des Flyers - Staatliche Kunstsammlungen Dresden
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HENRI DE TOULOUSE-LAUTRECS »ZWEI FREUNDINNEN«. EIN RESTAURIERUNGSBERICHT Toulouse-Lautrecs künstlerische Ausbildung in Paris in den Ateliers von Léon Bonnat und Fernand Cormon nach 1882 war auf Zeichnen und die neue Technik der Lithographie gerichtet. Zu malen begann er in klassischer Ölfarbtechnik und entwickelte daraus seine „Peinture à l’essence“: Die Methode, handelsübliche Tubenölfarbe auf absorbierenden Flächen auszudrücken, das Ölbindemittel damit abzumagern und je nach Bedarf durch „Essenzen“ wie Terpentinöl zu ersetzen, gestattete, Glanz und Fließkraft der Ölfarbe von pastosem bis zu mager-transparentem Pinselauftrag einzustellen, und ermöglichte damit den gleitenden Übergang zwischen Zeichnen und Malen. Toulouse-Lautrec arbeitete in den 1890er Jahren fast ausschließlich in dieser Weise auf ungrundierten Pappen. Der Bildträger bot mit der hellbraunen Grundfarbe den Mittelton für seine farbigen Pinselzeichnungen, die durch den direkten Bezug von Farbe und Malgrund spielerisch und zu jedem Zeitpunkt durchaus fertig erscheinen. Ein abschließender flächiger Firnisauftrag, der matte Farbflächen und freiliegende Pappe getränkt und teilweise starkes Tiefenlicht erzeugt hätte, war von Toulouse-Lautrec nicht vorgesehen und konnte seine künstlerische Absicht nur stören. Seine „Phobie vor Firnis“ ist überliefert. 2 Henri de Toulouse-Lautrecs „Zwei Freundinnen“ wurde bei der Erwerbung im Protokoll des Dresdener Galerie-Beirates als Gemälde in „Öl auf Holz“ benannt und schließlich im ersten Bestandskatalog der „Modernen Galerie“ als Öl auf Mahagoni ausgewiesen. Betrachtet man die Oberfläche aus der Nähe, wird jedoch schnell klar, dass Toulouse-Lautrec eine Pappe 3 als Bildträger genutzt hatte, die später an allen Seiten beschnitten und eingefasst wurde. Dazu wurde rückseitig eine dünne Mahagoniholztafel mit einem Flachparkett aufgebracht, um den Eindruck eines hochwertigen Holztafelgemäldes vorzutäuschen. Ein Papiersiegel auf dem Parkett („Douane Central Paris“) verweist auf Frankreich als Herstellungsort. Noch stärkeren Einfluss auf die Bildwirkung hatte eine Maßnahme, die nach der Umarbeitung der Malpappe erfolgte: der Auftrag eines stark glänzenden Weichharzfirnisses. Dieser Eingriff brachte nicht nur „Glanz“, sondern veränderte auch die Farbwirkung, die nunmehr vom gesättigten Farbton der Pappe bestimmt wurde. Dieser Effekt verstärkte sich im Laufe der Jahre durch das Nachdunkeln und Vergilben des Firnisses. Die differenzierte feine Farbigkeit der Malerei war unkenntlich geworden, die räumliche Impression der Szene gestört. Toulouse-Lautrecs Bildnis der Sängerin May Belfort im Dresdener Kupferstich-Kabinett, ebenfalls aus dem Jahr 1895, offenbart dagegen noch die bildnerische Handschrift auf unbehandelter Pappe. 