Das Problem der Simulation
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Das Problem der Simulation
Das Problem der Simulation am Beispiel der Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull und der Tagebücher Thomas Manns Dissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors der Philosophie an der Philosophischen Fakultät der Universität Rostock vorgelegt von Uta Buttkewitz Rostock, November 2002 1. Gutachter: Prof. Dr. Helmut Lethen, Universität Rostock 2. Gutachter: Prof. Dr. Heinz-Jürgen Staszak, Universität Rostock 3. Gutachter: Prof. Dr. Heinrich Detering, Universität Kiel Tag der Verteidigung: 9. 7. 2003 1 Prof. Dr. Helmut Lethen danke ich herzlich für die Anregung zu dieser Dissertation und die Unterstützung bei der erfolgreichen Bewerbung um ein Stipendium der Landesgraduiertenförderung Mecklenburg-Vorpommern. Während der Arbeit an der Dissertation erhielt ich von Prof. Dr. Lethen immer wieder entscheidende Hinweise und Denkanstöße, die für meine Forschungstätigkeit sehr hilfreich waren. 2 Inhalt Einleitung ...................................................................................................................... 6 I. Zum wissenschaftlichen Gebrauch der Begriffe Fiktion, Mimesis und Simulation.......................................................................................................... 10 1. Panorama .................................................................................................................... 2. Mimesis und Fiktion................................................................................................... 3. Fiktionalität................................................................................................................. 3.1 Fiktionalität als Begriff der allgemeinen Ästhetik............................................... 3.2 Fiktionalität in der Literaturtheorie ..................................................................... 4. Simulation................................................................................................................... 4.1 Die Simulation als rhetorische Figur im Verhältnis zur Ironie............................ 4.2 Roland Barthes’ Begriff des Simulakrums im Verhältnis zur Simulation von technischen Systemen .......................................................... 5. Neue Forschungsergebnisse in der Diskussion über Simulation................................ 5.1 Die Simulation als Theatertheorie ....................................................................... 5.2 Die „hyperreale Welt“ und der „symbolische Tausch“ ....................................... 5.3 Simulation und Fiktion ........................................................................................ 5.4 Neuer Blick auf das Fiktive und Imaginäre durch Wolfgang Iser ...................... 6. Der Text aus Sicht des New Historicism .................................................................... 7. Hypothesen ................................................................................................................. 10 11 15 15 17 21 22 24 30 30 34 37 39 41 44 II. Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull .................................................... 48 1. Die Gestalt des Felix Krull als Ergebnis mythologischer und philosophischer Überlegungen ................................................................................... 2. Neue Forschungsrichtungen ....................................................................................... 2.1 Jacobs’ Über-Mythologisierung .......................................................................... 2.2 Die Simulation des Körpers................................................................................. 2.3 Der Roman als Simulation? ................................................................................. 3. Verschiedene Ausprägungen der Simulation im Felix Krull ..................................... 3.1 Simulation einer ’Körperkatastrophe‘?................................................................ 3.2 Schulkrankheit ..................................................................................................... 3.3 Rhetorische Simulation........................................................................................ 3.4 Literarische Simulation ....................................................................................... 4. Hotelszenen ................................................................................................................ 4.1 Das Hotel – ein Leben im Schein ........................................................................ 4.2 Das Rollenspiel in der Hotelsozietät.................................................................... 5. Episodische Simulation .............................................................................................. 5.1 Literarische Inszenierung als Simulakrum .......................................................... 5.2 Professor Kuckuck und Felix im Reich der Allsympathie und des Scheins ................................................................................................... 3 48 54 54 56 62 67 67 70 72 74 77 77 81 86 86 89 6. Ein Blick in die moralische Welt des Hochstaplers Felix Krull ................................ 95 7. Autobiographie und Authentizität im Felix Krull...................................................... 98 8. Zusammenfassung ...................................................................................................... 101 III. Die Tagebücher Thomas Manns .......................................................................... 106 1. Theoretische Grundlagen zum Tagebuch................................................................... 106 2. Das Widerspiel von Authentizität und Simulation..................................................... 116 3. Das Geheimnis um das Blaubartzimmer.................................................................... 123 4. Kurzer Forschungsbericht zu Thomas Manns Tagebüchern...................................... 130 5. Das Logbuch als verdeckte Simulation...................................................................... 143 6. Simulation als Notwendigkeit zur Aufhebung des körperlich-geistigen Dualismus ................................................................................. 151 7. Simulation und Dissimulation als Provokation eines „authentischen Personalstils“ ..................................................................................... 161 8. Die Gleichzeitigkeit von Simulation und Authentizität ............................................. 171 9. Zusammenfassung ...................................................................................................... 183 Schluß ............................................................................................................................ 192 Thesen............................................................................................................................ 196 Literaturverzeichnis..................................................................................................... 204 4 Eine angenehme Erinnerung der gesellige Abend in unserem Garten, bei dem ich den »Segensbetrug« vorlas und eine offenbar tiefe Wirkung damit hervorrief. Immer habe ich bei solchen Gelegenheiten das Gefühl, zu täuschen und zu blenden, weil ich nicht das Verfehlte, Teigig-Sitzengebliebene biete, sondern eine »schöne Stelle« und jenes verhehle, sodaß es scheint, das Ganze sei so. Das ist wohl das Betrügerische jeder Probe-Mitteilung. Aber auch das Präsentierte erweist sich dabei als viel besser und eindrucksvoller als ich schon längst hatte sehen und glauben können, und der Schluß ist erlaubt, daß auch das Verhehlte weniger schlecht, in entsprechendem Maße, ist, als ich es sehe. Thomas Mann: Tagebücher, 20.7. 1933 5 Einleitung Simulation als eine Kategorie, die als ein Kennzeichen der verstellten und undurchsichtigen gesellschaftlichen Zustände und Entwicklungen gilt, soll in der vorliegenden Studie an ausgewählten Texten von Thomas Mann untersucht werden. Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull und die Tagebücher sollen als Grundlage für die Beschreibung von Simulationsprozessen dienen und damit auch Antworten auf die Fragen geben, wie Täuschungsvorgänge in Texten und Texte als Simulationen funktionieren und wie die Leser das Spiel zwischen Authentizität und Simulation wahrnehmen. Im ersten Teil der Arbeit werde ich einen Überblick über den gegenwärtigen Forschungsstand zum Begriff der Simulation sowie seine Position innerhalb des Begriffsfeldes von Fiktion und Mimesis geben. Ausgehend von antiken Konzepten von Mimesis und Fiktion als wesentliche Komponenten zur Charakterisierung von Dichtung führt der Weg über die Verwendung der Termini in aktuellen Literaturtheorien bis zu ihren Auswirkungen auf umfassendere Kulturtheorien. Da es in der bisherigen Forschung noch keine ausführlich angelegte theoretische Abhandlung über den Begriff der Simulation gibt, ist es notwendig, sich mit den unterschiedlichsten Ansätzen kritisch auseinanderzusetzen und sie einzuordnen. Diese Arbeit möchte einen Beitrag zur konkreten Bestimmung der Simulation leisten, indem sie versucht, die Kategorie in semantische Felder zu unterteilen und damit die Vermischung und daraus eventuell resultierende unscharfe Grenzziehungen zwischen einzelnen Auslegungen und Anwendungen des Begriffes zu markieren. Die Basis für meine theoretischen Erörterungen zur Simulation werden vor allem die Arbeiten von Roland Barthes, Jean Baudrillard und Wolfgang Iser bilden. An Manns Roman Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull werde ich die verschiedenen Facetten der Simulation erläutern. Der Roman nimmt im Gesamtwerk von Thomas Mann insofern eine Sonderstellung ein, als über ihn die unterschiedlichsten Deutungsversuche vorliegen. Die Ausnahmestellung des Felix Krull läßt sich auf mehreren Ebenen nachweisen. Der Roman provoziert nicht nur voneinander abweichende Interpretationen, sondern verfügt auch über eine außergewöhnliche Entstehungsgeschichte und einen für Manns Gesamtwerk ungewöhnlichen, durch eine gewisse Leichtigkeit gekennzeichneten Erzählstoff. Um einen möglichst umfassenden Überblick zur Forschungssituation zu gewinnen, ist es notwendig, auch alternative, unkonventionelle, d.h. von den Stan- 6 dardwerken abweichende Deutungsversuche kritisch miteinzubeziehen. Neben Hans Wyslings umfangreicher Studie Narzißmus und illusionäre Existenzform verwende ich die Untersuchungen von Jürgen Jacobs, Bernhard J. Dotzler und Gerhard Härle als Basisliteratur für meine Darstellungen, wobei letztere sich ausdrücklich mit dem Thema der Simulation befassen. Während sich Härles Untersuchung dem Gegenstand von der traditionellen, hermeneutischen Sichtweise nähert, kommt der Neo-Strukturalist Dotzler zu völlig anderen Ergebnissen. Ziel dieser Gegenüberstellung soll es sein, durch den Vergleich der Analysen, die unterschiedlichen Gewichtungen festzustellen und die Punkte herauszufinden, welche die meisten Differenzen aufweisen. Auf dieser Grundlage ist es dann möglich, die Hauptprobleme der Felix-Krull-Forschung differenziert darzustellen und damit die Konzentration auf die besonderen Merkmale des Romans zu lenken. Isers Darstellungen zum Fiktiven und Imaginären dienen mir als Schaltstelle zwischen den beiden Positionen, um das Problem als literarisches Phänomen von der anthropologischen Seite zu beleuchten. Die außergewöhnliche Anlage und Struktur von Manns Tagebüchern, die in starkem Gegensatz zu seiner Prosa stehen, haben mich dazu veranlaßt, nach Indizien zu suchen, die es ermöglichen, das Phänomen der Simulation als Element autobiographischen Schreibens zu begreifen. Ich folge Martin Lindners theoretischen Erörterungen zum Logbuchcharakter von Manns Tagebüchern, wobei ich nicht der Frage zur literarischen Qualität der Diarien nachgehe, sondern zu ergründen versuche, welche Effekte dazu verleiten, Manns Tagebücher wie Lindner als ’Fingerabdruck des Wirklichen‘ zu lesen und welche Indizien Zweifel über die ’Authentizität‘ des Dargestellten bei der Leserin aufkommen lassen. Unter den Thomas-Mann-Forschern herrscht Uneinigkeit darüber, ob wir den ’wahren‘ Thomas Mann eher in seinen erzählerischen Texten oder in den Tagebüchern finden können bzw. ob er sich sowohl in der einen als auch in der anderen Gattung der Technik des Ausbalancierens von Öffentlichkeit und Privatheit bedient. Aus den widersprüchlichen Ansichten der Rezensenten kann man schließen, daß Manns Diarien einen besonderen Mechanismus entwickelt haben, der diese unterschiedlichen Lesarten zuläßt. Im Zuge der zunehmend medialisierten und computerisierten Gesellschaft im sogenannten Zeitalter der Postmoderne gewinnt das Moment des Verdachts ähnlich wie die Simulation eine Kraft, die scheinbar einen Automatismus in Gang gesetzt hat, der eine Differenzierung zwischen Aufrichtigkeit und Lüge verwehrt. Der Medientheoretiker Boris Groys untersucht in seiner Studie Unter Verdacht dieses Phänomen des aktuellen Zeitgeistes. In Kombination mit Helmuth 7 Plessners Theorien zur Künstlichkeit des Menschen versuche ich, den Ursachen des permanenten Zweifels näher zu kommen. Andreas Kriegenburg, Regisseur am Schauspielhaus Zürich, gibt in einem Gespräch über das von ihm inszenierte Ibsen-Drama Stützen der Gesellschaft1 eine erstaunlich luzide Diagnose über die gegenwärtige Funktion des Theaters: Für uns ist ja das Problem, dass wir diese Läuterung für rundum unglaubwürdig halten. Wir können diese Läuterung nicht ohne Ironie denken, nicht ohne eine Theaterform, ob das das Musical ist oder die Farce. Wir können der Läuterung keine Wahrhaftigkeit mehr zugestehen, dafür sind wir vielleicht selber zu verdorben. Und das ist das Problem an diesem Schluss: Ibsen hat, glaube ich, diese Läuterung für den Konsul Bernick für nötig und auch für wahrscheinlich gedacht. [...] Das ist, auch durch die Übernahme der Dramaturgie durch Hollywood, für uns nicht mehr nacherlebbar und fast nur noch als Klischee vorstellbar. Aber wenn wir dem nachgeben, wird es, glaube ich, sehr unangenehm werden, weil man – auch als Theater – zu lügen anfängt und sich auf Schablonen und Bildbehauptungen zurückzuziehen beginnt. Damit würde man diesen Figuren – auch dem Theater als lebendigem Apparat – das Blut entziehen. Welche Lösung wir dafür finden, ist noch offen.2 Kriegenburg lenkt mit seiner Einschätzung über das Theater die Aufmerksamkeit auf die größere Komplexität unserer Gesellschaft und die Verschiebung von moralischen Kategorien im Gegensatz zu Ibsens Zeit. Dieses Beispiel soll die Schwierigkeiten im Umgang mit dem Begriff der Simulation verdeutlichen. Einerseits ist vor seiner voreiligen Verwendung zu warnen – nicht jeder Verdacht ist tatsächlich begründbar. Andererseits offenbart Kriegenburgs Gebrauch der „Kellermetapher“ den Verdacht, daß es ein Leben unter der Oberfläche gäbe. Dieses Dilemma, dem Verdacht einerseits nicht zu entgehen und hinter jeder scheinbar vordergründigen Aufrichtigkeit ein simulierendes Element zu befürchten, andererseits je- 1 Die Hauptfigur des Stückes, Konsul Bernick, ist ein Verfechter der neuen Technik und initiiert einen Bahnbau. In seinem Haus hat sich eine frömmelnde, klatschsüchtige Damengesellschaft gebildet, die von einem Vorfall berichtet, der sich vor fünfzehn Jahren ereignet hat. Bernicks Schwager Johann mußte damals die Stadt verlassen, weil er eine Liebesbeziehung zu einer Schauspielerin unterhalten und Geld von der Mutter des Konsuls unterschlagen haben soll. Aufgrund von unrechtmäßigen Spekulationen gerät Bernicks Familenbetrieb in finanzielle Schwierigkeiten, für die er jedoch seinen Schwager verantwortlich macht. Nach familiären Verwirrungen, die schließlich mit der dramatischen Rettung seines Sohnes Olaf enden, gesteht der Konsul reumütig seine Schuld an den geschäftlichen Mißerfolgen ein und gibt zu, daß er derjenige war, der ein Verhältnis mit der Schauspielerin hatte und auch für das Verschwinden des Geldes verantwortlich war. Kriegenburg zeigt die durchrationalisierte Gesellschaft, deren Mitglieder auf ihrer „moralischen Integrität und Stabilität“ beharren und damit auf ihre Funktion als „Stützen der Gesellschaft“ verweisen. Mit der Verwendung der „Kellermetapher“ gelingt es Kriegenburg, das verkrampfte Rollenverhalten ins Schwanken zu bringen und es als Simulation zu entlarven. 2 Gespräch mit dem Regisseur Andreas Kriegenburg am 26. 2. 2002. In: Programmheft zum Stück „Stützen der Gesellschaft“. Hrsg. von der Schauspielhaus Zürich AG. Das Gesellschaftsdrama „Stützen der Gesellschaft“ von Henrik Ibsen feierte am 21. 3. 2002 im Schauspielhaus Zürich seine Premiere. 8 doch selbst diese unsichtbare Lenkung nicht mehr ernstzunehmen, blockiert den Blick hinter die realen Kulissen der Simulation, d. h. es geht nicht darum, die Simulation zu entzaubern, sondern den Ursachen für den Verdacht einer Täuschung auf den Grund zu gehen. Am Beispiel von Thomas Manns Texten möchte ich versuchen, einen Zusammenhang zwischen dem Simulanten, den ’Opfern‘ sowie den Verdachtsmomenten herzustellen. 9 I. Zum wissenschaftlichen Gebrauch der Begriffe Fiktion, Mimesis und Simulation 1. Panorama Wenn man versucht, eine auch nur annähernd eindeutige Definition von Fiktion, Mimesis und Simulation zu erhalten, befindet man sich sehr schnell in einem diffusen Netzwerk von Theorien, die auf unterschiedlichsten Prämissen basieren. Das liegt zum einen daran, daß sich die einzelnen Literaturtheorien bewußt voneinander abgrenzen wollen, indem sie die Termini in verschiedene Bedeutungszusammenhänge setzen. Zum anderen beruht die Konfusion jedoch auch auf der Polysemie der Begriffe und ihren vielen Anwendungsmöglichkeiten außerhalb der Literaturwissenschaft. Es ist also nahezu unmöglich, die Kategorien scharf voneinander zu trennen, ohne daß dabei wichtige Aspekte aus dem Blickwinkel geraten. Da einige Literaturtheorien die Begriffstriade Fiktion, Mimesis und Simulation weitestgehend ignorieren, versuche ich durch Gegenüberstellung der Termini eine Verbindungslinie zwischen den einzelnen Elementen aufzuzeigen. Dabei müssen die verschiedenen Anwendungsbereiche vorerst unberücksichtigt bleiben, da sie einen strukturellen Überblick verwehren würden. Nur wenige Literaturtheorien beschäftigen sich explizit mit dem Zusammenhang von Fiktion und Simulation. Es wird also unabdingbar sein, kultur- und medienwissenschaftliche Theorien einzubeziehen, um zumindest einige Möglichkeiten des Begriffsverständnisses offenzulegen und davon ausgehend einen Zusammenhang mit den Literaturtheorien herzustellen. Da die Begriffe Mimesis und Fiktion schon in der Poetik der Antike eine Rolle spielten, sollen diese beiden Problembereiche im Zusammenhang betrachtet werden. Die Kategorie der Simulation war nur in dem Begriffspaar simulatio-dissimulatio gebräuchlich, d. h. lediglich auf der rhetorischen Ebene. Erst im Strukturalismus Roland Barthes’ fand die Simulation Eingang in die Literaturtheorie und entwickelte sich durch ihre Anwendung in der Computertechnologie zu einer eigenständigen und relevanten Kategorie in der Ästhetik. Seit den zugespitzten Thesen des französischen Theoretikers Jean Baudrillard wird die Simulation nicht mehr als unzulänglicher Abbildungsmodus aufgefaßt, sondern bezeichnet 10 die mit der Ausbreitung technischer Medien einhergehende überhandnehmende Macht verselbständigter Zeichenprozesse. In diesem Zusammenhang ist es möglich, Simulation und Fiktion gemeinsam zu beleuchten. Mit Hilfe verschiedener Konzepte, die im Rahmen der philosophischen Strömung entstanden, der man den Namen ’Postmoderne‘ gab, ist es möglich, die Facetten der Problematik von Fiktion und Simulation herauszuarbeiten. Kompliziert ist die Anschlußfähigkeit des Simulationsbegriffs für die Literaturwissenschaft. Dieser Punkt ist noch nicht geklärt, denn in der Textanalyse spielt die Simulation nach wie vor kaum eine Rolle. Ich möchte versuchen, ausgehend von philosophischen, soziologischen sowie theatertheoretischen Konzepten, Anwendungsmöglichkeiten für die Kategorie der Simulation in der literarischen Textanalyse zu finden, um sie dann im Verlauf der Arbeit an ausgewählten Texten von Thomas Mann aufzuzeigen. 2. Mimesis und Fiktion Die theoretischen Bestimmungen von Mimesis und Fiktion bilden einen kontinuierlichen Problemzusammenhang, der sich schon in der Antike in den gegensätzlichen Auffassungen zur Dichtung von Platon und Aristoteles zeigt. Der antike Mimesisbegriff und der neuzeitliche Fiktionsbegriff, die historisch wichtigsten Kategorien zur Wesensbestimmung der Dichtung, dienen zur Bezeichnung des ästhetischen Weltbezugs der Dichtung und der „ontologischen Differenz zur historischen Faktizität“.3 Beide Kategorien bezeichnen keine Opposition in der Hinsicht, daß Mimesis Wirklichkeit imitiert oder sogar nur eine Modifizierung zur Darstellung von Wirklichkeit bildet und auf der anderen Seite die Fiktionalität als ein Kennzeichen der radikalen Eigenständigkeit von Dichtung in bewußter Abkehr von der empirischen Wirklichkeit gelten kann. Die Signifikanz des Problems liegt in der Frage nach dem Spielraum künstlerischer Gestaltung und nach den Grenzen künstlerischer Freiheit. Platons Kritik an der Kunst richtet sich gegen ihren angeblichen Täuschungscharakter. Da die Mimesis an der Welt der Erscheinungen, nicht aber an ihren Ideen orientiert bleibe, gilt die Dichtung für Platon nur 3 Harth; Gebhardt: Erkenntnis der Literatur, S. 27. 11 als bloßer Schein.4 Aristoteles verwendet zwar noch nicht den Begriff der Fiktion, liberalisiert aber den Gedanken der Mimesis, indem er auf das begrenzte Recht fiktionaler Konzepte der Dichter verweist. Weiterhin bleibt jedoch der Nachahmungsgrundsatz bestehen, und die Fiktion gilt lediglich als eine Transformation der Realität.5 Aristoteles schreibt im 9. Kapitel seiner Poetik, der Dichter operiere philosophischer als der Historiker, weil er mehr auf das Allgemeine und den Zusammenhang hinarbeite.6 Demzufolge komme dem Dichter eine höhere Kompetenz als dem Geschichtsschreiber zu, weil es seine Aufgabe sei, das Mögliche, was geschehen könnte, darzustellen. Die Idee einer Autonomie dichterischer Fiktion ist Aristoteles jedoch noch unbekannt. Die Norm der Wahrscheinlichkeit sowie die Faktizität als Orientierungspunkt bleiben in seinem Denken fest verankert. Er fordert, daß die dichterischen Wirklichkeiten mit der empirischen Lebenswirklichkeit vermittelt bleiben. Darum dürfe der Künstler das Allgemeine nur in Übereinstimmung mit der Wahrscheinlichkeit darstellen. Für Aristoteles existieren zwei positive Bedeutungen dichterischer Erfindungen, die beide im Zeichen der Rhetorik-Tradition stehen. Zum einen nennt er die häufig in der politischen Rede verwendete „Gleichniserzählung als narrative Entfaltung einer Wahrheit oder Moral“, die in der Tradition des „rhetorisch-poetischen Beweisverfahrens“ steht. Die andere Bedeutung der dichterischen Erfindung sieht Aristoteles in den Erdichtungen von Fabeln und Gleichnissen, deren Stoffe Historien und Mythologien entstammen. Hierbei werden die starren Mimesisbestimmungen des Wahrscheinlichen und Angemessenen gelockert und die „Dimension einer bedingten Wahrscheinlichkeit eingeführt“.7 Die Nachahmungspoetik hat im wesentlichen weiterhin ihren theoretischen Bezugspunkt bei den aristotelischen Prinzipien, wenn auch die Natur nun nicht mehr wie in der Antike als „Entelechie [...]“, sondern meist „teleologisch, d. h. als zweckmäßig und vollkommen erschaffene Natur“8 verstanden wird. Der Dichter hat sich an der vernunftgemäßen Gestaltung der Natur zu orientieren und unter diesem Gesichtspunkt eine nachvoll4 Platon: Der Staat. Zehntes Buch: „Die Nachahmungskunst ist also von der Wahrheit weit entfernt. Und wenn sie alles mögliche zustande bringt, so offenbar deshalb, weil sie nur ein wenig von jeglichem erfaßt, nämlich sein (äußeres) Bild.“ (S. 429); „Wir stellen also fest, daß von Homer an alle Dichter Nachahmer von Abbildern der menschlichen Tüchtigkeit sind und der anderen Dinge, von denen sie dichten, daß sie aber die Wahrheit nicht berühren.“ (S. 433) 5 Aristoteles: Die Poetik. Kap. 9: „Aus dem Gesagten ergibt sich auch, daß es nicht Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d. h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche.“ (S. 29) 6 Ebd. 7 Harth; Gebhardt: Erkenntnis der Literatur, S. 28. 12 ziehbare Fabel zu schreiben. In der Regelpoetik zeigt sich zunehmend die Tendenz, die Aufgabe der Dichtung in dem „Endzweck moralischer Belehrung“ zu betrachten.9 Auch noch in der Aufklärungspoetik wird die Legitimität der Fiktion an der moralischen Wahrheitsvermittlung durch das dichterische Bild gemessen. Erst in der Genieästhetik kommt es zu einer Aufwertung des Fiktionsbegriffs. Vor allem durch Gottfried Wilhelm Leibniz erhält die Vorstellung von der möglichen Existenz einer Vielzahl alternativer Welten Auftrieb, wodurch künstlerischen Fiktionen neue Spielräume eröffnet wurden. Während der Mimesisbegriff im realistisch-humanistischen Zweig der Literaturgeschichte und in realistisch geprägten Literaturtheorien wieder auflebte, fand der Fiktionsbegriff erst in der Literaturtheorie des 20. Jahrhunderts als Gegenstück zur traditionellen Kategorie der Mimesis wieder Beachtung. Roman Ingarden versucht, die Literatur als Fiktion aus phänomenologischer und ontologischer Sicht zu rechtfertigen, indem er einen Aussagesatz in einem literarischen Werk als Urteilssatz versteht, dessen dargestellter Sachverhalt nicht „rein intentional“, sondern „als ein in einer dem Urteil gegenüber seinsunabhängigen Seinssphäre verwurzelter Sachverhalt“ zu begreifen ist, der „tatsächlich besteht“.10 Gottfried Gabriel plädiert dagegen dafür, eine Unterscheidung nicht zwischen „reinen Aussagesätzen“ und „Behauptungssätzen“ vorzunehmen, sondern zwischen „Sprechhandlungen oder Sprechakten“ zu differenzieren.11 Heinrich Plett und Wolfgang Iser zufolge kann Fiktionalisierung nicht einseitig als eine Leistung des Autor-Subjekts begriffen werden, da der „kommunikative Kontext die Referentialität eines Textzeichens verändern kann“.12 Aleida Assmann beklagt in der Diskussion zur Fiktionstheorie, die zum größten Teil von der analytischen Sprachphilosophie, der linguistischen Pragmatik und der Kommunikationstheorie geprägt ist, die mangelnde Berücksichtigung der Historizität bezüglich der Erscheinungsformen literarischer Fiktion.13 Nach Ausführungen von Andreas Kablitz und Gerhard Neumann ist die Eigenschaft mimetischer Poetik, nämlich die „historisch betrachtet [...] fortschreitende Emanzipation poetischer Wirklichkeitsdarstellung von der Frage nach ihrem Verhältnis zu dieser Wirk- 8 Ebd. Ebd. 10 Ingarden: Das literarische Kunstwerk, S. 171. 11 Gabriel: Fiktion und Wahrheit, S.54. 12 Plett: Textwissenschaft und Textanalyse, S. 101. Vgl. auch Iser: Der Akt des Lesens. Vor allem Kap. IV: „Interaktion von Text und Leser“, S. 257-355. 13 Assmann: Die Legitimität der Fiktion, S. 12-13. 9 13 lichkeit“14 für die Beurteilung des Simulationsbegriffs, der im Blickfeld der sogenannten Postmoderne zu einer Parole der zeitgenössischen Wirklichkeitswahrnehmung wurde, von ausgesprochener Relevanz. Die Simulation hat in unserer Gegenwart beinahe schon den Status eines Kultbegriffs bekommen, der die gesamte derzeitige Gesellschaftssituation charakterisieren soll und alle Bereiche des Lebens tangiert. Kablitz und Neumann konstatieren, daß unserer Welt der Verlust von Wirklichkeit attestiert wird, an deren Stelle die „Maschinerie einer Produktion von Simulakren“ getreten ist, wodurch der Unterschied zwischen der wahren und der künstlichen Welt verschwindet.15 Rufe diese Erkenntnis bei den einen tiefe Bestürzung über den zunehmenden Mangel an Wirklichkeit hervor, so sehen die anderen die Entwicklung der Simulation als einen letzten Schritt zur Erhebung des Menschen über die Natur und zur Herstellung seiner eigenen Wirklichkeit an. Beide Positionen entspringen jedoch dem Horizont eines ontologischen Denkens, das die Mimesis begründet. Sie leiden unter dem Verdacht, daß Nachahmung eine bloße Kopie der Wirklichkeit und darum zweitrangig sei. Mimesis scheine minderwertig zu sein, wenn man sie mit origineller Schöpfung vergleicht. Simulation bedeute für die einen eine Perfektionierung der Mimesis, indem sie Bilder einer Welt kreiert, die sie selbst entwickelt hat. Diese Herstellung einer neuen Welt kann der Simulation aber nur gelingen, indem sie die Differenz zwischen Original und Abbild egalisiert. Für die anderen repräsentiere sie einfach die letzte Überwindung romantischer Ästhetik und den endgültigen Triumph über die Wirklichkeit. Neumann und Kablitz bewerten den gegenwärtigen Stellenwert der Simulation folgendermaßen: Der dramatische Gestus der Gegenwartsanalyse bezieht seinen Impetus bezeichnenderweise also aus einem Denken, dessen Zuständigkeit zum anderen gerade in Frage gestellt wird. So bestimmt sich das auch derzeit vieldiskutierte Konzept der Simulation zu wesentlichen Teilen noch immer aus den Differenzen gegenüber jener Kategorie der Mimesis, die dieses tradierte Denken repräsentiert.16 Die enge Relation zwischen Mimesis und Simulation zeige sich vor allem, wenn man nach dem historischen Profil der Mimesiskategorie selbst fragt. Dann läßt sich nämlich feststellen, daß sich gerade die Aristotelische Poetik nicht auf die ontologischen Regularien zwischen der Wirklichkeit und ihren Abbildern beschränkt, sondern gerade die überlegene Art 14 Kablitz; Neumann: Mimesis und Simulation, S. 12. Ebd., S. 13. 16 Ebd. 15 14 der Darstellung in der Dichtung, die eben nicht nur den Realitätsgehalt thematisiert, gegenüber der Geschichtsschreibung betont. Die Wirkung der Mimesis beruht laut Aristoteles auf einer im Menschen verankerten Antriebskraft, nachgeahmte Handlungen mitzuspielen und sich mit ihnen zu identifizieren, d. h. die Mimesis realisiert sich erst im Wirklichkeit. Nur durch die Kombination mit imaginativen Mitteln der Sprache wird das Vergnügen an der poetischen Darstellung erzeugt. Unter diesem Blickwinkel büßt der Terminus der Simulation etwas von seiner schillernden Aura ein, da nicht nur die Simulation, sondern bereits die Mimesis von einem komplizierten Verhältnis von Wahrheit und Zeichen ausgeht. 3. Fiktionalität 3.1. Fiktionalität als Begriff der allgemeinen Ästhetik Die Definition der Fiktion im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft bezieht sich bezeichnenderweise nicht auf die Literatur im engeren Sinne: Auszugehen ist von dem traditionellen Gegensatz von Fiktion und Wirklichkeit (bzw. Wahrheit), von (ästhetischem) Schein und (außerästhetischem) ’Sein‘. Die Explikation hat also zunächst negativ zu bestimmen, was Fiktion fehlt, um der ’Wirklichkeit‘ oder ’der Wahrheit‘ gerecht zu werden. [...] Sofern fiktionale Rede keine Ansprüche erhebt, Referenz (Denotation) zu haben, wahr bzw. affirmativ zu sein, ist ihr Sprecher von der Erfüllung entsprechender Kommunikations-Bedingungen freigestellt.17 Wie diese Definition bereits andeutet, finden wir Theorien, die sich explizit und grundlegend mit der Thematik um das Begriffsfeld der Fiktion auseinandersetzen, in erster Linie auf dem Gebiet der Philosophie und nur marginal im Bereich der Literaturtheorien. Im Zusammenhang mit der Fiktionalität spricht der amerikanische Sprachphilosoph J. R. Searle von Scheinbehauptungen, d. h. der Autor gibt lediglich vor, illokutionäre Akte zu vollziehen. Der Autor äußert demnach Behauptungssätze ohne Vollzug des Sprechaktes der Behauptung. Aus diesem Ergebnis schlußfolgert Searle, daß der fiktionale Text eine Erzählung ohne Wahrheitsanspruch ist.18 17 18 Gabriel: Fiktion. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, S. 594-595. Searle: Ausdruck und Bedeutung, S. 87-90. 15 Eine andere Art der Beschreibung von Fiktion – nämlich aus philosophischer Sicht – liefert Jürgen H. Petersen. Er spricht die Dichtung von jedem Schein frei, weil sie nicht vorgibt, Wirkliches als Wirkliches zu behaupten oder Wirklichkeitsaussagen nachzuahmen. Stattdessen liege einfach ein bestimmter Sprachstatus vor, der vom Rezipienten sofort als solcher erkannt und demzufolge als Fiktion anerkannt wird. Laut Petersen sind die Wirklichkeitsaussagen durch den Anspruch auf Richtigkeit gekennzeichnet, während die poetischen Aussagen das Moment der Unmittelbarkeit implizieren. Die Wahrheit der poetischen Aussagen schließe real Unmögliches ein bzw. übersteige es noch und präsentiere es als poetisch seiend, als (poetisch und unmittelbar) wahr. Die Fiktion sei außerdem kein konstitutives Element von Fiktionalaussagen und könne demzufolge nicht als Kriterium zur Abgrenzung von diesen gegenüber Realaussagen dienen. Petersen geht von einem doppelten Sprachbewußtsein aus, dem Fiktionalbewußtsein und dem Realbewußtsein, welches uns in die Lage versetzt, die gleiche Aussage situationsabhängig als real bzw. fiktional einzustufen. Die Wirklichkeitsaussage bedeutet: „Das Ausgesagte ist wirklich und wirklich so, wie es gesagt wird“. Im Gegensatz dazu meint die Fiktionalaussage: „Das Ausgesagte ist“.19 Mit dem Einsatz des „Imaginären“ versucht Wolfgang Iser in seinem Entwurf einer literarischen Anthropologie zum Fiktiven und Imaginären, eine Verbindung zwischen Realem und Fiktivem herzustellen, worauf im weiteren Verlauf dieser theoretischen Explikationen noch ausführlicher einzugehen sein wird. Jürgen H. Petersen vermeidet bei der Bestimmung der Fiktionalität innerhalb der Literatur die Unterscheidung zwischen Prosarede und Wortkunst. Wortkunst meint hier die reine Imagination, die im Gegensatz zur Fiktion wirklich das Charakteristikum der Nichtreferentialität besitzt; zu den nur auf Vorstellung beruhenden literarischen Texte zählen z. B. Märchen und Legenden.20 Die Imagination beansprucht nicht die Merkmale fiktionalen Sprechens, wozu Petersen die reine Temporalität und reine Lokalität sowie das unmittelbare Sein und die unmittelbare Wahrheit rechnet. Auch Träume, wie sie beispielsweise Hans Castorp im Schneekapitel des Zauberbergs erlebt, gehören zu dieser Art von Fiktion. Gerade in Thomas-Mann-Texten sind häufig solche Imaginationen, wie z. B. Aschenbachs rauschhafter Traum in Venedig und Adrian Leverkühns Zwiegespräch mit Mephisto zu finden. 