Cyberspace in Schule und Kinderzimmer

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Cyberspace in Schule und Kinderzimmer
Cyberspace in Schule und Kinderzimmer
Dokumentation des 3. Symposiums
vom 31. Oktober 2008
Franz Lehner (Hrsg.)
Institut für Digitale und Soziale Kompetenz (DISK)
www.verein-disk.net
gefördert durch
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Symposium 3
Cyberspace in Schule und Kinderzimmer
Pädagogische Hochschule der Diözese Linz, Salesianumweg 3
Freitag 31. Okt. 2008, 9 bis 16 Uhr
Autor(en) und Beitrag
Seite
Dr. Hubert Poppe, Anton Proksch Institut, Wien
Online- zwischen Faszination und Sucht - "Onlinerollenspiele" am Beispiel World of Warcraft
7
Prof. Tilo Hartmann, Ph.D., Freie Universität Amsterdam
Erleben und Wirkung von gewalthaltigen Spielen
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Astrid Schulzke, Sozialpädagogin, Neumünster
Erfahrungsbericht zum Thema Internetverhalten der SchülerInnen an der integrierten
Gesamtschule Neumünster-Brachenfeld
31
Prof. Franz Lehner, Universität Passau
Computer- und Onlinespiele zum Training von Sozialkompetenzen
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PD Dr. Jutta Buchner-Fuhs, Universität Hamburg und
Prof. Dr. Burkhard Fuhs, Universität Erfurt
Der Moses-Effekt: Digitale Welten und generationale Erfahrungen
75
Waltraud Hofer-Pichler, Linz
help4youth.at – Online-Beratung für Jugendliche
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Online - zwischen Faszination und Sucht – „Onlinerollenspiele“ am Beispiel World of Warcraft
Dr. Hubert Poppe – Anton Proksch Institut, Wien
OA Dr. Hubert Poppe
Facharzt für Psychiatrie und Neurologie
Anton Proksch Institut Wien (Institutsvorstand Prim. Univ. Prof. Dr. Michael Musalek)
Abteilung 2
Suchtberatung Wr. Neustadt (leitender Oberarzt)
„Task force“ Spielsucht (head)
Anton Proksch Institut Wien
Mackgasse 7-11
1230 Wien
poppe@api.or.at
www.api.or.at
www.psychiatrie.co.at
Bernd Dillinger
Fachhochschule St. Pölten
Lehrgang Sozialarbeit
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Zusammenfassung:
Das Internet per se macht nicht süchtig. Trotzdem häufen sich in den letzten Jahren
vermehrt die Anfragen, betreffend süchtiges Verhalten am PC. Vielleicht anfangs
noch belächelt, zeigte sich bei starker Ausprägung ein typisch süchtiges Verhaltensmuster, ähnlich, wie beim pathologischen Glücksspiel, Oniomanie oder Arbeitssucht.
In der Internationalen Klassifikation der psychischen Störungen (ICD-10) finden wir
aber nur das pathologische Glücksspiel in der Kategorie der Impulskontrollstörungen
(F63.0). Ausgehend von den geringsten Prozentsätzen internationaler deutschsprachiger Studien, 3 % in Deutschland (Humboldt Universität Berlin, 1999), 2,3 % in der
Schweiz (Offene Tür Zürich, 2001), sind in Österreich hochgerechnet zwischen
60.000 und 90.000 Menschen ab vierzehn Jahren aktuell als internetabhängig einzustufen.
Geschichte:
Das Internet wurde von der Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA)
des US-Verteidigungsministeriums zur Vernetzung von Universitäten und Forschungseinrichtungen entwickelt. Seit der Entwicklung des World Wide Web und den
allgemeinen Zugangsmöglichkeiten erleben das Internet und die damit verbundenen
Computersysteme innerhalb kürzester Zeit eine noch nie da gewesene Weiterentwicklung.
Das Internet, anfangs in erster Linie für Datentransfers, Informations- und Nachrichtentransport genutzt, bot breiter gestreute Nutzungsmöglichkeiten und es entwickelte
sich sehr rasch eine neue Netzkultur, die durch zunehmend schnellere Rechner, Flat
rates, Entwicklung sozialer Netzwerke, und nicht zuletzt Online-Communities, OnlineJournalismus und Angebote wie My Space unterstützt wurde. Bereits zu Beginn etablierten sich sehr schnell Online-Spiele, anfangs noch Textadventures, Schach,
Go, MUDs (Multi User Dungeons), die in den folgenden Jahren immer komplexer
wurden. 1997 etablierte sich erstmals ein MMORPG (massively multiplayer online
role playing game, Ultima Online), bei dem mehrere tausend Spieler gleichzeitig
spielen konnten.
Dr. Kimberly Young (University of Pitsburg) führte den Begriff „Inter Addiction Disorder“ (IAD) 1995 in die wissenschaftliche Fachwelt ein und leitet das im selben Jahr
gegründete „Center for Internet Addiction Recovery“. Außerdem schreibt sie das erste Buch zum Thema Internetsucht mit dem Titel „Caught in the Net“. [1]
In den Folgejahren beschäftigten sich im amerikanischen Raum unter anderem Dr.
Orzack Maressa, Dr. Brenner Victor und Dr. Suler John mit dem Thema Internetabhängigkeit.
Die erste deutschsprachige Studie wurde von Dr. Zimmerl Hans im Jahre 1998
durchgeführt. Diese Studie bezieht sich ausschließlich auf Chatrooms und weist
hierbei eine Prävalenz von 12,7 Prozent auf. [2] Im darauf folgenden Jahr wurde von
der Humboldt Universität Berlin unter der Anleitung von Dr. Jerusalem Matthias und
Dr. Hahn Andre eine breit angelegte Onlinebefragung im deutschsprachigen Raum
durchgeführt, in der rund 3 Prozent der Untersuchten als internetabhängig befunden
wurden. [3] 2000 führte Dr. Seemann Oliver (Psychiatrische Universitätsklinik München) gemeinsam mit Kollegen eine wissenschaftliche Onlineumfrage zum Thema
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Internetabhängigkeit durch, mit dem Ergebnis, dass 4,6 Prozent der befragten Menschen eine Prävalenz aufwiesen. [4] Das Institut „Offene Tür Zürich“ und die Humboldt Universität Berlin setzten die im Jahre 1999 in Deutschland begonnene Forschung mit einer 4. Staffel fort und führten gemeinsam 2001 eine Studie über das
Phänomen Internet-Sucht in der Schweiz durch. Unter der fachlichen Anleitung von
Dr. Eidenbenz Franz (Schweiz) und Dr. Hahn Andre (Berlin) kam man zu dem Ergebnis, dass 2,3 Prozent der Befragten als süchtig und 3,7 Prozent der Befragten als
Internet-Sucht gefährdet eingestuft werden können. [5]
Im Jahr 2005 veröffentlichte die Organisation „China Youth Net Association“ ihre erste Studie zum Thema Jugendliche und Internetsucht in China. Das Ergebnis zeigt,
dass 13,2 Prozent der Jugendlichen internetabhängig sind. Vergleichbar mit europäischen Studien ist die Mehrzahl der Abhängigen männlich. Interessant ist, dass es
keine Verbindung zwischen Internetabhängigkeit, geographischen Faktoren und sozialem Status gibt. [6]
Im selben Jahr veröffentlichte Dr. Sabine Grüsser (und andere) das Ergebnis ihrer
Studie, in der 9,3 Prozent der untersuchten Kinder im Alter von elf bis vierzehn Jahren ein exzessives Computerspielverhalten aufweisen, welches angelehnt an den
Kriterien für Abhängigkeitserkrankung nach ICD-10 beziehungsweise für pathologisches Glücksspiel nach DSM-IV-TR definiert wurde. [7] In der Studie „Kinder + Medien, Internet + Computer“ (Kim-Studie) aus 2006 wurden Kinder von sechs bis dreizehn Jahren und deren Haupterzieher zum Thema Medienumgang der Kinder in
Deutschland befragt. 21 Prozent der befragten männlichen Kinder besitzen demnach
bereits ihren eigenen Personalcomputer, bei den Mädchen 14 Prozent (Spielkonsolen und Kindercomputer außer Acht gelassen). [8] Diese Zahlen sind bemerkenswert,
da davon ausgegangen werden kann, dass unter anderem bereits während der
Kindheit der Grundstein zu einer späteren Pathologisierung gelegt wird, ohne die
frühe Auseinandersetzung der Kinder mit dem Computer zu bewerten. Ähnlich wie
die KIM-Studie wurde 2007 die Studie Jugend, Information, (Multi-) Media Studie
(JIM-Studie) durchgeführt. Sie dokumentiert zum zehnten Mal den Medienumgang
deutscher Jugendlicher im Alter von zwölf bis neunzehn Jahren. Laut dieser Studie
haben 98 Prozent der Haushalte der Jugendlichen einen Computer bzw. Laptop zu
Hause. 95 Prozent der Haushalte haben einen Internetanschluss, die Hälfte der befragten Jugendlichen hat einen Internetzugang im eigenen Zimmer. Interessant ist
die Verteilung der Internet-Nutzung, die sich in drei große Kategorien aufteilen lässt:
59 Prozent der befragten Jugendlichen nutzen das Internet als Kommunikationsplattform, 18 Prozent zum Spielen und 23 Prozent zur Informationssuche. [9] Im selben
Jahr wurde wieder von Dr. Grüsser (und anderen) eine Onlinebefragung durchgeführt, bei der festgestellt wurde, dass 11,9 Prozent der Befragten als internetsüchtig
eingestuft werden können. [10]
Internetgebrauch in Österreich
In Österreich wurden im Jahre 1992 die ersten Internetprovider hochgefahren. [11]
Von diesem Zeitpunkt an entdeckten in den darauf folgenden Jahren immer mehr
Privatpersonen die Möglichkeiten des Internets für sich. Das Marktforschungsinstitut
SPECTRA führt seit über zehn Jahren Befragungen zum Thema Internetgebrauch
durch. Laut SPECTRA war 1996 in 2 Prozent der österreichischen Haushalte ein Internetanschluss vorhanden [12], 2006 hatte sich die Zahl auf 46 Prozent erhöht [13].
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Vergleichbar dazu führt das Meinungs- und Marktforschungsinstitut INTEGRAL auch
seit 1996 telefonische Interviews mit Menschen ab 14 Jahren zum Thema Internetgebrauch durch. Diese Forschung wird Austrian-Internet-Monitor (AIM) genannt.
1996 nutzten laut AIM 9 Prozent der befragten Menschen das Internet sowohl privat
als auch beruflich. Im vierten Quartal 2008 nutzten es schon 72 Prozent der ÖsterreicherInnen ab vierzehn Jahren, was umgerechnet 4,95 Millionen Personen in Österreich sind. [14]
Ausgehend von den geringsten Prozentsätzen bereits oben angeführter internationaler deutschsprachiger Studien, 3 % in Deutschland (Humboldt Universität Berlin,
1999), 2,3 % in der Schweiz (Offene Tür Zürich, 2001), sind in Österreich hochgerechnet zwischen 80.000 und 120.000 Menschen ab vierzehn Jahren aktuell internetabhängig.
Ursachen:
Jeder Mensch hat Sehnsucht nach Zuwendung, Anerkennung, echtem Verständnis,
Liebe, Glück - verstanden als „glücklich sein“ - und Sexualität.
Im Chat-Room, bei Online-Spielen (Glücksspiel, Fantasy), und Online-Erotik- bzw.
Sexkonsum erfüllen sich diese Wünsche scheinbar. Der/Die Betroffene lebt und erlebt in der virtuellen Welt grenzenlose Möglichkeiten, die ideale Identität, die ideale
Beziehung und den idealen Kontakt. Er/Sie erfährt das Gefühl der Gruppenzugehörigkeit und der Zuwendung und das eigene Selbstwertgefühl steigt.
Diese Erfahrungen vermitteln mit der Zeit ein deutlich besseres Lebensgefühl „Online“ als „Offline“.
Wieder in der Realität werden negative Erfahrungen schmerzlicher, positive Erfahrungen weniger intensiv wahrgenommen, womit der neuerliche Einstieg in die virtuelle Welt vorgezeichnet ist.
Schätzungen sprechen von weltweit 30 Millionen Menschen, die nach Schulschluss
oder Feierabend in künstliche Welten einsteigen, um virtuell jene Wünsche zu verwirklichen, von denen sie in der Realität nur träumen können: Mit wenigen Mausklicks erschafft der Spieler eine virtuelle Figur, gibt ihr Namen, Gestalt und eine Biografie, zaubert sich ein Alter Ego, seinen Vorstellungen und Wünschen entsprechend, und schafft sich somit ein ideales zweites Leben in der virtuellen Welt. Gerade Onlinespiele wie WOW (World of Warcraft) erreichten in den letzten Jahren enorme Zuwächse an Spielern. WOW von der Firma Blizzard spielen derzeit ca. neun
Millionen Menschen weltweit (mehr als Österreich Einwohner hat!). In „World of
Warcraft“ führen die Spieler ihre Figuren durch Kämpfe und Abenteuer, die sich oft
über Monate ziehen können, und widmen somit häufig mehr Aufmerksamkeit und
Zeit dem Spiel als den Aufgaben im wirklichen Leben.
Diagnostische Kriterien (Zimmerl, 2006):
Fokussierung:
Der Brennpunkt (Fokus) des Denkens und der Handlungsintention richtet sich
darauf, „online“ zu sein. „Offline“ treten quälende Fantasien darüber auf, was
man versäumen könnte. Eine Art von „Craving“ (Gier) ist zu beobachten. Die
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Folge ist eine Einengung des Verhaltensraumes, der Internetgebrauch erlangt 1.
Priorität.
Kontrollverluste:
Der „online“ verbrachte Zeitrahmen kann nicht kontrolliert werden. Oft – nicht
immer – findet sich auch das Phänomen der „Toleranzsteigerung“, das heißt,
dass der/die UserIn zur Befriedigung sein/ihr Online-Verhalten quantitativ und
qualitativ ständig intensivieren muss.
Negative Konsequenzen:
Durch das exzessive Online-Verhalten treten sowohl psychosoziale Folgeschäden (soziale Selbstisolierung durch Vernachlässigung aller Sozialkontakte, Arbeitsplatzverlust, schulisches Versagen bzw. mögliche Verschlechterung psychischer Grunderkrankungen) als auch körperliche Schäden auf (Mangelernährung,
Vernachlässigung des Schlafbedürfnisses, Schäden am Bewegungsapparat,
Schäden am Sehapparat, bis hin zu vital bedrohlichen Erschöpfungszuständen).
Entzugssymptome:
Wie bei anderen Abhängigkeitserkrankungen findet man bei Internetsüchtigen
dann, wenn sie unfreiwillig „offline“ sind, psychovegetative Entzugssymptome wie
Reizbarkeit, Affektlabilität, Unruhe und Unkonzentriertheit.
Unfähigkeit zur Verhaltensänderung:
Trotz der Offensichtlichkeit der negativen Folgen des Verhaltens ist der Internetsüchtige nicht aus eigenem Antrieb fähig, sein Verhalten zu korrigieren. Suchttypische intrapsychische „Abwehrmechanismen“ – von der Verleugnung/ Bagatellisierung über die Projektion bis hin zur Rationalisierung, also dem Erfinden ausgeklügelter Rechtfertigungsstrategien – sind ebenfalls festzustellen.
Diese 5 Kriterien finden sich (in unterschiedlicher Ausprägung) bei allen Internetsüchtigen.
Therapie:
An psychotherapeutischen Methoden hat sich eine verhaltensorientierte Psychotherapie als erfolgreich erwiesen. Therapeutisches Hauptaugenmerk wird sowohl auf die
individuelle Analyse des Internetverhaltens als auch auf Interaktionsstrategien mit
der Umwelt gelegt [15]. Die Vermittlung eines plausiblen Störungsmodells ist ein wesentlicher Bestandteil der Therapie. Es gibt bis dato keine spezifische medikamentöse Behandlung der Internetsucht. Natürlich wird eine medikamentöse Behandlung
eventueller Begleiterkrankungen oder Grundstörungen sinnvoll sein.
Ein weiterer Schwerpunkt ist, nicht nur auf der Symptomebene zu behandeln, sondern die gesunden Anteile der Betroffenen zu stärken, um einen Ausstieg aus dem
süchtigen Verhalten zu erleichtern. Gleichzeitig sollen im Sinne einer ressourcenorientierten Behandlung all jene Kräfte mobilisiert und Möglichkeiten ausgeschöpft werden, die es dem Betroffenen in Hinkunft möglich machen, wieder einen ausgewogenen Umgang mit dem Medium Internet zu pflegen. Das Anton Proksch Institut bietet
Betroffenen und Angehörigen Informations- und Beratungsgespräche, ambulante
Behandlung und, wenn notwendig, auch stationäre Therapie.
9
Prävention:
Eine sinnvolle Prävention beginnt im Kindergartenalter, da erfahrungsgemäß Kinder
bereits in diesem Alter ersten Zugang zu „Spielgeräten“ wie Spielkonsolen, Handhelds und Computer erhalten. Eltern sollten sich von Beginn an für die Spiele interessieren, sie nicht kategorisch ablehnen oder negativ beurteilen, sondern vielmehr
mit den Kindern gemeinsam spielen. So wird es möglich sein, Kindern von Anfang an
einen maßvollen Umgang mit den „neuen Medien“ zu vermitteln. Natürlich ist es
wichtig, die Spielzeit zu beschränken, gleichzeitig sollten jedoch unbedingt Alternativen zur Freizeitgestaltung zur Verfügung gestellt werden. In der Folge profitieren Eltern und Kinder von der gemeinsam verbrachten Zeit.
Auch bei älteren Kindern und Jugendlichen ist das Interesse der Eltern an den Freizeitaktivitäten von großer Bedeutung und auch hier ist eine Abwertung vor allem des
Computer- oder Konsolenspielverhaltens eher kontraproduktiv. Spätestens in der
Pubertät sind Aktivitäten am PC, allein oder mit Freunden, neben einer spannenden
Freizeitbeschäftigung auch ein Weg, sich von den Eltern abzugrenzen und eigene
Wege zu gehen. Prinzipiell ist diese Entwicklung normal, allerdings konnte ich in vielen Gesprächen mit Betroffenen und ihren Familien feststellen, dass bereits Jahre
zuvor die betroffenen Kinder zu viel sich selbst überlassen wurden.
Nicht vernachlässigt werden darf in diesem Zusammenhang aber auch der große
Einfluss der „PEERGROUP“. Einerseits erlangen Jugendliche durch diese Zugang zu
Onlinespielen und damit verbunden ein intensives Gruppenzugehörigkeitsgefühl, andererseits ist mit der Steigerung der Präsenz im Netz eine Auflösung der sozialen
Gruppe in der Realität zu beobachten.
Ziel der Prävention ist es, einen verantwortungsvollen Umgang mit den „Neuen Medien“ zu erreichen, diese selbstverantwortlich und selbst bestimmt in der Realität zu
nützen und einzusetzen.
10
Literatur
[1] Center for Internet Addiction Recovery (Bradford, USA): Dr. Kimberly Young´s Bio, in
http://netaddiction.com/bio/bio.htm am 19.12.2007
[2] Zimmerl, Hans (1998): Internetsucht – Eine neumodische Krankheit? Gesundheitsinformationsnetz,
in: http://gin.uibk.ac.at/home/zimmerl/internetsucht/chat-teil1.html am 03.1.2008
[3] Jerusalem, Matthias \ Hahn, Andre (1999): Pilotprojekt zur Internetsucht: Ergebnisse der ersten
Pilotstudie in Deutschland. Stress und Sucht im Internet, in:
http://www.internetsucht.de/publikationen/internetsucht_kurzpraesentation.pdf am 03.1.2008
[4] Seemann, Oliver (2000): Wissenschaftliche Online-Umfrage zur Internet-Abhängigkeit. MMW Fortschritte der Medizin, http://www.mmw.de/contentDisplay.do?cid=101475 am 19.12.2007
[5] Eidenbenz, Franz (2001): Phänomen Internet-Sucht, Studie zu konstruktivem versus pathologischem Internetgebrauch. Institut Offene Tür Zürich, http://www.offenetuer-zh.ch/Studie%20InternetSucht.html am 19.12.2007
[6] China Youth Net Association (China): China Youngsters Network Addiction Data Report (2005), in:
http://www.chinatechnews.com/2005/11/23/3256-china-publishes-first-internet-addiction-report/ am
03.01.2008
[7] Grüsser, Sabine M. \ Thalemann, Ralf \ Albrecht, Ulrike \ Thalemann, Caroline N. (2005): Excessive computer usage in adolescents – a psychometric evaluation. In: Wiener Klinische Wochenschrift.
Volume 117\5-6, 188-195
[8] KIM-Studie 2006, Basisuntersuchung zum Medienumgang 6- bis 13-Jähriger in Deutschland. Medienpädagogischer Forschungsverbund, 2006. Stuttgart.
[9] JIM-Studie 2007, Basisuntersuchung zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger. Medienpädagogischer Forschungsverbund, 2007. Stuttgart.
[10] Grüsser, Sabine M. \ Thalemann, Ralf \ Griffiths (2007): Cyberpsychology and Behavior, im Druck
in
http://clients.open-screen.de/fachstelle/download/doku_fachtagung_internetsucht.pdf
am 3.1.2008
[11] Traugott, Gabriele (2006): Geschichte des Internets. Kunstuniversität Linz, in
http://www.dma.ufg.ac.at/app/link/Grundlagen:Internet.Web.Multimedia/module/3419;jsessionid=3D0C
1CAD49C6BD368F7DBA3932F3457B#12 am 27.12.2007
[12] SPECTRA (2000): SPECTRA-Aktuell 04\00. 110 000 österreichische Privathaushalte kaufen bzw.
buchen bereits im Internet, in http://www.integral.co.at/dImages/AIM_Consumer_-_Q4_2008.pdf am
10.2.2009
[13] SPECTRA (2006): SPECTRA-Aktuell 07\06. Internet weiter im Anstieg – 50+ Generation holt auf,
in http://www.spectra.at/archiv/Aktuell_07_06_Internet.pdf am 27.12.2007
[14] INTEGRAL (2007): Austrian Internet Monitor. Kommunikation und IT in Österreich 3. Quartal
2007, http://www.integral.co.at/dImages/AIM-Consumer_-_Q3_2007.pdf am 27.12.2007
[15] Bergmann/Hüther 2006, S. 159-162)
Institut zur Prävention von Online Sucht (IPOS)
www.onlinesucht.at
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2
Erleben und Wirkung von gewalthaltigen Spielen
Prof. Tilo Hartmann, Ph.D. – Freie Universität Amsterdam
Die Wirkung von gewalthaltigen Computerspielen ist noch stets ein heiß diskutiertes
Thema. Die Diskussion wird sowohl in der Gesellschaft als auch in der Wissenschaft
geführt. Hier sind es insbesondere Sozialwissenschaftler, also Psychologen, Medienpsychologen, Kommunikationswissenschaftler und Pädagogen, welche sich des
Themas angenommen haben. Zudem werden auch zunehmend Beiträge zu dem
Thema aus dem geisteswissenschaftlichen Bereich veröffentlicht, insbesondere den
Kulturwissenschaften.
Der vorliegende Beitrag orientiert sich an einem sozialwissenschaftlichen Zugang zu
dem Thema. Dieser ist davon geprägt, dass aufbauend auf Theorien über Aggression und menschliches Verhalten Hypothesen, also hypothetische Annahmen, über die
Effekte von gewalthaltigen Computerspielen aufgestellt werden. Diese werden dann
anhand (häufig standardisierter) empirischer Forschung (Experimente, Befragungen)
überprüft. Über viele vergleichbare Studien hinweg bewähren sich bestimmte Hypothesen (während andere sich wiederholt als falsch erweisen und verworfen werden).
Die bewährten Hypothesen werden zu so genannten empirisch gesättigten Modellen
oder Theorien zusammengefügt, die fortan von der Forschergemeinde als geprüfter
und hinreichend bewährter Erkenntnisschatz genutzt und an andere weitervermittelt
werden. Auch in der Erforschung gewalthaltiger Computerspiele hat sich ein solcher
geprüfter und hinreichend bewährter Erkenntnisschatz herausgebildet, auf den in
diesem Kapitel eingegangen werden soll (vgl. auch Hartmann, 2006).
Was sind gewalthaltige Spiele?
Wichtiger Bestandteil der sozialwissenschaftlichen Forschung ist es, sich über den
Gegenstandsbereich zu verständigen, indem die Kernbegriffe möglichst genau und
intersubjektiv nachvollziehbar definiert werden. Aus diesem Grund muss auch an
dieser Stelle zunächst erläutert werden, was in der Forschung unter gewalthaltigen
Spielen und Aggression verstanden wird.
Als gewalthaltig können Computerspiele verstanden werden, wenn die Spielhandlung
virtuelle Gewalt enthält, also ein aggressives Verhalten des Spielers ermöglicht. Mit
Baron und Richardson (1994, S. 7) kann unter Gewalt oder Aggression „jegliche
Form von Verhalten [verstanden werden], mit dem das Ziel verfolgt wird, ein anderes
Lebewesen zu verletzen oder ihm zu schaden, welches selbst motiviert ist, eine derartige Behandlung zu vermeiden.“ Die Verletzung oder Schädigung des anderen Lebewesens kann dabei ganz unterschiedlich sein, von der physischen Schädigung in
einer Schlägerei über die verbale Schädigung infolge einer Beleidigung bis hin zu
strategisch-strukturellen Schädigungen anderer Personen, zum Beispiel infolge sozialer Ächtung. Die Definition kann auf Computerspiele angewandt werden, um die
dort ausgetragene virtuelle Gewalt zu definieren. Virtuelle Gewalt wäre dann jegliches Verhalten des Computerspielers, das das Ziel verfolgt, einem Charakter im
Computerspiel zu schaden, welcher selbst motiviert ist, eine derartige Behandlung zu
13
vermeiden. Jedoch besteht Klärungsbedarf. Denn dem Leser mag aufgefallen sein,
dass die „Verletzung oder Schädigung eines Lebewesens“ in der Definition von virtueller Gewalt ersetzt wurde durch „Schädigung eines Charakters“. Wurde damit nicht
ein essentieller Aspekt von Gewalt, die Verletzung eines Lebewesens, einfach fallen
gelassen?
In der Tat sind Computerspielfiguren im objektiv-biologischen Sinn keine Lebewesen.
Sie können in diesem Sinne nicht getötet werden. Handelt es sich dann nicht eigentlich vielmehr um Objekte – und sind dann nicht die Begriffe „Charakter“ und „Schädigung“ in der ganzen Debatte um gewalthaltige Computerspiele völlig unangebracht?
Die Antwort lautet „Nein“, und das mag eventuell überraschen (vgl. auch Elton,
2000). Zum besseren Verständnis muss man sich zunächst vor Augen führen, dass
moderne Computerspielfiguren in aller Regel sehr realistisch dargestellt werden.
Selbst bei fantastischen Figuren sind Körperbewegung, Gebärden, intentionale
Handlungen, ja sogar Emotionen, denen des Menschen nachempfunden. Die Computervisualistik, aber auch das Sounddesign und die Programmierung künstlicher
Intelligenz haben in dieser Hinsicht in den letzten Jahrzehnten ernorme Fortschritte
erzielt. Wahrnehmungspsychologische Studien legen deswegen den Schluss nahe,
dass Nutzer Computerspielfiguren in aller Regel sozial wahrnehmen und interpretieren (Scholl & Tremoulet, 2000; Morrison & Ziemke, 2005; Yee & Bailenson, in press).
Dieses geschieht voll automatisch anhand eingeschliffener und zum Teil bereits biologisch angelegter Wahrnehmungsprozesse. Bereits simple Formationen bewegter
Lichtpunkte reichen deswegen zum Beispiel aus, um eindrückliche soziale Wahrnehmungsprozesse hervorzurufen (siehe Ahlstrom, Blake & Ahlstrom, 1997). Generell neigen Menschen dazu, ein Muster an Reizen sozial zu interpretieren, bzw. als
Figur oder menschliche Gestalt wahrzunehmen (der Fachbegriff hierzu lautet
„Anthropomorphismus“; dem interessierten Leser sei die hierzu erschienene Sonderausgabe des Fachmagazins „Social Cognition“, 2008, Vol. 26, Ausgabe 2, empfohlen). Weitere Studien zeigen, dass Menschen auch dazu neigen, virtuelle Figuren als
moralische Charaktere zu interpretieren (Reeves & Nass, 1996). Aus dem Erleben
von fiktiven Fernseh- und Kinofilmfiguren ist zudem bekannt, dass Nutzer Filme oder
Shows nur dann so richtig unterhaltsam oder spannend finden, wenn sie zumindest
für den Augenblick der Nutzung das Wissen fallen lassen, dass diese Figuren ja gar
nicht echt sind. All jene Wahrnehmungsprozesse wurden auch bereits für Computerspiele nachgewiesen oder sind plausiblerweise darauf übertragbar. Damit stellt sich
aber nun die Frage, wer oder was eigentlich „das Opfer“ virtueller Gewalt ist? Offensichtlich ist es nicht einfach damit getan, bei Computerspielfiguren von einem Objekt,
einem Hindernis, oder einem Pixelhaufen zu sprechen. Nimmt man die oben skizzierten Studienergebnisse ernst, dann muss vielmehr gefolgert werden, dass Computerspieler im Zuge virtueller Gewalt tatsächlich soziale, präziser gesagt: sozial wahrgenommene, Wesen schädigen. Damit soll nicht gesagt werden, dass jene sozial
wahrgenommenen Wesen auf einer Stufe mit wahrgenommenen (biologisch existenten) Lebewesen stehen, dennoch dürften sie dem Eindruck eines tatsächlichen Lebewesens näher stehen als dem Eindruck eines unbelebten Objekts. Überspitzt formuliert: Der Computerspieler ist sich im Augenblick der Ausübung virtueller Gewalt
der Tatsache, dass er lediglich einen Pixelhaufen manipuliert, nicht voll bewusst.
Vielmehr wird seine automatische Wahrnehmung durch die fortgeschrittene Computerspieltechnologie irregeleitet und so sieht und fühlt er automatisch die Schädigung
eines Wesens. Selbstverständlich sind Nutzer jederzeit (z. B. im Zuge einer anschließenden Befragung) in der Lage, die Illusion zu unterbrechen und eine Computerspielfigur korrekt als Objekt oder als Pixelhaufen zu identifizieren (vgl., Ladas,
14
2002). Dieser Umstand bedeutet aber nur, dass das Geschehen nun nachträglich
anders (und natürlich auch sozial erwünschter) interpretiert wird, indem nun Wissensbestände („das war nur ein Spiel“, „ein Spiel ist nicht die Realität“) einbezogen
werden, die vermutlich während des Geschehens jedoch keine oder nur eine untergeordnete Rolle gespielt haben.
