nahezu allen Gruppierungen als ein Faktum anerkannt. 2. Es ist höchste Zeit empirische Entwicklungen, Bewegungsgesetze sowie Folgen für das politische Handeln offen zu legen und dem Märchen vom Gespenst eine seriöse Analyse entgegenzusetzen. 1. Eine Diagnose Wenn eine interessierte Bürgerin heute wissen will, was Globalisierung bedeutet, hat sie es sehr leicht. Sie kann z.B. den Fernseher anschalten und eine der unzähligen Polit-Talkshows verfolgen, in der dieses Thema bis zum erbrechen behandelt wird. Sie kann in eine Buchhandlung gehen um dort von der Fülle an Globalisierungsanalysen schier erschlagen zu werden. Sie kann auch die Tageszeitung aufschlagen und dort einen ausführlichen Artikel darüber lesen. Kaum ein Thema findet in der medialen Öffentlichkeit mehr Beachtung und kaum ein Thema wird dabei auch eindeutiger vermittelt. Was Globalisierung bedeutet lässt sich kompakt zusammenfassen. Folgendes Zitat eines ausgewiesenen Globalisierungsspezialisten, der zu diesem Thema bereits mehrere Bücher verfasst hat und oft in Talkshows anzutreffen ist, könnte man dabei exemplarisch für die derzeitige Analyse heranziehen: Wie ein Gewitter ist die Globalisierung über uns hereingebrochen. Die goldenen Zeiten, in denen ein national abgeschotteter Wohlfahrtsstaat für soziale Gerechtigkeit sorgte, sind für immer vorbei. Das Kapital hat sich entmaterialisiert und bewegt sich unaufhaltsam im zeit- und entfernungslosen Raum transnationaler Kommunikation. Konnte man es früher in nationalstaatlich institutionalisierten Klassenauseinandersetzungen noch zur sozialen Verantwortung heranziehen, so muss nun jeder Versuch scheitern. Unliebsamen, Profit verringernden, Hindernissen weicht das Kapital mit Leichtigkeit aus und hinterlässt in den jeweiligen Ländern Arbeitslosigkeit. So hat man die leidige Wahl zwischen der Scylla der Arbeitslosigkeit und der Charybdis der sozialen Ungerechtigkeit. . Ich selbst führe derzeit Untersuchungen bei zwei großen High-TechUnternehmen durch, die exakt das bestätigen. Der Druck der globalen Finanzmärkte lässt diesen Unternehmen gar keine andere Wahl. Bereits heute werden ganze Abteilungen gerade auch von hoch- und höchstqualifizierten nach China verlagert, weil dort die gleiche Produktion einen Bruchteil dessen kostet, was Unternehmen hierzulande aufbringen müssen. Hans Olaf Henkel hat leider recht wenn er behauptet, dass der größte Exportschlager derzeit Arbeitsplätze sind. . Die Exekution der nationalen Abgeschiedenheit führt (abgesehen von temporären Störungen) auf der einen Seite dazu, dass Ökonomien SCHWERPUNKT mit niedrigeren Grenzkosten bei der Güterproduktion uns den Rang ablaufen. Ein Blick in die Verkaufsregale zeigt: Wir werden von Exportoffensiven speziell der Asiaten überschwemmt. Auf der anderen Seite fließt das Kapital natürlich aus den weniger rentablen Hochlohnökonomien wie Deutschland in die Niedriglohnländer, da dort die Verwertungsbedingungen aufgrund der niedrigen Umwelt- und Sozialstandards deutlich besser sind. Diesem globalen Wettbewerb muss sich jeder stellen. Ging man früher davon aus, dass internationaler Handel zu einer Win-Win-Situation führt, muss man dafür heute eine Lose-Lose-Situation konstatieren. Das jedoch ändern zu wollen wäre genauso als wolle man das schlechte Wetter ändern. Hat der verehrte Leser hier etwas Neues erfahren? Im Großen und Ganzen wohl kaum, bringt es doch nur zum Ausdruck, was man eh schon desöfteren gehört hat. Dennoch dürfte dieses Zitat durchaus lesenswert gewesen sein. Es fasst die Funktionsweise der Globalisierung prägnant zusammen, untermauert das Theoretische mit einem kleinen Ausflug in die Empirie und ist vor allem eine Bestätigung des Selbstvermuteten durch einen Wissenschaftler. Des Weiteren kann man vielleicht auch die ein oder andere intellektuelle Formulierung, den ein oder anderen Fachbegriff selbst einmal später in eine Diskussion einwerfen. Vielleicht ist der Leser auch in manchen Punkten etwas skeptisch geworden, die in Bezug auf dieses Zitat interessierende Frage ist jedoch, ob der Leser das oben genannte für eine wissenschaftlich fundierte Analyse hält. Wenn ja, dann hat er ein Problem. Diese Analyse wurde nämlich nicht von einem wissenschaftlichen Fachmann geschrieben, sondern von mir selbst. Und auch wenn sie inhaltlich den Nerv der Zeit trifft, ist sie von vorne bis hinten falsch. Es werden einfachste ökonomische Grundregeln missachtet, es werden falsche empirische Tatsachen vorgegaukelt, es werden Fachbegriffe sinnlos eingesetzt und pseudo-intellektuelle Formulierungen gewählt, die niemanden weiterbringen. Dennoch wird der ein oder andere eine gewisse Zeit lang von der Wahrhaftigkeit oder zumindest Wissenschaftlichkeit der Analyse ausgegangen sein. Das offenbart, wie leicht man auf diesem Gebiet Schwachsinniges, pseudointellektuell verpackt, zu einer plausiblen wissenschaftlichen Erklärung machen kann. Dass der Inhalt des Zitats auch exemplarisch für die Mehrheitsanalyse in der derzeitigen Diskussion steht, zeigt wie oberflächlich mit diesem Thema umgegangen wird. Im Folgenden soll dieses Zitat Schritt für Schritt einer Kritik unterworfen werden und damit zugleich aufgezeigt werden, wie die Globalisierung wirklich funktioniert. 2. Globalisierung ist nicht neu Wie ein Gewitter ist die Globalisierung über uns hereingebrochen. In der gesamten derzeitigen Diskussion wird ein Bild vermittelt als wäre Globalisierung etwas qualitativ ganz neues, das in den ausgehenden 70er Jahren durch die Fortentwicklung der Kommunikations- und Transporttechnologien entsteht. Früher gab es letztere nicht, folglich konnte man sich abschirmen und national für soziale Gerechtigkeit sorgen. Doch das ist falsch. Der Kapitalismus war seit jeher eine globale Angelegenheit. Eines seiner Grundprinzipien ist die Arbeitsteilung und diese wurde von Anfang an nicht nur auf Individuen sondern auch auf Nationalökonomien bezogen. Theoretisch wurde das bereits von Smith und vor allem Ricardo herausgestellt, seine Umsetzung in die Realität fand >> 04 05 SCHWERPUNKT zwischen den 1820er und 1840er Jahren global mit einer starken Rückführung der Zölle statt. Allen voran England öffnete seine Märkte und intensivierte seinen Handel mit anderen Ländern. Wie nah die verschiedenen Volkswirtschaften aneinandergerückt sind, bringt folgendes Zitat von Marx aus dem Jahre 1849 auf den Punkt: Die Bourgeoisie hat durch ihre Exploitation des Weltmarktes die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet. Sie hat zum großen Bedauern der Reaktionäre den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen weggezogen. Die uralten nationalen Industrien sind vernichtet worden und werden noch täglich vernichtet. Sie werden verdrängt durch neue Industrien, deren Einführung eine Lebensfrage für alle zivilisierten Nationen wird, durch Industrien, die nicht mehr einheimische Rohstoffe, sondern den entlegensten Zonen angehörige Rohstoffe verarbeiten und deren Fabrikate nicht nur im Lande selbst sondern in allen Weltteilen zugleich verbraucht werden.1 Das 19. Jahrhundert ist ein Jahrhundert der Globalisierung, die als solche speziell in der zweiten Hälfte ähnlich wie heutzutage wahrgenommen wird. Wenn die Ernten in Indien schlechter ausfallen, steigen die Brotpreise in den englischen Städten, wenn in New York eine Bank zusammenbricht fallen die Aktienkurse in Europa, wenn polnische Arbeiter im eigenen Land überflüssig werden versuchen sie ihr Glück auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Täglich laufen an den Haupthandelsplätzen der Erde die Telegramme ein und berichten über Marktverhältnisse Angebot und Nachfrage der ganzen Welt (werden) miteinander in Beziehung gesetzt2 , berichtet der Ökonom Harms 1912 in seinen Versuchen eine Weltwirtschaftslehre zu entwerfen. In der Zeit zwischen den Weltkriegen geht diese Entwicklung zurück, doch gerade in den 50er und 60er Jahren, die gerne als die goldenen Sozialstaatszeiten tituliert werden, kommt die zweite große Welle der Globalisierung, speziell zwischen den entwickelten Volkswirtschaften findet eine stärkere Integration statt Lucky Strike und Coca Cola lassen grüßen. Ende der 70er Jahre beginnt dann die dritte Welle der Globalisierung - die Integration der Industrieländer nimmt nochmals zu, Entwicklungsund Schwellenländer werden nun in den Handel miteinbezogen. Man sieht also sehr deutlich, dass Globalisierung schon immer gegeben war, sich nun zwar etwas intensiviert, aber eben nichts qualitativ Neues darstellt. 