19 20 Petersen: Fiktionalität und Ästhetik, S. 35. Grübel; Grüttemeier; Lethen: Orientierung Literaturwissenschaft, S. 62. 16 Für Aleida Assmann, die die Fiktionalität aus kommunikationstheoretischer Sicht betrachtet, stellt die Fiktion ein System der Realität dar, wobei sie zwischen zwei Modellierungsebenen differenziert. Dem primären Modell, der verbalen Realität, weist sie einen kollektiven und impliziten Charakter zu, da es „Gemeinbesitz einer Kulturgemeinschaft in einer bestimmten historischen Epoche“ ist und dieser Gemeinbesitz eine „internalisierte und unbewußte“ Ausprägung besitzt.21 Das sekundäre Modell, die Fiktion, ist zum einen individuell, indem es „von einem bewußten und persönlichen Geist geschaffen wurde“, und es ist explizit, da „es das unbewußte Weltbild in einem Meta-Diskurs verarbeitet“. Durch diese erklärenden Eigenschaften kann das sekundäre Modell auf das primäre Modell Einfluß nehmen, „sei es bestätigend oder verfremdend, reflexiv oder verändernd“.22 In den beiden Sichtweisen von Fiktion offenbaren sich sowohl bei Petersen als auch bei Assmann gravierende Differenzen zwischen Fiktion und Simulation in der Hinsicht, daß in der Fiktion kein Element der Täuschung vorhanden ist, sondern nur ein bestimmter Redestatus vorliegt, dem keine Täuschungsabsicht zugrunde liegt. 3.2 Fiktionalität in der Literaturtheorie Es stellt sich jetzt die Frage, wie die Kategorie Fiktion von verschiedensten Literaturtheoretikern in ihr Konzept eingearbeitet wird. Im Unterschied zu hermeneutisch orientierten Literaturtheorien begreifen die Vertreter des Strukturalismus und Poststrukturalismus nicht nur die Handlung literarischer Werke als Fiktion, sondern auch die darin enthaltenen Themen, Ideen, Überzeugungen, d. h. die sogenannten ’Botschaften‘ des Autors. Der russische Formalist Roman Jakobson zieht keine strenge Trennungslinie zwischen Literatur und Nicht-Literatur, sondern zwischen der poetischen und anderen Funktionen der Sprache. Die poetische Funktion lasse sich dadurch charakterisieren, daß das „Prinzip der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination“23 übertragen werde, z. B. durch Wiederholungen von bestimmten Motiven und Strukturelementen. Er plädiert für die „Autonomie der ästhetischen Funktion“ und verwirft den „Separatismus der 21 Assmann: Die Legitimität der Fiktion, S. 16. Ebd., S. 17. 23 Jakobson: Poetik, S. 94. 22 17 Kunst“.24 Jakobson spricht von der „Poetizität“ eines Textes, wenn „das Wort als Wort und nicht als bloßer Repräsentant von Gegenständen oder als Gefühlsausbruch“ verstanden wird, da sonst die kognitive bzw. emotive Funktion des Wortes im Vordergrund stehen würde. Wörter und ihre Bestandteile, ihre Bedeutung sowie ihre äußere und innere Form seien nicht nur ein „indifferenter Hinweis auf die Wirklichkeit“, sondern erreichten ein „eigenes Gewicht“ und einen „selbständigen Wert“.25 Die poetische Funktion richte ihre Aufmerksamkeit eher auf die Materialität der Zeichen als auf die Kommunikation, woraus die Unabhängigkeit des Zeichens als eigenständiges Wertobjekt resultiere. Explizit ausgedrückt heißt das, die Worte selbst stehen im Blickfeld unserer Aufmerksamkeit und nicht, was in welcher Situation von wem und zu welchem Zweck gesagt wird. Diese Auffassung hängt mit dem Einfluß Ferdinand de Saussures zusammen, der komplexe Bedeutungssysteme in Abhängigkeit von der Anerkennung bestimmter Regeln betrachtet, die ihre Rechtfertigung von den Bedürfnissen eines Systems und weniger von einem direkten oder motivierten Bezug zu einer außersystemischen Realität ableiten.26 Das bedeutet in diesem Fall, daß die Strukturalisten das Zeichenmodell von de Saussure mit der der Arbitrarität unterworfenen Relation zwischen Zeichen und Material auf die Literatur anwenden. Einigen französischen Strukturalisten, wie z. B. Roland Barthes, ist dieses Modell jedoch zu einfach, und sie sehen deshalb das ’Material‘ außerhalb der Realität und verstehen es als Komplex von Vorstellungen, der sich auf die Gedankenwelt bezieht. Die arbiträre Verbindung zwischen Signifikant und Signifikat führt zum erweiterten Fiktionsbegriff in der Hinsicht, daß die aus dieser Arbitrarität entstehenden Bedeutungen in literarischen Texten als Fiktion bezeichnet werden können, als Fiktion deshalb, weil das Zeichenmodell kein festes Gebilde darstellt, sondern die Vorstellung, die durch das Lautbild provoziert wird, immer wieder aktualisiert wird. Da in de Saussures Zeichenmodell das Objekt bzw. der Bezug zur außersprachlichen Realität fehlt, nutzen viele Literaturtheoretiker diese Tatsache, indem sie in literarischen Werken eine eigene Zeichenwelt erkennen, deren Bedeutungen losgelöst von der Außenwelt, also auch vom Autor, bestehen. Durch Julia Kristeva wird der erweiterte Fiktionsbegriff untermauert, weil sie noch einen Schritt weitergeht und den Zeichen erst in Kombination miteinander ihre Bedeutung 24 Ebd., S. 67. Ebd., S. 79 26 Vgl. de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft: „Das Wort ’beliebig‘ [...] soll besagen, daß es u n mo tiv ie r t ist, d. h. beliebig im Verhältnis zum Bezeichneten, mit welchem es in Wirklichkeit keinerlei natürliche Zusammengehörigkeit hat.“ (S. 80) 25 18 zuweist („Il est COMBINATOIRE et en cela CORRÉLATIF: son sens résulte de la combinatoire à laquelle il participe avec les autres signes“.),27 wodurch der literarische Text sozusagen einer doppelten Fiktionalität unterliegt. Wenn die Zeichen durch Abhängigkeit voneinander ihre Bedeutung erlangen, dann besitzt dementsprechend auch der üblicherweise nicht-fiktionale Text, der auf die Realität verweist, Merkmale von Fiktionalität. Bei der Kombination der Zeichen untereinander hat die Wirklichkeit keinen Einfluß, und somit entsteht auch in nicht-fiktionalen Texten eine Art von Fiktion. Bei Jacques Derrida, dem führenden Vertreter des Dekonstruktivismus, finden wir die radikalste Ausprägung des Fiktionsbegriffs. Derrida leugnet die Existenz eines „TextÄußeren“ und eines „transzendentalen Signifikats“, und somit konzentriert sich sein Erkenntnisinteresse auf die Geschlossenheit der Texte.28 Alle anderen strukturalistischen Richtungen, mit Ausnahme des ontologischen Strukturalismus, bleiben einem Realitätsmodell verhaftet, das nicht durch eine völlige Beziehungslosigkeit zur objektiven Realität gekennzeichnet ist. Erst Derrida erklärt die Realitätsmodelle zu willkürlichen Fiktionen und widerspricht damit auch de Saussure, dessen Vorstellung von der Arbitrarität des Zeichens nie die Vorstellung einer fundamentalen Beziehungslosigkeit des Signifikanten zum „transzendentalen Signifikat“ beinhaltete. Die Schlüsselkonzepte Derridas, „Schrift“ und „Differenz“, wenden sich gegen die Illusion einer unmittelbar gegebenen und in Sprache vergegenwärtigten Wirklichkeit, gegen die Illusion der Identität zwischen Signifikant und Signifikat und des Subjekts mit sich selbst. Die Negierung einer extratextuellen Referenz und damit das Ende der mimetischen Relationen zwischen Texten und einer objektiven Realität, an deren Stelle ein fiktionales Weltmodell tritt, führt zu einer Loslösung von Zwangsstrukturen eines vereindeutigenden Systemdenkens und somit zur „Rückkehr zum diffusen und vieldimensionierten Denken“,29 welches insofern als arbiträr gelten kann, als es sich nicht von objektiven Sinnzusammenhängen oder Wirklichkeitsmodellen überprüfen läßt, sondern diese als Fiktionen zu enthüllen sucht. Die Abkehr von der Realität führt in der Konsequenz dazu, daß Zeichen eines Textes immer nur auf andere Zeichen verweisen. Der Dekonstruktivismus kulminiert in einem vieldimensionalen Denken, das sich keinem Wahrheitsbegriff verschreibt und dessen Parole die ’Offenheit‘ ist. Wenn in Zeichen 27 Kristeva: Le texte du roman, S. 35. Derrida: Grammatologie, S. 85; 274. 29 Ebd., S. 154. 28 19 und Texten immer Spuren von anderen Texten und Zeichen gegenwärtig sind, dann bedeutet dies, daß der dekonstruktive Interpretationsprozeß immer gleichzeitig Bilder und ihre Gegenbilder aufdeckt. Der Fiktionsbegriff erreicht bei Derrida den Status einer eigenen Realität, der die Verortung des Phänomens der Simulation im literarischen Text überflüssig macht. Derrida verwendet die Figur des Spiels, um de Saussures Denken der Differenz zwischen Signifikant und Signifikat als „Entgrenzung des Spiels“30 weiterzuführen. „Die Abwesenheit eines transzendentalen Signifikats erweitert das Feld und das Spiel des Bezeichnens ins Unendliche.“31 Wolfgang Iser gründet als Vetreter der Rezeptionsästhetik seinen Begriff des Spiels ebenfalls auf die Differenz. Auch Iser schreibt dem literarischen Text keinen unmittelbaren Bezug zur Wirklichkeit zu, sondern bezeichnet das Reale als „Vielfalt der Diskurse“.32 Das Spiel entsteht bei Iser durch das Ineinanderwirken von Realem und Imaginärem, wobei das Fiktive als Schnittstelle fungiert. Die Fiktion ist nicht der Gegenbegriff zur Realität, sondern läßt sich nur durch Relationen begreifen. Wichtige Hinweise der poststrukturalistischen Betrachtungsweise zum Begriff der Fiktion finden wir bei dem Dekonstruktivisten Paul de Man. Seine Auffassung von Fiktionalität in Verbindung mit Poetizität hat de Man besonders am Beispiel der Autobiographie untersucht. Er begreift die Fiktion nicht als Redestatus, sondern bestimmt stattdessen das „figurative“ Sprechen als Spezifikum der Poesie. Auf der rhetorischen und figurativen Ebene der Texte versucht er, durch sein dekonstruktivistisches Verfahren Bedeutungsnuancen aufzuzeigen. Dichtung unterscheidet sich seiner Meinung nach von der Sprache des Alltags nur durch die rhetorische und figurative Sprache.33 Er betont das autonome Potential der Sprache und ihre Eigendynamik in der literarischen Rede als die wichtigsten Kennzeichen der Literarizität. Als stilbildenes Merkmal poetischer Ausdrucksweise hebt er die Verwendung von Worten in übertragener und uneigentlicher Bedeutung hervor. Außerdem verunsichere Literarizität das Bemühen der Leser auf der Suche nach dem Subjekt und seinem Sinn hinter dem Text, wodurch Folgen für den Status und die Interpretation der Autobiographie entstehen. De Man überlegt, ob wir wirklich mit Gewißheit davon ausgehen können, daß das Leben die Autobiographie beeinflußt und nicht umgekehrt. Er zwei- 30 Pross; Wildgruber: Dekonstruktion. In: Arnold; Detering: Grundzüge der Literaturwissenschaft, S. 417. Derrida: Die Schrift und die Differenz, S. 424. 32 Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 20. 33 de Man: Allegorien des Lesens, S. 40. 31 20 felt an der bedingungslosen mimetischen Bezogenheit der autobiographischen Redefigur auf das Referenzobjekt, da die mimetische Relation nur eine mögliche „Art der Figuration unter anderen“34 sei. Zugleich müsse man die Autobiographie als eine „Lese- oder Verstehensfigur“ begreifen, die allen Texten inhärent ist und damit die Illusion widerlegt, das Referenzobjekt könne strikt von der Fiktion abgegrenzt sein. De Man wirft die Frage auf, ob das autobiographische Schreiben wirklich „von der Referenz auf dieselbe Weise abhängt wie ein Photograph von seinem Objekt oder ein (realistisches) Gemälde von seinem Modell“.35 Daraus schlußfolgert er, daß „die Unterscheidung zwischen Fiktion und Autobiographie also keine Frage des Entweder-Oder zu sein scheint, sondern unentscheidbar“ ist.36 Das Problem der Autobiographie ist bei ihm in der rhetorischen Struktur der Sprache selbst involviert. 4. Simulation Der Begriff der Simulation ruft eine Vielzahl von Assoziationen hervor und führt in eine Konfusion, die sich in literatur- und kulturtheoretischen Nachschlagewerken widerspiegelt. Es existieren weder eine exakte Definition noch eine klare Unterscheidung zwischen den diversen Bedeutungsmöglichkeiten der Simulation, da der Begriff aufgrund der rasanten technologischen Entwicklung, besonders im Bereich der Kommunikationsmedien, einem steten Wandel unterliegt. Die Differenzierung zwischen folgenden Sichtweisen zum Komplex der Simulation erachte ich für sinnvoll: 1. Simulation als rhetorische Kategorie im semantischen Feld der Ironie 2. Simulation als Teil von Modellierungsprozessen, wie z. B. die Computersimulation von technischen Systemen 3. Simulakrum als Produkt der strukturalistischen Tätigkeit 4. Simulation als Hyperrealität zur Kennzeichnung der postmodernen Gesellschaft 5. Simulakrum als anthropologische Konstruktion zur Erfüllung des Fiktionsbedürfnisses des Menschen 34 de Man: Autobiographie als Maskenspiel. In: Die Ideologie des Ästhetischen, S. 133. Ebd., S. 132. 36 Ebd., S. 133. 35 21 Ich möchte versuchen, einen kurzen Überblick über dieses diffuse Gefüge zum Begriff der Simulation zu geben sowie Möglichkeiten seiner Verankerung in der Literaturwissenschaft aufzeigen. 4.1 Die Simulation als rhetorische Figur im Verhältnis zur Ironie Beim Versuch, die Simulation eindeutig zu bestimmen, stößt man unweigerlich auf den Begriff der Ironie, der seinen Ursprung in der Antike hat und deshalb auch aus diesem antiken Verständnis heraus erklärt werden kann. Der Tropus Ironie meint das Gegenteil von dem, was man ausdrücken will, d. h. das gesetzte Wort steht in einer Gegenteil-Beziehung zum ersetzten. Die Bedeutung eines Wortes wird auf ein konträres Wort übertragen, wodurch man bei der Ironie häufig von einem Sonderfall der Metapher spricht. Diese allgemein übliche Definition der Ironie vernachlässigt jedoch ihren rhetorischen Ursprung, der eng mit dem Begriffspaar SimulationDissimulation verknüpft ist. Die Gedankenfigur Ironie unterteilt sich in dissimulatio und simulatio. Beim Gebrauch der dissimulatio gibt der Redner das Nicht-Verständnis einer fremden Äußerung vor und verheimlicht dabei sein Wissen. Dabei liegt eine passive Form der Ironie vor, die den Gesprächspartner verführen soll, sich durch weitere Worte bloßzustellen. Der Gebrauch der simulatio hat die Intention, eine Meinungsübereinstimmung mit dem Gegenüber vorzutäuschen: „Der Simulation eignet also der Charakter des Mimetisch-Schauspielerischen: Die Maske des Gegenüber dient dazu, die eigene Intention vorzutragen und durchzusetzen.“37 Durch Amplifikation kann sie zur Unglaubwürdigkeit von Personen und Sachen führen. Die Dissimulation und Simulation lassen sich wiederum nach Heinrich Lausberg in die „rhetorische“ sowie die „handlungs-taktische“ Ironie untergliedern.38 Die Absicht der rhetorischen Ironie ist es, dem Gegenüber einen gegensätzlichen Sinn verstehen zu geben. Bei der handlungs-taktischen Ironie auf der anderen Seite dienen Simulation und Dissimulation als Waffen der Täuschung, um die Endgültigkeit des Mißverständnisses zu untermauern. Diese Art der Ironie tritt sowohl als versprachlichte Habitualisierung, wie z. B. Höflich- 37 38 Plett: Einführung in die rhetorische Textanalyse, S. 94. Lausberg: Elemente der literarischen Rhetorik, S. 141-142. 22 keitsformen in der Gesellschaft, als auch in ernsthaften Situationen in der literarischen Mimesis, besonders im Drama, auf. Von der Antike bis zur Moderne sind Simulation und Dissimulation immer im Zusammenhang betrachtet worden, da sie sich als positiver und negativer Akt komplementär zueinander verhalten. Parodoxerweise sind die beiden Phänomene nur aufgrund dieser Tatsache eindeutig voneinander zu trennen: Beim negativen Akt der Dissimulation wird etwas Wahres verborgen (So-tun-als-ob-nicht), dagegen täuscht der Simulant etwas Falsches vor (So-tun-als-ob). Zusätzlich wird verschiedentlich versucht, zwischen den Stärkegraden der Figuren zu differenzieren. Wolfgang G. Müller konstatiert, [...] daß die simulatio, z. B. bei den Verstellungskünstlern auf der Bühne, vielfach spektakulärer hervortritt als die dissimulatio und daß der Fiktionalisierungsgrad der Verstellung in der simulatio in der Regel höher ist als in der dissimulatio. 39 Trotzdem behauptet Müller die Gleichrangigkeit von Dissimulation und Simulation, da sie in der gesamten Geschichte der Rhetorik von der Antike bis zum 18. Jahrhundert bei der Redekunst als angewandte Strategien des Verbergens eine wesentliche Rolle spielten. Vor allem in der höfischen Kultur der Renaissance, als der Höfling sein ganzes gesellschaftliches Verhalten zu einem Kunstwerk stilisierte, war es für ihn nicht nur wichtig, ein Verstellungskünstler zu sein, sondern er mußte auch wiederum die Taktik der Dissimulation anwenden, um zu vermeiden, als Simulant enttarnt zu werden und den Schein der Natürlichkeit zu wahren. Im Zusammenhang mit den verschiedenen Bedeutungszuweisungen der Ironie ist es nötig, die griechische Auffassung der Ironie streng von der römischen zu trennen. Im antiken Griechenland besaß die Ironie ursprünglich einen negativen Beigeschmack, indem sie Verstellung bedeutete. In der griechischen Komödie unterschied man den Eiron (Kleintuer) und den Alazon (Großtuer). Der Eiron, den man als Dissimulant bezeichnen könnte, verleugnet seine wahre Meinung und seinen wahren Charakter. Im Gegensatz dazu will der Alazon als Simulant mehr scheinen, als er ist. In Rom wurde die Ironie nicht negativ betrachtet, sondern sie bezog sich auf die Redetechnik und meinte lediglich das Gegenteil des 39 Müller: Ironie, Lüge, Simulation, Dissimulation und verwandte rhetorische Termini. In: Zur Terminologie der Literaturwissenschaft, S. 196. 23 Gesagten. Seit dem Mittelalter wird die Ironie selten mit den Termini Simulation und Dissimulation in Verbindung gebracht.40 Simulation und Dissimulation können nur dann als ironisch bezeichnet werden, wenn sie für die Leser oder Hörer als Täuschung durchsichtig sind. Anders ausgedrückt könnte man auch sagen, sie gehören in das Gebiet der Ironie oder Lüge, je nachdem, ob Ironiesignale vorhanden sind oder nicht. Es gibt jedoch auch eine Reihe weiterer Figuren mit simulatorischem oder dissimulatorischem Charakter. Dazu zählt zum Beispiel die Affektsimulation, die sich nicht auf echte, sondern auf vorgetäuschte und simulierte Gefühle gründet, d. h. im Prozeß der Gefühlssimulation findet ein Übergang vom vorgetäuschten zum tatsächlich empfundenen Gefühl statt. Deutlich in das Gebiet der rhetorischen Simulation gehört die Mimesis. Die Nachahmung von bestimmten Redeweisen einer Person trägt einen persiflierenden und ironischen Charakter. Eine Sonderform der Mimesis ist die sermocinatio, die reale oder erfundene Personen durch fiktive Rede charakterisiert und damit simulatorisch wirkt.41 4.2 Roland Barthes’ Begriff des Simulakrums im Verhältnis zur Simulation von technischen Systemen In den letzten Jahrzehnten ist der Simulationsbegriff vor allem durch die Computerwissenschaften zu einer viel erörterten Kategorie aufgestiegen und hat in einem Synergieprozeß auch Eingang in die Literaturwissenschaft, so auch in die Thomas-Mann-Forschung, gefunden. Bernhard J. Dotzler hat mit seiner Untersuchung Der Hochstapler zur Simulation in Thomas Manns Roman Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull diesen Weg geebnet. Als erstes gab es jedoch im französischen Strukturalismus, nämlich im Werk von Roland Barthes, einen Adaptationsversuch des Simulationsbegriffs. Von ihm wird die Simulation ähnlich wie in der Kybernetik42 als ein Prozeß der Modellierung verstanden, bei 40 Ebd., S. 200. Ebd., vgl. S. 202-204. 42 Ich spreche hier von der Kybernetik, da in der kybernetischen Forschung das Modell ein wichtiges Hilfsmittel zur Untersuchung dynamischer Systeme bildet, um ihre Funktionen, Strukturen und Verhaltensweisen zu analysieren. Roland Barthes bezieht sich in seinem Aufsatz „Die strukturalistische Tätigkeit“ auf diese neuen Entwicklungen im Bereich der Informationswissenschaften. 41 24 dem der Text einer experimentellen Veränderung unterworfen wird, so daß etwas ganz Neues entsteht. Allein die Handlung des Strukturierens „[...] bringt, laut Barthes, etwas zum Vorschein, was im natürlichen Objekt unsichtbar oder, wenn man lieber will, unverständlich blieb“.43 Barthes schildert die strukturalistische Tätigkeit als Rekonstruktion und Arrangement eines Objektes, so daß offensichtlich wird, nach welchen Regeln es funktioniert. Der „strukturale Mensch“ zerlegt das gegebene Objekt und setzt es wieder zusammen, so daß eine Struktur entsteht, die das Simulakrum dieses Objektes darstellt, so Barthes. Zwischen diesen beiden Gegenständen, dem Text und der strukturalistischen Tätigkeit, bilde sich etwas „Neues [...], das Simulacrum, [...] der dem Objekt zugefügte Intellekt“. Barthes beschreibt den Strukturalismus als Tätigkeit der Nachahmung, wobei er keine Differenzierung zwischen Strukturalismus und Kunst vornimmt. Beide unterstehen einer Mimesis, die auf einer Analogie von Funktionen beruhe.44 Der französische Neomarxist Henri Lefèbvre greift diese Aussagen auf, in der Hoffnung, eine Möglichkeit gefunden zu haben, einer philosophischen Theorie vollständig entsagen zu können und an deren Stelle die „Praxis“ zu setzen. Der Automat könne den Menschen aus seinem objektiven Abhängigkeitsverhältnis befreien und „die Trennung von Objekt und Subjekt, von Erkennen und Sein, von Vorstellung und Wirklichkeit“45 aufheben. Er begreift Simulation und Simulakrum als Kennzeichen eines historischen Zustands der Philosophie, in dem die Kategorie der ’Wahrheit‘ sich in der Analogie eines Objekts und seiner Simulation auflöst: Dabei muß betont werden, daß das Simulacrum selbst ein Objekt ist, Produkt eines »positiven und imaginativen Aktes« (A. Moles). In diesem Sinne übersteigt es die Begriffe von Analogie und Ähnlichkeit, wenn es sie auch voraussetzt und enthält. [...] Das Erscheinen wird Erscheinung des Bestehenden (Wirklichen), ohne im klassischen Sinne Schein zu sein, Trugbild eines vom Objekt abtrennbaren illusorischen Phänomens. Die Erscheinung ist effektiv vollzogene Simulierung, und sie kommt dem »Objekt«, dem substanziell existierenden, immer näher. Das Wahre und das Falsche werden durch das Mögliche und das Unmögliche (das Wahrscheinliche und das Unwahrscheinliche) ersetzt. Dabei gibt sich das Mögliche nicht als ein dritter »Wert« zwischen Wahrem und Falschem oder jenseits davon. [...] Mit der Konstruktion von Simulacren und Automaten, mit der »theoretischen Verwirklichung« annuliert wissenschaftliche Erkenntnis die philosophische Erkenntnistheorie, indem sie sie überflüssig macht. Sie etabliert sich in einem Bereich, den zu definieren sie selbst ihren Teil beiträgt: in der Mimesis. 46 43 Barthes: Die strukturalistische Tätigkeit. In: Schiwy: Der französische Strukturalismus, S. 154. Ebd. 45 Lefèbvre: Metaphilosophie, S. 217. 46 Ebd., S. 216-217. 44 25 Jean Baudrillard schwingt sich daran anschließend zu einer Generalisierung dieses Problems auf, wenn er von der Auflösung der Dichotomie zwischen Realität und Irrealität spricht und die künstliche Zeichenwelt, das Simulakrum, proklamiert. Die Schwierigkeit, das kybernetische Simulationsprinzip auf die literarische Textanalyse zu übertragen, so wie es Barthes versucht, besteht darin, daß es in der Literaturwissenschaft in erster Linie um die Rekonstruktion von Entstehung, Struktur und Handlungszusammenhängen innerhalb des Textes geht, der Text aber nicht, wie in den Computerwissenschaften, z. B. einen Parameter für die Modellierung künftiger Prozesse bildet oder als Experimentierfeld dient, so daß ein ganz neues System bzw. ein Modell mit neuen Parametern entstehen kann. Sowohl bei Barthes’ strukturalistischer Tätigkeit als auch bei technischen Simulationen geht es um die Aufdeckung von neuen Funktionsmechanismen. Beide Verfahren bleiben aufgrund ihres Nachahmungscharakters noch in der Mimesis verankert. Die gravierende Differenz zwischen beiden Methoden wird jedoch in ihren Ergebnissen sichtbar. Das Simulakrum einer Computersimulation dient dazu, zu testen, ob ein bestimmter technischer Prozeß in der Realität funktionieren bzw. wie er einschließlich der Erarbeitung neuer Parameter funktionieren würde. Das Simulakrum der strukturalistischen Tätigkeit bleibt dagegen unmittelbar auf den Text bezogen, behält also vollständig seinen mimetischen Charakter. Hendrik Birus schließt jedoch nicht aus, [...] daß man werkinterne Sachverhalte – wie etwa die Handlungsführung, Wechsel der Figurenkonstellation oder systematische Verschiebungen der Erzählsituation – mittels dynamischer Modelle darzustellen oder auch das literarische Werk selbst als ein Simulationsgeschehen aufzufassen sucht. Doch mehr als eine allgemeine Orientierung und punktuelle Anregungen wird man hierfür von der aktuellen Diskussion des kybernetischen Simulationsbegriffs in den verschiedensten Disziplinen – von der Festkörperphysik und der Neurophysiologie bis zur Nationalökonomie und Stadtplanung – schwerlich erwarten können.47 Trotzdem brauche man in der Literaturwissenschaft nicht ganz auf den Simulationsbegriff zu verzichten, allerdings nicht auf dem Weg der Generalisierung der Simulation, wie es der Poststrukturalist Baudrillard versucht. Er geht mit seiner hypothetischen Definition der Simulation so weit, daß er sagt, in der „Hyperrealität“ der modernen Konsumgesellschaft verschmelzen die traditionellen Oppositionen von Ursache und Wirkung, Ursprung und 26 Ziel, Realität und Fiktion sowie Wahrem und Falschem.48 Durch diese Generalisierung und die damit einhergehende Übertragung der Simulation auf die gesamtgesellschaftliche Situation, nimmt Baudrillard eine Bedeutungsverengung dieses Gedankens vor, was unweigerlich zu einer Unschärfe in der Begriffsbestimmung der Simulation führt. Bei einer näheren Betrachtung des reinen kybernetischen Simulationsbegriffs läßt sich eine Komplexität konstatieren, die weit über die Bedeutung der Vortäuschung und Inszenierung hinausgeht: Simulation is the process of designing a model of a real or imagined system and conducting experiments with this model to understand the behavior of the system or to evaluate strategies for its operation. Assumptions are made about this system and mathematical algorithms [...] and relationships are derived to describe these assumptions – this constitutes a »model« that can reveal how the system works. 49 Roger D. Smith spricht hier von einem experimentellen Charakter, der der Computersimulation eigen ist. Die Schwierigkeit der Anwendung der Simulation auf die Literatur besteht darin, daß mit dem Computer sowohl etwas Fiktives als auch etwas Reales simuliert werden kann. Es können also Modelle von real existierenden Dingen entworfen werden, die lediglich das Ziel einer vereinfachten Darstellung und eines besseren Verstehens haben. Diesen Prozeß könnte man demzufolge als simulierte Mimesis bezeichnen, die Hendrik Birus auch bei Thomas Manns Joseph-Romanen entdeckt hat. Bei dieser Art der Entwicklung eines Modells tritt vordergründig das Element der Nachahmung hervor, während die Simulation ausgeblendet wird. Erstellt man mit Hilfe des Computers jedoch ein Modell von etwas Imaginärem, rückt die Simulation an die primäre Position, während die Mimesis lediglich verdeckt wird. Wenn Aleida Assmann der Fiktion einen Modellcharakter zuschreibt und dabei zwei Ebenen der Modellierung unterscheidet, dann entspricht die literarische Fiktion der zweiten Art der Computersimulation, wobei die Mimesis zwar in den Hintergrund rückt, aber trotzdem präsent bleibt. Mit Assmanns Termini gesprochen bedeutet das, daß sich die Fiktion auf der sekundären Ebene der Modellierung auf die „verbale Realität“, nicht aber unmittelbar auf die Realiät als „unbewußter Allgemeinbesitz“ bezieht. In der Literatur würde dementsprechend keine direkte Verbindung zwischen Fiktion und 47 Birus: Thomas Manns Joseph und seine Brüder als simulierte Mimesis. In: Kablitz; Neumann: Mimesis und Simulation, S. 93. 48 „Die Irrealität ist nicht mehr die eines Traums oder Phantasmas, eines Diesseits oder Jenseits, es ist die Irrealität einer halluzinierenden Ähnlichkeit des Reden mit sich selbst.“ (Baudrillard: Der symbolische Tausch mit dem Tod, S. 114) 27 Simulation bestehen, sondern die Mimesis bleibt immer als Zwischenstation bzw. Schaltstelle vorhanden. Daraus müssen nun die Konsequenzen für die Anwendung des Simulationsbegriffs in der Literatur gezogen werden. Diese kann durch die Verknüpfung von Simulationen technischer Systeme mit dem antiken Verständnis der Mimesis durch Aristoteles erfolgen. Diese beiden Konzepte sind durch ein kognitives Element verbunden, da sich die Philosophen „ deshalb über den Anblick von Bildern freuen, weil sie beim Betrachten etwas lernen und zu erschließen suchen, was ein jedes sei [...]“.50 Wie oben schon angedeutet, läßt sich im 9. Kapitel der Poetik die tragische Mimesis als ein Simulationsvorgang begreifen, d. h. als Modellbildung historischer Prozesse, da es ihr nicht genügt, lediglich den Ablauf zu schildern, sondern versucht, das Mögliche, was passieren könnte, einzubeziehen. Diese kognitive Absicht, die dem Dichter hier unterstellt wird, impliziert ein fingiertes Tun-als-ob, das einen mimetischen Charakter durch die Imitation besitzt, aber einen simulierenden durch die Täuschung. Hierzu Thomas Manns Selbstcharakteristik des Joseph-Romans: Kein wissenschaftliches Werk also, sondern »fiction« in der eigentlichsten Bedeutung, ein Werk der Phantasie. Aber wissenschaftlich immerhin in dem Sinn, daß es auf seine fabulierende Art Vorstöße der Erkenntnis wagt, sei es ins Dunkel der Vorzeit oder in die Nacht des Unbewußten, Erkundungen in die Tiefen der Zeit zurück, oder, was eigentlich dasselbe ist, in die Tiefen der Seelen hinab. (GW, XIII, S. 164)51 In Dotzlers Studie zur Bedeutung der Simulation in Thomas Manns Romanen Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull und Der Zauberberg überwiegt jedoch die negative Konnotation des Begriffes, d. h. er betont den Mimesis-Charakter der Simulation bei Thomas Mann, wenn er auf den von Barthes erwähnten „Nullzustand“52 der Literatur verweist. Birus kritisiert Dotzlers „exzessive Verwendung von Motiven und Zitaten“53 der Poststrukturalisten Jean Baudrillard und Friedrich A. Kittler sowie die einfache Übertragung des kybernetischen Simulationsbegriffs, verbunden mit der von der neuen Technik der Informationsverarbeitung entwickelten Unterscheidung von Architektur und Implementierung, auf die Literatur.54 Birus bestätigt zwar durchaus Dotzlers logische Deutungsansätze zum 49 Smith: Simulation. In: Encyclopedia of Computer Science, S. 1578. Aristoteles: Die Poetik, S. 11-13. 51 GW – Gesammelte Werke Thomas Manns in dreizehn Bänden. 52 Barthes: Am Nullpunkt der Literatur, S. 11. 53 Birus: Thomas Manns Joseph und seine Brüder als simulierte Mimesis, S. 92. 54 Dotzler übernimmt aus der Informationstechnik die Begriffe Architektur und Implementierung. Die Architektur eines Rechners beinhaltet die Teilbereiche Struktur, Organisation, Implementierung und Leistung und umfaßt demnach sowohl die Vernetzung der verschiedenen Hardwarekomponenten als auch die 50 28 Felix Krull, spricht ihm aber einen ernstzunehmenden neuen Erkenntniswert ab. Erstaunlicherweise kommt Birus bezüglich der Mannschen Tetralogie Joseph und seine Brüder letztendlich zum gleichen Ergebnis wie Dotzler: zur simulierten Mimesis. Auch in Hans Robert Jauss’ Untersuchung zu Molières Komödie Tartuffe gehen Mimesis und Simulation ineinander über: Mimesis und Simulation verschlingen sich nunmehr auf intrikate Weise. Wo Simulation an die Stelle der Nachahmung tritt, bleibt auch das Vorbild vom täuschenden Abbild nicht unbetroffen: im Simulakrum wird die Wahrheit des Nachgeahmten aus der Sphäre des Authentischen in die Sphäre des Reproduzierbaren und Vertauschbaren, in unserem Fall: die ›Sprache der Frömmigkeit‹ in den ›jargon de la dévotion‹ gezogen.55 Das parasitäre Verhalten des Heuchlers Tartuffe problematisiert die Ununterscheidbarkeit von Schein und Sein und die daraus resultierende Verblendung, der die Gesellschaft erliegt. Tartuffe sinniert über die Vollkommenheit des Schöpfers, die sich in den Geschöpfen widerspiegelt: Und unsere Sinne werden leicht betört Von den vollkommenen Schöpfungen des Himmels. Sein Zauber spiegelt sich in ihresgleichen; Jedoch an ihnen zeigt er seine Wunder: Die Schönheit, die er Ihrem Antlitz schenkte Blendet die Augen und erregt die Herzen;56 Der Hypokrit Tartuffe simuliert seinen christlichen Glauben und rutscht bei dessen Nachahmung von der „Sprache der Frömmigkeit“ in den „jargon de la dévotion“. Das heißt, nicht der Simulant Tartuffe und mit ihm das Simulakrum werden hier der Kritik ausgesetzt, sondern in erster Linie das Vorbild der Nachahmung und die getäuschten Personen, die in logischer Konsequenz dafür mit Lachen bestraft werden. Außerdem wird an dieser Komödie das komplizierte Verhältnis zwischen Simulation und Wahrheit ersichtlich, welche umfaßt demnach sowohl die Vernetzung der verschiedenen Hardwarekomponenten als auch die Organisation und Wechselwirkungen innerhalb dieser Komponenten. Die Implementierung bezeichnet die Beschaffenheit der einzelnen Bausteine, z. B. im System verwendete Schaltkreistechnologien und die Festlegung der Datenbandbreite zwischen Prozessor, Hauptspeicher und Hintergrundspeicher. (Märtin: Rechnerarchitektur, S. 2-5) Die Differenzierung zwischen Architketur und Implementierung erlaubt nach Meinung von Dotzler die einzig mögliche Unterscheidung von „Schein und Sein im präzisen technischen Sinn“. (Dotzler: Der Hochstapler, S. 26) Dotzler verwendet jedoch nur einen eingeschränkten Architektur-Begriff, da neuere Definitionen in der Informationstechnik eine umfassendere Sichtweise auf moderne Rechnersysteme zur Grundlage nehmen. 55 Jauss: Der Tartuffe-Skandal im Lichte von Mimesis und Simulation. In: Kablitz; Neumann: Mimesis und Simulation, S. 133. 56 Molière: Der Tartuffe oder der Betrüger, S. 38. 