Aufbauend auf der erfolgten Diskussion ist die Definition von virtueller Gewalt als
„Verhalten des Computerspielers, das das Ziel verfolgt, einem Charakter im Computerspiel zu schaden“, nun besser zu verstehen. Wie erläutert, muss man sich die
beim Spielen automatisch konstruierte Wahrnehmungswelt vor Augen führen, um die
in der Definition enthaltenen Begriffe wie „Schädigung“ oder „Charakter“ nachvollziehen zu können. Die Schädigung eines Charakters existiert lediglich in der automatisch konstruierten Deutung des Computerspielers, nicht aber in objektiver Hinsicht,
in welcher lediglich eine Programmroutine einen Pixelhaufen vom Bildschirm löscht.
Die Erläuterung eines weiteren Begriffs, der nun schon häufiger im Zusammenhang
mit der subjektiven Verarbeitung von Computerspielern genannt wurde und der auch
im Rahmen von Aggression eine zentrale spielt, ist an dieser Stelle überfällig: automatische Prozesse.
Wie müssen wir uns die Verarbeitung des Computerspielers vorstellen?
Jörg, Frank, Claus spielen Computer, Maria spielt Computer und Lea spielt - ganz
unterschiedliche Personen sind Computerspieler. Sozialwissenschaftler interessieren
sich jedoch für systematische Gemeinsamkeiten. Sie streben nach möglichst generellen Aussagen und deswegen versuchen sie auch, möglichst viele Menschen „in
einen Topf zu werfen“, ohne dabei die Gültigkeit ihrer Aussage zu gefährden. Deutlich wird das Streben nach allgemeingültigen Aussagen auch in den weltanschaulichen Prämissen, die häufig unausgesprochen den Studien zugrunde liegen. Auch
der Erforschung aggressiver Effekte gewalthaltiger Computerspiele liegt ein gewisses Bild zugrunde, wie Menschen generell - und also auch Computerspieler - „funktionieren“. Versucht man, dieses, wie gesagt meist nicht klar skizzierte, Bild aus der
Literatur zu extrahieren, dann findet man zwei grundlegende Prozesse der Verarbeitung und Verhaltensteuerung, die unterschieden werden können: reflektierende und
automatische Prozesse (vgl. Sloman, 2002; Smith & deCoster, 2002; Strack &
Deutsch, 2004).
Wenn alle Prozesse der menschlichen Verarbeitung (also z. B. Wahrnehmung, Interpretation, Speicherung) und Verhaltensteuerung einen Eisberg bilden würden, dann
wären reflektierende Prozesse die Spitze dieses Eisbergs, und automatische Prozesse der große Rest. Grob gesagt lässt sich annehmen, dass automatische Prozesse das Erleben und Verhalten von Menschen weitaus umfangreicher bestimmen
als reflektierende Prozesse. Reflektierende Prozesse sind jedoch jene, die wir im
Allgemeinen, zum Beispiel in einer Befragung, besonders gerne hervorheben und auf
die wir immer dann Bezug nehmen, wenn wir uns als bewusst handelnde Subjekte
präsentieren wollen. Dass wir dazu neigen, uns als eher reflektierte Wesen zu begreifen, wobei aber doch die automatischen Prozesse unser Wesen mindestens ebenso prägen, liegt vermutlich ganz einfach daran, dass reflektierende Prozesse uns
in aller Regel zugänglich sind und wir sie unmittelbar erleben, während automatische
Prozesse eher unbewusst ablaufen. Zudem ist es vorteilhafter, sich als ein Subjekt
15
zu verstehen, das aktiv die Umwelt manipuliert, als sich als ein Subjekt zu verstehen,
das in hohem Maße von der Umwelt manipuliert wird.
Was sind nun reflektierende und automatische Prozesse? Eine eher reflektierende
Verarbeitung liegt zum Beispiel vor, wenn wir bewusst über die Umwelt nachdenken,
sie symbolisch interpretieren oder aufschlüsseln. Ein Beispiel wäre, dass ein Computerspieler feststellt, dass eine Computerspielfigur lediglich eine auf Pixeln basierende
Repräsentation eines biologischen Lebewesens ist (und nicht ein im Zimmer tatsächlich präsentes Lebewesen). Eine eher automatische Verarbeitung läge hingegen vor,
wenn der Pixelhaufen einer Computerspielfigur „direkt“ als menschliche Gestalt
wahrgenommen wird, in der Folge soziale Kategorisierungen auslöst (z. B. klug,
dumm, gut, böse), und eventuell sogar das Gefühl ausgelöst wird, einer anderen Intelligenz gegenüberzustehen (soziale Präsenz, vgl. Biocca, Harms & Burgoon, 2003).
Reflektierende Prozesse lassen sich recht gut mithilfe von Willenskraft regulieren (d.
h. bei hinreichender Motivation verstärken oder abschwächen), automatische hingegen nicht (zum Test: Gucken Sie einmal auf ein Foto, das das Gesicht einer Person
zeigt, und versuchen Sie, kein Gesicht darin zu sehen).
Der Unterschied trifft auch auf die reflektierende vs. automatische Verhaltensteuerung zu. Eine reflektierende Verhaltensteuerung liegt vor, wenn eine Handlung intendiert wird und diese Intention bewusst ausgeführt wird. Eine solche Handlung scheint
einem freien Willen zu folgen. Eine automatische Verhaltensteuerung läuft hingegen
ohne eine bewusste Willensbekundung ab, wir tun Dinge einfach, ohne so recht zu
wissen, warum (Bargh, 1997). Biologisch bedingtes Verhalten wie Niesen ist ein einfaches Beispiel, aber auch eingeschliffene Routinen wie Zähneputzen, Schuhe zu
binden und mitunter auch Autofahren gehören in aller Regel zum automatisierten
Verhalten (Wood & Neal, 2007), sowie impulsive Handlungen, die „ohne Nachzudenken“ ausgelöst und durchgeführt werden. .
Was bedeutet das Gesagte nun für die Verarbeitung gewalthaltiger Computerspiele
und das davon wohlmöglich beeinflusste Verhalten? Zunächst wird noch einmal
deutlich, dass wir Computerspieler (wie alle Menschen überhaupt) weniger als vernunftmäßige, als vielmehr von der Umwelt geleitete Subjekte begreifen müssen. Es
kostet Willenskraft und Aufwand, den Reizen und Suggestionen der Umwelt zu widerstehen. Diese Erkenntnis untermauert zunächst noch einmal, was bereits oben
über die Wahrnehmung von Computerspielfiguren gesagt wurde. Computerspielfiguren sind heutzutage in vielen Details stimmige Repräsentationen von Lebewesen.
Dass diese Abbilder mittels automatischer Verarbeitungsmechanismen dann als eine
Form von Lebewesen identifiziert werden, ist plausibel und empirisch auch recht gut
bestätigt (vgl. McCall et al., in Druck). Es kostet den Computerspieler Willenskraft
und Aufwand, den automatisch gebildeten Eindruck zu hinterfragen und die Illusion
aufzulösen. Weil zudem ein Großteil des Unterhaltungswerts von Computerspielen
gerade darauf zurückzuführen ist, dass die Illusion bestehen bleibt (vgl. Böcking,
2008; Klimmt, 2005), ist anzunehmen, dass Computerspieler während des Spielens
eher gegen sozial wahrgenommenen Lebewesen als gegen Objekte kämpfen.
Die Gegenüberstellung reflektierter vs. automatischer Prozesse verhilft ferner, potenziell aggressionssteigernde Wirkungen gewalthaltiger Computerspiele besser zu verstehen. Bevor auf die potenziellen Wirkungen eingegangen werden kann, muss jedoch noch einmal etwas umfassender als bislang dargestellt werden, was unter Ag16
gression zu verstehen ist. Da ein Großteil dessen, was unter Aggression zu verstehen ist, nicht auf reflektierenden sondern automatischen Prozessen beruht, helfen
die obigen Ausführungen auch bei der Definition von Aggression weiter.
Aggression, das ist: aggressiv denken, fühlen und handeln
Aggression meint nicht nur das impulsive oder intendierte Ausüben von Gewalt. Aggression umfasst vielmehr auch jene Prozesse, die der Ausübung von Gewalt vorausgehen oder diese wahrscheinlich machen. Hierbei können idealtypisch kognitive
(aggressiv denken) und affektive (aggressiv fühlen) Prozesse unterschiedenen werden.
Zum aggressiven Denken zählt die erhöhte Zugänglichkeit aggressiver Gedanken
(Priming; u. a. Carnagey & Anderson, 2005), eine Überschätzung feindseliger Absichten bei negativen oder ambivalenten Erlebnissen wie z. B. Anrempeln im Bus (u.
a. Kirsh, 1998), eine erhöhte Erwartung, dass andere Personen mit Gewalt und nicht
defensiv auf Probleme oder Konflikte reagieren werden (Bushman & Anderson,
2002), und die verstärkte Selbstwahrnehmung, ein aggressiver Mensch zu sein (Uhlemann & Swanson, 2004). Diese Prozesse sind größtenteils implizit, d. h. sie laufen
automatisch ab. Sie sind der Person damit nicht direkt bewusst und können auch
nicht ohne weiteres reguliert werden.
Zum aggressiven Fühlen sind insbesondere Wut und Ärger zu zählen (Wegge &
Kleinbeck, 1997), sowie das Erregungsniveau, da höhere Erregung die Auslösung
impulsiver Aggression begünstigt (vgl. Frindte & Obwexer, 2003; Tannenbaum &
Zillmann, 1975). Aggressive Gefühle sind zwar bewusst, es ist jedoch schwierig, ihre
Entstehung oder ihr Niveau zu regulieren.
Aggressives Handeln erfolgt entweder als impulsive oder als geplante und intendierte
Gewaltausübung. Aggressives Handeln erschöpft sich nicht allein in physischer Gewalt, sondern umfasst auch verbale und strategische Verletzungen anderer. Aggressives Verhalten kann automatisch ablaufen, insbesondere, wenn es impulsiv erfolgt.
Im Vergleich zu aggressiven Gedanken oder Gefühlen ist es bei hinreichender Motivation und Willenskraft jedoch vergleichsweise gut regulierbar bzw. erfordert sogar
die Bildung von Intentionen.
Hypothesen: Inwiefern könnten gewalthaltige Computerspiele aggressiv machen?
Die Frage, inwiefern gewalthaltige Computerspiele aggressiv machen könnten, muss
an dieser Stelle zunächst dahingehend ausdifferenziert werden, ob angenommen
wird, dass Spieler durch das Spielen kurzfristig in eine aggressivere Verfassung gebracht werden (engl. „state“), oder ob angenommen wird, dass das Spielen Aggression längerfristig als stabile Charaktereigenschaft (engl. „trait“) prägt. Grundsätzlich
wird in der Forschung die Annahme geprüft, ob die einmalige Nutzung eines gewalthaltigen Computerspiels kurzfristig die aggressive Verfassung des Spielers erhöht.
Darauf aufbauend wird die Annahme geprüft, ob die wiederholte Nutzung gewalthaltiger Computerspiele die Spieler zu aggressiveren Menschen macht. Die Grundannahme ist dabei stets, dass gewalthaltige Computerspiele als Umwelt zu verstehen
17
sind, in die sich der Spieler begibt und durch die er geprägt und - bei wiederholter
Nutzung – wohlmöglich sozialisiert wird.
Die Erforschung kurzfristiger aggressiver Wirkungen gewalthaltiger Spiele konzentriert sich weitestgehend auf automatische Prozesse, wie der erhöhten Zugänglichkeit
aggressiver Gedanken und der verstärkten Interpretation der Umwelt als feindseliger
und konfliktbereiter Umwelt, aber auch der erhöhten Erregung und Intensivierung von
Wut und Ärger. Zudem wird untersucht, wie sich die Nutzung eines gewalthaltigen
Computerspiels kurzfristig auf aggressive Verhaltensäußerungen auswirkt. In den
methodisch besseren Studien wird dabei versucht, die generellen Effekte des Computerspielens auszusondieren (z. B. eine durch Frustration ausgelöste Wut, die auch
bei einem friedfertigen Spiel wie Tetris oder bei jedem Brettspiel möglich ist), um die
spezifischen Effekte des gewalthaltigen Computerspielens zu isolieren.
Die Erforschung längerfristiger aggressiver Wirkungen aufgrund wiederholter Nutzung gewalthaltiger Computerspiele konzentriert sich auf Sozialisations- und Lerneffekte. Es wird die Grundannahme geprüft, ob die wiederholte Nutzung gewalthaltiger
Computerspiele die Wahrnehmung und Interpretation der Spieler beständig verändert. So wird etwa der Frage nachgegangen, ob Vielspieler die Welt als feindseliger
und konfliktbereiter wahrnehmen und anderen Menschen eher hinterhältige Absichten unterstellen. Zudem wird analysiert, ob Nutzer durch die wiederholte Nutzung
lernen, wie man sich aggressiv verhält (z. B., wie man „am besten“ anderen Schaden
zufügt), und, ob sie durch das wiederholte Spielen lernen, dass sich ein solches Verhalten lohnt (weil es die eigenen Ziele durchsetzt und sich gut anfühlt). Im Hinblick
auf ein womöglich dauerhaft verankertes aggressives Fühlen wird geprüft, ob
Vielspieler desensibilisiert werden, also mit weniger Erregung auf gewalthaltige Reize reagieren bzw. „objektiv“ als gewalthaltig klassifizierte Reize nicht mehr als solche
wahrnehmen. Schlussendlich wird auch untersucht, ob die wiederholte Nutzung gewalthaltiger Spiele dazu führt, dass die Nutzer tatsächlich häufiger gewalttätig werden.
Was wissen wir über die Wirkung gewalthaltiger Computerspiele?
Bevor im Folgenden auf die empirischen Ergebnisse, die den Zusammenhang zwischen gewalthaltigen Computerspielen und Aggression erhellen, eingegangen wird,
muss ein häufig auftretendes Missverständnis aus dem Weg geräumt werden. In der
sozialwissenschaftlichen Forschung werden Wirkungen oder Effekte in der Regel als
durchschnittliche Wirkungen oder Effekte thematisiert. Durchschnittlich bedeutet hier:
über eine bestimmte Menge an Personen hinweg. Genauer gesagt: über die spezifischen einzigartigen Ausprägungen einer Person hinweg. Wenn zum Beispiel gesagt
wird, dass Computerspieler durchschnittlich drei Stunden am Tag Computer spielen,
dann ist damit gemeint, dass diese Nutzung über die gesamte Menge an Computerspielern hinweg besteht, nicht aber jedoch für einen jeden einzelnen Computerspieler
der Fall sein muss. Vielmehr werden einige Spieler sicher nur wenige Minuten pro
Tag spielen, während andere vielleicht fünf oder sechs Stunden täglich spielen.
Trotzdem ist der durchschnittliche Wert aussagekräftig: Wenn man einen beliebigen
Computerspieler aus der Menge aller Computerspieler auswählte und seine tägliche
Computerspielnutzungsdauer erraten sollte, dann wäre der Durchschnittswert – um
im vorliegen Beispiel zu bleiben „drei Stunden“ – die beste Schätzung. Solche Schätzungen sind keine reine Spielerei, sondern sie liegen insbesondere politischen Ent18
scheidungen zugrunde, mit denen allgemeingültige Gesetze für eine bestimmte
Gruppe (z. B. alle Bundesbürger oder alle Jugendlichen) festgelegt werden.
Fände die sozialwissenschaftliche Forschung also nun, dass die einmalige bzw. wiederholte Nutzung gewalthaltiger Computerspiele die Spieler durchschnittlich aggressiver macht, dann wird das nicht für jeden Spieler gleichermaßen gelten, die beste
Einschätzung wäre aber dennoch, bei jedem Nutzer gewalthaltiger Computerspiele
(sofern keine weiteren Informationen über diesen vorliegen) von einer aggressiven
Wirkung auszugehen. Man könnte dann auch davon sprechen, dass das die Wahrscheinlichkeit oder das Risiko, aggressiv zu denken, zu fühlen und zu handeln, erhöht wird. Diese stochastische Darstellungsweise ist aus der Gesundheitsforschung
bekannt. Rauchen erhöht zum Beispiel das Risiko, frühzeitig an Krebs zu erkranken
und zu sterben. Gleichwohl dürfte vielen ein Mensch bekannt sein, der bereits sehr
alt ist und der trotzdem sein Leben lang geraucht hat. Dieser Einzelfall mag beeindruckend sein, er sagt aber nichts über die Wahrscheinlichkeit oder das Risiko aus,
bzw. den generellen Zusammenhang oder durchschnittlichen Effekt über alle Personen hinweg, der der Risikoeinschätzung zugrunde liegt. Der Einzelfall widerlegt also
nicht die Behauptung, dass Rauchen das Risiko erhöht, frühzeitig an Krebs zu sterben.
In der Vergangenheit wurde in einer Vielzahl publizierter wissenschaftlicher Studien
über mögliche aggressive Wirkungen gewalthaltiger Computerspiele berichtet. Die
Ergebnisse müssen für kurz- und langfristige Wirkungen gesondert diskutiert werden,
weil sich die zugrunde liegenden theoretischen Annahmen unterscheiden, aber auch,
weil die eingesetzte Methodik recht unterschiedlich ist.
Da an dieser Stelle nicht auf jede einzelne Studie eingegangen werden kann, bietet
es sich an, auf so genannte Reviews oder Meta-Analysen zurückzugreifen, welche
im Prinzip nichts anderes machen, als den durchschnittlichen Effekt über alle publizierten Studien hinweg zu berichten (vgl. für Reviews Bensley & Eenwyk, 2001, Meta-Analysen Sherry, 2001; Anderson & Bushman, 2001, Anderson, 2004). An dieser
Stelle soll auf die viel beachtete Meta-Analyse von Anderson (2004) zurückgegriffen
werden, welche zugleich die aktuellste verfügbare Meta-Analyse ist. Die Ergebnisse
der Analyse sind in Abbildung 1 dargestellt.
Wie die Abbildung zeigt, ergeben die Studien, dass die Nutzung gewalthaltiger Computerspiele (im Durchschnitt) aggressives Verhalten, aggressives Denken und aggressive Gefühle inklusive Erregung verstärkt, während prosoziales Verhalten gemindert wird. Die genannten Effekte sind von geringer bis mittlerer Stärke. Die Ergebnisse der Experimentalstudien lassen sich als Beleg für kurzfristige (im Labor)
gemessene Effekte heranziehen, die Ergebnisse der Befragungsstudien beziehen
sich auf den Zusammenhang zwischen wiederholter Nutzung gewalthaltiger Computerspiele und Aggression, also eher auf längerfristige Wirkungen.
19
Abbildung 1. Auswirkung der Nutzung gewalthaltiger Computerspiele auf aggressives
Verhalten (Aggr. Beh.), aggressives Denken (Aggr. Cog.), aggressives Fühlen (Aggr.
Aff.), sozial-unterstützendes Verhalten (Help. Beh.) und Erregung (Phys. Aro.). Dargestellt ist die durchschnittliche Effektgröße, also die durchschnittliche Stärke des
gefundenen Zusammenhangs – in experimentellen Studien (Experimental) sowie in
Befragungsstudien (Correlational). K = Anzahl der Studien. N = Anzahl der untersuchten Nutzer. Die vertikalen Klammern geben das Intervall an, in welchem die
wahre Effektgröße mit 95%er Sicherheit zu verorten ist. Die Darstellung wurde entnommen aus Anderson, 2004, S. 120.
Neuere Studien differenzieren die in der Meta-Analyse von Anderson (2004) nachgewiesenen durchschnittlichen Effekte. Demnach steigern gewalthaltige Computerspiele insbesondere dann die Aggression, wenn die Gewalt im Spiel belohnt wird
(Carnagey & Anderson, 2005), wenn Nutzer im Spiel eher gegeneinander als miteinander spielen (Eastin, 2007), wenn sich die Nutzer mit ihrer Spielfigur identifizieren
(Konijn, Nije Bijvank & Bushman, 2007), je mehr Blut im Spiel dargestellt wird (Barlett, Harris & Bruey, 2007), und wenn die Opfer im Spiel männlich sind (Eastin,
2006). Anknüpfend an den letzten Befund argumentieren Hartmann und Vorderer (in
Druck; siehe auch Klimmt, Schmid, Nosper, Hartmann & Vorderer, 2006), dass gewalthaltige Computerspiele nur deswegen unterhaltsam sind, weil sie es dem Spieler
erlauben, sich moralisch vom Geschehen „auszuklinken“ (indem zum Beispiel die
Story suggeriert, dass die Aggression einem guten Zweck dient, oder indem die virtuelle Gewalt in den Dienst eines anderen höheren Ziels, z. B. des Spielerfolgs, gestellt wird und die virtuellen Opfer dadurch instrumentalisiert werden). Überspitzt formuliert gehen Hartmann und Vorderer (in Druck) davon aus, dass in gewalthaltigen
Computerspielen die gleichen Gesetze der moralischen Entkopplung wirken, die
auch in der Wirklichkeit Aggression in ein positives Licht heben bzw. sogar genussvoll machen (vgl. Bandura, 2002). Forschung, die die Annahme prüft, dass gewalthaltige Computerspiele insbesondere moralisch entkoppelte Spieler aggressiver machen, steht aber noch aus.
20
Die wohl beste Methode, um längerfristige Wirkungen der Nutzung gewalthaltiger
Computerspiele zu erforschen, sind Längsschnitt- oder Panel-Studien, in denen dieselbe Gruppe an Personen über mehrere Monate oder Jahre beobachtet wird. Auf
diese Weise lässt sich feststellen, wie sich der Zusammenhang zwischen gewalthaltigem Computerspielen und Aggression über die Zeit entwickelt. Zudem erlaubt die
Methode die kausalanalytische Prüfung, ob aggressivere Personen eher gewalthaltigere Computerspiele nutzen, oder umgekehrt gewalthaltigere Computerspiele die
Nutzer aggressiv machen. Längsschnittstudien sind aufwendig und die Zahl entsprechender Publikationen noch immer vergleichsweise gering. Bislang wurden meines
Wissens nach vier Panelstudien veröffentlicht bzw. zur Begutachtung eingereicht
(Anderson, Gentile & Buckley, 2007; Hopf, Huber & Weis, 2008; Slater, Henry,
Swaim & Anderson, 2003; Möller & Krahé, in Begutachtung). Die Ergebnisse bestätigen auch hier, dass die wiederholte Nutzung gewalthaltiger Computerspiele – im
Durchschnitt – das Aggressionsniveau erhöht. Zudem wird zum Beispiel in der Veröffentlichung von Möller und Krahé (in Begutachtung) auch die Selektionshypothese
bestätigt, wonach aggressivere Personen auch eher zu gewalthaltigen Computerspielen greifen. Slater et al. (2003) modellieren entsprechend ein Spiralmodell, genauer: eine Abwärtsspirale, wonach aggressive Personen eher gewalthaltige Medieninhalte aufsuchen – was wiederum ihre Aggression erhält bzw. sogar schrittweise intensiviert.
Eine kritische Einordnung der Befunde
Hinreichende Bestätigung. Eine sozialwissenschaftliche Forschungslinie kann niemals eine Hypothese (z. B. die Annahme, dass Computerspiele gewalttätig machen)
verifizieren (d. h., für endgültig wahr erklären). Das ist aus methodologischen und
erkenntnistheoretischen Gründen nicht möglich (vgl. hierzu das Vorgehen des kritischen Rationalismus). Jedoch können Annahmen als hinreichend bestätigt gelten,
wenn in vielen einzelnen Studien kein Beweis für ihr Gegenteil gefunden wurde.
Dass gewalthaltige Computerspiele das aggressive Denken und Fühlen kurzfristig
erhöhen, kann in diesem Sinne als hinreichend bestätigt gelten. Die Studien zu kurzfristigen Effekten weisen ferner darauf hin, dass sich zufällig ausgewählte Probanden
im Labor nach der Nutzung gewalthaltigen Computerspiels auch aggressiver verhalten als Probanden, die ein vergleichbares Spiel ohne Gewalt gespielt haben; hier ist
jedoch die Diskussion um die gültige „Beobachtung“ bzw. gültige „Messung“ aggressiven Verhaltens im Labor noch nicht ganz abgeklungen. (So wird zum Beispiel den
Probanden per Coverstory glaubhaft suggeriert, dass nun ein weiteres Experiment
folge, indem sie einem anderen Teilnehmer schmerzhaft laute Geräusche „verabreichen“ können, wobei der Lautstärkepegel vom Probanden einstellbar ist. Es zeigt
sich, dass die Probanden, die ein gewalthaltiges Computerspiel genutzt haben, signifikant höhere Dosen auswählen. Die Kritik an dem Verfahren ist, dass die dort gemessene Gewalt keine reale Gewalt sei, sondern immer noch einen „Spielcharakter“
oder „Als-Ob-Charakter“ aufweisen könnte, sofern die Probanden der Coverstory
nicht so recht glauben schenken.)
Die Annahme, dass die wiederholte Nutzung gewalthaltiger Computerspiele die Nutzer zu aggressiveren Personen mache, wurde bislang weniger ausgiebig getestet, in
den neuerdings vermehrt publizierten Studien finden sich jedoch erste klare Bestätigungen der Annahme. Für das Prädikat einer „hinreichend bestätigten“ Annahme
21
mag es noch zu früh sein, allerdings existieren im Gegenzug kaum Argumente, warum sich alle vier bislang durchgeführten Langzeitstudien irren sollten.
Größe des Effekts. Kritiker argumentieren immer wieder, dass der gefundene Einfluss von gewalthaltigen Computerspielen auf Aggression marginal und also vernachlässigbar wäre. Diese Kritik scheint jedoch aufgrund einiger populärer Irrtümer fehlgeleitet. Generell ist es so, dass sich die Sozialwissenschaft mit komplexen Problemen (z. B. Aggression) beschäftigt. Komplex sind die Probleme, weil sie eigentlich
niemals durch lediglich einen Faktor determiniert werden, sondern stets von einem
Bündel an Faktoren. Aufgabe der Sozialwissenschaft ist es nun, die wichtigsten Faktoren aus diesem Bündel zu benennen und ihre einzelne (bzw. sich im Verbundeffekt
ergebene) Wirkungsstärke zu bestimmen. Es ist bekannt, dass Aggression ein komplexes Problem ist, das von vielerlei Faktoren abhängig ist. Es ist daher bereits ohne
jede Forschung zu dem Thema zu erwarten, dass ein einzelner isoliert betrachteter
Faktor, z. B. die Nutzung gewalthaltiger Computerspiele, nur zu einem bestimmten
Anteil Aggression erklärt. Und dass, will man Aggression vollständig erklären, dieser
Faktor stets im Verbund mit anderen Faktoren zu diskutieren ist.
Vergleicht man die Stärke des in der Meta-Analyse von Anderson (2004) ausgewiesenen Effekts gewalthaltiger Computerspiele mit der Wirkungsstärke anderer, in der
Gesellschaft viel diskutierter Probleme (Bushman & Anderson, 2001), so zeigt sich,
dass der Einfluss von gewalthaltigen Computerspielen auf Aggression ausgeprägter
ist als zum Beispiel der Einfluss des Passivrauchens auf Lungenkrebs, die Auswirkung von Kalziumkonsum auf die Knochenstärke oder der Einfluss von Hausarbeiten
auf die Schulleistung. Zugleich sind die berichteten Zusammenhänge aber geringer
als die Auswirkung gewalthaltiger Fernsehangebote (z. B. bestimmte Horrorfilme) auf
Aggression (r = .31; Paik & Comstock, 1994; Sherry, 2001). Da Risikogruppen (siehe
unten) jedoch dazu neigen, sowohl gewalthaltige Computerspiele als auch gewalthaltige Fernsehangebote zu nutzen, entschärft diese Tatsache die Problematik nicht
(Anderson, Gentile & Buckley, 2007).
Risikogruppen, Risikofaktoren und Verbundeffekte. Tatsächlich müssen zur vollständigen Erklärung von Aggression natürlich viele weitere Faktoren berücksichtigt werden. Generell gelten eine problematische familiäre Situation und psychopathologische Defizite als wichtige Determinanten der Gewaltbereitschaft. Die Nutzung gewalthaltiger Computerspiele muss entsprechend als ein Faktor unter vielen gesehen
werden, der sein Scherflein zur Aggression beiträgt (Hopf, 2004). Gewalthaltige
Computerspiele wirken nicht isoliert von allen anderen Faktoren. Vielmehr ist davon
auszugehen, dass die Nutzung gewalthaltiger Computerspiele mit anderen Risikofaktoren interagiert. In dieser Hinsicht sollte man von einem Aggressionsrisiko sprechen
und von Faktoren, die dieses Risiko bestimmen und deren Wirkung sich, wenn mehrere Faktoren zusammenkommen, auch durchaus multiplizieren kann.
Andere Forscher wie Krahé, Möller und Berger (2006) haben zum besseren Verständnis den Vergleich zum Forschungsstand über Rauchen und Lungenkrebs herangezogen. „Dass Rauchen das Risiko von Lungenkrebs erhöht, gilt als bewiesen;
für gewalthaltige Computerspiele sieht der Forschungsstand ähnlich aus. Dennoch
sterben nicht alle Raucher an Lungenkrebs – und nicht alle Nutzer gewalthaltiger
Computerspiele prügeln sich auf der Strasse. Außerdem kann Lungenkrebs auch
durch andere Faktoren als Rauchen ausgelöst werden, genauso wie Menschen auch
ohne gewalthaltige Computerspiele aggressiv werden. Dennoch erhöht Rauchen das
22
Risiko, an Lungenkrebs zu erkranken. Vielraucher sind gefährdeter als Wenigraucher. Genauso erhöht die Nutzung gewalthaltiger Computerspiele offensichtlich das
Risiko, aggressiv zu denken, zu fühlen und zu handeln.“ (Hartmann, 2008)
Fazit und Ausblick
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Wirkung gewalthaltiger
Computerspiele recht gut erforscht ist und dass die Annahme, dass die Nutzung gewalthaltiger Spiele ein Risiko ist, weil Aggression wahrscheinlicher wird, hinreichend
bestätigt werden konnte. Dieses gilt insbesondere für die Bestätigung kurzfristiger
Wirkungen (und hier insbesondere für ein automatisch aggressiveres Denken und
Fühlen). Es finden sich in jüngster Zeit jedoch auch zunehmend Studien, welche Belege für plausible Langzeitwirkungen finden: regelmäßige Nutzer gewalthaltiger
Computerspiele gehen demnach das Risiko ein, permanent aggressiver zu denken,
zu fühlen und zu handeln. Dieser Forschungsstand wird meines Erachtens kaum
noch in der Sozialwissenschaft diskutiert, d. h., die Mehrheit der wissenschaftlichen
Gemeinschaft stimmt den Erkenntnissen zu. Diskutiert werden jedoch noch Optimierungen. So zum Beispiel, ob die Messung aggressiven Verhaltens, sowohl „im Labor“
als auch in natürlicher Umgebung, hinreichend gültig ist oder noch weiter zu optimieren ist.