3. Sozialstaat braucht keine Abschottung Die goldenen Zeiten, in denen ein national abgeschotteter Wohlfahrtsstaat für soziale Gerechtigkeit sorgte, sind für immer vorbei. Haben wir uns oben mit der These auseinandergesetzt, Globalisierung sei etwas Neues so wollen wir nun betrachten, was früher denn anders gewesen wäre. Hier trifft man auf eine merkwürdige Übereinstimmung zwischen Unternehmenschefs und linken Feuilleton-Intellektuellen. Beide wollen zeigen, dass der massive Ausbau von sozialen Sicherungssystemen und gleichzeitiger Erfolg bei Beschäftigung und Wachstum eigentlich gar nicht möglich seien, sich nur äußerst speziellen Bedingungen verdanken, in diesem Fall der Abschottung vor der Weltmarktkonkurrenz, die angeblich in den 50er und 60er Jahren gegeben war, nun aber naturgesetzlich für immer beseitigt worden wäre. Den Arbeitgeber erfreut eine solche Sichtweise, weil er damit den lästigen Sozialstaat und seine Finanzierung delegitimieren kann, den linken FeuilletonIntellektuellen erfreut sie, weil man SCHWERPUNKT ja nun doch noch bestätigt wird, dass der Kapitalismus an sich ein brutales Ausbeutungssystem ist. Wir haben oben bereits erwähnt, dass diese Zeit von einem Globalisierungsschub gekennzeichnet war. Die 50er und 60er Jahre als Abschottungsjahre zu bezeichnen ist also falsch. Wäre es so gewesen, so wäre es aber auch falsch, diese Zeit als eine Zeit anzusehen, in der man das Kapital auf nationaler Ebene zurechtgestutzt hätte um damit den Sozialstaat zu finanzieren. Die Renditen der Unternehmen lagen in dieser sozialstaatlichen Zeit eher über denen der heute so globalisierten. Umgekehrt wurde der Sozialstaat in erster Linie von den Arbeitnehmern durch die Lohnnebenkosten finanziert.3 Egal ob auf national begrenzter oder globaler Ebene, die Ware Arbeitskraft wird nur gekauft, wenn sie eine gewisse Rendite abwirft. Das war in dieser Zeit wegen bescheidenen Lohnabschlüssen auf der Angebotsseite und hohen Exporterlösen wegen der durch Bretton-Woods chronisch unterbewerteten Mark auf der Nachfrageseite möglich. Das große Mysterium 50er und 60er Jahre wo Marxisten und Arbeitgeber staunend erkennen mussten, dass Marktwirtschaft auch mit sozialer Sicherheit möglich ist, war keine spezielle Konstellation sondern ist bei der richtigen Wirtschaftspolitik (gute Angebots- und gute Nachfragepolitik) immer möglich, auch heute. 4. Volkswirtschaften befinden sich nicht im Wettbewerb Diesem globalen Wettbewerb muss sich jeder stellen. Kein Wort wird in der Globalisierungsdebatte wohl häufiger verwendet als Wettbewerbsfähigkeit. Alles was in Deutschland politisch geschieht muss darauf überprüft werden, ob es der Wettbewerbsfähigkeit dient, will man den Hundts, Sinns, Clements und Co glauben und wer will das denn nicht? Dahinter steht nämlich die plausibel erscheinende Anwendung von betriebswirtschaftlichen Kategorien auf volkswirtschaftliche Kontexte. Ist es denn heute nicht auch so, dass Volkswirtschaften wie Unternehmen in einem Wettbewerb um Kapital, Arbeitsplätze und globalisierte Absatzmärkte stehen? Ist es nicht so, dass jene die dieser Logik nicht folgen auf der Strecke bleiben? So sehr dies auf den ersten Blick einsichtig ist und derzeit die Mehrheitsmeinung repräsentiert, so wenig ist es richtig. Ein Blick auf fundamentale Wirtschaftsdaten zeigt, dass sich Volkswirtschaften und Unternehmen nicht vergleichen lassen. Betrachten wir z.B. das Bruttoinlandsprodukt des Jahres 2003 und den Anteil der Ein- und Ausfuhren daran, so erkennt man schnell, dass der überwiegende Teil der Produktion im Land bleibt: BIP 2.130 Mrd Euro Ausfuhr 638 Mrd Euro 29% Einfuhr 542 Mrd Euro 25% (Zahlen: statistisches Bundesamt, WSI) Wer kennt aber schon ein Unternehmen, bei dem die eigene Belegschaft mehr als einen vollkommen zu vernachlässigenden Anteil an der Nachfrage nach den produzierten Waren ausmacht. Volkswirtschaften sind, um einmal bei vereinfachenden Vergleichen zu bleiben, viel eher als klassische Bauernhöfe zu betrachten, die den größten Teil ihrer Produktion auch selbst konsumieren. Hier hat man sich kein bisschen um irgendwelche Weltmarktbedürfnisse zu richten. Einen kleineren Teil versucht man auf dem Dorfmarkt zu tauschen, der in diesem Fall genauso wie der Weltmarkt funktioniert. Hier kommt es natürlich auf die Attraktivität der Produkte an, aber wie Ricardo schon vor bald zwei >> 06 07 SCHWERPUNKT Jahrhunderten richtig herausstellte, ergibt das unter fairen Handelsbedingungen immer eine Win-WinSituation. Ein unproduktiverer Bauernhof hat ja stets die Wahl seine Produkte selbst zu konsumieren oder zu tauschen. Letzteres wird aber unter fairen Bedingungen4 nur geschehen, wenn für ihn aber auch für seinen Tauschpartner dabei mehr herausspringt als bei Eigenkonsum. Dass dies normalerweise auch zutrifft, liegt daran, dass Bauernhöfe, genauso wie Volkswirtschaften nur begrenzte Ressourcen an Arbeit haben und Arbeitsteilung deshalb sinnvoll ist. Angenommen die USA wären in allen Bereichen der Wirtschaft der restlichen Welt meilenweit voraus, so könnten sie trotzdem nicht die gesamte Produktion übernehmen, da man schlicht nicht genügend Arbeitskräfte hätte. Der Leser mag nun vielleicht einwenden, dass das schon richtig sei, die Unternehmen ihren nationalen Charakter aber längst abgestreift haben und einer ganz eigenen Logik folgen. Das mag für ein einzelnes Unternehmen auch stimmen, für die Gesamtheit der Unternehmen eines Landes bleiben die Bedingungen aber exakt wie oben beschrieben. Der Grund dafür sind die nationalen Währungen. Um die Güter bezahlen zu können, die ein unproduktiveres Land importiert braucht es die Währung des produktiveren Landes. Diese erhält es aber nur, wenn es im selben Maße in das produktivere Land exportiert oder aber dort Schulden aufnimmt. Zweiteres geht natürlich nur eine bestimmte Zeit, folglich kann man davon ausgehen, dass sich die Handelsströme in der Tendenz ausgleichen. Würde eine Volkswirtschaft aufgrund ihrer Konkurrenzfähigkeit eine andere Volkswirtschaft mit Exporten überrollen, während sie zugleich auch die eigenen Märkte zur genüge bedient, würde das schnell dazu führen, dass sich die weniger konkurrenzfähige Volkswirtschaft die Importe nicht mehr leisten könnte, die für Wettbewerbsideologen so lukrative Geschäftsbeziehung würde zusammenbrechen, das weniger produktive Land würde wieder eigene Produkte nachfragen, die Exportindustrie des konkurrenzfähigeren Landes würde eingehen. In dem bisher Beschriebenen schlummert bereits ein weiterer großer Schwachpunkt der Wettbewerbsmetapher: Zeichnet sich ein Unternehmen in der Tat dadurch aus, dass es Kapital anzieht und gleichzeitig mehr verkauft als es kauft, so ist eine solche Konstellation für Volkswirtschaften gar nicht möglich. Länder mit Importüberschüssen haben automatisch immer Kapitalzuflüsse. Wie wir oben bereits gesehen haben, muss ein Land, das mehr importieren will als es exportiert dafür Schulden aufnehmen. Diese Schulden sind natürlich die Sparguthaben des Landes mit dem Exportüberschuss, sind Kapital. Das kann auf der einen Seite für Wettbewerbsstärke stehen Kapital fließt in das Land das kann auf der anderen Seite für Wettbewerbsschwäche stehen die eigenen Erzeugnisse werden weniger nachgefragt als die des anderen Landes. Wir sehen, mit der Kategorie Wettbewerbsfähigkeit kann man die internationalen Beziehungen nicht sinnvoll beschreiben. 