29 nämlich erst durch das Simulakrum zum Vorschein kommt; d. h. das Nachgeahmte ist zwar wahr, aber es ist nicht ’authentisch‘. Die Simulation macht die Wahrheit des Nachgeahmten zu einem Trugbild, das die erborgte und mißbrauchte Autorität des Glaubens unangreifbar erscheinen und ineins damit die vermeintliche Nachfolge Christi zur bloßen Nachahmung verkommen läßt. [...] Der Fall des Hypokriten führt vor Augen, wie die Simulation das Exemplarische der Heiligkeit in einen bloßen »Mechanismus der Nachahmung« verwandelt.57 Wenn also nicht über den Charakter des Hypokriten und die Kunst der Simulation selbst gelacht wird, dann wird deutlich, daß sich „eine geglückte Simulation dem Verhältnis wechselseitiger Repräsentation entzieht: sie hebt die Transparenz der Zeichen auf und macht das vermeintlich Bezeichnete unerkennbar“.58 Die Zeichen unterliegen zwar in der Simulation einer Bedeutungsveränderung, d. h. Zeichen und Bedeutung sind nicht identisch, jedoch durch das strukturalistische Verfahren allein wird die Simulation auch nicht sichtbar. Durch die Herstellung von Parallelismen und Oppositionen auf der Ebene der Zeichen kristallisiert sich allenfalls der mimetische Charakter heraus; im Beispiel des Tartuffe wäre das die Differenz zwischen der „Sprache der Frömmigkeit“ und dem „jargon de la dévotion“. Die Verwirrung der Simulation kann nur durch die Auflösung der „Stimmenvielfalt der Rede“59 im Bachtinschen Sinne entschlüsselt werden. 5. Neue Forschungsergebnisse in der Diskussion über Simulation 5.1 Die Simulation als Theatertheorie Andreas Kotte geht in seiner Arbeit Simulation als Problem der Theatertheorie von zwei Thesen aus, die das gegenwärtige Theater bestimmen. Es gibt zum einen die „Täuschungsthese“, die nur „auf der Folie einer wahren Wirklichkeit funktioniert“, und zum anderen die Theatermetapher, die diese Möglichkeit bestreitet und für die nur die Aussage: „Das 57 Jauss: Der Tartuffe-Skandal im Lichte von Mimesis und Simulation, S. 134. Ebd., S. 138. 59 Bachtin: Die Ästhetik des Wortes, S. 213. 58 30 Leben ist ein Theater“ in Frage kommt.60 Im Zuge der schwindenden Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit der Institutionen befindet sich die Theatermetapher, die eine sehr große Ähnlichkeit zu Baudrillards Simulationsbegriff aufweist, auf dem Vormarsch. Die Theatertheorie müsse sich aber für eine These entscheiden, so Kotte. Ziel der Simulation sei bei beiden Ansätzen nicht die physische Ähnlichkeit zur Realität, sondern die Imitation der psychischen Tätigkeitsstruktur. Dieser Aspekt treffe sowohl auf die Theatermetapher als auch auf die Täuschungsthese zu. Zur Überprüfung der Täuschungsthese zieht Kotte Schriften über sogenannte „Tanzepidemien“ im Mittelalter heran. Besonders in Pestzeiten versammelten sich im Rheinland und in den Niederlanden Tausende Menschen als Tänzer oder Zuschauer zu den Veitstänzen, um von ihrem Leiden erlöst zu werden. Die Heilwirkung des Tanzes interessierte aber nur peripher, denn es war vielmehr ein großes Volksfest, das sich zur Massenhysterie ausweitete. Niemand wußte, ob sich einer unter den Tänzern befand, der wirklich an der Pest erkrankt war, so daß schließlich die Ärzte damit beschäftigt waren, alle Tänzer mit kalten Bädern und Umschlägen von der Tanzwut zu kurieren. Es ist jedoch höchst unwahrscheinlich, daß alle Leute in diese Massenhysterie verwickelt wurden, da auch Unterkunft und Beköstigung lockte. Es wird also einen bestimmten Anteil von Simulanten gegeben haben, die sich von den Kranken durch nichts unterschieden. Ein weiteres Phänomen aus dem 15. Jahrhundert, auf das Kotte verweist, ist der Tarentismus in Verbindung mit den sogenannten Taranteltänzen in Apulien. Hierbei handelt es sich um Tänze, die von Patienten aufgeführt wurden, die von der scheinbar giftigen Tarantel, einer in Süditalien häufig vorkommenden Spinnenart, gebissen worden waren. Die Erkrankten litten unter Atemnot und Herzbeschwerden. Die Ärzte verschrieben Musik und Tanz, damit die Patienten das Gift ausschwitzten. Aus Angst vor den Taranteln trugen die Bauern auch bei 40 Grad im Schatten eine Art Gamaschen, wodurch ihre Körpertemperatur nochmals beträchtlich anstieg. Erst im 18. Jahrhundert fand man heraus, daß der Tarantel-Biß vollkommen ungefährlich ist; und Mitte des 20. Jahrhunderts konnte erst aufgeklärt werden, daß die „Tarentierten“ einen Hitzeschlag erlitten hatten. Auch bei diesen Taranteltänzen, die bis zu sechs Tagen anhalten konnten, gab es viele Simulanten, die einfach dieses Spektakel als großes Volksfest mitfeiern wollten. 60 Kotte: Simulation als Problem der Theatertheorie. In: Forum Modernes Theater 11/1, S. 33. 31 Diese beiden Phänomene als theatrale Grenzfälle geben für Kotte den Ausschlag, an der Bedeutung der Täuschungsthese für das Theater zu zweifeln: Wenn äußerlich in seinen Bewegungen der durch Krankheit gezwungene Mensch sich nicht unterscheiden läßt von demjenigen, der solcherart hervorgehobenes Verhalten nur simuliert, dann kann die Frage von Täuschung, Verstellung, Betrug und Lüge auch nicht in den Kernbereich der Bestimmung von Theater und Theatralität gehören.61 Kotte verwirft auch den zweiten Teil der Simulationsdefinition, nämlich den Nachahmungsaspekt, der als Theatermetapher auftritt. Wenn man nicht erkennen könne, ob im theatralen Vorgang ein Modell der Welt erschaffen wird, also Deckungsgleichheit zwischen Theater und Realität besteht, dann kann die Simulation auch in ihrer zweiten Bedeutung nicht zu einer Zentralkategorie avancieren. Kotte fragt sich deshalb, ob der Satz „Das Leben ist ein Theater“ aufgrund der unterschiedlichen Größe der Systeme nicht eigentlich umgekehrt werden müßte. Bei der These „Theater ist Leben“ wäre das spektakuläre Paradoxon aufgelöst und Baudrillards Simulationsbegriff würde insofern Rechnung getragen, als daß das Leben als Teil der Repräsentation ebenfalls als Simulakrum verstanden wird. Dieses aufgelöste Paradoxon würde zumindest die erwähnten Straßentänze erklären, kann jedoch in der Theatertheorie nicht nützlich sein, weil die Differenz zwischen Theater und Leben aufgelöst ist. Die gemeinsame Grundformel von soziologischen und literaturwissenschaftlichen Ansätzen bezüglich des Theaters faßt Kotte folgendermaßen zusammen: „A agiert als B vor C“ oder: „A agiert als ob er B wäre vor dem zuschauenden C“.62 Diese Formel basiert natürlich auf einem Unterschied zwischen Theater und Leben, der darin besteht, daß „die Austauschbarkeit von Menschen und Objekten“ eine Voraussetzung für das Theater darstellt und gleichzeitig von der Gesellschaft abgewiesen wird. Dieses Prinzip der Indifferenz zwischen Theater und Realität wird innerhalb der Postmoderne-Debatte generalisiert. „Die Als-ob-These korrespondiert mit der philosophischen Lügen-These und in der literarischen Tradition mit der These von der fiktionalen als der bestimmenden Welt im Theater.“63 Tatsächlich könne die Als-ob-These nicht als ein Spezifikum für theatrale Vorgänge gelten, da die meisten Ehebrüche und Lügen im realen Leben die Bedingung der Simulation erfüllen. Die Simulation geschieht also im Sinne von „Theater ist Leben“ und 61 Ebd., S. 37. Ebd., S. 40. 63 Ebd., S. 41. 62 32 läßt sich damit auch außerhalb des Theaters nachweisen. Die Als-ob-These sei, so Kotte, lediglich ein Mittel, um auf die Wechselbeziehung zwischen Theater und Leben zu verweisen. Der Unterschied werde nur durch die „Häufigkeit und Radikalität des Austausches von Menschen und Objekten im theatralen Vorgang“ und in der „graduellen Steigerung“ offenbar. Das Theater wird nicht durch eine fiktionale Ebene definiert, aber sie kann vorhanden sein. Die Taranteltänze können demnach genauso theatral sein wie ein Schauspieler als König Lear auf der Bühne, es komme nur auf die „Beschreibung der Hervorhebungsmomente und den Grad der Konsequenzverminderung“ an. 64 Verzichtet die Theatertheorie auf die Als-ob-These, dann müßte man das Theater als Wirklichkeit auffassen und nicht, als ob es Wirklichkeit wäre. In der Theatersemiotik würde das bedeuten, daß der Schauspieler auf der Bühne die gleichen Zeichen wie im Alltag verwendet, das Theater also zunächst Leben ist. Die Zeichen des täglichen Lebens werden jedoch durch die „Radikalität des Austausches von Menschen und Objekten“ modifiziert. Die anthropologische Relevanz und die soziale Komponente des Theaters rücken demnach stärker in den Mittelpunkt. Dies wäre sicherlich für den weiten Theaterbegriff, d. h. die Einbeziehung von Gauklern, Mimen, Akrobaten, hilfreich, würde aber eine Theatertheorie an sich in Frage stellen. Wenn das Theater weder Lüge noch Fiktion oder Als-ob, sondern zunächst Leben wäre und nur so viel Lüge, Fiktion und Als-ob beinhaltete wie jenes auch, brauchte erst jenseits dieses Sachverhaltes nach definitorischen Einschränkungen gesucht zu werden.65 Gerade im modernen Theater rücken mehr und mehr Aktionen als Möglichkeiten der Realität in den Vordergrund, ohne daß ein entschlüsselbarer Bezug zur Umwelt hergestellt werden kann. Stattdessen interessieren vielmehr die „rigorose Bildsprache und die präzisen Bewegungsabläufe“66 und die Differenzen zwischen Rolle und Vorgang. Diese Verneinung sowohl der Theatermetapher als auch der Täuschungsthese würde, auf die Literatur übertragen, eine erneute Problematisierung des Fiktionsbegriffs bedeuten, die sich an Derrida und Baudrillard anlehnt, für die die Indifferenz zwischen Realität und Fiktion gilt. Für die Theatertheorie würde daraus die Konsequenz erwachsen, daß das Theater nur noch eine Möglichkeit von Wirklichkeit repräsentieren würde, wobei hier die 64 Ebd., S. 42. Ebd., S. 42-43. 66 Ebd., S. 43. 65 33 Möglichkeit nicht als Fiktion, sondern als eine Art des Seins verstanden wird,67 d. h. die Fiktion wird als definitorisches Element für theatrale Vorgänge vollkommen ausgeblendet. Auch nach Paul de Man wird ein Text nicht durch das Chrakteristikum der Fiktionalität gekennzeichnet, sondern nur durch die Rhetorizität der Sprache bzw. das figurative Sprechen. Dieser Fiktionsbegriff kann eventuell in Ansätzen bei der Analyse von Thomas Manns Tagebüchern, jedoch nicht bei seinen literarischen Texten funktionieren, da die Simulation als literarische oder theatralische Figur bei der Fiktion im Sinne der Möglichkeit einer Wirklichkeit einfach überdeckt und aus dem Spiel genommen wird. Diese Fiktionstheorie ist auch aus der Annahme Kottes zu erklären, daß das Ziel der Simulation in der Nachbildung der psychischen Tätigkeitsstruktur liegt und nicht in der physischen Ähnlichkeit. Aus dieser Voraussetzung resultiert dann die Unbrauchbarkeit der Täuschungsthese bei den mittelalterlichen Tanzepidemien, weil die Simulanten in dem Kreis der Tanzwütigen nicht auszumachen sind. Bei der Simulation müssen demnach beide Bedingungen, sowohl die physische als auch die psychische Ähnlichkeit, gegeben sein, so wie Dotzler bereits konstatierte, daß „die Simulation die Reproduktion eines Etwas nicht in der Ordnung dessen Seins, sondern in der Ordnung seiner Wahrnehmung ist“.68 Physikalische bzw. psychische Nachbildungen bedingen sich gegenseitig und sind nicht streng voneinander zu trennen. 5.2 Die „hyperreale Welt“ und der „symbolische Tausch“ Jean Baudrillard bestimmt als Vertreter der Postmoderne in dieser Theoriedebatte die Simulation nicht mehr als einen Abbildungsmodus, sondern als eine eigenständige Kategorie zur Bezeichnung der im Zuge der Ausbreitung technischer Medien entstehenden Macht der Zeichenprozesse. Es existieren nunmehr Zeichenwelten, die keinen Referenten mehr besitzen, sondern nur noch innerhalb der Simulationen agieren und den Zugang zur sinnlichen oder unmittelbaren Wahrnehmung der Welt versperren. Diese künstlichen Zeichenwelten, die Baudrillard Simulakra nennt, unterliegen im Laufe der kulturellen Evolution 67 Ebd. Dotzler: SIMULATION – simulation – simulation. In: Verstärker von Strömungen, Spannungen und überschreibenden Bewegungen, Nr. 1, S. 12. 68 34 bestimmten strukturellen Änderungen.69 Er unterteilt die Simulakren in drei Ordnungen, wobei das Simulakrum erster Ordnung die Opposition zum Realen aufrecht erhält und im nächsten Schritt dann das Simulakrum an die Stelle der Imitation den Vorgang der Produktion und der identischen Reproduktion setzt. Dieses Phänomen des Simulakrums zweiter Ordnung positioniert Baudrillard in das Zeitalter der industriellen Revolution. Beim Simulakrum dritter Ordnung wird die Repräsentation vollständig von Modellen und Codes verschlungen. Alles ist Teil der Simulation. Es findet eine Hyperrealisierung des Realen statt. Die Simulation generiert sich aus dem Realen ohne Ursprung oder Realität: Jegliche Realität wird von der Hyperrealität des Codes und der Simulation aufgesogen. Anstelle des alten Realitätsprinzips beherrscht uns von nun an ein Simulationsprinzip. [...] Es gibt keine Ideologie mehr, es gibt nur noch Simulakren.70 Die Realität hat jedoch noch immer konkrete Auswirkungen und ist nicht verschwunden; nur die Formen haben sich geändert. Es hat sich eine Indifferenz zwischen Bedeuteten und Bedeutetem gebildet. Verschiedene Systeme, beispielsweise das der politischen Ökonomie, existieren nur noch als Zeichen, als „Als Ob“, und täuschen ihre eigene Realität vor. Hierin liegt jedoch ein Widerspruch, da Baudrillard mit den Begriffen Realität und Wirklichkeit operiert, obwohl er doch schon längst mit ihnen abgeschlossen hat. Baudrillard, der in seiner Theorie des „symbolischen Tausches“ die Austauschbarkeit des Tauschwerts und Gebrauchswerts erklärt, hält im antihegelianischen Sinne die Durchbrechung von „Schein und Täuschung dieser schlechten, vergänglichen Welt“71 aufgrund der sich auflösenden Wertsetzungen im postmodernen Zeitalter nicht mehr für möglich: Das Zeitalter der Simulation wird überall eröffnet durch die Austauschbarkeit des Schönen und Häßlichen in der Mode, der Linken und der Rechten in der Politik, des Wahren und Falschen in allen Botschaften der Medien, des Nützlichen und Unnützen auf der Ebene der Gegenstände, der Natur und Kultur auf allen Ebenen der Signifikation.72 Für Baudrillard bedeutet das Simulakrum also keine Illusion, die früher oder später an der Wirklichkeit zerbrechen wird, sondern etwas Irreales, das den Platz des Wirklichen einnimmt und ohne Folgen mit seinem Widerpart ausgewechselt werden kann. Er geht von der Grundlage aus, daß nach 1968 das Politische und die politische Ideologie keine Rolle 69 Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod. München, S. 79. Ebd., S. 8. 71 Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I, S. 22. 72 Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod, S. 20-21. 70 35 mehr spielen, weil sich der Tauschwert als Zeichen verselbständigt hat und sämtliche Gebrauchswerte, d. h. die Wirklichkeit, überdeckt.73 In dieser Situation verschwinden Politik und Ideologie als selbständige Faktoren, weil der gesamte Bereich der materiellen und kulturellen Gebrauchswertproduktion von der Vermittlung durch den Tauschwert erfaßt und der Abstraktion oder Simulation des Tauschprinzips überantwortet wird.74 Das Verschwinden der Gegnerschaft macht Baudrillard an der seiner Meinung nach existierenden Konvergenz der Verhaltensweisen zwischen Vertretern verschiedener Gesellschaftsformen (Kommunisten, Sozialisten und Kapitalisten) deutlich. Seiner Meinung nach werden durch die Vermittlung des Tauschwerts alle Lebensbereiche des Spätkapitalismus erfaßt, so daß es nahezu unmöglich wird, überhaupt noch einen Gebrauchswert wahrzunehmen. Die moderne Gesellschaft habe sich ihr eigene Wirklichkeit konstruiert. Diese Feststellung wird jedoch dadurch relativiert, daß selbst die spätkapitalistische Wirtschaft nicht ohne die Unterscheidung von Gebrauchswert und Tauschwert zu verstehen ist. Seine radikale These einer existierenden „Hyperrealität“ läßt nämlich auf diese Weise gar nicht mehr die Chance zu, zwischen Kapitalismus und Sozialismus marxistischer Prägung, dessen Theorie auf der Abgrenzung von Gebrauchs- und Tauschwert beruht, unterscheiden zu können, wodurch natürlich jede Möglichkeit verwehrt wird, dieses indifferente Wertesystem durch subversive Strategien an der Wirklichkeit zerschellen zu lassen. Die logische Konsequenz daraus zeigt sich in der apokalyptischen Quintessenz von Baudrillards Überlegungen, die nur in Form des symbolischen Todestausches bzw. des „unmöglichen Tausches“ ihre Bestätigung finden. Nach dem Tod Gottes gebe es für unsere Welt kein Äquivalent mehr, das die virtuelle Welt verifizieren könnte. Wir werden also die gegebene Welt liquidieren müssen. Wir werden sie zerstören müssen, indem wir sie durch eine künstliche, durch und durch konstruierte Welt ersetzen, für die wir niemandem Rechenschaft schulden werden. Daher diese gigantische technische Eleminierung der realen Welt in all ihren Formen. Alles Natürliche wird aufgrund dieser symbolischen Regel der Gegengabe und des unmöglichen Tauschs völlig negiert werden.75 73 Ebd., S. 52-53. Zima: Moderne – Postmoderne, S. 107-108. 75 Baudrillard: Der unmögliche Tausch, S. 23. 74 36 5.3 Simulation und Fiktion Im Zuge der postmodernen Simulationsdefinition im Zeichen von Baudrillard besteht eine Gegensätzlichkeit zwischen Fiktion und Simulation, die der zunehmenden Annäherung zwischen Fiktion und Realität entspringt. Zwischen Simulation und Fiktion klafft nun eine Lücke, die ihre Ursache in der von der Simulation geschaffenen Eigenrealität hat. In Baudrillards Vorstellung der Gesellschaft als totales Simulakrum ist für die Kategorie der Fiktion kein Platz mehr – sie ist überflüssig geworden. Hierfür dient der Fall des Simulanten als exemplarisch: Dissimulieren heißt fingieren, etwas, das man hat, nicht zu haben. Simulieren heißt fingieren, etwas zu haben, was man nicht hat. Das eine verweist auf eine Präsenz, das andere auf eine Absenz. Doch die Sache ist noch komplizierter, denn simulieren ist nicht gleich fingieren:76 „Jemand, der eine Krankheit fingiert, kann sich einfach ins Bett legen und den Anschein erwecken, er sei krank. Jemand, der eine Krankheit simuliert, erzeugt an sich einige Symptome dieser Krankheit.“77 Bei der Dissimulation ist das Realitätsprinzip also nach wie vor vorhanden, die Differenz ist klar und wird lediglich von einer Maske verdeckt. Bei der Simulation bleibt dagegen die Differenz zwischen Realem und Imaginärem in einem ständigen Schwebezustand. Die Simulation einer Krankheit bedeutet also nicht die Reproduktion derselben, sondern es ist ausreichend, wenn die Simulation die Ordnung der Wahrnehmung erfüllt, d. h., für einen Außenstehenden als Krankheit zu erkennen ist, ohne daß dieser Verdacht schöpft. Diese Entwicklung der Simulation von der „ontologischen Defizienz zur Präzession“78 bewegt Baudrillard zu der Feststellung, daß die Simulation als die in Wahrheit „intrikate Kunst“ gelten kann, weil sie die Frage nach dem Wahren untergrabe, während die Dissimulation noch auf eine ’Wahrheit‘ verweise.79 76 Baudrillard: Agonie des Realen, S. 10. Dt. Übersetzung in: Baudrillard: Agonie des Realen, S. 10. Ursprünglich in: Littré: Dictionnaire de la langue Française: „Feindre est un peu moins précis que simuler. Celui qui feint une maladie peut simplement se mettre au lit, et faire croire qu`il est malade. Celui qui simule une maladie, en détermine en soi quelques symptômes.“ (S. 180) 78 Dotzler: SIMULATION – simulation – simulation, S. 14. Den Terminus Präzession definiert Jean Baudrillard wie folgt: „ein Terminus aus der Physik, meint in der Mechanik allgemein die ausweichende Bewegung der Rotationsachse eines Kreisels bei Krafteinwirkung. In der Astronomie bezeichnet Präzession die Kreisel- oder Taumelbewegung der Erdachse (innerhalb von 26000 Jahren), genauer: die durch diese Kreiselbewegung verursachte Rücklaufbewegung des Schnittpunkts zwischen Himmelsäquator und Ekliptik (Erdbahn).“ (Baudrillard: Agonie des Realen, S. 6) 79 „Der entscheidende Wendepunkt liegt beim Übergang von den Zeichen, die etwas dissimulieren, zu den Zeichen, die dissimulieren, daß es nichts gibt. Erstere verweisen auf eine Theologie der Wahrheit und des 77 37 Um die Loslösung des Fiktionsbegriffs bei Baudrillard deutlich werden zu lassen, sei an dieser Stelle als Vergleich Gerhard Härle erwähnt, dessen Aufsatz Simulationen der Wahrheit bei der Verhandlung der Simulation in den Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull einen wichtigen Platz einnehmen wird. Härle betont beim Simulationsprozeß die Zusammengehörigkeit körperlicher und geistig-seelischer Phänomene. Demzufolge können Körper und Geist als gegenseitige Projektionsflächen gesehen werden. Der Scheincharakter des Unwillkürlichen, z. B. Krankheit, wird als willkürlich Gewolltes im Scheincharakter der Simulation erkennbar. Die daraus abzuleitende Erkenntnis, daß sich die Simulation selbst als Schein herausstellt, überrascht zunächst, wird jedoch verständlich, wenn man sich vor Augen führt, daß die Simulation eben nicht an Vernunft und Willkür gebunden ist, sondern in körperlichen und seelischen Zuständen begründet liegt. Die Differenz zwischen Härle und Baudrillard besteht in den divergierenden Auffassungen des Simulationsbegriffs, die die Grundlage ihrer Untersuchungen bilden. Während Härle die durchschaubare bzw. durchschaute Simulation beschreibt, bei der die Entkoppelung von der Fiktion noch nicht stattgefunden hat, besteht bei Baudrillard schon die „Hyperrealität“, die auf der Überlappung von Realität und Fiktion basiert. Er versteht die Simulation als einen Gegenbegriff zur Mimesis, als einen Begriff für die Funktion von Zeichenprozessen, bei denen es nicht darum geht, Vorbilder nachzuahmen, sondern Bilder und Situationen neu entstehen zu lassen, die keinen anderen Bezug zulassen als zum Medium selbst, das sie hervorgebracht hat: Nicht erst ihre Vervielfältigung bewirkt, daß sie sich – mit Benjamins Kriterium für den Effekt technischer Reproduzierbarkeit – aus einem ihnen angestammten Bereich herauslösen: Sie haben keinen. Jedes, schon das erstmals regenerierte Computerbild ist ein Duplikat seiner selbst, unwirkliches Glied einer ganzen Reihe beliebig häufiger und ganz in sich selbst verständigter Verwirklichungen.80 Diese Simulationen sind demzufolge gleichzeitig ihr eigenes Abbild. Der von Härle verwendete Simulationsbegriff orientiert sich an den Ausführungen von Platon, wonach das Simulakrum gleichbedeutend mit dem Scheinbild ist. Es bleibt also bei der Äquivalenz Geheimnisses (die noch der Ebene der Ideologie angehört); die zweiten begründen das Zeitalter der Simulakra und der Simulation. Hier gibt es keinen GOTT mehr, der die Seinen erkennt, kein JÜNGSTES GERICHT, das Wahre vom Falschen und das Reale von seiner künstlichen Auferstehung trennt, denn alles ist bereits tot und von vorneherein wieder auferstanden.“ (Baudrillard: Agonie des Realen, S. 15) Vgl. auch Dotzler: SIMULATION – simulation – simulation, S. 14. 80 Dotzler: SIMULATION – simulation – simulation, S. 2. 38 zwischen Simulation und Fiktion, Simulakrum und Trugbild sowie Simulant und Verstellungskünstler. 5.4 Neuer Blick auf das Fiktive und Imaginäre durch Wolfgang Iser Wolfgang Iser fragt in seinen Ausführungen zum Fiktiven und Imaginären nach den Funktionen und Praktiken der fiktionalen Zeichenverwendung bei der Modellierung von Wirklichkeit. Die Schlüsselbegriffe, die Iser zur Beschreibung des literarischen Textes als „inszenierten Diskurs“81 verwendet, lauten: Inszenierung, Theatralität und Spiel. Bei der Betrachtung des Textes als „inszenierten Diskurs“ tritt, laut Iser, das performative Moment in den Vordergrund, d. h. eine Aussage wird nicht als etwas Gegebenes referiert, sondern generiert sich erst im Vollzug der Äußerung. Das bedeutet auch gleichzeitig eine Wandlung für die traditionelle Theatermetapher, die nicht länger die Abbildung des Szenischen impliziert, sondern den Akt des In-Szene-Setzens an sich bezeichnet. Es findet keine Abbildung im Sinne des traditionellen Mimesis-Verständnis statt, sondern es vollzieht sich ein Akt der Übersetzung, der den Charakter eines „Spiels der Differenz“82 annimmt, da es keine teleologische Ausrichtung besitzt, so Iser. Er schließt damit an seine Bestimmungen zum Akt des Lesens83 an, als Einlassung auf ein offenes Spiel von semantischen Differenzen oder als semantisch indifferente Lust am Text, wie es Barthes in seiner gleichnamigen Schrift postuliert hat. Zwischen Iser und Barthes lassen sich in rezeptionsästhetischer Hinsicht auch anderweitige Verbindungslinien ziehen. In seinem Essay Der Tod des Autors beschreibt Barthes das Schreiben nicht als eine Tätigkeit des Registrierens oder Repräsentierens, sondern begreift den Akt der Äußerung bereits selbst als Inhalt. Die Schrift bilde ständig Sinn, aber nur, um ihn wieder aufzulösen. „Die vielfältige Schrift kann nämlich nur entwirrt, nicht entziffert 81 Iser: Das Fiktive und Imaginäre, S. 35. Ebd., S. 501-504. 83 Iser verwendet für die Beschreibung des sich stetig verändernden Textsinns, der durch die Interaktion zwischen Text und Leser hervorgebracht wird, den Begriff „Aleatorik“: „So mag sich zwar der Sinn fiktionaler Texte nicht zu den Referenzbedingungen regulativer, und das heißt subjekt-unabhängiger Regeln konstituieren lassen. Dafür aber erlauben seine konstitutiven Bedingungen einen aleatorischen Aufbau der Sinngestalt. In der Aleatorik sind die Kombinationsmöglichkeiten gegebener Positionen nicht festgelegt [...].“ Der Leser bestimme den „’Code‘ der aleatorischen Regel“. (Iser: Akt des Lesens, S. 355) 82 39 werden. [...] Der Raum der Schrift kann durchwandert, aber nicht durchstoßen werden.“84 Die Leser seien das Ziel des Textes, und die Literarizität entstehe erst mit der Loslösung vom Autor. Auch Iser macht die Leser für die Aufdeckung von Leerstellen im Text verantwortlich, wobei er jedoch vom Text mit einer geschlossenen, festen Sinnstruktur ausgeht. Der literarische Text, den Iser mit der Theatermetapher in Verbindung bringt, besteht aus mehreren „Akten des Fingierens“,85 welche in Szene gesetzt werden. Zwischen Fiktion und Realität schaltet Iser das Imaginäre, das hierbei als vermittelnde Instanz auftritt. Realität versteht Iser als eine „Quersumme der imaginären“ und „der aus der kollektiven Imagination einer Kultur gespeisten Vorstellungsbilder und Zeichen, mit denen sich Mitglieder einer Gesellschaft verständigen“.86 Diese Zeichen und Vorstellungen resultieren aus einer prädiskursiven Wirklichkeit, die demnach die Voraussetzung für die Entstehung der Realität bildet. Iser unterscheidet zwischen der sozialen Wirklichkeit als konstitutivem Bezugsrahmen menschlichen Wahrnehmens und Denkens sowie dem Gefüge von „imaginären Institutionen“, wobei jedoch diese beiden Kategorien in keinem mimetischen Verhältnis zueinander stehen. Die Zeichen, die wir als Realität begreifen, seien lediglich Reaktionen auf natürliche Erfahrungen und soziale Kräfte, die auf den Menschen einwirken. Man könnte die Zeichen also als symbolische Antworten auf solche Erfahrungen begreifen, die stets den Schein einer „ursprünglichen, anfänglichen und irreduziblen Setzung“87 besitzen. Die Eigenschaft der symbolischen Modelliertheit sei auch kein substantielles Unterscheidungskriterium zwischen Fiktivem und Realem. Der Oppositionsbegriff ist für Iser also weniger der des Fingierten, der Fiktion, sondern des Imaginären. Das Fiktive bezeichnet er als Schnittstelle bei der Vermittlung zwischen Realem und Imaginärem, da der Fiktion, im Gegensatz zur imaginären Produktion, Grenzen gesetzt sind. Während die Imagination ihren Ursprung in der symbolischen Produktion hat und keine Referenz besitzt, stellt die Fiktion die Grenze zum Wirklichen dar, d. h. die Realität bleibt als Referenz immer präsent. Iser definiert das Fiktive als einen produktiven Akt der Übersetzung und als eine diskursive Schnittstelle für das Ineinanderspielen von Imaginärem und Realem, weg vom Ab- 84 Barthes: Der Tod des Autors. In: Texte zur Theorie der Autorschaft, S. 191. Iser: Das Fiktive und Imaginäre, S. 18. 86 Pross: Textspiele. In: Neumann; Pross; Wildgruber: Szenographien, S. 147. 87 Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 602. 85 40 bildmodell. Die Lektüre eines Textes bedeute, die semantischen Anweisungen in imaginäre Vorstellungsgestalten zu verwandeln. Hierin liege der Unterschied zu Wahrnehmungsobjekten. Bei der Rezeption eines literarischen Textes befinden wir uns in einer ObjektSubjektrelation als einem interaktiven Umgang. 6. Der Text aus Sicht des New Historicism Ausgehend von Isers Konzept des Fiktiven und Imaginären öffnet sich der Weg zu anderen postmodernen Richtungen. Innerhalb der neueren Zugänge konzentriere ich mich auf die diskurstheoretischen Ansätze, in denen die Kategorie der Geschichte eine wichtige Stellung einnimmt und die methodisch an die historische Diskursanalyse Michel Foucaults anknüpfen. Diesen theoretischen Ansätzen liegt eine Textualisierung des Wirklichkeitsbegriffs zugrunde, wonach die Selbstverständlichkeit der Gesellschaft durch die Texte selbst hervorgebracht wird und keine Vermittlung mehr zwischen Literatur und Gesellschaft besteht, da es gar keine unabhängig existierende Wirklichkeit gibt. Einer dieser neuen diskursanalytischen Wege wurde von Stephen Greenblatt beschritten, der den sogenannten New Historicism bzw. Cultural Poetics entscheidend mitbestimmte. In seiner wegweisenden Studie Verhandlungen mit Shakespeare vernetzt er die Texte des englischen Dramatikers mit historischen Quellen des elisabethanischen Zeitalters und versucht auf diese Weise, Shakespeares Texte in ihrem zeitgenössischen Umfeld zu betrachten und die Teilmengen von Text und Text-Äußerem offenzulegen. Diese textkritische Methode richtet sich vor allem gegen textimmanente und ahistorische Interpretationstechniken. Die Forderung des New Historicism lautet, die literarischen Werke wieder im geschichtlichen und sozialen Kontext ihrer Entstehungszeit zu betrachten. Der Unterschied zu anderen ideologiekritischen und sozialgeschichtlichen Ansätzen liegt jedoch in der Ablehnung des ontologischen Geschichtsverständnisses und stattdessen der Hinwendung zu der Annahme einer kontingenten Geschichte, womit gleichzeitig auch die Kontingenz der Texte betont wird, die sich als Teil einer sozialen Praxis immer wieder neu konstituieren. Literarische Texte sind also mit anderen kulturellen Äußerungen verwoben und wirken nebeneinander, was zur Folge hat, daß die Interpreten ihre Aufgabe nicht mehr darin sehen, einzelne Elemente eines Textes in einen kausalen Zusammenhang zu 41 bringen, sondern die Konzentration auf das Verhältnis zu anderen Texten zu lenken.88 Die Analyse fragt nach Austauschbeziehungen zwischen kulturellen Äußerungen, die Greenblatt „Transaktionen“ nennt, die eine sehr große Ähnlichkeit zum Verfahren der Intertextualität aufweisen. Verhaltens- und Sprachformen, Gesten, Rituale sowie kollektive Erfahrungen fließen in die literarischen Texte als „soziale Energie“89 ein und werden dort absorbiert und modifiziert. Greenblatts kulturelles Denken ist von der Stimmenvielfalt und Polyphonie im Sinne Bachtins geprägt, denn das Ziel der Cultural Poetics ist die Aufhebung von Grenzen und Hierarchien und die damit verbundene Suche nach den Ursachen für das Verschwinden von „Spuren sozialer Zirkulation“.90 Allerdings ist die Literatur nach Greenblatts Auffassung maßgeblich an der diskursiven Konstituierung von Machtstrukturen beteiligt, da die „kulturellen Transaktionen [...] den großen Werken der Kunst ihre Macht verleihen“,91 wodurch ein Durchbrechen dieser herrschenden Diskurse faktisch ausgeschlossen wird. Das erinnert an Baudrillards Begriff vom Objekt, dessen Macht das Subjekt hilflos ausgeliefert ist. Die Gemeinsamkeit zwischen Isers rezeptionstheoretischem Ansatz seiner literarischen Anthropologie und dem New Historicism liegt in ihrem ähnlichen Verhältnis zur Geschichte begründet. Isers Erklärungen zur Spielstruktur lauten: Sie prägt dieses Ineinander unterschiedlich aus, und da keine Prägung je eine Bestimmung des Fiktiven und des Imaginären sowie ihres Zusammenspiels sein kann, ist eine jede von ihnen auch immer historisch markiert. Das macht den literarischen Text als Spielraum offen für die Geschichte.92 Sie korrespondieren mit den Prinzipien des New Historicism: Statt Vereinheitlichung gelten Pluralität und Heterogenität (Literaturgeschichte sollte nicht nur eine Geschichte, sondern viele Geschichten erzählen), statt linearer Erzählung assoziative Montage, statt der Suche nach einem festen Bedeutungskern ein Spiel mit dem historisch wie linguistisch bedingten Bedeutungsüberschuß symbolischer Sprache.93 88 Vgl. Wechsel: Sozialgeschichtliche Zugänge. In: Arnold; Detering: Grundzüge der Literaturwissenschaft, S. 454-456. 89 Greenblatt: Verhandlungen mit Shakespeare, S. 9. 90 Ebd., S. 14. 91 Ebd., S. 13. 92 Iser: Das Fiktive und Imaginäre, S. 15. 93 Kaes: New Historicism: Literaturgeschichte im Zeichen der Postmoderne?. In: Baßler: New Historicism, S. 263. 42 Die Rekonstruktion bestimmter Diskurse öffnet den literarischen Text für oberflächlich nicht sichtbare und mit einem linearen Analyseverfahren nicht zugängliche Bedeutungszusammenhänge: Subtile Anspielungen auf Vorstellung und Verstellung gewinnen an Resonanz, narrative Motive werden transparent auf symbolische Bräuche und Praktiken hin und theatralische Gesten nehmen neue vielschichtige Bedeutungen an. Die Rekonstruktion des Diskurses gibt dem literarischen Text auch die ursprünglichen Ambivalenzen, Doppelbödigkeiten und dynamische Widersprüche zurück.94 Der New Historicism geht von einem dezentrierten und intertextuellen Text aus, der nicht unabhängig vom Kontext zu betrachten ist, d. h. es esxistiert kein ontologischer Unterschied zwischen Text und Kontext. Mit den Verfahren der Dekonstruktion sollen Brüche und Risse in scheinbar hermetischen Textstrukturen aufgespürt werden. Die Basis hierfür ist die von der historischen Diskursanalyse übernommene Grundannahme, daß die literarischen Texte keine geschlossenen Werke darstellen, sondern als Teil kultureller Praktiken schon selbst als Auslegung der Gesellschaft zu betrachten sind. Greenblatt möchte den literarischen Text wieder mit „sozialer Energie“ aufladen, indem er die in ihm enthaltenen „Diskursfäden“95 in ihren ursprünglichen historischen Kontext zurückverfolgt. Dem New Historicism geht es jedoch nicht nur darum, die Quellen der „Diskursfäden“ aufzuspüren, sondern auch zu zeigen, wie sie sich im Text widerspiegeln sowie [...] von einem rekonstruierten historischen Horizont her Fragen zu stellen, auf die der Text eine Antwort gibt – wobei allerdings ein »Archiv« aus komplexen und diskontinuierlichen Diskursen ein ganz anderes Kulturmodell voraussetzt als der einheitliche »Erwartungshorizont« der Rezeptionsästhetik.96 Während der literarische Text von Iser als ein Medium verstanden wird, das anthropologisches Wissen vermittelt und als Inszenierung einen imaginären Probespielraum bietet, der außerhalb der herrschenden Diskurse anzusiedeln ist, ist der literarische Text nach dem Verständnis des New Historicism Teil der gesellschaftlichen Machtbeziehungen und wäre damit als Teil eines eventuell vorhandenen Simulakrums zu verstehen. Der Simulationsbegriff könnte dann als eine theatrale Spielfigur innerhalb der Texte aufgespürt werden. 