Die bestätigten Effekte dürften allerdings, je nachdem um welche Nutzergruppe und
welche Risikogruppe es sich handelt, unterschiedlich stark ausfallen (und auf diesen
Dachverhalt konzentriert sich nun die Forschung). Risikogruppen und Verbundeffekte
von Risikofaktoren sind im Rahmen der Analyse gewalthaltiger Computerspiele noch
unterforscht. Zu klären wäre insbesondere, welche Faktoren (z. B. bestimmte Persönlichkeitseigenschaften) mit der in Computerspielen durchlebten virtuellen Gewalt
interagieren, um auf diese Weise zu besonders deutlichen Steigerungen (oder aber
Abschwächungen) aggressiver Effekte zu führen. Damit zusammen hängt die Frage
nach dem Erleben virtueller Gewalt, die bereits zu Beginn dieses Artikel angerissen
wurde, aber insgesamt ebenfalls noch unterforscht ist (vgl., Hartmann & Vorderer, in
Druck). Noch eingehender zu untersuchen ist zum Beispiel, inwiefern das vom Computerspieler oft geäußerte reflektierende Vermögen, zwischen „Spiel und Wirklichkeit
unterscheiden zu können“, zutrifft, und ob es, sofern es zutrifft, in irgendeiner Weise
die Wirkungsmechanismen beeinflusst, insbesondere da diese ja eher automatisch
ablaufen.
Aufgrund der eher automatischen Wirkungsmechanismen (wie z. B. Priming oder
dem automatischen Erlernen aggressiver Interpretationen) ist auch nicht davon auszugehen, dass bestimmte Nutzergruppen oder Personentypen gänzlich immun gegen die aggressionssteigernden Effekte gewalthaltiger Computerspiele sind. Insbesondere dürfte kein „natürlicher Schutz“ gegen ein aggressiveres Denken und Fühlen
bestehen, da diese reflektierenden Korrekturen und somit einem „besseren Wissen“
nur bedingt unterliegen. Es ist eher denkbar, dass sich bestimmte Personengruppen
darin unterscheiden, ob infolge gewalthaltigen Computerspielkonsums vermehrt automatisch ausgelöstes aggressives Denken und Fühlen zum Gewalthandeln führt oder ob beide Tendenzen nicht doch eher aufgrund moralischer Konflikte und hinreichender Selbstdisziplinierung (also regulativer Fähigkeiten) noch vor einer Gewaltäußerung „gestoppt“ werden. Auch hierzu besteht aber noch Forschungsbedarf.
23
Abschließend ist davon auszugehen, dass die weiterhin emsig betriebene Erforschung des Themas in naher Zukunft der bereits hinreichend bestätigten Erkenntnis,
dass gewalthaltige Computerspiele aggressiv machen, differenzierende Antworten zu
dem „Wann?“, „Wie?“ und „Warum?“ hinzufügen wird.
24
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Erfahrungsbericht zum Thema Internetverhalten der
SchülerInnen an der integrierten Gesamtschule Neumünster-Brachenfeld
Astrid Schulzke – Sozialpädagogin, Neumünster
3.1
Erfahrungsbericht
Die Ausführungen im Kapitel 4.1 sind Teil unserer Schulkonzeption für den Bereich
Sozialpädagogik.
3.1.1 Präventionsarbeit zum Thema Internetnutzung von Kindern
Seit nunmehr fast zehn Jahren arbeite ich mit zwei weiteren Kollegen im sozialpädagogischen Bereich an einer Gesamtschule in Schleswig Holstein. Unsere Schule wird
von 1.250 Schülern im Alter von zehn bis ca. 21 Jahren besucht, die von 110 LehrerInnen dort unterrichtet werden.
In den letzten eineinhalb Jahren werden wir immer mehr mit Problemen konfrontiert,
die durch die Nutzung von Handy, Online-Spielen, Playstation, MP3-Player und Internetforen durch Schüler verursacht werden.
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Ältere Schüler z. B. schlafen im Unterricht ein, weil sie das Wochenende mit
Freunden eine Lahn-Party gefeiert und achtundvierzig Stunden nicht geschlafen haben.
Schüler sind nicht mehr ansprechbar, weil sie mit Knöpfen in den Ohren herumlaufen, aus denen so laut die Musik dudelt, dass man diese noch in gut
zwei Meter Entfernung hören kann.
Das neueste Hobby der Mädchen besteht darin, nebeneinander zu sitzen und
sich gegenseitig sms zu schreiben.
Handy klingelt auch gerne mal im Unterricht.
Kleine Filmchen werden herumgereicht, die heiße Pornofilme oder Gewaltszenen zeigen.
Besonders für die Lehrkörper ist das eine beunruhigende und nervige Angelegenheit.
In Abstimmung mit den Eltern der SchülerInnen wurde daraufhin mittlerweile die Benutzung der Handys und mp3-player in der Schule untersagt und es kehrte wieder
(mehr oder wenig) Ruhe ein.
Bis unsere SchülerInnen das Internetforum "schueler.cc“ entdeckten. Dort sind lt.
Angaben des Betreibers der Seite 1.201 unserer Schüler als Mitglieder angemeldet.
Unsere Schule hält damit den Platz Eins der Region "Norddeutschland".
Die SchülerInnen sind dort nach Schulen und ihren Klassen gruppiert. Jeder hat die
Möglichkeit, sich eine eigene Homepage zu gestalten. Es werden Fotos hoch gela29
den, die den Schüler selbst, seine Freunde, Haustiere und Hobbys dokumentieren.
Ein Klassenchat gibt den Kindern die Möglichkeit, sich direkt mit den anderen Klassenkameraden auszutauschen.
Statt sich nun, wie früher am Nachmittag zu treffen, chatten die Kinder und Jugendlichen lieber über schueler.cc miteinander und da bei vielen Kindern der PC im Kinderzimmer steht, geht das auch gerne mal bis 23:00 Uhr in der Nacht so weiter.
Sie schreiben sich emails dort, gründen Gruppen wie z. B.: "Wer findet den Lehrer
Herrn B. auch blöd" oder " Mögt ihr Oralsex" oder "Deutschland den Deutschen" oder
"Alkohol macht geil". Diesen Gruppen kann man dann beitreten und seinen Kommentar dazu abgeben.
Gerangel der Jungen und "Zickenalarm" der Mädchen gehört für uns Sozialpädagogen zum Alltag und ist in der Regel auch schnell durch ein von uns geleitetes Mediationsgespräch aus der Welt zu schaffen. Nun nehmen diese Streitereien aber eine
andere Qualität an. Aus harmlosen Konflikten wird Mobbing, aus einer verschmähten Liebe wird Stalking!
Weinende kleine zehnjährige Mädchen kommen schon am Morgen zu mir, weil man
sie bei schueler.cc aus der Klasse warf. Dazu muss nämlich nur ein Klassenkamerad
öffentlich einen Antrag stellen und zwei weitere Mitschüler stimmen diesem Antrag
zu: "Wer will nicht, dass Maria weiter in unserer Klasse ist".
Virtuell gehört dieses Mädchen nun nicht mehr in diese Klasse und kann dort nicht
mehr mitschreiben. Nun musste das Mädchen am nächsten Tag feststellen, dass es
auch im realen Leben nicht mehr dazugehört! Niemand spricht in der Schule mit ihr,
alle gehen ihr aus dem Weg. Sucht sie das Gespräch, wird sie beschimpft und geschubst. Fast tagtäglich werden wir mit solchen kindlichen Tragödien konfrontiert.
Andere dürfen zwar "drin" bleiben im virtuellen Klassenleben, werden dort aber übel
beschimpft und bedroht. Dazu wurde sogar eine eigene Sprache entwickelt, die mit
der deutschen Rechtschreibung nicht mehr viel gemein hat. Zitat: "du kannst ihm eh
nciht entkomm irgendwann kriegt er idhc so oder so auch wenn er dann knast wäre
oder so schickt er einmal kollegen zu dir nach hause und ihr seit alle weg !!!!" oder
"fick dich du kleiner hurensohn aller morgen kriegst du richtig auf die fresse und
weißt ja wenn du irgendjemanden den bulln dein freunden oder deinen eltern irgendwas erzählst das ich dich geboxxt hab dann schau ich mit xx vorbei ...dann fickn
wir dich und deine arschgefickten eltern auseinander!!!
Völlig enthemmt schreiben sonst brave Mittelstandskinder Wörter, die ihren Eltern die
Schamesröte ins Gesicht treiben würden. Überhaupt werden besonders die Mütter
der Kinder gerne mit Sprüchen wie (Originalton Zitat)" Deine mudder is so fett die
brauch ne luftmatratze als tanpong" oder "deine Mutter scheißt vor Aldi weil of der
Tür drücken steht" bedacht. Man verletzt grenzenlos und ohne Hemmung!
Was häufig im net beginnt, manchmal auch nur, weil Mimik und Gestik fehlen und zu
Missverständnissen führt, wird am nächsten Tag in der Schule fortgesetzt. Ist es im
net nur die verbale Entgleisung, kommt in der Schule die körperliche Gewalt hinzu.
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Eine andere Variante ist, sich mit der Emailadresse und dem Passwort einer verfeindeten Klassenkameradin dort anzumelden und böse Stimmung zu verbreiten. So
schrieb eine ausländische Schülerin unter dem Namen ihrer ehemaligen Freundin
und nun Feindin in den Klassenchat: "Ausländer sind scheiße und müssen raus aus
Deutschland". Nun gingen natürlich alle auf sie los und drohten Prügel an. Am
nächsten Mittag standen sieben ca. fünfzehnjährige, ausländische Schüler einer nahen Hauptschule auf unserem Schulhof, um das völlig ahnungslose dreizehnjährige
Mädchen zu verprügeln. Denn schueler.cc vernetzt die Schulen unserer Stadt, ja
ganz Deutschlands. Man hat ja Freunde überall, auch wenn man sie nicht wirklich
kennt. Verabredungen zu Gewalttaten in der Realität geschehen nun spielend leicht
im net.
Ganz besonders fällt mir auf, dass sich immer sehr viele andere Schüler mit dem Täter solidarisieren. Das ist sicherlich auch häufig im realen Schulalltag so. Im net
scheint es aber besonders gefahrlos zu sein. Die direkte Reaktion in Form einer
Schelle ist ja auch nicht möglich. So kann auch der Schwächste dort eine große
Klappe riskieren. Oder die Angst nicht mehr dazuzugehören ist noch größer als in
der Wirklichkeit. Je mehr sich das Leben der Kinder in ihrer Freizeit im net abspielt,
desto wichtiger ist es, dort mitzulaufen, sich dem Ton anzupassen!
Mal brennen die Mülleimer vor dem Elternhaus einer Oberstufenschülerin weil sie
sich in den falschen Jungen verliebte. Im Vorwege wurde sie über Wochen in schueler.cc von dessen Freundin und deren Freundinnen bedroht und beschimpft bis sie
sich nicht mehr vor die Tür wagte. Ein anderes Mal muss eine Schülerin wegen Depressionen, verursacht durch Mobbing bei schueler.cc und in der Schule, in psychologische Behandlung, eine andere wechselt lieber gleich die Schule.
Der aktuellste Fall gipfelte in einer Alkoholvergiftung eines zwölfjährigen Jungen. Er
wurde bei schueler.cc tagtäglich von einem Mitschüler bedroht. In der Schule bemerkte niemand etwas von dem Geschehen. Der Täter war klug genug, sich dort
nicht (noch mehr) zu Schulden kommen zu lassen. Schließlich zwang dieser Schüler
den kleinen und schmächtigen Jungen in der Schule, im Jungenklo, eine halbe Flasche Wodka auszutrinken. Um ihn herum standen vier andere Klassenkameraden,
die nicht eingriffen!
Ein weiterer Aspekt, den viele Eltern und Lehrer gar nicht wahrnehmen und bemerken, ist die sexuelle Belästigung, hauptsächlich an jüngeren Mädchen, im net. Heute kleiden sich auch schon zehn- bis zwölfjährige Mädels teilweise sehr freizügig und
erwachsen, sich schminken gehört zum Alltag. Etwas ganz Normales, sie sind in der
Pubertät und wollen ihre Reize schon ein wenig spielen lassen. Leider setzen sie
nicht nur aufreizende Fotos ins net, sie diskutieren auch schon eifrig in Foren mit,
wenn es um sexuelle Praktiken und reale Erfahrungen geht. Im Singletreff bei schueler.cc schrieb ein zwölfjähriges Mädchen doch tatsächlich, sie suche einen MANN. In
der Realität würden wohl Oberstufenschüler nicht mit kleinen Sechsklässlerinnen die
Vorzüge von Oralverkehr diskutieren, nehme ich mal an. Im net schon, wie ich selbst
lesen konnte!!!
Schülerinnen des sechsten Jahrgangs zeigten mir Emails von zwanzigjährigen?
Männern, die sie ganz ungeschminkt anbaggerten und sie zu realen Treffen aufforderten. Es ist für jeden der es will, ganz einfach, sich bei schueler.cc ein Fake-Profil
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zu erstellen. Auch ich bin ja dort im Moment unter Pseudonym vertreten, damit ich
nicht wieder rausgeworfen werde.
3.1.2 Information der Eltern auf Elternversammlungen/ Verteilen von Informationsmaterial
Es zeigte sich hier, dass viele Eltern keine Ahnung haben, was ihre Kinder im Internet treiben. Sie reagierten geschockt, als ich einige Auszüge aus den Klassenchats
und Foren vorlas. Weiterhin musste ich feststellen, dass auch viele Eltern die
Rechtslage, was das Einstellen von fremden Fotos und Videos betrifft, nicht kannten.
Sie wussten zum Teil nicht, dass ihre Kinder sich damit strafbar machen. Es ist wichtig, den Eltern klarzumachen, dass das Beleidigen und Bedrohen von Mitschülern
vom PC zu Hause geschieht und die Schule deshalb nur begrenzt Einfluss auf das
Verhalten der Kinder hat. Hier sind die Eltern gefordert, sie müssen ihren Kindern
klarmachen, dass es ihre Pflicht ist, auch dort auf sie aufzupassen.
Weiterhin ist es wichtig, dass Eltern sich die Fotos ihrer Kinder anschauen. Besonders die Mädchen stellen teilweise sehr aufreizende Bilder von sich ins net. Auch z.
B. bei schueler.cc treiben sich eine Menge Menschen herum, die ihre sexuellen Neigungen an Kindern befriedigen wollen. Schon kleine elfjährige Mädchen zeigten mir
emails von neunzehnjährigen Männern, die sie zum (Originalton) Ficken aufforderten!
Eltern müssen wissen, dass es Foren für Magersüchtige gibt, in denen sich die
(hauptsächlich) Mädchen Tipps geben, wie sie am effektivsten noch mehr abnehmen
können.
Es gibt Foren für Selbstmörder, wo sich Kinder und Jugendliche zum gemeinsamen
Freitod verabreden!
Besonders bei schueler.cc fand ich eine Menge rechtsradikaler Propaganda-Profile.
Die Betreiber kümmern sich nicht oder kaum darum. Diese Menschen gehen gezielt
an die Schüler heran und versuchen, sie für ihre Organisation zu gewinnen.
Dieses sollte auf Elternversammlungen thematisiert werden. Wissen der Eltern bedeutet Schutz für ihre Kinder.
3.1.3 Einstündiger Informationsunterricht im Computerraum der Klasse fünf
bis acht/Verteilen von Informationsmaterial
Hier zeigte sich, dass eine enorme Steigerung der Internetpräsenz ab Klasse sechs
stattfindet. In den fünften Jahrgängen sind es eher die Jungen, die den Computer für
ihre Ballerspiele benutzen. Die Mädchen beginnen ab Klasse sechs ihre Aktivitäten
bei Schueler.cc aufzunehmen und zu chatten.
Sinnvoll zeigte sich, die Klassen geschlechtsspezifisch zu informieren. Die Mädchen
sind sehr viel offener, wenn die Jungen nicht dabei sind. Mir wurden bereitwillig und
vertrauensvoll ihre teilweise aufreizende Fotos und empfangenen Mails gezeigt. Se32
xuelle Belästigung durch ältere Jugendliche und junge Erwachsene ist an der Tagesordnung!
Gemeinsam mit den Kindern entferne ich ihre Fotos aus den Profilen und kläre sie
über die Gefahren und über rechtswidriges Verhalten im net auf.
Ganz wichtig ist es, den Kindern klarzumachen, dass sich hinter jedem Profil ein Fake verbergen kann.
Weiterhin bin ich selbst Mitglied bei schueler.cc. Dort trete ich in direkten Kontakt
über Mail oder über die Klassenchats mit den Kindern. Seitdem die jüngeren Jahrgänge davon wissen, haben sich das Verhalten und der Umgangston dort schon sehr
entspannt ☺.
Durchgeführte Infostunden in Klasse: 5 B, 5 F, 6 B, 6 D, 6 F / vom 24.11.-26.11.
Klasse 7 C und 7 B
Elternabende: 6 D und 6 B
3.1.4
Weitere Arbeitsschwerpunkte
1. Beratung für Schülerinnen und Schüler, Eltern und Lehrkräfte
Die Schulsozialarbeiter sind eine Anlaufstelle für Schülerinnen und Schüler sowie deren Eltern bei unterschiedlichen Fragestellungen: Berufswahl,
Konflikte im Elternhaus und in der Schule, Leistungsanforderungen, Migration, Pubertät, Streit unter Schülern, Ausgrenzung, Freizeitgestaltung,
Perspektivlosigkeit nach der Schule im Rahmen der lebenslageorientierten
Beratung, usw.
•
Sie intervenieren in Krisen bei Schülerinnen und Schülern in enger Abstimmung mit den Klassenlehrkräften und der Schulleitung.
•
Sie leisten konstruktive Hilfe und entwickelt gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern Bewältigungsstrategien.
•
Sie bieten sich als Mediatoren bei Konflikten in der Schule an.
•
Sie beraten Eltern und Erziehungsberechtigte bei Erziehungsfragen.
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Sie beraten Lehrerinnen und Lehrer im Rahmen der kollegialen Beratung und Intervision.
•
Sie leiten Informationsmaterial über Hilfemöglichkeiten in der Jugendhilfe an Klassenlehrkräfte, Schülerinnen und Schüler und deren Eltern
weiter.
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2. Moderation der Schnittstelle zwischen Schule und Jugendhilfe
•
Die Schulsozialarbeiter koordinieren notwendige Hilfemaßnahmen zwischen Jugendamt und Schule.
•
Sie verfassen Sozialberichte über Schülerinnen und Schüler in enger
Abstimmung mit den Klassenlehrkräften.
•
Sie koordinieren und vermitteln sozialpädagogische Hilfemaßnahmen
des Jugendamtes und anderer Fach- und Beratungsstellen.
3. Sozialpädagogische (Gruppen-) Arbeit
3.1 Ziele der pädagogischen Gruppenarbeit
Die sozialpädagogische Gruppenarbeit zielt vor allem auf das Einüben sozialer Kompetenz, das Akzeptieren von Regeln des Miteinanders, das Erlernen
von Konfliktfähigkeit, das Erfahren positiver Gruppenerlebnisse, die Stärkung
des Gruppengefühls und das Entdecken und Ausbilden eigener Interessen ab.
3.2. Gruppenarbeit in den Jahrgängen 5. – 13.
•
Die Sozialpädagogen betreuen im „Kompensatorischen Pool“ den 5.
Jahrgang. Durch regelmäßige sozialpädagogische Angebote in Kleingruppen und mit der gesamten Klasse (auch gemeinsam mit den Lehrern) soll der Aufbau einer Beziehungsbasis zu den Kindern, zur Krisenprophylaxe sowie zur Vermittlung von Formen sozialen Lernens gefördert werden.
•
Sie koordinieren und begleiten Klassen in den PEP-Garten.
•
Sie begleiten Klassenlehrer auf Klassenfahrten.
4. Präventionsarbeit in den Jahrgängen 5. -13.
•
Die Schulsozialarbeiter planen und leiten Seminare zum Thema „Sexualpädagogik“ im 7., 8. und 9. Jahrgang.
•
Sie planen und führen Seminare mit dem Schwerpunkt Suchtprävention
in Zusammenarbeit mit den Klassenlehrern im 7. Jahrgang durch.
•
Sie planen und leiten Seminare zum Thema Medienkonsum in den
Klassen 5 bis 8.
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5. Sozialpädagogische Freizeitangebote
3.2
•
Die Schulsozialarbeiter koordinieren den Jahresplan im Bereich Neigungsgruppen/AGs.
•
Sie leiten, im Rahmen ihrer persönlichen Möglichkeiten, Neigungsgruppen/AGs.
•
Sie schaffen, in Absprache mit der Schulleitung, Spiele, Spielgeräte
und Bastelmaterialien für den Freizeitbereich an.
•
Sie betreuen, gemeinsam mit SchülerInnen, die Disco in den Nachmittagsstunden.
•
Sie betreuen SchülerInnen in den Randstunden in der Spielothek.
Probleme und Gefährdungen
3.2.1 Internetsucht
Das Internet bietet jungen Menschen ungeahnte Möglichkeiten – speziell denjenigen,
die Probleme haben, zu Gleichaltrigen Kontakt aufzunehmen. Für computerversierte
Kinder ist das Internet die ideale Plattform: Aussehen und sportliche Fähigkeiten sind
hier nicht von Bedeutung; das Selbstwertgefühl steigt. Exzessive Computernutzung
kann jedoch auch zur Isolation von schüchternen Kindern führen. Hausaufgaben,
Sport und Schlaf werden vernachlässigt, der Kontakt zu Gleichaltrigen reduziert sich
auf ein Minimum. Eltern und Lehrer werden sich des Problems häufig erst sehr spät
bewusst. Der Grund dafür ist, dass es relativ einfach ist, Online-Aktivitäten zu verbergen. Darüber hinaus wird Internetsucht im Allgemeinen noch nicht als solche anerkannt.
Stellen Sie Regeln für die Computernutzung zu Hause auf und versuchen Sie, einen
Ausgleich durch körperliche Bewegung zu schaffen. Stellen Sie den Computer nicht
in das Kinderzimmer, sondern an einen Platz in Ihrer Wohnung, der häufig frequentiert wird und somit eine schnelle Kontrolle ermöglicht.
Fragen Sie sich, wie Sie selbst mit dem Internet umgehen. Sind Sie täglich mehrere
Stunden online? Wenn Sie diese Frage mit Ja beantworten müssen, ist es nicht verwunderlich, wenn Ihr Kind Ihrem Beispiel folgt.
3.2.2 Belästigung im Internet
Belästigung im Internet wird auch als Cyberbullying (Cyberterror) oder Griefing bezeichnet und ist unter Teenagern eine fast schon normale Umgangsform. Wenn eine
Belästigung stattfindet, haben Sie die Möglichkeit, den Absender dieser Nachrichten
zu blockieren. Verwenden Sie dazu die Blockieroption, die Bestandteil vieler E-Mailund Instant-Messaging-Programme ist. Speichern Sie sämtliche E-Mail-Nachrichten,
die Belästigungen enthalten, und leiten Sie sie an Ihren E-Mail-Service-Provider wei-
35
ter. Die meisten Anbieter verfügen über entsprechende Nutzungsrichtlinien, die keine
Belästigungen zulassen.
Wenden Sie sich bei Belästigung in Form von Kommentaren auf einer Website an
Ihren Internetdienstanbieter (ISP), und bitten Sie ihn bei der Suche des ISP, der für
die entsprechende Website als Host dient, um Hilfe. Setzen Sie sich anschließend
mit dem entsprechenden ISP in Verbindung, und konfrontieren Sie ihn mit den beleidigenden und unangemessenen Kommentaren. Wenden Sie sich außerdem an Ihre
zuständige Polizeidienststelle. Belästigung ist ein Verbrechen – sowohl in der wirklichen Welt als auch im Internet. Es ist illegal, wiederholt mit Personen in Kontakt zu
treten, wenn die Art des Kontakts bei diesen Personen Angst um die eigene oder um
die Sicherheit anderer hervorruft.
3.2.3 Im Internet Einkaufen
Bevor Sie Ihrem Kind das Online-Shopping mit Ihrer Kreditkarte gestatten, sollten Sie
klare Richtlinien zum Einkaufen im Internet definieren. Erklären Sie, was beachtet
werden muss, um Transaktionen sicher durchführen zu können.
Machen Sie Ihrem Kind deutlich, welche Anzeichen auf einer Website dafür sprechen, dass das Preisgeben von Kreditkarteninformationen auf dieser Seite sicher ist.
Achten Sie vor dem Einkauf auf einer Website auf Folgendes:
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Ein Prüfsiegel wie das von Better Business Bureau (oder eines anderen Unternehmens) mit einer Verknüpfung auf die entsprechende Website.
•
Ein geschlossenes Schlosssymbol („Sichere Website“) in der unteren Ecke
der Website, das darauf hinweist, dass finanzielle Transaktionen nur von Ihnen und der entsprechenden Seite angezeigt werden können.
•
Ein in der Website-Adresse integriertes „https“ (wobei „s“ für sicher steht), das
im Adressfeld Ihres Browsers angezeigt wird.
Da die oben aufgeführten Elemente gefälscht sein können, ist es wichtig, Kinder zum
Fragen zu ermutigen, bevor sie Online-Einkäufe tätigen. Die Entscheidung, ob die
entsprechende Website sicher ist oder nicht, liegt dann bei Ihnen. Vergewissern Sie
sich, dass Ihr Browser die 128-Bit-Verschlüsselung unterstützt. Damit wird Ihre Kreditkartennummer vor dem Versenden automatisch verschlüsselt.
3.2.4 Belästigung durch Pädophile
Wenn Kinder Chaträume, E-Mails und Instant Messaging nutzen, besteht die Gefahr,
dass sie in die Fänge von Pädophilen geraten.
Die Anonymität des Internets hat zur Folge, dass sich zwischen unbekannten Menschen sehr schnell Vertrauen und Intimität entwickeln können. Pädophile nutzen diese Anonymität, um Onlinebeziehungen mit unerfahrenen jungen Menschen aufzubauen.
Wenn Sie sich der Risiken im Zusammenhang mit der Onlinekommunikation bewusst
sind und wenn Sie die Internetaktivitäten Ihrer Kinder im Auge behalten, können Sie
helfen, Ihre Kinder vor Missbrauch zu schützen.
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Wie arbeiten Pädophile im Internet?
Pädophile nutzen Chaträume, Instant Messaging, E-Mails oder Diskussionsforen, um
Kontakte zu Minderjährigen herzustellen. Für viele Jugendliche sind Selbsthilfeforen
im Web eine Möglichkeit, sich über ihre Probleme auszutauschen. Diese Onlineforen
werden deshalb auch häufig von Pädophilen besucht, die dort nach potenziellen Opfern suchen.
Die Pädophilen verfolgen meist die Strategie, ihre Opfer Schritt für Schritt zu „verführen“: sie schenken ihnen Aufmerksamkeit, zeigen Zuneigung, sind freundlich und
machen Geschenke. Häufig investieren sie dafür viel Zeit, Geld und Energie. Sie
kennen sich bei den neuesten Musikentwicklungen und Hobbys von Kindern und Jugendlichen aus, hören zu und zeigen Verständnis für altersspezifische Probleme. Um
die Hemmungen ihrer Gesprächspartner langsam abzubauen, integrieren sie nach
und nach sexuelle Inhalte in ihre Unterhaltungen oder zeigen ihnen pornografische
Bilder.
Einige Pädophile gehen auch schneller vor und beginnen sofort eindeutig sexuelle
Unterhaltungen. Bei dieser direkten Vorgehensweise kommt es mitunter zu Belästigungen oder zur dauerhaften Verfolgung der Jugendlichen (so genanntes „Stalking“).
Manche Pädophile verfolgen auch das Ziel, nach der Onlinekontaktaufnahme persönlich mit ihren Opfern in Kontakt zu kommen.
Wer ist gefährdet?
Für im Internet agierende Pädophile sind Jugendliche die interessanteste und daher
am stärksten gefährdete Altersgruppe. Diese Gruppe ist dabei, ihre Sexualität zu
entdecken, sich allmählich der elterlichen Kontrolle zu entziehen und nach neuen
Beziehungen außerhalb der Familie zu suchen. Unter dem Schutzmantel der Anonymität sind sie online eher bereit, Risiken einzugehen, ohne sich der möglichen
Folgen bewusst zu sein.
Junge Leute, die für eine Ansprache durch Pädophile im Internet am meisten gefährdet sind, zeichnen sich am ehesten durch folgende Merkmale aus:
Sie haben wenig Erfahrung mit der Nutzung der Onlinekommunikationsmittel und
kennen die Umfangsformen im Internet („Netiquette“) nicht.
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Sie sind aggressive Computerbenutzer.
Sie probieren gern Neues aus und gehen dabei auch gern an ihre Grenzen.
Sie suchen aktiv nach Aufmerksamkeit und Zuneigung bzw. Anerkennung.
Sie sind rebellisch.
Sie sind isoliert oder einsam.
Sie sind neugierig.
Sie zweifeln an ihrer sexuellen Orientierung.
Sie lassen sich leicht von Erwachsenen verleiten.
Sie fühlen sich von Subkulturen angezogen, die sich von der Welt ihrer Eltern
unterscheiden.
Viele Jugendliche sind oft der Überzeugung, dass sie die möglichen Gefahren kennen, in Wirklichkeit aber verhalten sich bei Onlinebeziehungen oft sehr naiv.
37
Wie können Eltern das Risiko minimieren, dass ihre Kinder zum Opfer werden?
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Sprechen Sie mit Ihren Kindern über Pädophile und die potenziellen Gefahren, die im Internet lauern.
Verwenden Sie Jugendschutzsoftware, die in neuen Betriebssystemen wie
Windows Vista integriert ist, oder die zum kostenlosen Download bereitsteht,
z. B. Windows Live Family Safety Settings.
