Joachim Kahl Die Welt ist unübersichtlich und steckt voller Torheit

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Joachim Kahl Die Welt ist unübersichtlich und steckt voller Torheit
Joachim Kahl
Die Welt ist un€bersichtlich und steckt voller Torheit, und doch f€hrt ein Pfad
ins Freie. Philosophische Bilddeutung zu Pieter Bruegels Meisterwerk „Die
niederl‚ndischen Sprichwƒrter“ (1559)
Wir betrachten die „niederl•ndischen Sprichw‚rter“ – eines der bekanntesten und
gehaltvollsten Bilder von Pieter Bruegel dem …lteren, dem so genannten Bauernbruegel, zu
unterscheiden von seinen beiden S‚hnen, Jan Bruegel und Piet Bruegel dem J†ngeren. Das
Bild aus dem Jahr 1559 h•ngt heute in der Berliner Gem•ldegalerie, ist 163 mal 117 cm gro‡.
Es stellt †ber hundert holl•ndische und fl•mische Sprichw‚rter und Redensarten dar, die
freilich fast alle ihre Parallelen in anderen Sprach-und Kulturkreisen haben.
Das Bild ist ein so genanntes Wimmelbild: es wimmelt von Gestalten und kleinen Szenen, so
dass es zun•chst schwerfallen mag, einen Zusammenhang und den Bildaufbau zu erkennen.
Das farbenpr•chtige Gem•lde ist ein Panoptikum prallen menschlichen Lebens, bis an den
Rand gef†llt mit vergn†glichen Beispielen allt•glich begegnender Torheiten, Eitelkeiten,
Bosheiten, aber auch Weisheiten.
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Da will jemand mit dem Kopf durch die Wand.
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Da h•ngt ein M‚nch seine Kutte an den Zaun.
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Da „schei‡t“ jemand auf die Welt, kurz:
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Da steht die Welt auf dem Kopf, aber auch:
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Da fesselt eine Frau kraftvoll den Teufel aufs Kissen.
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Da segelt einer ins Freie, denn „vor dem Wind ist gut segeln“.
Bruegel will sagen (ohne Worte, in bildlichem Ausdruck): Wir leben in einer verr†ckten Welt
voller Aggression, Verblendung, Unvernunft. Aber muss das so sein? Schon die leuchtenden,
lebensbejahenden Farben signalisieren, dass Bruegel kein d†steres Verh•ngnis †ber dem
menschlichen Treiben walten sieht, sondern – aller Torheit und T•uschung zum Trotz – einen
Ausweg ins Freie, Pfade der Selbstaufkl•rung und Selbstemanzipation kennt und zeigt.
Bruegel bedient sich der Sprichw‚rter seiner Heimat, um daraus eine eigene philosophische
Weltdeutung zu formen: skeptisch, nicht pessimistisch. Die Sprichw‚rter hat er vorgefunden,
gesammelt und kunstvoll zu einem sozialen Mikrokosmos mit einer eigenen Bildidee
zusammengef†gt.
Alle Figuren sind nur mit sich selbst befasst und in ihrer unmittelbaren T•tigkeit befangen.
Niemand achtet auf den anderen. Und doch hat der K†nstler aus diesen Artisten der
Selbstinszenierung ein Mosaik der menschlichen Existenz komponiert, in dem wir uns alle
irgendwo wiederfinden k‚nnen. Die einzelnen Figuren stellen keine Individuen, sondern
Menschentypen dar, Charaktermasken. Zwischen ihnen besteht kein unmittelbarer
Handlungszusammenhang. Und doch hat Bruegel nicht einfach additiv das Bild mit Szenen
aufgef†llt, sondern in einer souver•nen Zusammenschau ein durchdachtes Arrangement
entworfen: ein episches Sinnbild menschlichen Zusammenlebens – voll Phantasie, ohne
Sentimentalit•t.
Versuchen wir, die verwirrende Vielfalt der Szenen, das Gewimmel der Figuren zu
durchdringen und den zugrundeliegenden klaren Bildaufbau zu erkennen. Das tragende
Kompositionselement, das den imagin•ren Dorfkomplex zusammenh•lt, ist eine gro‡e,
aufsteigende Diagonale, die das Bild von links unten nach rechts oben durchzieht. Diese
aufsteigende Diagonale tritt in zweifacher Gestalt auf: treppenf‚rmig und linear.