94 Ebd., S. 258. Baßler: New Historicism, S. 14. 96 Ebd., S. 22. 95 43 Zusammen mit verschiedenen Texten anderer Zeichensysteme ließe sich auf dem Wege des intertextuellen Analyseverfahrens dann auch eine Kategorie wie die Simulation bezüglich der Thomas-Mann-Texte im Netzwerk der Diskurse verorten. Denn seit dem Zauberberg ist das Verfahren der Intertextualität, die „Heterogenität und historische Buntscheckigkeit der Dokumente“ (GW, XIII, S. 102), für Thomas Manns epische Technik zunehmend bestimmend geworden und weitete sich im Doktor Faustus sogar zu einer „Montage-Technik“ (GW, XI, S. 165) aus, die Thomas Mann folgendermaßen beschreibt: „Wirklichkeit, die sich in Fiktion verwandelt, Fiktion, die das Wirkliche absorbiert, eine eigentümlich träumerische und reizvolle Vermischung der Sphären.“ (GW, XI, S. 166). Das erinnert sehr an die „Diskursfäden“, die zwischen Wirklichkeit und Fiktion in beide Richtungen verlaufen. Dahin tendiert auch eine andere Äußerung Manns zum „Buch der Bücher“, das ihm als Vorbild für die Bachtinsche „Vielstimmigkeit“ gedient hat: Sie besteht aus einer Menge sehr verschiedenartiger und unleugbar auch verschiedenwertiger literarischer Erzeugnisse des Judentums und Urchristentums: Mythen, Sagen, Novellen, Hymnen und sonstige Dichtungen, historische Berichte, Abhandlungen, Briefe, Spruchsammlungen und Gesetzes-Codices, deren Abfassung oder richtiger deren Niederschrift sich auf einen sehr langen Zeitraum, vom fünften Jahrhundert vor bis ins zweite Jahrhundert nach Christi Geburt verteilt. Manche Bestandteile aber reichen ihrem Ursprung nach weit rückwärts über diesen Zeitraum hinaus: es sind Reste und Brocken grauen Altertums, die gleich gewaltigen Findlingen in dem Buche herumliegen. [...] Ich sage dies alles, um die Heterogenität und historische Buntscheckigkeit der Dokumente anzudeuten, aus denen die Bibel sich zusammensetzt. (GW, XIII, S. 201-202) 7. Hypothesen Die verschiedenen Ebenen des Simulationsbegriffs gehen alle auf das ursprünglich semantische Feld der Simulation in der lateinischen Begriffsgeschichte zurück: simulatio – Verstellung, Vorwand simulacrum – Abbild; Scheinbild; Trugbild; Gleichnis simulator – Nachahmer, Heuchler Vor allem mit der Herausbildung der Medientechniken erfährt der Simulationsbegriff jedoch eine Bedeutungserweiterung. Mit der Kategorie Simulation wird nun nicht mehr lediglich eine Handlung der Täuschung bezeichnet, sondern zunehmend rückt der Begriff 44 des Modells ins Blickfeld, der zwar weiterhin eine Als-ob-Situation aufrecht erhält, jedoch aufgrund seiner Selbstreferentialität auf eine eigene Wirklichkeit verweist. Mit der Computersimulation wird ein Prozeß dargestellt, der in der Realität noch gar nicht existiert und dementsprechend eine eigene Realität kreiert. Auf dieser neuen Darstellungsmöglichkeit basieren die Simulationskonzepte von Roland Barthes und Jean Baudrillard. Barthes versucht, diese neue Auffassung von Simulation auf sein Konzept der strukturalistischen Tätigkeit zu übertragen, indem er den literarischen Text zerlegt und das anschließende Neuarrangement als etwas „Neues“ bezeichnet, das Simulakrum, der dem „Objekt zugefügte Intellekt“ durch den Menschen. Das Konzept der Analogie zwischen Objekt und seinem Simulakrum greift Baudrillard in seiner These vom Zusammenfallen der Realität mit der Irrealität auf. Er wendet den in den kybernetischen Wissenschaften gebrauchten Simulationsbegriff auf die Konsum- und Mediengesellschaft an, in der die Zeichen nur noch auf sich selbst verweisen und somit einer ständigen Manipulationsgefahr unterliegen. Die Transformation des kybernetischen Simulationsbegriffs für die Medientheorie ist jedoch irreführend und nicht exakt, wie die folgende technische Definition des Modells als Hilfskonstruktion für kybernetische Forschungsmethoden verdeutlichen soll: Ein wichtiges Hilfsmittel der Kybernetik ist das Modell, ein künstlich geschaffenes materielles oder gedankliches System, das die im Hinblick auf eine bestimmte Fragestellung wichtigen Eigenschaften oder Funktionen eines realen Systems widerspiegelt. Bei der Konstruktion des Modells wird von den für die Fragestellung unwesentlichen Eigenschaften des realen Systems abstrahiert. Soweit die Eigenschaften des Modells denen des realen Objekts analog sind, führt es zu neuen Erkenntnissen über das Objektsystem.97 Baudrillard nutzt für seine Thesen die Eigenschaft des Automatismus oder der Selbstregulierung kybernetischer Prozesse, um sie auf die postmoderne Gesellschaft anzuwenden. In der Kybernetik als technische Wissenschaft wird jedoch bewußt ein Modell analog zur Realität erstellt, um neue Erkenntnisse zu gewinnen. Simulation hat also bereits hier ihren typischen Täuschungscharakter verloren und funktioniert quasi wie ein Spiel mit einem immer neuen Ausgang. Indem Baudrillard diese Art der Simulation auf sein Konzept der „Hyperrealität“ überträgt, versucht er, den Begriff wieder mit seiner ursprünglichen Bedeutung der Verstellung aufzuladen. Die selbstreferentiellen Zeichen entwickeln bei 97 Gellert: Kleine Enzyklopädie Natur, S. 749-750. 45 Baudrillard jedoch eher eine manipulative Kraft, als daß sie etwas vortäuschen, weil dazu eine Realität notwendig wäre. Bei der Betrachtung des literarischen Textes als ein analoges Modell zur Wirklichkeit, lassen sich eventuell Funktionsmechanismen innerhalb dieses Modells offenlegen, ohne jedoch konkrete Täuschungen im Text bzw. des Textes zu berücksichtigen. Deshalb werde ich diese Art der Simulation bei der Analyse der Thomas-Mann-Texte nur am Rande betrachten. Mit Wolfgang Isers Betrachtung des literarischen Textes als einem „inszenierten Diskurs“, der den Charakter eines Spiels angenommen hat, wobei das Reale mit dem Imaginären korreliert und das Fiktive in einer Vermittlungsposition dazwischen steht, ist es möglich, die Simulation als einen weiteren Bestandteil dieses Modells innerhalb des Textspiels zu verorten. Iser versucht, ähnlich wie Barthes, das funktionelle System eines literarischen Textes aufzuzeigen, jedoch nicht auf dem Wege der Zerlegung und des anschließenden Neuarrangements eines Objektes, sondern durch die Aufdeckung und Sichtbarmachung des fließenden Übergangs zwischen Realem und Imaginärem von seiten der Leser. In der literarischen Anthropologie von Iser läßt sich die Simulation einerseits als ein Akt der Inszenierung, angelehnt an den kybernetischen Simulationsbegriff, verstehen. Der Abbildungscharakter bleibt dabei erhalten, vermischt sich jedoch mit dem Imaginären – diesen Vorgang beschreibt Iser mit dem Begriff der „Transformation“.98 Andererseits ermöglicht Isers Modell, die Simulation innerhalb eines literarischen Textes in einer jeweils dem Text eigenen Prägung zu verstehen. Unter Berücksichtigung der Tatsache, daß literarische Texte aus mittelbaren Zeichen und symbolischen Codierungen bestehen, vollzieht Iser einen Rückgriff auf die Anthropologie. Die mangelnde referentielle Eindeutigkeit und die verdoppelte Struktur der Zeichen machen sie „als ein Analogon lesbar, für jene Rollenpluralität, als deren Einheit sich der ’Mensch‘ konstituiert“.99 Der Entwurf des Ichs über imaginäre Konstruktionen, um seiner selbst habhaft zu werden, provoziert die spannende Frage, wie sich dieser Aspekt in Thomas Manns Tagebüchern äußert. Mir geht es in meiner Untersuchung nicht darum, die Thomas-Mann-Texte als Simulakrum zu entlarven, das keine Referenz mehr besitzt. Mich interessieren die Mechanismen, nach denen diese derzeit vieldiskutierte Kategorie in Thomas Manns Schriften funktioniert. Ich möchte das kulturelle Muster der Simulation nicht nur als Modellierungspro98 Iser: Das Fiktive und Imaginäre, S. 481. 46 zeß oder als rhetorische Figur analysieren, sondern versuchen, es an den Rändern der Texte aufzuspüren, wo es als ’geheimer Koordinator‘ des Textspiels funktioniert. Wodurch läßt sich aber die Simulation entdecken, und wie zeigt sie sich innerhalb der Fiktion? Diese Frage läßt sich nicht ausschließlich von Zeichen zu Zeichen auf der sprachlichen Ebene eines Textes beantworten, sondern immer nur durch gleichzeitige Betrachtung von anderen Texten. Die Fiktion ist ein Redestatus, wie Jürgen H. Petersen festgestellt hat, d. h. sie besitzt keine speziellen Merkmale, außer, daß sie durch den Prozeß der Abbildung entstanden ist und fiktive Gegenstände impliziert. Ein Text kann nur die Kraft der Täuschung aufbringen, indem er Bezug zur ‘Realität‘ nimmt; denn wie soll eine absolute Fiktion uns etwas vorspielen, wenn wir in einem Text mit Zeichen konfrontiert werden, die wir noch nicht kennen? In dieser Situation scheint es sinnvoll, den Simulationsakt als Täuschungsakt in seinem rhetorischen Bezugsfeld zu begreifen, der sich von der Mimesis abgrenzt. Nur so erscheint es mir möglich, vor allem bezüglich der Tagebücher Thomas Manns, die für dieses Diarium spezifischen Wechselwirkungen zwischen Tagebuchschreiber und Leserin hinsichtlich der Widersprüchlickeit der ’authentischen‘ bzw. simulatorischen Wirkungsweise der Eintragungen herauszufiltern. Speziell bei der Untersuchung der Tagebücher wird es jedoch notwendig sein, aktuelle Medientheorien, die sich eher dem Inszenierungs-, als dem Simulationsbegriff verpflichtet fühlen, heranzuziehen, um die Gründe für den Verdacht von Simulation zu erforschen. Die literaturanthropologische Richtung, die Iser einschlägt, wird dabei bestimmend sein, da sein Ansatz dem aristotelischen Mimesisverständnis verpflichtet bleibt. Der Hochstapler Felix Krull liefert eine Beschreibung des Betruges, die auf verblüffende Art und Weise mit der hier theoretisch dargelegten Analyse zur Fiktion und Simulation übereinstimmt: Nur der Betrug hat Aussicht auf Erfolg und lebensvolle Wirkung unter den Menschen, der den Namen des Betruges nicht durchaus verdient, sondern nichts ist, als die Ausstattung einer lebendigen, aber nicht völlig ins Reich des Wirklichen eingetretenen Wahrheit mit denjenigen materiellen Merkmalen, deren sie bedarf, um von der Welt erkannt und gewürdigt zu werden. (GW, VII, S. 298) 99 Pross: Textspiele, S. 167. 47 II. Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull Möge man ein solches Zeugnis waghalsig finden: die Vernunft verpflichtet und zwingt dazu, – indem sie selbst freilich sofort danach trachtet, einen Mittelweg zu erspähen und der Alternative von Betrug und Wirklichkeit, sei es auch nur durch ein Wort, zu entkommen. Gaukelei ist ein solches Wort, dessen Tiefe durch Trübheit undeutlich gemacht wird. Die Begriffe der Realität und des Truges mischen sich darin, und vielleicht ist das eine Mischung und Zweideutigkeit mit echtem Lebensrecht, die der Natur weniger fremd ist als unserem biderben Denken. Thomas Mann: Okkulte Erlebnisse (1924) Das vorangegangene theoretische Panorama dient nicht nur als Hintergrund für die nun beginnende Analyse zu den Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull, sondern es enthält bereits theoretische Gesichtspunkte, die in der Auseinandersetzung mit dem Felix Krull, insbesondere mit den Untersuchungen von Bernhard J. Dotzler und Gerhard Härle, gewonnen worden sind. Ich mache jedoch diese erworbenen Konzepte zur Simulation von Dotzler und Härle nicht zur Richtlinie, sondern setze mich auf die Spur von Wolfgang Iser. Trotzdem werde ich zu Beginn dieser Untersuchung die aktuellen Deutungsansätze von Hans Wysling, Jürgen Jacobs, Gerhard Härle und Bernhard J. Dotzler vorstellen, um daran anschließend Isers Konzept der literarischen Anthropologie, ausgehend von diesen Lesarten zur Ausprägung der Simulation in der fiktiven Autobiographie Felix Krulls, zu verorten. 1. Die Gestalt des Felix Krull als Ergebnis mythologischer und philosophischer Überlegungen Hans Wysling versucht in seiner umfangreichen Studie zum Felix Krull, den Roman in erster Linie psychologisch und mythologisch zu erklären. Den Ausgangspunkt seiner Analyse bildet dabei eine Untersuchung zur Psychologie des Künstlers. Ausgehend von Friedrich Nietzsche, für den ein Artist eine „Zwischenspezies“ zwischen Elementen des 48 „Neurotisch-Psychiatrischen und des Kriminalistischen“ darstellt, zieht er eine Verbindung zwischen Künstler und Verbrecher, denen die Außerbürgerlichkeit gemeinsam ist: Endlich die zunehmende Zivilisation, die zugleich notwendig auch die Zunahme der morbiden Elemente, des Neurotisch-Psy chiatrischen und des Kriminalistischen mit sich bringt. Eine Zwischenspezies entsteht, der Artist, von der Kriminalität der Tat durch Willensschwäche und Furchtsamkeit abgetrennt, insgleichen noch nicht reif für das Irrenhaus, aber mit seinen Fühlhörnern in beide Sphären neugierig hineingreifend [...]100 Dementsprechend bedeutet für Wysling die „Wendung ins Kriminelle bei Thomas Mann mehr als äußere Travestie”.101 Auch der italienische Anthropologe Cesare Lombroso, den Wysling zur Untermauerung seiner These heranzieht, verweist auf die Zusammengehörigkeit von Kriminalität und Genialität aufgrund von gemeinsamen neurotischen Veranlagungen.102 Daraus erklärt sich Wyslings Erkenntnis, daß der Künstler bei Thomas Mann verschiedene Standpunkte und Rollen einnimmt, so daß die Grenze zwischen Künstler, Literat und dem Kriminellen immer fließend ist. Demzufolge verfolgen Manns Romane, die Wysling als intellektualistisch bezeichnet, einen aufklärerisch-objektiven und psychologischen Perspektivismus.103 Wysling beruft sich auf Schopenhauers Willensmetaphysik und Nietzsches Künstlerpsychologie, die für ihn die Basis bilden, auf der seine ganze Interpretation aufgebaut ist und worauf er immer wieder zurückkommt. Bezüglich der Theorien dieser beiden Philosophen entwickelt Wysling zehn Komplexe, die als Themen- und Problemkreise das gesamte Lebenswerk Thomas Manns durchziehen. Die erste goße Kategorie, die fünf Komplexe umfaßt, nennt sich „Die Welt als Wille”, womit Schopenhauers Theorie gemeint ist, daß jeder Mensch teil am Weltwillen hat.104 Dieser Weltwillen offenbare sich im Schlaf, im Traum und in der erotischen Getriebenheit. Durch bewußtes willentliches Agieren könne sich der Traum verwirklichen und in die Welt der Vorstellung überführt werden. Wysling bedient sich verschiedener Götter der griechischen Sagenwelt, um Krulls facettenreiche Psychologie näher zu ergründen: 100 Nietzsche: Der Wille zur Macht, S. 361. Nietzsche äußert sich auch zur Verbindung des Künstlerischen mit dem Weiblichen: „Wie man heute ’Genie‘ als eine Form der Neurose beurteilen dürfte, so vielleicht auch die künstlerische Suggestivkraft, – und unsre A r tis te n sind in der Tat den hysterischen Weiblein nur zu verwandt!!! Das aber spricht gegen ’heute‘, und nicht gegen die ’Künstler‘.“ (S. 287) 101 Wysling: Narzißmus und illusionäre Existenzform, S. 29. 102 Vgl. Lombroso: Genie und Irrsinn in ihren Beziehungen zum Gesetz, zur Kritik und zur Geschichte. vor allem das Kapitel: Die Graphomanen, S. 219-254. 103 Wysling: Narzißmus und illusionäre Existenzform, S. 32. 104 Schopenhauer: Werke in 5 Bänden. Bd. 1: „Die Welt ist mein Wille.“ (S. 33) 49 - Felix. Glückskind und Götterliebling - Morpheus. Süßer Schlaf - Eros. Einheits- und Vermischungssehnsucht - Narziß. Ich- und Weltliebe - Prospero. Der Künstler als Magier und Zauberer105 Er erkennt eine Wandlung des Glücksbegriffs bei Thomas Mann. Dieser wandelt sich vom Glücksbedürftigen, wie es noch bei Tonio Kröger der Fall ist, zum Glücksfähigen, in seiner extremsten Form bei Felix Krull ausgeprägt. Die Wende setzt laut Wysling um 1904/05 ein, als Thomas Mann sich zunehmend von der Décadence und dem Erkenntnisekel befreit und sich stattdessen die Naivität erschließt, um sich vom Pessimismus und Nihilismus der Jugend zu befreien. Glück bedeutet für ihn nun nicht mehr die Verkörperung von anderem und der Gegenstand der Sehnsucht, sondern ist vom eigenen Ich zu erfahren und zu leisten, d. h. Selbstfindung, Selbstannahme und Pflicht zur Selbstverwirklichung. Diese Erkenntnis Thomas Manns war die Voraussetzung für die Darstellung von Krull als Glückskind. „Glück ist ein Dienst”.106 Weiterhin betrachtet Wysling Felix Krull auch als Morpheus, den Gott des Traumes. Nietzsche geht davon aus, daß der Mensch im Traum das „Wahrhaft-Seiende und Ur-Eine” erfährt und es als „Schein des Scheins” in die Tagwelt hinüberrettet.107 Folglich läßt sich feststellen, daß Krulls Leben der Verwirklichung seiner Träume von Erhöhung, Vornehmheit und Reichtum entspricht. Wysling bezeichnet Krull als „heimlichen Theaterdirektor seiner Träume” (GW, IX, S. 487),108 einen Ausdruck, den Thomas Mann im Zusammenhang mit Schopenhauers Traumpsychologie verwendet. Hierin offenbart sich die Theorie Schopenhauers zur Offenbarung des Willens im Traum. Eine Schlüsselfigur im Gesamtwerk Manns ist Wysling zufolge die des Narziß. Auch im Krull ist die Spannung zwischen Narzißmus und Eros, Ich- und Weltliebe ständig präsent. Zwei narzißtische Spielarten lassen sich bei Thomas Mann erkennen, zum einen die Selbstqual, die beispielsweise Tonio Kröger, Gustav Aschenbach und auch Adrian Leverkühn als Isoliertheit, Außenseitertum und Homoerotik erfahren. Die andere Art des Narzißmus zeigt sich in der Selbstliebe, die Felix Krull und auch Joseph als Selbstvergot105 Wysling: Narzißmus und illusionäre Existenzform, S. 67. Brief vom 23. 12. 1904; Thomas Mann – Heinrich Mann: Briefwechsel 1900-1949, S. 39. 107 Nietzsche: Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 38. 106 50 tung erleben und die die Liebe der anderen auf sich zieht. Der Narzißmus wird bei Krull in vielerlei Hinsicht sichtbar. Seine „androgyn-mignonhafte“ Verfassung bestätigt ihn in seiner narzißtischen Selbstzufriedenheit.109 Die Verschmelzung beider Geschlechter in der Gestalt des Felix Krull ermöglicht eine sexuelle Autonomie, d. h. er wird von Frauen und Männern gleichermaßen geliebt. Des weiteren ist bei Felix, ähnlich wie beim Griechengott, kein Übergang vom Kind zum Manne zu erkennen, wodurch das Erotenhafte seiner Existenz noch stärker zum Tragen kommt. Auch durch die Vermischung von nord- und südländischen Zügen, wie sie bei vielen anderen Figuren in Manns Romanen zu erkennen ist, erhält Krull den Reiz des Außergewöhnlichen. Den zweiten großen Komplex, der sich im frühen Krull nachweisen läßt, nennt Wysling „Die Welt als Vorstellung”.110 Krull empfindet nicht nur die Kunst als Schein, sondern auch die Welt und das Leben präsentieren sich ihm als Illusion. Durch die Illusionierung erreicht Felix eine Distanzierung und den Abstand eines Ironikers. Dieser Habitus bewirkt wiederum eine Überlegenheit durch Erhebung über „Faszination und Lebensängstlichkeit“,111 die jedoch nur als Scheinüberlegenheit bezeichnet werden kann. Die vermittelnde Aufgabe des Künstlers, seine hermetisch-zauberhafte Rolle als Mittler zwischen oberer und unterer Welt, zwischen Idee und Erscheinung, Geist und Sinnlichkeit kommt hier zum Vorschein [...] (GW, IX, S. 534) Auch Helmut Koopmann weist darauf hin, daß der Künstler der einzige ist, der den Schein der Welt durchschaut und somit auch die einzige reale Existenz vorstellt. Der Gedanke von Nietzsche, daß die Wirklichkeit nur bei dem Erkennenden liegt, prägt auch Thomas Manns Künstlerbegriff, der sich aus dem Gefühl des Auserwähltseins und der damit verbundenen Selbstherrlichkeit zusammensetzt. Die Welt ist der Spielball des Künstlers, und wenn auf der einen Seite die erniedrigte, dekadente Sonderlingsexistenz aus der Sicht der Gesellschaft heraus gesehen wird, so sieht er selbst die Verhältnisse umgekehrt und völlig anders: er ist es, der als eigentlicher Herrscher der Welt aufzutreten vermag, da sie ihm in ihrer kruden Realität nur untertan sein kann, dabei handelt es sich natürlich nicht um wirkliche Weltbeherrschung, sondern um eine solche mit Hilfe der Vorstellungen, des Intellekts, des Willens.112 108 Ursprünglich aus: Schopenhauer: Werke in 5 Bänden, Bd. 4, S. 219. Wysling: Narzißmus und illusionäre Existenzform, S. 95. 110 Ebd., S. 112. 111 Ebd. 112 Koopmann: Thomas-Mann-Handbuch, S. 519-520. 109 51 Krull betrachtet die Welt als Theater und macht sein eigenes Leben zum Schauspiel. Die Wechselbeziehung zwischen eigenem Ich und der Gesellschaft äußert sich auch in der Idee der Vertauschbarkeit. Krull ist der Meinung, daß diejenigen, die er als Kellner bedient, ebenfalls Kellner sein könnten. Damit wird deutlich, daß dem Künstler die Welt und Gesellschaft als etwas Zweifelhaftes und Fragwürdiges erscheinen. Ich kann mein inneres Verhalten zur Welt, oder zur Gesellschaft, nicht anders als widerspruchsvoll bezeichnen. [...] Es war der Gedanke der Vertauschbarkeit. Den Anzug, die Aufmachung gewechselt, hätten sehr vielfach die Bedienenden ebensogut Herrschaft sein und hätte so mancher von denen, welche, die Zigarette im Mundwinkel, in den tiefen Korbstühlen sich rekelten – den Kellner abgeben können. Es war der reine Zufall, daß es sich umgekehrt verhielt – der Zufall des Reichtums; denn eine Aristokratie des Geldes ist eine vertauschbare Zufallsaristokratie. (GW, IX, S.491-492) Wysling unterscheidet bei Felix Krull verschiedene Ebenen des Rollentausches. Die schauspielerische Verwandlungskunst bedeutet die Verwandlung durch kostümliche Äußerlichkeiten in den Marquis de Venosta. Die psychologische Art des Rollentausches zeigt sich in Krulls Vermischungsinstinkt, d. h. das erotische Hinüberverlangen in eine andere Existenzform. Die treibende Kraft hierfür ist die von Felix oft beschriebene Einheitssehnsucht. Eine wichtige Erkenntnis bedeutet für den Pikaro auch die Erfahrung der beweglichen Identität aller Wesen, oder anders ausgedrückt – die Brüchigkeit des Ichs. Für ihn existiert kein klar bestimmbares Ich. Verkleidet also war ich in jedem Fall, und die unmaskierte Wirklichkeit zwischen den beiden Erscheinungsformen, das Ich-selber-Sein, war nicht bestimmbar, weil tatsächlich nicht vorhanden. (GW, IX, S. 498) Ebenfalls in der schon oben erwähnten Traumpsychologie Schopenhauers, die sich in Krulls kindlichen Erhöhungsträumen widerspiegelt, offenbart sich eine spezifische Ebene des Rollentausches. Durch dieses Rollendasein erleidet Krull, wie Wysling bemerkt, einen Identitätsverlust, der aber von ihm mit bewußtem Willen herbeigeführt wird; denn erotische Selbsterfüllung erhält er nur durch Selbstentäußerung. Die Rollenwechsel stellen keine bloßen Nachahmungen dar, sondern müssen, nach Schopenhauers Theorie, als abenteuerliche Willensleistungen angesehen werden. Sie können nicht als Betrug bezeichnet werden, sondern als Schöpfung. Der Logik zufolge vollzieht Felix Krull also nicht nur gekonnte, sondern vor 52 allen Dingen auch wissende Simulation. Diese eben geschilderten Aspekte des Rollenwechsels lassen sich an dem folgenden Zitat von Felix nachvollziehen: [...] allein die Erregung des Augenblicks, die abenteuerliche Willensleistung, die ich auf mich genommen hatte; eine Art Trunkenheit, erzeugt durch die inbrünstige Vertiefung in meine Rolle als Kranker, durch ein Spiel auf meiner eigenen Natur, das jeden Augenblick durchaus meisterhaft sein mußte, um nicht der Lächerlichkeit zu verfallen; eine gewisse Verzückung, die, zugleich Anspannung und Abspannung, erforderlich war, damit etwas Unwirkliches für mich und die anderen zur Wirklichkeit werde: diese Einflüsse brachten eine solche Erhöhung und Steigerung meines Wesens, meiner gesamten organischen Tätigkeit hervor, daß der Sanitätsrat sie tatsächlich von seinem Fieberthermometer ablesen konnte. (GW, IX, S. 305) Seine scheinhafte Existenz ist durch keine Konkretisierung geprägt, so daß er zur Beziehungslosigkeit verdammt ist. Felix ist ein glückhaftes Wesen, das sich durch konflikt- und schicksalsloses Überspielen von Widerständen und durch heitere Überlegenheit auszeichnet. Den späten Krull beschreibt Wysling als Übergang vom Individuellen zum Sozialen und Mythisch-Typischen. Schopenhauers Willensmetaphysik und Nietzsches Psychologie bleiben jedoch als Konstanten vorhanden. Im späten Krull erkennt Wysling eine Annäherung an den Bereich des Politischen, eine stärkere Hinwendung zu Goethe, die Adaptation der Freudschen Psychologie sowie die Entdeckung des Hermes-Mythologems.113 Die imaginativen Energien kämen nicht mehr primär aus dem Radikalismus der Künstlerpsychologie, sondern aus der Idee des Götterspiels. Außerdem stehe jetzt nicht mehr die Durchleuchtung von Thomas Manns prekärem Künstlertum im Vordergrund, sondern die Erkenntnis menschlicher Möglichkeiten und Grenzen allgemein. Diese Veränderungen ließen sich auch erzähltechnisch beweisen. Der Wortschatz werde historisch und geographisch ausgeweitet und ein langsameres Erzähltempo setze ein. Außerdem erreiche der Roman durch die Einflechtung langer und großer Gespräche eine stärkere Entepisierung und verkünde damit das utopische Ziel der universellen Humanität und Menschheitsversöhnung. 113 Wysling: Narzißmus und illusionäre Existenzform, S. 195. 53 2. Neue Forschungsrichtungen 2.1 Jacobs’ Über-Mythologisierung Die bisher referierten Forschungstendenzen sind neuerdings einer elementaren Kritik unteworfen worden. Jürgen Jacobs wendet sich in seinem Aufsatz Der Liftboy als Psychopompos? diametral gegen die ’Über-Mythologisierung’ und Psychologisierung von Wyslings Ausführungen zu den Bekenntnissen. Die „mythische Postfiguration“ von Krull als Hermes, Faust, Felix, Eros, Narziß usw. sowie die Reminszenzen an Mephisto, Zeus, Goethe, Freud, Schopenhauer, Nietzsche und Thomas Mann selbst führen nach Ansicht von Jacobs zur Aufhebung der Form der Parodie von Krulls pikaresker Lebensgeschichte nach dem Muster des Bildungsromans.114 Er widerspricht auch vehement Wyslings These, welche besagt, daß Krull eine Allegorie der utopischen und damit überpolitischen Existenz sei und Gesellschaftskritik im Namen der Freiheitsutopie übe. Jacobs betont im Gegenteil Krulls Anpassung an die Realität, die sich darin äußert, daß die Täuschung und der Betrug als Mittel zur Sicherung der Gunst der Welt für die Erhaltung des Lebens notwendig sind. Auf die Frage des Generaldirektors des Hotels, ob Felix Krull Sozialist sei, antwortet er: „Nicht doch, Herr Generaldirektor! Ich finde die Gesellschaft reizend, so wie sie ist, und brenne darauf, ihre Gunst zu gewinnen. Ich meine nur, wenn man seine Sache kann, sollte man es gar nicht fertigbringen, darin zu pfuschen, auch wenn es nicht so sehr darauf ankommt.” (GW, IX, S. 417) „Krulls hochtrabendes Räsonieren“115 stehe im Kontrast zu seinem zweifelhaften Lebensgang, wodurch die Komik der Sprachmischung aus „Goethe und Gartenlaube”116 entstehe. Diese Nuancen der Erzählweise und Widersprüchlichkeit der Hochstaplerfigur würden bei der Annahme der „Hermes-Mythe” als Schlüsselsymbol verlorengehen. Ganz ohne Zweifel sind in den nach 1951 entstandenen Teilen des Romans mythologische Motive im Spiel, aber sie bilden kein geschlossenes Sinnsystem, zu dessen allegorischer Bebilderung das Werk im ganzen dienen sollte. Vielmehr haben die mythologischen Anspielungen nur die Funktion epischen Spielmaterials.117 114 Jacobs: Der Liftboy als Psycopompos?. In: Euphorion 88/2, S. 236. Ebd., S. 239. 116 Hermsdorf: Thomas Manns Schelme, S. 61. 117 Jacobs: Der Liftboy als Psychopompos?, S. 240-241. 115 54 Außerdem ist seiner Meinung nach auch kein deutlicher Bruch zwischen frühem und spätem Krull erkennbar und demzufolge der von den Interpreten behauptete Konzeptionswandel für ihn nicht einleuchtend. Durch die gelehrten Assoziationen werde die farbig erzählte pikareske Lebensgeschichte einfach überdeckt und vernachlässigt. Der Deutungsversuch von Jacobs weg vom Mythologischen und Psychologischen, hin zu einer näheren Betrachtung der humoristischen Komponente des Romans ist von durchaus befreiender Wirkung. Er verwirft den ganzen Bildungsballast und setzt sich stattdessen für eine größere Betonung des Pikaresken ein. Jacobs begreift Bildung im Krull als Spielmaterial und Element der Hochstapelei. Man könnte sagen, daß er damit die Interpreten selbst, die die Bekenntnisse mit der gleichen Ernsthaftigkeit wie Manns andere Romane hinsichtlich einer tieferen Bedeutung sowohl auf philosophischer als auch auf psychologischer Ebene untersuchen, als Hochstapler versteht. Immer wieder ist in Thomas Manns Briefen von seiner Angst die Rede, den parodistischen Stil nicht beibehalten zu können und ins „Faustische“ zu verfallen. Nach dem »Faustus« hatte Ichs abgeschworen, je wieder noch einen großen Roman zu schreiben. Nun tu Ichs doch – und habe mir damit etwas aufgehalst, dessen Anforderungen an Laune und Erfindung wahrscheinlich über meine Jahre gehen. Wenn wenigstens nicht die verdammte Neigung wäre, alles und jedes, selbst etwas so Närrisches, ins »Faustische« ausarten zu lassen und eine Wanderung durchs Unendliche daraus zu machen!118 Diese Art und Weise, in der sich Thomas Mann häufiger äußerte, manifestiert die These, daß er den faustischen Charakter des Erkennens der Welt, wie er besonders im letzten Drittel des Buches, welches sich mit Professor Kuckuck beschäftigt, zum Ausdruck kommt, nicht bewußt einbringen wollte. Auch die mythologischen Komponenten, denen Wysling so immense Bedeutung beimißt, scheinen bei Mann eher eine untergeordnete Rolle gespielt zu haben, wie folgender Auszug aus einem Brief an Fritz Strich vom 19. 10. 1954 verdeutlicht: Ein für mich merkwürdiges Zusammentreffen ist das gleichzeitige Erscheinen eines Buches »Der göttliche Schelm« (Rhein-Verlag), wovon Kerényi den mythologischen und Jung den psychologischen Teil geschrieben hat. Ich war sehr sonderbar berührt. Weiß Gott, daß ich mir nicht bewußt war, einen hermetischen Roman anzulegen, als ich vor einigen 40 Jahren 118 Brief an Theodor W. Adorno vom 9. 1. 1952. Adorno: Briefe und Briefwechsel: Theodor W. Adorno – Thomas Mann. Briefwechsel 1943-1955, S. 96. 55 mit dem »Krull« begann. Erst bei der späten Fortsetzung haben sich, wohl durch die Nähe des »Joseph«, solche Assoziationen unwillkürlich hineingeschlichen.119 Das ist eine Notiz, mit der man die Theorie von Jürgen Jacobs stützen könnte. Am Ende bleibt die Frage, in welche Richtungen sich die Deutungen zukünftig bewegen werden. Koopmann wirft die berechtigte Frage auf, ob wirklich die zeitlose Fixierung auf mythologische Figuren der Auslöser des Schreibens gewesen sein mag oder ob nicht auch Existenzerfahrungen wie die des Exils eine Rolle gespielt haben könnten.120 2.2 Die Simulation des Körpers Der Künstler als eine Existenzform, die erst im Schein ihre Wahrhaftigkeit gewinnt – das ist eine Grundthematik, die in mehr oder minder abgewandelter Form alle Erzählungen Thomas Manns beherrscht, so auch den Felix Krull. Die Erzählweise des Romans werde, laut Gerhard Härle, von der Aufhebung der moralischen Konfrontation von Wahrheit und Schein getragen. Anders ausgedrückt könnte man auch sagen, daß die Verwandlung der „rigorosen Antinomie in ein Oszillieren von Ästhetik und Moral”121 die Begriffe in einen Schwebezustand rücken soll. Härle definiert den Terminus Simulation als Vortäuschung eines Zustandes, wobei eine seelische Verfassung, wie z. B. Angst, in einen verbergenden bzw. offenbarenden Körperausdruck verlagert wird. Seiner Meinung nach ist die Simulation keine Frage der Charakterstärke oder -schwäche, sondern eine Folge der geringen Anerkennung der Gesellschaft von rein seelisch-geistigen Leiden des Menschen. Wenn eine manifeste Krankheit ausbleibe, könne die Enttäuschung über den Körper durch die Vortäuschung einer Krankheit kompensiert werden, da der Körper gegenüber der Seele eine größere Widerstandskraft aufweist. Genau dieses gegensätzliche Verhältnis zwischen Körper und Seele beschreibt Felix nach seiner gelungenen Vortäuschung eines Brechkrampfes, um der Schule zu entgehen: 119 Thomas Mann: Selbstkommentare: „Königliche Hoheit“ und „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“, S. 144. 120 Koopmann: Thomas-Mann-Handbuch, S. 531. 121 Härle: Simulationen der Wahrheit. In: Härle: „Heimsuchung und süßes Gift“, S. 64. 56 Aber der Körper ist zäh und stumpfsinnig dauerhaft, er hält aus, wenn die Seele sich längst nach Mitleid und milder Pflege sehnt, er gibt die alarmierenden und handgreiflichen Erscheinungen nicht her, die jedem die Möglichkeit eigenen Jammers vor Augen rücken und der Welt mit fürchterlicher Stimme ins Gewissen reden. Und nun hatte ich sie hergestellt, diese Erscheinungen, und sie zu so voller Wirkung geführt, als sie nur immer hätten ausüben können, wenn sie ohne mein Zutun hervorgetreten wären. Ich hatte die Natur verbessert, einen Traum verwirklicht, – und wer je aus dem Nichts, aus der bloßen inneren Kenntnis und Anschauung der Dinge, kurz: aus der Phantasie, unter kühner Einsetzung seiner Person eine zwingende, wirksame Wirklichkeit zu schaffen vermochte, der kennt die wundersame und träumerische Zufriedenheit, mit der ich damals von meiner Schöpfung ausruhte. (GW, IX, S. 301-302) Hier wird schon sehr viel über die Ursachen und die Wirkung von Simulation gesagt. Felix unterstreicht die Zähigkeit des Körpers, der nicht im Einklang mit der Seele steht. Dann, wenn der Geist schon längst aufgegeben hat, und der Mensch sich aufgrund seines kranken Geistes elend fühlt, sendet der Körper immer noch keine Zeichen aus, daß zwischen Seele und Körper eine Disharmonie besteht. Demzufolge erachtet es Felix für notwendig, eine körperliche Krankheit zu simulieren, um seinen wirklichen Geisteszustand ans Tageslicht zu bringen. Sein Wille sagt ihm in diesem Moment, daß er keine Notwendigkeit darin sieht, zur Schule zu gehen; diese Wirklichkeitsschaffung war ihm ein dringendes Bedürfnis und bringt ihm tiefste innere Zufriedenheit. Es geht hierbei nicht um einen moralischen Wert und Sinn, sondern schlicht nur um das Wahrheitsmoment. Es spielt keine Rolle, ob es nun als moralisch verwerflich gelten muß, die Schule zu schwänzen, eine Krankheit der Mutter gegenüber vorzutäuschen, den Oberstabsarzt bei der Musterung zu betrügen oder letztendlich überhaupt seine ganzen Bekenntnisse als unmoralisch einzustufen sind. Wichtig ist nur, daß ein „guter Wille” dahintersteckt, dem eine höhere Wahrheit zugrunde liegt. Felix Krull kann sich, darauf hat die Forschung hingewiesen, auf Kant berufen: „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille“.122 Der „gute Wille” erlaubt positive Bestimmungen des Scheins, um zu verhindern, daß der Schein betrüge. Felix rechtfertigt die Simulation mit folgenden Worten: Zwischendurch aber geschah es nicht selten, daß ich an Schultagen für krank zu Hause und im Bette blieb, und zwar, wie ich schon zu verstehen gab, nicht ohne innere Berechtigung. [...] Ein wohlschaffender Knabe, dem es, von leicht verlaufenen Kinderkrankheiten abgesehen, nie ernstlich am Leibe fehlte, übte ich gleichwohl nicht grobe Verstellung, wenn ich mich eines Morgens entschloß, den Tag, der mir mit Angst und Bedrückung drohte, als Patient zu verbringen. Wozu denn auch wohl hätte ich mich dieser Mühen unterziehen sollen, da 122 Kant: Werkausgabe in 12 Bänden, Bd. VII, S. 18. 