Es begann mit dem Drachen - IHK Kassel
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Es begann mit dem Drachen - IHK Kassel
Wirtschaft Kassel: Zentrum des Lokomotiv- und Waggonbaus Es begann mit dem Drachen Der legendäre Henschel-Wegmann-Zug, eingesetzt ab 1935 auf der Strecke zwischen Berlin und Dresden. (Repros: Hessisches Wirtschaftsarchiv) Noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts galt Kassel als vornehme Beamtenstadt, die der Industrie nur wenige Entfaltungsmöglichkeiten bot. Als Sitz des Oberpräsidenten der Provinz Hessen-Nassau und eines Regierungspräsidenten spielte die Beamtenschaft zwar eine wichtige gesellschaftliche Rolle, doch eine „Beamtenstadt“ war Kassel längst nicht mehr. S eit etwa 1870 hatten sich in den Stadtteilen Rothenditmold und Bettenhausen sowie südlich des Bahnhofs Unterstadt bedeutende Industriebetriebe angesiedelt. Wichtigster Industriezweig war der Lokomotiv- und Waggonbau, der mit namhaften Unternehmen in Kassel vertreten war. Henschel & Sohn: Mut zum Risiko Ihren Ruf als Stadt des Lokomotivbaus verdankt Kassel der Firma Henschel, die ihre Gründung auf das Jahr 1810 datiert. Damals Lebte von 1780 bis 1861: Carl Anton Henschel. 40 Wirtschaft Nordhessen 11.2013 war Kassel Hauptstadt des Königreichs Westphalen, einer napoleonischen Schöpfung, und Carl Anton Henschel königlicher Geschützgießer. Als er wegen dienstlicher Differenzen mit dem Stadtkommandanten aus dem Staatsdienst entlassen wurde und das staatliche Gießhaus verlassen musste, richtete er im benachbarten „Freyhaus“ eine eigene Gießerei und eine kleine Maschinenfabrik ein. Nach der Rückkehr von Kurfürst Wilhelm I. erhielt er zwar seine Stelle als staatlicher Stückgießer zurück, betrieb aber seine eigenen Werkstätten weiter, in denen er Glocken und Kanonen goss, aber zunehmend auch Maschinen herstellte. Ein besonderes Interesse entwickelte Carl Anton Henschel für die zu dieser Zeit aufkommenden Eisenbahnen. Als er sich entschloss, in den Lokomotivbau einzusteigen und gegen längst etablierte Hersteller anzutreten, ging er ein erhebliches unternehmerisches Risiko ein. Am 29. Juli 1848 lieferte die Firma Henschel & Sohn ihre erste Lokomotive an die Hessische Friedrich-Wilhelms-Nordbahn aus. Halb Kassel war auf den Beinen, als der Drache, wie man die Lok getauft hatte, von der 1837 in Betrieb genommenen Fabrik am Möncheberg auf einem eigens dazu entwickelten Wagen von mehreren Dutzend Pferden zum Oberstadtbahnhof transportiert wurde. Ganze acht Tage nahm die Prozedur in Anspruch. Gut 60 Jahre später lieferte Henschel & Sohn die 10.000. Lokomotive aus, beschäftigte rund 3500 Menschen und war die größte Lokomotivfabrik des europäischen Festlands. Etwa zur gleichen Zeit, als Henschel den Drachen baute, wurde auch der Grundstein für die Waggonfabrikation in Kassel gelegt. Seit Anfang des 19. Jahrhunderts baute Johann Thielemann in Kassel Kutschen, unter anderem für den kurfürstlichen Hof. Nach der Eröffnung der Friedrich-Wilhelms-Nordbahn tat er sich mit Geschäftspartnern zusammen, gründete die Waggonbau-Anstalt, die später in Thielemann, Eggena & Co. umfirmierte, und stieg, wie viele andere Kutschenmacher, auf den zukunftsträchtigeren Bau von