5. Wie es um Deutschland wirklich steht Wenn Wettbewerbsfähigkeit eine unpassende Kategorie ist, wie soll man den Zustand von Volkswirtschaften im internationalen Vergleich dann beschreiben? Im Wesentlichen mit dem Stand der Produktivität und der Attraktivität, Arbeitsplätze zu schaffen. Wichtig ist es (1) produktiv zu sein, sprich möglichst viel Wohlstand möglichst leicht zu erwirtschaften, und (2) allen Menschen Arbeitsplätze zur SCHWERPUNKT Verfügung zu stellen. In ersterem ist Deutschland sehr stark, in zweiterem sehr schlecht. Die Produktivität verdankt sich in Deutschland wie bei jeder anderen Volkswirtschaft auch in erster Linie den Investitionen in Sach- und Humankapital. Eine hohe Sparquote und frühere Investitionen in das Bildungssystem sind die Produktivität von heute. Hinzu kommen wirtschaftspolitische Rahmenbedingungen. Gerade vermeintliche Feinde der Wettbewerbsfähigkeit, sind hierbei Produktivitätssteigernde Faktoren. Zwei sollen kurz genannt werden: 1. Die egalisierende Wirkung des Flächentarifvertrags belohnt produktivere Unternehmen, während unproduktivere, so nicht von Öffnungsklauseln verschont, aus dem Markt fallen. Auf flexiblen Arbeitsmärkten kann sich der Unternehmer dagegen sicher sein, dass er, auch wenn er unproduktiv wirtschaftet, trotzdem über die Runden kommt - die Belegschaft wird via Lohnkürzungen das Unternehmen schon subventionieren. Umgekehrt wird ein produktiveres Unternehmen diese höhere Produktivität über höhere Löhne an die Beschäftigten weitergeben müssen. 2. Hohe Löhne zwingen deutsche Unternehmen dazu, Arbeitskräfte besonders effektiv einzusetzen. Ein hohes Lohnniveau führt ja nicht, wie mancher Gewerkschafter gerne glauben möchte, zu Umverteilung sondern dazu, dass der Unternehmer produktiver werden muss um profitabel zu bleiben. Auch Amerika machte Anfang des 20. Jahrhunderts die größten Sprünge als Arbeitskräfte knapp und die Löhne folglich hoch waren. In den letzten Deregulierungsjahrzehnten sank die Pro-Kopf-Produktivität dagegen kontinuierlich, während sie im regulierten Deutschland ständig stieg. Das ist nun kein Plädoyer für hohe Löhne. Die Kehrseite davon ist, dass viele Arbeitnehmer, dem Druck, dem die Verwertung ihrer Arbeitskraft unterliegt, nicht mehr gewachsen sind. Die Tatsache, dass der Großteil der Arbeitslosen unqualifiziert ist, bestätigt, dass für diese das Lohnniveau zu hoch ist. Zur Attraktivität, Arbeitsplätze zu schaffen, soll an dieser Stelle nur soviel gesagt werden: Wie wir oben beschrieben haben hängt es nicht von einer irgendwie gearteten Globalisierung ab, sondern von nationalen/europäischen Faktoren. Wenn die SPD die Globalisierung neben dem demografischen Wandel als die entscheidende Problematik betrachtet, der es Herr zu werden gilt, kämpft sie gegen Windmühlen. Deutschland ist bereits Exportweltmeister, deckt zehn Prozent aller globalen Exporte ab, und weist seit Jahren Exportüberschüsse auf. Hier gibt es wie oben beschrieben klare Schranken. So gehen viele Ökonomen davon aus, dass der Dollar in der nächsten Zeit nochmals abwerten wird, die Exporte in die USA tendenziell zurückgehen werden. Auch wenn man im Osten neue Märkte erschließen kann, wird über den Export in der nächsten Zeit wenig zusätzliches Jobwachstum möglich sein. Ein Blick über den Tellerrand hinaus zeigt, dass gerade für die internationalisierten Wirtschaftszweige Deutschland bereits jetzt überaus attraktiv ist. So kommt z.B. eine Studie der Boston Consulting Group zu folgendem Ergebnis: Deutschland stand in Europa auf Platz eins, wenn es um die Ansiedlung von Holding-Gesellschaften ging. Und selbst, wenn es sich um handfeste Produktion handelte, rangiert das Land noch an dritter Stelle nach Europas zusammengefasstem Osten und Großbritannien.5 Auch ein Blick auf die Kapitalverkehrsbilanz zeigt, es fließt zwar zwangsläufig wegen den Exportüberschüssen Kapital aus Deutschland ab, bei den entscheidenden Direktinvestitionen fließt aber immer noch >> 08 09 SCHWERPUNKT mehr nach Deutschland, als aus Deutschland heraus. Gäbe es keine Globalisierung, so würden wir beschäftigungstechnisch exakt vor den gleichen Problemen stehen: Wir haben in der Wirtschaft eine hohe Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften, eine sehr geringe dagegen nach unqualifizierten. Gibt es nun gewisse Lohnrigiditäten nach unten, so hat man gerade bei geringen Inflationsraten Probleme die weniger produktiven Arbeitskräfte zu integrieren. Hinzu kommt die restriktive Nachfragepolitik im Euroraum. Bevor man sich mit Unternehmenschefs zusammensetzt und über Wettbewerbsfähigkeit schwadroniert, würde es mehr Sinn machen, Gewerkschafter und Notenbanker an einen Tisch zu setzen, um den einen ihre Verantwortung für die Angebotsseite zu erklären, den anderen ihre für die Nachfrageseite. QUIRIN SCHIMETA 1 Marx, Karl (1971): Die Frühschriften, Stuttgart, S.529 2 Zitiert nach: Sandleben, Guenther (2003): Nationalökonomie & Staat, Hamburg, S.12 3 Lohnnebenkosten werden offiziell ja auch zur Hälfte von den Arbeitgebern bezahlt. Arbeitgeber stellen Arbeitnehmer jedoch nur zu rentablen Lohnstückkosten ein. Würde der Arbeitgeberanteil wegfallen, so könnte dieser Teil als zusätzlicher Lohn ausgeschüttet werden, ohne dass dadurch negative Beschäftigungseffekte eintreten würden. Wir sehen also, dass der Arbeitgeberanteil potentieller zusätzlicher Lohn wäre, sprich die gesamten Lohnnebenkosten vom Arbeitnehmer getragen werden. 4 Faire Handelsbedingungen sind leider gerade für die 3.Welt oftmals nicht gegeben. Eine genauere Analyse würde den gegebenen Rahmen sprengen. Da es hier aber um die Auswirkungen von Globalisierung auf Länder wie Deutschland geht, genügt es festzustellen, dass unfaire Handelsbedingungen für Deutschland im Wesentlichen nicht existieren. 