57 ich mich doch im Besitz eines Mittels wußte, die Macht meiner geistigen Zwingherren beliebig lahmzulegen? Nein, jene oben gekennzeichnete, bis zum Schmerzhaften gesteigerte Schwellung und Spannung, die sich, ein Erzeugnis gewisser Gedankengänge, damals so oft meiner Natur bemächtigte, brachte, zusammen mit meinem Abscheu vor den Mißhelligkeiten der Tagesfron, einen Zustand hervor, der meinen Vorspiegelungen einen Grund von solider Wahrheit verlieh und mir zwanglos die Ausdrucksmittel an die Hand gab, die nötig waren, um Arzt und Hausgenossen zu Besorgnis und Schonung zu stimmen. (GW, IX, S. 297298) Mit vollem Ernst, der uns Lesern gerade aufgrund seiner scheinbar paradoxen Verbindung mit der Feststellung des gerechtfertigten Schuleschwänzens als Ironie entgegentritt, schildert Felix seine Empfindungen von Angst und Bedrohung, die die tägliche Schulpflicht bei ihm auslöst. Die Ironie, die in der übersteigerten Verteidigung der Simulation besteht, löst bei den Lesern Lachen aus und erhält damit auch gleichzeitig eine komische Seite. Schon vorher verglich er in seinen Bekenntnissen die Schule mit seinem langjährigen Aufenthalt im Zuchthaus, so daß es ihn schon recht früh dazu bewog, „dem Schuldienst nicht nur an Sonn- und Feiertagen zu entkommen” (GW, IX, S. 296). Als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt, fragt er sich, warum er diesen Zwängen nicht zu entgehen versuchen sollte, wenn er doch die Möglichkeiten dazu beherrschte. Hier liegt der wesentliche Unterschied zum tragischen Ende von Hanno Buddenbrook. Auch bei ihm zeigt sich die Verbindung zwischen Schulmisere und schwacher körperlicher Konstitution. Er stirbt nur scheinbar an Typhus, in Wahrheit zerbricht er am Verlust seines Lebenssinnes und an der Angst vor den Forderungen des Alltags. Doch ihm bleibt nur das Mittel der Selbstvernichtung, um der Wirklichkeit Ausdruck zu verleihen – zur Simulation fehlt ihm die nötige Kraft. In Krulls Theorie über die Täuschung und den Betrug scheinen die Worte Nietzsches hindurch, die besagen, daß es „nicht mehr als ein moralisches Vorurtheil sei, dass Wahrheit mehr werth ist als Schein [...]”.123 Am Ende seiner Bekenntnisse beschreibt Felix noch einmal im Gespräch mit Zouzou die Bedeutung, die der Schein für ihn hat: „[...] aber wo bliebe das Leben und jegliche Freude, ohne die ja kein Leben ist, wenn der Schein nichts mehr gälte und die Sinnenweide der Oberfläche” (GW, IX, S. 633)? Was wäre denn auch die Kunst ohne Illusion? Auch diese Frage hat sich Thomas Mann häufig gestellt. Härle betont die Zusammengehörigkeit körperlicher und geistig-seelischer Phänomene. Demzufolge können Körper und Geist als gegenseitige Projektionsflächen verstanden wer123 Nietzsche: Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 53. 58 den. Eine Krankheit, die den Anschein des Unwillkürlichen in sich birgt, werde durch den Scheincharakter der Simulation als etwas willkürlich Gewolltes erfahrbar. Härle macht jedoch gleichzeitig darauf aufmerksam, daß die Simulation wiederum selbst als Schein zu begreifen ist, da sie im Fall des Hochstaplers Felix Krull eben nicht das Ergebnis von Vernunft und Willkür darstellt, sondern von körperlichen und seelischen Zuständen beeinflußt wird. In der Musterungsszene des Krull stellt sich uns der klassische Fall der Krankheitssimulation dar. Den großen Raum, den der Erzähler dieser Szene beigemessen hat, unterstreicht die immense Bedeutung dieser Episode, die in dem Roman sicherlich eine Schlüsselfunktion inne hat. Die Szene verdeutlicht, welche extremen Anstrengungen Felix nicht nur während seines ‚Auftrittes’, sondern auch in der Vorbereitungsphase aufbringen muß, um die Simulation in vollkommener Perfektion ausüben zu können. Meine Spannung war schmerzhaft, mein Herz hämmerte ohne Takt, und ich glaube wohl, daß das Blut mir aus dem Antlitz gewichen war. (GW, IX, S. 355) Ich war ohne Besinnung während dieses unter so harten Bedingungen überaus langwierigen Zeitraumes, zum wenigsten ohne Erinnerung an meine Umgebung und Zuschauerschaft, welche mir gegenwärtig zu halten die Strenge meines Zustandes mich völlig hinderte. (GW, IX, S. 367) Die These von Härle, daß sich die Simulation selbst als Schein erweist, findet sich zum einen darin bestätigt, daß sich Felix nach seiner erfolgreich gelösten Aufgabe vollkommen ermattet fühlt. Des weiteren ist es sehr interessant, daß sich Krull bei der Beschreibung seines vorgetäuschten epileptischen Anfalls nie in die aktive Rolle drängt, stattdessen nur davon spricht, was sein Körper mit ihm macht. Mein übriger Körper verhielt sich inzwischen nicht ruhend, obgleich ich aufrecht an meiner Stelle blieb. Mein Kopf rollte umher und drehte sich mehrmals fast ins Genick, nicht anders, als sei der Leibhaftige im Begriff, mir den Hals zu brechen; meine Schultern und Arme schienen aus den Gelenken gewunden zu werden, meine Hüften verbogen sich, meine Knie kehrten sich gegeneinander, mein Bauch höhlte sich aus, indes meine Rippen die Haut zersprengen zu wollen schienen [...] (GW, IX, S. 367) Felix hat scheinbar keinen Einfluß auf seinen Körper, d. h. die Simulation besitzt nur einen Scheincharakter. Sie ist zwar insofern von Vernunft und Willkür abhängig, als, um mit Schopenhauer zu sprechen, Krulls Wille durch bewußtes willentliches Agieren in die Welt der Vorstellung überführt werden kann. Jedoch diese Gebundenheit der Simulation an Vernunft und Willkür resultiert wiederum aus einem bestimmten seelischen Zustand. Eine 59 merkwürdige Bemerkung, der nachweislich von den meisten Interpreten keine Beachtung geschenkt wurde, stammt vom Unterbefehlshaber, der dem Oberstabsarzt bei der Musterung assistierte. Nachdem Felix ausgemustert wurde, sagt er beiläufig zu ihm: „Schade”, sagte er, indem er mir zusah; „schade um Sie, Krull, oder wie Sie sich schreiben! Sie sind ein properer Kerl, Sie hätten es zu was bringen können beim Militär. Das sieht man jedem gleich an, ob er es zu was bringen kann bei uns. Schade um Sie; Sie haben das Zeug auf den ersten Blick, Sie gäben gewiß einen feinen Soldaten ab. Und wer weiß, ob sie nicht Feldwebel hätten werden können, wenn sie kapituliert hätten!” (GW, IX, S. 371) Wie läßt sich diese Aussage deuten? Kann man sie als ironische Bemerkung des Erzählers der Bekenntnisse erklären, der Felix’ scheinbare Perfektion mit einem Augenzwinkern kommentiert, indem er den Unterbefehlshaber mit seiner Ansicht, daß Felix prinzipiell für den Militärdienst geeignet sei, bewußt oder unbewußt die Simulation durchschauen läßt? Oder beinhalten die Worte lediglich trockene humoreske Züge, die den ganzen Roman durchziehen? Härle betont außerdem die Doppeldeutigkeit der Simulation bei Thomas Mann. Zum einen sei die Simulation aus der „existentiellen Störung des männlichen Körperschemas“, aus der sexuellen Identität heraus wahrhaftig. Auf der anderen Seite werde das Motiv der Homosexualität wechselseitig sichtbar und unsichtbar, wie in der eindeutig gleichgeschlechtlichen Szene, in welcher der schottische Lord Nectan Kilmarnock um Felix’ Gunst wirbt. Auch Schimmelpreesters Kostümierungen des jungen Knaben lassen sich durchaus als erotische Faszination des älteren Mannes für den Jungen verstehen, ähnlich der Beziehung zwischen Gustav Aschenbach und Tadzio. Diese Doppeldeutigkeit wiederum bewirke bei der Leserin die Täuschung. Härle vermutet hinter diesem Doppelschema von Simulation und Wahrheit ein mögliches subtiles Kalkül einer homosexuellen Existenz, in dem Thomas Manns Leben und Konflikte transparent werden.124 Aus den eben dargestellten Überlegungen folgt die von Härle außerordentlich wichtige Feststellung, daß das Ich kein geschlossenes, sondern stets ein brüchiges Wesen verkörpert. Auch die Lebensform des Felix Krull, seine überhöhte und idealisierte Körperlichkeit, biete keine Lösung der „narzißtischen Wunde“,125 sondern fungiere lediglich als Umkehrbild der anderen Figuren Thomas Manns. 124 125 Härle: Simulationen der Wahrheit, S. 84. Ebd., S. 72. 60 Werden diese uns in ihrer Verletztheit durch ihre Körperdefekte unmittelbar verächtlich oder mitleidenswert, so besticht und verführt Felix Krull von vornherein durch seine androgyne Perfektion, die uns erst auf den zweiten Blick als Überkompensation eines verborgenen Defekts, der Angst und des Ekels vor dem Verfall des Körpers, verständlich werden kann. Der Körper in seiner trivialen Endlichkeit – das eben ist der sexuelle Körper, der die Spannung von Lust und Diszipilin, von objekthafter Hingabe und subjekthafter Selbstbehauptung auszuhalten hat. In ihm drückt sich, wie Hans Wysling überzeugend darlegt, Thomas Manns eigene Ambivalenz aus, seine Liebe zum Leben und sein Lebensekel.126 Krulls Verletzbarkeit sieht Härle beispielsweise in den Gedanken, die Felix während der Musterung bewegen: „Siehest du, hörst und fühlst du denn nicht, daß ich ein feiner und besonderer Jüngling bin, der unter freundlich gesittetem Außenwesen tiefe Wunden verbirgt, welche das feindliche Leben ihm schlug”, fragt der Blick des examinierten Felix den Oberstabsarzt. (GW, IX, S. 361) Der Erzähler läßt die Leserin glauben, daß Krull sich verstellt und schauspielert. Härle stellt jedoch die berechtigte Frage, ob nicht gerade darin die Verstellung des Erzählers sichtbar wird, um der Figur keine Blöße zu geben und seine Defekte zu verdecken. Felix selbst betont, daß Lüge und Heuchelei von Empfindungen sofort erkannt werden, wenn die nachgeahmten Gefühle nicht der Wirklichkeit entsprechen. Diese Erkenntnis scheint mir für weitere Überlegungen der vorliegenden Untersuchung sehr wesentlich zu sein. Gerade die „Überkompensation eines verborgenen Defekts” läßt sich an mehreren Beispielen aus den Bekenntnissen aufzeigen, wie die spätere eingehendere Analyse noch deutlich machen wird. Härle stimmt Wysling hinsichtlich Manns ambivalenter Haltung zum Leben zu, widerspricht ihm jedoch, indem er auch Felix genauso wie die anderen Gestalten aus dem Werk von Mann als einen Helden ansieht, der mit der illusionären Existenzform und dem Scheinsein kämpfen muß. Wyslings Auffassung zufolge bleibt Krull gerade dieser Kampf erspart. 126 Ebd., S. 72-73. 61 2.3 Der Roman als Simulation ? Die Betrachtung der Simulation auf der körperlichen und sexuellen Ebene bedeutet nur eine mögliche Sichtweise. Eine andere Perspektive auf das Problem der Simulation rückt durch den Neo-Strukturalisten Bernhard J. Dotzler näher ins Blickfeld. Seine Analyse beruht auf philosophischen, soziologischen, semiotischen und Medientheorien. Als Basis seiner Untersuchung dienen ihm Schriften von Friedrich A. Kittler und Jean Baudrillard. Dotzlers Ausgangsthese fußt in erster Linie auf der Haupterkenntnis Kittlers in seiner Untersuchung Aufschreibesysteme 1800/1900, die besagt, daß um das Jahr 1800 Buchstaben zur Erzeugung von Literatur genutzt wurden, die Halluzinationen wie Filme hervorrufen und aus welcher philosophische Erkenntnisse gewonnen werden können. „Mit der Dichtung der Goethezeit beginnt, daß Literatur sich verwirklicht, indem sie sich gleichzeitig als Literatur signalisiert”.127 Um 1900 setzt im Zuge der Technik (z. B. die Erfindung von Grammophon und Film) eine Veränderung im Aufschreibesystem ein, die dadurch gekennzeichnet ist, daß die Schrift jetzt nur noch ausschließlich zum Zweck der Literatur und der Psychoanalyse Verwendung findet. Daraus ergibt sich in letzter Konsequenz schließlich auch, wie beispielsweise Erich Auerbach und Roland Barthes feststellen, daß die Literatur nur noch in Zitaten und Wiederholungen aufgeht und sich in einem sogenannten „Nullzustand” befindet und zum „Objekt“128 geworden ist: Die neue, neutrale Schreibweise steht inmitten dieser Schreie und Urteile, ohne an ihnen teilzunehmen, sie besteht gerade aus deren Abwesenheit; doch diese Abwesenheit ist vollständig, sie birgt keinen Zufluchtsort und kein Geheimnis. Man kann also nicht sagen, daß diese Schreibweise unempfindlich und gefühllos sei, sie ist nur unschuldig. Es handelt sich darum, über Literatur hinauszugehen, indem man sich einer Art Basis-Sprache anvertraut, die von den lebendigen Sprachen ebenso weit entfernt ist wie von der eigentlichen Literatursprache.129 Nach Michel Foucault hat die Literatur den Zustand erreicht, in welchem sie „nichts anderes mehr zu sagen hat als sich selbst, nichts anderes zu tun hat, als im Glanz ihres Seins zu glitzern”.130 Dotzler zufolge existiert in den Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull kein Widerspruch zwischen Form und Inhalt, den Hochstapeleien Krulls und seiner vollendeten Schreibkunst, sondern die Identität des Betrügers geht mit dem Betrug seiner Erzäh127 Dotzler: Der Hochstapler, S. 15. Barthes: Am Nullpunkt der Literatur, S. 89. 129 Ebd., S. 11-12. 128 62 lung eine Synthese ein. Der Betrug behaupte eine Differenz, die nicht vorhanden ist, indem er sich als Dichtung gibt. Er kommt deshalb zu dem vernichtenden Urteil, daß „die Bekenntnisse Krulls, die der eigenen Vorgabe zum Trotz das Wort so sehr pflegen, nicht mehr und nicht weniger als ein Nullsummenspiel der Literatur”131 seien, da kein Mehrwert von Sinn erzeugt werde. In einem Aufschreibesystem, das von klassisch-romantischer Poesie weit entfernt ist, versuche Thomas Mann zu bestehen, indem er die Dichtung inszeniert und ihr damit jedoch gleichzeitig eine Absage erteilt. Auch die klassische Kategorie des Bildungsromans, der die Buddenbrooks zugeordnet werden, gehört laut Dotzler der Vergangenheit an und erlebt ihre Renaissance nur in der Parodie, getreu der Devise von Baudrillard: „[...] jedes Ereignis findet einmal historisch statt, um dann in parodistischer Form wiederzukehren”.132 Im Zuge der neuen kulturellen Entwicklung verändert sich laut Dotzler auch das Abbildungsproblem in der Art, daß die Abbildungen nicht mehr Darstellung durch Nachahmung sein können, sondern „Simulation statt Mimesis” sind. Nach Dotzlers Ansicht bedeutet die Absage an die Mimesiskategorie und stattdessen die Hinwendung zu Simulationen und Simulakren jedoch keineswegs den Verlust der Realität. Es stelle sich deshalb die Frage, wo und wie die Literatur sich simuliert. An Thomas Manns Werken lasse sich die Ordnung der Simulakren sehr gut ablesen: Einer, der die Erfahrung des fin de siècle ebenso teilt wie er von der imitatio Goethes als Schaffensprinzip nicht lassen will, ist bekanntlich Thomas Mann. Der Niedergang Des Dichters heißt ihm die Chance, den leer gewordenen Platz zu besetzen, und das Problem, worin solche imitatio überhaupt noch bestehen könne. [...] An der Schwelle zur nächsten Stufe der Simulakren, die durch den Einbruch der neuen Medientechniken bestimmt ist, sucht Thomas Mann seinen Bestand, indem er in der Bezugnahme auf Goethe oder die Vergangenheit zugleich den zeitgenössischen Vorgaben zu entsprechen versucht.133 Die Lösung dieses Problems liegt nach Dotzlers Meinung in der „offenkundigen Simulation der Dichtung mit den anderen Mitteln der neuen Literatur”.134 Thomas Mann implementiere sich zwar ins Aufschreibesystem von 1900, „weil es nicht tun der Nichtexistenz im Zeitgenössischen gleichkäme”, aber trotzdem versuche er dabei die Architektur der 130 Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 366. Dotzler: Der Hochstapler, S. 41. 132 Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod, S. 62. 133 Dotzler: Der Hochstapler, S. 23. 134 Ebd., S. 23. 131 63 Dichtung zu simulieren bzw. zu imitieren.135 Unter Architektur versteht Dotzler das System Dichtung. Thomas Manns Implementierung ins zeitgenössische Aufschreibesystem bedeutet für Dotzler, daß er aktuelle Diskurse oder Moden wie z. B. die Betonung der technischen Niederlegung von Schrift, Elemente von Detektiv- bzw. Kriminalromanen oder die Wechselbeziehungen von Schreiben und Wahnsinn berücksichtigt. Diese „Schnittstellen“ offenbaren die Simulation. Genauso wie ein Jahrhundert vorher vermögen Manns Texte, die von der philosophisch dominierten Literaturwissenschaft erwarteten Antworten zu geben. Im Mittelpunkt steht die Wirklichkeitserfahrung und die Ausweisung der Dichtung als Medium der Wahrheitsfindung, um „existentielle Scheinhaftigkeit durch ästhetischen Schein zu enthüllen“.136 Diese Kunst wird vielleicht am unmittelbarsten in den Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull verkörpert. Die prekäre Situation, in der Sprache der Literatur die Wahrheit seines Lebens erzählen zu wollen, werde allein durch den Trug selber oder die Simulation gelöst, so Dotzler. Deshalb bezeichne Krull auch schon die Vollendung im Betrug als die Wahrheit seiner Bekenntnisse: Was aber meine natürliche Begabung für gute Form betrifft, so konnte ich ihrer, wie mein ganzes trügerisches Leben beweist, von jeher nur allzu sicher sein und glaube mich auch bei diesem schriftlichen Auftreten unbedingt darauf verlassen zu können. Übrigens bin ich entschlossen, bei meinen Aufzeichnungen mit dem vollendetsten Freimut vorzugehen und weder den Vorwurf der Eitelkeit noch den der Schamlosigkeit dabei zu scheuen. Welcher moralische Wert und Sinn wäre auch wohl Bekenntnissen zuzusprechen, die unter einem anderen Gesichtspunkt als demjenigen der Wahrhaftigkeit abgefaßt wären! (GW, IX, S. 266) Felix, der selbst ein „personifiziertes Simulakrum”137 darstellt, gibt auch den Bericht seines Simulanten-Daseins als reine Simulation. Den Lesern bleibe es verschlossen, ob der Betrug die Wahrheit über die Autobiographie oder die Autobiographie die Wahrheit über allen Betrug ist. Bereits das erste Buch der Bekenntnisse ist nach Auffassung von Dotzler durch die Doppeldeutigkeit der Simulation gekennzeichnet; zum einen spiele die Technik der Niederschrift eine Rolle, gleichzeitig komme aber auch der Schein der Dichtung zum Ausdruck: 135 Ebd., S. 39. Anton: Die Romankunst Thomas Manns, S. 48. 137 Dotzler: Der Hochstapler, S. 42. 136 64 Indem ich die Feder ergreife, um in völliger Muße und Zurückgezogenheit – gesund übrigens, wenn auch müde, sehr müde (so daß ich wohl nur in sehr kleinen Etappen und unter häufigem Ausruhen werde vorwärtsschreiten können), indem ich mich also anschicke, meine Geständnisse in der sauberen und gefälligen Handschrift, die mir eigen ist, dem geduldigen Papier anzuvertrauen, beschleicht mich das flüchtige Bedenken, ob ich diesem geistigen Unternehmen nach Vorbildung und Schule denn auch gewachsen bin. Allein da alles, was ich mitzuteilen habe, sich aus meinen eigensten und unmittelbarsten Erfahrungen, Irrtümern und Leidenschaften zusammensetzt und ich also meinen Stoff vollkommen beherrsche, so könnte jener Zweifel höchstens den mir zu Gebote stehenden Takt und Anstand des Ausdrucks betreffen, und in diesen Dingen geben regelmäßige und wohlbeendete Studien nach meiner Meinung weit weniger den Ausschlag als natürliche Begabung und eine gute Kinderstube. (GW, IX, S. 265) Dotzler macht darauf aufmerksam, daß „diese Kinderstube wenig mit dem mutterzentrierten Zuhause der Dichtung gemein hat”,138 im Gegenteil die Beziehung zur Mutter keinen zentralen Platz in Krulls Leben einnimmt. Im Widerspruch zu den Bedingungen der Dichtung herrsche das Vergessen statt der Erinnerung, ist doch auch immer die Rede von „Schlummer und Halbschlummer” in „zehn-, zwölf-, ja vierzehnstündiger Versunkenheit” (GW, VII, S. 270). Von seiner Mutter spricht Felix im weiteren Bericht seines Lebens kein einziges Wort mehr. Ebenfalls der Begriff „Bekenntnisse” berge laut Dotzler eine Doppeldeutigkeit in sich. So kann er zum einen als Aussage oder Geständnis die Enthüllung vergangener Ereignisse oder aber auch als Erwartung zukünftiger verstanden werden. Dotzler kommt zu der erstaunlichen Erkenntnis, daß die Simulation im rein technischen Sinn hinsichtlich ihrer Funktionsweise und deren Analyse jenseits aller Intention steht und schließt damit an Ausführungen Baudrillards an, daß erst die Dissimulation des ’Nichts‘ die Wahrnehmung der Simulation gestattet: Erst die Dissimulation bringt sie ins Spiel, und mit ihr all ihre Fallen oder: den Selbstbetrug. Er allein produziert den „Simulakrum-Effekt”, der auch seinen Erfinder nicht wissen läßt, zu welchem Ende das ganze Spiel führt. Denn ob der Roman die dichterische Parodie von Literatur oder die literarische Simulation von Dichtung ist, macht nach Inhalt und Form kaum einen Unterschied. Erst wenn man die Parodie oder Simulation, die er ist, auf ihre Implementierung hin analysiert, gerät sein offenbares Geheimnis in den Blick. Es sind die Ränder, die seine Beschaffenheit verraten.139 Das heißt, erst die einzelnen bewußten Verheimlichungen und Vortäuschungen im Roman, wie z. B. die Musterungsszene, der Rollentausch mit Marquis de Venosta, das Violinenspiel als achtjähriger Knabe oder auch die Fälschung der väterlichen Unterschrift, machen die Simulation als ganzes im Roman sichtbar. Die verschiedenen Betrügereien im Buch der 138 Ebd., S. 43. 65 Kindheit bilden nur die Voraussetzung für die letztendliche Simulation im großen Rahmen, die im Rollentausch mit Venosta besteht und gleichzeitig Krulls kindliche Erhöhungsträume widerspiegelt. Dann macht es auch, wie Dotzler richtig anmerkt, keinen Unterschied, „ob der Roman die dichterische Parodie von Literatur oder die literarische Simulation von Dichtung” ist. In diesem Zusammenhang nennt er zwei Aspekte, die seiner Meinung nach die Ursache für die Existenz der Bekenntnisse Krulls darstellen: „Schule und Wahnsinn”. Was die Schule betrifft, habe sich Ende des 18. Jahrhunderts eine grundlegende Veränderung vollzogen. Der Deutschaufsatz stand nun im Mittelpunkt der gymnasialen Schulbildung, wobei im Deutschunterricht jedoch nicht mehr das Verstehen von Dichterworten gelehrt wurde, sondern in erster Linie das „selbst Wörter machen” ins Zentrum rückte. Wichtiger als die Behandlung des Schreibens waren beispielsweise die Aufzeichnungen eines fiebernden Schülers über sein Fieber als freies Aufsatzthema, was richtungsweisend für die Wertigkeit und Aussagekraft von Literatur ist, denn auch diese nähert sich der Devise „ich schreibe und ich deliriere”.140 „Romangeistesstörungen” spielen demnach in einem Niemandsland, das weder von unmittelbar zugänglichen Seelenwahrheiten noch von kontrollierten Experimenten beglaubigt wird. Sein Name ist Simulakrum. Schriftsteller, die simulieren, psychiatrisch informiert zu sein, beschreiben Personen, die psychiatrisch einfach Simulanten sind. Die referenzlose Simulation löst die alte Verbindung von Wahnsinn und Krankheit auf, um eine ganz andere herzustellen: die Verbindung von Wahnsinn und Schreiben.141 Kittler kritisiert hier die referenzlose Simulation, die keineswegs die Funktion einer Wiederherstellung der romantischen Nähe zwischen Künstlern und Wahnsinnigen hat und somit auch keinen Gegenpol zum Bildungsbürgertum entstehen läßt. Die psychophysischen Phänomene besäßen in der literarischen Simulation keine Referenz, zumal sie meistens ohne Sinn sind. Konsequenterweise verliere die Literatur damit ihre klassischen Merkmale, unmittelbar aus der Natur und Seele zu schöpfen sowie philosophische und der Erkenntnis der Welt dienende Impulse zu geben. Stattdessen werde sie zu „Sekundärliteratur im strikten Wortsinn” und sei vom „allgemein Menschlichen” getrennt.142 Die Dichtung galt als veraltet, indem das Fach Deutsch ins Zentrum allen Unterrichts gerückt worden ist. Wer dennoch wie Felix Krull den Anspruch erhebt, Dichtung zu vollbringen, und sei es auch nur dem Schein nach, der muß sich selbst zum Jenseits der 139 Ebd., S. 50. Ebd., S. 50-52. 141 Kittler: Aufschreibesysteme, S. 314. 142 Ebd., S. 314. 140 66 bringen, und sei es auch nur dem Schein nach, der muß sich selbst zum Jenseits der Schule machen. In diesem Sinn liest Dotzler den Hochstapler-Roman als Produkt des zeitgenössischen Schreibens. Der Wahnsinn werde simuliert, als vorgetäuschte Dichtung und Flucht in die Krankheit, so daß das eigene Schreiben nicht vom Wahnsinn erfaßt werden kann. Die bravouröse Täuschung bei der Musterung bedeutet nicht nur „die Überwindung der letzten Barriere vor dem Eintritt ins neue und große Leben” als „endgültige Probe auf Krulls Überlistungskünste”, sondern spiegelt nach Dotzlers Ansicht gleichzeitig auch das Erzählprinzip des Romans wider, welches aus einer gleichmäßigen Abwägung zwischen Geheimhaltung und Mitteilung besteht.143 Damit der Roman nicht selbst als „Simulakrum von Wahnsinn”144 betitelt werden muß, erzählt dieser selbst schon die „Simulation als Simulation”, was Härle auch schon im kleineren Rahmen auf der körperlich-geistigen Ebene verdeutlichte. Interessant ist, daß der Arzt bei der Musterung Felix ein Leiden an „sogenannten Äquivalenten” bescheinigt, was Dotzler als Zustand eines Textes auslegt, „der sich an der Gleichung von Literatur und Dichtung versucht”.145 Während Dotzler die Bekenntnisse unter dem Aspekt der referenzlosen Simulation, d. h. ohne die Probleme des Erzählers oder speziell des Körpers des Erzählers zu berücksichtigen, betrachtet, versucht Härle die Simulation gerade im Hinblick auf die Veränderungen des Körpers zu erklären, die wiederum durch den Zustand der Seele hevorgerufen werden. Dabei spielt das autobiographische Element eine wichtige Rolle, da für Härles Untersuchung u. a. die Ausprägung der Homosexualität bei Thomas Mann eine Ausgangsbasis bildet, um die Scheinhaftigkeit von Felix Krull daraufhin näher zu beleuchten. 3. Verschiedene Ausprägungen der Simulation im Felix Krull 3.1 Simulation einer ’Körperkatastrophe‘? Wenn der Mensch lacht oder weint, befindet er sich laut Helmuth Plessner in einem desorganisierten Verhältnis zu seinem Körper. In bestimmten Situationen gibt es keine ’sinn-volle‘ Möglichkeit zu reagieren, der Körper kapituliert, und der Mensch verfällt ins Lachen oder Weinen. Die Ursache hierfür sieht Plessner in einer Doppelrolle, mit der sich 143 Dotzler: Der Hochstapler, S. 53. Kittler: Aufschreibesysteme, S. 311. 145 Dotzler: Der Hochstapler, S. 53. 144 67 oder Weinen. Die Ursache hierfür sieht Plessner in einer Doppelrolle, mit der sich der Mensch arrangieren muß: Er hat einen Leib und ist zugleich Körper, d. h. er muß versuchen, die Kontrolle über seinen Körper zu bewahren, ist aber nicht unter allen Umständen dazu in der Lage, weil der Lachende bzw. Weinende ‚aus der Rolle fällt‘, indem er die Selbstbeherrschung verliert. Obwohl die Leib-Seele-Einheit aufgelöst ist, weiß der Mensch in dieser Grenzreaktion noch eine Antwort und verliert nicht den Kopf. Der Körper kapituliert, aber nicht die Person.146 Die eruptiven Ausdrucksweisen des Lachens und Weinens sind durch ihre Undurchsichtigkeit gekennzeichnet, da sie keine symbolische Ausprägung zeigen. Auch im Zusammenhang mit der Simulation kann man nur eingeschränkt von Transparenz sprechen. Aufgrund der Ausführungen Härles zur Simulation als Schein, lassen sich sehr schnell Parallelen zu den beiden anderen Ausdrucksmöglichkeiten feststellen. Für Härle bedeutet die Simulation ebenfalls eine zwanghafte Reaktion, die durch ein gestörtes Verhältnis zwischen Geist und Körper hervorgerufen wird. Da die Seele schwächer als der Leib sei, müsse der Körper das seelische Leiden in Form der Simulation kompensieren, z. B. in der Vortäuschung einer Krankheit. Auf den ersten Blick scheint Felix Krull in negativer Hinsicht einen epileptischen Anfall zu simulieren, um dem Militärdienst zu entgehen. Härle definiert diese Art der Vortäuschung jedoch als eine positive Reaktion, da ein „guter Wille“ dahinter verborgen liegt und die Simulation Ausdruck seines wahrhaftigen Empfindens ist. Diese Wahrhaftigkeit findet ihre Bestätigung darin, daß sie wie das Lachen einen eruptiven Charakter besitzt. Nur Gefühle, die sich entlang der Grenze zwischen Sinn und Nicht-Sinn bewegen, bewirken nach Plessner den kurzzeitigen Verlust der Gewalt über den Körper. In der Musterungsepisode wird deutlich, daß sich auch Felix in einer Doppelrolle befindet, die Plessner als „exzentrische Position“147 bestimmt. Er findet sich in einer Situation wieder, die ihm bewußt macht, daß er seinen Körper als Instrument benutzen kann. Felix Krull hat sich zwar auf sein Täuschungsvorhaben bei der Musterung akribisch vorbereitet, aber trotzdem überfällt es ihn plötzlich, da er sich die ganze Zeit vor seinem Eintreten in das 146 Vgl. Plessner: Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens. In: Gesammelte Schriften, Bd. VII, S. 276. 147 Ebd., S. 236. Vgl. auch Plessner: Die Sphäre des Menschen. In: Gesammelte Schriften Bd. IV: „Ihm ist der Umschlag vom Sein innerhalb des eigenen Leibes zum Sein außerhalb des Leibes ein unaufhebbarer Doppelaspekt der Existenz, ein wirklicher Bruch seiner Natur. Er lebt diesseits und jenseits des Bruches, als Seele und als Körper und als die psycho-physisch neutrale Einheit dieser Sphären. Die Einheit überdeckt jedoch nicht den Doppelaspekt, sie läßt ihn nicht aus sich hervorgehen, sie ist nicht das den Gegensatz versöhnende Dritte, das in die entgegengesetzten Sphären überleitet, sie bildet keine selbständige Sphäre.“ 68 Sitzungszimmer in äußerster Anspannung befand, die sich irgendwann lösen mußte. Im Gegensatz zum Lachen, das den Betroffenen völlig unvorbereitet befällt, bedarf es zu einer erfolgreichen Simulation einer langwierigen Konzentrationsphase. Trotz dieser offensichtlichen Differenz sind Felix’ Täuschungsmanöver, ebenso wie das Lachen oder Weinen, als eine eruptive und zwanghafte Ausdrucksäußerung zu begreifen. Die Ursache hierfür liegt in der von Härle erwähnten Verbergung eines „Defekts“, der Körper und Geist in eine Desorganisation bringt. Diese Zerstörung der Ordnung wird durch eine Konfrontation mit einem Konflikt hervorgerufen, dem man nicht mehr nur mit emotionalen Ausdrucksgebärden begegnen kann. Beim Lachen besteht eine Verbindung zwischen dem Lachenden und einer bestimmten Situation, die jedoch gleichzeitig als ein Widerstand fungiert: „Bestimmungen wie Ambivalenz, Mehrdeutigkeit, Mehrsinnigkeit, Sinnüberkreuzung sind auf diesen Antagonismus zwischen Bindung und Unbeantwortbarkeit bezogen“.148 Krulls Rollenwechsel zeigen ihn permanent in ambivalenten und mehrdeutigen Situationen, so daß eine Simulation notwendig scheint, um den körperlich-geistigen Dualismus aufzuheben. Der eruptive Ausbruch des epileptischen Anfalls, dessen Ursache für Härle in Felix’ seelischen Wunden zu suchen ist, könnte jedoch auch eine ’wahre‘ Simulation anzeigen, d. h. die bewußte Täuschung der Musterungskommission bedeuten. In beiden Fällen wird eine ’Körperkatastrophe‘ simuliert, jedoch unter verschiedenen Vorzeichen. Nach Härles Ansicht provoziert ein „verborgener Defekt“ den plötzlichen Ausbruch, der sich durch Felix’ intensives Studium von medizinischen Abhandlungen über die Symptome der epileptischen Krankheit ankündigt. In diesem Fall würde die Simulation ein zwanghaftes Verhalten darstellen, das keine symbolische Ausprägung besitzt, d. h. die Entwicklung der ’Körperkatastrophe‘ äußerlich nicht zu erkennen ist. Bei einer ’reinen‘ Simulation steht dagegen der Abbildungsprozeß zur Herstellung einer Ähnlichkeitsbeziehung zur Realität im Vordergrund, während die Bezugnahme zur psychischen Struktur des Simulierten ausgeblendet wird bzw. in den Hintergrund gerät. Der Oberstabsarzt E. Heller verfaßte im Jahre 1890 eine Abhandlung zur Behandlung von Simulationen, worin er sich besonders mit den Simulanten bei der Musterung für den Militärdienst beschäftigte. Darin konstatiert er, daß Wechsel und Widerspruch in den Angaben und im Verhalten des angeblich Kranken zur Entlarvung des Simulanten führen. Diese Unregelmäßigkeiten treten besonders bei „ [...] entzündlichen und nach Verlet(S. 365) 69 zungen entstandenen Leiden, sowie angebliche Fehler der Sinnesorgane“149 auf. Gleichfalls bemerkt er, daß eine Simulation vorliegt, wenn der Patient nach der Vortäuschung des epileptischen Anfalls sofort wieder ansprechbar ist und vollkommen aufgeräumt wirkt. Diesen Hinweis beherzigt Felix nicht, weshalb der Unterbefehlshaber auch seine Simulation erkannt hat. Auf Grund des überfallartigen Eintretens des Anfalls, konnte Felix das Spiel jedoch gewinnen. Nach den Untersuchungen Hellers zufolge müßte Felix’ Motto der freien Willensbestimmung als reine Fiktion bezeichnet werden. Bei einer „einzelnen That wirken die angesammelten Vorstellungsmassen in unserem Gehirn, zu denen im Moment der Entscheidung der Mensch nichts hinzuthun oder wegnehmen kann, bestimmend“.150 Heller widerspricht auch den „Specialärzten“, „dass Simulation von Geisteskrankheit bei einem geistig ganz Gesunden gar nicht vorkomme. Wie bequem wäre es für die Herren Hallunken, wenn alle Gerichtsärzte diese Ansicht theilten!