Eisenbahnwaggons um. 1860 – im Jahr, als Henschel seine 50. Lokomotive fertigstellte – zählte die Waggonbaufirma 270 Beschäftigte und damit kaum weniger als das spätere Weltunternehmen. Bis 1878 stellte Thielemann, Eggena & Co. rund 5200 Wagen her, darunter auch einen Salonwagen für Kurfürst Friedrich Wilhelm. Kurz darauf scheint der Betrieb eingestellt worden zu sein. Das Werksgelände am Holländischen Tor erwarb Henschel und errichtete darauf sein neues Direktionsgebäude. Die Waggonbauer Credé und Wegmann Langfristig erfolgreicher war die Waggonfabrik Wegmann. Ihr Gründer, Peter Wegmann, hatte 1882 im Auftrag zweier Unternehmer aus Hagen die stillgelegte Wagenfabrik von Sethe & Krippen in Rothenditmold gekauft. 1883 verließen die ersten Güterwagen das Werk: 24 eiserne Kohlenwaggons für die königliche Eisenbahndirektion Elberfeld. Nachdem seine Geschäftspartner ausgeschieden waren, führte er das Unternehmen auf eigene Rechnung unter der Firma Wegmann & Co. weiter. Um 1900 zählte Wegmann & Co. zahlreiche Staats-, Privat- und Kleinbahnen zu seinen Kunden. Bestellungen über Güter- Von Kassel in alle Welt: Credé Waggonfabrik und Fahrzeugbau. (Copyright: Stadtmuseum Kassel) Wirtschaft und Personenwagen gingen unter anderem aus Südafrika und Ostasien ein. Im Jahr 1901 orderte allein die Italienische Staatsbahn 600 Güterwagen. Zu Wegmanns größten Konkurrenten entwickelte sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Waggonfabrik der Gebrüder Credé, die aus einer von Conrad Credé gegründeten Möbelund Bauschreinerei am Pferdemarkt in Kassel hervorgegangen war. Seine beiden Söhne errichteten 1896/97 in Niederzwehren ein neues Fabrikgebäude und wandten sich dem Bau von Eisenbahnwaggons beziehungsweise seit 1899 auch dem Bau von Straßenbahnen zu. Der Weg zur Rüstungsproduktion 1914 war es mit dem kontinuierlichen Wachstum der Lokomotiv- und Waggonhersteller vorbei. Im Ersten Weltkrieg brach nicht nur der Export weitgehend weg, auch die Aufträge der deutschen Länder- und Privatbahnen gingen zurück. Bis 1918 ließen sich die Ausfälle einigermaßen durch Rüstungsproduktion ausgleichen. Henschel lieferte Geschosse, Zünder und Munitionswagen und stellte ab 1917 auch wieder Geschütze her. Wegmann erhielt 1917 den Auftrag zum Bau des ersten deutschen Panzers. Nachdem jedoch der Krieg verloren war und die Kriegs- wieder auf Friedensproduktion umgestellt werden musste, brach der Absatz ein. Sowohl Henschel als auch Wegmann und Credé suchten nach neuen Produkten, um die Einbußen auf dem hart umkämpften und rückläufigen Eisenbahnmarkt zu kompensieren. Denn insbesondere nach dem Ende der Inflation gingen die Bestellungen der Reichsbahn-Gesellschaft drastisch zurück. Angesichts des zunehmenden Straßenverkehrs schien der Bau von Lastkraftwagen und Bussen neue Perspektiven zu eröffnen. Alle drei Unternehmen schufen sich damit ein zweites Standbein. Die 1929 einsetzende Weltwirtschaftskrise verschärfte die Lage. Es kam zu Entlassungen in großem Umfang. Wie dramatisch die Situation war, verdeutlicht die Tatsache, dass Oscar R. Henschel 1932 die prachtvolle Villa auf dem Weinberg abreißen ließ, weil er die steuerliche Belastung nicht mehr tragen konnte. 