5 In Die Zeit, I love Germany 8.7.2004 VORSTELLUNG Martina Bögl Mitgliederbetreuung Geboren in Regensburg am 4. Oktober 1978 Studium: 1998 2000 Studium Übersetzen und Dolmetschen am Fremdspracheninstitut München, 2001 2003 Diplomstudiengang Übersetzen und Konferenzdolmetschen in Edinburgh, Schottland Job: freiberufliche Konferenzdolmetscherin/Übersetzerin E-D, D-E Bisherige pol. Laufbahn: seit einem Jahr bei der SPD/ den Jusos. Seit Ende letzten Jahres im Vorstand des RV München Süd und seit März 2004 Schriftführerin bei Generation Peace e.V. Was mache ich sonst so: Kino, Bücher, Globetrotten Politische Schwerpunkte: Internationale Politik (Außen- und Sicherheitspolitik, diskursive Demokratie, Nord-Süd-Gefälle), Sozialpolitik in Deutschland/Europa Warum Jusos/SPD: Weil ich die Alterglobalisierungsbewegung als Fortsetzung der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung auf globaler Ebene sehe und deren politische Gestaltung nicht Organisationen wie attac überlassen werden kann. Was will ich tun in der Mitgliederbetreuung: Werben von Neumitgliedern, Integration von Neumitgliedern und Mobilisierung Nicht-Aktiver. Ich denke, es ist zunächst wichtig, allen InteressentInnen das Kennenlernen der Aktivitäten der Jusos einfach zu machen. InteressentInnen müssen in Ihrem Wunsch, sich politisch zu engagieren, aktiv unterstützt werden, und die Ziele der Jusos müssen klar kommuniziert werden. Wenn dann ein(e) InteressentIn zu einem Neumitglied geworden ist, ist es wichtig, die Integration in den Verband zu fördern. Wichtig auch, Nicht-Aktive verstärkt zu kontaktieren und die Tür zu den Aktiven offen zu halten. Als Mitgliederbeauftragte werde ich dieses Jahr diese drei Aktivitäten koordinieren. Florian Hiemeyer Vertreter RV Nord Liebe Genossinnen, und Genossen! Wieder einmal sind die Wahl-Kämpfe vorbei, der Schlachtendunst hat sich verzogen, es gibt einen neuen Juso-Vorstand, und ich bin dabei! Aus diesem Anlass ein paar Worte über mich: Im Jahr 2000 bin ich nach München zugereist. Studientechnisch unterziehe mich gerade den Diplom-Prüfungen, und der SPD beigetreten bin ich noch zur Kanzler-Kohl Zeit (1998).In meiner früheren Heimat in Franken war ich nur Basismitglied, die ersten Kontakte zu den Münchner Jusos knüpfte ich zur Juso-Hochschulgruppe, die damals erfolgreich und dynamisch Werbung unter den Studierenden machte. Die nächsten Polit-Stationen in München waren der Bundestagswahlkampfes 2002 und das Engagement in meinem Ortsverein. Im Unterbezirk tätig bin ich seit den Wahlen 2003. Hier fungiere ich nun im Jahr 2004/2005 als Vertreter für den Münchner Norden. Die Kommunikation der etwas speziellen Jusos aus dem Norden mit den genauso speziellen Gesamt-münchnern zu organisieren ist dabei auch aufgrund historischer Gegebenheiten wohl Jahresauftrag genug: Denn selbst Diskussionen um eigentlich nur hypothetisch vorhandene Computerviren-Emails sorgen hier leicht für Verstimmungen auf beiden Seiten. In meiner Freizeit beschäftige ich mich mit Astronomie, und ich lese hin und wieder auch ganz gern. Besonders angetan haben es mir hier die (oft von ehemaligen Sozialisten) verfassten Anti-Utopien von Autoren wie Samjatin, Huxley, Orwell, Bradbury oder auch Lem. Gerne nehme ich aber auch mal wieder Früchte des Zorns zur Hand... Eine schöne Legislaturperiode! 10 11 SCHWERPUNKT Die US-Politik im Irak eine widersprüchliche Mission Bei den Begründungen für den IrakKrieg, oder besser gesagt den wohlfeilen Versuchen der Rechtfertigung einer militärischen Invasion in ein souveränes Land, bediente sich die Bush-Regierung einer besonders moralisierenden Rhetorik. Angesichts der fast einmütigen Ablehnung des Krieges durch die Weltöffentlichkeit und der wahrlich überwältigenden globalen Protestwelle gegen die US-amerikanische Kriegspolitik, schien es den Protagonisten aus Washington wohl opportun oder geradezu unerlässlich schweres legitimatorisches (aber in der Geschichte des Krieges und seiner Rechtfertigungen durchaus erprobtes) Geschütz aufzufahren. Der bloße Hinweis auf sicherheitspolitische Aspekte (Besitz von Massenvernichtungswaffen, Kooperation des Irak mit Al-Kaida etc.), so falsch und unglaubwürdig diese Szenarien von Anfang waren, reichte da bei weitem nicht aus, um eine ungläubige und widerspenstige Öffentlichkeit zu überzeugen. Die ganz große Moralkeule musste nun geschwungen werden: natürlich ging es bei der Operation Iraqi freedom (wie der Name schon suggeriert) um die quasi altruistisch motivierte Befreiung des irakischen Volkes. Demokratie und Menschenrechte für die geknechte- ten Iraker!, so die Botschaft der US-Propaganda. Während sich die anderen Hauptargumente (Massenvernichtungswaffen, Verbindungen Saddams zum internationalen Terrorismus) der Bush-Crew dummerweise nachträglich zweifelsfrei als pure Märchenstunde erwiesen haben, wird das Demokratisierungs-Argument bis zum heutigen Tage, im Kampf um die Deutungshoheit hinsichtlich der Richtigkeit des Irak-Krieges, geradezu emphatisch verwendet. Wo wir auch schon bei der eigentlichen Unmöglichkeit amerikanischer Irak-Politik angekommen wären. Im Grunde verfolgen die USA unter Bush jr. in der Region des Nahen und Mittleren Ostens zwei politische Zielsetzungen und mithin Strategien, die unter Umständen kaum, oder überhaupt nicht, miteinander in Einklang zu bringen sein werden. Die Crux der US-Politik lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: auf der einen Seite steht das bereits erwähnte Demokratieversprechen für den Irak respektive die Region als Ganzes. Gemäß des beliebten Credos vom Dominoeffekt wird sich ja gewissermaßen, nach der Implementierung im Zweistromland, die gesamte arabisch-islamische Welt am Demokratievirus infizieren. Auf der anderen Seite verfolgen die Vereinigten Staaten in dieser äußerst bedeutenden Weltregion selbstverständlich auch ganz handfeste geopolitische und ökonomische Interessen. Folgender Widerspruch könnte nun auftreten und ein schier unlösbares Dilemma provozieren: ein mögliches Szenario bestünde darin, dass sich die Iraker im Zuge freier und landesweiter Wahlen, gleichsam auf ganz demokratischem Wege, ein völlig undemokratisches (möglicherweise autoritär-islamisches und an das Mullah-Regime im Iran angelehntes) System verordnen. Auch noch denkbar: die Iraker entscheiden sich für eine Regierung die zwar innenpolitisch demokratischen und rechtsstaatlichen Ansprüchen genügt, jedoch außenpolitisch einen strikt antiamerikanischen Kurs fährt, der den strategischen Interessen der USA grob zuwiderläuft. Wie würde die US-Regierung in solchen, oder ähnlich gelagerten Fällen reagieren? Die bittere Pille schlucken und die politische Willensäußerung der Befreiten akzeptieren oder wie sooft in der eigenen außenpolitischen Geschichte praktiziert, einem demokratisch nicht legitimierten und repressivem Regime, welches aber US-Interessen wahrt, an die Macht verhelfen? Sollte man sich für die SCHWERPUNKT zweite Option entscheiden, so würden die Amerikaner in der arabisch-islamischen Welt mit Sicherheit auch noch das letzte Quäntchen Glaubwürdigkeit und Sympathie einbüßen. Die Allianzen mit Saudi-Arabien und den anderen (kleinen) Golfmonarchien, sowie die im Zuge des AfghanistanKrieges eingegangenen bzw. intensivierten Partnerschaften mit den äußerst autoritären und repressiven zentralasiatischen Staaten (Usbekistan, Tadschikistan u.a.) sind die beste empirische Bestätigung und Ermutigung der amerikanischen Demokratie-Rhetorik ein hohes Maß an Skepsis entgegen zu bringen und ein entscheidender Grund warum den USA von den Menschen in der Region der Vorwurf der Heuchelei und Doppelmoral gemacht wird. Auch die ersten Weichenstellungen im besetzten Irak deuten eher darauf hin, dass Washington im Zweifelsfall formale Stabilität und Interessenswahrung wichtiger ist als Demokratisierung und das Selbstbestimmungsrecht der einheimischen Bevölkerung. Die radikale Umwälzung der irakischen Wirtschaft Nicht nur politisch, sondern auch ökonomisch hatten respektive haben führende neokonservative