Der blaue Horizont - VCS Verkehrs
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Der blaue Horizont - VCS Verkehrs
Der blaue Horizont Text und Fotos: Daniel Anker 6 L’année prochaine, j’irai à la mer, sagen die Franzosen, wenn sie die Berge satt haben. An der Côte d’Azur und in den Calanques hat man beides: Die Alpen und freie Sicht aufs Mittelmeer. Eine Weitwanderung entlang einer der schönsten Küsten Europas. FRANKREICH Wandern Auf der Wanderung durch die Calanques gibt es immer wieder herrliche Ausblicke auf die weisse Küste und das Meer: Felsen der Grande Candelle. «M eine frühe Sehnsucht nach dem südlichen Himmel»: So poetisch und nachvollziehbar klingt der erste Titel im ersten Band eines vierbändigen Werkes, das in den Jahren 1818/19 erschien. Der Autor, den es in den Süden zog, ist der Karlsruher Pfarrer Christian Mylius. Die Überschrift, die er seinem schier uferlosen Reisebericht gab, lautet: «Malerische Fußreise durch das Südliche Frankreich und einen Theil von Ober-Italien». Soviel Zeit wie der rastlose Pfarrer sollte man haben. Nicht nur zum Reisen, VCS MAGAZIN / JUNI 2011 sondern auch zum Schreiben. Vier dicke Bände, die in der Schweizerischen Nationalbibliothek in Bern eingesehen oder auf www.zvab.com auch gekauft werden können. Zum Mitnehmen sind sie freilich zu kostbar – und auch zu schwer. Im vierten Band, zu Beginn von Kapitel 60, hat Mylius notiert: «Der Weg ist breit, und steigt allmählig und zwar 2 Stunden lang, oft neben sehr steilen Abstürzen hin. Hier in der Höhe genossen wir noch einmal beim Rückblicke nach Frejus eine köstliche Aussicht in das reitzende fruchtbare Thal nach der Wasserleitung, dem Hafen, nach dem Meere, nach St. Raphael und den Bergen von St. Tropes.» Genau dort, in St-Tropez, beginnen wir unsere Fussreise westwärts der azurblauen Küste entlang. «Alle französischen Ufer sind menschenfreundlich und frei. Der Sand ist nicht nach italienischer Weise in Parzellen aufgeteilt, verpachtet und abgesperrt, jedermann hat ungehindert Zugang zum Meer». Wolfgang Koeppens vor 50 Jahren erstmals publiziertes Buch «Reisen nach Frankreich» hat kaum einen Hauch von seiner Aktualität verloren, und schon 7 FRANKREICH Wandern Beim Cap Camarat umbranden die Wellen eine kleine Felsengruppe im Meer. gar nichts von der Lesefreude, die es vermittelt. Natürlich: An der Plage de Pampelonne, den sündigen Strandmeilen von St-Tropez, reiht sich ein heisser Club an den andern. Aber sie reichen nicht bis ganz zum Wasser. Vorne kann man immer noch vorbeischlendern. Genau dies macht das Besondere des Küstenwanderns an der Côte varoise aus. Die Küste des Departement Var reicht von Le Trayas im Estérel bis Les Lecques bei Saint-Cyr-sur-Mer. Entlang der 432 km langen Var-Küste verläuft immer wieder der Sentier du littoral. Wir geniessen 128 km davon; dazu kommen noch 42 km über das Cap Canaille, dem mit knapp 400 m höchsten Kliff Frankreichs, nach Cassis. Sowie die rund zehnstündige Durchquerung des Felsenmeeres der Calanques nach Marseille – ein atemberaubender Abschluss einer Fussreise an der azurblauen Küste mit neun Etappen und 56 Wanderstunden. 8 Der Sentier du littoral ermöglicht es, eine Côte d’Azur zu entdecken, wie sie einst fast überall war: eine rötlich und gelblich leuchtende Küste mit grünen Bäumen und weisser Gischt, wunderbar blaues Wasser, ein ebensolcher Himmel. Zudem gibt der Uferpfad seinen Benützern das erhabene Gefühl, den Privatbesitzern ein Schnippchen zu schlagen. Wo er angelegt werden konnte, verläuft er nämlich meistens zwischen den Grundstücken und dem Wasser. Millionen wurden zum Beispiel rund um das Cap de St-Tropez in die Villen gesteckt, aber vorne geht, den direkten Privatzugang zum Strand verwehrend, der diskret gelb markierte Wanderweg