Bestehen Sie darauf, dass Ihr Kind sich an die Altersbeschränkung auf Kontaktwebsites hält. Das empfohlene Alter zur Anmeldung bei den Kontaktwebsites wie Windows Live Spaces oder MySpace liegt in der Regel bei 13 Jahren.
Kinder unter 13 Jahren sollten diese Websites nicht nutzen.
Jüngere Kinder sollten keine Chaträume besuchen – das Risiko ist zu groß.
Wenn Ihre Kinder älter werden, sollten Sie ihnen gut überwachte Chaträume
zeigen. Ermutigen Sie auch Ihre jugendlichen Kinder, überwachte Chaträume
zu nutzen.
Wenn sich Ihre Kinder an Chats beteiligen, sollten Sie wissen, um welche
Chaträume es sich handelt und mit wem sie sich dort unterhalten. Beobachten
Sie selbst diese Chatbereiche, um zu erfahren, welche Arten von Unterhaltung
dort stattfinden.
Weisen Sie Ihre Kinder an, niemals den öffentlichen Bereich eines Chatraums
zu verlassen. Viele Chaträume bieten private Bereiche an (oft auch „Flüsterräume“ genannt), in denen Benutzer mit nur einer Person chatten können. Die
Unterhaltungen in solchen privaten Bereichen können nicht überwacht werden.
Stellen Sie den Computer mit dem Internetanschluss in einem gut zugänglichen Bereich des Hauses bzw. der Wohnung auf – niemals im Kinderzimmer.
Es ist viel schwieriger für Pädophile, eine Beziehung zu Ihrem Kind aufzubauen, wenn der Computerbildschirm gut einsehbar ist. Selbst wenn Sie den
Computer im Wohnbereich aufgestellt haben, bleiben Sie dabei, wenn Ihr Kind
im Internet ist.
Wenn Ihre Kinder noch jünger sind, sollten sie keine eigenen E-Mail-Konten
besitzen, sondern E-Mails nur unter der Adresse Ihrer Familie erhalten. Bei
etwas älteren Kindern können Sie Ihren Internetanbieter (ISP) bitten, eine separate E-Mail-Adresse einzurichten, bei der die E-Mails Ihrer Kinder trotzdem
mit dem Familienkonto verwaltet werden.
Fordern Sie Ihre Kinder auf, nie auf Instant Messaging-Nachrichten oder EMails von Fremden zu antworten. Wenn Ihre Kinder Computer außerhalb Ihres Aufsichtsbereichs nutzen – z. B. in öffentlichen Bibliotheken, Schulen oder
bei Freunden zu Hause – sollten Sie die Schutzmaßnahmen kennen, die auf
diesen Computern zum Einsatz kommen.
Geben Sie Ihren Kindern nicht die Schuld, wenn alle Vorsichtsmaßnahmen
nichts genützt haben und Ihre Kinder doch Kontakt mit einem Pädophilen hatten: die alleinige Verantwortung liegt immer auf der anderen Seite. Ergreifen
Sie geeignete Maßnahmen, um Ihr Kind vor einem weiteren Kontakt mit dieser
Person zu schützen.
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Wie können Ihre Kinder das Risiko senken, zum Opfer zu werden?
Ihre Kinder selbst können eine ganz Reihe von Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, um
nicht zum Opfer eines Pädophilen zu werden. Dazu zählen:
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Keine Bilder aus unbekannten Quellen herunterladen – es könnte sich dabei
um pornografisches Material handeln.
E-Mail-Filter verwenden.
Unverzüglich einen Erwachsenen kontaktieren, wenn sich aus einer Onlineaktivität ein Gefühl der Unsicherheit oder Angst ergibt.
Einen geschlechtsneutralen Anzeigenamen verwenden, der nicht sexuell verführerisch wirkt und aus dem keine persönlichen Daten entnommen werden
können.
Nie persönliche Daten von sich selbst (einschließlich Alter und Geschlecht)
oder Angaben zur Familie online weitergeben; keine persönlichen Profile ausfüllen.
E-Mail-Kommunikation, Unterhaltungen per Instant Messaging oder Chat sofort stoppen, falls jemand anfängt, Fragen zu stellen, die zu persönlich oder
sexueller Natur sind.
Platzieren Sie die Onlinevereinbarungen Ihrer Familie in der Nähe des Computers, um Ihre Kinder stets daran zu erinnern, dass sie ihre persönlichen Daten im Internet schützen sollen.
Wie erfahren Sie, dass Ihr Kind zum Ziel geworden ist?
Folgende Anzeichen lassen darauf schließen, dass Ihr Kind im Internet zum Ziel eines Pädophilen geworden ist:
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Ihr Kind verbringt sehr viel Zeit online. Die meisten Opfer von Pädophilen,
verbringen sehr viel Zeit online, insbesondere in Chaträumen; sie schließen
dabei oft ihre Zimmertür und erzählen nicht (mehr), was sie am Computer machen.
Sie finden pornografische Bilder auf dem Familiencomputer. Pädophile verwenden häufig pornografische Inhalte, um Diskussionen mit potenziellen Opfern zu beginnen; bei solchen Inhalten kann es sich um Websites, Fotos und
E-Mail-Nachrichten handeln.
So nutzen Pädophile z. B. Fotos mit kinderpornografischen Inhalten, um ihre Opfer
davon zu überzeugen, dass Sex zwischen Erwachsenen und Kindern völlig normal
ist. Denken Sie auch daran, dass die Dateien mit pornografischen Inhalten auch auf
externen Datenträgern gespeichert sein können.
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Ihr Kind erhält Telefonanrufe von Personen, die Sie nicht kennen, oder führt
Telefongespräche mit Anschlüssen, die Ihnen unbekannt sind. Nachdem ein
Pädophiler online Kontakt zu Ihrem Kind hergestellt hat, passiert es mitunter,
dass er um Telefonsex oder ein persönliches Treffen bittet. Wenn Kinder zögern, ihre eigene Telefonnummer mitzuteilen, erhalten sie oft die Telefonnummer der betreffenden Person.
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Einige Pädophile haben sogar gebührenfreie 0800-Nummern eingerichtet, damit sie
von potenziellen Opfern angerufen werden können, ohne dass die Telefonrechnung
steigt und dadurch die Gespräche entdeckt werden. Andere wiederum bitten die Kinder, ein R-Gespräch zu führen. Anhand des Anrufernamens und der Rufnummernanzeige finden sie dann problemlos die Telefonnummer des Kindes heraus.
Erlauben Sie Ihren Kindern auf keinen Fall, sich ohne Ihre Aufsicht mit Fremden zu
treffen, die sie im Internet kennen gelernt haben.
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Ihr Kind erhält Post, Geschenke oder Pakete von jemandem, den Sie nicht
kennen. Häufig senden Pädophile Briefe, Fotos und Geschenke an ihre potenziellen Opfer. Mitunter schicken sie Kindern sogar Flugtickets, um sie zu
einem persönlichen Treffen zu verleiten.
Ihr Kind zieht sich von der Familie und von Freunden zurück oder macht
schnell den Computermonitor aus, wenn ein Erwachsener den Raum betritt.
Im Web agierende Pädophile geben sich oft viel Mühe, einen Keil zwischen
die Kinder und ihre Familien zu treiben; häufig bauschen sie dazu kleine häusliche Probleme auf, um die Kinder auf ihre Seite zu ziehen. Sexuell belästigte
Kinder neigen dazu, sich sozial zurückzuziehen und depressiv zu werden.
Ihr Kind verwendet das Onlinekonto einer anderen Person Auch Kinder, die zu
Hause keinen Zugang zum Internet haben, können in Kontakt mit Pädophilen
kommen, wenn sie bei Freunden oder in Bibliotheken im Internet surfen. Pädophile stellen mitunter ihren Opfern ein Benutzerkonto bereit, über das sie
kommunizieren können.
Was können Sie tun, wenn Ihr Kind zum Ziel geworden ist?
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Sollte Ihr Kind von einem Unbekannten pornografische Bilder erhalten oder
mit E-Mails oder über Instant Messaging sexuell bedrängt werden, benachrichtigen Sie Ihre örtliche Polizeidienststelle. Um die polizeilichen Ermittlungen
zu unterstützen, sammeln Sie alle verfügbaren Informationen einschließlich EMail-Adressen, Webadressen und Chatprotokolle.
Überprüfen Sie Ihren Computer auf pornografische Dateien und auf jede Art
sexueller Kommunikation. Dies sind oft ernste Warnhinweise.
Kontrollieren Sie regelmäßig den Zugang Ihres Kindes zu sämtlichen Onlinekommunikationsdiensten wie Chaträumen, Instant Messaging und E-Mail. Im
Internet agierende Pädophile treffen sich mit ihren potenziellen Opfern normalerweise zunächst in Chaträumen, bevor sie dann die Kommunikation über EMail oder Instant Messaging fortsetzen.
Quelle: Ein Teil der Informationen in diesem Dokument wurde der USamerikanischen FBI-Publikation „A Parent's Guide to Internet Safety“ entnommen.
3.3
Internet-Tipps und Infos für Eltern
Was 9- bis 12-Jährige im Internet tun:
Kinder dieser Altersgruppe nutzen das Internet zur Recherche für Schulprojekte.
Darüber hinaus laden sie aus dem Internet Musik herunter, schreiben E-Mails, spie40
len Onlinespiele und stimmen auf Fansites für ihren Lieblingsstar. Bevorzugtes
Kommunikationsmittel der 9- bis 12-Jährigen ist das Instant Messaging (IM).
3.3.1 Sicherheitstipps
Im Folgenden finden Sie Tipps für den sicheren Umgang Ihres Kindes/Ihres Schülers
mit dem Internet:
1.
Sie sollten sich darum bemühen, mit Ihren Kindern offen und mit einer positiven Einstellung zu sprechen. Unterhalten Sie sich mit ihnen über Computer
und bleiben Sie offen für ihre Fragen und ihren Wissensdurst.
2.
Erstellen Sie zusammen mit Ihrem Kind eine Liste mit Regeln zur Internetnutzung.
3.
Stellen Sie den Computer nicht in das Kinderzimmer, sondern an einen Platz
in Ihrer Wohnung, der häufig frequentiert wird.
4.
Nutzen Sie Programme zum Filtern von Webinhalten (z. B. die Jugendschutzeinstellungen in Windows Vista oder Windows Live OneCare – Sicherheit für die Familie) als Ergänzung – nicht als Ersatz – zur elterlichen Kontrolle.
5.
Sprechen Sie mit Ihrem Kind über Kontaktwebsites. Das empfohlene Alter
zur Anmeldung bei den Kontaktwebsites liegt in der Regel bei 13 Jahren.
Kinder unter 13 Jahren sollten diese Websites nicht nutzen. Verlassen Sie
sich nicht auf die Dienste selbst, wenn Sie verhindern möchten, dass Ihr Kind
sich dort anmeldet.
6.
Verwenden Sie den in Internet Explorer integrierten Popupblocker, um Ihre
Kinder
vor
anstößigen
Popupfenstern
zu
schützen.
Mit Windows Defender können auch Popupfenster geblockt werden, die angezeigt werden, wenn Sie nicht im Internet surfen.
7.
Sprechen Sie mit Ihrem Kind über seine Internetbekanntschaften und Onlineaktivitäten genauso, wie Sie mit ihm über seine „realen“ Freunde und Aktivitäten sprechen würden.
8.
Machen Sie Ihrem Kind unmissverständlich deutlich, dass es sich mit Freunden aus dem Internet nicht persönlich treffen darf.
9.
Bestehen Sie bei Ihrem Kind darauf, dass es sich ausschließlich auf seriösen
Kinderwebsites in überwachten Chaträumen aufhalten darf.
10. Ermahnen Sie Ihr Kind, keinerlei persönliche Informationen preiszugeben –
weder beim Schreiben von E-Mails, beim Aufenthalt in Chaträumen, beim Instant Messaging, beim Ausfüllen von Registrierungsformularen und persönlichen Profilen noch bei der Teilnahme an Gewinnspielen.
41
11. Verbieten Sie Ihrem Kind das Herunterladen von Programmen ohne Ihre
ausdrückliche Erlaubnis – es könnte unabsichtlich Spyware oder Computerviren herunterladen. Klären Sie Ihr Kind darüber auf, dass das Weitergeben
von Dateien oder Herunterladen von Text, Bildern oder Filmen aus dem Internet gegen bestehende Urheberrechtsgesetze verstoßen kann.
12. Um zu verhindern, dass Ihr Kind ohne Ihre Erlaubnis bestimmten Onlineaktivitäten nachgeht, richten Sie für Ihr Kind ein eingeschränktes Benutzerkonto
ein.
13. Sprechen Sie mit Ihrem Kind über Pornografie im Internet und verweisen Sie
es auf positive Websites zu Themen wie Gesundheit und Sexualität.
14. Bestehen Sie darauf, dass Sie Zugriff auf die E-Mail- und Instant-MessagingKonten Ihres Kindes haben, und vergewissern Sie sich, dass es sich nicht
mit Fremden unterhält.
15. Sprechen Sie mit Ihrem Kind über verantwortungsbewusstes und ethisch korrektes Verhalten im Internet. Es sollte das Internet nicht dazu verwenden,
Klatsch zu verbreiten und andere zu schikanieren oder zu ängstigen.
3.3.2 Familienabkommen zur Nutzung des Internets
Ich werde:
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•
•
•
•
mit meinen Eltern über die Regeln zur Internetnutzung sprechen, z. B. welche
Sites ich besuchen darf, welche Aktivitäten mir erlaubt sind, wann ich surfen
darf und wie lange ich online bleiben darf ( ___ Minuten oder ___ Stunden).
ohne die Erlaubnis meiner Eltern keine persönlichen Informationen wie meine
Adresse, Telefonnummer, Anschrift oder Telefonnummer des Arbeitsplatzes
meiner Eltern, Kreditkartennummern oder Name und Standort meiner Schule
preisgeben.
meinen Eltern sofort Bescheid sagen, wenn ich im Internet etwas sehe oder
erhalte, was mich beunruhigt oder mir bedrohlich erscheint (z. B. in E-MailNachrichten, auf Websites oder auch in Postsendungen von Internetfreunden).
ohne die Erlaubnis meiner Eltern niemals persönlich jemanden treffen, den ich
im Internet kennen gelernt habe.
ohne die Erlaubnis meiner Eltern keine Bilder von mir oder anderen Familienmitgliedern über das Internet oder den Postweg an andere Personen versenden.
meine Internetkennwörter mit Ausnahme meiner Eltern an niemanden (nicht
einmal an meine besten Freunde) weitergeben.
beim Surfen nichts tun, was andere verletzen oder ärgern könnte oder gegen
das Gesetz verstößt.
ohne die ausdrückliche Erlaubnis meiner Eltern keinerlei Daten von CDs oder
aus dem Internet herunterladen, installieren oder kopieren.
ohne die Erlaubnis meiner Eltern keine kostenpflichtigen Internetaktivitäten
unternehmen.
42
•
meinen Eltern meine Internet-Anmeldenamen und Chatnamen mitteilen (siehe
nachstehende Liste):
_____________________
_____________________
_____________________
_____________________
Name (Kind) _______________________ Datum ____________
Eltern oder Erziehungsberechtigte _______________________
Datum ____________
3.3.3 Tipps zum Chatten
Chatte am Anfang nicht allein!
Frag deine Eltern oder älteren Geschwister, ob sie dir helfen.
Such dir einen kleinen Chat, in dem jemand aufpasst!
Die Aufpasser (Moderatoren) achten darauf, dass alle freundlich sind. Sie helfen dir,
wenn du nicht zurechtkommst.
Geh nicht in Chats für Erwachsene!
Oft werden dort unangenehme Sachen geschrieben. Katrin (14 Jahre) hat Folgendes
erlebt:
"Einmal hat einer mich mit blöde Kuh und Nutte beschimpft. Da bin ich sofort aus
dem Chat. Und obwohl ich schon 14 bin, gehe ich lieber in Kinder-Chats, weil ich dort
nie dumm angemacht werde."
Denk dir einen guten Spitznamen aus!
Der Nickname sollte reine Fantasie sein: z. B. ein Name aus deinem Lieblingsbuch,
Lieblingsfilm oder ein lustiges Wort. Dein richtiger Name ist dein Geheimnis.
Verrate nie deine Adresse, Telefonnummer und deinen Nachnamen.
43
Janine (12 Jahre) hat erlebt, was dann passieren kann:
"Ich habe jemandem gesagt, wie ich heiße und in welchem Ort ich wohne! Er wohnte
auch dort und fragte mich immer: „Wo wohnst du genau? “ Ich habe ihm aber nichts
gesagt. Ich hatte ziemliche Angst, dass er plötzlich vor der Tür steht."
Sei freundlich, aber bleib auch misstrauisch!
Verhalte dich so freundlich, wie du auch im richtigen Leben bist. Aber glaube nicht
alles, was jemand im Chat über sich erzählt. Das ist manchmal geflunkert.
Triff dich nicht mit Leuten aus dem Chat!
Man kann nie wissen, wer sich dahinter versteckt. Darauf ist Cora (11 Jahre) reingefallen:
"Ich habe mich mit einem Mädchen aus dem Chat verabredet, das Pferde auch sehr
liebte. Es kam aber ein Junge, der mindestens schon über 20 war. Zum Glück war
meine Mutter dabei. Ich rate allen: Dass sie sich nie mit jemandem treffen, den sie
aus dem Chat kennen. Das ist ein großer FEHLER."
3.4 Zusammenfassung der Erfahrungen aus dem Präventionsprogramm
Im Moment gehe ich mit den Klassen 5 - 8 jeweils für eine Stunde in unseren Computerraum. Dort informiere ich die Schüler über die Gefahren, die im net auf sie warten könnten. Außerdem kläre ich sie in kindgerechter Weise darüber auf, was man
dort darf und was nicht. Zusätzlich bekommen alle ein mehrseitiges Informationspaper in die Hand. Dort stehen auch Informationen für die Eltern drauf. Da bei uns über
tausend SchülerInnen bei Schüler.cc angemeldet sind, lasse ich sie ihre Seite dort
öffnen. Gemeinsam schauen wir uns dann an, welche Dinge sie verändern sollten
(aufreizende Fotos raus, Bilder von Familie und Freunden ganz raus oder auf privat
stellen, Fantasienamen wählen und die Angaben zur Person insgesamt verfremden).
Wir sprechen auch über ihre negativen Erfahrungen, die sie schon im net machten.
Viele der Mädchen (Alter 10-13) werden bei schueler.cc von älteren Jugendlichen
und jungen Erwachsenen Männern sexuell belästigt!
Viel effektiver als die Information der SchülerInnen sind aber meine Elternabende. In
ca. 1,5-stündigen Elternabenden informiere ich die Eltern der Schüler ( Klasse 5 - 8 )
über die Aktivitäten ihrer Kinder im net. Die meisten der Eltern sind völlig ahnungslos
und insgesamt auch nicht sehr kompetent, was die Nutzung des Internet angeht.
Auch sie bekommen ein Paper an die Hand.
An unserer Schule kehrte wieder Ruhe ein. Viele Eltern schauen nun ihren Kindern
über die Schulter beim Chatten. Ich bin weiterhin bei schueler.cc mit meinem richtigen Namen angemeldet und werde nun auch nicht mehr von den Schülern hinausbe44
fördert. Im Gegenteil, sie schreiben mir Mails und informieren mich, wenn sie dort
belästigt werden.
Inzwischen werde ich immer mehr auch von Lehrern anderer Schulen kontaktiert. Sie
holen sich Rat, wie sie an ihrer Schule mit diesen Problemen umgehen sollen.
Schüler, die andere im net belästigen und bedrohen werden, von uns mit Schulstrafen (Klassenkonferenz, Ausschluss von Klassenfahrten, bis zu Entfernung für einige
Tage von der Schule) bedacht. Den Eltern der Opfer raten wir, in extremen Fällen
Anzeige wegen Stalking und Androhung von Gewalt zu erstatten.
45
46
4
Computer und Onlinespiele zum Training von Sozialkompetenzen
Prof. Dr. Franz Lehner – Universität Passau
Abstract
Im Rahmen des Beitrags wird eine Systematisierung von Computer- und Onlinespielen zum Training von Sozialkompetenzen vorgenommen und ein zusammenfassender Überblick über das einschlägige Angebot gegeben. Die Recherche nach Spielen
zum Training von Sozialkompetenz erfolgte über das Internet. Aufbauend auf die Ergebnisse der Recherche wird eine kurze Beschreibung und Bewertung der Spiele
vorgenommen. Einbezogen werden u. a. Stressball, Fearnot, Affective Virtual Patient, Luka, Canis Canem, Trainingslager und der Konfliktsimulator der Bernnet AG.
Abschließend werden bisherige Einsatzerfahrungen zusammengefasst, Einsatzmöglichkeiten in Verbindung mit den Zielen des Erwerbs sozialer und emotionaler Kompetenzen diskutiert und auf den weiteren Forschungsbedarf eingegangen.
1
Einführung
Die Bedeutung von Medien und Internet für die Werteorientierung heutiger Jugendlicher ist enorm groß und es wird in diesem Zusammenhang häufig auf Defizite bei
den Sozialkompetenzen hingewiesen, die angeblich eng damit zusammenhängen.
Eine Studie von Marci-Boehncke und Rath (2007) ergab, dass unabhängig vom
Schultyp Computer- und Konsolenspiele unbestritten den ersten Platz belegen. Die
Einschätzung der Situation zum Einfluss der Medien auf die Sozialisation Heranwachsender stützte sich früher eher auf theoretische Überlegungen und essayistische Falldarstellungen. Heute werden zunehmend breit angelegte empirische Studien herangezogen, welche die oft pessimistisch und polemisch formulierten Thesen
zu unterstützen scheinen. Dazu kommen experimentelle Studien aus der Hirnforschung, die als „Beweis“ für die einfachen intuitiven Überzeugungen von Laien sehr
überzeugend wirken. Bei genauerem Hinsehen stellt sich aber häufig heraus, dass
die Daten oft einseitig interpretiert werden. Im Prinzip stehen sich zwei Extrempositionen gegenüber, die man als pathogenetische (d. h. die Gefahren überwiegen) und
als salutogenetische (d. h. Medien im weiteren Sinn sind nützlich und wichtig) Denkrichtung bezeichnen könnte.
Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Computerspiele äußerst beliebt sind, und in
Verbindung mit der Notwendigkeit der Vermittlung von Sozialkompetenzen findet
man inzwischen das Bemühen, beide Themen zu verbinden und Computer- und Onlinespiele gezielt zur Entwicklung und zum Training von Sozialkompetenzen einzusetzen. Die Frage in diesem Zusammenhang ist: Können Computer- oder Onlinespiele neue Lernumgebungen und Erfahrungswelten darstellen, die strukturell neue
Potentiale für das soziale Lernen bieten?
47
Grundsätzlich gilt, dass sich hinter dem Begriff „Spiel“ beziehungsweise „Game“ nicht
maßgeblich Unterhaltung verbirgt. Es handelt sich vielmehr um einen Wettbewerb,
sei es mit sich selbst oder einer Art Gegner. Jeder Spieltypus dreht sich direkt oder
indirekt um Werte. Insofern bedeutet „Spielen“ hier, sich in eine Rolle hineinzuversetzen und den Regeln zu folgen, die diese Rolle impliziert. Auf eine strengere oder
formale Definition von Computerspiel bzw. Onlinespiel wurde im vorliegenden Kontext bewusst verzichtet, da mit der Erhebung und Bewertung das Ziel verfolgt wurde,
konkrete Anwendungen zu finden, mit denen die Vermittlung von Sozialkompetenzen
in der Praxis (z. B. Schule) unterstützt werden kann. In diesem Zusammenhang ist
es weniger wichtig, ob eine Anwendung alle definitorischen Merkmale eines Spiels
erfüllt, oder lediglich „spielerischen Charakter“ hat.
Bei der Analyse des bestehenden Angebots stellt man fest, dass sich soziales Lernen nicht als eigene Kategorie oder als selbständiges Genre in Spieleübersichten
findet. Man stößt zunächst auf Kategorien wie „Serious Games“, „Epistemic Games“, „Educational Games“ „Creative Gaming“, „Infotainment“ und ähnliche Bezeichnungen. Damit wird natürlich deutlich, dass Spiele mehr als nur unterhalten
können und auch zur Informationsvermittlung und zur Weiterbildung („Edutainment“)
eingesetzt werden. Serious Games bieten verschiedene Möglichkeiten zum Lernen,
da das Erleben in Verbindung mit Computer und Videospielen sehr intensiv ist und
dadurch „Botschaften” leichter transportiert werden können. Offen ist allerdings in
vielen Fällen, ob der Transfer ins reale Leben gelingt!
Da Serious Games eine gewisse Verbreitung erlangt haben und häufig mehr oder
weniger direkt Aspekte des sozialen Lernens behandeln, wird in der Einleitung ein
kurzer Überblick gegeben. Hervorgehoben werden jene Spiele, aber auch Forschungsprototypen, in denen zentrale Punkte wie Wertevermittlung, Verantwortung
u. ä. im Mittelpunkt stehen. Im Hauptteil des Beitrags geht es dann um Anwendungen, in denen das soziale Lernen im engeren Sinne und intentional (d. h. mit beabsichtigter Transferwirkung) Teil der Spielhandlung ist. An dieser Stelle ist auf den paradoxen Umstand hinzuweisen, dass Spiele z. T. eine so weite Verbreitung erlangt
haben und auch in den Alltag der Internet-Generation so stark integriert sind, dass
auch ohne bewusstes und intentionales Design ein Beitrag zur Sozialisierung und zur
Wertevermittlung geleistet wird – und damit in einem gewissen Sinne auch zum Erwerb von sozialen Kompetenzen. Dieses Faktum soll hier als Paradox of Social
Learning bezeichnet werden. Ohne dieses Thema weiter vertiefen zu wollen kann
exemplarisch auf zwei Spielkategorien hingewiesen werden: a) die Nachfahren der
Tamagochis (z. B. die Hundezuchtsimulation Nintendogs), in denen den Benutzern
Lebewesen oder ganze Welten anvertraut werden, d. h. die Spiele zielen auf behavioristische Instinkte und soziale Gefühle ab, und b) Allerweltsspiele wie My Boyfriend,
Miss Bimbo, Sophies Freunde, Germany´s next Topmodel u. a., in denen Jugendlichen z. T. sehr subtil Werte, Haltungen und Strategien für ein erfolgreiches Leben
vermittelt werden (vgl. u. a. den c´t Ratgeber 01/2009 „Software für Kinder“). Die
Lehr- und Wanderjahre haben sich damit bis zu einem gewissen Grad bereits in
das Internet verlagert und verlangen für die umfassende Entwicklung einer Persönlichkeit in Zukunft nicht nur von Jugendlichen ein verändertes Engagement, sondern
auch von der Gesellschaft!
Die weitere Darstellung konzentriert sich zunächst auf Serious Games. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit wurden Serious Games für folgende Kategorien identifiziert: Spiele mit Gesellschaftsbezug, Spiele im Experimentierstatus (wissenschaftli48
che Forschung), Spiele in der Weiterbildung, sowie Spiele in der Psychotherapie und
in der klinischen Behandlung.
1.1
Serious Games mit Gesellschaftsbezug
o Dance Dance Revolution Extreme wurde 1998 für japanische Spielhallen entwickelt und wird an der West Virginia University in modifizierter Form zum Kampf
gegen Übergewicht eingesetzt. DDR Extreme sollte bis Ende 2008 an 765 Schulen in West Virginia für Turnhallen angeschafft werden. (vergleichbar damit: Wii fit
von Nintendo)
o Darfur is Dying: Ein von MTV und Reebok gesponsertes Spiel, das den Völkermord im Sudan zum Inhalt hat und über das Leiden der Bevölkerung in Darfur
aufklärt. Man schlüpft in die Rolle eines Flüchtlings und erlebt in verschiedenen
Mini-Spielen den täglichen Überlebenskampf in Flüchtlingscamps (Ziel: Vermittlung von Empathie für Flüchtlinge; http://www.darfurisdying.com/.)
o Food Force: Im Auftrag der Vereinten Nationen entwickelt, soll ein Bewusstsein
für die Zusammenhänge der weltweiten Ernährungssituation und die Probleme
des UN-Ernährungsprogramms (WFP, World Food Program) der Allgemeinheit
näher bringen (mehrere Millionen Downloads . http://www.food-force.com/).
o LastExitFlucht: Kostenloses Onlinespiel; Ziel: Fördern des Mitgefühls mit
schutzbedürftigen Flüchtlingen
49
o Genius – Im Zentrum der Macht (Cornelsen): Unterstützt die Entwicklung von
Demokratieverständnis bei Schulkindern. Ort der Handlung: ein Dorf in Bayern …
Der Spieler oder die Spielerin kandidiert im Jahre 2015 in einem kleinen Dorf in
Bayern für das Amt des Bürgermeisters. Gewinnst du die Wahlen, gestaltest du
über deine politische Arbeit die Rahmenbedingungen, um das Dorf zu entwickeln.
o Wenn es um die Finanzkrise, die Lebensmittelknappheit oder den Klimawandel
geht, sind selbst Experten mitunter ratlos. Das vor kurzem gestartete Onlinespiel
Superstruct (www.superstructgame.org) vertraut darauf, dass Internetnutzer
mehr wissen (vgl. Crowd Intelligence, Methode der Informationsbörse). Die Teilnehmer am Spiel Superstruct sind aufgerufen, sich ins Jahr 2019 zu versetzen,
sich anschließend Pandemien und Netzwerkhacker vorzustellen und dann mit
anderen Usern zusammen Überlebensstrategien auszutauschen. Die hellsichtigsten Superstruct-Spieler erhalten Punkte.
o Sehr bekannt und auch in Studien untersucht ist McDonald's Video Game, entwickelt von Molleindustria http://www.mcvideogame.com/, McDonald's Videogame ist ein kritisches Strategiespiel rund um die gleichnamige Fast-Food-Kette. In
Kooperation mit McDonald's Geld zu scheffeln verlangt einem dabei einiges ab,
denn hinter jedem Burger steckt ein komplexer Prozess, den man als Spieler managen muss. Dabei deckt man auch manche Geheimnisse und Zusammenhänge
hinter den Kulissen auf. Das McDonald’s-Videospiel hat so gesehen nichts mit
dem wirklichen Fastfood-Unternehmen zu tun, der Entwickler wollte damit eher
auf politische und Umweltprobleme aufmerksam machen und die jüngere Zielgruppe für solche Themen sensibilisieren. Man managt alles, vom SojaGetreideanbau und der Viehzucht mit oder ohne Hormonzugabe über das einzelne Restaurant bis hin zur Chefetage und der Werbeabteilung.