Vordenker im Umfeld der BushRegierung a la Richard Perle und Paul Wolfowitz so einiges vor. Der Irak, dessen Wirtschaft unter der Ägide des Baath-Regime stark staatsdirigistisch organisiert war, soll nun mit aller Macht und unter Ausschöpfung aller einschlägigen Instrumente zum radikal-marktliberalen Wirtschaftsstandort der Region umstrukturiert werden. Ähnlich wie in der politischen Sphäre, hoffen neokonservative und neoliberale Ideologen auch im Bereich des Ökonomischen auf einen Dominoeffekt. Hauptverantwortlich für diese de facto wirtschaftspolitische Neuerfindung des Irak zeichnet der ehemalige Chef der amerikanischen Besatzungsverwaltung, meist durchaus treffend auch als Pro-Konsul tituliert, Paul Bremer. In der Zeit bis zur partiellen Rückgabe der politischen Souveränität an die sog. Übergangsregierung am 30 Juni, deren Zusammensetzung im Übrigen maßgeblich von den USA bestimmt wurde und die streng genommen über keinerlei demokratische Legitimation verfügt, regierte besagter Bremer den Irak faktisch diktatorisch per Dekrete. Der von den Besatzern früh eingesetzte sog. Übergangsrat (dessen 25 Mitglieder selbstredend von den Amerikanern auch handverlesen wurden) erfüllte lediglich dekorative Zwecke und sollte wohl den Anschein irakischer Selbstbestimmung suggerieren. Die von Pro-Konsul Bremer formulierten Dekrete im Bereich Wirtschaft müssen des Weiteren allesamt als völkerrechtswidrig gelten (Haager Landkriegsordnung von 1907 und Genfer Konvention von1949), da gemäß internationalem Recht eine Besatzungsmacht die allgemeine Wirtschafts- und Rechtsordnung des besetzten Landes nicht auf so fundamentale, nachhaltige und vor allem präjudizierende Art und Weise umwerfen darf, wie es eben im Falle des Irak passiert ist. Die wirtschaftspolitischen Dekrete umfassten hemmungslose Privatisierungswellen von Unternehmen, die allgemeine Begrenzung der (Unternehmens-) Steuern au 15 Prozent, die fast ausnahmslose Öffnung der irakischen Volkswirtschaft für Auslandsinvestitionen u.a.. Ob von dieser radikalen und quasi doktrinären Liberalisierungspolitik tatsächlich die Mehrheit der Iraker in Form von mehr Wohlstand profitieren wird, darf mit einigem Recht bezweifelt werden. Der Nutzen für US-Unternehmen wie etwa Haliburton (vor nicht allzu langer Zeit war ein gewisser Dick Cheney Vorstandschef der Firma) ist jedenfalls um einiges unmittelbarer. >> 12 13 SCHWERPUNKT Fortgesetzte US-Dominanz als Kernproblem Trotz der formellen Machtübergabe an eine Übergangsregierung Ende Juni, will der Irak einfach nicht zur Ruhe kommen. Die jüngsten kriegsähnlichen Gefechte zwischen US-Truppen und der Mahdi-Miliz des Schiitenführers Muktada al-Sadr in seiner Hochburg Nadschaf sind hierfür ein beredtes Beispiel. Da nützt es auch wenig die amerikanisch-britischen Besatzungstruppen, gemäß der letzten UN-Resolution, in Multinationale Streitkräfte umzubennen. Tatsache bleibt, dass die Iraker auch weiterhin im essentiellen Feld der Sicherheitspolitik kaum Mitspracherechte genießen. So erweist sich die fortgesetzte US-Dominanz beim Aufbauprozess im Irak als Kardinalproblem. Die Besatzer haben es im letzten Jahr fertig gebracht durch eine Unmenge von Fehlern, Widersprüchen und Versäumnissen fast jedwede Legitimität und Autorität bei der Bevölkerung zu verspielen. Nötig wäre daher eine vollständige Übergabe der Kontrolle an die internationale Gemeinschaft bzw. so schnell wie möglich an die Iraker selbst; dies gilt sowohl für die politischen, ökonomischen und nicht zuletzt sicherheitspolitischen Gestaltungsbefugnisse. Eine Garantie für eine echte Befriedung und Demokratisierung des Irak stellt freilich auch dieses Szenario nicht dar. Zu chaotisch und verfahren ist die Lage dafür schon. Nichtsdestotrotz bietet diese Variante zumindest ein Mindestmaß an Perspektive, im Gegensatz zu einer de facto Fortsetzung einer amerikanischen Politik des Neokolonialismus. Die USA stehen nun, mehr denn je, in der Pflicht ihre vollmundigen Versprechen von Demokratie und Selbstbestimmung für den Irak und die gesamte Region einzulösen. Der Ausbau der Botschaft in Bagdad zur größten US-Vertretung der Welt (über 4000 Mitarbeiter), deutet jedenfalls daraufhin, dass man den Irak dauerhaft zum proamerikanischen Vasallenstaat degradieren möchte. Auch die angestrebten bilateralen Verträge für US-Militärstützpunkte im Irak weisen in diese Richtung. Die USA scheinen aus der eigenen Vergangenheit, gerade in der arabischislamischen Welt, nichts gelernt zu haben. Der frappierende Widerspruch zwischen hehrer Demokratie-Rhetorik und klassischhegemonialer Interessenspolitik wird wohl auch in Zukunft bestehen bleiben. Dass dieses selbstverschuldete Phänomen antiamerikanische Ressentiments schürt und letztlich einer echten Modernisierung und Emanzipation der Region im Wege steht, darf mithin nicht weiter verwundern. Auch diskreditieren sich die USA dadurch als vermeintlich neutraler Vermittler für den für die Psychologie der arabisch-islamischen Welt so elementaren Israel-Palästina Konflikt. Sollte Kerry im November die Wahl gewinnen, wird er in erster Linie damit zu kämpfen haben die massive Glaubwürdigkeitskrise der Amerikaner zu überwinden. JÜRGEN GLATZ SCHWERPUNKT socialismo o muerte Die Situation der USA in Lateinamerika und Süd-Ost-Asien Die folgenden Aussprüche stammen von Jose Marti, dem kubanischen Nationaldichter sowie von dem südamerikanischen Freiheitskämpfer Simon Bolivar: La muerte no es verdad cuando seha cumplido bien la obra de la vida Jose Marti (Der Tod ist nicht real, hat man das Lebenswerk vollendet) Mi espada desconocera su funda, mientras dure el oprobio y la injusticia que sojuzga a mi pueblo Simon Bolivar (Mein Schwert wird seine Scheide verleugnen während die Schande anhält und die Ungerechtigkeit mein Volk unterwirft) Auf dem Südamerikanischen Kontinent unterhalten die USA drei bedeutende Militärbasen in Kuba, Ecuador und Brasilien. Alle drei sind von herausragender Bedeutung für die Kontrolle der Region, kann man doch von Kuba aus bestens die Karibik kontrollieren, von Ecuador aus ist man in der Lage die gesammten Nord-Anden zu überwachen. Zudem darf in der ecuadorianischen Basis ein wichtiger Faktor bezüglich der Einflussnahme auf die Konfliktsituationen in Kolumbien und Venezuela gesehen werden. Für den von den USA mit ihrem Plan Colombia, der der rechten kolumbianischen Regierung Alvaro Uribes umfangreiche finanzielle und militärische Unterstützung gewährt, welcher im Gegenzug die linke FARC Guerilla bekämpft, angeblich um den Terrorismus sowie den Drogenhandel zum Erliegen zu bringen, angeheitzten Bürgerkrieg stellt die Basis ebenfalls ein Sicherungsinstrument dar. Die Präsenz in Brasilien, dem größten Land des Kontinents, dient vor allem dazu, eventuelle imperialistische Bestrebungen des Landes unter Kontrolle zu halten. Eine solche Befürchtung ist nicht ganz unbegründet, da Brasilien seit Jahren stark aufrüstet. Sollte das Bevölkerungswachstum konstant hoch bleiben und es unter dem Sozialisten Lula gelingen, den ungeheueren Reichtum der Fußballmacht auf die Masse zu verteilen, werden bald nicht einmal mehr das künstlich hochgerüstete Kolumbien oder Argentinien mit Brasilien kokurrieren und so für ein stabiles Gleichgewicht der Staatenkonstellation sorgen können. Schließlich soll noch Argentinien genauer betrachtet werden. Das Geburtsland Che Guevaras stellt trotz der heftigen Wirtschsaftskrisen der