TreppenfÄrmig f†hrt sie †ber die Mauer zu der Hauswand, von dort †ber die Erkerfenster zu
dem Br†ckenturm und m†ndet †ber die Landzunge im freien Meer. Linear f†hrt sie – in einer
Art Dorfstra‡e – zwischen Gasthaus links und H†tte rechts †ber den Bach am Zaun entlang
und m†ndet ebenfalls rechts oben im freien Meer.
Am Anfang und am Ende der Diagonale sind zwei Gestalten platziert, die zeigen, wo es
entlang geht und wie das Leben gemeistert werden kann. Links unten fesselt eine Frau den
Teufel aufs Kissen und demonstriert in einer zupackenden Art die Befreiung von
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D•monenfurcht. Rechs oben sitzt ein Mann im Segelboot, er segelt ins Freie und bricht zu
neuen Ufern auf.
Um die Diagonale herum gruppieren sich d‚rflich anmutende Kulissen, die – in einer
Mischung von Allt•glichkeit und M•rchenzauber – verschiedene soziale Sph•ren,
unterschiedliche Lebensbereiche, zusammenf†gen. Was in der Realit•t r•umlich und zeitlich
getrennt ist, erscheint bei Bruegel in starker inhaltlicher Verdichtung dank verbl†ffender
Kombination auf engem Raum vereint.
Pr•gend f†r den Gesamteindruck des Bildes ist das d‚rflich-b•uerliche Milieu, das vielfach
•rmlich und heruntergekommen anmutet. In diese agrarische Welt hinein integriert sind
aber drei weitere Lebenssph•ren, die teilweise als Kontrast dazu wirken:
der Kapellenanbau, dessen pr•chtige Marmors•ule die vertikale Mittelachse des Bildes
abgibt,
die Burgruine als Sinnbild des untergehenden Feudalsystems. Aus ihr tritt ein pr•chtig
gewandeter Patrizier heraus, Repr•sentant der neuen gesellschaftlichen
F†hrungsschicht, des aufsteigenden Geldadels,
das sonnenbegl•nzte Meer am hochgelegten Horizont, das die neue Welt der
†berseeischen Entdeckungen andeutet.
So sehr die d‚rflich-b•uerliche Szenerie vorherrscht, Bruegel hat keine Kr•hwinkelei
geschaffen, sondern ein Bild gemalt, das die wesentlichen gesellschaftlichen Bereiche
darstellt. In der Tradition seines Landsmannes Joachim Patinir hat er eine so genannte
Weltlandschaft oder ˆberschaulandschaft gestaltet: ein Panorama der Wirklichkeit, real und
irreal zugleich. Es zeigt, was immer wieder unter Menschen vorkommt. Der geb†ndelte
Erfahrungsschatz der Sprichw‚rter seiner Heimat ist ihm dabei behilflich.
Bruegel verbindet das Hausbackene d‚rflicher N•he mit dem weiten Horizont einer
Seefahrernation. Er stellt das Kleine in einen gr‚‡eren Rahmen. Damit weckt er unsere
Schaulust, Suchlust, Entdeckerfreude. Er hat eine Art philosophisches Vexierbild geschaffen,
dessen hintergr†ndigen Sinnzusammenh•ngen wir auf die Spur kommen wollen.
Benennen wir kurz die verbleibenden Kompositionselemente. Links im Mittelgrund erhebt
sich ein gro‡es, arg verfallenes Bauernhaus mit Gasthof. Der Gasthof ist erkenntlich an zwei
Aush•ngeschildern, an zwei Emblemen. Er ist Gasthof zur verkehrten Welt, und er ist
Gasthof zum Mond. ˆber der umgest†lpten Weltkugel entleert gerade ein kartenspielender
Narr seinen Darm. Er „schei‡t auf die Welt“, so lautet das Sprichwort. Das Wirtshausschild
mit der Mondsichel wird von einem Mann, der es „faustdick hinter den Ohren hat“,
angepinkelt. Er „pisst gegen den Mond“. Diese Spielart von Gr‚‡enwahn ist zwar aus
anatomischen Gr†nden den M•nnern vorbehalten. Aber etwas Unerreichbares anzustreben,
kommt auch bei Frauen vor.