2009 entschloss man sich nach eingehender Vorbereitung zur Entfernung des entstellenden Überzugs. Grundlage für die Firnisabnahme waren eine Seminararbeit an der HfBK Dresden, Fachbereich Restaurierung und Kunsttechnologie, zum Schadensbild des Gemäldes und zu Möglichkeiten der Firnisextraktion aus bemalter Pappe sowie der intensive fachliche Austausch mit der Expertin für die Maltechnik Toulouse-Lautrecs Ann Hoenigswald, National Gallery Washington. Nach umfangreichen Proben erfolgte die Abnahme des Harzüberzuges mit Lösemittelkompressen. Die Technik gestattete es, bei minimaler mechanischer Belastung den Überzug aus der feinteiligen Farboberfläche zu heben. Der Bereich der Signatur wurde ausgespart. Die Pinselhandschrift erscheint nach der Firnisabnahme sehr gut erhalten und erstaunlich frisch. Die Anlage der Komposition zeichnete Toulouse-Lautrec ganz „à l’essence“ mit dem Pinsel in sehr dünnflüssiger Ölfarbe. Die Inkarnate sind von perlmutthafter Farbigkeit, in Rosa, Hellgrün, mit blauvioletten Schatten und einzelnen hellgelben Akzenten moduliert. Ein kühler hellgrüner Schatten verbindet beide Figuren. Die Umgebung blieb indifferent offen, lediglich durch Pinselstriche angelegt. Deutlich zu erkennen sind unterschiedlich dichte Farblasuren, die teilweise den Farbton der Pappe durchschimmern lassen. Der Ausstellungsbesucher kann an einem Touchscreen die Bildoberfläche unter Mikroskopvergrößerung studieren. Acht Hotspots bieten vertiefende Informationen zu Maltechnik und Erhaltungszustand. AUSSTELLUNGSVERZEICHNIS Galerie Neue Meister Die Restaurierung brachte eine deutliche Verbesserung der Farbwirkung, obgleich der heutige Zustand des Gemäldes nicht mehr dem ursprünglichen Bild entspricht. Der vergleichsweise dunkle Farbton der Pappe beruht auch auf der Lichtalterung der holzschliffhaltigen Materialien und lässt sich nur bedingt aufhellen. Die pastellhafte Malschicht mit der perfekt erhaltenen Oberfläche, die das Licht in den verschiedenen Glanzgraden der „Peinture à l’essence“ reflektiert, ist dagegen ein großer Gewinn. Ganz im Sinne der Impressionisten soll deshalb zukünftig nur eine Glasscheibe und kein neuer Firnisauftrag das Gemälde schützen. MG Der ausführliche Bericht zur Restaurierung ist zu finden in: Restaurierte Meisterwerke, Dresdener Kunstblätter, 3/2013, S. 50-60. VERANSTALTUNGEN ZUR AUSSTELLUNG Les deux amies (Zwei Freundinnen). 1895 Ölfarbe auf Pappe auf Holz, 584 x 802 mm Gal.-Nr. 2603 (Dortu III, P 597) 14. November 2013 I 16:30 Uhr Albertinum I Hermann-Glöckner-Raum und 2. Obergeschoss Toulouse-Lautrec – Die Mappe „Elles“ Petra Kuhlmann-Hodick I Maria Aranda Alonso Kupferstich-Kabinett May Belfort (Bildnis der May Belfort). 1895 Gouache und Ölfarbe auf Pappe, 495 x 405 mm Inv.-Nr. C 1903-25 (Dortu III, A230) 5. Dezember 2013 I 16:30 Uhr Albertinum I Hermann-Glöckner-Raum und 2. Obergeschoss „Peinture à l’essence“ – Zur Restaurierung von Henri de Toulouse-Lautrecs „Zwei Freundinnen“ Marlies Giebe I Heike Biedermann Erste Präsentation der Mappe „Elles“ vom 9.11. bis zum 15.12.2013 Zweite Präsentation der Mappe „Elles“ vom 17.12.2013 bis zum 2.2.2014 Frontispiz. 1896 Lithographie in 3 Farben, 524 x 404 mm Inv.-Nr. A 2003-126 (Wittrock 155 II) Umschlag. 1896 Lithographie in Schwarzbraun, 573 x 468 mm (beschnitten: 560 x 452 mm) Inv.-Nr. A 2003-137 (Wittrock 155 I) Femme en corset – Conquête de passage (Frau mit Korsett – Flüchtige Eroberung). 1896 Lithographie in 5 Farben, 525 x 405 mm Inv.