vergangenen Jahre immernoch einen wichtigen Verbündeten der USA dar, was sich durch die Größe, die Bevölkerung sowie die immernoch ausgeprägte wirtschaftliche Vormachtstellung begründet. Grundsätzlich darf die Linke keine Hoffnungen auf eine Machterlangung in Argentinien hegen, denn das Land ist wie kein Anderes des Kontinents an den USA orientiert. Obschon die Koppelung der Währung an den Dollar im Zuge der Krise gelöst wurde, ist in Argentinien, das Land, das einst durch seine auf Drängen der USA verfolgte extrem neoliberale Politik als Musterschüler des Internationalen Währungsfonds galt, keine ernstzunehmende linke gesellschaftliche Alternative vorhanden. Auch durch einen eventuellen Konflikt mit der Rechten ist eine solche momentan kaum zu erschaffen, da mit Nestor Kirchner ein Linkspopulist das Präsidentenamt innehat, der aber über populistische Reden und Taten nicht hinauskommen kann oder will. Es wird bereits aufgefallen sein, dass von sozialen Konzepten der USA für diese Länder ihrer Nachbarschaft noch nicht die Rede war. >> 14 15 SCHWERPUNKT Nicht ohne Grund, denn sie sind nicht vorhanden. Auch die Staaten selbst sind nicht in der Lage sich auf gemeinsame Nenner zu einigen, nur die Schaffung einer Freihandelszone über den gesammten Kontinent betreibt man bereist seit einigen Jahren. Darin jedoch kann keine Lösung für die drängenden sozialen Probleme, welche alle Regionen betreffen, gefunden werden. Das Vorgehen der einzigen verbliebenen Weltmacht im asiatischen Raum ist vom Konflikt USA-China bestimmt, welcher auch in Washington, insbesondere seit der Machtergreifung des aktuellen Präsidenten Bush, als unausweichlich angesehen wird. Lediglich über die Mittel, mit denen man der aufstrebenden Wirtschaftsmacht China begegnen sollte, wird noch gestritten. Die Gemäßigten bevorzugen einen Plan, wonach man sich auf einen Wirtschaftskrieg einlassen sollte, besonders die neoliberalen Wirtschaftsführer der Bush-Regierung, welche von der herausragenden Überlegenheit ihres Systems felsenfest überzeugt zu sein scheinen, versuchen einen solches Vorgehen in den Kreisen der Macht mehrheitsfähig zu machen. Diese Überlegungen schließen auch ein, dass man die Märkte für China in der Region begrentzt, in dem man Vasallenre- gierungen die bedeutenden Staaten der Wachstumsregion Südostasien zu Gunsten der USA und ihrer Interessen kontrollieren lässt. Dies geschieht derzeit schon in Thailand, Indonesien sowie auf den Philipinen. In diesen Ländern ist man auch militärisch präsent, was zum Rat der Militärs führt. Sie propagieren einen militärischen Konflikt mit China, der schon jetzt von langer Hand vorbereitet zu werden scheint. Beharrlich füllt man die Rolle als Schutzmacht Taiwans aus, was für China eine enorme Provokation darstellt. Zudem setzt man ohne Zweifel auf Australien als lokale westlich orientierte Macht, wirtschaftlch wie militärisch in der Lage Druck auszuüben, deren Interventionsfähigkeit schon schon beim Eingreifen in den OstTimor Konflikt erprobt wurde, als man für die Unabhängigkeitsbestrebungen gegenüber Indonesien Partei ergriff. Nachdem Australien traditionell als eher Rechts angesehen werden darf, sollte man sich bei der internationalen Linken keine allzu großen Hoffnungen bezüglich einer wirksamen und nachhaltigen Machtergreifung machen. Abschließend kommt Indien, der größten Demokratie der Welt, ebenfalls eine überaus wichtige Rolle zu. Dies begründet sich vor allem dadurch, dass Indien als einziges Land der Region mit der riesigen Bevölkerung Chinas mithalten kann. Außerdem ist man im Besitz von Atombomben, erinnert sei nur kurz an den Konflikt mit Pakistan, und somit China militärisch mindestens ebenbürtig. Es stellt sich jedoch die Frage, wie lange dies noch der Fall sein wird, schließlich rüstet die Volksrepublik kräftig auf, was darauf hindeutet, dass man sich auch in China einem militärischen Konflikt mit Washington gewachsen sieht. Viel wichtiger als der militärische Faktor ist in Sachen Indien jedoch der propagandistische. Man wäre in der Lage, den Konflikt mit China, welcher möglicherweise hauptsächlich als Stellvertreterkrieg stattfinden würde, zu einem Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen freier Welt und kommunistischer Diktatur aufzubauen. Besonders für die amerikanische Innenpolitik wäre dies äußerst hilfreich. In diesem Punkt ist die Linke gefordert. Sorgen wir dafür, dass die rechte Kriegstreiberei keinen Boden in den Gesellschaften der Welt finden kann, denn Sozialismus ist gleichbedeutend mit Demokratie. Wir haben also keinen Grund zu Hoffnungslosigkeit, selbst dann nicht, wenn wir uns dass Zitat des Titels von Fidel Castro zu Herzen nehmen müssen! JAKOB RINKEWITZ VERANSTALTUNG Programm: 19:00 Uhr Begrüßung durch Helmut Schmid DGB Regionsvoritzender München 19:15 Uhr Wann endet ein Krieg? Impulsreferat Peter Strutynski Kassler Friedensratschlag, AG Friedensforschung - Uni Kassel 19:45 Uhr Foren Politische Entwicklungsszenarien in einem vom Krieg zerstörtem Land Input von Peter Strutynski Ursachen und Folgen von Flucht und Vertreibung Input Anna Büllesbach UNHCR / Leiterin Zweigstelle Nürnberg Spot aus! Die Rolle der Medien in der Nachkriegsberichterstattung Input Jürgen Elsässer, freier Journalist ab 21:00 Uhr Gelegenheit zu Einzelgesprächen im Geschwister Lörcher Raum (Party Raum) der DGB-Jugend 16 17 INTERVIEW Die Qualität von öffentlichen Dienstleistungen und öffentlicher Infrastruktur darf nicht den Bach runter gehen! Seit dem 1. Juli 2004 ist Dr. Ernst Wolowicz Stadtkämmerer der Landeshauptstadt München. Für den LID sprach Jens Röver mit dem Hüter der Münchner Finanzen über die Zukunft der Kommunen. Redaktion: Lieber Ernst, zunächst einmal Gratulation für die Wahl zum Stadtkämmerer. Viel Erfolg für die anstehenden Aufgaben! Es gibt sicherlich einfachere Zeiten, um diesen Job auszuüben. Kannst Du zunächst die Entwicklung der Kommunalfinanzen in den letzten Jahren skizzieren? Dr. Ernst Wolowicz: Dramatisch zugespitzt hat sich die Situation der Kommunen erst im Jahr 2001. Dies hat mehrere Faktoren. Erstens die schlechte konjunkturelle Entwicklung, zweitens waren es die Folgen der zahlreichen Reformen der rot-grünen Bundesregierung, die zu Steuermindereinnahmen geführt haben. Dritter und ganz entscheidender Faktor für die Kommunen war, dass sich ab dem Jahr 2001 im Rahmen der Steuerreform Bund und Länder bei der Gewerbesteuerumlage sehr stark bedient haben. Die Kompensation, die den Kommunen im Jahr 2000 dafür versprochen worden war, Veränderungen von Abschreibungen vorzunehmen bei Industrieunternehmungen ist nicht erfolgt. In Folge dessen kann man plastisch sagen: Es war wirklich ein organisierter Raubzug von Bund und Ländern gegenüber den Kommunen. Der vierte Faktor ist natürlich, dass aufgrund der hohen Massenarbeitslosigkeit auch die Einkommensteuereinnahmen, an denen die Kommunen mit 15% beteiligt sind, kaum noch gewachsen bzw. stagniert sind. Fünfter großer Erklärungsfaktor ist, dass die Sozialleistungen gewaltig angewachsen sind, teilweise aufgrund von Gesetzesänderungen speziell beim Kinder und Jugendhilferecht, aber natürlich auch wegen der anhaltenden hohen Massenarbeitslosigkeit. Dieses Bündel von Faktoren erklärt die drastische Zuspitzung der Finanzkrise der deutschen Kommunen. Redaktion: Wie haben sich die Ausgaben der Kommunen für soziale Leistungen entwickelt? Dr. Ernst Wolowicz: München als Ballungsraum