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Dem gro‡en Bauernhaus gegen†ber stehen – auf der rechten Bildseite – am Flussufer zwei
armselige H†tten, in deren Inneres wir hinein schauen k‚nnen. Zwischen beiden
Architekturelementen ‚ffnet sich – genau in der Bildmitte – eine Art Dorfstra‡e, ein
Dorfplatz, wo sich munteres menschliches Treiben im Freien abspielt. Aus dieser
kunterbunten Gesch•ftigkeit greife ich die beiden inhaltlichen Hauptmotive der
bruegelschen Weltdeutung heraus: seine Religionskritik und seine Gesellschaftskritik.
Bruegels Sicht der Welt ist – jedenfalls auf diesem Bild – ausgesprochen religionskritisch und
antiklerikal. Bezeichnenderweise hat er kein einziges Altarbild geschaffen. Seine Kunst hat
einen starken Zug der Verdiesseitigung und Verweltlichung biblisch-religi‚ser Inhalte, die er
nat†rlich nicht v‚llig ausklammert. Damit entfernt er sich weit von seinem k†nstlerischen
Vorbild Hieronymus Bosch, der noch stark in einem mittelalterlich-religi‚sen Weltbild
befangen war.
Schauen wir im Einzelnen hin.
Ein scheinbar dem†tig kniender M‚nch in Kutte mit Rosenkranz in der Hand bindet dem
g‚ttlichen Weltenherrscher – sei er Gott Vater oder Gott Sohn – einen flachsgelben Bart um,
das hei‡t: Er betr†gt ihn in der Maske der Scheinheiligkeit. Im Deutschen sagt man: Er l•sst
den lieben Gott einen guten Mann sein. Gott selbst sitzt – ikonenhaft steif – auf einem
Herrscherthron, die Erdkugel mit dem christlichen Kreuz als Zeichen seiner Herrschaft auf
dem Scho‡. Die Rechte ist segnend erhoben.
Aber l•ngst ist er kein furchteinfl‚‡ender Weltenherrscher mehr, noch weniger der
Weltenrichter. Autorit•t strahlt er nicht mehr aus geschweige denn Majest•t. Eher
kennzeichnen Hilflosigkeit und Gebrechlichkeit ihn. Er herrscht nicht mehr †ber die Welt,
sondern geht in ihrem Gew†hl verloren. Er ist, mit einem modernen Soziologenbegriff
gesagt, marginalisiert, an den Rand gedr•ngt. Ein rettendes oder gar strafendes Eingreifen ist
ihm nicht mehr zuzutrauen. Dieser Gott gew•hrt keine Hilfe, er braucht selber Hilfe. Zwar
thront er noch, aber angelehnt an eine •rmliche H†tte. Die †berkommene Machtsymbolik
wirkt mehr als eine Fassade denn als Realit•tshinweis.
Wie sieht es im Inneren des Gotteshauses aus? In dem schmucken Kapellenanbau, der mit
seiner schlanken Marmors•ule von materiellem Reichtum zeugt (im Unterschied zu den
b•uerlichen H†tten und H•usern), knien zwei Bauern. Der eine beichtet, der andere z†ndet
zwei Kerzen an. Aber im Beichtstuhl h‚rt kein Priester die Beichte ab, sondern der Teufel.
Und im Schrein nebenan h•lt sich ein Teufel den Bauch vor Lachen.
Das hei‡t: Im Innersten der Kirche sitzt der Teufel. Der Teufel hat die Kirche †bernommen.
Das Gotteshaus ist zur St•tte Satans heruntergekommen. Gott existiert zwar noch, aber der
Prozess seiner Entthronung, seiner Verweltlichung hat begonnen. Er ist eine Figur unter
vielen.
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Oberhalb der Kapelle seifen drei Ordensleute in schwarzer Kutte einen Mann mit
Narrenkappe ein. Sie barbieren ihn †ber den L‚ffel, halten einen Menschen zum Narren.
Hier liegt eine bissige Kritik an klerikalem Dummenfang vor. Bruegels Empfehlung lautet:
mach‘s wie jener M‚nch, der seine Kutte an den Zaun (im Deutschen: an den Nagel) h•ngt.
Er verabschiedet sich vom Klosterleben und tut damit einen wesentlichen Schritt ins Freie,
wie es im Protestantismus angelegt ist.