1966: Einweihung des Neubaus der Lehrwerkstatt der Rheinstahl Henschel AG. (Foto: IHK-Archiv) Die 10.000. Lokomotive ist gefertigt: Werbeansichtskarte von Henschel & Sohn. (Repro: Hessisches Wirtschaftsarchiv) Die Machtübernahme der Nationalsozialisten eröffnete auch den Kasseler Unternehmen neue Perspektiven. Nicht nur der Lokomotivund Waggonbau profitierte davon, dass er als kriegswichtig angesehen wurde – die Stadt wuchs mit 21 Rüstungsbetrieben zu einem Zentrum der militärisch relevanten Produktion heran. Henschel hatte sich bereits vor 1933 an der Entwicklung von Fahrzeugen für das Heer beteiligt. Am 30. März 1933 wurde die Henschel Flugzeug-Werke AG gegründet, im Juli 1936 in Altenbauna die Henschel-Flugmotorenbau GmbH. Gemeinsam mit Wegmann & Co. stellte Henschel nicht nur den berühmten Henschel-Wegmann-Zug her, sondern seit 1934 auch den Kampfpanzer PzKw II und ab 1942 den Kampfpanzer Tiger. Tausende von ausländischen Zwangsarbeitern schufteten großteils unter erbärmlichen Bedingungen in den Betrieben der Rüstungsindustrie. Neubeginn und Krise Die Rolle Kassels als Rüstungszentrum behinderte den wirtschaftlichen Neuanfang nach dem Zweiten Weltkrieg erheblich. Zum einen waren die Stadt und ihre Industrieanlagen durch zahlreiche Luftangriffe stark in Mitleidenschaft gezogen, zum anderen bestanden bei der amerikanischen Militärregierung starke Vorbehalte gegen die Wiederaufnahme der Produktion durch frühere Rüstungsbetriebe. Erst zu Beginn der 1950er-Jahre setzte der Aufschwung ein, der aber nur von beschränkter Dauer war. Credé stellte nun neben Waggons und Bussen auch Kleinkrafträder und Getränkeautomaten her. 1956 übernahm der Hörder Bergwerks- und Hütten-Verein das Unternehmen. 1967 wurde die Produktion bei Credé eingestellt. Auf dem Werksgelände befindet sich heute das Einkaufszentrum DEZ. Auch Wegmann & Co. baute nach dem Krieg zunächst wieder Waggons und Busse. Als vergleichsweise kleines Unternehmen jedoch geriet es ähnlich wie Credé zunehmend unter Druck. Also besann man sich wieder auf das Rüstungsgeschäft und beteiligte sich Anfang der 1960er-Jahre an Entwicklung und Produktion der Kampfpanzer Leopard 1 und 2. 1999 ging Wegmann & Co. im Rüstungsunternehmen Krauss-Maffei Wegmann mit Produktionsstandorten unter anderem in Kassel und München auf. Auch Henschel geriet ins Schlingern. Beim Eisenbahnbau hatte man offenbar zu lange auf die Dampftechnik gesetzt und den technologischen Anschluss beim Diesel- und Elektrolokomotivbau verpasst. In der Lkw-Sparte verfügte man möglicherweise nicht über ein Rationalisierungspotenzial wie große Anbieter. Jedenfalls musste Henschel & Sohn 1957 Vergleich anmelden und wurde von einem Eigentümerkonsortium unter Führung des umstrittenen Fritz-Aurel Goergen übernommen, das bis 1963 die Produktion von Dampflokomotiven und Bussen einstellte und verstärkt auf die Herstellung von Schwer- und Werkzeugmaschinen setzte. Auch gepanzerte Fahrzeuge für die Bundeswehr wurden wieder gebaut. Der Name Henschel ist inzwischen aus Kassel verschwunden. Die Tradition des Lokomotiv- und Fahrzeugbaus jedoch wird von Unternehmen wie Bombardier, Mercedes-Benz und VW fortgeführt. Dr. Ulrich Eisenbach, Hessisches Wirtschaftsarchiv Wirtschaft Nordhessen 11.2013 41