hat natürlich immer eine gewisse Magnetwirkung auf die Armutsbevölkerung. In der Anonymität der Großstadt ist es für Arme besser zu leben, als sozial gebrandmarkt auf dem Land. Außerdem gibt es dort keine Sozialwohnungen, weil viele Gemeinden derartige Bevölkerungsteile nicht haben wollen. In München ist die Sozialhilfe in den letzten Jahren angewachsen. Sehr stark angewachsen und in den letzten 10 Jahren mehr als verdoppelt hat sich die Kinder- und Jugendhilfe. Redaktion: Du bist auf die negativen Auswirkungen der rot-grünen Steuerreform eingegangen. Wie hättest Du als Finanzminister eine Steuerreform gestaltet? Dr. Ernst Wolowicz: Ja glücklicherweise bin ich nicht Finanzminister. Ich halte diese Steuerreform unter mehreren Aspekten für falsch. Von den Verteilungswirkungen ist es eindeutig so, dass diejenigen die gar nicht mehr konsumieren können und teilweise im Inland zumindest in Produktivkapital gar nicht mehr investieren wollen überproportional viel Steuererleichterungen erhalten haben. Allein in diesem Jahr bei dieser Stufe der Steuerreform ist es so: Ein Einkommensmillionär spart sich 30000 Euro. Jemand der Durchschnittseinkommen von INTERVIEW 30000 Euro hat spart sich genau 35 Euro. Dies ist von den Verteilungswirkungen krass ungerecht. Hier wurde der herrschenden neoliberalen Lehre gefolgt: Man reduziert die Steuern speziell für die Unternehmen. Als Dankbarkeit dafür investieren die Unternehmen in Deutschland und schaffen damit zusätzliche Arbeitsplätze. Damit gibt es weniger Arbeitslose. Damit gibt es mehr Massenkaufkraft und damit gibt es dann den sich selbst tragenden Aufschwung. Das ist alles empirisch nicht eingetreten. Redaktion: Kannst Du das Scheitern genauer erläutern? Dr. Ernst Wolowicz: Der Grund ist ganz banal. Die Bevölkerungsschichten, die es gar nicht nötig haben in den Konsum diese zusätzlichen Einnahmen zu geben, haben das zum Grossteil für Finanzspekulationen genutzt, weil diese ertragsreicher sind als wenn sie das dies in Produktivkapital in Deutschland stecken. Das haben nun auch Teile der bürgerlichen Wirtschaftswissenschaftler erkennen müssen. 80% der Arbeitsplätze in Deutschland beruhen auf der Binnennachfrage und wenn die Binnennachfrage stagniert, oder bei Teilen der Bevölkerung in den nächsten Jahren zurückgehen wird, warum soll zusätzlich in Produktivkapital in Deutschland investiert werden, wenn keine zusätzliche Nachfrage dafür vorhanden ist. Redaktion: Was zeichnet Deutschland nach deiner Einschätzung als Wirtschaftsstandort aus? Dr. Ernst Wolowicz: Eine sehr gute Infrastruktur und trotz der Pisastudie immer noch ein relativ gutes Bildungssystem. Wegen der teilweise wirklich selber produzierten Finanzkrise der öffentlichen Hand durch die Steuerreformen ist es so, dass die öffentlichen Investitionen sehr stark zurückgehen. Wir sind heute auf dem Niveau eines Entwicklungslandes beim Anteil an öffentlichen Investitionen vom BIP. Das ist derzeit 1,7% in Deutschland. In anderen Ländern liegt es bei 35%. Das Ergebnis ist ein Zerfall der öffentlichen Infrastruktur. Das ist ein circulus viciosus. Je weniger Geld die öffentliche Hand an finanziellen Mitteln hat, wegen der schlechten Konjunktur, wegen den Steuerreformen, desto schlechter wird natürlich die gesamte Infrastruktur. Redaktion: Was sind zur heutigen Zeit die Kernaufgaben der Kommunen und was ist sozialdemokratische Kommunalpolitik? Dr. Ernst Wolowicz: Ich glaube das Entscheidende ist eigentlich, dass gerade diejenigen Bevölkerungsschichten, die nicht in großem Wohlstand leben, darauf angewiesen sind, dass die öffentliche Infrastruktur funktioniert, das der öffentliche Nahverkehr funktioniert, dass es Kindergärten, Kinderkrippen gibt, dass es Schulen gibt, dass es Kultureinrichtungen gibt, die man zu subventionierten und daher erschwinglichen Preisen auch tatsächlich besuchen kann und da glaube ich ist es unverändert so, dass die Sozialdemokratie dafür sorgen sollte, dass ein hoher Standard an öffentlichen Dienstleistungen von den Kommunen erbracht werden kann. Kurz gesagt: Eine arme Stadt können sich nur Reiche leisten. Jemand , der reich ist braucht kein öffentliches Schwimmbad. Der kann sich einen Swimmingpool leisten. Jemand der reich ist kann sich Privatschulen für seine Kinder leisten. >> 18 19 INTERVIEW Redaktion: In den letzten Wochen und Monaten wurde viel über die Reformen im Zuge der Agenda 2010 diskutiert. Besonders die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe auf Sozialhilfeniveau erhitzt viele Gemüter. Was sind die konkreten Auswirkungen von Hartz IV für München? Dr. Ernst Wolowicz: Hartz IV wird die Landeshauptstadt München im nächsten Jahr zunächst einmal insgesamt 110 Mio. Euro kosten. Jetzt ist die spannende Frage, ob die Kommunen dann wirklich unter dem Strich durch Hartz IV um 2,5 Milliarden Euro entlastet werden. Gesetzlich ist mittlerweile festgelegt, dass die Ausgaben, die die Kommunen in Zukunft für Wohnung und Heizung von den Beziehern des sog. Arbeitslosengeld II haben, zu 100% durch den Bund refinanziert wird. Was noch nicht ganz geklärt ist, ist die Frage des Personal- und Verwaltungsaufwandes, den die Kommunen in Zukunft in Zusammenarbeit mit der örtlichen Agentur für Arbeit in sogenannten Arbeitsgemeinschaften aufbringen werden müssen, ob dann auch München tatsächlich 100% des Aufwandes erstattet bekommt. Politisch zugesagt ist es. Ich glaube so was aber erst immer dann, wenn es in der Realität eingetroffen ist. Bisher war es oft so, dass sich Bund und Länder an derartige Versprechen nicht gehalten haben. Redaktion: Wie schaut die Entwicklung in Hinblick auf neue Gewerbesteuereinnahmen für die Kommunen aus? Dr. Ernst Wolowicz: Es gibt keinen Grund zur Beruhigung. Es ist so, dass die Gewerbesteuereinnahmen jetzt leicht nach oben gehen. Wir werden in diesem Jahr in München statt der geplanten 900 Mio Euro über 950 Mio Euro Einnahmen haben. So erfreulich es auf der einen Seite ist, dass die Gewerbesteuereinnahmen wieder leicht ansteigen. Es ist weit weniger als in guten Zeiten und es reicht auch nicht aus den Fehlbetrag im Verwaltungshaushalt zu begleichen. Redaktion: Lässt sich die antizyklische Investitionspolitik Münchens weiterhin aufrechterhalten? Dr. Ernst Wolowicz: Wir haben uns in München ganz klar auch aus wirtschaftspolitischen Erwägungen in den letzten Jahren eine antizyklische Investitionspolitik geleistet. Das ist gut für die Münchner Wirtschaft und für Münchner Arbeitsplätze. Das ist aber schlecht für den Münchner Stadthaushalt. Wir haben in den letzten Jahren knapp 1 Milliarde Euri jährlich an Investitionen getätigt. Wir sind bundesweit mit weitem Abstand pro Kopf der Bevölkerung bei den Grosstädten der Rekordhalter an Investitionen. Wir werden auch noch im nächsten Jahr knapp 950 Millionen Euro Investitionen haben. Wir werden uns das auf Dauer nicht mehr leisten können. Das heißt wir werden ab dem Jahre 2006 leider auch die Investitionen klar zurückfahren müssen, weil uns die Gefahr der Schuldendienstfalle droht. Wir können diese antizyklische Investitionspolitik nicht endlos durchhalten. Redaktion: Wie schaut in finanzieller Hinsicht der Worst-Case für die Kommunen aus? Dr. Ernst Wolowicz: Es gibt schon viele deutsche Städte wie Dortmund oder Frankfurt, wo die jeweilige Regierung im Auftrag des Innenministers bereits faktisch die Stadt regiert. In Bayern ist dies bereits in Würzburg der Fall. Es ist so , dass vom