Das alles ist m‚glich, weil die Menschen selber in der Lage sind, sich vom B‚sen zu befreien.
Einen g‚ttlichen Erl‚ser oder nur Beistand brauchen sie dazu nicht. Die Bauersfrau vorne
links im Bild, bereits zu Beginn erw•hnt, macht es vor. Sie fesselt den Teufel aufs Kissen statt
bei ihm beichten zu gehen oder ihm Kerzen anzuz†nden. Sie ist t†chtig, tatkr•ftig,
zupackend. Sie unterwirft sich den Teufel statt sich ihm zu unterwerfen. Einen kirchlichen
Exorzismus braucht sie dazu nicht. Wo so †ber die St•rke von Frauen gedacht wird, fehlt jede
gesellschaftliche Basis f†r den Hexenwahn – auch dies ein Ruhmesblatt der Niederlande.
Unmittelbar neben der Bauersfrau, die den Teufel b•ndigt, springt ein S•ulenbei‡er ins
Auge, ein klerikaler Neurotiker, der die Kirche so lieb hat, dass er ihre S•ulen umarmt. Er hat
die katholische Lehre, dass au‡erhalb der Kirche kein Heil sei, so tief verinnerlicht, dass er
sich – im w‚rtlichen Sinne – verbissen an die S•ulen religi‚ser Wahrheit klammert.
Die Gesamtaussage der religionskritischen Figuren und Szenen lautet: Weder Gott noch
Teufel herrschen in der Welt. Die Menschen selbst sind Urheber ihres Schicksals. In ihrer
Vernunft oder Unvernunft sind ihre Hoffnung und ihre Tragik begr†ndet. Wir selbst sind
unseres Gl†ckes oder Ungl†ckes Schmied, nicht †bernat†rliche oder †berweltliche M•chte
bestimmen †ber uns.
Viermal taucht im Bild die Erdkugel mit christlichem Kreuz auf, als Weltkugel verstanden, ein
Leitmotiv, das Religionskritik und Gesellschaftskritik miteinander verbindet.
1.
Die Weltkugel auf dem Kopf ist zun•chst das Wahrzeichen der Herberge zur
„verkehrten Welt“ am Bildrand links oben. Eine m‚gliche Antwort auf diese Erfahrung gibt
der Narr im roten Rock mit bunter Narrenkappe links oben im Bild. Er schei‡t auf die Welt. Er
verachtet sie und ihr Treiben. Das mag ihn individuell erleichtern, am Zustand der
Verkehrtheit •ndert es nichts. Er l•sst die Welt, wie sie ist, und probt die spielerische
M‚glichkeit des Aussteigertums – wagehalsig in der Luft schwebend – ohne Bodenhaftung.
2.
Auch Gott ver•ndert die Welt nicht mehr. Kraftlos h•lt er sie auf dem Scho‡.
3.
und 4. Entscheidend f†r Bruegels sozialkritischen Weltbegriff ist das Figurenpaar, das
er in der rechten Bildh•lfte am unteren Rand bewusst unmittelbar neben einander gestellt
hat – als zusammengeh‚riges Gegensatzpaar. Ein verkr†ppelter Bettler bahnt sich seinen
Weg durch die tr†gerische Welt, als Glaskugel mit christlichem Kreuz dargestellt. Auf
Tuchf†hlung rechts daneben steht ein Edelmann, pr•chtig in Brokat gewandet, und l•sst die
Welt auf seinem herrisch gereckten Daumen tanzen. Mit ver•chtlicher Geste schaut er herab
auf den vor ihm kriechenden Kr†ppel: „Was kostet die Welt?“
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Hinter ihm liegt aber bereits das Sinnbild seines Scheiterns, ein Wagenrad, in gleicher Gr‚‡e
wie die Weltkugel, durch dessen Speichen ein Kn†ppel gesteckt ist. Im Deutschen werden
einem Kn†ppel zwischen die Beine geworfen. Im Holl•ndischen wird ein Kn†ppel zwischen
die Radspeichen gesteckt. Das Gl†cksrad des Empork‚mmlings wird sich nicht unaufh‚rlich
drehen, sondern kann jederzeit zu einem abrupten Stillstand kommen.