“151 3.2 Schulkrankheit Die Diagnose der Schulkrankheit bei Felix durch den Sanitätsrat Düsing ist exemplarisch für den Umgang des Autors mit seinen Lesern. Der Erzähler gibt ihnen keine Chance, die Simulation zu durchschauen. Entweder er fällt auf Felix herein, ähnlich wie seine Mutter und Doktor Düsing, oder er läßt sich auf das Spiel ein. Wenn die Leser starr und phantasielos bleiben, verfallen sie genauso der Lächerlichkeit wie Düsing. Sanitätsrat Düsing, den Felix als „dumm und streberisch“ bezeichnet und der seinen Titel nur durch persönliche Bekanntschaften erworben hat, ließ den einflußreichen und wohlsituierten Patienten eine bessere Behandlung zukommen und war deshalb auch Hausarzt bei der Familie des Schaumweinfabrikanten. Durch seine „plumpe Lebensklugheit“ erkannte der Arzt durchaus Felix’ Simulation und wollte mit ihm gemeinsame Sache machen. Felix kam ihm jedoch keinen Schritt entgegen, so daß er gezwungen war, mit Hilfe der Schulmedizin Felix’ Fieber, Migräne und Brechkrämpfe einer Krankheit zuzuordnen 148 Plessner: Lachen und Weinen, S. 328. Heller: Simulationen und ihre Behandlung, S. 6. 150 Ebd., S. 57. 151 Ebd., S. 56. 149 70 und dementsprechend eine Behandlung vorzuschlagen. Felix beklagt die Phantasielosigkeit der Mediziner, wodurch sie äußerst leicht zu täuschen seien: Selbstverständlich macht der ärztliche Berufsstand von anderen keine Ausnahme darin, daß seine Angehörigen ihrer überwiegenden Mehrzahl nach gewöhnliche Hohlköpfe sind, bereit, zu sehen, was nicht da ist, und zu leugnen, was auf der Hand liegt. Jeder ungelehrte Kenner und Liebhaber des Leibes meistert sie im Wissen um seine feineren Geheimnisse und führt sie mit Leichtigkeit an der Nase herum. Der Katarrh der Luftwege, den man mir zusprach, war von mir gar nicht vorgesehen und nicht einmal andeutungsweise in meine Darstellung aufgenommen. Da ich den Sanitätsrat aber einmal gezwungen hatte, seine ordinäre Annahme, ich sei »schulkrank«, fallenzulassen, so wußte er nichts Besseres, als daß ich die Grippe haben müsse, und um diese Bestimmung aufrechterhalten zu können, verlangte er, daß ich Hustenreiz verspürte, und behauptete, daß meine Mandeln geschwollen seien, was ebensowenig der Fall war. (GW, IX, S. 304-305) Die Leserin hofft ebenfalls, daß ihr Felix entgegenkommt und seine Simulation offen darlegt. Stattdessen besteht Felix darauf, daß die Leserin mitarbeitet, und somit wird es ihr überlassen, wie weit sie mitspielt. Sie kann sich bei Felix’ Ausführungen nicht mehr sicher sein, wobei es sich innerhalb der Realität des Textes um Imaginationen des Hochstaplers handelt und wie sich nicht simulierte Handlungen des Simulanten zu erkennen geben. Laut Jürgen H. Petersen fungiert Fiktionalität lediglich als ein Redestatus, d. h. wenn dieser Kontrakt zwischen Leserin und Autor hergestellt ist, verfügt die Leserin zwar über das Wissen, daß es sich um einen fiktionalen Text handelt, behandelt ihn aber trotzdem als eine realistische Möglichkeit. Felix Krull verunsichert die Leserin also nicht nur durch die scheinbare Authentizität seiner Bekenntnisse, sondern auch durch sein unendliches Spielen. Aber nicht nur das rhetorische Schema von simulatio-dissimulatio mit Bedeutung der Vortäuschung, sondern auch die Baudrillardsche Simulationstheorie in Form einer Neuschöpfung finden wir im Felix Krull. Ich hatte die Natur verbessert, einen Traum verwirklicht, - und wer je aus dem Nichts, aus der bloßen inneren Kenntnis und Anschauung der Dinge, eine zwingende, wirksame Wirklichkeit zu schaffen vermochte, der kennt die wundersame und träumerische Zufriedenheit, mit der ich damals von meiner Schöpfung ausruhte. (GW, IX, S. 302) Selbstverständlich bleibt hier wieder die Simulation mit der Mimesis verbunden, da Felix die Verbesserung der Natur nicht aus dem Nichts erschaffen hat, sondern nur unter Voraussetzung der „Kenntnis und Anschauung der Dinge“. Während Baudrillard die Simulation auf der Ebene des inflationären Zeichengebrauchs betrachtet, bezieht sich Felix’ 71 Schöpfung auf Schopenhauers Willensmetaphysik und Traumpsychologie. Aber kann man überhaupt noch von Simulation sprechen, wenn Felix seinen Traum in die Wirklichkeit hinüberrettet, oder ist es nicht vielmehr nur der freie Wille, der hierbei zu Tage tritt? Die Verwirklichung des Traumes kann nicht als eine Simulation gelten, sondern nur der Weg dorthin wird von Täuschungen begleitet. E. Heller vergleicht die Simulanten mit Schauspielern: Die Verbrecher suchen sich meistens in recht drastischer Weise als Geisteskranke zu produciren. Hatten sie Gelegenheit, einen Geisteskranken zu beobachten, so copiren sie denselben zuweilen mit vielem Geschick. In der grossen Mehrzahl der Fälle aber ist ihr Benehmen in Folge der Unkenntniss der wirklichen Symptome ein solches, dass sie von dem erfahrenen Irrenarzt bald als Betrüger erkannt werden, denn sie stellen die Geisteskrankheit gewöhnlich so dar, wie es der Schauspieler auf der Bühne thut und wie sie sich der Laie vorzustellen pflegt, d. h. sie übertreiben sichtlich die einzelnen Symptome, sie glauben nicht unsinnig genug erscheinen zu können.152 Neben der Übertreibung nennt Heller vor allen Dingen die „Inconsequenz“, die zur Entlarvung der Simulanten führt. Da die Vortäuschung einer Krankheit sehr schwer durchzuhalten sei, fallen die ’Patienten‘ bei längerer Beobachtung häufig aus der Rolle. Das wäre dann eine entgegengesetzte Reaktion zu Plessners Lachtheorie, wonach der Lachende aus der Rolle fällt und dann wieder seine alte Rolle spielt. Der Mensch wird vom Lachen überfallen, wenn er auf einen plötzlichen Widerstand stößt. Bemerkt der Simulant, daß er keinen Glauben findet, kann er seine Täuschungsstrategie nicht durchhalten und fällt in sein altes Rollenschema zurück. In diesem Fall kann man natürlich nicht von einem eruptiven Anfall bzw. der Simulation einer ’Körperkatastrophe‘ sprechen, da die Krankheitssymptome über einen längeren Zeitraum vorgetäuscht und dem angeblichen Leidenszustand ständig neu angepaßt werden müssen. 3.3 Rhetorische Simulation Wie läßt sich Felix’ Simulation auf der rhetorischen Ebene erkennen? Er verwendet sowohl die simulatorische als auch dissimulatorische Ironie, d. h. er täuscht etwas NichtVorhandenes vor, verbirgt aber auch bestimmte Tatsachen. Gegenüber Miss Eleanore Twentyman verheimlicht Felix seine eigenen Überzeugungen, wenn er ihre Liebe zu ihm 72 zu beschwichtigen sucht, indem er sie auf das „gesellschaftliche Naturgesetz“ (GW, IX, S. 487) hinweist, das es ihr verbietet, an einen Kellner ihr Herz zu verschenken. Er grenzt sich also bewußt von der jungen Engländerin ab, um seinen Weg als Simulant weiter zu verfolgen. Die Befähigung zur Simulation erfordert ein „Ich“, das souverän Grenzen zieht und sich durch seine spezielle Befähigung zur doppelten Negation aus dem Einerlei der Kommunikation heraushebt. Im komplizierten Verfahren der Simulation entsteht durch die auffällige Redefigur der doppelten Negation und die Schmucklosigkeit der lakonischen Sprache ein unverwechselbar „authentischer Personalstil“ [...]153 Das „intuitive und selbstverständliche Wissen um Pluralität und persönliches Andersseinkönnen“ führt immer auch zur „Ironisierung des personalen Seinkönnens“.154 Wenn man sich die Begegnung zwischen Felix (Armand) und der jungen Miss Eleanore Twentyman noch einmal detaillierter vor Augen führt, wird das ironische Spiel deutlich. Felix verbirgt in Gegenwart der jungen Engländerin, daß ihm ihr Werben durchaus schmeichelt. Er muß die Strategie der Dissimulation anwenden, die in das Gebiet der „handlungs-taktischen“ Ironie hineinreicht, um Miss Twentyman zu täuschen und die Höflichkeitsform zu wahren. Da bei Felix’ Äußerung jedoch keine Ironiesignale gesetzt werden, erkennt sein Gegenüber die Ironie nicht, bleibt unwissend und versteht die Erklärungen als ’wahrhaftige Rede‘. Während die Dissimulation eingesetzt wird, folgt gleichzeitig auch die Simulation, da im Moment der Verheimlichung der eigenen Überzeugung logischerweise auch eine falsche Überzeugung vorgetäuscht wird. Es besteht jedoch ein Unterschied, ob die Dissimulation der Simulation vorangeht oder umgekehrt. Felix’ Intention impliziert in erster Linie die Strategie der Dissimulation, indem er zu Eleanore sagt: Ich habe Ihnen doch so herzlich vor Augen gehalten, wie unnatürlich es ist für die Tochter eines durch Reichtum hochgestellten Elternpaars wie Mr. und Mrs. Twentyman, sich in den ersten besten Kellnerburschen zu vernarren. Es ist die reine Verirrung, und sollte sie auch ihrer Natur und Anlage entsprechen, so müssen Sie sie doch um des gesellschaftlichen Naturgesetzes willen überwinden. (GW, IX, S. 487) Nur für Eleanore bleibt das Ironiesignal unsichtbar. Würde Felix jedoch in mimetischschauspielerischer Weise ihre Liebeserklärung imitieren, wäre die Ironie durchsichtig und die Simulation rückte an die erste Stelle. Das Ziel bleibt in beiden Fällen stets das gleiche, 152 Ebd., S. 46. Lethen: Verhaltenslehren der Kälte, S. 176. 154 Oesterreich: Fundamentalrhetorik, S. 138. 153 73 nämlich Eleanore von ihrem Fehlverhalten zu überzeugen, und dazu ist „der Schein der lebensweltzugehörigen und inartifiziell gewonnenen Authentizität notwendig“.155 Der Schein der Authentizität ist es, der die Ironiesignale verdeckt. Auf Grund der vielen Rollenwechsel von Felix wird man als Leserin in ein Chaos getrieben, das scheinbar keine Entschlüsselung des Rätsels zuläßt. Wir wissen aber trotzdem, daß es sich um Simulation handelt, weil Felix Krull nur simuliert. Er, der von sich selbst sagt, daß bei ihm die „unmaskierte Wirklichkeit“ und damit das „Ich-selber-Sein“156 nicht vorhanden ist, befindet sich in einer permanenten Rollenexistenz, die ihm, ähnlich einem Schauspieler, die Übersteigerung der Realität ermöglicht. Der Unterschied zum Schauspieler besteht lediglich darin, daß der Hochstapler sich in der ’Wirklichkeit‘ bewegt und somit das Rollendasein ein Doppelungscharakter trägt, welcher dann die Simulation im eigentlichen Sinne bewirkt. 3.4 Literarische Simulation Dadurch, daß die Simulation im Felix Krull selbst thematisiert wird, ist es schwierig, von der Simulation als Literarizität stiftendes Element abzusehen. Sie muß aber vorhanden sein, da wir es sonst ’lediglich‘ mit einer intellektuellen Kriminal- bzw. Hochstaplergeschichte zu tun hätten. Erst durch die komplizierte Einbindung der verschiedenen Täuschungsstrategien in Form von Ironie und Simulation entsteht ein komplexes Geflecht aus Kriminalerzählung, Autobiographie, Memoiren, Bildungsroman sowie ironisch-humoristischem Roman. Während in einem ’einfachen‘ literarischen fiktionalen Text die Dissimulation vorherrscht, wobei das Realitätsprinzip bestehen bleibt, d. h. die Differenz zwischen Realem und Imaginärem klar erkennbar ist und lediglich von der Maske der Fiktion verdeckt wird, befindet sich in einem ’Simulationsroman‘ die Differenz zwischen Realität und Imagination in einem steten Schwebezustand. In einem ’Fiktionsroman‘ dominiert der „Akt des Fingierens“,157 der laut Iser für die Darstellung bzw. Abbildung der Realität als Zeichen prägend ist und das Imaginäre in scheinbar reales Geschehen überführt. Simulation existiert hier nur als Modell der Realität, um eine vereinfachte Darstellung der Wirklichkeit zu 155 Ebd. Vgl. oben, S. 51. 157 Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 18. 156 74 repräsentieren, die von Platon als Mimesis mit Täuschungscharakter verstanden wurde. Aristoteles, der später die Mimesis liberalisierte und den Dichter höher bewertete als den Geschichtsschreiber, da er die Möglichkeiten beschrieb, was geschehen könnte, also über die bloße Abbildung hinausging, betrachtete die Texte der Dichter als Transformation der Realität, als Fiktion, was mit Isers „Überführung der Realität zum Zeichen“158 übereinstimmt. In den Bekenntnissen wird die wiederholte Realität, die im „Akt des Fingierens“ als Zeichen auftritt, nicht einfach abgebildet und mit Imaginationen kombiniert, sondern sie wird zusätzlich problematisiert und deshalb im Zuge der Fiktionalisierung auch gleichzeitig simuliert, um im Spiel die Täuschungen aufzudecken. Nach der Irrealisierung der lebensweltlichen Realität zum Zeichen sowie der Überführung des Imaginären in bestimmte Vorstellungen findet eine dritte Grenzüberschreitung statt, bei der wechselweise plötzlich die Vorstellungen als virtualisierte Realität erscheinen können oder die Realität durch ihre Zeichenhaftigkeit als bloße Imagination enttarnt wird. Wie anders ließe sich sonst folgende Szene im Zug nach Paris, in dem es zu einer sonderbaren Begegnung zwischen dem Schaffner und Felix kommt, deuten: „Nach Paris?“ fragte er, obgleich mein Reiseziel ja klar und deutlich war. „Ja, Herr Inspektor“, antwortete ich und nickte ihm herzlich zu. „Dahin geht es mit mir.“ „Was wollen Sie denn da?“ getraute er sich weiter zu fragen. „Ja, denken Sie“, erwiderte ich, „auf Grund von Empfehlungen soll ich mich dort im HotelGewerbe betätigen.“ „Schau, schau!“ sagte er. „Na, viel Glück!“ „Viel Glück auch Ihnen, Herr Oberkontrolleur“, gab ich zurück. „Und bitte, grüßen Sie Ihre Frau und die Kinder!“ „Ja, danke – nanu!“ lachte er bestürzt, in sonderbarer Wortverbindung, und beeilte sich weiterzukommen, strauchelte und stolperte aber etwas dabei, obgleich am Boden gar kein Anstoß vorhanden war; so sehr hatte die Menschlichkeit ihn aus dem Tritt gebracht. – (GW, VII, S. 387) Beide, sowohl Bediensteter als auch Gast, sind aus dem „Tritt“ gekommen. Das konventionelle, der Realität zugeschriebene Verhalten des ’Haltungbewahrens‘ verschmilzt mit einem diffusen und überfallartigen Ausbruch von Menschlichkeit auf beiden Seiten, der eben nicht wirklich scheinen kann, da sofort wieder die Ordnung hergestellt und die Maske aufgesetzt wird, um der Lächerlichkeit zu entgehen, die jedoch gerade durch das überstürzte Wiederherstellen des körperlich-seelischen Gleichgewichts provoziert wird. Im Zug, in 158 Ebd., S. 22. 75 dem, ähnlich wie in der Hotelhalle des St. Albany, eine referenzlose Atmosphäre herrscht, mit dem Unterschied, daß die Passagiere des Zuges ein gemeinsames Ziel vor sich haben, während die Hotelgäste schon an ihrem Ziel angekommen sind, ereignet sich die dritte Grenzüberschreitung. Die Szenerie fungiert nicht als simulierte Mimesis, sondern realisiert die imaginären Gedanken der Figur Felix Krull auf eine Weise, daß für die Leserin die Simulation undurchschaubar bleibt, da beide Figuren maskenlos erscheinen, indem sie sich ihrer Rollen entledigen und sich ’nackt‘ gegenübertreten. Sie gewinnen dadurch ungewohnt menschliche Züge, die aber wiederum auch nur auf einem Rollenwechsel beruhen. Der Schaffner schlüpft aus seiner Rolle des Bediensteten ebenso wie Felix einen kurzen Moment seinen hochstaplerischen Habitus verliert und den Kontrolleur nicht nur als „dienstliche Marionette“ betrachtet, sondern sich für seinen menschlichen Hintergrund interessiert. Felix Krull beobachtete vorher den Schaffner und sinnierte über seine Lebensumstände, als er einen Ehering an seinem Finger sah. Felix reflektiert über das Rollenverhalten in der Beziehung zwischen Fahrgast und Kontrolleur: Aber ich mußte mich stellen, als ob mir der Gedanke an seine menschlichen Bewandtnisse völlig fernliege, und jede Erkundigung danach, die verraten hätte, daß ich ihn nicht nur als dienstliche Marionette betrachtete, wäre höchst unangebracht gewesen. [...] Die Richtigkeit meines Fahrscheins war alles, was ihn anging von meiner ebenfalls marionettenhaften Passagierperson, und was aus mir wurde, wenn dieser Schein abgelaufen und mir abgenommen war, darüber hatte er toten Auges hinwegzublicken. Etwas seltsam Unnatürliches und eigentlich Künstliches liegt ja in diesem Gebaren, obgleich man zugeben muß, daß es fortwährend und nach allen Seiten zu weit führen würde, davon abzuweichen, ja daß schon leichte Durchbrechungen meist Verlegenheit zeitigten. (GW, VII, S. 387) Felix’ Gesichtsverlust stellt sich jedoch lediglich als scheinbar heraus, da er die Situation vollständig im Griff hat. Er benutzt den Beamten nur als Testperson, um sein Gedankenspiel sofort experimentell in die Tat umzusetzen. Diese Szene verdeutlicht die Undurchsichtigkeit des Spiels. Iser erteilt genauso wie Dotzler der Mimesis eine Absage und rückt stattdessen die Performanz in den Vordergrund, d. h. er versteht den Text nicht mehr als Repräsentation, sondern als Inszenierung von etwas Imaginärem. Voraussetzung dafür ist jedoch, daß sich der Akt des Lesens zwischen zwei Grenzwerten einordnen läßt, zwischen Verstehen und „Lust am Text“, so Caroline Pross.159 Dotzlers Hauptaugenmerk bei der Herangehensweise zum Felix Krull 159 Pross: Textspiele, S. 161. 76 liegt jedoch auf der simulierten Mimesis, d. h. der Kommentar eines Kommentars. Das Imaginäre spielt bei ihm keine Rolle, weil es seiner Meinung nach gar nicht vorhanden ist. Iser zufolge müsse der literarische Text selbst ein Medium darstellen, das aus sich selbst heraus anthropologisches Wissen weitergibt und keine Mittlerrolle zwischen Realität und Leserin einnimmt. Dotzler beschäftigt sich kaum inhaltlich mit dem Felix Krull, sondern begreift die Simulation des Textes als Prinzip der Subjektkonstitution und als etablierendes Prinzip moderner Kultur. Die Bekenntnisse sind für ihn ein Beispiel für die Absage an die Mimesis und stattdessen die Hinwendung zur Simulation, die durch die Dissimulation verursacht wird. Die verschiedenen Täuschungsstrategien läßt er dabei außer acht und beurteilt nur das Ergebnis: den Simulakrum-Effekt. Für Härle impliziert der Simulationsakt die Funktion, die moralische Konfrontation von Wahrheit und Schein aufzubrechen und stattdessen einen Schwebezustand zu erzeugen, den Iser als „Textspiel“ bezeichnet. Während Härle jedoch die Simulation bis zu ihrem Ursprung zurückverfolgt und diesen in Felix’ „verborgenen Defekten“ findet, schließt Iser diese Möglichkeit für sein Textspiel aus: Das freie Spielen muß daher gegen ein Beenden spielen und das Instrumentelle gegen sein Zerspieltwerden. Dieses Spiel der Differenz, obzwar vom Fingieren eröffnet, ist durch das Fingieren nicht mehr zu beherrschen; es kann daher nur ausgespielt werden.160 4. Hotelszenen 4.1 Das Hotel – ein Leben im Schein Die übliche Szenerie, in der Hochstaplerfiguren auftreten, und derer sich auch Thomas Mann bedient, spielt sich im Hotel ab. Dieser Ort drängt sich der Hochstapler-Thematik geradezu auf, da dort die Gesellschaft verkehrt, die den Hochstapler zum Leben erweckt und ihm zum Erfolg verhilft. Das Hotel, welches Siegfried Kracauer als eine „Scheinwelt” beschreibt, die sich aus einem „unwirklichen Gemenge der unterschiedslosen Atome”161 zusammensetzt, ist vor allem durch Anonymität gekennzeichnet. Das Verweilen der Menschen im Hotel ist nicht zweckbestimmt, sondern befriedigt nur die eigene Genußsucht. Es 160 161 Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 408. Kracauer: Das Ornament der Masse, S. 164. 77 entsteht eine provisorische Gesellschaft, die sich per Zufall zusammenfindet und aus welcher, wie in einem Spiel, ständig Figuren ausscheiden und die entstandenen Lücken mit neuen ’Spielern’ wieder aufgefüllt werden. Das Leben in der Hotelhalle wird durch keinerlei Spannung aufrecht erhalten, sondern erfährt hier die Realisierung des Schönen als ihre Isolierung des Ästhetischen sowie ihrer Inhaltslosigkeit, wie sie Kant definiert hat.162 Kracauer begreift den Aufenthalt im Hotel als eine grundlose Ablösung vom Alltag, welche dazu führt, daß die Figuren auf eine Leere treffen würden, wenn sie mehr als nur Bezugspunkte darstellten, d. h. wenn sie als Hotelgemeinschaft für sich einen übergeordneten Sinn entwickeln müßten. Der untätig Umhersitzenden bemächtigt sich ein interesseloses Wohlgefallen an der sich selbst erzeugenden Welt, deren Zweckmäßigkeit man empfindet, ohne die Vorstellung eines Zweckes mit ihr zu verbinden.163 Hieraus erklärt sich auch die Thomas Mann häufig von Kritikern bezüglich des Felix Krull vorgeworfene Kälte des Romans. Diese resultiert aus der Hotel-Sozietät, die auf keinem Gemeinsinn, sondern im Gegenteil auf Gesellschaftsgliedern beruht, deren Individualität das Merkmal der Unantastbarkeit kennzeichnet. Nach Ansicht des Rezensenten der Esslinger Zeitung, Josef Mühlberger, ist das Motiv der Kälte im Krull in dem Maße immanent, als in dem Roman kein Herz schlage und der Geist „ein kaltes, oft tödliches Licht” ausstrahle. Er sagt weiterhin: Aber nach Satire und Ironie müßte ein Rest bleiben, der nicht antastbar und zerstörbar ist. Er ist nicht vorhanden. Und das macht das brilliant gemachte Buch in einem hintergründigen Sinne trostlos.164 Mühlberger hat mit seiner Analyse vollkommen recht, wenn man die einzelnen Figuren einschließlich Felix einer näheren Betrachtung unterzieht. Alle auftretenden Personen besitzen das Merkmal der Verschwommenheit, sie blicken der Leserin nicht klar ins Auge, sie haben alle etwas zu verbergen und offenbaren sich nicht. Hier tritt wieder das Moment der Simulation ins Blickfeld, die besonders der Hotel-Aristokratie anhaftet. Diane Houpflé, Lord Kilmarnock, Miss Twentyman, Zouzou – sie alle führen ein Leben im Schein, das 162 „Schön ist das, was in der bloßen Beurteilung (also nicht vermittelst der Empfindung des Sinnes nach einem Begriffe des Verstandes) gefällt. Hieraus folgt von selbst, daß es ohne alles Interesse gefallen müsse.“ In: Kant: Werkausgabe in 12 Bänden, Bd. 10, S. 193. 163 Kracauer: Das Ornament der Masse, S. 161. 164 Mühlberger: Der Salto mortale ins Nichts. In: Esslinger Zeitung 84, Nr. 282, 3. 12. 1954. 78 ihnen eine Schutzhülle gegen die zu starke Nähe bietet. Das entspricht Plessners Anthropologie, die besagt, daß sich der Mensch durch eine Maske „verallgemeinert und objektiviert, hinter der er bis zu einem gewissen Grade unsichtbar wird, ohne jedoch völlig als Person zu verschwinden.”165 Ihm bleibt also nur der Weg, in eine Rolle zu schlüpfen. So erklärt sich auch der logische Satz von Nietzsche: „Jeder tiefe Geist braucht eine Maske [...].”166 Die Maske, die uns vor Bloßstellungen bewahrt, ist für das gesellschaftliche Leben unbedingt notwendig. Legt der Mensch diese Maske ab, würde er der Lächerlichkeit preisgegeben. In dem Augenblick, in welchem Diane Houpflé sich Felix vollkommen in die Arme begibt und ihn als das „Meisterwerk der Schöpfung“ (GW, VII, S. 444) ansieht, wenn Lord Kilmarnock Felix die Adoption anbietet oder wenn Eleanore Twentyman ihm ihre große Liebe gesteht – in diesen Situationen entledigen sie sich ihrer Maske und ihrer Rolle und geben sich dadurch der Lächerlichkeit preis. Durch diesen Vorgang entsteht die für diesen Roman typische Komik, die das dekadente Bildungsbürgertum schonungslos entlarvt. Felix Krull, auf der anderen Seite, nimmt niemals seine Maske ab und bietet somit auch keine Angriffsfläche, durch welche sein kriminelles Handeln aufgedeckt werden könnte. Auch Vicki Baum blickt in ihrem in den ’Goldenen zwanziger Jahren‘ erschienenen Roman Menschen im Hotel hinter die Kulissen der Hotel-Szenerie und zeichnet die Konturen der Persönlichkeitsstrukturen der in den ’Grand Hotels‘ verweilenden Menschen akribisch nach. In dem beschriebenen Hotel lebt der Baron Gaigern, ein außerordentlich eleganter, schöner und höflicher Mensch, der von den anderen Gästen sowie dem Personal des Hotels geachtet und gemocht wird. Ähnlich wie bei Felix Krull erscheint den Leuten nicht nur sein Äußeres perfekt, sondern er verfügt auch über gutes Benehmen sowie eine hervorragende Bildung, über ein großes Schlafbedürfnis und begibt sich häufig in wechselnde Liebesabenteuer, da die Frauen ihm zu Füßen liegen. Er besitzt alle typischen Eigenschaften eines Hochstaplers: Es roch nach Lavendel und guter Zigarette. Knapp hinter dem Geruch her kam ein Mensch durch die Halle, der so beschaffen war, daß sich viele nach ihm umsahen. Die Klub- und Korbstühle in seinem Fahrwasser belebten sich. Das wächserne Fräulein am Zeitungsstand ächelte. Der Mensch lächelte auch, ohne erkennbaren Grund, nur einfach aus Vergnügen an sich selber, so schien es.167 165 Plessner: Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus. In: Gesammelte Schriften, Bd. V, S. 82. 166 Nietzsche: Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 58. 167 Baum: Menschen im Hotel, S. 8. 79 Er macht sehr viele Bekanntschaften im Hotel, hilft mit Briefmarken aus, gibt Ratschläge für Fernflüge, nimmt alte Damen in seinem Auto mit, macht den Vierten beim Bridge und kennt sich in den Weinbeständen des Hotels aus. Am rechten Zeigefinger trägt er einen Siegelring aus Lapislazuli mit dem Gaigernschen Wappen, einem Falken über Wellen. Abends, wenn er sich ins Bett legt, redet er mit seinem Kissen, und zwar auf bayrisch. Grüß Gott, sagt er etwa, guten Abend, du bist gut, du bist mein liebes Bett, brav bist du. Er schläft ganz schnell ein, und niemals stört er Nachbarn durch unziemliches Schnarchen, Gurgeln und Stiefelwerfen. Sein Chauffeur erzählt im Kuriersaal unten, daß der Baron ein ganz anständiger Mensch sei, aber ziemlich einfältig. Aber auch ein Baron Gaigern wohnt hinter Doppeltüren, auch er hat seine Geheimnisse und Hintergründigkeiten . . . 168 Gaigern erfüllt demzufolge alle Voraussetzungen für eine erfolgreiche Karriere als Hochstapler. Aber stimmt das wirklich? Er besitzt ein kindlich ausgelassenes Gemüt, das ihn bei jedem zum Sympathieträger werden läßt. Er macht jedoch einen folgenschweren Fehler, der zur Vernachlässigung seines Hochstaplertums und schließlich durch eine Aufeinanderfolge von unglücklichen Zufällen zu seinem Tod führt. Sein ’Abstieg’, der gleichzeitig einen moralischen Aufstieg bedeutet, wird durch eine wirkliche, tiefe Liebe zu der Tänzerin Grusinskaja eingeleitet. Gaigern hat, wovor Walter Serner in seinem Handbrevier für Hochstapler ausdrücklich warnt, seine Maske verloren. Serner äußert sich über die Gefahr einer Festlegung auf nur eine Rolle: Bist du in einen falschen Schein geraten, so bekämpfe ihn dadurch, daß du in einen anderen falschen Schein dich begibst [...]169 Es wird in der Welt regiert, indem Komödie gespielt wird. IN DIESEM ZEICHEN ALLEIN WIRD GESIEGT. Drum kämpfe nie um etwas. Spiele dich – VOR.170 Dadurch, daß Gaigern zu sehr er selbst wird, ist es ihm unmöglich, sein Leben im Schein fortzusetzen. Seine Liebe zu der um einige Jahre älteren Frau macht ihn schwach und zahm. Er empfindet plötzlich Mitleid mit dem armen todkranken Buchhalter Kringelein, dem er gerade noch Geld stehlen wollte und sich dann rührend um ihn kümmert, als dieser einen durch die Krankheit bedingten Schwächeanfall bekommt, der mit starken Schmerzen verbunden ist. Felix Krull, auf der anderen Seite, verliert nie seine Maske, wahrt immer die Contenance, so daß er nie in Situationen gerät, die ihn als Simulant entlarven könnten. Im Gegensatz zu Gaigern können wir bei Felix nie bis in sein ’tiefstes Inneres‘ vordringen. Die Leserin kann nie mit Bestimmtheit sagen, ob es sich bei diesem gutaussehenden, gebildeten Hochstapler um einen kalten, herzlosen und unberechenbaren Schmarotzer handelt 168 Ebd., S. 78-79. Serner: Letzte Lockerung, S. 108, Nr. 245. 170 Ebd., S. 76, Nr. 47. 169 80 oder ob man ihn dagegen als einen feinsinnigen und sensiblen Künstler betrachten kann, der sich nur durch ein Leben im Schein in der Lage sieht, sich mit der Welt zu arrangieren sowie, wie es bereits Härle formulierte, seine „narzißtische Wunde” zu verbergen. 4.2 Das Rollenspiel in der Hotelsozietät An dieser Stelle möchte ich mich auf ein Spiel einlassen, indem ich Isers Theorie des InSzene-Setzens auf die Hotelsozietät übertrage. Wie oben bereits angedeutet, steht laut Iser beim literarischen Text nicht der Abbildungscharakter im Vordergrund, sondern der Akt des In-Szene-Setzens. Der literarische Text bildet das Ergebnis von „Akten des Fingierens“, wobei Iser zwischen Selektion und Kombination unterscheidet. Im ersten Schritt wird das „lebensweltliche Zeichenmaterial“ aus seinen pragmatischen Geltungszusammenhängen herausgelöst, seine reguläre Bedeutung wird virtualisiert. Anschließend wird das Zeichenmaterial in einem kombinatorischen Akt zu neuen Bezüglichkeiten und Verweisungen zusammengefügt.171 Die ursprünglichen Bedeutungen der lebensweltlichen Zeichen bleiben nur als ’folienhafte‘ Bezugsrealität gegenwärtig. Demzufolge kann man sagen, daß die Zeichen im Fiktiven verdoppelt wiederkehren. Da in literarischen Texten das außertextuelle Material neu verwoben wird, besitzt der Text nicht nur einen repräsentativen Charakter. Wenn der fiktionale Text als Transformation seiner Referenzwelten verläuft, dann entsteht etwas, das aus diesen nicht ableitbar ist. Folglich kann keine der Referenzwelten Gegenstand der Darstellung sein, so daß sich der Text nicht in der Repräsentation vorgegebener Gegenständlichkeit erschöpft.172 Der Text nimmt den Charakter eines Spiels an. Im Spiel sind ausgetauschte Mitteilungen oder Signale nicht auf die Referenzwelt bezogen, und das mit den Signalen Bezeichnete ist nur im Spiel existent; das vorgegebene Reale wird neu arrangiert und so ungedacht Fiktives hervorgebracht. Die Äußerungen in literarischen Texten beruhen nicht auf Abbildlichkeit, verzichten aber dennoch nicht auf Darstellbarkeit und Gegenständlichkeit, wodurch das „Spiel der Differenz“ entsteht.173 Der Schauspieler verleiht dem Sinn eines Textes in seiner Imagination Gestalt und entbindet ihn so in der Vorstellung aus seiner Virtu171 172 Vgl. Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 18-51. Ebd., S. 481. 81 alität. Er muß sich demnach selbst irrealisieren und seinen Körper als neutrales Instrument betrachten, um real erscheinen zu können.174 In gleichem Maße wie die Akteure auf der Bühne müssen auch die Leser eines literarischen Textes das Zeichenmaterial in ihrer Vorstellung ’zum Leben erwecken‘, indem sie gedanklich die reale Sphäre verlassen, um dann wiederum den Bezug zur Realität herzustellen. Hierbei lassen sich Parallelen zwischen dem Spiel innerhalb eines literarischen Textes sowie des Hotellebens und den ständigen Rollenwechseln von Felix feststellen. Professor Kuckuck attestiert Felix Krull, daß sein Leben aus dem Nichts entspringt. Wenn der Akt des In-Szenes-Setzens auf der Bühne oder im literarischen Text auch nicht dem Nichts entstammt, so ist es doch auf jeden Fall ein Akt der Übersetzung. Bei seinem Rollentausch bildet Felix ebenfalls keine andere Identität ab, sondern er irrealisiert sich selbst und transferiert dann die jeweilige Rolle in sein eigenes Ich. Auch in der Hotelhalle des St. Albany verläuft das Leben nicht zweckgerichtet, sondern läßt neue Bedeutungsrelationen entstehen, die das Resultat des Ineinandergreifens von Realem und Imaginärem sind. Dadurch entsteht ein fiktives Spiel, das aufgrund der Einbindung in einen literarischen Text einen Doppelungscharakter erhält und eine dirigierende Funktion besitzt, die den Kontrakt zwischen Autor und Lesern bzw. zwischen Hotelhalle und Hotelgästen signalisiert. Die Gäste betreten das Foyer und wissen, daß sie sich innerhalb eines „inszenierten Diskurses“175 bewegen. Wie in einem literarischen Text, so funktionieren auch hier die lebensweltlich pragmatischen Grundsätze nur unter Einschränkungen. Die Referenz der Hotelhalle besteht in der Erwartungshaltung der Gäste, die der Erwartungshaltung der Leser bei der Lektüre eines literarischen Textes entspricht. Vor der Rezeption eines Buches befinden sich die Leser im Bereich des Ungewissen. Die Erwartungshaltung basiert auf der Vorstellung von verschiedenen Möglichkeiten, die im Text auftreten könnten. Das alltägliche Leben der Hotelgäste vom St. Albany, Madame Houpflé, Lord Kilmarnock und Miss Twentyman, läßt eine Referenz vermissen, und paradoxerweise versuchen sie gerade diese in der scheinbar referenzlosen Atmosphäre der Hotelhalle zu finden. Die Erwartung ist der einzige Zweck, dem die genannten Personen ihr Dasein widmen. Ein literarischer Text verursacht bei der Leserin eine Erwartungshaltung, die sich im Spiel wechselweise auflöst und wieder erneuert. Aber worin bestehen genau die 173 Ebd., S. 502. Ebd., S. 44. 175 Ebd., S. 35. 174 82 Gemeinsamkeiten zwischen einem literarischen Text und einer Hotelhalle? Mit Iser finden wir einen Verbindungspunkt in der Anthropologie. Als Doppelgänger seiner selbst ist der Mensch allenfalls das Differential seiner Rollen, die sich gegeneinander vertauschen und wechselseitig umprägen lassen. Rollen sind dann weder Charaktermasken noch Tarnungen, um ein Selbst mit einer herrschenden Pragmatik zu vermitteln, sondern, die Möglichkeit, immer auch das andere der jeweiligen Rolle zu sein. Man selbst zu sein hieß dann, sich doppeln zu können.176 Diese Negation von Rollen als Kontrollinstanz für menschliches Verhalten im Sinne der Dissimulation entspricht Plessners Maskentheorie. Wer sich in der Öffentlichkeit mit „nackter Ehrlichkeit“177 präsentiert, verdirbt das Spiel. Laut Plessner befindet sich der Mensch nur in diesem Spiel der Rollenverdoppelung in der Lage, seine Freiheit auszuleben. Er versteht die Maskiertheit des öffentlichen Menschen als notwendige Äußerung des in ihm verankerten Spieltriebes.178 Die Künstlichkeit der Individuen liegt demnach nicht in dem auf sie ausgeübten Druck der Gesellschaft begründet, sondern ist notwendig, um eine Distanzierung des Menschen zu sich selbst zu erreichen, die wiederum Voraussetzung für die Einheit von Körper und Geist ist. Dieser Gedanke steht in krassem Gegensatz zu dem Gemeinplatz in Soziologie und Philosophie: „Soziale Rollen sind ein Zwang, der auf den Einzelnen ausgeübt wird – mag dieser als eine Fessel seiner privaten Wünsche oder als ein Halt, der ihm Sicherheit gibt, erlebt werden.“179 Während Plessner also das Rollendasein als dem Menschen inhärent begreift, bezeichnet Dahrendorf dieses generell als eine Notwendigkeit, die von außen für den Menschen festgesetzt wird. Hinter Plessners Feststellung, daß der Mensch hinter seiner Maske zwar unsichtbar wird, aber nicht völlig als Person verschwindet, verbirgt sich die Annahme, daß er in der Rolle zwar wahr, jedoch nicht ’authentisch‘ ist. Die Person wirkt täuschend echt – die Simulation funktioniert. Aber warum steht Plessner auf dem Standpunkt, daß die Maske für den Menschen eine Lebensnotwendigkeit darstellt? Um diese Frage zu beantworten, begeben wir uns wieder in die Hotelhalle des Saint James and Albany zurück. Würden die Gäste die Hotelhalle unmaskiert betreten, bräche die Inszenierung und die ganze Scheinkonstruktion zusammen. Das Spiel der Differenz träte an die Stelle des Spiels der Indifferenz, d. h. die Grenzen zwischen Realität, Fiktion und Imagination würden 176 Ebd., S. 149. Plessner: Grenzen der Gemeinschaft, S. 83. 