vorbei. Und dann gehen wir weiter, und weg ist der ganze Wohnsitzzauber. Der Wechsel der Gesellschaft und der Vegetation ist gerade an der Côte varoise verblüffend. Möglich wurde dies, weil Küstenabschnitte vor Überbauungsplänen gerettet werden konnten. Und weil das Konzept des Sentier du littoral von 1976 im Loi Littoral von 1986 bestätigt wurde. Das Cap Taillat ist mit dem Festland nur durch eine schmale Sandzunge verbunden: 1970 hatte der Club Méditerranée diesen besonderen Flecken der Côte d’Azur erworben, um ein Feriendorf zu errichten. Das Bauvorhaben verzögerte sich, die Bewilligung erlosch, und der Conservatoire du Littoral konnte die Landinsel 1987 zurückkaufen. Nun dürfen die Wanderer weiterhin ungestört vorbeigehen, auf dem 38 Kilometer langen Weg um die Halbinsel von St-Tropez. Am ersten Tag lockt die Plage de Pampelonne. Manchmal fallen hier diejenigen mit Badekleidern auf, dann diejenigen ohne. Wanderer ziehen am besten ihre Stiefel aus und wandern eine Stunde lang über den Sand. Rechts der Geruch von Sonnenschutzmittel und Liebe, links von Meer und Motorbooten. Wer zwischen Plage de Tahiti und Bonne Terrasse in je- VCS MAGAZIN / JUNI 2011 FRANKREICH Wandern dem Restaurant und jeder Bar einkehrt, wird nie ans Ziel kommen. Wer den Verlockungen hingegen standhaft widersteht wie Odysseus auf hoher See dem Gesang der Sirenen, wird am Ende auf der guten Terrasse so müde Oberschenkel haben wie die Liegestuhlverkäufer Oberarme am Ende der Saison. Beine und Arme werden so richtig gefordert auf der vierten Etappe von Le Lavandou nach Les Salins-d’Hyères, rund um das Cap Bénat. Auf einmal hört der Küstenpfad auf, nur noch Felsen liegen vor uns, an die hoffentlich nur leise die Wellen klatschen. Von nun an brauchen wir fürs Vorwärtskommen nebst den Füssen auch die Hände. Ein paar gelbe Pfeile, die den ungefähren Verlauf der Route angeben. Aber wo wir den Fuss hinsetzen sollen, wo wir für die Hände einen Griff finden, müssen wir selber entscheiden. Es ist nie schwierig, aber auch nie leicht; die Franzosen bezeichnen dieses Wandern als «sportif». Es ist eine Art Kletterwanderung. Glattpolierte, dann wieder scharfe Schieferfelsen, gelb und grau, und bald schon wieder eine Traumbucht, in die man nur so hinkommt – oder mit einem Boot. Der französische Staatspräsident kommt wohl mit der Limousine oder dem Heli. Seine Sommer- residenz, das Fort de Brégançon, liegt nämlich an unserem Weg. Wir salutieren und stiefeln weiter. Und wie gut es tut, das Stiefeln und am Ende des Tages das Prosten darauf! Wie wir das petite bière nach der so anspruchsvollen Strecke am Cap de Carqueiranne geniessen, an den Plages du Mourillon, mit Blick auf die Hafeneinfahrt von Toulon. Und später den Fisch in einem Restaurant der Hauptstadt des Departement Var. Am nächsten Morgen nehmen wir den Bus zum Ausgangspunkt der nächsten Etappe, der Umrundung des Cap Sicié, das wie der Bug eines unbeweglichen Schiffes ins Mittelmeer ragt: wieder ein traumhaft toller Küstenabschnitt, ein Weg quer durch eine blühende Vegetation. Als Kontrast dazu folgen die rostenden Leitern zwischen Sanary-sur-Mer und Bandol: sensations fortes für uns Fussgänger. sind, die Calanques. Man muss es nicht bloss sagen, man muss sie besuchen. Aber man gelangt nur zu Fuss hin, oder mit dem Schiff.» So lässt der Marseiller Schriftsteller Jean-Claude Izzo seinen Helden Fabio Montale im aufwühlenden Politthriller «Chourmo» die Ausflüge in die Kalksteinwildnis zwischen Marseille, der zweitgrössten Stadt Frankreichs, und dem Mittelmeer schildern. Die Calanques: ein 20 km langes und 4 km breites Naturschutzgebiet – im Juni 2011 soll der Parc national des Calanques offiziell ins Leben gerufen werden. Was nur richtig ist. Denn diese Landschaft mit den tief