Bruegel will in dieser Schl†sselszene sagen: weder so noch so, weder kriecherisch noch
selbstherrlich, sollen die Menschen sich durchs Leben bewegen. In dem Figurenpaar Bettler
und Edelmann ist ahnungsweise die Idee einer neuen sozialen Ordnung angelegt, die vage
Hoffnung auf ein Leben ohne Herr und Knecht, auf ein vers‚hntes Verh•ltnis von Arm und
Reich.
Vier Bildebenen nahezu senkrecht oberhalb des Edelmanns tritt ein noch eleganter
gekleideter Herr aus der Ruine einer Ritterburg hervor: ein Patrizier in rotem Kapuzenmantel
mit Zierdegen, auf dem Haupt ein Barett mit wallender Feder. Mit vollen H•nden wirft er
Geldm†nzen ins Wasser (zum Fenster hinaus). Erneut greift Bruegel sozial‚konomische
Sachverhalte auf. Aus dem Gem•uer des verfallenden Feudalsystems tritt ein Vertreter des
neuen Adels, des Geldadels, hervor. Mit dem Aufschwung des Fern-und ˆberseehandels war
die Rolle der Geldwirtschaft st•ndig gewachsen.
Kann sich der Patrizier die protzige Geste der Verschwendung leisten? F†ttert er Fische mit
Geldm†nzen? Der K†nstler hat wieder einmal zwei Motive, zwei Szenen bewusst
miteinander kombiniert.
Unmittelbar zu F†‡en des verschwenderischen Reichen verschluckt ein gro‡er Fisch einen
kleinen Fisch. Dass die gro‡en Fische die kleinen fressen, ist ein internationales Sprichwort,
dessen Wurzeln bis in die Antike zur†ckreichen. Bruegel hat ihm einen seiner bekanntesten
Kupferstiche gewidmet und den Vorgang, der im Tierreich und in der menschlichen
Gesellschaft zu Hause ist, schaubildhaft und lehrbuchartig dargestellt. Der K†nstler bezog
sich damit auf die Konzentrationsvorg•nge im Handels-und Bankenwesen seiner Zeit.
Zusammenbr†che und Aufk•ufe von Banken und Handelskompanien waren in den
fr†hkapitalistischen Niederlanden durchaus nichts Ungew‚hnliches.
Betrachten wir nun einige wichtige Einzelfiguren des Bildes, die nicht umstandslos dem
Motivfeld von Religions-und Gesellschaftskritik zugeordnet werden k‚nnen. Es sind
Schl†sselgestalten, die allgemein menschliche Spielarten im Erreichen oder Verfehlen von
Handlungszielen verk‚rpern. F†r sie alle gilt die Warnung, sich nicht t•uschen, sich nicht
blenden, sich nicht †bert‚lpeln zu lassen, szenisch dargestellt in dem auff•lligen ungleichen
Paar in Rot-Blau, das im unteren Bilddrittel die Dorfstra‡e †berquert.
Eine sch‚ne junge Frau in einem leuchtend roten Kleid h•ngt einem alten gebrechlichen
Mann mit Kr†ckstock von r†ckw•rts einen blauen Mantel um. Nach diesem Kleidungsst†ck
wurde das Gem•lde in der ersten Zeit nach Bruegels Tod einfach nur „Der blaue Mantel“
genannt. Warum? Jemanden „den blauen Mantel“ umh•ngen, hei‡t im niederl•ndischen
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Sprichwort: jemanden betr†gen, jemanden hintergehen. Die junge Frau im k‚rperbetonten,
tief ausgeschnittenen Kleid ist offenbar dabei, ihren wesentlich •lteren Mann zu betr†gen.
Damit er ihr Vorhaben nicht bemerkt, h†llt sie ihn in einen weiten Kapuzenmantel ein.
Mein Deutungsvorschlag lautet: Die junge Frau ist eine Allegorie und stellt „Frau Welt“ dar.
Sie verk‚rpert, sie versinnbildlicht – nach Vorbildern in der mittelalterlichen Kunst –, die
tr†gerische, verf†hrerische, glitzernde Oberfl•che der Welt, der es klugerweise zu
misstrauen gilt. Im Rahmen der bruegelianischen Skepsis l•sst sich der Sinn des ungleichen
Figurenpaares in folgende Worte kleiden. Verfallt nicht dem sch‚nen Schein. Entwickelt ein
gesundes Misstrauen in der Beurteilung der menschlichen Dinge. Achtet auf den Unterschied
von Wesen und Erscheinung. Lernt, •u‡ere Schale und inneren Kern auseinander zu halten.