178 Vgl. ebd., S. 94. 177 83 sichtbar. Da das Hotel jedoch bereits eine eigene Welt repräsentiert, ähnlich wie der literarische Text, würden in der Hotelhalle plötzlich eigentlich real unmögliche Handlungen passieren. Nichts ist der Mensch „als“ Mensch von sich aus, wenn er, wie in den Gesellschaften modernen Gepräges, fähig und willens ist, diese Rolle und damit die Rolle des Mitmenschen zu spielen: nicht blutgebunden, nicht traditionsgebunden, nicht einmal von Natur frei. Er ist nur, wozu er sich macht und versteht. Als seine Möglichkeit gibt er sich erst sein Wesen kraft der Verdoppelung in einer Rollenfigur, mit der er sich zu identifizieren versucht.180 Es scheint, als ob sich hier philosophische Anthropologie und naturwissenschaftliche Paläontologie treffen. Hören wir Professor Kuckuck: Und er sprach mir von dem Riesenschauplatz dieses Festes, dem Weltall, diesem sterblichen Kinde des ewigen Nichts, angefüllt mit materiellen Körpern ohne Zahl, Meteoren, Monden, Kometen, Nebeln, Abermillionen von Sternen, die aufeinander bezogen, zueinander geordnet waren durch die Wirksamkeit ihrer Gravitationsfelder zu Haufen, Wolken, Milchstraßen und Übersystemen von Milchstraßen, deren jede aus Unmengen flammender Sonnen, drehend umlaufender Planeten, Massen verdünnten Gases und kalten Trümmerfeldern von Eisen, Stein und kosmischem Staube bestehe . . . (GW, IX, S. 543) Das Nichts mutiert nur zum Sein, indem es „angefüllt“ wird. Befände sich in der Hotelhalle ein Nichts, wenn die Menschen im Hotel keine Haltung bewahren würden und sich nicht in ’geordneten Bahnen‘ verhielten? Das Spiel des Hotellebens würde als Simulation enttarnt werden und einer plötzlichen Leere weichen. Die Simulation scheint also tatsächlich, wie uns Härle anschaulich an der Musterungsszene vorgeführt hat, zwar bewußt und willentlich gesteuert zu werden, jedoch dieses bewußte Agieren beruht auf seelischkörperlichen Zusammenhängen, welche nicht dem menschlichen Einfluß unterliegen. Der Geist ist schwächer als der Leib und demzufolge der Ausweg in die Simulation logisch. Wenn man sich die Hotelhalle demnach als ein Spielbrett vorstellt, auf dem die Figuren sich zwar in scheinbar ungeordneter Folge, aber doch gewissen Spielregeln verpflichtet, bewegen, wird man an eine Komödie erinnert, in der die Schauspieler in angeblich verwirrender Manier auf der Bühne ein ständiges „Kippen“ provozieren, wodurch die Zuschauer in regelmäßiges Lachen verfallen. Für Iser stellt das Lachen ein „Kipp-Phänomen“181 dar, das aus einer Kettenreaktion von sich einander widersprechenden Handlungen resultiert. Zusammengeschlossene Positionen negieren sich gegenseitig, brechen wechselseitig zu179 180 Dahrendorf: Homo sociologicus, S. 36. Plessner: Soziale Rolle und menschliche Natur. In: Gesammelte Schriften, Bd. X, S. 240. 84 sammen, woraus eine Instabilität komischer Verhältnisse entsteht und schließlich als Entlarvungseffekt des Komischen ein ständiges Umkippen stattfindet. Die Übersichtlichkeit und Zuordnung der Personen sind verschwunden. Die Referenz ist vernichtet, und die Überforderung sowie Verblüffung der Leser löst sich im Lachen. Die Überforderung des kognitiven bzw. emotiven Vermögens, das Lachen aufzufangen, kann durch verschiedene Formen des Komischen (z. B. Satire, Ironie, Humor) gemildert werden.182 Natürlich fallen die Hotelgäste nicht von einer ’Körperkatastrophe‘ in die nächste, aber die von Felix beschriebene „Zufallsaristokratie“ egalisiert Unterschiede zwischen den aneinander vorbeiwandelnden Menschen in den Hotelgängen. Gäste, Kellner, Liftboys, Rezeptionspersonal – sie alle kreisen auf einer Bühne umeinander. Die Aristokraten könnten ebenfalls die Rolle der Kellner übernehmen, wodurch das Hotelleben in keiner Weise beeinflußt würde – das ist das Prinzip der Komödie, in der es um die Darstellung von Typen geht. Im Hotel Saint James and Albany ist auch dieses wechselseitige Zusammenbrechen von Positionen wahrzunehmen. Nicht die vornehme Familie Twentyman wird von dem niedriggestellten Kellner angehimmelt, sondern Mrs., Miss und Mr. Twentyman schwärmen für Felix. Hierin zeigt sich eine Spielart der Komödie, nämlich die überraschende Umkehr der Erwartungshaltung der Leser. Ursprünglich entwarf Thomas Mann eine Szenerie, in der jedes einzelne Familienmitglied der Twentymans nacheinander ihre Liebe gegenüber dem Kellner Armand (Felix) offenbaren und sich deswegen gegenseitig zur Rede stellen, da sie nacheinander die ’Bühne‘ betreten und also jeweils den anderen in flagranti ertappen. Mr. Twentyman steht als letzter vor Armand und bietet ihm für seine Verschwiegenheit ein Goldstück: „Keep it, keep it, you are fond of good tips, aren’t you? That’s a human weakness like any other and it seems to harmonize quite well with my own weakness for good-looking youngsters of which I make no secret, at least not to somebody I just gave two Napoléons to. You follow? Of course, at home in Birmingham you have to repress your feelings, it’s a very provincial, narrow-minded place, you know. But here we are in Paris, thank God, and you’ve been around quite a bit, I take it. As a matter of fact, I should like us to have dinner together in town some evening and have fun, a lot of it afterwards. How’s that?“ (GW, XIII, S. 24-25) Armand lehnt Mr. Twentymans Angebot dankend ab, versichert ihn jedoch seiner Diskretion für alle drei Twentymans und empfiehlt ihm, sich doch lieber mit seiner Familie zu 181 182 Iser: Das Komische: ein Kipp-Phänomen. In: Preisendanz; Warning: Das Komische, S. 398-402. Ebd., S. 399-401. 85 „vereinigen“, „[...] um in würdiger Ernüchterung mit den Damen zusammenzusitzen in Ihrem Zimmer“. (GW, XIII, S. 25) Die hier verwendete Repetition ist ein Stilmittel der Komödie. Des weiteren sorgt die Demaskierung der reichen Familie Twentyman aus Birmingham, hervorgerufen durch die Umkehrung der Positionen, für eine Kollision mit der Erwartungshaltung der Leserin. Was Mr. Twentyman nur andeutete, daß er sich nämlich zu Hause in Birmingham stark zusammennehmen müsse und er in Paris doch seinen Gefühlen freien Lauf lassen könne, erinnert an Plessners Theorie, daß der Mensch auf die Maske angewiesen und ohne sie ein Nichts sei. ’Nichts‘ meint in diesem Fall die beliebige Austauschbarkeit der Figuren, die durch ihre mangelnde Unterscheidbarkeit möglich wird. Nur unter den Bedingungen, die in einer Hotelhalle herrschen, kann sich die Simulation gänzlich entfalten und stagniert nicht im Stadium der Maskierung. Das Hotelleben außerhalb der Alltagswelt, in welcher das Leben immer durch eine Referenzbezogenheit gekennzeichnet ist, vollzieht sich unter ähnlich fiktiven Umständen wie das Leben auf der Bühne oder im literarischen Text. Nicht, daß in der alltäglichen Welt die Simulation nicht stattfindet, weil die starre Maske davorsitzt; in der sogenannten fiktiven Umgebung sind die Grenzen jedoch fließend, was ein ständiges Umkippen von Situationen bewirkt. 5. Episodische Simulation 5.1 Literarische Inszenierung als Simulakrum Wolfgang Isers anthropologisch begründeter Inszenierungsbegriff, der auf der angenommenen Fiktionsbedürftigkeit des Menschen basiert, findet im Felix Krull in geradezu exemplarischer Weise seine Bestätigung. Iser geht davon aus, daß ein literarischer Text menschliche Unverfügbarkeiten darstellt und damit als Kompensation für das natürliche Fiktionsbedürfnis des Menschen dient. Die „exzentrische Position des Menschen“, d. h. sein Außersichsein, verlangt, laut Iser, nach einer Darstellung von Nicht-Gegenständlichem, die nur durch „Spielvariationen“ realisiert werden könne.183 183 Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 504-505. 86 Daraus folgt: die Inszenierung der Literatur veranschaulicht die ungeheuere Plastizität des Menschen, der gerade deshalb, weil er keine bestimmte Natur zu haben scheint, sich zu einer unvordenklichen Gestaltenfülle seiner kulturellen Prägung zu verfielfältigen vermag.184 Der „inszenierte Diskurs“ impliziere das, was der „Wißbarkeit und Erfahrung“ verschlossen bleibt und kann damit als ein anthropologischer Modus gelten, der auf einer Stufe mit Wissen und Erfahrung zu betrachten sei. Bei der Inszenierung von „Evidenzerfahrungen“,185 wozu Iser beispielsweise die Liebe zählt, gehe es nicht um die Figuration des Gegenteils von Wirklichkeit, sondern um das Aufzeigen von Alternativen zum unmittelbar zugänglichen Wissen. Inszenierungen modellieren also nicht nur das Unverfügbare, sondern beziehen sich auch auf Gewißheiten. Das läßt uns allerdings die exzentrische Position des Menschen in einem etwas anderen Licht erscheinen. Sich nicht gegenwärtig zu sein ist dann nur eine der Inszenierungsnotwendigkeiten, die in der Veranschaulichung von Gewißheit dem gegenteiligen Impuls entspringt, sich gegenübertreten zu wollen.186 Sowohl die Alternativen zu Evidenzerfahrungen als auch die Darstellung von Unverfügbarem begreift Iser als Simulakra, die eine Existenz vortäuschen, ohne jedoch über die Tatsächlichkeit der Nicht-Existenz zu täuschen. Dem Charakter der willkürlichen Konstruiertheit entgehe das Simulakrum deshalb, weil die „Inszenierung der Infrastruktur von Darstellung – dem Spiel – entspringt“.187 Die dem Simulakrum vorausliegenden Szenarien bleiben jedoch in der Inszenierung als negative Schablone eingeschrieben, wodurch in den literarischen Text ein Abdruck der Geschichte hineingetragen werde. Die Notwendigkeit zur Inszenierung bleibt für Iser von einer diskursiv nicht auflösbaren Duplizität beherrscht. Er fragt sich deshalb: Gestattet die Inszenierung, wenigstens in der Vorstellung ein ek-statisches Leben zu führen, indem der Mensch heraustritt aus dem, worin er ist, um sich das zu erschließen, was ihm sonst verwehrt bleibt? Oder spiegelt sich in der Inszenierung der Mensch als die immer schon aufgebrochene »holophrase«, um unentwegt durch die Möglichkeiten seines Andersseins zu sich selbst zu sprechen [...]?188 184 Ebd., S. 505. Ebd., S. 508. 186 Ebd., S. 510. 187 Ebd., S. 511. 188 Ebd., S. 515. 185 87 Die theoretischen Explikationen zur Inszenierung als anthropologisches Muster spiegeln genau die Thematik in den Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull wieder. Die Alternativen zu Evidenzerfahrungen im Leben oder die Vorstellung von Unverfügbarem wird im Hochstaplerroman auf dem Wege der Verdoppelung dargestellt, da Felix Krull als personifiziertes Simulakrum diese Alternativen bzw. das der Leserin Verschlossene, die Imaginationen, auf fiktionaler Ebene realisiert. Mit dem Begriff des Simulakrums meint Iser den literarischen Text, der ein scheinbares Abbild von Handlungen und Vorgängen aus der Realität repräsentiert. Gleichzeitig macht Iser jedoch deutlich, daß das sogenannte Simulakrum niemals auf eine ’authentische‘ Spur verweisen kann, da es in keinem Fall ein Abbild darstellt, auch kein täuschendes. In logischer Konsequenz widersetzt sich jedoch der literarische Text dann der Kategorisierung in den Bereich des Simulakrums, weil ein Prozeß der Simulation immer eine Täuschung impliziert. Wenn jedoch ein Text nichts vortäuscht, dann wird nichts simuliert, und demzufolge kann sich auch kein Simulakrum bilden. Das Phänomen des Simulakrums entsteht Iser zufolge nicht durch den Akt der Inszenierung, sondern entwickelt seine Wirkung erst im Spiel innerhalb des Textes. Iser verwendet demnach den Begriff des Simulakrums synonym mit der Inszenierung oder dem Akt der Übersetzung. Der individuelle Simulationsakt eines literarischen Textes, wie im Beispiel des Felix Krull, versteckt sich in Isers Beschreibung des interaktiven Spiels zwischen Text und Lesern, die sich selbst, wie Schauspieler, irrealisieren müssen, um die Imaginationen in eine eigene Wirklichkeit zu überführen. Auf einer parallelen Ebene innerhalb des Textes findet durch das ständige Ineinanderspielen und die darauffolgende Ablösung von Realem und Imaginärem ein weiteres spielerisches Szenario statt. Um die anthropologische Kraft der Simulation im Felix Krull zu aktivieren, müssen wir also beide Ebenen betrachten. Zum einen wird das Fiktionsbedürfnis der Leser durch die Erzählungen des Hochstaplers auf doppelte Art und Weise befriedigt, da sich Felix auch immer wieder selbst irrealisiert, um in eine neue Rolle zu schlüpfen. Über imaginäre Konstruktionen des brüchigen Ichs, d. h. in der Rollenvielfalt, spielt Felix den Lesern vor, daß er nie ganz bei sich ist, sich also immer in einer „exzentrischen Position“ befindet und sich über neue Rollenangebote immer neu definiert. Der Leserin wird, überträgt man Isers Theorie auf Felix’ fiktive Bekenntnisse, der Leseakt selbst vorgeführt. Sie muß das simulatorische Verhalten des Betrügers mitspielen, um eine Distanz zu sich selbst aufzubauen und bei der Lektüre souverän zu 88 bleiben. Die Leserin wird dadurch zur Teilnehmerin eines Spiels, das sich durch episodische Täuschungen des Hochstaplers immer neu aktualisiert und der Mitspielerin also zum wiederholten Male Imaginationsvermögen abverlangt, das er versucht, mit seiner individuellen Realität in Einklang zu bringen. Durch den Doppelungscharakter der simulatorischen Ausprägung von Krulls Bekenntnissen, sowohl durch das Simulakrum in Gestalt der literarischen Inszenierung als auch den Simulanten Felix Krull, verliert sich die Leserin in einem Irrgarten von Lügen und Täuschungen. Sie durchschaut nur die Simulationen des Augenblicks oder der Episode, sieht sich jedoch außerstande, im Spiel ans Ziel zu kommen. Die Begegnung zwischen Professor Kuckuck und Felix soll dieses Problem verdeutlichen. 5.2 Professor Kuckuck und Felix im Reich der Allsympathie und des Scheins Wie aus dem Nichts, erscheint plötzlich Professor Kuckuck auf der Bildfläche des Romans. Dieses Nichts besitzt gleichzeitig eine symbolische Bedeutung nicht nur für den Paläontologen Kuckuck, sondern auch für das Leben von Felix Krull. Der Wissenschaftler Kuckuck erforscht das Leben auf der Erde, seinen Ursprung, seine Beschaffenheit sowie das ganze Universum, wobei er zu der Erkenntnis kommt, daß das Leben dem Nichts entspringt: „Es hat nicht eine, sondern drei Urzeugungen gegeben: Das Entspringen des Seins aus dem Nichts, die Erweckung des Lebens aus dem Sein und die Geburt des Menschen“ (GW, IX, S. 542). In Felix’ Haltung entlarvt sich sein ästhetischer Schein als das Nichts, d. h. die Tatsache, daß seine ganze Existenz nur auf purem Schein beruht, führt zur ernüchternden Schlußfolgerung, daß sein Dasein dem Nichts entspricht.189 Ist Felix Krull ein Künstler? Thomas Mann parodiert in Krull am Anfang den Künstler der Décadence nach dem Wagner-Typus. Er wächst in einer genußsüchtigen Bohème zwischen Bürgertum und Künstlertum, abgetrennt von den Instituten des wirklichen Lebens, der Schule, dem Militär, dem Beruf sowie Freunden und Mitschülern auf. Daß Krulls Werk, seine Selbstinszenierung, mit seinem Leben gleichzusetzen ist, kann man als das Grundübel des dekadenten Künstlers ansehen. Krull ist ein Wirkungskünstler, der auf der Basis der übernatürlichen Wirkung seines Äußeren durch Simulation von Sprachkenntnissen, Imitation von aristokratischem Habitus sowie Repetition von gehörten wissen189 Vgl. Arendt: Der Schelm als Widerspruch und Selbstkritik des Bürgertums, S. 108. 89 schaftlichen Erkenntnissen sein Leben gestaltet. Felix trennt sich jedoch vom strengen Humanismus des Adrian Leverkühn, indem er nicht den Anspruch einer moralischen Weltdeutung erhebt, sondern die Welt nur noch als ästhetischen Schein genießt. Im Doktor Faustus wird „die tragische Heillosigkeit des bürgerlichen Künstlers zum Paradigma des bürgerlichen Zeitalters”190 erklärt: An einem Werk ist viel Schein, man könnte weitergehen und sagen, daß es scheinhaft ist in sich selbst, als »Werk«. [...] Es ist ja Arbeit, Kunstarbeit zum Zweck des Scheins – und nun fragt es sich, ob bei dem heutigen Stande unseres Bewußtseins, unserer Erkenntnis, unseres Wahrheitssinnes dieses Spiel noch erlaubt, noch geistig möglich, noch ernst zu nehmen ist, ob das Werk als solches, das selbstgenügsam und harmonisch in sich geschlossene Gebilde, noch in irgendeiner legitimen Relation steht zu der völligen Unsicherheit, Problematik und Harmonielosigkeit unserer gesellschaftlichen Zustände, ob nicht aller Schein, auch der schönste, und gerade der schönste, heute zur Lüge geworden ist. [...] »Das Werk! Es ist Trug. Es ist etwas, wovon der Bürger möchte, es gäbe das noch. Es ist gegen die Wahrheit und gegen den Ernst. Echt und ernst ist allein das ganz Kurze, der höchst konsistente musikalische Augenblick . . .« (GW, VI, S. 241) Diese Gedanken vom Erzähler Zeitblom sowie von Adrian Leverkühn geben einen Vorausblick auf den Felix Krull. Zum einen gibt der Erzähler zu, daß selbst das Kunstwerk an sich schon Schein ist, was auch Rückschlüsse auf den Zusammenhang von autobiographischem und gleichzeitig simulierendem Schreiben bei der Arbeit Thomas Manns am Felix Krull zuläßt und am Ende noch einmal erörtert werden soll. Zum anderen stellt Zeitblom hier das Werk als solches in Frage, ob es in seinem Scheincharakter und in seiner harmonischen Geschlossenheit unter den gesellschaftlichen Umständen überhaupt noch als moralisch vertretbar gelten kann. Das Werk, das sich durch die Simulation seiner Einheit, des Unmittelbaren und Organischen als Ganzes präsentiert, ist im wahrsten Sinne des Wortes als ein Kunstprodukt zu verstehen, womit sich wieder der Kreis zum Schein des Scheins schließt. Das Werk hat sich schon so weit von der Wirklichkeit entfernt, daß es für Leverkühn nur noch „Trug” darstellt. Nur noch der kurze Moment kann seiner Meinung nach Wahrheit offenbaren. Dieser Ausspruch schließt den Bogen zu Professor Kuckuck, der ebenfalls das Episodische als das einzige Sein im ganzen Nichts ansieht: Ich hätte das Menschlichste ausgesprochen mit dem Wort, es nähme mich ein für das Leben, daß es nur eine Episode sei. Fern davon nämlich, daß Vergänglichkeit entwerte, sei gerade sie es, die allem Dasein Wert, Würde und Liebenswürdigkeit verleihe. Nur das Episodische, nur was einen Anfang habe und ein Ende, sei interessant und errege Sympathie, beseelt wie 190 Hermsdorf: Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Der Memoiren Erster Teil. In: Das erzählerische Werk Thomas Manns, S. 428. 90 es sei von Vergänglichkeit. So sei aber alles - das ganze kosmische Sein sei beseelt von Vergänglichkeit, und ewig, unbeseelt darum und unwert der Sympathie, sei nur das Nichts, aus dem es hervorgerufen worden zu seiner Lust und Last. (GW, IX, S. 547) Damit wird das Leben Felix Krulls, welches nur aus Episoden besteht, gerechtfertigt. Somit läßt der letzte Roman Thomas Manns die Vermutung zu, daß er die Feststellung Leverkühns ernst genommen und die Bekenntnisse, der Zeitgeschichte entsprechend, nur noch aus sympathischen Augenblicken zusammengesetzt hat. Die Komik des Kuckucksgesprächs liegt darin, daß es bei Felix ins Leere führt. Er greift einige Phrasen daraus auf, um damit später bei Zouzou oder dem König Anklang zu finden, aber man gewinnt den Eindruck, daß er die Äußerungen des Professors nicht ernst nimmt oder seine triviale Ehrlichkeit bzw. seinen Glauben an die Allsympathie belächelt. Dadurch entwickelt sich die Rede Kuckucks zu einer Parodie auf andere ’Reden an die Menschheit’, wie die von Naphta, Settembrini, Leverkühn. Inwiefern läßt sich der Kuckuck-Vortrag mit dem Begriff der Simulation, des Scheins in Verbindung bringen? Die Vermutung liegt nahe, daß die vom Wissenschaftler erzählte Menschheitsgeschichte eine Metapher des Künstlerlebens darstellt, wenn Kuckuck beispielsweise sagt: „Das Organische selbst kenne die klare Grenze nicht zwischen seinen Arten” (GW, IX, S. 545). Auch zwischen Bürger und Künstler läßt sich keine klare Trennungslinie ziehen. Unser Menschenhirn, unser Leib und Gebein – Mosaiken seien sie derselben Elementarteilchen, aus denen Sterne und Sternstaub, die dunklen, getriebenen Dunstwolken des interstellaren Raumes beständen. Das Leben, hervorgerufen aus dem Sein, wie dieses einst aus dem Nichts, – das Leben, diese Blüte des Seins, – es habe alle Grundstoffe mit der unbelebten Natur gemein, – nicht einen einzigen habe es aufzuweisen, der nur ihm gehöre. Man könne nicht sagen, daß es sich unzweideutig gegen das bloße Sein, das unbelebte, absetze. Die Grenze zwischen ihm und dem Unbelebten sei fließend. [...] Im Schein- und Halbleben der flüssigen Kristalle spiele augenfällig das eine Naturreich ins andre hinüber. Immer, wenn die Natur uns gaukelnd im Unorganischen das Organische vortäusche, wie in den Schwefel-, den Eisblumen, wolle sie uns lehren, daß sie nur eines sei. (GW, IX, S. 545) Die „Mosaiken” stehen für die vielen einzelnen Elemente, aus denen ein Kunstwerk aufgebaut ist. Es gibt keinen eindeutigen Unterschied zwischen Organischem und Unorganischem; d. h. wenn Felix Krull sich als Marquis de Venosta ausgibt, simuliert er zwar den aristokratischen Habitus, zeigt damit jedoch gleichzeitig, daß auch diese Seite ein Teil von ihm ist – Schein des Scheins. Professor Kuckuck versucht als Repräsentant des Bildungsbürgertums und gleichzeitig als väterlicher Ermahner, Felix sein Leben im Schein auf bildliche Art und Weise, mit der 91 Schöpfungsgeschichte des Universums, offenzulegen. Felix führt sich sein Leben aus dem Nichts jedoch nicht bewußt vor Augen, sondern imitiert stattdessen den Wissenschaftler, indem er Kuckucks Tochter Zouzou ebenfalls durch einen ausgiebigen Vortrag den „Kopf zurechtsetzen” (GW, IX, S. 638) möchte. Mit dieser langen Rede kehrt Felix an den Ausgangspunkt seiner Ausführungen zurück, indem er nochmals ein Plädoyer für den schönen Schein hält. Weil dies tückische Verschen den Glauben zerstören will an Schönheit, Form, Bild und Traum, an jedwede Erscheinung, die natürlich, wie es im Worte liegt, Schein und Traum ist, aber wo bliebe das Leben und jegliche Freude, ohne die ja kein Leben ist, wenn der Schein nichts mehr gälte und die Sinnenweide der Oberfläche? (GW, IX, S.633) Felix erzählt von der Liebe als dem Sinnbild der Allsympathie und parodiert damit auch die Sprache von Goethes Wilhelm Meister. Zouzou begegnet seinem Werben jedoch mit einer nüchternen, frigiden Aufdeckung seiner Scheinhaftigkeit: „Patatípatatà!“ machte sie. „Umsponnen und verwoben und der liebliche Blumenkuß! Alles nur Süßholzgeraspel, um uns in euere Bubenlasterhaftigkeit hineinzuschwatzen! Pfui, der Kuß, der gar zarte Austausch! Er macht den Anfang, den rechten Anfang, mais oui, denn eigentlich ist er das Ganze schon, toute la lyre, und gleich das Schlimmste davon, denn warum? Weil es die Haut ist, was euere Liebe im Sinn hat, des Körpers bloße Haut, und die Haut der Lippen ist allerdings zart, dahinter ist gleich das Blut, so zart ist sie, und daher das poetische Sichfinden der Lippenpaare – die wollen auch sonst überallhin in ihrer Zartheit, und worauf ihr aus seid, das ist, mit uns zu liegen nackt, Haut an Haut, und uns das absurde Vergnügen zu lehren, wie ein armer Mensch des anderen dunstige Oberfläche abkostet mit Lippen und Händen, ohne daß sie sich schämten der kläglichen Lächerlichkeit ihres Treibens und dabei bedächten, was ihnen gleich das Spiel verdürbe und was ich einmal als Verschen gelesen habe in einem geistlichen Buch: ›Der Mensch, wie schön er sei, wie schmuck und blank, Ist innen doch Gekrös’ nur und Gestank‹“ (GW, IX, S. 632-633) Dotzler entdeckt in der Entgegnung Zouzous auf Felix’ Redeschwall eine Entlarvung der puren Phrasenhaftigkeit von Krulls Worten ohne rechten Inhalt. Die Rede komme ans Ende, weil eine Frau ihren Strom unterbricht. Die parodistische Zersetzung des Bildungsromans besteht nicht – wie so oft und meist im Blick auch auf eines Castorps Orientierungslosigkeit vermutet – in der Auflösung überkommener Legitimationszusammenhänge, sondern weit oberflächlicher im Frauen Lieben wie Sprachen Sprechen.191 191 Dotzler: Der Hochstapler, S. 143. 92 Die Direktheit, mit der die Tochter des Paläontologen Felix nach seiner phantastischen Rede auf den Boden der Realität zurückholt, könnte, um die Überlegungen Dotzlers weiterzuführen, ein Beweis für die Simulation sein, auf der Krulls ganzes Leben beruht. Konsequenterweise müßte man dann sowohl die Reden von Zouzou als auch von Kuckuck als ironischen Widerpart zu Felix Krull verstehen. Die Ironie durchstößt die maskierende Oberfläche des Hochstaplers, macht ihn transparent und wirkungsloser. Die Tatsache, daß Zouzou schließlich doch noch Felix’ Verführungskünsten erliegt, bestätigt jedoch nur seine Behauptung, daß die „Welt ohne Schein nichts mehr gälte”. Der Mensch benötigt ihn, um in das Reich der Allsympathie einzutauchen. Zouzous Ansichten über die zwischenmenschliche Liebe ähneln den Äußerungen ihres Vaters, wenn dieser Felix darauf aufmerksam macht, daß er nicht vergessen solle, daß der „vollschlanke Frauenarm”, der ihn umschließt, „nichts anderes ist als der Krallenflügel des Urvogels und die Brustflosse des Fisches” (GW, IX, S. 541). Felix, der sich dieses schönen Scheins des vollschlanken Frauenarmes und der Liebe zwischen zwei Menschen selbstverständlich im klaren ist, äußert indirekt Kritik am Pessimismus Schopenhauers, die den Erkenntnisekel impliziert. Krull setzt ein Zeichen für die ästhetische Weisheit und gegen die Erkenntnis, die den Menschen in keiner Weise hilfreich sein kann. Für Wysling stellt das Integrationsproblem der Kuckucksepisode keine Schwierigkeit dar, da er in dieser einen Figur des Professor Kuckuck Schopenhauer, Nietzsche, Wagner, Freud und Goethe vereinigt sieht, die Wyslings Meinung zufolge im ganzen Roman ständig präsent sind. Indem er allen vorkommenden Personen im Felix Krull jeweils einen Platz in der olympischen Götterfamilie einräumt, in der Felix die Rolle des Hermes und Kuckuck die des Göttervaters Zeus übernimmt, stellt sich die Frage nach der Bedeutung des Gesprächs nicht mehr. Wenn Wysling jedoch gleichzeitig diese Begegnung als Selbstgespräch von Thomas Mann identifiziert,192 kristallisiert sich damit insofern ein Widerspruch heraus, als diese Deutung im Gegensatz zur mythologischen auf einer ganz anderen Ebene stattfindet. Sie würde eher der Parodie eines Bildungsromans näher kommen. Genau diese Tatsache liefert den Grund für das Vorhandensein der Kuckucksepisode. Auf die Leserin wirkt die Szene auf den ersten Blick irritierend und konzeptionell brüchig; jedoch wenn man den Roman als eine Art Parodie auf den Bildungsroman versteht, wie es Thomas Mann selbst mehrmals ausdrücklich getan hat, dann ist das Gespräch unabdingbar 93 und erhält plötzlich einen vollkommen logischen Platz. Es bedeutet keine Unterbrechung der durchheiterten Handlung, da es genauso wie Krulls äußere Verkleidung, sprachliche Nachahmungen usw. als Element der Darstellung von Krulls Simulantentum und der ironischen Betrachtung des Bildungsbürgers zu verstehen ist. Es wird nur eine Ebenenverlagerung vorgenommen, von der kriminellen, betrügerischen zur geistig intellektuellen Ebene. Hierbei ist der Inhalt der Rede des Paläontologen zweitrangig, in erster Linie ist die Einbindung der Episode innerhalb der ganzen Handlung entscheidend. Der Versuch der vollständigen Entschlüsselung des Kuckuckgesprächs ist immer zum Scheitern verurteilt, weil es bezüglich der Entstehung und Entwicklung des Erdenlebens viele Allgemeinplätze enthält und damit seine Glaubwürdigkeit einbüßt. Genau dieses hochtrabende Räsonieren Kuckucks über ’Gott und die Welt’, das geschwollen wirkt und dem Bildungsbürgertum entsprechend unter dem Humanitätsgedanken und dem Einfluß der Aufklärung eine positive moralische Weltanschauung vermittelt, travestiert der Roman. Das Simulantentum Felix Krulls deckt die Scheinhaftigkeit des Bildungsbürgertums auf, indem es für Felix ein Leichtes ist, durch einfaches ’Nachplappern’ gebildet zu erscheinen. Diese Interpretation des Kuckucksgesprächs geht mit Dotzlers Theorie der referenzlosen Simulation einher, wonach Kuckucks Vortrag dem klassischen Muster des Bildungsromans folgt, d. h. über Natur und Seele philosophiert, jedoch bei Felix auf keine ehrliche Resonanz stößt. Krull fällt ein vernichtendes Urteil über die Erkenntnisse Kuckucks, indem er sie lediglich für seinen eigenen Vorteil nutzt, um bei anderen Bekanntschaften damit zu glänzen – dafür taugen sie allemal –, womit er sie aber gleichzeitig zum „Nullsummenspiel”193 degradiert. Thomas Mann läßt den moralisierenden Serenus Zeitblom hinter sich, parodiert den ganzen Bildungsballast im Kuckucksgespräch und sympathisiert stattdessen mit dem erfrischenden Simulanten Felix Krull, der in der Allsympathie schwebt. Bezeichnenderweise geht Leverkühn an seiner revolutionären Kunst zugrunde, während Felix sich in der Welt zurechtfindet. Felix Krull verkörpert den utopischen Künstler, der Thomas Mann immer zu sein wünschte, in harmonischem Einklang mit dem Leben. Natürlich offenbaren sich auch bei Felix hinter der Maske seelische Verletzungen, die er in seiner Kindheit durch Isolation erfahren hat und nun mit seiner hochstaplerischen Lebensweise kompensiert. Aber Felix 192 Vgl. Wysling: Wer ist Professor Kuckuck?. In: Sprecher; Bernini: Hans Wysling. Ausgewählte Aufsätze: 1963-1995, S. 309. 193 Vgl. oben, S. 62. 94 schlägt nicht den Weg der anderen Künstlerfiguren von Mann ein, die an dem Versuch, Kunst und Leben in die Balance zu bringen, zugrunde gehen, sondern er geht in die Offensive, die in seinem speziellen Fall das Hochstaplertum bedeutet. 6. Ein Blick in die moralische Welt des Hochstaplers Felix Krull Die scheinheilige Moral und die „edlen Sitten“, Symbole des im Niedergang begriffenen Bildungsbürgertums, repräsentieren für Felix Krull den verzweifelten Versuch der Aristokratie des Geldes, sich von den „Grob- und Niedriggeborenen“ (GW, IX, S. 611) abzuheben und bieten für ihn somit Anlaß, diesen Habitus zu widerlegen und zu parodieren. Folgendermaßen verteidigt Felix seine Darstellung der „großen Freude“, die er mit seiner Amme Genofeva erlebt, wenn dabei der edle Stil und die „Schicklichkeit“ nicht verletzt wird: Vielmehr bin ich gewillt, in den folgenden Zeilen den eingangs dieser Aufzeichnungen zugesicherten Freimut sorgfältig mit jener Mäßigung und jenem Ernst zu verbinden, den Moral und Schicklichkeit diktieren. [...] Es ist gerade, als ob es sich um den simpelsten, lächerlichsten Gegenstand von der Welt handelte, wenn man die Leute so witzeln und jökeln hört, während doch das strikte Gegenteil der Fall ist, und von diesen Dingen in einem frechen, liederlich tändelnden Tone reden, die wichtigste und geheimnisvollste Angelegenheit der Natur und des Lebens dem Gewieher des Pöbels überantworten hieße. (GW, IX, S. 311) Felix kann sich dabei im Einvernehmen mit Nietzsche fühlen: „[...] es ist ein Grundglaube aller Aristokraten, dass das gemeine Volk lügnerisch ist. „Wir Wahrhaftigen“ – so nannten sich im alten Griechenland die Adeligen“.194 Sein Tun sieht Felix als moralisch gerechtfertigt an, vor allem, weil er sich als Auserwählter fühlt und sich innerlich gegen die „unnatürliche Gleichstellung“ auflehnt. Felix stellt den Schein über das Sein, was aber nicht heißen muß, daß Felix seine Mitmenschen betrügt. Kant sagt in seiner Pragmatischen Anthropologie dazu: Aber den Betrüger in uns selbst, die Neigung zu betrügen, ist wiederum Rückkehr zum Gehorsam unter das Gesetz der Tugend und nicht Betrug, sondern schuldlose Täuschung unserer selbst.195 194 195 Nietzsche: Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 209. Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, S. 67. 95 Das würde bedeuten, daß Felix Krull sich lediglich dem Tugendzwang der Gesellschaft verpflichtet fühlt und deshalb unbeabsichtigt einer Selbsttäuschung unterliegt. Da ihm alle Personen, die er im Laufe seines Lebens trifft, sofort ergeben sind, würde das Kants These bestätigen, daß die in der Gesellschaft erzwungenen Tugenden die Verinnerlichung eines ehrlichen, authentischen und moralisches Verhaltens fördern können. Da in den Bekenntnissen kein Gegenspieler auftritt, der dem Anspruch auf Wahrheit gerecht werden kann, wird die Verwirrung noch verstärkt. Die Felix umgebende Gesellschaft ist ebenfalls dem Schein verfallen. Authentizität ist unsichtbar, sichtbar ist immer nur der Schein. Felix bleibt auch in der Maske souverän. Die Täuschungen, die er vollführt, sind untrennbar mit seinem Hochstaplertum verbunden und können unter diesem eingeschränkten Blickwinkel nicht zur Simulation gerechnet werden, da sie innerhalb der Rolle des Hochstaplers als ’authentisch‘ gelten können. ’Authentisch‘ sein heißt auch, in seinen Handlungen keinen äußerlichen Zwängen zu unterliegen. Das bedeutet aber wiederum auch, sich freiwillig dem Zwang zu unterwerfen, den Kant als „praktische Necessitation“ beschreibt. Wird eine Person durch „motiva objective moventia, durch Bewegungsgründe der Vernunft mit seiner größten Freiheit ohne allen Antrieb“196 gezwungen, können wir von moralischem Zwang sprechen. So schreibt Kant in seiner Vorlesung über Ethik: Die Freiheit wächst mit dem Grade der Moralität. [...] Je mehr einer sich selbst zwingen kann, desto freier ist er. Je weniger er darf von anderen gezwungen werden, desto innerlich freier ist er. Je mehr sich einer übt zu zwingen, desto mehr wird er frei.197 Deshalb sind Verstellungen oder geglückte Täuschungen für die Beurteilung von Authentizität irrelevant. Felix Krull verhält sich wie der Kluge Weltmann bei Balthasar Gracián, dem spanischen Moralisten aus dem 17. Jahrhundert. Sein Handeln beruht auf Souveränität und auf der Befähigung, über das ihm Verfügbare zu herrschen. Er paßt sich der Gesellschaft an, läßt sich jedoch nicht zu sehr von ihr vereinnahmen, indem er mit der Kunst der Verstellung die Welt des Scheins zu seinen eigenen Gunsten manipuliert. Er zeigt uns nur sein Äußeres, die Höflichkeit, die Rolle – den Schein. Felix erscheint den Lesern als Simulant, da ihm seine Liebesabenteuer mit Rosza und Madame Houpflé nicht schaden oder ihm gar seine Maske entreißen, die vielleicht gar nicht vorhanden ist? Nach Gracián er196 197 Kant: Eine Vorlesung über Ethik, S. 41. Ebd., S. 40-41. 