-Nr. A 2003-135 (Wittrock 164) 4 Eine Ausstellung der Galerie Neue Meister in Zusammenarbeit mit dem Kupferstich-Kabinett Staatliche Kunstsammlungen Dresden Albertinum I Schaukabinett I 2. Obergeschoss 9. November 2013 bis 2. Februar 2014 Femme sur le dos – Lassitude (Frau auf dem Rücken [liegend] – Die Ermattung). 1896 Lithographie in Rotbraun, Tonstein in Olivgrün, 402 x 523 mm Inv.-Nr. A 2003-136 (Wittrock 165) La Clownesse assise – Mademoiselle Cha-U-Ka-O (Die sitzende Clownesse – Fräulein Cha-U-Ka-O). 1896 Lithographie in 5 Farben, 527 x 405 mm Inv.-Nr. A 2003-127 (Wittrock 156) Femme à glace – La glace à main (Frau mit Spiegel – Der Spiegel in der Hand). 1896 Lithographie in 3 Farben, 522 x 400 mm Inv.-Nr. A 2003-132 (Wittrock 161) Femme au plateau – Petit déjeuner / Madame Baron et Mademoiselle Popo (Frau mit Tablett – Das Frühstück / Frau Baron und Fräulein Popo). 1896 Lithographie in Rotbraun, 402 x 520 mm Inv.-Nr. A 2003-128 (Wittrock 157) Femme au tub – Le tub (Frau am Waschzuber – Der Waschzuber). 1896 Lithographie in 5 Farben, 400 x 525 mm Inv.-Nr. A 2003-130 (Wittrock 159) Femme qui se lave – La toilette (Sich waschende Frau – Die Toilette). 1896 Lithographie in 2 Farben, 525 x 403 mm Inv.-Nr. A 2003-131 (Wittrock 160) Femme au lit, profil – Au petit lever (Frau im Bett, Profil – Die Morgenaufwartung). 1896 Lithographie in 4 Farben, 404 x 520 mm Inv.-Nr. A 2003-134 (Wittrock 163) Femme qui se peigne – La coiffure (Sich kämmende Frau – Die Frisur). 1896 Lithographie in Braunviolett, Tonstein in Olivbraun, 525 x 403 mm Inv.-Nr. A 2003-133 (Wittrock 162) Femme couchée – Réveil (Frau im Bett – Das Erwachen). 1896 Lithographie in Grauolivgrün, 405 x 525 mm Inv.-Nr. A 2003-129 (Wittrock 158) 16. Januar 2014 I 16:30 Uhr Albertinum I Hermann Glöckner „Henri de Toulouse-Lautrec“ von Hilary Chadwick, Dokumentarfilm 1988 25. Januar 2014 I 19:30 Uhr Albertinum I Lichthof Begegnung der Künste mit Literatur und Musik zum Bild „Zwei Freundinnen“ (1895) Galerie Neue Meister Tzschirnerplatz 2 I 01067 Dresden Eingang: Georg-Treu-Platz (stufenfrei) und Brühlsche Terrasse täglich 10 bis 18 Uhr I Montag geschlossen Besucherservice: Telefon +49 – (0)351 – 4914 20 00 Telefax +49 – (0)351 – 4914 20 01 besucherservice@skd.museum www.skd.museum Konzeption der Ausstellung: Heike Biedermann und Marlies Giebe Interaktive Mediengestaltung: Marcus Kirsch und Konstantin Klamka, betreut von Rainer Groh, TU Dresden, Fakultät Informatik, Institut für Software- und Multimediatechnik, Professur für Mediengestaltung Autoren: Maria Aranda Alonso (MAA), Heike Biedermann (HB), Marlies Giebe (MG) Redaktion: Heike Biedermann / Stephan Dahme Gestaltung: Agentur Grafikladen, Dresden Bildnachweise: Hans-Peter Klut / Elke Estel (1, 2), Herbert Boswank (3-8) » P E I N T U R E À L’ E S S E N C E « HENRI DE TOULOUSELAUTREC »ZWEI FREUNDINNEN« 1 Im Mittelpunkt der Ausstellung steht das Bild „Zwei Freundinnen“ (Les deux amies) von Henri de Toulouse-Lautrec (1864–1901) aus dem Jahr 1895. 