T•uschung und Wahrheit wohnen oft dicht beieinander.
Welche weiteren Einzelfiguren schauen wir uns nun genauer an, wie sie Handlungsziele
erreichen oder verfehlen?
Gleich am unteren linken Bildrand will ein Mann mit dem Kopf durch die Wand. Mit einem
modernen Begriff gesagt: Hier treibt ein Betonkopf sein Unwesen. Er ist in Harnisch geraten.
Seltsam schon seine Kleidung, die aus einem Nachthemd, einem dar†ber gestreiften
Brustharnisch und einem Helm besteht. Nur am rechten Fu‡ tr•gt er einen Schuh. Offenbar
ist er so rasch aus dem Bett aufgesprungen, dass er f†r das richtige Ankleiden keine Zeit
mehr gefunden hat. Um einem eingebildeten Widersacher zu Leibe zu r†cken, hat er sich
einen riesigen Dolch geschnappt, der freilich gleich abbrechen wird und seinen Eigent†mer
selbst verletzen kann. Um die rechte Wade ist eine wei‡e Binde geschlungen. Vermutlich
war er schon wiederholt in Raufereien verwickelt. Und vermutlich hat er sich schon ‚fter
eine Beule am Kopf geholt und deshalb einen Helm †bergest†lpt.
Der Mann ist ein Sinnbild f†r blinden Eifer und blinden Zorn. Er versteht es nicht, klug und
kreativ mit seinen Problemen umgehen. Nat†rlich brauchen wir Menschen Zorn und Eifer,
um uns in den Widrigkeiten des Lebens zu behaupten. Sie k‚nnen eine legitime Triebkraft im
Lebenskampf sein. Auch fr†hes Aufstehen kann erforderlich sein. Aber doch alles mit Sinn
und Verstand, mit Bedacht und mit Klugheit. F†nfzig Zentimeter weiter nach links oder nach
rechts geschaut, und er h•tte keine l•cherliche Figur abgegeben und sich keine Beule am
Sch•del geholt.
Weiter oben am Bildrand auf den Zinnen des Turmes h•ngt ein Karrierist seinen Mantel nach
dem Wind. Er wollte hoch hinaus, er ist auch weit gelangt, aber nun hat er sich verstiegen
und kann nicht mehr weiter. Er kann nur noch senkrecht abst†rzen. Es hilft ihm nicht, den
Mantel nach dem Wind geh•ngt zu haben. Ihm droht das Schicksal des Mannes unter ihm,
der vom Ochsen auf den Esel f•llt, oder im deutschen Sprichwort vom Regen in die Traufe
kommt.
Zwei andere Szenen behandeln die Zeitstruktur der menschlichen Existenz. Es gibt nicht nur
einen richtigen Zeitpunkt, es gibt auch ein Zu fr†h und ein Zu sp•t. In der linken Bildh•lfte,
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zwei Treppenstufen oberhalb des Betonkopfes, sehen wir einen Hennentaster, einen
Bauern, der ungeduldig nach den ungelegten Eiern seiner H†hner tastet. Er kann nicht
warten und den nat†rlichen Prozess sich vollenden lassen. So bef†hlt er die B†rzel seiner
H†hner, ob sich nicht bald ein Ei l‚se.
Ein anderer Akteur ist der Bauer, der – ganz unten am Bildrand – einen Brunnen zuschaufelt,
nachdem das Kalb bereits hinein gefallen ist. Beide Dorfbewohner verfehlen die Zeitstruktur
menschlichen Handelns und lassen insofern einen erheblichen Mangel an Lebenskunst
erkennen: der Kunst, den richtigen Zeitpunkt zu erfassen und dann zupackend zu handeln.
Aber nicht nur die richtige Zeit ist wichtig, auch der Ort muss stimmen. Der Mann, der Rosen
vor den S•uen ausstreut, will etwas Gro‡z†giges und Anmutiges tun. Er tut es am falschen
Ort und vor den falschen Adressaten. Durch den ledernen Geldbeutel am G†rtel ist er als
reicher B†rger zu erkennen, der in einer edlen Geb•rde Rosen ausstreut – ohne R†cksicht
auf die Empf•nger. Er verschenkt, er verschwendet Sch‚nes an Unw†rdige und versteht
daraufhin die Welt nicht mehr, wie sein offener Mund verr•t. Den S•uen geb†hrt kein Tadel,
sie folgen nur ihrer Natur, wenn sie die Bl†ten auffressen.