50
o Ran an die Maus (LPR Hessen: www.lpr-hessen.de) unterstützt die Computerarbeit mit Kindern in KITA und Grundschule. Zielgruppe sind ErzieherInnen und
GrundschulpädagogInnen
o Schlundz-Quiz (LPR Hessen: www.lpr-hessen.de) soll Kinder fit machen im Umgang mit Werbung. Es geht um spielerische Aneignung von Hintergrundwissen
über Werbung.
o Hinweise auf weitere Spiele, die man zu dieser Kategorie zählen kann, finden
sich im Internet (siehe z. B.
https://wiki.fh-trier.de/index.php/Digitale_Spiele:Spielen_und_Lernen:_Educational_Gaming_und_Serious_Games, edweb.sdsu.edu, http://emapps.info,
http://www.seriousgames.org/ ,
http://de.wikipedia.org/wiki/Kategorie:Computerspiel-Genre): Third World Farmer
Game, Nuclear Weapons: The Peace Dove Game, The Garbage Game, Free Rice: Fighting World Hunger, Stop Disasters. Ein Teil dieser Spiele kann auch als
„Social Impact Games“ bezeichnet werden (z. B: Global Warming Interactive, Mission Migration, Oil God Game), manche konzentrieren sich auf den Umgang mit
Behinderungen und Krankheiten (z. B. Handigo The Game – Ubisoft, Escape the
Diab)
51
1.2
Serious Games in der Wissenschaft
o Andreas Frey, Psychologe am Leibniz Institut, Kiel, entwickelte eine Abwandlung
von Quake III Arena (ein Ego Shooter), der zur Untersuchung des virtuellen Interaktionsverhaltens von Paaren zum Einsatz kommt. Das Ziel des grundlegenden
Death-Match-Modus von Quake III ist es, durch Abschüsse (Frags) von Gegnern
die höchste Punktezahl zu erreichen.
o Im EU-Projekt “Iromec” (Interactive Robotic Social Mediators as Companions)
wird ein therapeutisches und pädagogisches Werkzeug für autistische Kinder
entwickelt und getestet
o Nick Yee untersuchte das Verhaltens von Avataren in Second Life und verglich es
mit dem realen Verhalten der dahinter stehenden Personen (vgl. Yee/Bailenson
2008, Yee et al 2007)
1.3
Serious Games in der Weiterbildung
o Holger Diener vom Fraunhofer IGD, Rostock, entwickelte eine Anwendung zum
Erwerb von so genannten Soft Skills. Es handelt sich dabei um kurze Spiele, die
auch während der Arbeit (z. B. als Vorbereitung auf eine Präsentation) genutzt
werden können, und die durch comic-ähnliche Szenen die Lernmotivation anregen sollen. U. a. werden folgende Themen behandelt: Verhalten bei Präsentation,
Kommunikation, Gesprächsführung, Moderation, im Umgang mit Kunden (z. B.
52
Empfang an der Hotelrezeption).
1.4
Serious Games in der Psychotherapie und in der klinischen Behandlung
o ReMission ist ein Videospiel, in dem Kinder lernen, sich gegen Krebs zu wehren.
Dahinter steht die Überzeugung, dass sich Nebenwirkungen einer Therapie spielerisch leichter ertragen lassen.
o TAIL ist ein Programm zum Training von Aufmerksamkeits- und Impulskontrolle.
53
Es wurde vom Kinderpsychiater Helmut Bonney zum Einsatz bei Kindern mit
AHDS entwickelt.
o Kaufwas: Computer eröffnen in der Rehabilitation von Menschen mit Autismus
neue Möglichkeiten. Studien zeigen, dass Verhaltensaspekte, die durch eine so
tief greifende Entwicklungsstörung beeinträchtigt werden, am Computer positiv
beeinflusst werden können. Dazu zählen u. a. auch soziale Kompetenzen, zu denen die Fähigkeit gehört, einkaufen gehen zu können. Sie fußt auf der kognitiven
Entwicklung mathematischer und ökonomischer Konzepte. Um diese zu unterstützen, wurde das Programm "Kaufwas" konzipiert. Dieses Buch dokumentiert,
wie ein 15-jähriger Junge mit autistischen Störungen damit arbeitet. Die Auswertung des Trainings zeigt, dass entscheidende Handlungsstrategien für einen erfolgreichen Einkauf angebahnt wurden. Auch der anschließend immer notwendige
Transfer in die Realsituation gelang. Ergebnisse, die für den Einsatz von Computern sprechen. Jedoch nicht als Ersatz, sondern als Ergänzung zu anderen nicht
computergestützten Verfahren. (vgl. Hillig 2007)
o Magic Castle: An der Universität Zürich wurde unter der Leitung von Veronika
Brezinka (Universität Zürich) und Ulrich Götz (HGKZ) ein Computerspiel für die
Psychotherapie von Kindern entwickelt. «Magic Castle» kann als coole Hausaufgabe die Arbeit der Therapeutinnen und Therapeuten unterstützen. «Magic
Castle» ist ein psychotherapeutisches Computerspiel, das für die kognitivverhaltenstherapeutische Behandlung von 8- bis 12jährigen Kindern eingesetzt
werden kann. Lernt das Kind in der Therapie beispielsweise Gefühle wie Wut,
Trauer oder Angst zu unterscheiden, so kann es diese Themen anschließend als
elektronische Hausaufgabe wiederholen oder besser einüben. «Sinn des Spieles
ist es, den Therapeuten bei der Behandlung von Depression, Ängsten oder aggressivem Verhalten zu unterstützen», erklärt Veronika Brezinka, Psychologin
und Psychotherapeutin am Zentrum für Kinder und Jugendpsychiatrie der Universität Zürich. «Den Therapeuten ersetzen kann es auf keinen Fall.»
o Weitere Überlegungen zur Anwendung virtueller Realitäten in der psychologischen Diagnostik und Behandlung finden sich bei Huber (2006) unter der Überschrift „klinische Cyberpsychologie“.
2
Soziales Lernen und die Entwicklung sozialer und emotionaler Kompetenz
Unter sozialem Lernen versteht man eine Ausbildung von kulturellen und sozialen
Fähigkeiten, Verhaltens- und Denkweisen. Prior (1976) zählt in seinem Werk „Soziales Lernen“ vier Funktionsbereiche des sozialen Lernens, die einerseits zusammenhängen, andererseits neben gemeinsamen Zielen auch jeweils spezielle Aufgaben
erfordern. Unter elementarer Sozialerziehung versteht man den Erwerb der Sozialkompetenz bei Lehrern und Schülern sowie eine Umgestaltung der Schule als Institution. Die gruppendynamische interaktionistische Funktion fördert das Interaktionsverhalten und die Dynamik der jeweiligen Gruppe. Diese Faktoren beeinflussen in jeder
Gruppe Verhalten und Aktivität der Mitglieder. Des Weiteren hat das soziale Lernen
eine sozialpädagogische und kompensatorische Funktion, die bei besonderen Defiziten in der Affekt- und Sozialbildung an Bedeutung gewinnt. Der vierte Funktionsbereich erstreckt sich über die emanzipativen und politischen Fähigkeiten des sozialen
Lernens mit dem Ziel des politisch korrekten Verhaltens.
54
Die Vermittlung von Sozialkompetenz sollte ein Erziehungsziel aller Eltern, Lehrer
und Erzieher sein. Eine frühzeitige Schulung in Familie, Schule und Kindergarten
ermöglicht einfaches und schnelles Lernen. Nur durch eigene Fehler, Konsequenz
und Toleranz sowie selbst erlebte Beispiele (prägendes Lernen) können Erfolge erzielt werden
Das Trainingsprogramm von Ehrenwirth (nach Prior 1976) beschreibt drei verschiedene Arten des sozialen Lernens:
1. Beobachtungslernen: Das Beobachten des Verhaltens von anderen Menschen führt dazu, dass Werthaltungen, Gewohnheiten, Sprache und soziale
Eigenarten erworben werden.
2. Identifikationslernen: Erklärung durch die Freudsche Ich-Theorie: „Identifikation ist ein Mechanismus der Gleichsetzung mit einem Objekt; ein Teil der Außenwelt wird in der Innenwelt angesiedelt (internalisiert) und vom Ich übernommen (identifiziert).“
3. Rollenlernen: Der Mensch agiert im Leben nach bestimmten festgelegten
Rollen, die er durch den Vorgang der Sozialisation erlernt
Der Begriff „Sozialkompetenz“ wird in einer Vielzahl an Bedeutungen verwendet.
Häufige Trainingsziele, die angestrebt werden sind:
•
Fähigkeit zur Selbst- und Fremdwahrnehmung: z. B. Schüler lösen allein
oder zusammen mit anderen verschiedene Aufgaben und erhalten ein ausführliches Feedback über ihr Verhalten. Das fordert sie dazu auf, Selbstkonzepte über ihre Persönlichkeit aufzubauen.
•
Fähigkeit eigene und fremde Gefühle in sozialen Situationen zu erkennen: Viel Aufmerksamkeit, eine genaue Beobachtungsfähigkeit und Kenntnisse des menschlichen Verhaltens sind gefordert, wenn die Schüler eigene Befindensveränderungen und die emotionalen Signale der anderen erkennen
sollten. Mehr Verhaltenssicherheit im Umgang mit anderen fördert die Empathie, das Mitfühlen mit anderen bzw. das Hineinfühlen in eine andere Person.
•
Fähigkeit zum gemeinsamen Handeln und zur Kooperation: Die gegenseitige Erarbeitung eines Handlungsplans als Beispiel für einen komplexen Interaktionsprozess fordert genaues Aufgabenverständnis, Bereitschaft zur Regeleinhaltung, Berücksichtigung der Bedürfnisse und unterschiedlichen Kompetenzen anderer und Schulung des Führungs- und Kontrollverhaltens.
•
Fähigkeit zur Bearbeitung und Schlichtung von sozialen Konflikten: Toleranz, verbale und physische Gewaltlosigkeit, Hilfsbereitschaft und Verantwortung für sich und andere werden am besten geschult durch eine genaue Analyse konkreter Alltagsprobleme der Lernenden.
Man unterscheidet bei der Sozialkompetenz zwischen intrapersonaler und interpersonaler Kompetenz.
Felder der intrapersonalen Kompetenz (d. h. Regulierung des eigenen Wohlbefindens) sind nach Seidel (2004):
55
1. Selbstwahrnehmung:
– die eigenen Stärken und Grenzen bewusster sehen und entwickeln
– die eigenen Emotionen und ihre Wirkungen genauer erkennen und richtiger
einsetzen
– mehr Vertrauen in das eigene Können erleben und ausstrahlen
2. Selbstkontrolle:
– Gefühle und Impulsivität situationsgerechter am Zügel haben
– Gewissenhaftigkeit und Vertrauenswürdigkeit vorleben und durchsetzen
– sich aktiver und geschickter an den Wandel und Fortschritt anpassen können
3. Motivationsfähigkeit:
– zielgerecht nach Leistung und Wettbewerb streben
– sich engagiert und selbstverständlich für die Ziele der Gruppe einsetzen können
– Chancen originell und mit natürlichem Optimismus anpacken
Felder der interpersonalen Kompetenz (d. h. Regulierung der zwischenmenschlichen Beziehungen) sind nach Seidel (2004):
4. Empathie:
– Wünsche und Sorgen der anderen sicherer erkennen und verstehen
– die Fähigkeit anderer geschickter fördern, sie motivierender belohnen können
– intuitiv die Bedürfnisse anderer befriedigen und ihre Loyalität an sich binden
– die Vielfalt der Fähigkeiten anderer durchschauen und für sich nutzen lernen
– politische Zusammenhänge treffender erfassen und intuitiv nutzen und beeinflussen
5. Führungsqualität
– andere gewinnender überzeugen und nutzbringend beeinflussen
– verständnisvoller und beeindruckender kommunizieren
– Konflikte erspüren, diplomatischer vermeiden oder beilegen
– andere einfühlsam ausbilden und inspirieren können
– die rechte Zeit finden, den Wandel zu erkennen, ihn durchsetzen und lenken
6. Teamfähigkeit:
– persönliche Beziehungen zu Netzen ausbauen und Kontakte sicherer pflegen
– kooperatives Klima für gemeinsame Ziele aufbauen und in die Tat umsetzen
– für Hilfsbereitschaft und Synergie begeistern
3
Computergestütztes Soziales Lernen
Eine zentrale Frage im vorliegenden Kontext lautet: Sind Computerspiele geeignete
Begleiter auf dem Weg eines Schülers vom Jugendlichen zum Erwachsenen und
sind sie fähig, unentdeckte Talente eines jungen Menschen zu fördern? Oder gefährden sie die natürliche Entwicklung durch die Darstellung beispielsweise gewalttätiger Szenarien und vermögen sie lediglich zu einer manipulierten Wahrnehmung der
56
Realität beizutragen? Anders ausgedrückt: nehmen sie den Spielern im schlimmsten
Falle ihre Hemmschwellen in Bezug auf illegales oder unmoralisches Verhalten?
In den bisher verfügbaren Studien zur Transferleistung zwischen Computerspielen
und Realität („Modelllernen“) wird deutlich, dass die allgemeinen Erwartungen im
Hinblick auf klare und leicht interpretierbare Ergebnisse aus Sicht der Wissenschaft
derzeit nicht erfüllbar sind und zu den Ursache-Wirkungsbeziehungen in vielen Punkten offene Fragen bleiben (vgl. z. B. Witting 2007). Häufig verwendet wird das Transfermodell von Jürgen Fritz, mit dem untersucht werden kann, ob es durch intensives
Computerspiel zu Übertragungsprozessen mit einer dauerhaften Wirkung in die Realwelt kommt (z. B. in Bezug auf das Verhalten oder Einstellungen der SpielerInnen).
In Ihren Ergebnissen stellt Witting beispielsweise fest, dass Bildschirmspiele nicht
wirkungslos sind. Wer sich in den virtuellen Welten der Bildschirmspiele aufhält,
nimmt auf jeden Fall etwas daraus mit in seine Alltagswelt. Mit Hilfe qualitativer Interviews wurden 80 engagierte Spieler befragt. Es interessierte insbesondere, inwiefern
Transfereffekte in Bezug auf ihr Verhalten und ihre ethisch-moralischen Einstellungen beobachtet werden konnten. Das Ergebnis der Befragung macht deutlich: Die
Transferprozesse zwischen virtueller und realer Welt sind vielfältiger als meistens
angenommen, aber auch anders ausgeprägt, als es eine verengte, zugespitzte Wirkungsdebatte bislang vermutet hat.
Das Spieleangebot unterscheidet sich in Online- und Offline-Spiele. Die Internetspiele (Online) wiederum werden basierend auf der technologischen Umsetzung grundsätzlich in zwei große Rubriken gegliedert:
•
Browser-basierte Online-Spiele. Sie agieren plattformunabhängig und ermöglichen somit hohe Flexibilität beim Spielen. Genauer unterscheidet man
hier zum einen die auf Browser-Plug-Ins (z. B. Macromedia Flash oder Java)
basierenden und zum anderen die auf reinen HTML-Code basierenden Spiele.
•
Plattformabhängige, client-basierte Multiplayer-Online-Spiele. Sie setzen
die Installation einer Client-Software voraus. Auf diese Weise wird das Spiel
wesentlich interaktiver und medial anspruchsvoller. Allerdings beschränkt sich
die Spielbarkeit auf Computer und Plattformen, die das Programm entweder
auf Basis einer Peer-to-Peer-Architektur (d. h. einige wenige Strategie- und
Actionspiele für kleine Spielerzahlen) oder auf Basis einer Client-ServerArchitektur unterstützen.
Im Folgenden werden zwei Gruppen von Spielen vorgestellt (wobei die Zuordnung
der Spiele nicht immer überschneidungsfrei möglich ist):
•
•
Spiele zum Erwerb bzw. Training von Sozialkompetenzen (Kapitel 4)
Spiele zum Konflikt- oder Aggressionstraining (Kapitel 5)
57
4
Spiele zum Erwerb bzw. Training von Sozialkompetenzen
4.1
Canis Canem Edit / Bully: Die Ehrenrunde
Bei diesem Spiel handelt es sich um ein Simulationsspiel (verfügbar für Playstation 2,
Wii, XBox). In Canis Canem Edit (wörtlich: Hund frisst Hund) schlüpft der Spieler in
die Rolle des 15-jährigen Teenagers Jimmy Hopkins, der ein Schuljahr auf der „Bullworth Academy“ zu absolvieren hat. Kämpfe und Ärger stehen an der Tagesordnung
und Schülergangs sind verfeindet. Wie in den artverwandten Spielen der GTA-Reihe
sind eine Reihe von Missionen zu absolvieren. Laut Sandra Fertig, die ein Review
über Bully schrieb, sind diese Kämpfe aber eher harmlos. Teils muss man auch gute
Taten vollbringen, wie z. B. einem weinenden Mädchen ihren Schokoriegel zurückholen. Dafür erntet man Respekt bei einer der Schulgangs. Gute Noten fördert Respekt
bei Lehrern aber auch Kommunikationsfähigkeit, um später vorkommende Konfliktsituationen gewaltlos doch mit verbaler Schlagfertigkeit zu lösen.
Der Spielentwickler Rockstar ist Herausgeber von Canis Canem Edit, das in Amerika
unter dem Namen „Bully“ bekannt ist. Unter „bullying“ versteht man das Schikanieren
von Schwächeren durch Mitschüler. Daher sorgte dieses Spiel schon bevor es überhaupt veröffentlicht wurde für großes Aufsehen. Letztendlich findet man aber bei diesem Spiel weder Rezensionen, die dafür sprechen würden, mit Canis Canem Edit
soziale oder emotionale Kompetenzen zu fördern, noch wurde dieses Spiel mit genau dieser Absicht entwickelt. „Was Canis Canem Edit allerdings einen besonderen
Platz in der Geschichte der elektronischen Herzenserziehung sichert, ist seine
ungewöhnliche Story mit funkelnden Charakteren und witzigen Dialogen, wie man sie
in kaum einer Pubertätskomödie in Hollywood findet“ (Rosenfelder 2008, 85).
4.2
FearNot!
FearNot!, ein Rollenspiel bzw. Programm zur Förderung von sozialem und emotionalem Lernen von Kindern wurde von einer internationalen Psychologengruppe in
Bamberg in Kooperation mit Psychologen der Universität Würzburg innerhalb eines
EU-Projekts entwickelt. Das Spiel ist im Rahmen des Forschungsprojektes „Victec“
entstanden. Victec steht für „Virtual Information and Computer Technology with Empathic Characters“.
Ziel war es, ein Rollenspiel zu schaffen, das Gewalt und Mobbing an Schulen gezielt
beeinflusst. Schülern und Schülerinnen sollten die Konsequenzen, nämlich Depression, Verlust des Selbstwertgefühls, Misserfolge in der Schule oder gesundheitliche
Probleme, näher gebracht werden. In FearNot! sollten Schüler virtuelle Gewalt und
Mobbingszenarios durchleben. Das Opfer bittet dann um Rat und der Spieler kann
mittels Texteingabe oder eines anderen Interface helfen. Mit dieser Open-SourceSoftware sollte für die Problematik sensibilisiert werden und im optimalen Fall das
Mobbingverhalten reduziert werden. Die Bezeichnung des Spiels erinnert an
„F.E.A.R“. Bei dem Computerspiel „F.E.A.R“ (EU Version), das relativ weit verbreitet
bzw. vielen Jugendlichen bekannt ist, wurde offiziell festgestellt, der dominierende
Inhalt sei „das bedingungslose Eliminieren von Gegnern“. Andere Spielinhalte tauchen nur gelegentlich auf und sind sowohl nach Umfang als auch Anspruch höchstens als marginal zu bezeichnen. (vgl. Hilpert 2008) Das Spiel ist demnach erst ab 18
58
Jahren freigegeben, wird aber von der Spielerszene trotz seiner Gewaltorientierung
auch als Meisterwerk eingestuft (vgl. Rosenfelder 2008, 118f).
Zur Konfliktsimulation wird eine komplette virtuelle Umgebung inklusive Spielgeschichte angeboten. Fearnot ist als Offlinesoftware konzipiert. Ziel ist es, ein Rollenspiel zu schaffen, das Gewalt und Mobbing an Schulen gezielt beeinflusst. Schülern
und Schülerinnen sollten die Konsequenzen, nämlich Depression, Verlust des
Selbstwertgefühls, Misserfolge in der Schule oder gesundheitliche Probleme näher
gebracht werden.
Die Fearnot-Software, die acht bis zwölfjährige Kinder anspricht, geht hier zumindest
technisch ganz neue Wege. Sie erzeugt eine virtuelle Realität mit „3d engine“ und
realistischen Charakteren. Hierbei wurden mehrere Standards und Scriptsprachen
miteinander verbunden. Zum Einsatz kamen die Programmiersprachen Java, C++
und XML, was technisch Freiraum für weitere Entwicklungen lässt. Des Weiteren
wurden Datenbanken sowohl für Charaktere im Spiel als auch für die Umgebung
eingebunden. Eine technische Besonderheit hierbei ist, dass eine kleine Stoffpuppe
namens „Sentoy“ zum Einsatz kommt, deren Arme und Beine mit Sensoren versehen
sind.
59
Die Puppe dient als Schnittstelle für die jüngeren Schüler, um nicht nur per Tastatur
oder Maus im Spiel zu agieren, sondern um auch Emotionen an den Computer weitergeben zu können, die dieser dann auswertet. Dazu kann der Spieler mit der Puppe Gebärden und Haltungen einnehmen, auf die die Figuren im Spiel dann individuell
reagieren. Diese Technik kann im Übrigen in fast jede Puppe integriert werden.
Eine Evaluationsstudie zu FearNot! an verschiedenen Schulen in Deutschland und
Großbritannien soll erfassen, ob das Programm geeignet ist, das soziale und emotionale Lernen von Kindern zu fördern. Die ersten Ergebnisse dieses Projekts unter
dem Titel eCIRCUS (education through Characters with emotional Intelligence and
Roleplaying Capabilities that Understand Social Interaction) werden laut Sibylle Enz
Ende des Jahres 2008 bekannt gegeben.
4.3
Trainings-LAGER
Das Computer-Lernspiel wurde von der Bundeszentrale für politische Bildung in Zusammenarbeit mit den Autoren Gerrit Hoberg und Hartmund Hoster im Februar 2006
herausgegeben. Es ist ein Sportspiel zum Training von Fairness, Toleranz und Zivilcourage. Als ausschlaggebender Grund zur Entwicklung dieser Software wurde das
Ziel der Reflexion und Verbesserung des Sozialverhaltens genannt. Die damals aktuelle Fußballweltmeisterschaft wurde zum spielerischen Hintergrund und eine geeignete Methode, um mit dem sportlichen Wettbewerb den Umgang mit Menschen
zu simulieren. In insgesamt 17 kurzen Filmszenen auf zwei CD-ROMs sollten Kinder
der Jahrgangsstufen 8 bis 10 Denk- und Verhaltensweisen trainieren und sich mit
Vorurteilen auseinandersetzen. Laut der Bundeszentrale für politische Bildung ist
dieses PC-Programm für Handlungsorientiertes Lernen gut für den pädagogischen
Einsatz im Unterricht geeignet.
Das Spiel besteht aus zwei Runden, deren Szenerien im unmittelbaren Erfahrungsbereich von Schülern und Schülerinnen stattfinden und somit deren Alltag widerspiegelt. In der ersten Spielrunde „Denk-Anstoß“, geht es um die Einstellung eines neuen
Spielführers der C- Jugend. Der Spieler übernimmt die Position der Mannschaft und
60
entscheidet über einen der zwei zur Wahl stehenden Kandidaten. Als Entscheidungshilfe werden die beiden in kurzen Filmszenen mit ihren Schwächen und Stärken dargestellt. In „Schnelles Kontern“, der zweiten Runde, gibt es weitere Filmszenen, in denen verschiedene Personen bzw. Personengruppen ausgegrenzt, abgelehnt und diskriminiert werden. Durch verbale Schlagfertigkeit kann der Spieler trainieren, wie man in derartigen Situationen Solidarität zeigt und den Opfern zur Hilfe
kommt. Die Entwickler ermöglichen dazu einen breiten Reaktions- und Handlungsspielraum.
4.4
LUKA und das geheimnisvolle Silberpferd
Dabei handelt es sich um ein Adventure-Game, mit dem Kommunikationsfähigkeit,
gewaltlose Konfliktlösung, sowie die Entwicklung von sozialer Kompetenz trainiert
werden soll. Dieses Freeware-Computerspiel wurde in Zusammenarbeit mit Pädagogen der Polizeilichen Kriminalprävention der Länder und des Bundes (ProPK) und
den Entwicklern von Ankh entwickelt. Soziale Kompetenzen entwickeln und zu trainieren sowie Konflikte ohne sprachliche und körperliche Gewalt zu lösen, waren die
ausschlaggebenden Motive zur Herstellung des Spiels.
Die Handlung findet in einer deutschen Kleinstadt statt. Schauplätze sind Schule,
Park, Kiosk, eine geheimnisvolle Baustelle, die Polizeiwache und das Jugendhaus alles typische Aufenthaltsorte von Jugendlichen in ihrem Alltag. Luka (oder die entsprechende weibliche Figur, Prinzessin Katharina) und seine Clique sollen dem
schwertlosen Ritter William, der eine Zeitreise aus der Vergangenheit in die Gegenwart gemacht hat, helfen .. .. Der fiese Sven ist angriffslustig und sorgt für ständigen
Ärger. Außerdem geht es in diversen Szenen um Mobbing, Erpressung, verbale und
körperliche Gewalt sowie Sachbeschädigung. Luka muss versuchen diese Konflikte
richtig, gerecht und fair zu lösen. Nur dann erhält man Punkte oder ein Lob vom Ritter und kommt im Spielgeschehen voran. „Falsche Handlungen“ führen in eine Sackgasse. …. Das Spiel erhielt den Lara Education Award 2007. In der Bewertung von
Kinderspielen (http://www.testberichte.de/) erhielt dieses Spiel die Testnote 2,5 (der
Durchschnitt liegt bei 2,7). „Luka und das geheimnisvolle Silberpferd“ bietet daher mit
61
den acht verschiedenen Szenen eine gute Möglichkeit, Kindern zwischen 8 und 12
Jahren Konfliktlösung mit Gewaltlosigkeit zu vermitteln
Mit “Luka und der verborgene Schatz” gibt es inzwischen eine Fortsetzung, die ebenfalls von der Polizeilichen Kriminalprävention der Länder und des Bundes erstellt
wurde. Das Spiel kann ab 8 Jahren gespielt werden und ist kostenlos erhältlich. (luka.polizei-beratung.de)
In der Zwischenzeit ist vom gleichen Team mit Luka 2 eine Fortsetzungsversion
entwickelt worden, in der wieder die gleichen Hauptdarsteller mitspielen. Dieses Mal
geht es um einen Schatz und um die Gefahr durch Drogen – und wie man sich davor
schützen kann. Zu Beginn entscheidet man sich so wie bei Version 1 wieder zwischen Mädchen- und Jungenfigur. Das Spiel wird ab 8 Jahren empfohlen, die eigentliche Zielgruppe sind aber die 10- bis 13-jährigen.
4.5
“Grow your Chi”, “Wham”,“Eye Spy”
(http://selfesteemgames.mcgill.ca/games/)
Kanadische Psychologen haben diese kurzen Spiele entwickelt, um Menschen mit
niedrigem Selbstwertgefühl zu helfen, ihr Selbstwertgefühl zu verbessern. Es geht
also um das Trainieren positiver Stimmung und um ein gutes Selbstbewusstsein.
Das Prinzip „Sicherheit durch immer wiederkehrende Spielfolgen“ konnte bei Tests
an der McGill Universität von Montreal bestätigt werden. Die Tests belegten, dass
das Selbstbewusstsein und die Selbstsicherheit durch diese Spiele positiv beeinflusst
wurden. Eine Studie mit 140 Probanden, die in zwei Gruppen das Spiel Wham! oder
ein Placebo-Spiel getestet hatten, zeigte nach zehn Spielminuten, dass die „automatischen und unbewussten Gedanken“ der Wham!-Spieler positiver waren. Jedoch
können laut Mark Baldwin, dem Leiter des Projekts, „diese Spiele nicht die harte Arbeit von Psychologen ersetzen“.
62
Um Wham! zu spielen muss man zuerst seinen Vornamen und das Geburtsdatum
eingeben. Auf vier Feldern erscheinen dann in schneller Folge Namen und Geburtsdaten. Klickt man mit dem Mauszeiger auf seinen Namen, so erscheint ein Smily.
Klickt man auf ein anderes Feld, erscheint ein neutrales oder schlecht gelauntes Gesicht. Das sollte dazu führen, dass man mit dem Erscheinen des eigenen Namens
eine positive Reaktion verbindet.
Mit „EyeSpy: The Matrix“ hilft man den Spielern, soziale Ablehnung aus der Umwelt
zu ignorieren. Per Mausklick soll aus 16 Bildern das einzige lächelnde Gesicht herausgesucht werden. Der Spieler lernt, vor allem für positive Reaktionen aufmerksam
zu sein und Negatives zu ignorieren
Grow your Chi ist eine Kombination aus den beiden vorher erläuterten Spielen.
4.6
Global Emotion - http://www.globalemotion.com/
Dieses Online-Training wurde entwickelt, um die Emotionen chinesischer Gesichter
deuten zu lernen. In 10 (Lern)Spielen lernt der Benutzer Emotionen von Chinesen
besser und zielsicherer zu erkennen. Die Software kann auch als Blended-LearningLösung eingebettet in Präsenztrainings bei SinaLingua genutzt werden
(www.sinalingua.de). Ein Demo-Video zur Software findet sich auf der Webseite
www.globalemotion.com/index_g.html.