1925 wurde es aus der Galerie Matthiesen in Berlin erworben und gehört seitdem zu der kleinen erlesenen Gruppe französischer Gemälde in der Galerie Neue Meister. Durch eine grundlegende Restaurierung mit Abnahme des für Werke des Künstlers unüblichen, später aufgebrachten Firnisüberzuges konnte die Farbwirkung an den ursprünglich transparenten Charakter angenähert werden. Nun wird das Gemälde – gemeinsam mit Toulouse-Lautrecs herausragender Lithographienfolge „Elles“ (Sie) von 1896 und der 1895 entstandenen Zeichnung „Bildnis der May Belfort“ aus dem Bestand des Dresdener Kupferstich-Kabinetts – erstmals seit der Wiedereröffnung des Albertinums gezeigt. Seine Darstellungen vom Milieu im Vergnügungsviertel am Montmartre, insbesondere seine Plakate, machten Toulouse-Lautrec als Künstler der „Belle Époque“ um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert bekannt. In vielen Gemälden, Zeichnungen und Lithographien stellte er in groß angelegten figürlichen Szenen sowie in porträthaften Einzeldarstellungen das rege Treiben einer bunt gemischten Gesellschaft in den Cafés und Cabarets, den Ateliers und Galerien, den Konzertsälen, Salons und Tanzlokalen dar. In der Atmosphäre dieser mondänen Halbwelt fühlte er sich zu Hause. HB 1 I Zwei Freundinnen (Les deux amies). 1895 Ölfarbe auf Pappe auf Holz, nach der Restaurierung 2 I Ansicht während der Restaurierung mit Teilfirnisabnahme (Ausschnitt) 3 I Rückseite, Mahagoniholztafel mit Flachparkett (Ausschnitt) 4 I Pinselhandschrift nach der Restaurierung (Mikroskop-Aufnahme, Detail) 5 6 7 8 I I I I Femme au lit, profil – Au petit lever. 1896 Femme au tub – Le tub. 1896 Frontispiz der Serie „Elles“. 1896 May Belfort. 1895 TOULOUSE-LAUTREC UND DIE PARISER BORDELLE DIE LITHOGRAPHIEN DER »ELLES«-MAPPE Zwischen 1893 und 1895 besuchte ToulouseLautrec häufig die Pariser Freudenhäuser, sodass er sogar davon sprach, sein „Zelt im Bordell“ aufzuschlagen (zit. nach Frey 1994, S. 345). Da Übernachtungen in einem Bordell jedoch gesetzlich verboten waren, sagte er selbst Freunden, wenn es um seinen konkreten Aufenthaltsort ging: „das ist ein Geheimnis“ (zit. nach Huisman & Dortu 1964, S. 122). Im Zuge der gesellschaftlichen Neuordnung nach dem Sturz der Monarchie wurde auch die Prostitution als „bürgerlicher Gesellschaftsservice“ (London 1991/92, S. 406) neu betrachtet. Sie galt als kontrollierbar und war trotz moralischer Bedenken gesellschaftlich eingebunden. Gleichzeitig rückte die durch die Krisenzeiten im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts anwachsende Straßenprostitution die soziale Frage stärker in den Vordergrund. In den so genannten „Maisons closes“ studierte Toulouse-Lautrec die Lebensgewohnheiten der Dirnen und setzte damit eine bis dahin künstlerisch kaum wahrgenommene Welt ins Bild. Seine Werke betonen nicht den erotischen Aspekt, sondern widmen Trotz des Fehlens unmittelbar pornografischer Inhalte in seinen zwischen 1893 und 1895 entstandenen Bordellszenen zögerte Toulouse-Lautrec angesichts ihres intimen Charakters zunächst, sie in einer Ausstellung zu zeigen. Im Januar 1896 erlaubte er schließlich, dass in der Galerie Manzi-Joyant & Cia. ein abgeschlossener Raum eingerichtet wurde, in dem diese Arbeiten erstmals der Öffentlichkeit präsentiert und zum Schutz vor Voyeuristen