Fassen wir zusammen, was die Einzelfiguren aussagen. Es geht um den richtigen und den
falschen Zeitpunkt, um den richtigen und den falschen Ort menschlichen Handelns. Es geht
um die Zeitstruktur und die Ortsgebundenheit allen Tuns und Lassens. Der B†rger, der Rosen
vor die S•ue streut, und der Patrizier, der Geld ins Wasser wirft, beide tun etwas, was
sinnvoll sein kann. Am falschen Ort, vor den falschen Adressaten, unter falschen
Voraussetzungen wird es sinnlos.
Rosenstreuen kann anmutig und gro‡herzig sein, sofern geeignete menschliche Empf•nger
die Gaben zu w†rdigen wissen. Geldausgeben kann sinnvoll sein als produktive Investition.
Als demonstrative Verschwendung ist es ein Schlag ins Wasser.
Versuchen wir, in einer Gesamtdeutung des Bildes seinen ideellen Gehalt, seine
weltanschauliche Aussage auf den Begriff zu bringen. Die Kernaussage lautet: Trotz aller
Dummheit und Blindheit der Menschen, trotz aller Verr†cktheit und Bosheit ist die Welt
nicht verloren. Bruegel zeigt Spielarten der Verblendung und des Scheiterns, aber auch
Beispiele des Gelingens: Wege ins Freie, Wege aus der Gefahr. Die Perspektive haftet an der
aufsteigenden Diagonale.
Die Welt, die er mit verschmitztem Humor und in leuchtenden Farben zeigt, ist nicht
verriegelt und versiegelt. Sie ist kein d†steres Labyrinth, in dem kafkaeske Ausweglosigkeit
herrschte. Bruegel zeigt Menschen wie dich und mich, keine makellosen Lichtgestalten, aber
auch keine unverbesserlichen Finsterlinge.
Der Segler oben rechts, der ins freie Meer hinausstrebt, verk‚rpert das rechte zupackende
Handeln gem•‡ dem niederl•ndischen Sprichwort „Vor dem Wind ist gut segeln.“ Lasst uns
segeln, solange der Wind weht, d.h. lasst uns die Gunst der Stunde ergreifen. Nutzen wir die
Naturkr•fte und die Naturgesetze zum menschlichen Vorteil. Ohne sie oder gar gegen sie
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k‚nnen wir nicht leben. Es ist derselbe Wind, der das Segel des Lebensk†nstlers und den
Mantel des Opportunisten bl•ht.
Worauf warten wir? Das Segel unseres Lebens ist l•ngst gesetzt. Freilich d†rfen weder
Bruegels Boot noch das unsere mit einer Traumbarke verwechselt werden, die zur Insel der
Seligen †bersetzt. Kein Boot ist vor dem Kentern absolut sicher. Das Leben ist und bleibt von
Gefahren umlauert. Rechts oben am Horizont wartet ein Galgen, links oben droht eine
Gruppe von drei Blinden ins Meer zu st†rzen. Das Wunschbild vom Schlaraffenland hat
Bruegel verspottet. Das Leben ist und bleibt ein Wagnis. Bruegels Kunst hilft uns dabei, es zu
meistern und unsere Welt zu gestalten.
Bruegel ‚ffnet kein Fenster zu einer Transzendenz. Das ganze Gem•lde ist ein weit
ge‚ffnetes Fenster zum Diesseits. Gott und Teufel sind ganz in das innerweltliche Geschehen
hinein geholt. Der K†nstler zeigt einen innerweltlichen Weg auf, den Weg zur
Selbstaufkl•rung und Selbstemanzipation, wobei er freilich mit seiner gro‡artigen Kunst eine
wesentliche Hilfestellung anbietet. Kein menschlicher oder gar g‚ttlicher Retter, kein starker
Mann werden erwartet. Jeder kann und muss seinem Leben selbst einen Dreh geben, um
dem allt•glichen Wahnsinn ein St†ck weit zu entrinnen.