63
4.7
awwware – Ein komplexes Mini-Game zur Förderung von kritischer Internetkompetenz
Mini-Games haben sich heute zu einem eigenen Genre von Video- und Computerspielen entwickelt. Im Gegensatz zu komplexeren digitalen Spielen haben MiniGames eine deutlich kürzere Spielzeit, eine reduzierte Spielkomplexität und eine einfachere Grafik. Mini-Games sind häufig gratis und können mit entsprechenden Multimedia-Plugins direkt im Browser gespielt werden. Mini-Games werden jedoch auch
als relativ eigenständige Zwischenspiele in größeren, kommerziellen Video- und
Computergames eingesetzt. Die Eignung von Mini-Games für Lehr- und Lernzwecke
ist jedoch umstritten (vgl. Petko 2009).
awwware ist ein Mini-Game, das derzeit in Entwicklung ist und mit dem bei Kindern
und Jugendlichen zwischen 10-16 Jahren Kompetenzen zum Umgang mit Risiken
des Internet gefördert werden sollen. Zugleich soll es Lehrpersonen und Eltern die
Gelegenheit geben, mit den Kindern und Jugendlichen unverkrampft über solche
Themen und Erlebnisse ins Gespräch zu kommen. Diese Probleme sind komplex
und können nicht durch einfache Regeln oder Verbote bewältigt werden. In dem gegenwärtig in der Konzeptionsphase befindlichen Spiel können Kinder und Jugendliche mit einem Raumschiff durch die Untiefen des Internet navigieren. Das Spiel läuft
in einem Browserframe, während im restlichen Browserfenster normale Webseiten
angezeigt werden. Das Raumschiff verfügt über verschiedene Schutzschilde, die bei
Bedarf mit regelbarer Intensität eingesetzt werden können. Es gibt vier verschiedene
Typen von Schutzschilden (Petko 2009).
64
•
•
•
•
Unwahrheit: wenn sich auf den besuchten Internetseiten unglaubwürdige oder
sogar falsche Informationen finden.
Beeinflussung: wenn sich auf einer besuchten Internetseite mehr oder weniger
spürbare Meinungsmache oder einseitige Darstellungen zeigen.
Kommerz: bei aufdringlicher Werbung, unauffälliger Schleichwerbung oder
undurchsichtigen Kaufangeboten.
Schrott: bei allem was erschreckt oder verunsichert, insbesondere bei unnötig
gewalttätigen oder sexuellen Darstellungen.
Die Aufgabe des Spiels ist es, mit optimaler Schutzschildenergie (d. h. nicht zu viel
und nicht zu wenig) durch einen vorgegebenen Parcours von Webseiten zu steuern
und dabei möglichst wenig Schaden am Raumschiff zu nehmen. Schaden am
Raumschiff erhält der/die Spieler/in dann, wenn die Schutzschilde für die Probleme
auf der besuchten Webseite nicht ausreichend aktiviert sind. Mit den Schutzschilden
muss jedoch sparsam umgegangen werden, denn die Energie der Schilde ist begrenzt. Die Resultate des Spiels werden in Form von Ranglisten auf der Projekthomepage geführt.
5
Spiele zum Konflikt- oder Aggressionstraining
5.1
Überblick
Die nachfolgende Tabelle gibt einen ersten Überblick über Projekte und Produkte,
die Konflikt- und Aggressionstraining zum Inhalt haben.
Forschungsprojekt /
Firma / Initiator
Leonardo / Bernnet AG
Victec / Fearnot
AVP, Universität
Lübeck
Leonardo /
Konfliktkultur
Österreich e.V.
Kommerzielles Art des vermittelten
Produkt
Wissens
gruppenspezifisches
nein
Konfliktverhalten
Konfliktverhalten und
nein
mediatives Eingreifen
Umgang mit
nein
aufgebrachten Patienten
nein
Denkmodell
ja
Nitor GmbH
ja
Kirch Consult
ja
Jahr der
Entstehung Zielgruppe
keine
Angabe
Jugendliche
2002
2005
Folgen falscher Interaktion 2004
keine
klassische Konflikttheorie Angabe
keine
klassische Konflikttheorie Angabe
Konfliktverhalten und
keine
mediatives Eingreifen
Angabe
Kinder
angehende
Mediziner
Besonderheiten
Zielgruppenspezifisch
abgestimmt
Virtuelle Realität, 3D,
Sensorikhardware
Virtuelle Realität,
3D,Sprachsynchronisation
Jeder
keine
Manager und Lernquizz mit persönlicher
Trainer
Auswertung
Schulung der
Teamarbeiter Konfliktdiagnose
Trainings werden mit
Mitarbeiter
Workshop abgeschlossen
Man kann dabei unterscheiden zwischen Spielen für Jugendliche und Schulen als
Zielgruppe, nämlich
• Konfliktsimulator der Bernnet AG,
• Fearnot! von E-Circus (siehe Kapitel 4.2),
• Konfliktsimulatoren des Österreichischen Vereins für Konfliktkultur, Wien,
• Veto-Online (/www.veto-online.org/), Ziel ist die Entwicklung von e-learningModulen für konstruktives Konfliktverhalten,
und Lösungen für Unternehmen bzw. eine erwachsene Zielgruppe, nämlich
• Nitor Lernprogramme (http://www.nitor.de/),
65
•
•
•
•
„Midres“ Konflikttraining der Kirch Consult (www.kcp-executives.de),
Affective Virtual Patient – AVP-Konfliktsimulator,
Programm der Fa. Denkmodell (http://www.denkmodell.de),
Stressball von Insight Instruments (http://www.insight.co.at/), Stressdiagnostik
und Entspannungstraining.
Drei ausgewählte Anwendungen werden im Anschluss noch etwas genauer dargestellt.
5.2
Konfliktsimulator der Bernnet AG
Die Bernnet AG hat im Auftrag der „Gesundheitsförderung Schweiz“ mit verschiedenen Sponsoren einen Konfliktsimulator erstellt. Hierbei werden Dialoge mit gewaltbereiten Jugendlichen videogestützt simuliert. Angeschlossen an dieses Spiel ist ein
Quiz, mit dem der Grad der eigenen Konfliktkompetenz ermittelt werden kann.
Die Bernnet AG bietet als einzige verschiedene Lernmodule bezogen auf die kontrahierenden Gruppen an, wie z. B. die in der Abbildung zu sehende Jungen-Jungen
Konfrontation. Bei dem genannten Programm steht man verschiedenen Personen
gegenüber und versucht, eine Konflikt-Eskalation zu vermeiden, indem man auf Fragen des Gegenübers entsprechende Antworten gibt. Der Konfliktforscher F. Glasl
begleitete dieses Projekt während der Entstehung fachlich.
66
5.3
A6ffective Virtual Patient
Die Software „Affective Virtual Patient“ simuliert, wie auch die Victec-Software FearNot!, Konflikte in einer dreidimensionalen virtuellen Realität. Dieses Spiel wurde speziell entwickelt, um Medizinstudenten und Ärzten den Umgang mit schwierigen Patienten zu vermitteln. Es entstand im Rahmen einer Masterarbeit an der Universität
Lübeck in Kooperation mit der Universitätsklinik Schleswig Holstein. Die Handlung im
Spiel entwickelt sich zwar nicht wie z. B. bei Fearnot selbst, aber es werden (wie in
der Abbildung zu sehen ist) realistische Gesichtszüge nachempfunden. Zudem sind
die Lippenbewegungen der virtuellen Patienten mit der Sprache synchronisiert.
5.4
Stressball
Die Firma Insight Instruments bietet ein Anti-Stress-Computerspiel an, das über den
USB-Anschluss Körperfunktionen, wie EKG und Puls, überwacht. Bei dem „Stressball“ getauften Spiel gilt es einen virtuellen Heißluftballon mittels eigener Entspannung steigen zu lassen. Der Computer überwacht die Körperfunktionen und je entspannter der Spieler ist, umso höher steigt der Heißluftballon. Der Software besitzt
aber auch die Funktion, detaillierte medizinische Analysen zu erstellen.
67
6
Zusammenfassung - Wann und wo werden konfliktvermittelnde Spiele eingesetzt?
Macht, Kontrolle, Herrschaft sind oft wesentliche Motive, die von Computerspielen
angesprochen werden. Damit stehen diese Spiele auch ohne explizite Zweckbestimmung in einem engen Zusammenhang mit sozialem Lernen. Sehr viele Kinder,
Jugendliche, aber auch Erwachsene suchen ihre Bewährung inzwischen in der virtuellen Welt. Sie finden hier einen Raum, in dem sie das Gefühl bekommen, Macht und
Kontrolle auszuüben. In diesem Sinne sind Spiele daher nicht nur Mittel zur Entspannung, sondern auch Hilfe und Selbstmedikation bei Mißerfolgsängsten, mangelndem Selbstvertrauen im realen Leben etc. Witting (2007) stellt in Ihrer Untersuchung fest, dass Bildschirmspiele nicht wirkungslos sind. Wer sich in den virtuellen
Welten der Bildschirmspiele aufhält, nimmt auf jeden Fall etwas daraus mit in seine
Alltagswelt. Das Ergebnis der Befragung macht aber auch deutlich, dass Transferprozesse zwischen virtueller und realer Welt vielfältiger sind als meistens angenommen, aber auch anders ausgeprägt als es eine verengte, zugespitzte Wirkungsdebatte bislang vermutet hat. Da in die Untersuchung nur Computerspieler einbezogen
wurden, fehlt auch ein Vergleich mit einer Kontrollgruppe. Und da die Beurteilung
stark auf Aussagen der Befragten beruht, kann sich darin möglicherweise auch bis
zu einem gewissen Grad die soziale Erwünschtheit wieder spiegeln.
Im Überblick betrachtet gibt es momentan zwei große Einsatzgebiete für Spiele zur
Schulung von Sozial- und Konfliktkompetenzen, die derzeit weiterverfolgt werden.
Der erste große Einsatzort sind Problemschulen meist in sozial schwachen Regionen, der zweite liegt im (Jugend-)Strafvollzug und der Resozialisation von primär jugendlichen Straftätern. Gerade das damit verbundene Umfeld stellt aber für die Designer solcher Software eine besondere Herausforderung dar. Man begibt sich hier in
einen Raum, in dem so gut wie keine Regeln herrschen, und der Mitarbeitswille der
Schüler bzw. Jugendlichen an solchen Projekten meist gering ist. Ziel ist es, jungen
Menschen Sensibilität und vermittelnde Fähigkeiten beizubringen. Dafür gibt es wiederum zwei Ansätze.
• Im ersten Ansatz wird zielgruppenspezifisch vorgegangen. Charaktere in Spie68
len werden so ausgewählt, dass sie z. B. von einem Teenager als „cool“ empfunden werden. Im selben Ansatz wird auch zwischen einzelnen Gruppen von
Jugendlichen unterschieden. Konflikte zwischen Mädchen laufen anders ab
als Konflikte zwischen Jungen. Dieses Problem versucht man zu umgehen,
indem man die Software für den Einsatz bei jüngeren konzipiert. Es wird versucht, hier schon im Kindesalter auf die Schüler einzuwirken.
•
Der zweite Ansatz zielt also eher auf jüngere ab. Hier sind die Unterschiede in
der Konfliktbewältigung zwischen den Gruppen meist noch gering. Es muss
noch nicht einzeln auf die Geschlechter eingegangen werden. Man legt hier
vielmehr Wert auf emphatische Figuren, versucht also ein Stück weit virtuelle
Realität zu erzeugen. Hierzu werden zum Beispiel realistische Körperhaltung
und Gesichtsausdrücke der Spielcharaktere erzeugt. Dies soll die jüngeren
Schüler dazu bringen, den „Ratgeber im Computer“ zu akzeptieren.
Beide Ansätze haben jedoch eines gemein. Sie setzen sowohl im diagnostischen als
auch im wissensvermittelnden Bereich an. Der zweite Einsatzbereich sind Unternehmen (Vermittlung von Soft Skills). Im Unterschied zu Schulen geht es hierbei
mehr um die Vermeidung verbaler als physischer Gewalt. Des Weiteren ist der Umgang mit Mobbing hier ein Thema.
Zusammenfassend ist festzustellen, dass das Angebot an Spielen noch sehr begrenzt ist, Spiele z. T. erst in der Erprobungsphase sind bzw. nur als Experimentalprototypen entwickelt werden, technisch sehr unterschiedliche Plattformen eingesetzt
werden, wenig gesicherte Informationen über die Verbreitung, über den tatsächlichem Einsatz und die gemachten Erfahrungen exitieren, und z. T. falsche Erwartungen (Spiele zur „Reparatur“ von unerwünschtem Sozialverhalten) in Bezug auf die
Wirkungen bestehen. Im Zusammenhang mit dem Einsatz solcher Spiele sollte also
immer der Kontext beachtet werden und Spiele nie allein bzw. unreflektiert eingesetzt
werden. Die Spiele selbst verändern sich durch neue technische Möglichkeiten (z. B.
realistischere Grafiken, haptische Interaktion, Einsatzmöglichkeiten von Bio- und
Neuro-Feedback) noch immer sehr stark; sie werden anspruchsvoller, auch in einem
intellektuellen Sinn, und die auf die Schulung von Reflexen beruhenden First-PersonShooter finden Nachfolger in intellektuell anspruchsvolleren Spielewelten, die auch
den Spieler aus der Rolle des alles kontrollierenden „Schöpfers“ verdrängt (vgl. dazu
Rosenfelder 2008, 169 f, „was die Zukunft bringt“). Dazu wird nochmals auf das doppelte Paradox of Social Learning hingewiesen, demzufolge einerseits die Kenntnis
und Erfahrung mit Computerspielen als Teil der Sozialkompetenz der Internetgeneration gilt, andererseits in vielen Computerspielen eine unbewusste Wertevermittlung
und ein Beitrag zur Sozialisation vorhanden ist. Aus diesem Grund ist zu erwarten,
dass dem Medium Computerspiel bei der bewussten und expliziten Vermittlung von
Sozialkompetenzen eine wachsende Bedeutung zukommen wird.
69
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71
72
5
Der Moses-Effekt: Digitale Welten und generationale
Erfahrungen
Jutta Buchner-Fuhs
Prof. Dr. Burkhard Fuhs – Universität Erfurt
1.
Einleitung: Medien und Generation als Problemfeld
Heutige Medien und die globale Mediatisierung1 (Krotz 2008) von Lebenswelten sind
– so die grundlegende These des nachfolgenden Aufsatzes – nur im Kontext generationaler Erfahrungen kulturanalytisch verstehbar. Insbesondere die sich rasch verändernden Jugendmedien- und Kindermedienkulturen müssen als Fokus für neu entstehende Formen des medialen Handelns verstanden werden, die in eine generationale Ordnung eingebettet sind. Dabei können die jüngeren Generationen nicht von
vornherein als „Avantgarde“ einer digitalen Zukunft und die älteren Menschen nicht
unhinterfragt als Verlierer des kulturellen Wandels verstanden werden. Jede Generation hat – so eine weitere Prämisse der nachfolgenden Überlegungen – einen eigenen Zugang und eine eigene Form der Bewältigung der Mediatisierung des Alltags
und unterschiedliche generationale Erfahrungen bedeuten nicht automatisch eine
Fremdheit in den alltäglichen Generationenbeziehungen.
Gefragt werden soll also nach dem Verhältnis der Mediatisierung der Lebenswelten
und unterschiedlichen generationalen Erfahrungen, wobei ein genauerer Blick auf
den Begriff „Generation“ deutlich werden lässt, dass das soziale Konzept der „Generation“ sehr unklar und vielschichtig ist. „Generation“ muss in einer Betrachtung des
sozialen Wandels mindestens in einem dreifachen Zugang zum Problem mediatisierter Gesellschaften verstanden werden.
Zunächst ist der kulturelle Wandel nur als eine historische Abfolge von Generationen
zu verstehen. So wie sich die Technisierung als eine Folge von Generationen eines
bestimmten Phänomens (etwa eines Mediums wie des Films oder einer Maschine
wie des Autos) beschreiben lässt, lassen sich auch die Mediennutzer in einer historischen Generationenfolge darstellen. „Grundlage des modernen Konzepts gesellschaftlicher Generationenverhältnisse“ – so Weymann in einem Artikel über Technikgenerationen – „ist der soziale Wandel Europas, ist der Fortschritt2 im Modernisierungsprozess. […] Je schneller und umfassender die Modernisierung […] sich durchsetze, desto größer wurde die Distanz zwischen Vergangenheit und Zukunft. […] Die
wachsende Distanz zwischen Vergangenheit und Zukunft hat Konsequenzen für das
1
Mediatisierung meint hier die Veränderung aller Lebensbereiche durch digitale Kommunikationsprozesse.
Medien sind nicht mehr ein Teil der Lebenswelt unter anderen, sondern die Lebenswelt ist nur noch unter der
Perspektive medialer Aneignung verstehbar. Der Begriff Mediatisierung umfasst auch kulturelle Prozesse des
Medienhandels und der Bewertung von Medien und eignet sich besser zur Beschreibung der Durchdringung
heutiger Lebenswelten durch die „neuen“ Medien(kulturen) als etwa der Begriff Digitalisierung, der eher
noch den Technisierungsprozess in den Blick nimmt und die generationale Perspektive unter der Prämisse
eines technischen Fortschritts zu verlieren droht.
2
Fortschritt als lineares Geschichtskonzept meint in diesem Zusammenhang keine Wertung im Sinne von „besser“, sondern die ambivalente Entwicklung eines kulturellen Phänomens unter einer spezifischen, in weiten
Teilen öffentlich anerkannten Werteskala (etwa stärker, schneller, leichter, billiger, effizienter etc.), die auch
zu negativen Ergebnissen führen kann.
73
Verhältnis der Generationen zueinander“ (Weymann 2000: 36f.), da die in der Vergangenheit gemachten Erfahrungen der „alten“ Generation insbesondere auf der Ebene technischer Innovationen nicht mehr zukunftstauglich sind. Insbesondere die
Novationsgeneration, also die Altersgruppe, die sich historisch zum allerersten Mal
eine neue Technik oder eine neue kulturelle Praktik aneignet, ist für den kulturellen
Wandel von besonderer Bedeutung (Buchner-Fuhs im Druck), da der Übergang in
eine neue technisch-mediale Kultur als ein „historisch spezifischer Erlebniszusammenhang“ einer Altersgruppe im Sinne von Karl Mannheim (1928) verstanden werden kann (Liebau 1997: 21). So wie man unter einem historischen Generationenbegriff eine Abfolge von Generationen nach politischen Ereignissen in der Jugendphase
einer Altersgruppe konstruieren kann (Kriegsgeneration, Wendegeneration, Protestgeneration), ist es möglich, eine Abfolge von Generationen über gemeinsame Mediennutzung von entwerfen. Dies kann sich an der Veralltäglichung eines Mediums
orientieren (Kino, Radio, Schwarz-Weiß-Fernsehen, PC, CD, mp3, Internet etc.) oder
an einer geteilten Erfahrung bestimmter Medieninhalte. In popularisierter Form findet
sich eine Zuspitzung und gleichzeitige Banalisierung dieses Ansatzes in den beliebten Jahrgangsbüchern, in denen eine historische Kohorte in der Regel über gemeinsame kulturelle Erfahrungen mitdefiniert wird. Thomas Reichert (2006) etwa sieht in
den Fernsehsendungen der Augsburger Puppenkiste (ebd.: 22), in der Mondlandung
und im Hören der Musik der Beatles, Bob Dylans oder der Rolling Stones prägende
Generationenerlebnisse (ebd.: 42) der um 1956 geborenen Deutschen. Ekkehard
Sander (2001) hat in einer empirischen Studie deutlich herausgearbeitet, dass die
Medienerfahrungen von jüngeren Jugendlichen das Generationenverhältnis zu den
Eltern bestimmt, wobei nicht nur Fremdheitserfahrungen gemacht werden, sondern
das Medienhandeln3 auch als Brücke zwischen den Generationen dienen kann und
den Jugendlichen ermöglicht, im Ablösungsprozess von den Eltern eine eigene Identität aufzubauen. Auch wenn Medienerfahrungen keineswegs in gleicher Weise (fast
zwangsläufig) einen Generationenzusammenhang stiften wie etwa Kriegserlebnisse,
sind sie doch eine wichtige Perspektive zum Verständnis des kulturellen Wandels
seit den 50er-Jahren.4
Neben der historischen Perspektive auf die Generation ist für das Verständnis von
Medienaneignung die Frage nach den Generationenbeziehungen bedeutsam. Unter
Generationenbeziehungen können nach Kaufmann (1995) alle direkten intergenerativen Kontakte, etwa in der Familie verstanden werden (vgl. Ecarius 1998: 52). In der
Familie werden zum Beispiel Werte und Normen der Mediennutzung ausgehandelt,
es werden Formen des Medienhandelns ausgetauscht und die Mediennutzung der
einzelnen Generationen unterstützt, kontrolliert, bestärkt oder behindert. Die Nutzung
von Medien durch Kinder und Jugendliche ist so stets generational gerahmt und nur
über die konkreten Generationenbeziehungen zu erklären.
3
4
Zum Medienhandeln als einem Konzept, das über die Nutzung hinaus den Umgang mit Medien in den Alltag
der Nutzer verortet vgl. Treumann u.a. 2007.
Die kulturelle Definitionen von Generation nicht unproblematisch, da unter diesem Konzept in beliebiger Art
und Weise Generationen „erfunden“ werden können, ohne das empirisch nachgewiesen wäre, dass die so
konstruierten Generationen als Gruppen wirklich unterschiedliche Erfahrungen vorweisen können. Auch besteht die Gefahr, dass aus den historischen Kulturformen (etwa Generation Golf) direkt auf einen Generationenzusammenhang, also auf gemeinsame Erfahrungen einer Kohorte, geschlossen wird. Wie aber eine Generation die Protestbewegung der 60er Jahre erfahren hat, lässt sich beispielsweise nicht aus den historischen
(Fernseh-)Dokumenten einer Zeit ableiten (vgl. Liebau 1997: 23). Auch bleibt in der Regel offen, ob nur die
Jugendzeit als „Prägephase“ für Generationenerfahrungen fungiert, oder ob nicht andere Altersphasen (Kindheit, Elternschaft, Renten-Reise-Alter) zu gemeinsamen kulturellen Erfahrungen führen kann.
74
Für das Verständnis heutiger Medienkultur kommt neben der historischen Generationenfolge und den konkreten Generationenbeziehungen – und das ist als dritter Punkt
zu nennen – den Generationenverhältnissen eine wichtige Rolle zu. Hier steht der
gesellschaftliche Diskurs im Vordergrund. Unter Generationenverhältnis kann der
Bezug der Großgruppen Alt und Jung zueinander gesehen werden. Das Generationenverhältnis richtet sich u. a. auf Fragen des Generationenvertrages oder der Generationengerechtigkeit (ebd.: 41). In der Öffentlichkeit werden Themen wie die
„Spannung“ zwischen den Generationen oder die „Solidarität“ zwischen Alt und Jung
verhandelt (Krappmann/ Lepenies 1997). Die öffentliche Diskussion des Generationenverhältnisses in der mediatisierten Lebenswelt ist von einer Reihe von „Mythen“5
belastet, die eine reflektierte Sicht auf Veränderungen der Lebenswelten im Miteinander der Generationen verstellt oder zumindest erschwert.
Die Diskussion um die Mediatisierung der Lebenswelten ist heute in der Regel von
einer massenmedialen Kritik an bestehenden Generationenverhältnissen bestimmt.
Grundlage vieler – vor allem populistischer – Zeitanalysen zur Frage der generationalen Mediennutzung ist ein postulierter Bruch zwischen den Generationen. Auch die
Vorstellung, dass Kinder (fast) „natürlich“ mit den historisch neuen Medien umgehen
und diese kompetent bedienen könnten, ist einer der Mythen, die die heutige Diskussion um die Mediatisierung der Lebenswelten bestimmt. Während aber auf der Ebene von Generationenverhältnissen hinsichtlich der Mediennutzung zwei Generationen gegeneinander gestellt werden, erweist sich die Ebene der Generationenbeziehungen als wesentlich komplexer. So wird etwa in Internetforen vor dem Hintergrund
konkreter Beziehungen in Familien zum Beispiel die „Omatauglichkeit“ von Computern, Handys oder DVD-Rekordern diskutiert.6 Das Stereotyp Fremdheit zwischen
den Generationen wird – das lässt sich festhalten - keineswegs der komplexen Realität heutiger Medienkultur und heutiger Generationenbeziehungen gerecht. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass sich einige ältere Mediennutzer vehement
gegen alle Formen der generationalen Stigmatisierung wehren. So schrieb beispielsweise im Forum der Zeitschrift Chip (2006) ein User mit dem Namen „Dulcinea“
zum Thema „DVD-Bedienbarkeit“ über die Beziehung zum eigenen Enkel:
„Ich bin zwar ‚erst‘ 66 Jahre alt, also noch vergleichsweise junges Gemüse; aber wenn ich mal ein bisschen angeben darf - es kommt immer noch vor, dass mein
16jähriger Enkel, der in der Computerei nicht ganz unbedarft ist, bei einem Problem
bei mir anruft (Wenn es um DOS geht, sowieso). Und wenn ich in meinem Alter, ohne spezielle Linux-Kenntnisse, die Dreambox in mein System einbauen und damit
TV- und Rundfunk-Aufnahmen machen und sie auf meinen Rechnern mit den üblichen Freeware-Bordmitteln bearbeiten kann, dann wird man doch wohl einem/einer
76-Jährigen einen einfachen DVD-Rekorder zumuten können. Vielleicht kann man
bei der Einrichtung ein bisschen Hilfestellung geben. Aber danach gibt's doch Fernbedienungen. Oder? Man muss die Alten auch mal ein bisschen fordern ...“ (Dulcinea
2.10.2006)“ 7.
Die Erfahrung von Generationendifferenz ist also sehr vielfältig (vgl. WinterhagerSchmidt 2000) und in weiten Teilen auch ambivalent bezüglich des eigenen Erlebens
5
Unter Mythos wird in diesem Zusammenhang eine Erzählung verstanden, die den Anspruch erhebt einen Zusammenhang treffend zu beschreiben. Vgl. die Mythen über Familie bei Lenz/Böhnisch 1997: 11)
6
Vgl. http://www.ip-phone-forum.de/archive/index.php/t-76313.html, http://www.ureader.de/msg/3647666.
aspx (04.03.2009).
7
http://forum.chip.de/search.php?searchid=2203974 (02.03.2009).
75
von Kompetenz und Hilflosigkeit, von Erwartungen und ihren Umsetzungen im eigenen Leben8. Insbesondere – dies macht Susanne Maurer in ihrer „Verschränkung“
von Generationenbeziehungen und Geschlechterverhältnissen deutlich – ist es für
die ältere Generation sehr schwierig, ihre Erfahrungen einer jüngeren Generation zu
übermitteln, auch wenn sozialpädagogische Methoden wie das Erzählcafé zeigen,
dass eine Begegnung der Generationen und eine Vermittlung von Erfahrungen etwa
unter Frauen medial durchaus gelingen kann (Maurer 2000).
Die Medienkultur sozial, genderspezifisch und historisch zu differenzieren ist demnach für einen generationalen Zugang zur Erfahrung des sozialen Wandels von zentraler Bedeutung. Insbesondere ist es problematisch, unter dem Aspekt „Generationenverhältnis“ die Gruppe der „Alten“ und die Gruppe der „Jungen“ als relativ homogene Gruppen zu begreifen. Insbesondere dürfen Kindheit und Jugend nicht zu einer
„Kindheitsphase“ verschmolzen werden, und auch in der Kindheit dürfen die großen
Unterschiede etwa zwischen den Vorschulkindern und den jungen Jugendlichen im
Alter von zwölf oder 13 Jahren nicht übersehen werden. Hinzu kommen noch soziale
Unterschiede und individuelle Kompetenzen und Präferenzen.
Schaut man auf den öffentlichen Diskurs wird deutlich, dass der mediale Wandel der
Kultur vor allen an der Kindheit diskutiert wird. Der Begriff Medienkindheit, der kein
Pendant etwa in Medienjugend, Medienerwachsensein oder Medienalter findet,
scheint also für eine stellvertretende Diskussion der Mediatisierung aller Generationen allein am Beispiel der Kinder zu stehen. Über Kindermedien jedenfalls wird heute in der Öffentlichkeit viel und kontrovers gestritten – etwa um den Bildschirm, seine
Gefahren und seine Chancen. Es scheint, dass die Erwachsenen besorgt sind und in
den Medien eine zentrale Gefährdung der heutigen Kinder sehen. In einer pluralistischen Gesellschaft, in der sich Erwachsene nur schwer auf eine gemeinsame Perspektive und auf gemeinsame Werte einigen können, stellt die Kindheit offensichtlich
einen gesellschaftlichen Bereich dar, der zwischen Gesellschaft und Individuum vermittelt und dessen Bedeutung von vielen über zahlreiche Differenzen hinweg anerkannt wird: wenigstens den Kindern soll es gut gehen. Kindheit wird somit in vielfacher Weise zu einer Bühne, auf der Erwachsene ihre Probleme thematisieren und
austragen. Des Weiteren wird deutlich, dass die Vorstellungen über eine gute Kindheit, die sich für viele Erwachsene mit den Erinnerungen an die eigene Kindheit verbindet, von einem doppelten Blick geprägt sind. Kinder werden damit an den Vorstellungen der Erwachsenen gemessen, die trotz scheinbarer Kindzentrierung vor allem
mit ihren eigenen Werten, Normen und Vorstellungen beschäftigt sind. Die Energie,
mit der Erwachsene ihre Kindheitsbilder durchsetzen, offenbart, dass - trotz der Vorstellungen einer neuen Selbstständigkeit der Kinder - das Generationenverhältnis
immer noch von versteckten Machtansprüchen dominiert wird.
Bezüglich der generationalen Ordnung (Honig 1999) der mediatisierten Lebenswelt
von Kindern und Jugendlichen stellen sich vor diesem Hintergrund eine Reihe von
Fragen. Welche Rolle etwa spielen die Medien für die Beziehungen zwischen den
Generationen? Hat sich mit der Technisierung und Mediatisierung des Alltags eine
neue Grenze zwischen den Generationen entwickelt? Wie lässt sich das Generationenverhältnis in mediatisierten Lebenswelten beschreiben, wie hat es sich verändert
und welche Generationenbilder werden mit der Digitalisierung der Medien verbunden? Welche Erfahrungen machen unterschiedliche Generationen mit dem Wandel
8
Zur Ambivalenz von Generationenbeziehungen vgl. Lüscher 2000.
76
ihrer Lebenswelt, wie wird die Mediatisierung bewältigt und ist die alte Generation
wirklich die Verlierergruppe im Prozess der Veralltäglichung neuer digitaler Medien?
Zunächst soll der Blick auf die Generationenverhältnisse und auf die Frage, wie der
Wandel zwischen Alt und Jung beschrieben werden kann, gelenkt werden.
2.