mit einem gesonderten Preis angeboten wurden. Nur drei Monate später bat Gustave Pellet, ein Spezialist für erotische Drucke, den Maler, zur Eröffnung der Pariser Kunstgalerie La Plume am 22. April 1896 um Lithographien zum gleichen Thema und verlegte die in diesem Zuge entstandene zwölfteilige Serie „Elles“ als Mappe in 100 Exemplaren. Die stilistisch sehr verschiedenen, mal in Bleistift, mal in schwarzer und farbiger Kreide angelegten Blätter sind in hohem Maße vom japanischen Farbholzschnitt beeinflusst. Sie faszinieren durch flüssige, schwungvolle Linienführung sowie großzügig ausgebreitete Farbflächen und weite, offene Bereiche. Die Resonanz der zeitgenössischen Presse war überwiegend positiv. Aus heutiger Sicht bildet die Mappe einen Höhepunkt in der Geschichte der Lithographie. Die einzelnen Motive der „Elles“-Serie zeigen die Frauen in Gedanken versunken bei alltäglichen Verrichtungen. Unmittelbarkeit und Schonungslosigkeit einer wirklichkeitsnahen Schilderung verbindet sich hier mit einer dem Künstler eigenen Form der Stilisierung sowie wenigen subtilen Andeutungen von Details, die auf eine Bordellszene schließen lassen. Mit der symbolischen Aufladung gewöhnlicher Objekte gab Toulouse-Lautrec dabei ebenso lapidare wie unzweideutige Hinweise: ein Hut als Zeichen der Anwesenheit eines Mannes, eine Uhr als Statussymbol der häufig begüterten Freier oder japanische Drucke als Anspielung auf die Beliebtheit erotisch konnotierter Kunst aus sich vor allem der Lebenswelt der Prostituierten. Anders als Degas, der sich ebenfalls mit diesem Thema beschäftigte, zeigte er die Frauen voller Sympathie und ohne Anzüglichkeiten in alltäglichen Szenen – bei der Toilette, vor dem Spiegel, beim Essen – aber auch in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften. Indem er an ihrem Alltag teilnahm, verließ er die Perspektive des Freiers und konnte seine Modelle auch in scheinbar unbeobachteten Situationen schildern. Die Unmittelbarkeit der Beobachtung und die ungeschönte Darstellung verleiht den Bildern eine besondere Authentizität. Die gesellschaftlich randständigen Dirnen waren ihm zugleich Freundinnen und Vertraute, deren Natürlichkeit und Unbefangenheit er schätzte. Bei ihrer gelegentlichen Einführung in die Kreise seiner aristokratischen Herkunft provozierte er wiederholt Skandale (vgl. Guilbert 1928, S. 229). Neben seinen künstlerischen Bestrebungen waren seine Aufenthalte in den Bordellen durchaus auch sexuell motiviert, blieb ihm doch durch seine Krankheit eine standesgemäße Heirat verwehrt. MAA 5 DAS GEMÄLDE »ZWEI FREUNDINNEN« UND DAS THEMA DER LESBISCHEN LIEBE Die Schilderung des Alltags der Prostituierten schloss bei Toulouse-Lautrec auch die intimen Beziehungen der Frauen untereinander ein. Hier fanden sie die in ihrem täglichen Umgang mit der männlichen Klientel vermisste Vertrautheit und entwickelten nicht selten lesbische Neigungen. Der Künstler sah darin eine faszinierende Facette menschlichen Zusammenlebens. Erste bildnerische Anregungen erhielt er durch das Gemälde „Le Sommeil“ von Gustave Courbet sowie durch eine in seinem Besitz befindliche Fotografie mit zwei nackt auf einem Bett