Bruegel ist kein Zyniker, kein Misanthrop, der uns h•misch entlarven will. Er ist ein
Menschenfreund, der uns die Augen ‚ffnen will und uns humorvolle
Identifikationsm‚glichkeiten anbietet. Niemand wird giftig abgefertigt, niemand von oben
herab abgekanzelt. Zu den Sinndefiziten, die Bruegel all†berall aufsp†rt, zeigt er
unspektakul•re Alternativen und Antworten auf, die wir als lernbereite Betrachter seiner
Kunst freilich selber realisieren m†ssen.
Bruegel war ein Anh•nger des aufgekl•rten und weltb†rgerlichen Humanismus seines
gro‡en Landsmannes Erasmus von Rotterdam. Erasmianische Tugenden wie Toleranz und
G†te, Wissbegierde und Wahrheitsliebe pr•gen Bruegels Weltsicht. Eben deshalb erhob er
auch die Bauern, die †bergro‡e Mehrzahl der damals lebenden Menschen, erstmals zum
Gegenstand der Malerei.
Bruegel hielt die Landbev‚lkerung f†r kunstw†rdig, obwohl er selbst ein ausgesprochener
Gro‡stadtmensch war, der in Antwerpen, Br†ssel und Amsterdam lebte. Humanistisch
gebildet, mit Gelehrten und Literaten seiner Zeit befreundet, malte er die Namenlosen, die
einfachen Menschen aus dem Volk, Gestalten aus echtem Schrot und Korn. Es gibt kein
Altarbild von Bruegel! Und auch kein Herrscherportr•t oder das Portr•t eines anderen
hochgestellten Zeitgenossen hat er geschaffen. Als erasmianisch gepr•gter Menschenfreund
suchte er einen dritten Weg jenseits der beiden rivalisierenden Hauptspielarten der
christlichen Religion, die immer wieder in blutige Religionskriege verstrickt waren. Zum
kalvinistischen Rigorismus und zur katholischen Inquisition hielt er skeptische Distanz.
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Schlussbemerkung
Bruegels Gem•lde „Die niederl•ndischen Sprichw‚rter“ aus dem Jahre 1559 ist ein
Meisterwerk, das wir t•glich mit Genuss und Gewinn betrachten k‚nnen. Das Bild ist ein
erg‚tzliches Schmunzelbild und ein ernstes Warnbild. In epischer Breite erz•hlt es, was f†r
ein wunderliches V‚lkchen wir Menschen sind – gesehen im Prisma niederl•ndischer
Sprichw‚rter. Als gro‡es Kunstwerk veraltet es nicht so schnell wie die Ergebnisse der
gleichzeitigen Wissenschaft. Die Landkarten, die Bruegels humanistischer Freund, der
Kartograph Abraham Ortelius, damals zeichnete, haben heute nur noch einen
wissenschaftshistorischen Wert. Bruegels Gem•lde hingegen bewahrt – trotz seiner
erkennbaren Verwurzelung im 16. Jahrhundert – eine zeit†berdauernde G†ltigkeit. Es
schildert Irrungen und Wirrungen der menschlichen Tragikom‚die – damals, heute, morgen.
Mit derber Realistik, die auch Urin und Kot nicht ausspart, schl•gt Bruegel nicht nur das
unge†bte Auge des Laien in Bann, es begeistert auch die kunstsinnige Fachfrau. Ich w†nsche
uns allen, dass ein bruegelianisches Lebensgef†hl und ein bruegelianischer Blick auf die
Wirklichkeit uns immer wieder einmal inspirieren m‚ge.
Notiz Zuletzt vorgetragen im November 2014 in der Marburger Volkshochschule, ist der
Text bereits in den fr†hen neunziger Jahren erarbeitet worden. Ich freue mich, dass er auch
nach dem Erscheinen der sch‚nen und kundigen Monographie zum Bild „Lebt denn der alte
Bruegel noch? Pieter Bruegels Die niederl•ndischen Sprichw‚rter (1559) im heutigen
Europa“, hg. (u.a.) von Harry Walter im Mecklenburgischen Buchverlag (Neubrandenburg,
2013) nicht substantiell ver•ndert werden musste. Das Bild wurde per Beamer ganz und in
Ausschnitten gezeigt.
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