eingeschnittenen Fjorden und Tälern ist einzigartig, nicht nur in Europa, sondern überhaupt. Allerdings gehören die Calanques – das Wort heisst Bucht – nicht mehr zur Côte d’Azur (diese beginnt bei Bandol), sondern zur Provence. «Manchmal brach ich zu einem Bummel in die Calanques auf, Sormiou, Morgiou, Sugiton, En-Vau... Stundenlange Märsche mit dem Rucksack. Ich schwitzte, ich keuchte. Das erhielt mich in Form. Das besänftige meine Zweifel, meine Befürchtungen. Meine Ängste. Ihre Schönheit versöhnte mich mit der Welt. Immer. Es ist wahr, dass die schön Der Wanderweg zwischen dem Cap Bénat und dem Fort Brégançon (unten). Blumiger Steilhang beim Cap Sicié (rechts). VCS MAGAZIN / JUNI 2011 9 © Keystone Marseille mit dem alten Hafen ist der Ausgangspunkt, bzw. das Ziel der Wanderung entlang der Côte d’Azur. Im Fischerhafen von Cassis, dem quirligen Ort zwischen der Steilküste des Cap Canaille und den Calanques, warten die Ausflugsboote, um die Touristen in die Buchten der Kalksteinwildnis zu kutschieren. Als wir mit dem Rucksack über die Hafenmauer wandern, macht einer der Bootsführer eine einladende Geste. Non merci, wir möchten zu Fuss gehen, entgegnen wir. «C’est bong pour les jambes», sagt er lachend im provenzalisch gefärbten Französisch. Wer gute Beine hat, schafft die Strecke in einem Tag. Wer gar noch über Reserven verfügt, kann mit einem rund einstündigen Abstecher einen weiteren der magischen Orte dieser weissen Meeresberge kennenlernen: das Cap Morgiou. Sitzt man zuvorderst, noch ein paar Meter weiter als der letzte gelbe Blumenstrauss, hat man die Welt hinter sich gelassen. Stillstand und Bewegung. Nur noch die Wellen, die an die Klippe klatschen, 20 Meter weiter unten. Möwen, die schreien. Ein Boot, das vorbeituckert. Ostwärts geht der Blick bis zum Bec de l‘Aigle bei La Ciotat, westwärts bis zur Île Maire vor Les Goudes: die ganze Felsenküste der Calanques. «Im nächsten Jahr, da werd’ ich ans Meer fahren!» Dieser in Frankreich beliebte Ausspruch wird dann gebraucht, wenn die Bergferien wieder mal ins Wasser gefallen sind, während am südlichen Himmel die Sonne geschienen hat. Berge und Meer – das scheint unvereinbar zu sein. Nicht so in den Calanques, ja überhaupt an der Côte d’Azur: Sie ist eigentlich nichts anderes als die Küste der Alpen. L’année prochaine, j’irai à la mer. Warum nicht schon jetzt? En route, les amis! Nützliche Informationen für Fussgängerinnen und Fussgänger Charakter: St-Tropez – Marseille zu Fuss eignet sich für küstenerfahrene Gipfelstürmerinnen und trittsichere Strandläufer. Wer nicht stundenlang zur Traumbucht wandern kann, kommt ins Schwitzen. Wer schon nur bei zwei Liegestuhlreihen den Überblick verliert, wird sich auch auf den meist markierten Wegen nicht zurechtfinden. In den Etappen 4 und 5 hat’s 10 zudem weglose Abschnitte, wo man leicht klettern muss – bei zu hohen Wellen ist kein Durchkommen mehr möglich. Jahreszeit: Mai, Juni, September; im April und Oktober sind viele Hotels geschlossen, im Sommer hat‘s zu viele Leute. Anreise: Bahn über Marseille nach Toulon (www.sbb.ch) und Bus nach St-Tropez (www.varlib.fr). Die genaue Route in neun Etappen: www.verkehrsclub.ch/touren Varianten: Dank der öffentlichen Verkehrsmittel lassen sich einzelne Etappen locker auslassen. Ausrüstung: Gut sitzende Wanderschuhe, knapp sitzende Badekleider. Karten: IGN Top 25, Blätter 3545 OT St-Tropez, 3446 ET Le Lavandou, 3446 OT Hyères, 3346 OT Tou- lon, 3245 ET Aubagne – La Ciotat; 3145 ET Marseille. Führer: Pierre Garcin, Nicolas Lacroix: Sentiers du littoral méditerranéen. Randonnées de Marseille à St-Tropez, Éditions Glénat 2008 (Bildbandführer mit Beschreibung fast aller Etappen). Daniel Anker: Côte d’Azur, Rother Wanderführer 2011. (dab) VCS MAGAZIN / JUNI 2011