Alt und Jung im Wandel: Bedrohungsszenarium
Zunächst einmal gilt es festzuhalten, dass die Generation der „Alten“ kaum in medienwissenschaftlichen Untersuchungen beachtet wird: Medienforschung ist heute
vor allem Jugendforschung (Schorr 2008) und – unter Jugendschutzfragen oder unter Fragen des Zugangs zu Medien – eingeschränkt Kinderforschung (FreyVor/Schuhmacher 2006). „Handystudien“ etwa gehen unhinterfragt davon aus, dass
der mediale Wandel vor allem an der Jugendkultur studiert werden kann und muss,
ohne dass dies reflektiert werden würde (vgl. etwa Höflich 2007). Auch Studien wie
die KIM und JIM Studie, die in der Öffentlichkeit große Aufmerksamkeit erhalten, lenken den Blick auf die Kinder und Jugendlichen. Eine mögliche SIM Studie, die die
Mediennutzung von Senioren neben die der Kinder und Jugendlichen stellen würde,
fehlt und scheint zurzeit auch nicht notwendig, da von der Mediennutzung der Senioren offensichtlich keine Aufschlüsse über die Mediatisierung von Gesellschaft erwartet werden. In den Sozialwissenschaften herrscht dem Anschein nach die Überzeugung, dass die Zukunft der Medienkultur und die mediale Entwicklung ausschließlich
an der (Kinder-) und Jugendkultur abgelesen werden müsse.
Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass die Älteren – wie Dorothee Wiegand in der Computerzeitschrift c’t formulierte - hinsichtlich der neuen Medien als
„unterschätzte Generation bezeichnet werden können (Wiegand 2007). Eine Studie,
die das Bielefelder Kompetenzzentrum Technik - Diversity - Chancengleichheit im
Auftrag von Intel durchführte9, kommt dagegen zu dem Ergebnis, dass Senioren
durchaus eine ernsthafte Zielgruppe auf dem Computermarkt sind. „Die 1120 teilnehmenden ‚Silver Surfer“ beantworteten unter anderem ‚Fragen zu ihren Motiven für
die Beschäftigung mit dem Computer und Gewohnheiten der Nutzung. Rund zwei
Drittel der Befragten gehen bereits per Breitband ins Internet und legen Wert auf eine
hochwertige Computer-Ausstattung. ‚Wir sind überrascht, wie technikbegeistert diese
Generation ist‘, kommentiert der Intel-Geschäftsführer Hannes Schwaderer die Ergebnisse der Studie“ (ebd.).10
Die grobe Fehleinschätzung, Gesellschaft entwickle sich nur in jugendkulturellen
Kontexten und fortschrittliche Computernutzung sei allein Jugendkultur, ist umso
problematischer, da die Generation der Älteren und Alten statistisch keine Randgruppe ist und es zukünftig auch nicht werden wird. Schenkt man den Visionen der
Alternsforscher11 Glauben, dann wird sich das Generationenverhältnis von Jung und
Alt dramatisch verschieben: auf „100 20-60-Jährige sollen demnach 2030 73,5 über
60-Jährige und ältere und 38,8 bis 20-Jährige kommen“ (Enquete-Kommission zit.
nach Tews 2000: 28). Tews spricht von einem „dreifachen Altern“, das erstens durch
die Zunahme der älteren Menschen, zweitens durch das Ansteigen der Hochaltrigkeit
9
Vgl. Von den Onlinern lernen, die (N)ONLINER überzeugen, Studie zur Computerausstattung der Generation
50plus, 50plus-ans-netz.de/content/view/full/8966
10
Freilich gibt es unterschiedliche Muster der Techniknutzung im Alter (Nähe-Distanz). Eine differenzierte
Darstellung nach „Typen technisierter Lebensführung“ geben Mollenkopf/ Kaspar 2004.
11
Vgl. Tews 1996; Wahl/ Mollenkopf 2007.
77
bestimmt ist und drittens, wie das Zitat zeigt, das Verhältnis zwischen Alt und Jung
betrifft. Waren im Jahr 1995 noch 17 Prozent der Bevölkerung Kinder und Jugendliche (bis 16 J.), so werden 2040 nur noch 12 Prozent erwartet (1995: 15 Prozent über
65 Jahre; für das Jahr 2040 wird erwartet, dass 27 Prozent der Bevölkerung zu den
älteren bis hochaltrigen Menschen gerechnet werden können). Im Jahr 2040, auch
das lässt sich hier anmerken, bilden die im Jahr 1960 Geborenen die Hochaltrigen.
Für diese Gruppe gilt, dass sie zwar wie die heutige alte Generation noch ohne digitalisierte Medien aufgewachsen ist, aber im Unterschied zu den heute Hochaltrigen
selbstverständlich ihren (beruflichen) Lebensweg mit digitalisierten Medien gestaltet
hat.
Folgt man diesen statistischen Überlegungen und verbindet sie mit Fragen der Mediennutzung, so erscheint der Aufruhr, der öffentlichkeitswirksam immer wieder in
Zusammenhang mit der Mediatisierung der Gesellschaft zu vernehmen ist, paradox.
Die Älteren, die noch ohne die „neuen“ Medien sozialisiert wurden, können angesichts der „kräftigen relativen (und absoluten, J.B-F) Zunahme Älterer (Tews 2000:
28) recht gelassen davon ausgehen, dass sie eine zukünftige Konsumentenaltengruppe sein werden, deren lebensgeschichtlich erworbenes Nutzungsverhalten der
Medien sozial und ökonomisch von Belang sein wird. Soll heißen: Der gesellschaftliche Wandel ist nicht nur durch die beschleunigte Entwicklung neuer medialer Formen gekennzeichnet, die grundsätzlich die Gefahr des Ausschlusses für ältere Menschen impliziert, sondern auch durch vielfältige Umgangsweisen charakterisiert, die
die alternde Gesellschaft repräsentieren.
Während aber die Älteren in vielfacher Weise in und mit der neuen Medienwelt leben, geht der öffentliche Diskurs in eine andere – sensationsaufgeladene – Richtung.
Eigentlich würde in dieser Situation des technischen Umbruches generationspolitisch
gesehen eher Anlass zur Gelassenheit als zum Aufruhr bestehen. Charakteristisch
aber für die (mediatisierten) Lebenswelten von Alt und Jung ist die Metapher der Bedrohung. Wie die beiden folgenden auf den ersten Blick völlig unzusammenhängenden Beispiele verdeutlichen: So werden die heutigen Kinder und ihr Umgang mit den
„neuen“ Medien zur Bedrohung für die ältere Generation, die noch mit Zeitungen,
Radio, Büchern und (ab den 50er-Jahren) mit dem Fernsehen aufgewachsen ist. Aber auch die ältere Generation wird zur Bedrohung für die heranwachsende Generation, was immer wieder in der Debatte um die Sicherung der Renten zum Vorschein
kommt. Die demografisch-wirtschaftliche und die mediale Argumentationen zeigen,
so unterschiedlich sie erscheinen mögen, gewisse Gemeinsamkeiten: Die Generationen sind nicht nur altersmäßig getrennt voneinander, sondern, was wichtiger ist,
einander fremd gedacht und in ihrem Fremdsein stellen sie eine gegenseitige Bedrohung dar.
Das Bedrohungs-Phänomen in seiner wirtschaftlichen Dimension weiterzuverfolgen,
ist freilich nicht das Anliegen des vorliegenden Beitrags. Die mediale Dimension der
Bedrohungs-Metapher lohnt indes, noch genauer betrachtet zu werden.
3.
Digital Natives und Digital Immigrants oder die Postulierung von Insidern
und Outsidern
Die mediale Entwicklung der Gesellschaft wird in den Medien nicht selten in einem
bipolaren Geschichtsbild abgebildet, das die Jungen zu Insidern und die Alten zu
78
Outsidern macht. Folgt man zum Beispiel den Ausführungen zu den „Digital Natives“
(vgl. Palfrey/Gasser 2008) und den „Digital Immigrants“, so entwickelt sich eine Generation, die eine gänzlich andere Sprache als ihre Eltern- und Großelterngeneration
spricht. Sprache kann zwar verbinden, aber wie die Lebenssituationen von vielen
Migranten verdeutlicht, im Falle ihrer Nicht-Beherrschung scharf trennen und sich auf
die gesamte Lebensgestaltung in Form von Exklusionserfahrungen auswirken. Die
„neue“ Sprache der vermeintlich neuen Medien ist der heranwachsenden Generation
vertraut – fremd dagegen ist sie für diejenigen, deren Kinderzeit ohne Spielekonsole,
Internet oder Handy auskam. Angesichts des Mediums Internet wird hier der Mythos
der Fremdheit zwischen den Generationen neu und in Schwarzweiß-Skizzen fortgeschrieben.
Betrachtet man den Diskurs zu den Digital Natives näher, so zeigen sich zwei Positionen: Die Erwachsenengeneration erfindet und beschreibt die „Digital Natives“ zum
einen mit Bewunderung. Zum anderen zeigt sich in den Beschreibungen auch die
Sorge um die Konsequenzen, die die digitalisierte Welt hat. In ihrer Gesamtheit betrachtet, scheint die Situation paradox zu sein: Bewunderung und Technikeuphorie
stehen zwar der sorgenvollen Bewertung der neuen Technik-Kinder-Welten diametral
entgegen (vgl. Lüscher 2000). Aber wenn man den Diskurs über die Optionen und
Wirkungen der „neuen“ Medien in Bezug zueinander setzt, dann trifft man auf eine
paradoxe Mixtur der lustvollen Inszenierung von Bedrohungsszenarien. Beispiele für
diese lustvollen Bedrohungsszenarien ließen sich viele finden, im Folgenden sollen
lediglich einige Auszüge einer kurzen Internetrecherche vorgestellt werden.
Marc Prensky beschreibt bereits im Jahr 2001, dass sich die jüngere Generation
durch die digitalen Erfahrungen tief greifend von der älteren unterscheide. Die beschworene Kluft wird zur Spaltung, wenn die Beteiligten unterschiedliche Sprachen
sprechen.
“Today’s students […] represent the first generations to grow up with this new technology. They have spent their entire lives surrounded by and using computers,
videogames, digital music players, video cams, cell phones, and all the other toys
and tools of the digital age. Our students today are all “native speakers” of the digital
language of computers, video games and the Internet. So what does that make the
rest of us? Those of us who were not born into the digital world but have, at some
later point in our lives, become fascinated by and adopted many or most aspects of
the new technology are, and always will be compared to them, Digital Immigrants.
The importance of the distinction is this: As Digital Immigrants learn – like all immigrants, some better than others – to adapt to their environment, they always retain, to
some degree, their ‘accent,’ that is, their foot in the past. The ‘digital immigrant accent’ can be seen in such things as turning to the Internet for information second
rather than first, or in reading the manual for a program rather than assuming that the
program itself will teach us to use it. Today’s older folk were ‘socialized’ differently
from their kids, and are now in the process of learning a new language. And a language learned later in life, scientists tell us, goes into a different part of the brain”
(Prensky 2001).
Diese Rede von der digitalen Kluft zwischen den Generationen, die vor vereinfachten
Generalisierungen nicht zurückschreckt, ist eingängig; sie soll überzeugen. Differenziertere Sichtweisen werden ausgeblendet: So müssten als Digital Immigrants freilich
nicht nur die Älteren, sondern auch die Jüngeren bezeichnet werden, die – trotz ihres
79
Aufwachsens in mediatisierten Lebenswelten – auch heutzutage ein distanziertes
Verhältnis zu den digitalen Optionen ihres Alltags haben. Dass das Lesen von Computermanualen, ein anderer Einwand, nicht unbedingt ein generationenspezifisches,
sondern auch ein geschlechtsspezifisches Merkmal ist, das wäre ein weiteres Indiz
für die reduzierte Argumentation.
Folgt man aber dem Diskurs zu den „Digital Natives“, soll die junge Generation in
den digitalen Welten so leben, dass sie zwischen Online- und Offline-Identitäten nicht
mehr unterscheiden kann. Die Szenerie lässt sich nicht auf die adoleszente Phase
der Identitätsentwicklung beschränken (Feil/ Decker/ Gieger 2004). Die digitale Welt
reicht auch in die Kindheit. Wenn Kindheit in digitalen Kontexten entworfen und gelebt wird, dann aber werden bekannte Kinderwelten brüchig. Die Kindheit wäre dann,
folgt man den Szenarien, in fundamentaler Weise bedroht. Die Argumentation erinnert an das schon vor Jahren postulierte Ende der Kindheit, und wie bei Neil
Postman (1995) handelt es sich um eine Argumentation, die die Gefahr der Medien
für das Aufwachsen der Kinder (in paradoxer Weise) lustvoll ausschmückt.
4.
Spaltung versus Begegnung der Generationen in mediatisierten Lebenswelten
„Was für die Generation X12 noch schwer zu akzeptieren war, das ist für deren Kinder
völlig normal: die alles durchdringende Kommerzialisierung des Lebens, die auch vor
ehemals sakrosankten Räumen wie Schulen und Universitäten je länger, je weniger
Halt macht. Für die Digital Natives ist diese merkantile Welt eine Tatsache. Sie sind
in ihr aufgewachsen, mussten den für die Generation X schmerzhaften Übergang zu
dieser für sie neuen Welt nicht mehr durchlaufen“ (Bütikofer 2008).
Die Fremdheit der Generationen erscheint (im Blickwinkel des Mythos der Modernisierung als Jugendkultur) unüberwindbar, und der Wandel – so im Bild der generationalen Trennung und Spaltung - vollzieht sich so schnell, dass die ältere Generation
bewusst wahrnimmt, dass sie keine Chance der Partizipation hat. In dieser Situation
findet die jüngere Generation Bedingungen des Aufwachsens vor, die mit den biografischen Erfahrungen der älteren Generation nicht vergleichbar sind. Diese Vorstellungen der durch den sozialen Wandel getrennten Generationen begleitet die Wahrnehmung der Moderne.
Schon Margaret Mead hat auf diesen Grundkonflikt zwischen den Generationen in
modernen Gesellschaften aufmerksam gemacht. In modernen Kulturen könnten die
Erwachsenen bei der Erziehung nicht mehr auf ihre eigene Kindheit zurückgreifen. In
traditionellen Gesellschaften dagegen gehe der Wandel der Kultur „so langsam und
unmerklich vonstatten, dass Großeltern sich für ihre neugeborenen Enkel keine andere Zukunft vorstellen können als ihre eigene Vergangenheit“ (Mead 1970: 30). Die
Erwachsenen müssen also erfahren, dass ihre eigene Welt und damit auch die vertraute Mediennutzung, die sie sich in ihrer Kindheit und Jugend angeeignet haben,
heute von den Kindern und Jugendlichen nicht mehr geteilt wird. Durch die rasante
Entwicklung aber sei es zu einem Bruch zwischen den Generationen gekommen.
„Die Kinder von heute sind“, so Mead 1970, „in einer Welt aufgewachsen, die die Älteren nicht gekannt haben, und nur wenige Erwachsene sahen diese Entwicklung
12
Generation X: Wohlstandsgeneration der um 1970 geborenen. Vgl. hierzu Coupland 1994.
80
voraus“ (ebd.: 27). Dadurch, dass die Älteren nicht mehr automatisch Vorbilder für
die Kinder sind, kommt es für Mead zu einer Isolierung der Generationen.
Diese These der grundsätzlichen, nicht überwindbaren Fremdheit zwischen den Generationen ist ein zentraler „Mythos“, der auch in der heutigen Medienkultur seinen
Niederschlag gefunden hat. Dass diese These einer grundlegenden Fremdheit zu
kurz greift, wird deutlich, wenn man unter der Perspektive von Kindheit die Generationenerfahrungen in den Blick nimmt (Fuhs 2002). Kinder und Erwachsene sind etwa
durch unterschiedliche soziale, psychische und körperliche Erfahrungen voneinander
getrennt (Fuhs 2003b), ohne dass dieses Anderssein eine grundlegende Begegnung
und emotionale Nähe verhindern würde. In der Verschiedenheit liegen neue Erfahrungsmöglichkeiten des generationalen Austauschs. Angesichts brüchiger Generationenbeziehungen im sozialen Wandel können Medien wie das Bilderbuch (Fuhs
2007) oder die Kinderliteratur (Fuhs 2003a,c) den Dialog zwischen den Generationen
befördern. Die einfache Feststellung, dass unterschiedliche Generationen unterschiedliche Medien nutzen und präferieren, verstellt dieses kommunikative Potential
neuer und alter Medien.
Die Begegnung zwischen den Generationen – dies bleibt festzuhalten – ist im Zuge
der Mediatisierung der Lebenswelt keine selbstverständliche Tatsache, sondern eine
soziale Aufgabe, die es zu gestalten gilt. Erziehungsvorstellungen, die etwa in den
50er-, 70er-Jahren entwickelt worden sind, passen nicht mehr zu den heutigen Kindern. Eltern versuchen in einem doppelten Blick (Fuhs 1999) ihre eignen Kinder über
die Kindheitsbilder ihrer eigenen vergangenen Kindheit zu verstehen und müssen
mühsam lernen, die neuen Kindheitsformen zu bewältigen. Im Unterschied aber zu
lauten Protesten gegen autoritäre Vorstellungen von Erziehung, im Gegensatz zu
Halbstarken-Krawallen und (Jugend-)Protesten der 68er-Generationen vollzieht sich
der heutige Umbruch leise. Die Jugendlichen ziehen sich in ihre Zimmer, in ihre
Räume zurück, wenn sie sich zum Beispiel mit Computerspielen allein oder in gemeinsamen Netzen beschäftigen (vgl. JIM 2008). StudiVZ oder YouTube bergen
Welten, die vergleichsweise leise und unauffällig daher kommen. Jugendliche, die
mit dem Handy und Computer aufgewachsen sind, entwickeln Nutzungsformen, die
die neue Technik selbstverständlich in die eigenen Identitätskonstruktionen übernehmen. Die Erwachsenen bleiben, was freilich für den Eigen-Sinn von Jugendkultur
charakteristisch und somit nicht unmittelbar in Zusammenhang mit der Digitalisierung
steht, in der Regel außen vor.
5.
Der Moses-Effekt
Die Einführung neuer digitaler Medien und die neuen Formen der Nutzung dieser
Medien etwa im Sinne einer Medienkonvergenz (Theunert 2002; Schuegraf 2007)
lässt offensichtlich eine Medienkultur entstehen, die von den Jüngeren aber nicht
mehr von den Älteren benutzt werden kann. Auch wenn die neuen Medienformen
von der älteren Generation entwickelt und eingeführt wurde, so scheint es, dass erst
die nächste Generation diese neue Kultur vollständig in die eigene Lebenswelt inkorporiert. Beim Übergang in die digitalisierte Lebenswelt handelt es sich um ein Phänomen, das als „Moseserfahrung“ beschrieben werden kann. „Während Mose, der
kurz vor seinem Tod vom Berg Nebo (5. Buch Mode 34) das verheißene Land sehen,
aber nicht betreten darf, sind es seine Nachfahren, die über die Grenze in eine neue
Zukunft treten können. Technischer und sozialer Wandel kann zu ähnlichen Erfah81
rungen führen, die neue Medienwelt können viele Ältere schon sehen, aber vollständig betreten werden kann sie nur von den Kindern und Jugendlichen“ (Fuhs 2007b:
175).
Zwar werden auch hier die Generationen in ihren Technikerfahrungen getrennt. Aber
im Unterschied zur Bedrohungs-Metapher zeigt sich im Bild des Mose die Teilhabe
und Unterstützung der Älteren. Die Älteren, also die Erwachsenen, sind es, die die
Jüngeren, die Kinder, nicht nur auf vertrautem Gelände begleiten, sondern im Sinne
einer „begleiteten Grenzüberschreitung“ auch an solche Dinge heranführen, die von
der älteren Generation nicht in der gleichen Weise angeeignet werden kann, wie dies
die jüngere Generation tut. Selbstverständlich spielt es eine Rolle, welche biografischen Vorerfahrungen ein älterer Nutzer mit der Vorgängertechnik hatte, in welchem
Alter das historisch neue Kulturphänomen in sein Leben tritt und welche Motivationen, welche Zwänge, Wünsche und Emotionen mit einer möglichen Aneignung der
neuen Technik verbunden sind.
Der Moses-Effekt meint also, dass es wichtig ist, in der generationalen Analyse der
Mediennutzung, die Generationen nicht polarisierend als In- und Out-Gruppen bezüglich einer technischen Novation zu konstruieren, sondern die Abfolge der Generationen in einen historischen Kontext zu stellen. Im Zuge der Modernisierung von Gesellschaft und des kulturellen Wandels gibt es stets Generationen, die Veränderungen vorbereiten, produzieren, mittragen und begleiten, aber in ihre eigene Nutzung
nur partiell diese Neuerungen integrieren können. Die Erfahrung der Weitergabe der
Entwicklung an eine jüngere Generation, die biografisch individuell und historisch
kollektiv vollzogen werden muss, ist keine Erfahrung der heutigen Alten, sondern eine Grunderfahrung aller Generationen, so lange sich Kultur in einem Tempo bewegt,
das der Einzelne in seinem Leben wahrnehmen kann.
Im Folgenden wird deshalb die These vertreten, dass nicht die digitalisierten Lebenswelten per se das Problem darstellen, sondern dass die Frage der Bewertung
des Wandels in lebensgeschichtlichen Kontexten zentral ist. Handelt es sich tatsächlich um den Ausschluss der älteren Generation, da sie sich in der neuen digitalisierten Welt nicht mehr orientieren kann? Handelt es sich gar um eine Bedrohung der
Älteren, da sie den Verlust von Sicherheiten verkraften müssen? Oder haben wir es
grundsätzlich mit gesellschaftlichen (und sozialen) Folgen des technischen Wandels
und seiner Bewältigung zu tun, so dass die Lebenswelt grundsätzlich als digitalisierte
Lebenswelt zu verstehen ist, was aus Sicht der Kindheitswissenschaft in generationaler Perspektive zu reflektieren ist und (sozial-)pädagogisch zu neuen Aufgaben
führt? Folgt man der Spur der Digital Natives, so richtet sich das Interesse auf die
Kindheit, speziell auf die frühe Kindheit, denn das „Eingeborensein“ meint die Vertrautheit mit einer Kultur von Geburt an.
6.
Veränderungen in der frühen Kindheit: Medien, Bildung, Kindergerechtigkeit
Mediatisierung betrifft alle Generationen und Lebensbereiche heutiger Gesellschaften. Mediatisierung zielt auch auf die Bildung, das heißt in diesem Kontext auch,
dass neben traditionelle Formen informelle Prozesse des Lernens getreten sind (Otto/ Rauschenbach 2004; Cross 2006), die vor allem in und mit den Medien stattfinden. Die Untersuchung von Bildungsprozessen in mediatisierten Lebenswelten muss
82
heute in der frühen Kindheit beginnen (vgl. Schäfer 2001). Im Zuge der PISAUntersuchungen setzte eine verstärkte Bildungsdiskussion ein, die zunächst auf die
Schule gerichtet war und sich heutzutage in besonderem Maße auf Kindertageseinrichtungen bezieht. Kinder im so genannten Kindergartenalter, aber auch die unter
Dreijährigen sind in den Fokus familien- und (bildungs-)politischen Interesses geraten. Eine breite Diskussion über die Qualität der Bildungs- und Betreuungseinrichtungen hat inzwischen zu zahlreichen Initiativen und Projekten geführt.
„A World fit for Children“ heißt es seit dem Weltkindergipfel in New York aus dem
Jahr 2002. Grundlegend ist die UN-Kinderrechtskonvention, die die Rechte der Kinder herausstellt. In Deutschland wurde von Seiten der Bundesregierung der „Nationale Aktionsplan für ein kindergerechtes Deutschland 2005-2010“ gestartet, ein Zwischenbericht liegt gerade vor (4.12.2008).
Im Mittelpunkt der Bemühungen um „mehr Kindergerechtigkeit“ stehen die folgenden
„Handlungsfelder“:
1. Chancengerechtigkeit durch Bildung
2. Aufwachsen ohne Gewalt
3. Förderung eines gesunden Lebens und gesunder Umweltbedingungen
4. Beteiligung von Kindern und Jugendlichen
5. Entwicklung eines angemessenen Lebensstandards für alle Kinder
6. Internationale Verpflichtungen“
(Nationaler Aktionsplan "Für ein kindergerechtes Deutschland 2005-2010" (NAP)13
Da Bildung, Partizipationsmöglichkeiten und auch der Aspekt des „angemessenen
Lebensstandards für Kinder“ der Kindergerechtigkeit zugeordnet werden, ist zu fragen, welche Bedeutung die Medien in diesem Kontext haben. Das folgende längere
Zitat, das dem Bayerischen Bildungs- und Erziehungsplan entnommen ist, liest sich
wie eine ergänzende Erläuterung:
„In der modernen Gesellschaft sind Informations- und Kommunikationstechnik (IuK)
und Medien maßgebliche Faktoren des öffentlichen, politischen, kulturellen, wirtschaftlichen und beruflichen Lebens. Sie sind dementsprechend alltäglicher Bestandteil der individuellen Lebensführung. […] Kinder kommen von klein auf mit IuK und
mit Medien in Berührung, in ihren sozialen Lebensräumen und in unterschiedlichen
Inhalten und kommunikativen Kontexten. […] Alter, Geschlecht, sozialer und kultureller Hintergrund beeinflussen die Vorlieben für mediale Inhalte und Tätigkeiten, die
Interessen, die an Medien herangetragen werden, und die Möglichkeiten, sich die
Medien selbstbestimmt und aktiv zunutze zu machen. Insbesondere beeinflusst die
soziale Herkunft die Chancen und Risiken, die Kindern aus den Medien erwachsen.
Die Risiken“, so wird deutlich formuliert, „häufen sich vor allem in sozial benachteiligten Familien“ (Bayerisches Staatsministerium 2007: 230-232).
Ein verantwortlicher Medienumgang und die Nutzung von neuen Medien im Sinne
der Selbstbildung lassen sich zu den Erziehungs- und Bildungsaufgaben rechnen,
die nicht allein von der Familie zu bewerkstelligen sind. Mediennutzung als Bildungserfahrung ist keine Kompetenzvermittlung in der Art und Weise, den „richtigen“ Umgang und die praktische Handhabung des Computers zu erlernen (vgl. Schäfer 2007:
68). Vielmehr geht es darum, die Bildungschancen der neuen Medien nutzen zu
können. Bildung darf hier nicht auf Wissen und Wissensvermittlung reduziert werden,
13
http://www.bmfsfj.de/bmfsfj/generator/BMFSFJ/kinder-und-jugend,did=31372.html, (18.2.2009)
83
sondern ist in einem weiten Sinne als Zugang zu sich, zu Anderen und der Welt zu
sehen (Dörpinghaus/Poenitsch/Wigger 2006). Medienkompetenz in diesem Verständnis stellt sich als Wirklichkeitskompetenz dar.
Dadurch, dass ‚Medienkompetenzen’, die man u. a. im Umgang mit dem Computer
erwirbt, zu den ‚kulturellen und beruflichen Basisqualifikationen’ gezählt werden, haben die Kindergruppen, die nicht mit diesen Medien vertraut sind, ‚Startnachteile’
(Betz 2008: 344, vgl. hierzu den 12. Kinder- und Jugendbericht, BMFSFJ 2005: 60).
Der Sozialen Arbeit, das soll hier zumindest angedeutet werden, stellen sich neue
Aufgaben. Studien zum Mediengebrauch von Kindern weisen immer wieder auf die
Relevanz von Milieudifferenzen hin. Bekannt ist, dass Kinder aus Unterschichtsmilieus mehr fernsehen als Kinder aus Mittel- und Oberschichtsmilieus (vgl. etwa die Ausführungen zum Kinderpanel bei Betz 2008: 273). „Während in der Oberschicht (8 %)
mehr als zwei Stunden TV pro Tag sehr selten vorkommt“, so stellt die 1. World Vision Kinderstudie für den Fernsehkonsum der 8-11-jährigen Kinder fest, „ist dieses in
der Unterschicht auffällig häufig (41 %) der Fall“ (2007: 185). Ein großer Unterschied
besteht auch in den Zugangsmöglichkeiten zum Internet: „Kinder aus der Unterschicht geben signifikant seltener als Kinder aller anderen Schichten an, über einen
Internetzugang zu verfügen“ (26 % der Kinder aus der Unter- und 66 % der Kinder
aus der Oberschicht; World Vision Deutschland 2007: 190). In ihrer aktuellen Sekundäranalyse des DJI-Kinderpanel kann Betz nachweisen, dass Kinder, die sie dem
Milieu 1 zuordnet, das die geringsten Kapitalien aufweist und der „Unterschicht“ zuzurechnen ist, zu 61 % den Computer nutzen und nur zu 11 % im Internet surfen.
Kinder des Milieus 4 nutzen den Computer dagegen zu 83 % und immerhin über ein
Fünftel dieser Gruppe surft (21 %).14
Die Häufigkeit, so macht bereits diese knappe vergleichende Zusammenschau von
Fernsehkonsum und Computeranwendung deutlich, reicht als Kriterium zur Erläuterung der Konsequenzen von sozialer Ungleichheit und Medienzugang nicht aus. Empirisch feststellbare Ungleichheiten in der Kindheit sind immer auch Ausdruck familialer Bildungsstrategien (Büchner/ Brake 2006). Die soziale Ungleichheit – auch in der
Mediennutzung und im Medienhandeln – ist für Kinder stets im Kontext von Generationenbeziehungen zu sehen (Fuhs 2001). Der Medienumgang ist in kulturelle Praxen und Habitus eingelagert, und Medien gehören zu den milieuspezifischen Erfahrungsräumen der Kinder.
Es wäre sicherlich ein lohnenswertes Unterfangen, die unterschiedlichen Bildungspläne im Hinblick auf die Behandlung der „Medien als Bildungsthema“ durchzusehen
(vgl. Der Sächsische Bildungsplan 2007: 74-76; Schäfer 2007: 232.). Wenn zum Beispiel der Thüringer Bildungsplan „primäre Bildungserfahrungen“ von „sekundären
Bildungserfahrungen“ trennt, und damit eine Aufsplittung von Erfahrungen vornimmt,
und zwar von „selbst gemachten“ und „durch Medien vermittelte Erfahrungen“ (Thüringer Bildungsplan 2006: 107), so geht ein solcher Zugang noch davon aus, dass
die Erfahrungswelten bewusst zu trennen sind. Die Mediatisierung der Lebenswelt
indes meint die Durchdringung: Wie Technik den Alltag durchdringt, ihn formt, gestaltet und verändert, so sind auch die Medien unverzichtbarer Bestandteil einer „technischen Welt“. Der „medienbezogene Wandel ist […] für Ökonomie und Arbeit, für die
14
Im DJI-Kinderpanel wurden zwei Kohorten (5- und 8-Jährige) untersucht. Die erste Welle wurde 2002, die
zweite 2004 und die dritte 2005 durchgeführt.