liegenden Frauen, über die er begeistert sagte: „Das ist besser als alles andere. Nichts kann mit solcher Arglosigkeit konkurrieren“ (zit. nach Huisman & Dortu 1964, S. 135). Sein Gemälde „Zwei Freundinnen“ zählt zu einer Gruppe von vier eigens diesem Thema gewidmeten Werken (Dortu III, P 597, P 598, P 601 und P 602). Ein Bericht in Jules Renard’s Zeitung vom 9. Dezember 1894 über einen Atelier-Besuch bei Toulouse-Lautrec liefert vermutlich einen Hinweis auf seine Arbeit an diesem Werk. Dort heißt es, der Künstler habe „zwei nackte Frauen auf einem Sofa [...] die eine ihre Vorder-, die andere ihre Rückseite zeigend“ gemalt (zit. nach London 1991/92, S. 432). Aus Vergleichen mit anderen Bildern kann auf die Identität der Dargestellten geschlossen werden. Die blonde, im Vordergrund sitzende, karikiert überzeichnete Frau porträtierte Toulouse-Lautrec schon zweimal zu Beginn der 1890er Jahre als elegant gekleidete Tänzerin Gabrielle. Außerdem stellte sie der Künstler 1895 mit Cha-U-Ka-O in „Die Clownesse Cha-U-Ka-O im Moulin Rouge“ (Dortu II, P 583) dar. Letztere war, wie Gabrielle oder die Tänzerin May Belfort, eine schillernde Figur in der Welt der Pariser Theater, Varietés und Bordelle, der auch eine prominente Lithographie der „Elles“-Mappe gewidmet ist. Die dem Betrachter abgewandt liegende Rothaarige auf dem Gemälde taucht ebenfalls des Öfteren in den Bildern Toulouse-Lautrecs auf, von seiner ersten Aktdarstellung nach dem Bruch mit der Akademie aus dem Jahr 1882 bis hin zu dem 1897 entstandenen, ebenfalls in der Technik „Peinture à l’essence“ ausgeführten Werk „Rothaariges Modell auf einem Diwan sitzend“ (Dortu III, P 650). MAA 6 7 Ostasien. Scheinbar banale Szenen evozieren so weitreichende Imaginationen. Die Darstellung einer ruhenden Frau oder eine einfache Ankleidungsszene werden zum Bild einer erschöpften Prostituierten. Mit der „Elles“-Mappe endete Toulouse-Lautrecs intensive Beschäftigung mit den Bordellen. Sein englischer Kollege William Rothenstein hatte im Geist seiner Zeit noch kritisch über diese Schaffensphase geschrieben: „Kein Künstler hat jemals die derbe Scheusslichkeit eines Bordells so brutal und erbarmungslos dargestellt, wie es Lautrec tat.“ (J. Frey 1994, S. 344). Gerade die ungeschönte und zugleich von Mitgefühl und Sympathie geprägte Auseinandersetzung des Künstlers mit dem Leben der Prostituierten aber stellt heute den besonderen Wert dieser Arbeiten dar. MAA Literatur (Auswahl): Yvette Guilbert, Lied meines Lebens. Erinnerungen, Berlin 1928; Philippe Huisman und Madeleine Grillaert Dortu, Lautrec by Lautrec, New York 1964; Madeleine Grillaert Dortu, Toulouse-Lautrec et son oeuvre, Catalogue des peintures, aquarelles, dessins, 6 Bde., Paris / New York 1971, Bd. II und III; Wolfgang Wittrock, Toulouse-Lautrec. The complete prints, 2 Bde., London 1985; Marianne Ryan, Toulouse-Lautrec, Ausst.-Kat. Hayward Gallery London 1991/92, New Haven 1991; Julia Frey, Toulouse-Lautrec, a life, London 1994; Wolfgang Holler und Petra Kuhlmann-Hodick (Hg.), Henri de Toulouse-Lautrec. Noblesse des Gewöhnlichen, Kupferstich-Kabinett Dresden, Ausst.-Kat. und Bestandsverzeichnis, Köln 2004. 8