Kommunalrecht her die jährliche Kreditaufnahme der Gemeinden genehmigt werden muss von der INTERVIEW Bezirksregierung, wie die Einnahmen gestaltet werden müssen und - was dem ehrenamtlichen Stadtrat besonders wehtut - wie die Ausgaben gestaltet werden. Regieren tut in diesen Städten dann nur noch der Staatskommissar. Dr. Ernst Wolowicz ist seit dem 1. Juli 2004 Stadtkämmerer der Landeshauptstadt München 1983/1984 Vorsitzender der Jusos München, 1985/1986 stv. JusoLandesvorsitzender Bayern, 1985 - 1990 wissenschaftlicher Mitarbeiter der SPD-Stadtratsfraktion in München, 1990 - 1992 stellvertretender Leiter des Büros des Oberbürgermeisters, 1992 - 2002 Leiter des Büros des Oberbürgermeisters, 1993 - 2003 Leiter des Direktoriums staatlichen Aufsichtsbehörde. Wenn die dauernde Leistungsfähigkeit nicht mehr gewährleistet ist, wird die Kreditaufnahme nicht mehr genehmigt. Somit können die Gemeinden keine neuen Kredite aufnehmen. Es gibt dann ganz klare Vorgaben der Redaktion: Wie nah sind wir an diesem Szenario? Dr. Ernst Wolowicz: Nach heutigem Stand lässt sich definitiv sagen, dass die Genehmigungsfähigkeit für das Jahr 2005 höchstwahrscheinlich auch für 2006 gesichert ist. Langfristige Prognosen abzugeben vor dem Hintergrund der sich ändernden Konjunktur sowie mit möglichen neuen Steuerrechtsänderungen ist nicht möglich. In München wird durch die Haushaltskonsolidierung alles erdenklich mögliche versucht, dass wir auch über das Jahr 2006 hinaus zu einer Genehmigung der Kreditaufnahme kommen. Es zeigt sich, dass die Regierungen immer großzügiger werden, bei ihren Maßstäben über die Genehmigungsfähigkeit von Kreditaufnahmen. Wenn sie die vorhandenen Gesetze restriktiv zu Lasten der Kommunen auslegen würden, dann würden die Regierungen ihres Lebens nicht mehr froh, weil dann zwischen 60 und 80% der Grosstädte bereits jetzt schon nicht mehr von Bürgermeister und Stadtrat, sondern von den jeweiligen Bezirksregierungen regiert werden würden. Redaktion: Was ist deine Zukunftsvision für die Kommunen? Dr. Ernst Wolowicz: Es gab mal Zeiten als das Wünschen noch geholfen hat! Ich hab meine Zweifel, ob das noch so ist. Ich kann wirklich nur an unsere Genossinnen und Genossen in der Bundesregierung appellieren mehr als bisher darauf zu achten, wie es den Kommunen geht, weil hier die Bürgerinnen und Bürger es als erstes spüren, was die Folgen der Politik sind. Ich glaube, die lokale Demokratie ist etwas, wo eigentlich die Sozialdemokratie - historisch betrachtet - früher ihre Stärke herausbezogen hat. Durch das sie auch zu einer machtvollen Bewegung geworden ist. Die Bundesregierung sollte sich auch immer vorher überlegen, was unter dem Aspekt der sozialen Gerechtigkeit die Auswirkungen von steuerpolitischen und sozialpolitischen Maßnahmen sind. >> 20 21 INTERVIEW Redaktion: Hat dies nicht auch massive Auswirkungen für die Zukunftsfähigkeit unserer Partei? Dr. Ernst Wolowicz: Es droht derzeit die Gefahr, dass die soziale Basis der Sozialdemokratie in der Wählerschaft erodiert. Das heißt im Klartext die zunehmende Wahlenthaltung besonders bei den Bevölkerungsschichten, die auch materiell von den Ergebnissen der Politik der Bundesregierung nicht positiv tangiert sind, wird immer größer. Man sieht es an den letzten Wahlergebnissen, dass immer größere Teil der Bevölkerung in die wirtschaftspolitische und sozialpolitische Kompetenz der Sozialdemokratie kein Vertrauen mehr setzen und das ist, wenn man sich die Geschichte der Sozialdemokratie anschaut ein Alarmzeichen ersten Grades. Ich persönlich hab große Zweifel, ob die Politik der Parteiführung nach dem Motto Augen zu und durch Die Bevölkerung ist mal wieder nicht intelligent genug, um zu kapieren, dass alles was wir tun in ihrem Interesse ist die richtige Politik ist. Ich hoffe, dass die Intelligenz und der Wille auch die nächste Wahlen zu gewinnen auch dazuführt, dass Korrekturen vorgenommen werden unter dem Aspekt der sozialen Gerechtigkeit und dass auch Korrekturen vorgenommen werden, unter dem Aspekt öffentliche Dienstleistungen müssen finanzierbar sein. Die Qualität von öffentlichen Dienstleistungen und öffentlicher Infrastruktur in diesem Land darf nicht den Bach runter gehen. Redaktion: Vielen Dank für das Interview und immer ein gutes sozialdemokratisches Händchen bei den anstehendenAufgaben. Das Interview mit Dr. Ernst Wolowicz führte Jens Röver stellv. Juso-Landesvorsitzender Bayern, München DAS LETZTE WORT Das letzte Wort: D Die Alternativen die ich rief... Mal ehrlich, unsere Partei ist schon in einer echt blöden Lage. Unglücklicherweise einfach ein bisschen arg weit in die Neue Mitte hinein gerutscht. Und als wäre das nicht genug, obendrein keine gefunden. Wie bitte? Die gab es so gar nicht?! Macht ja nichts, haben sich da wohl einige gedacht: Rutschen wir halt einfach weiter, drängen die Union noch mehr nach Rechts, schaffen Platz für Wahlalternativen, den lieben Oskar, und eine Menge Demonstranten. War ja vielleicht lieb gemeint. Wenn aber eine per Kaiserschnitt auf die Welt geklonte Wahlalternative plötzlich klassische sozialdemokratische Themen allein besetzen darf, und Prognosen zufolge auf bis zu 15-20% kommen könnte, dann wirds halt nun mal brenzlig... Aber den Kurs halten muss wohl wer nicht anders kann und will. Ich bin ja mal gespannt, wie viele Genossinnen und Genossen sich in zwei Jahren noch an Infostände trauen. Um Hartz IV und ähnliches zu verkaufen brauchen wir definitiv teurere Give-aways. Oder was wirklich nützliches. Wie wärs mit Taschentüchern? Die Chancen stehen nicht schlecht, dass für solche dann wieder Hochkonjunktur herrscht. Ich für meinen Teil lade Dich gerne mit an den Infostand ein, Gerhard. Macht sicher wieder sehr viel Spass...! PHILIPP OBERMÜLLER 22 23 Deine AnsprechpartnerInnen Simona Winkler Regionalverband West, Stellvertretende Vorsitzende tel. 56 04 63 winkler@jusos-m.de Anno Dietz Öffentlichkeitsarbeit, Stellvertretender Vorsitzender tel. 44 88 233 dietz@jusos-m.de Simone Burger Vorsitzende tel. 26 02 30 90 burger@jusos-m.de Alex Ben Chaouch Regionalverband Süd tel. 77 79 53 ben-chaouch@jusos-m.de Dunja Langer Frauenbeauftragte tel. 54 76 79 89 langer@jusos-m.de Jürgen Glatz Publikationen tel. 81 89 45 94 glatz@jusos-m.de Ludwig Hoegner Internetbeauftragter tel. 690 42 41 hoegner@jusos-m.de Florian Hiemeyer Regionalverband Nord tel. 32 38 76 51 hiemeyer@jusos-m.de Viola Unger Pressesprecherin tel. 98 10 86 21 unger@jusos-m.de Boris Stark Regionalverband Ost tel. 43 57 48 98 stark@jusos-m.de Martina Bögl Mitgliederbetreuung tel. 76 77 63 09 boegl@jusos-m.de Hanna Kappstein LID- Redaktion tel. 44 44 95 44 kappstein@jusos-m.de Philipp Obermüller Geschäftsfüher tel. 14 72 92 52 obermueller@jusos-m.de Eva Winkelmeier Politische Bildung tel . 36 10 54 58 winkelmeier@jusos-m.de Photo folgt. kooptiert zur Unterstützung im Vorstand: Das Münchner Stadtgebiet ist in vier Regionalverbände, entsprechend den Bundestagswahlkreisen, eingeteilt. Für jeden RV gibt es einen Ansprechpartner im Vorstand (s.o.). Büro der Jusos München: Oberanger 38 / III, 80331 München Tel. 26 02 30 90, Fax 26 02 30 91 RV Nord RV West RV Ost RV Süd Verena Dietl (Jusovertreterin im Vorstand der Münchner SPD) Angela Greulich (Mitglied im Vorstand der Jusos Bayern) Martin Heigl (Mitglied im Vorstand der Jusos Oberbayern) Niclas in der Stroth (Pressesprecher der Münchner SPD) Jens Röver (Mitglied im Vorstand der Jusos Bayern)