84
Art der persönlichen Erfahrungen, für Identität, Weltsicht und soziale Beziehungen
der Menschen von fundamentaler Bedeutung“ (Krotz 2007: 38).
Noch sind vielerorts Vorbehalte anzutreffen. Erzieherinnen und andere KitaFachkräfte zum Beispiel sind oftmals gegenüber der Mediennutzung von Kindern
kritisch bis ablehnend eingestellt. Die Einschätzungen, die Reichert-Garschammer in
ihrer Studie aufführt, reichen von konkreten Zeitvorstellungen der Art, dass der Umgang mit elektronischen Medien nichts für das Alter der Kindergartenkinder sei, dass
man sich in dieser Altersgruppe auf Printmedien und Hörspielkassetten beschränken
könne, dass die Fernseherziehung eine Aufgabe der Eltern sei bis hin zu ernsthaften
Befürchtungen möglicher Schädigungen (vgl. Reichert-Garschhammer 2007: 85).
7.
„Schädliche“ Wirkungen und Schunddebatte
Frank Beckmann hat kürzlich an die Vorbehalte erinnert, die laut wurden, als der
KI.KA das Thema Fernsehen für unter Dreijährige“ verfolgte. „Als die Teletubbies
eingeführt wurden, war die Schädlichkeit für einige Kritiker unzweifelhaft. Der Nachweis war zwar ebenso wenig zu führen, wie ein Vierteljahrhundert zuvor bei der Sesamstraße. Aber das anfängliche Presseinteresse lieferte eine Plattform, auf der vieles behauptet und wenig belegt werden musste. Nach kürzester Zeit glaubten Experten schon unerwünschte Nebenwirkungen beobachtet zu haben (Beckmann 2007:
138). Beckmann spricht in diesem Kontext von „privater Empirie“, die argumentativ
eingesetzt worden sei und den Mangel an wissenschaftlichen Ergebnissen kaschiert
habe.
Empirie als Beobachtung zielt auf die wissenschaftliche Verwendung, mit dem Adjektiv „privat“ wird ein solches Vorgehen radikal gebrochen. Die Verwendung des Terminus technicus „Empirie“ für alltägliche Beobachtungen, die die Resultate bereits in
ihrem Ansatz vorwegnehmen, ist daher problematisch. Aber auf der Ebene der subjektiven Bewertungen von vorab angenommener Schädlichkeit ist der Gedanke der
„privaten Empirie“ aufschlussreich, da er etwas von der Beharrlichkeit vermittelt, mit
der behauptet wird, dass reale und konkrete Beobachtungen die Grundlage der Kritik
böten. Die wertende Sicht auf die Dinge lässt indes die genaue Beobachtung nicht
zu, das negative Werturteil steht fest, ohne dass die medialen Zeugnisse en detail
betrachtet werden müssten. Wahrnehmungen, Bewertungen fließen ein, wenn mediale Angebote die alltägliche Lebenswelt in einer Weise verändern, die den „privaten“
Beobachtern des Alltags sowie den bewahrenden Hütern des Bekannten fremd sind.
Hier handelt es sich um einen Diskurs, der sich nicht nur anhand heutiger Medien
nachvollziehen lässt, sondern auch in historischer Perspektive aufschlussreich ist.
Gemeint ist die „Schmutz- und Schunddebatte“, die mit dem Aufkommen von Groschenheften, Comics, Kino und auch Fernsehen verbunden ist (vgl. Maase/ Kaschuba 2001; Maase 2008). Vielfach waren es Vertreter der Pädagogik, allen voran
Volksschullehrer, die um die mangelnde Qualität der neuen Medien besorgt waren.
Aber auch wertkonservative Juristen konnten sich im Kampf gegen den Schund engagieren. Aus der historischen Distanz fällt die „private Empirie“, mit der die vehemente Kritik an den Neuerungen untermauert wird, besonders auf. Daher sollen im
Folgenden einige Äußerungen des Juristen Albert Hellwigs dargelegt werden, der
kurz nach 1900 größte Befürchtungen über das Kino für Kinder äußerte. Hellwigs
Argumentationen sind insofern bemerkenswert, als sie wissenschaftliche Ansprüche
85
nach Kausalität und Überprüfbarkeit erkennen lassen, die jedoch mit dem Ziel verworfen werden, das erwünschte Ergebnis zu erhalten. In einer Untersuchung über
die Gefahren des Schunds stellt der Autor fest:
„In einem anderen Fall stahl der dreizehnjährige Schüler B. in den Papierläden eifrig
Postkarten, um sie zu verkaufen. Er war ein eifriger Besucher des Kinematographen
(Hellwig 1914: 40).
Hellwig war sich darüber bewusst, dass es
„nur in den seltensten Fällen möglich [ist], einen ursächlichen Zusammenhang zwischen einem bestimmten Verbrechen und der Vorführung eines Schundfilms unzweifelhaft nachzuweisen, und […] die Vorführung des Schundfilms […] in der Regel nur
den letzten Anstoß gegeben hat oder lediglich für bestimmte Einzelheiten in der Ausführung des Verbrechens maßgebend gewesen ist“ (Hellwig zit. in Maurer 2001: 22).
„Ich bedaure nichts mehr, als dass es so außerordentlich schwer, wenn nicht gar
unmöglich ist, den exakten Nachweis der ungünstigen Einwirkungen des kriminellen
Schundfilms zu erbringen.“ Trotzdem aber war er, wie er schreibt, „aus allgemeinen
psychologischen Erwägungen fest davon überzeugt, dass ein Kausalzusammenhang
zwischen Schundliteratur und Schundfilm besteht, und dass dieser Zusammenhang
für mich als erwiesen feststehen würde auch dann, wenn es nicht in einem einzigen
Fall gelingen sollte, ihn exakt nachzuweisen“ (ebd.: 23).
Drastisch vermerkt ein anderer Bekämpfer des Schundes: „Aber das Kind in seiner
relativen Beschränktheit faßt die Bilder als Ausschnitte der Wirklichkeit auf. Sein Vorstellungskreis wird durch falsche Vorstellungen von intensiver Stärke verseucht (Götze 1911 zit. nach Maurer 2001: 24) Abgesehen von der – für heutige Betrachtungen
– entlarvenden Sprache, mutet die Argumentation in ihren inhaltlichen Komponenten
vergleichsweise modern an. Kaspar Maase spricht für das Kaiserreich von einem
„Schundkampf“, in dem das Massenpublikum „als ungebildet, roh, triebhaft, irrational
und verführbar“ (Maase 2001: 8) charakterisiert wurde. Deutlich werden zum einen
die sozialen Hierarchisierungen und Ausgrenzungen, die Distinktion über den Geschmack (Bourdieu). In der Schärfe der Ausgrenzung zeigt sich zum anderen aber
auch die Fremdheit und Bedrohung, die die (bürgerlichen) Erwachsenen erfuhren,
wenn sie die (proletarischen) Heranwachsenden mit ihren neuen medialen Praktiken
sahen.
Die Schunddebatte ließ und lässt freilich auch heutzutage Fragen nach der Qualität
der Angebote aufkommen. Die Qualitätsdiskussion soll hier allerdings nur erwähnt,
aber nicht weiter verfolgt werden. Festhalten kann man mit diesem Blick auf die
Schunddebatte um 1900 vielmehr, dass durch mediale Neuerungen, zumal wenn sie
sich auf ein Massenpublikum richten, gewohnte Muster kulturellen und sozialen Lebens in Frage gestellt wurden. Soziale und generationale Auseinandersetzungen
bildeten den Hintergrund für ein Bedrohungsszenarium, das nicht zuletzt auch am
Gebrauch neuer medialer Unterhaltungsformen festgemacht wurde.
8.
Perspektivenwechsel: Generationale Erfahrungen mit Neuerungen
Bisher war von unterschiedlichen Bedrohungsszenarien die Rede, die anhand zweier
Diskurse dargestellt wurden: Begonnen wurde mit dem aktuellen und in die Zukunft
gerichteten Diskurs um die „Digital Natives“ und den propagierten Ausschluss der
älteren Generation. Wie heutzutage die ältere Generation in ihren habitualisierten
Alltagspraxen durch die digitalen Neuerungen Verunsicherungen erfährt, so boten
mediale Neuerungen der Kaiserzeit, wie der zweite Diskurs beispielhaft zeigt, eben86
falls Anlass zur Sorge um die Aufrechterhaltung alter Ordnungen. Im Diskurs um
mediale Neuerungen werden Bedrohungsszenarien in ihren medialen Inszenierungen fortgeschrieben.
Wechselt man jedoch die Perspektive und fragt nach konkreten Erfahrungen der an
diesen Modernisierungsprozessen beteiligten Menschen, dann fällt auf, dass es nicht
nur trennende generationale Erfahrungen im Umgang mit Neuerungen gibt. Übersehen wird, dass auch die ältere Generation mit massiven Umbrüchen konfrontiert war,
die die alltägliche Lebensführung grundlegend änderten. Die Älteren, die heute den
Digital Natives gegenübergestellt werden, haben in den 50er- und 60er-Jahren Veränderungsprozesse erfahren, die einen Bruch zur Lebenswelt der Generation ihrer
Eltern aufweist. Im historischen Prozess der Modernisierung sind alle heutigen Generationen mit der Bewältigung neuer Kulturformen konfrontiert gewesen. Die heutigen
Senioren, denen eine jüngere Generation die Distanz zu den digitalen Medien im
Alltag vorhält, waren in ihrer eigenen Jugend selbst eine Novationsgeneration, die
die Kultur ihrer Eltern verlassen hat, ohne dass die Eltern sich die neuen Kulturformen in gleicher Weise hätten aneignen können. Ein Blick auf den Wandel der Landwirtschaft in den 50er- und 60er-Jahren soll diese Abfolge von Novationsgenerationen verdeutlichen und die Argumentation mit einer historischen Dimension versehen.
9.
Umgang mit Neuerungen als Generationenkonflikt: das Beispiel der bäuerlichen Innovationen
Die (klein-)bäuerliche Lebenswelt ist charakterisiert durch beharrende Traditionen
und durch eher langsame Veränderungsprozesse. Rückblickend auf die Zeit in den
50er- und 60er-Jahren lässt sich sagen, dass Modernisierungsprozesse auch in kleinen Landwirtschaften zu tief greifenden Veränderungen der gesamten Lebensweise
führten. Der Schlepper hielt Einzug, so dass die Arbeit mit den Tieren obsolet wurde.
Die Haushaltstechnik veränderte zum Beispiel die Vorratshaltung und auch die Essgewohnheiten. Viele Aspekte könnten angeführt werden: Entscheidend für den hiesigen Zusammenhang ist aber nicht die Darstellung der technischen Innovationen im
Sinne einer Technikgeschichte, sondern die Frage, wie die Akteure die neuen Maschinen und technischen Geräte, die die gewohnte Handarbeit ablösten, in die Gestaltung ihrer Lebenswelt einpassten.
Interviews, die mit Angehörigen kleinbäuerlicher Betriebe durchgeführt wurden
(Buchner-Fuhs im Druck), zeigen, dass die seinerzeit junge Generation im Austausch
mit der älteren den Modernisierungsprozess aktiv gestaltet hat. Austausch meint hier
verschiedene Formen der generationalen Begegnung aber auch der Abgrenzung.
Übergangsformen, die technische Lösungen zeitgleich mit (nichtmotorisierten) gewohnten Arbeitsformen favorisierten, wurden zwar in der Regel mit Rücksicht auf die
ältere Generation initiiert, aber es konnte durchaus auch zu mehr oder minder konflikthaften Lösungen kommen. So erzählten Landwirte, dass sich die jüngere Generation mit großer Technikbegeisterung für den Trecker entschied, während die ältere
Generation den Verlust der vertrauten Zugtiere nur schwer ertragen konnte. Berichtet
wurde auch von Großmüttern, die weiterhin die Handwäsche machen durften, obwohl die neue Waschmaschine angeschafft worden war.
Wirtschaftskonzepte, die auf den Einsatz von Technik setzten und damit Arbeitsweisen, Zeitrhythmen und Haushaltspraktiken grundlegend änderten, sind uns heute
87
vertraut. In der Phase des Umbruchs aber war nicht klar, welche Konsequenzen zu
erwarten waren, wenn man sich für die technisierte Lebensweise entschied. Nicht
immer war klar, dass die Höfe erfolgreich expandieren würden, in so manchen Fällen
kam es auch zur Hofaufgabe.
„’Treckeritis’ heißt die Krankheit der Landwirtschaft unserer Tage“, schreibt der Oberlandwirtschaftsrat Dobert in den 50er-Jahren. „Der Schlepper ist geradezu zum Symbol des Fortschritts geworden. Aber bei weitem nicht immer zu Recht. Er ist genau so
häufig das Symbol sinnloser Mechanisierung. […] Aber der Schlepper muss ran. Der
Nachbar hat schon längst einen. Das lässt einem keine Ruhe. Selbst Mutter hilft mit.
Und der Sohn natürlich erst recht. Vielleicht kündigt er sogar die Gefolgschaft, wenn
kein Trecker auf den Hof kommt“ (Dobert 1957: 107f.). Dobert, das ist hier zu ergänzen, war keineswegs ein Gegner, vielmehr ein Befürworter der neuen Technik, aber
er plädierte für die überlegte und moderate Technisierung der Familienbetriebe.
Die Beherrschung der neuen Technik stellte die ältere Generation vor große Herausforderungen. So erzählte ein Landwirt, dass sein Vater als moderner Bauer im Dorf
gelten wollte. Aber der Vater habe es nie gelernt, den Schlepper zu fahren. Da er
aber seine mangelnde Technikbeherrschung nicht zugeben wollte, habe er so getan,
als steuere er den neuen Trecker selbstständig. In Wirklichkeit habe aber er, so der
Sohn, vom Beifahrersitz aus das Fahrzeug gefahren.
Die jüngere Generation eignete sich die neuen Maschinen und technischen Geräte
an, die für die Elterngeneration in der Regel fremd blieben. Eingebunden in die Generationenbeziehungen war das Geschlechterverhältnis, dessen komplexe Formen
hier allerdings nicht dargestellt werden können. Der Rückblick auf die Modernisierung durch motorbetriebene Zugkräfte und technische Geräte ist hier nur äußerst
verkürzt dargestellt. Trotzdem dürfte deutlich geworden sein, dass die seinerzeit jüngere Generation den Umbruchsprozess durch technische Neuerungen aktiv betrieb.
Die seinerzeit jüngere Generation ist heute die ältere Generation, die in ihren Technikerfahrungen grundlegend von den Digital Natives getrennt ist. Doch jenseits der
Trennungen gibt es, das ist abschließend festzuhalten, die verbindende Erfahrung,
dass die Lebenswelt eine technische ist, dass technische Innovationen auch Mikrowelten verändern und dass die Veränderungsprozesse, deren Konsequenzen nicht
genau planbar und exakt überschaubar sind, biografisch bewältigt werden können.
10.
Abschlussbemerkungen
Charakteristisch für die aktuelle Beschäftigung mit den neuen Medien in einer alternden Gesellschaft sind die Szenarien der Bedrohung, die nicht selten lustvoll inszeniert werden. Verbreitete Bedrohungsszenarien trennen die ältere Generation radikal
von den Erfahrungen der jüngeren Generation. Sie richten sich auf die digitale Umgestaltung der Lebenswelt. Generational verbindende Erfahrungen im Umgang mit
technischen Neuerungen werden dagegen ausgeblendet. Eine vergleichbar reduzierte Argumentation findet sich im Zusammenhang mit den vermuteten Nebenwirkungen und den angenommenen Schädigungen, die durch die Nutzung neuer Medien
auftreten können. Im oben dargestellten historischen Rückgriff auf die Schunddebatte im Wilhelminischen Kaiserreich zeigt sich die Kontinuität sozialer und generativ
vorgetragener Auseinandersetzung, die den Gebrauch neuer medialer (Unterhaltungs-) formen für die Präsentation von Bedrohungsszenarien zu nutzen weiß.
88
Grundsätzlich legen technische Neuerungen, die im späten Lebensalter erlebt werden, trennende generationale Erfahrungen nah. Heidrun Mollenkopf und Roman
Kaspar etwa kommen in ihrer Studie „Technisierte Umwelten älterer Menschen“ zu
dem Ergebnis, dass sozialstrukturelle Lebensverhältnisse und Lebensformen in einer
Wechselbeziehung zu technischen Artefakten und ihrer Aneignung stehen. „Insbesondere Personen des Typs 2 (mit einem Profil der größten Technikdistanz, J.B-F)
laufen dagegen Gefahr, durch den rasanten technischen Wandel in modernen Industrieländern von wichtigen gesellschaftlichen Bereichen ausgeschlossen zu werden, da sie weder die biografischen Voraussetzungen noch das Interesse und die
Möglichkeiten zum Erwerb technischer Geräte und technischer Kompetenz besitzen“
(Mollenkopf/ Kaspar: 218 f.). Die formulierte Gefahr des Ausschlusses – Parallelen
zum eingangs behandelten Diskurs der Digital Natives und Digital Immigrants drängen sich auf – übersieht aber eigensinnige Umgangsformen mit der digitalisierten
Welt. Wie im historischen Rückblick auf die 50er- und 60er-Jahre gezeigt wurde, vermag die biografische Distanz zur neuen Technik im Alter zwar richtig zu sein, aber
Übergänge, neue Lösungen gilt es in den Blick zu nehmen. Die postulierte Gefahr
der generationalen Trennung, die die mediatisierten Lebenswelten hervorrufen sollen, lässt weder den Eigen-Sinn der Subjekte noch das wirtschaftliche Interesse an
„technikmoderaten“ Lösungen für die alternde Gesellschaft für die „neue“ AltKonsumentengruppe zu. Begegnungen der Generationen (wie der fahrunkundige
Vater und der technikbegeisterte Sohn, der den Trecker vom Beifahrersitz aus fuhr)
können Brücken zu vermeintlich trennenden Technikerfahrungen schaffen. Die generationale Ordnung der mediatisierten Lebenswelten ist nur in einer „verschränkten
Aneignung“ neuer historischer Medienformen in allen Altersstufen von der frühen
Kindheit, der Schulkindheit, der Jugend, des Erwachsenseins15 bis zu den jungen
und betagten Senioren begreifbar, die den Eigen-Sinn der Beteiligten nicht negiert.
Während Fortschrittsmythen die Gestaltung der medialen Lebenswelt allein in der
Jugendkultur sehen, verweist nicht zuletzt die Marktlogik darauf, dass zukünftig auch
ältere Generationen spezifische mediale Angebote finden und eigene Nutzungsformen entwickeln werden. Längst ist eine intensive Forschung um die Alten als spezifische Zielgruppe von Technik entstanden (vgl. Glende/ Podtschaske/ Friesdorf 2008).
Für die Untersuchung von mediatisierten Lebenswelten ist es wichtig, dass Medienkultur keineswegs nur als Jugendkultur verstanden werden darf, und dass die Jugendkultur nicht als einzige Novationsgruppe zu begreifen ist. So unterschiedlich die
Erfahrung mit dem sozialen und kulturellen Wandel einzelner Generationen auch ist,
so bleibt zu bedenken, dass der Wandel selbst, die Erfahrung mit neuer Technik und
mit neuen kulturellen Formen der Techniknutzung allen Generationen spätestens seit
dem 19. Jahrhundert zu Eigen ist.
Wenn Novationen in der Medienkultur nicht mehr nur als Jugendkultur verstanden
werden können, hat dies große Auswirkungen auf die Erforschung der mediatisierten
Lebenswelten und deren Wandel. Heutige Medienforschung hat es versäumt, die von
ihr erforschte Medienkultur dezidiert als Jugendkultur zu markieren und entsprechend zu erforschen. Begreift man zum Beispiel die Handynutzung der Jugendlichen
nicht als Zukunftskultur der gesamten Gesellschaft, sondern als Kultur von Jugendgruppen, wird viel deutlicher, warum Senioren nicht an dieser neuen Form partizipie15
Die Generation des mittleren Lebensalter ist in den Sozialwissenschaften bisher eher vernachlässigt worden
(vgl. Perrig-Chiello/ Höpflinger 2001), obwohl insbesondere diese Generation als Elterngeneration (vgl.
Reichle/ Werneck 1999) besondere Übergänge zu bewältigen hat und einen (unterschätzten) Einfluss auf den
Medienumgang der Enkel- und Großelterngeneration haben dürfte.
89
ren. Senioren sind nicht an Jugendkultur als Lebensform für das eigene Leben interessiert, ihre Mediennutzung zielt auf die Bewältigung der Lebensaufgaben, die das
Alter stellt. Damit kann eine Mediennutzung nur verstanden werden, wenn sie in Beziehung zum sozialen Feld gebracht wird, in dem sich der Nutzer oder die Nutzerin
bewegt. Wenn meine Freunde alle SMS schreiben, bin ich als Jugendliche, als Jugendlicher ausgeschlossen, wenn ich kein Handy besitze. Wenn alle meine Freunde
und Verwandten einen Festanschluss haben und ich am liebsten abends im Billigtarif
vom Sofa aus telefoniere, brauche ich als Senior vielleicht nicht dringend ein Handy,
um meine sozialen Kontakte medial zu organisieren. Jugendkulturelle Nutzungsformen können sich so von altenkulturellen Nutzungsformen unterscheiden, die Frage
der Partizipation ist damit keine Frage der technischen Kompetenz, sondern der Motivation und des Nutzens bestimmter Medienformen für die Bewältigung der jeweiligen Lebensaufgaben in einem bestimmten sozialen Feld. Erst wenn die Medienforschung die spezifischen Formen des Medienhandelns unterschiedlicher Generationen im Kontakt des sozialen Feldes und vor dem Hintergrund der Lebensaufgaben
der Nutzer und Nutzerinnen in den Blick nimmt, kann es ihr gelingen, die falsche Jugendperspektive zu verlassen und die generationale Ordnung im Wandel mediatisierter Lebenswelten zu erfassen und zu verstehen.
90
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Help4youth.at – Online-Beratung für Jugendliche
Waltraud Hofer-Pichler - Linz
www.help4youth.at
Kurzbeschreibung:
www.help4youth.at ist ein offenes, niederschwelliges Angebot im Internet, das Jugendlichen ermöglicht, über ihre Probleme zu berichten und mit anderen Jugendlichen in Kontakt zu treten.
Sie werden dabei durch professionelle HelferInnen unterstützt.
Ausgangslage:
Die Gesundheitsbefragung der Linzer Bevölkerung (Institut für Gesundheitsplanung)hat ergeben, dass ca. 40 Prozent der Linzer Jugendlichen einen Verdacht auf
eine depressive Verstimmung aufweisen. In der Gesamtbevölkerung sind dies ca. 33
Prozent.
Aufgrund der Ausgangssituation ist die Idee aufgetreten, präventive Maßnahmen in
diesem Bereich zu setzten. Derartige Maßnahmen sollten in der Erlebniswelt der Jugendlichen ansetzen. Eine davon ist die virtuelle Welt (87 Prozent der Menschen
zwischen 16 und 24 Jahren nutzen das Internet).
Die Stadt Linz entschloss sich daher, Maßnahmen zur Prävention von Depressionen
zu setzen. Eine Schlüsselstellung bei diesen Bestrebungen nimmt die Einrichtung
des Internetforums „help4youth“ ein, das die Verbesserung der psychischen Gesundheit zum Thema hat.
Die Errichtung des Forums und der Betrieb der ersten Monate (April - August 08)
wird von der Stadt Linz finanziert. Um eine aussagekräftige Evaluierung des Forums
bewerkstelligen zu können und den Aufbau der Themen zu verbessern, sollte das
Forum zumindest bis Ende 2008 verlängert werden.
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Das Forum:
Das Forum ist erreichbar unter http://www.help4youth.at und sollte speziell über die
Suchbegriffe „Depression, Jugendliche, Prävention, Konflikt, Probleme, Überforderung, Stress...“ in Suchmaschinen gefunden werden. Weiters wird das Forum über
die Webseiten der Stadt Linz, der OÖ-weiten Suizidpräventionskampagne und des
Instituts für Gesundheitsplanung erreichbar sein.
Startseite bietet die Bereiche:
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Austausch und Information
Small Talk
Tagebuch
Veranstaltungen
Unter Allgemeines findet man:
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Das Beratungsteam
Fragen zum Forum
Forum-Regeln
Impressum
Durch einen Klick z. B. auf „Austausch und Informationen“ hat man die Möglichkeit,
entweder andere Einträge zu lesen oder selbst ein neues Thema zu erstellen. Jeder
hat auch die Möglichkeit einen Kommentar zu einem anderen Eintrag abzugeben.
Die neu erstellten Einträge werden zweimal täglich kontrolliert. Bei Bedarf kommentieren die BetreuerInnen die neu erstellten Einträge und weisen auf Lösungsansätze
hin.
Es gibt allgemein gültige Regeln für Foren-Benutzer im Internet. Deshalb werden
Einträge die den Forums-Regeln nicht entsprechen oder Gesetzeswidriges beinhaltet, gelöscht.
Ziel:
•
Es geht um Sensibilisierung und Enttabuisierung dieser Thematik und dabei
auch Lösungsansätze zu bieten.
•
Hilfe zur Selbsthilfe
•
Unverbindlich informieren
•
Die Jugendlichen sollen für sich selbst aber auch für andere Strategien
zur positiven Lebensbewältigung entwickeln können (Hilfe zur Selbsthilfe).
•
Dadurch wird eine nachhaltige Wirkung bei den UserInnen des Forums erzielt.
•
Die Möglichkeit, Jugendliche zu erreichen, die nicht mobil sind (Körperbehinderung, Hörgeschädigte...)
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Themen der Beiträge:
•
Liebeskummer - Beziehungsprobleme
•
Probleme mit Eltern
•
Schulprobleme
•
Ausziehen (Abhängigkeit - Selbständigkeit)
•
Ängste
•
Freundschaften
Statistik:
Seit Mitte April 08 gab es:
•
100 Anfragen,
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1.800 Personen haben die Beiträge gelesen,
•
15.000 Besucher waren auf der Seite.
Welche Beweggründe hat der/die UserIn:
Die Beweggründe können sehr unterschiedliche sein. Jedoch die Tatsache allein,
sich zu entscheiden die Adresse http://www.helpf4youth.at einzugeben, lässt vermuten, dass der/die UserIn zu dieser Thematik einen speziellen Bezug hat und sich, wie
auch immer, damit auseinandersetzen möchte. Man hätte sich ja auch für ein AutoForum oder Computer-Forum entscheiden können.
Niederschwelliges Angebot:
•
Keine Registrierung
•
Keinen Namen, evt. Nicknamen
•
Keine e-Mail Adresse
Es sollen also Hürden und Hemmschwellen, ins Forum zu schreiben möglichst niedrig gehalten werden.
Inhaltlich:
Manchmal können die Beiträge als lustig, sinnlos, blöd, oberflächlich angesehen
werden. Wenn wir jedoch davon ausgehen, dass alleine die Entscheidung, sich mit
diesem Thema zu beschäftigen und auch einen Beitrag zu leisten, ein Prozess ist,
der zur Prävention beiträgt, sind die Einträge unter diesem Gesichtswinkel ein 1.
Versuch, sich vorzutasten, zu sehen, wie sind die Reaktionen und es wird oft erst in
späteren Einträgen sichtbar, was sozusagen dahinter steckt.
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Beispiel:
FKK,
Schnitzel,
Sexualität
FKK:
„...Hi ich habe das problem das ich mich sehr gerne fremden leuten nackt zeige.. aber mädchen wollen das nicht sehen. ich will jemand finden der gleichgesinnt ist..
bitte helft mir“
Antwort:
„...ich würde da auf einen fkk-strand gehen, oder? wieso willst du das eigentlich? was
bringt dir das?“
„...fkk strand sind nur alte leute..“ 3. Mai 08
Schnitzel:
„...hallo! meine freundin hat mich sitzen gelassen. mein problem dabei ist, dass sie
mich sitzen gelassen hat, weil mir eine andere frau das schnitzel geschnitten hat.
obwohl ich an der anderen überhaupt nicht interessiert bin. denn sie ist eine betreuerin. jetzt ist meine freundin eifersüchtig. was soll ich tun?“
14. Mai 08
Sexualität:
„...eigentlich hab ich noch ein gröberes problem. ich bin nämlich rollifahrer und habe
noch nie sex gehabt. ich möchte wissen, ob ich mich trauen würde. weil ich bin ein
wenig schüchtern“
20. Mai 08
Sich Probleme von der Seele schreiben kann selbst bei oberflächlich scheinenden
Beiträgen Erleichterung schaffen.
Unterstützt wird dies durch die Anonymität und gezielt eingesetzte Unverbindlichkeit.
Streit
„ich streite mich seit einigen wochen fast jeden tag mit meiner mutter. ständig macht
sie mir irgendwelche vorträge und erklärt mir, dass die frühere jugend noch so anders und brav war. oft sind es nur kleinigkeiten, wegen denen wir streiten, aber es
bringt mich zur verzweiflung. ich halte sie einfach nicht mehr aus. am liebsten würde
ich ausziehen...
was soll ich tun?“
lg sofia
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„Einfach nur traurig..ich war nie besonders beliebt, meistens war ich eher als aussenseiterin abgestempelt.naja, und irgendwie hab ich mich nach 5 jahren damit abgefunden, das man mich zwarrespektiert aber nicht wirklich einbezieht.und da ich
auch nicht gerade zufrieden mit mir bin habe ich angefangen abzunehmen (bitte
nicht falsch verstehen, ich bin leider wirklich übergewichtig und bilde mir das nicht
ein), und habe bereits 5kg weniger,aber anstatt dass es irgendwer bemerkt werden
immer noch abfällige bemerkungen üer mich gemacht.ich weiss zwar, dass es in den
meisten fällen nur spass ist, aber es tut trotzdem weh.ne zweite sache, die mir auch
zu schaffen macht, war die aussage von meinem klavierlehrer, als er einfach mal
behauptet hat, dass ich sowieso schlecht spiele und es nie wirklichen lernen werde
(eines der gründe warum ich nächstes jahr auch keinen unterricht mehr nehmen
werde).und jetzt bin ich schon so weit zu denken, dass die sachen die da üer micht
behauptet werden vielleicht wirklich stimmen, denn wenn man sie oft zu hören kriegt
prägen solche aussagen sich einfach ein (zumindest bei mir).naja, und um zumindest
im alltag zu funktionieren halte ich mich mit johanniskraut üer wasser (tees, tabletten). aber es wird einfach nicht besser.was kann ich tun?“
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