96 reicht der Weltmann Souveränität, indem er seine Unbeherrschtheit diszipliniert und nie aus der Fassung gerät: Ein großer Punkt der Klugheit, nie sich zu entrüsten. Es zeigt einen ganzen Mann von großem Herzen an: denn alles Große ist schwer zu bewegen. Die Affekte sind die krankhaften Säfte der Seele, und an jedem Übermaße derselben erkrankt die Klugheit: steigt gar das Übel bis zum Munde hinaus, so läuft die Ehre Gefahr. Man sei daher so ganz Herr über sich und so groß, daß weder im größten Glück noch im größten Unglück man die Blöße einer Entrüstung gebe, vielmehr, als über jene erhaben, Bewunderung gebiete.198 Felix Krull ähnelt aber auch dem „honnête homme“, der von La Rochefoucauld, einem der wichtigsten Aphoristiker in der europäischen Moralistik, geprägt wurde. Im Gegensatz zu Gracián lehrt der französische Moralist nicht die permanente Verstellung als Überlebensstrategie, sondern empfiehlt eine Balance zwischen Offenheit und Diskretion, d. h. eine Verbindung von Aufrichtigkeit und Diplomatie. In der Offenheit zeigt sich nach La Rochefoucauld die Schwäche, die jedoch den Weg zur Liebe bereitet. Die Diskretion dagegen zeuge von Stärke und Disziplin und bewahrt vor Spott und Lächerlichkeit. Dotzler beschreibt das Erzählprinzip der Bekenntnisse ebenfalls als ein Zusammenspiel von „Mitteilung und Geheimhaltung“. Diese Sichtweise läßt jedoch Felix’ Simulationen unberücksichtigt. Hieran wird offenbar, daß Felix wohl doch eher dem Handorakel von Grácian folgt, denn La Rochefoucauld negiert die Täuschung und bestimmt den Betrug und Selbstbetrug als Grund des Sozialen, als Urkräfte der Eigenliebe. Die scheinbaren Tugenden seien nur verkleidete Laster: Die Laster mengen sich in das Zusammenspiel der Tugenden wie die Gifte in das System der Heilmittel. Die Klugheit vereinigt und mildert sie und bedient sich ihrer mit Nutzen gegen die Übel des Lebens.199 In den Maximen und Reflexionen von La Rochefoucauld zeigen sich erste moralische Zweifel, die an der Kritk am perfekten künstlichen Verhalten in der Sphäre des Hofes sowie der stärkeren Hinwendung zur Aufrichtigkeit in Verbindung mit Disziplin und Taktik sichtbar werden. Eine Tagebuchnotiz von Thomas Mann aus dem Jahr 1951 zeigt seine Befürchtungen, daß Felix zu sehr immoralische Züge annehmen könnte. 198 199 Gracián: Handorakel und Kunst der Weltklugheit, S. 29. La Rochefoucauld: Maximen und Reflexionen, S. 27. 97 Besorgnis, daß Krull dem »Immoralisten« zu nahe kommt. Die innere Haupttendenz geht ja doch auf ein Leben in Einsamkeit und Verschwiegenheit, beglänztes Leiden. Nur keine ausgedachte Welt wie im »Schlaraffenland«. (Tb, 22. 7. 1951)200 Thomas Mann war sich also selbst dieser Problematik bewußt. Er wollte verhindern, daß der Habitus des leidenden Künstlers von der glänzenden Erscheinung des Hochstaplers überlagert wird. Während die Helden der anderen Erzählungen als Künstler meistens direkte Konflikte mit dem Leben austragen müssen, schlängelt sich Felix durchs Leben, indem er mit seiner Freundlichkeit und positiven Ausstrahlung alle Menschen auf seine Seite ziehen kann. Die Konflikte jedoch, die andere Figuren wie Adrian Leverkühn, Thomas Buddenbrook oder Tonio Kröger direkt aussprechen und mit anderen diskutieren, löst Felix Krull mit seiner Lebensweise des ästhetischen Scheins und der Simulation. Das bedeutet, daß die Problematik die gleiche bleibt und sich nur ihre Darstellungsweise ändert. 7. Autobiographie und Authentizität im Felix Krull Die Betrachtung des Autobiographieproblems in den Bekenntnissen ist untrennbar mit den Begriffen Simulation und Authentizität verbunden. Vordergründig kommt es nach den Kriterien von Philippe Lejeune zu keinem Abschluß des „autobiographischen Paktes“, da der Name des Autors nicht mit dem Namen der Hauptfigur des Textes übereinstimmt. Lejeune differenziert zwischen dem „autobiographischen“ und dem „romanesken Pakt“. Der „romaneske Pakt“ wird hergestellt, wenn die Figur einen anderen Namen als der Autor besitzt und auch „implizit auf der Ebene der Verbindung Autor – Erzähler“ der „autobiographische Pakt“ nicht abgeschlossen werden kann. Sowohl der Titel des Hochstaplerromans als auch die parodierende Form, in der der Erzähler zu Beginn die Gründe für das Schreiben seiner Bekenntnisse darlegt und ihre Wahrhaftigkeit betont, verwehren den Abschluß des „autobiographischen Paktes“.201 Auch unser außertextuelles Wissen, die grotesken Erlebnisse und der spielerische Umgang mit der Form im Felix Krull legen der Leserin nahe, daß sie es mit einer fiktiven Autobiographie zu tun hat. Jedoch, sind das genug Beweise für einen Roman in Form einer fiktiven Autobiographie? Die scheinbare Unwahrscheinlichkeit der Geschehnisse sowie die Form lassen uns nur eine Fiktion erahnen. Kön200 Thomas Mann: Tagebücher. Im laufenden Text zitiert mit der Sigle Tb. 98 nen uns also textuelle Elemente endgültigen Aufschluß über die Art der Authentizität der Hochstapler-Memoiren geben? Jean Starobinski begreift den autobiographischen Stil nicht als Form, sondern als Abweichung. Die Untersuchung der Form könne nicht als Kriterium für die ’Echtheit‘ der Autobiographie herangezogen werden, da sie beim Rezipienten häufig einen fiktiven Eindruck hervorrufen könne. Starobinski konstatiert deshalb in der Autobiographie die Kollision eines aktuellen und eines vergangenen Ichs, wodurch die typisch autobiographische Spannung erzeugt wird. Der „Stil als Abweichung“ zeigt sich demnach sowohl auf zeitlicher als auch auf persönlicher Ebene. 202 Bei Felix entwickelt sich jedoch im Verlauf des Romans keine Differenz zwischen dem vergangenen und dem gegenwärtigen Ich. Die Leserin wird in ein abenteuerliches Verwirrspiel einbezogen, das bei ihr Zweifel über das autobiographische Schreiben aufkommen lassen. Auf der ersten Seite von Felix’ Bekenntnissen scheint sich die Paradoxie der autobiographischen Gattung zu bewahrheiten. So spricht Felix am Anfang noch davon, daß er seine Lebensgeschichte „in völliger Muße und Zurückgezogenheit“ sowohl „müde, sehr müde“ niederschreibt. Das erzählende Ich kommentiert das erzählte Ich, wenn das erstere „Irrtümer und Leidenschaften“ gesteht, aus denen sich sein Leben zusammensetzt. Jedoch schon auf der nächsten Seite der Geständnisse des Hochstaplers existiert die Ich-Spaltung nicht mehr und wir finden eine völlig veränderte Erzählsituation vor. Statt des Erzählerkommentars und der Reflexion eines Bekehrten und Enttäuschten tritt uns nun eine ungebrochene Schauspielerexistenz entgegen, die den Betrug und eine permanente Selbstanpreisung fortführt. Felix bezeichnet sein Leben als trügerisch und unterstellt seinen Bekenntnissen gleichzeitig einen moralischen Wert, da er sie „unter dem Gesichtspunkt der Wahrhaftigkeit“ verfaßt habe. Für Starobinski ist das Subjekt daher nur in der Abweichung verortbar, welche durch die Schreibfeder künstlich hergestellt wird, d. h. nur der Schreibakt selbst kann als ’authentisch‘ gelten. Die Tatsache, daß Felix im Verlauf seiner Bekenntnisse die Leser wiederholt an seine aktuelle Schreibsituation erinnert, können wir als ein Hinweis auf den Versuch werten, die ’Authentizität‘ seines Berichtes zu bekräftigen. Stetig den Adressaten im Blick, begründet der Erzähler das Übergehen bestimmter Ereignisse, mutmaßt über die Gedanken seiner Leser oder schwört sie nochmals auf die moralische Integrität seiner Erlebnisse ein. 201 Lejeune: Der autobiographische Pakt, S. 232-233. 99 Zu Beginn des zweiten Buches eröffnet Felix seiner Leserschaft das Geständnis, daß er seine Lebensbeichte auch im Hinblick auf den erhofften Beifall verfaßt und im Wetteifer mit den Schriftstellern um die Gunst des Publikums in den „besten Häusern“ buhlt. [...] so kann ich mich der freudigen Hoffnung nicht verschließen, daß meine Eröffnungen, sollten sie auch von den Fabeln der Romanschreiber in Hinsicht auf gröbere Aufregung und Befriedigung der gemeinen Neugier in den Schatten gestellt werden, ihnen dafür durch eine gewisse feine Eindringlichkeit und edle Wahrhaftigkeit desto sicherer den Rang ablaufen werden. (GW, IX, S. 323) Felix suggeriert mit diesen Bemerkungen die Echtheit seines Berichtes. Da er jedoch am Anfang von seinem „trügerischen Leben“ spricht, das er aber unter dem Aspekt der Wahrhaftigkeit Revue passieren lasse, schleicht sich bei der Leserin der Verdacht ein, daß auch seine vermeintliche Autobiographie unter dem Zeichen des Betruges steht. Es besteht eine Symmetrie zwischen Erzählen und Erleben, wobei jeglicher moralische Anspruch, den Felix erhebt, verlorengeht. Als Immoralist befindet er sich jenseits von Gut und Böse. Die Leser werden in eine Welt geführt, in welcher sie nicht mehr zwischen Wahrheit und Betrug, Simulation und Authentizität, Moral und Scheinhaftigkeit unterscheiden kann. In Meyers Kleines Konversationslexikon von 1908 können wir unter dem Stichwort Authentie folgendes lesen: Authentie (Authentizität, griech.-lat.), Echtheit einer Nachricht, einer Schrift, einer Urkunde. Authentisch, echt, glaubwürdig; bei einer Urkunde: von dem herstammend, den der äußere Anschein als den Urheber aufweist. Authentisieren, beglaubigen. Authentische Interpretation, die vom Urheber einer Vorschrift, insbes. vom Gesetzgeber selbst, ausgehende Auslegung ihres Inhalts.203 Wichtig erscheint mir hierbei die Definition der Authentizität aus dem Blickwinkel des Betrachters, der allein die Entscheidung über die Echtheit eines Objektes fällt. Bei der Urkunde heißt es, daß sie von dem stammt, den der „äußere Anschein als Urheber aufweist“. Hierin zeigt sich bereits die Widersprüchlichkeit, wenn man von Authentizität spricht. Sie stellt auf der einen Seite einen Gegenpol zum Schein dar, findet aber gleichzeitig ihre Bestätigung nur durch den äußeren Anschein. Der Akt des ’Authentisierens‘ impliziert in dieser Definition zwar nur den juristischen Vorgang der Bestätigung des für echt befunde202 203 Starobinski: Der Stil der Autobiographie. In: Niggl: Die Autobiographie, S. 203-207. Meyers Kleines Konversations-Lexikon in sechs Bänden. Bd. 1., S. 486. 100 nen Dokuments und wird damit Teil des machtbestimmten „Obrigkeitsjargons“.204 Trotzdem offenbart auch dieser rechtliche Hergang die Problematik des diffizilen Authentizitätsbegriffs. Es ist die Rede von Glaubwürdigkeit, Beglaubigung und Auslegung – alles vage Begriffe, die selbst einer Interpretation bedürfen. Demnach entscheidet die Leserin für sich selbst, inwieweit sie sich in das „Textspiel“ verstrickt und ob sie die Bekenntnisse als Roman oder als Autobiographie lesen möchte. 8. Zusammenfassung Die neueren Forschungsansätze von Jürgen Jacobs, Bernhard J. Dotzler und Gerhard Härle zu den Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull offenbaren eine Gemeinsamkeit: Sie distanzieren sich von bisherigen Deutungsversuchen, indem sie in den Blickpunkt ihres Interesses nicht ausschließlich die altbekannte Thomas-Mann-Problematik des Verhältnisses zwischen Kunst und Leben ins Licht des Dreiergestirns Nietzsche – Schopenhauer – Wagner stellen, sondern auf die Besonderheiten dieses Schelmenromans eingehen. Jacobs verwirft den Bildungsballast und wendet sich diametral gegen die Interpretationen, die sich ausschließlich auf die mythologischen und psychologischen Elemente konzentrieren, wie z. B. Hans Wyslings Untersuchung Narzißmus und illusionäre Existenzform. Stattdessen betont Jacobs die Komik des Textes und entlarvt die Interpreten als Opfer der Simulationen des Hochstaplers. Felix’ Täuschungen versteht er als ein Mittel, sich die Gunst der Gesellschaft zu sichern, die für die Erhaltung des Lebens notwendig ist. Dotzler hat sich zur Aufgabe gemacht, die von Jean Baudrillard historisch entwickelten Stufen der Simulakren auf die Entwicklung der Literatur zu übertragen. Es geht ihm nicht darum, vergangene Texte der heutigen Erfahrung anzupassen. Als Ausgangspunkt dient ihm die Dichtung von 1800. Von diesem Zeitpunkt an signalisiert die Literatur nach Dotzler ihre Selbstreflexivität. Der moderne Stoff des Hochstaplerromans mit seinen wechselnden Identitäten steht, laut Dotzler, im Kontrast zur erzählten Lebensgeschichte „mit kaum einem ernst zu nehmenden Zweifel an Fug und Recht“.205 Schon auf der ersten Seite manifestiere sich das ambivalente Verhältnis zwischen der Technik der Literatur und dem 204 Vgl. Lethen: Versionen des Authentischen. In: Böhme; Scherpe: Literatur und Kulturwissenschaften, S. 210. 205 Dotzler: Der Hochstapler, S. 40. 101 dem Schein der Dichtung. Dotzler begreift die Simulation als Notwendigkeit, um ein Gleichgewicht zwischen Literatur und Dichtung zu erreichen. Dotzlers Simulationsverständnis auf der Grundlage von Baudrillards Entwicklungsstufen der Simulakren sowie Härles begrenzter Simulationsbegriff im engen Rahmen von Vortäuschung und Verbergung führen zu keiner hinreichenden Betrachtung des Simulationsproblems und lassen wichtige Komponenten der Bekenntnisse außer acht. Wenn Dotzler den Hochstaplerroman als eine Parodie des klassischen Bildungsromans beschreibt und von Simulation statt Mimesis spricht, da Thomas Mann das zeitgenössisch aktuelle Genre des Kriminalromans wählt, bleiben die konkreten Simulationsakte im Roman unberücksichtigt. Dotzler attestiert dem Felix Krull keinen Mehrwert von Sinn, fragt jedoch auch nicht nach den Ursachen und Konsequenzen der Verstellungen des Hochstaplers. Seine Perspektive verharrt in der Betrachtung von Dichtung als Simulakrum. Härle kehrt dagegen in seiner hermeneutischen Analyse unmittelbar zur Figur Felix Krull zurück und begründet die sich komplementär zueinander verhaltenden Täuschungsstrategien mit dem Zweck der Verschleierung der homoerotischen Neigungen des Autors Thomas Mann. Obwohl auch Härle von sich auflösenden Grenzen zwischen Wahrheit und Lüge, Wirklichkeit und Fiktion, Maskierung und Simulation ausgeht, bleibt er in seiner Untersuchung dem einheitlichen Subjekt verhaftet, das aufgrund eines „verborgenen Defektes“ zu Simulationen gezwungen wird, um dem Verlangen seiner Seele durch die Körpersprache Ausdruck zu verleihen. Diese These erlaubt eine Anschlußmöglichkeit an Helmuth Plessners paradoxe Maxime der natürlichen Künstlichkeit des Menschen, die ihn dazu bestimmt, künstliche Konstruktionen zu gebrauchen, um ihm ein Überleben in der Zivilisation zu sichern. Sowohl Dotzler als auch Härle fragen nicht nach den Funktionsmechanismen von Simulationen im literarischen Text. Wie verändert sich unsere Wahrnehmung des Textes als Folge des Einsatzes verschiedener Täuschungsmanöver? Mit dem Versuch Dotzlers, die von Baudrillard entwickelte Ordnung der Simulakren auf die Literatur zu übertragen, exemplarisch vorgeführt am Felix Krull und dem Zauberberg, gelingt es ihm, die Bekenntnisse in die dritte Stufe der Simulakren einzuordnen, da sie nur noch auf sich selbst verweisen, und damit auch die Literatur als Teil des kulturellen Entwicklungsprozesses von der Abbildung zur Simulation zu beschreiben. Den Hochstapler als personifiziertes Simulakrum identifiziert Dotzler als einzig mögliche Form, um 102 Dichtung zu simulieren, sich jedoch gleichzeitig auch in das zeitgenössische Aufschreibesystem zu integrieren. Wolfgang Isers „Spiel der Differenz“ ermöglicht es, Dotzlers und Härles Ansichten als jeweils verschiedene Möglichkeiten des Simulationsspiels zu begreifen. Iser versteht den literarischen Text als „anthropologischen Modus“, der selbst schon anthropologisches Wissen impliziert. Als Simulakrum reagiert der Text auf die Brüchigkeit der menschlichen Identität und die damit verbundene Inszenierungsnotwendigkeit. Diese Lesart der Simulation gestattet es, die exzentrische Position im Felix Krull zu untersuchen und das Rollenspiel der Hotelsozietät im Hotel St. James and Albany zu analysieren. Die Hotelgäste haben ihre Rolle als Funktionsträger der Gesellschaft abgelegt und lassen sich nun von dem Hochstapler Felix Krull verführen und betrügen. Der Simulant Felix Krull fungiert als einzige Instanz, der sich seiner exzentrischen Position bewuß ist und repräsentiert somit das Medium, das die Differenz sichtbar macht und das Betrugsbedürfnis von Madame Houpflé, Miss Eleanore Twentyman sowie der Familie Kuckuck entlarvt. Felix trägt die unterschiedlichsten Masken und simuliert mehrere Identitäten, wobei nach Härle und Plessner die einzelnen Rollen alle Teil eines souveränen Ichs sind, die Simulation damit also selbst nur als Schein zu begreifen ist. Strenggenommen geht Felix’ Verhalten über die exzentrische Position hinaus, da bei ihm der Bruch innerhalb des Doppelaspektes von Rollenträger und Rollenfigur, d. h. öffentlicher und privater Sphäre, aufgehoben ist. Der Mensch hat zwar die Möglichkeit, so Plessner, sich dieser Duplizität gewahr zu werden und sie auch wieder zu vergessen – die Rollenvielfalt kann jedoch nur mit dem Menschen zusammengedacht werden.206 Iser bestimmt die exzentrische Position Menschen als initiierendes Moment für das Bedürfnis der Darstellung von etwas Imaginärem. Felix Krull lebt diese Sehnsucht aus und transferiert sie in ’reales‘ Geschehen. Bei jedem Täuschungsakt Krulls ist ein Hinweis darauf zu finden, daß sich der Getäuschte willentlich und wissentlich betrügen läßt. Der Hausarzt Doktor Düsing fordert Felix mit einem „Blinzeln von seiner Seite“ auf, sich ihm als „schulkrank“ zu präsentieren. Felix ist ihm jedoch nie „das kleinste Schrittchen entgegengekommen“ (GW, IX, S. 303). Nach der Musterung verabschiedet der Unterbefehlshaber Felix mit den Worten: „Und wer weiß, ob sie nicht Feldwebel hätten werden können, wenn sie kapituliert hätten“ (GW, IX, S. 371). Madame Houplé befiehlt Armand, ihren Schmuck zu stehlen: „Ach, wieviel kost206 Vgl. Plessner: Soziale Rolle und menschliche Natur, S. 235. 103 barer ist mir der Dieb als das Gestohlene! [...] Fort, stiehl dich entschlüpfend weg von meiner Seite, schleiche, finde und nimm. Es ist mein Liebeswunsch ...“ (GW, IX, S. 449). Verstellungen oder geglückte Täuschungen sind für die Beurteilung des ’authentischen‘ Verhaltens von Felix irrelevant. Authentizität ist unsichtbar, transparent ist immer nur der Schein. Sie kann nur aus der Perspektive des Adressaten betrachtet werden, für den nicht die Ordnung des Seins, sondern der Wahrnehmung entscheidend ist. Felix manipuliert mit Leichtigkeit die Welt zu seinen Gunsten, die sich bewußt von ihm in die Irre führen läßt und es genießt. Die Hotelgäste interessiert es nicht, ob Felix simuliert – entscheidend ist für sie der Schein, der auf sie wohltuend wirkt. Härles Darstellung der Körperreaktionen im Verhältnis zur Simulation läßt sich im Rückgriff auf die französischen Moralisten, auf Kant und Nietzsche als eine Aufwertung des Scheins verstehen, die Plessners Eintreten für das Rollendasein und gegen den „Aufrichtigkeitskult“ entspricht. Der Simulationsakt impliziert für ihn die Funktion, die moralische Konfrontation von Wahrheit und Schein aufzubrechen und stattdessen einen Schwebezustand zu erzeugen, den Iser als „Textspiel“ bezeichnet. Während Härle jedoch die Simulation bis zu ihrem Ursprung zurückverfolgt und ihn in Felix’ schlummernden Wunden findet, schließt Iser die teleologische Deutung für sein „Spiel der Differenz“ aus. Deutlich wird diese Tatsache im Gespräch zwischen Felix und Professor Kuckuck während der Fahrt mit der Eisenbahn nach Lissabon. Während der Paläontologe ganz ernsthaft versucht, dem angeblichen Marquis de Venosta zu erklären, daß sein Leben dem Nichts entspringt und der schöne „vollschlanke Frauenarm“ nichts anderes sei als der „Krallenflügel eines Urvogels“ und ihm damit die Scheinhaftigkeit seines Lebens vor Augen führt, entlarvt wiederum Felix diese Rede als Schein, indem er Kuckucks intellektuelle Phrasen aufgreift, um damit später erfolgreich den König zu beeindrucken. Nur das „Episodische“, so Kuckuck, kann sich dem Schein widersetzen und dem Vorwurf des Betruges entgehen. Damit rechtfertigt er indirekt Krulls Simulationen als wahrhaftige Episoden. Der Text fungiert hier als anthropologisches Medium, das nicht einfach anthropologisches Wissen in literarische Imaginationen übersetzt, sondern anthropologisches Wissen durch das Zusammenspiel des „Fiktiven und Imaginären“ produziert. Die Betrachtung des Autobiographieproblems in den Bekenntnissen ist untrennbar mit den Begriffen Simulation und Authentizität verbunden. Der Witz der Hochstapeleien Felix Krulls liegt in der vollständigen Identität des Betrügers mit dem Betrug seiner Erzählung, 104 weshalb es laut Dotzler für die Leserin unmöglich wird zu entscheiden, ob sie es mit einer simulierten Autobiographie oder mit einer autobiographischen Simulation zu tun hat. Für Jean Starobinski ist das Subjekt nur in der Abweichung verortbar, die durch die Schreibfeder künstlich produziert wird. Bei der Analyse der Tagebücher wird dieses Problem der ’Authentizität‘ des Schreibaktes eine wesentliche Rolle spielen. Nachdem das Subjekt im Spiel der Simulation untergegangen ist, stellt sich die Frage nach seiner Funktion im Tagebuch. 105 III. Die Tagebücher von Thomas Mann Um vollständig zu leben, hätte er, so meine ich dann, neben dem politischen Weltwerk etwa ein geheimes und ganz wahrhaftiges Tagebuch führen müssen – ich weiß nicht, ob ich mich verständlich mache. Thomas Mann: Wie stehen wir heute zu Richard Wagner? (1927) 1. Theoretische Grundlagen zum Tagebuch Das Zitat Thomas Manns aus dem kleinen Aufsatz Wie stehen wir heute zu Richard Wagner? (GW, X, S. 893-896) läßt erste Rückschlüsse auf sein Verhältnis zur Aufrichtigkeit im Tagebuch zu. Die Tatsache, daß er von Richard Wagner zur Komplettierung seines Lebenswerks ein geheimes Tagebuch erwartet hätte, könnte ein Signal dafür sein, daß er auch für sein eigenes Tagebuch den Anspruch der Wahrhaftigkeit erhoben hat, wenn nicht die vage Zusatzbemerkung über die Ernsthaftigkeit dieses Anspruches wieder Zweifel aufkommen ließe. Der weitere Hinweis, den das Zitat gibt, bezieht sich auf den Stellenwert, den Thomas Mann dem Tagebuch beimißt. Ohne die tägliche Niederschrift der privaten, intimen Bekenntnisse kann das Künstlerleben nicht als vollständig gelten. Die bewußte Entscheidung, ein Tagebuch aufgrund seiner Funktion als Lebensergänzung zu führen, verdeutlicht Manns Vorstellung vom Leben als Kunstwerk. Ob Thomas Manns Tagebücher die im erwähnten Zitat angelegte Auffassung eines diaristischen Konstruktes bestätigen, versucht die folgende Untersuchung zu erörtern. Bei der Betrachtung von Thomas Manns Tagebüchern werden wir mit Texten konfrontiert, die einen extremen Unterschied zum Roman Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull aufweisen. Während das Subjekt in den Hochstapler-Memoiren im Widerspiel der Simulationen untergegangen ist, scheint es im Tagebuch Dreh- und Angelpunkt zu sein. Was zwingt das autobiographische Schreiben zurück zum Subjekt? Gibt es überhaupt einen Grund für die Rückkehr zum Subjekt? Am Beginn einer theoretischen Erörterung zum Tagebuch stellt sich die Frage, ob es ein besonderes Genre der Literatur ist oder unter die Kategorie des Nichtliterarischen fällt. Martin Lindner geht in seiner Untersuchung zur deutschsprachigen Tagebuch-Literatur von 106 1950 bis 1980 davon aus, daß der Tagebuchschreiber seine Welt sprachlich neu erschafft und damit eine Synthese zwischen „objektiver Normalsprache“ und „subjektiver Literatursprache“ entsteht. Diesem Aspekt, der lange in den Hintergrund gedrängt wurde, möchte Lindner wieder größere Geltung verschaffen. Das wesentliche Merkmal eines Tagebuchs zeigt sich laut Lindner im rhetorischen Anspruch auf Authentizität, der nicht mit dem tatsächlichen Wahrheitsgehalt zu verwechseln ist. Die umständliche Bekräftigung der Authentizität durch den das Tagebuch umgebenden Paratext, wozu die Datierung, die Ortsangabe, Anmerkungen des Herausgebers usw. gehören, bestätige die Annahme, daß sich die ’Authentizität‘ im Tagebuch nicht von selbst versteht. Im Stil von diaristischen207 Schriften liegt für Lindner der Ansatzpunkt der Erschließung ihrer Literarizität. Im Gegensatz zur Literatur in ihrer konventionellen Bedeutung rücke der Stil in Tagebüchern jedoch an die sekundäre Stelle. Die wichtigste Aussage des literarischen Textes liegt dagegen für Lindner im „künstlich erzeugten sprachlichen Geflecht von Verweisungen“,208 das gegenüber der wirklichen Welt der Normalsprache eine relative Eigenständigkeit gewonnen hat. Aus konsequenter textanalytischer Sicht gebe es jedoch keinen Unterschied zwischen literarischen und nicht-literarischen Texten, abgesehen vom Authentizitätspostulat, das durch den „diaristischen Pakt“, eine Formel, die sich anlehnt an den „autobiographischen Pakt“ von Lejeune,209 statuiert wird. Die Leserin, die durch die jeweils herrschenden soziokulturellen Normen geprägt ist, entscheide selbst über Literarizität oder Nicht-Literarizität. Bestätigt wird die rezeptionsästhetische Sichtweise durch die Historizität der Tagebücher. Diarien aus dem 18. Jahrhundert, aus der Zeit der Empfindsamkeit, wirken wie Fiktion und bedürfen der gleichen Interpretation wie fiktionale Texte, d. h. mit dem Voranschreiten der Zeit schwindet der ’authentische Effekt‘ der Tagebücher. Lindner spricht von einer festen Bedeutung, die durch den mitgedachten zeitgenössischen ’impliziten Leser‘ mit seinem Wissens- und Erfahrungshorizont über Literatur und Tagebuch statuiert wird und als Hintergrund des Textes fungiert. Lindner meint hier nicht 207 Die Bezeichnung diaristisch ist synonym zu dem in älteren Forschungsarbeiten (Börner, Jurgensen) verwendeten diarisch zu verstehen. Das Wort diarisch wird in keinem der mir bekannten Wörterbücher nachgewiesen. diaristisch: Nachweis in: Schulz; Basler: Deutsches Fremdwörterbuch, Bd. 4, S. 516-518. 208 Lindner: ’Ich‘ schreiben im falschen Leben, S. 3. 209 Vgl. oben, S. 97. 107 die von Iser geprägte Textfunktion des „impliziten Lesers“,210 der als ein idealtypischer Rezeptionsakt jedem Text inhärent ist. Aufgrund der dem Text anhaftenden Bedeutung müsse sich die Leserin bemühen, den Tagebuchtext zuerst als Sprachspiel und semantisches Geflecht zu begreifen und den soziokulturellen Hintergrund auszuklammern. Lindner versteht den Tagebucheintrag weniger als Ausdruck eines Subjekts, sondern vielmehr als einen Abdruck oder eine Spur. Seine Unsicherheit hinsichtlich der Literarizität der Tagebücher und der Bewertung der Authentizität als ontologische Setzung oder als konstruierte Figur, die während der Rezeption entsteht, zeigt sich in der folgenden Äußerung: Gerade die ’authentische‘ Tagebuch-Literatur zeigt jedoch, daß es ’die Wirklichkeit‘ nicht gibt. Sie ist ein Konstrukt, das jeder mündliche oder schriftliche Text (und übrigens auch jede nichtsprachliche Zeichenfolge) teilweise bekräftigt und teilweise transformiert. Wie das im einzelnen funktioniert, läßt sich am Beispiel der Tagebuch-Literatur besonders gut studieren, d. h. einer literarischen Form, die gerade auf der Betonung ihrer ’Wirklichkeitsnähe‘ und der Ableugnung ihrer Literarität beruht. Darum sind die Tagebücher, die im profansten Klartext gehalten sind, am schwierigsten zu analysieren. Gerade hier verfallen bislang auch die wissenschaftlichen Tagebuchleser, trotz allen theoretischen Erkenntnissen über das ’literarische Ich‘, unwillkürlich dem Sog des Faktischen bzw. dem monotonen Singsang der Authentizitätsrhetorik.211 Um der Gefahr der unreflektierten ’authentischen‘ Rezeption der Tagebücher zu entgehen, schlägt Lindner vor, jeden Tagebuchtext zunächst einmal als autonomen Text mit eigenen, spezifischen Merkmalen zu lesen, um aufgrund dieser Analyse verifizierbare Eigenschaften für alle Tagebücher zu entwickeln.212 Er benennt drei Punkte, die eine Tagebuchdefinition beinhalten müsse: 1. Text als Grundlage – Erfassung konkreter Textmerkmale und textinterner Funktionen 2. Berücksichtigung aller Texte, die auf normalsprachlicher Ebene als diaristisch bezeichnet werden können, unabhängig von eventuell nicht vorhandenen philosophischästhetischen Aussagen 3. Berücksichtigung aller empirischer Varianten der Tagebuch-Literatur (Logbuch, subjektives Journal, Werktagebuch, Reisetagebuch u. a.)213 210 Vgl. Iser: Der Akt des Lesens; vor allem die Ausführungen zum Kapitel „Leserkonzepte und das Konzept des impliziten Lesers“, S. 50-67. 211 Lindner: ’Ich‘ schreiben im falschen Leben, S. 36. 212 Lindner spricht konkret von der Betrachtung der Tagebücher als „empirische Textsorte“ im Gegensatz zu anderen „normativ-ästhetischen Gattungen“. Lindner: ’Ich‘ schreiben im falschen Leben, S. 8. 108 Außerdem differenziert Lindner zwischen „literarischem Tagebuch“ im engeren Sinne und der weiter gefaßten Definition der „Tagebuch-Literatur“ als Textsorte und Abgrenzung verschiedener diaristischer Schreibweisen. Das „literarische Tagebuch“ problematisiere die Tagebuchform an sich und sei durch eine bewußte oder unbewußte Verwendung von innovativen Schreibweisen gekennzeichnet. Als Beispiele nennt Lindner hier die Tagebücher von Franz Kafka und Klaus Mann, wobei die Gründe für die Einordnung von Klaus Manns Tagebüchern in die literarische Abteilung nicht klar ersichtlich werden. Lindner spricht hier lediglich rein intuitiv von Selbstergründungsprozessen,214 die Klaus Mann immer wieder auf unterschiedlichste Art und Weise literarisch fixiere. Diese nicht ganz unberechtigte Lesart in Beziehung auf Klaus Manns Diarien werde ich zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal aufgreifen. Zur „Tagebuch-Literatur“ im weiteren Sinne zählt Lindner dagegen die Aufzeichnungen von Robert Musil und Thomas Mann. Das diaristische Ich begreift Lindner als eine literarische Konstruktion, bei der die Wirklichkeit in Sprache transformiert und durch sie erst hervorgebracht wird. Der „diaristische Pakt“ wird durch den Paratext, in erster Linie durch die Orts- und Datumsangaben der einzelnen Einträge, geschlossen. Das Tagebuch bestehe nicht aus Wirklichkeitspartikeln, sondern in erster Linie aus Buchstaben mit eigenen Regeln und Gesetzen, und deshalb müsse die wissenschaftliche Leserin den Fehler vermeiden, durch die „Projektion ihrer eigenen Subjektivität“ nur zu intuitiven Ergebnissen zu kommen.215 Ein eventueller „Verfälschungsprozeß“ bzw. eine literarische Konstruktion sei durch einen psychologischen Authentizitätsbegriff korrigierbar.216 Wenn die dargestellte Welt schon nicht ’authentisch‘ sei, dann seien es zumindest die „Eitelkeiten und Verdrängungen, die sich darin manifestieren“.217 Das schreibende Subjekt kann man Lindner zufolge also nur zwischen den Zeilen finden, d. h. im Nichtgeschriebenen. Hier gerät Lindners strukturalistische Denkweise, indem für ihn das Tagebuch in erster Linie aus Buchstaben und Wörtern besteht, die miteinander in Beziehung treten, ins Schwanken. An anderer Stelle gesteht er dann dem Tagebuch auch einen „Akt hermeneutischer Interpretation“ zu, der „zusätzliche, nichtliteraturwissenschaftliche Annahmen erfordert“ und zu einem „hypothetischen Gesamt- 213 Ebd., S. 8-9. Ebd., S. 32. 215 Ebd., S. 5. 216 Ebd., S. 34-35. 217 Ebd., S. 35. 214 109 bild“ verhelfen kann, „in das Subjekt, Welt und Sprache integriert sind.“218 Demnach spiegelt sich das Subjekt in seinen diaristischen Aufzeichnungen nicht wider, sondern diese repräsentieren lediglich einen kleinen folienhaften Ausschnitt des Subjekts, deren Analyse der intersubjektiven Sprach- und Denkstrukturen erst die Begegnung mit der fremden Subjektivität ermöglicht. Die Mitthematisierung des Schreibaktes stellt für Lindner ein eigenes Untersuchungsfeld dar. Er arbeitet mehrere Kriterien für die Definition des Tagebuchs heraus, denen alle der ’Effekt der Authentizität‘ als „normalsprachliches Gattungsmerkmal“ inhärent ist: 1. klar voneinander abgesetzte Textteile 2. ohne direkten Adressat 3. explizite oder implizite Datierung und chronologische Ordnung 4. Verweis auf außertextuelle Wirklichkeit 5. Identifizierung des schreibenden Subjekts mit dem Autor durch den „diaristischen Pakt“219 Weiterhin unterteilt er den diaristischen Raum in die Sphäre des Subjekts und die Sphäre der dargestellten Welt. Der Tagebuchtext unterscheide sich in der dargestellten Welt nicht von einer Ich-Erzählung, bis auf den Authentizitätsanspruch des diaristischen Paktes. Er differenziert zwischen drei Varianten, eine Tagebuchaussage zu analysieren: 1. die objektive Wirklichkeit der dargestellten Welt 2. die subjektive Wirklichkeit des solipstischen Subjekts 3. der Text als semantischer Raum220 Im Tagebuch zählt Lindner zur Objektivität Äußerungen über die soziale Außenwelt und die Identität des Subjekts, die Dingwelt und Natur, die Kultur sowie die objektivierte Innenwelt des Subjekts. Lindner nimmt innerhalb der Tagebücher eine Dreiteilung vor, die an historische Paradigmen angelehnt ist, je nach der Art und Weise, wie sie die Darstellung der ’Welt‘ und des ’Subjekts‘ erzeugen. Er unterscheidet zwischen „Logbuch“, „subjektivem Journal“ 218 Ebd., S. 36. Ebd., S. 11. 220 Ebd., S. 35. 219 110 des ’Subjekts‘ erzeugen. Er unterscheidet zwischen „Logbuch“, „subjektivem Journal“ sowie „diaristischen Aufzeichnungen“. Während das Logbuch auf das Tagebuch eines Schiffskapitäns zurückzuführen sei, finde das subjektive Journal seinen Ausgangspunkt im 18. Jahrhundert, als das Subjekt in das Zentrum des kulturellen und gesellschaftlichen Interesses rückte. Im Gegensatz zum Logbuch steht beim subjektiven Journal die Wahrhaftigkeit des Subjekts im Blickpunkt: Dabei folgt das subjektive Journal allein durch die Verwendung der Schriftsprache verdeckten kulturellen Mustern der Selbstergründung, die den ’wahrhaftigen‘ subjektiven Monolog strukturieren und objektivieren.221 Lindner beschreibt das subjektive Journal als eine „Textspirale“, da jeder Eintrag auf den vorangegangenen zurückgreift und sich das schreibende Subjekt durch bewußte Verwendung einer literarischen Sprache einer ständigen Selbstkontrolle unterwirft. Den Beginn der diaristischen Aufzeichnungen setzt Lindner etwa in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Von diesem Zeitpunkt an häufen sich fragmentarische Aufzeichnungen, die den Prozeß des Schreibens thematisieren, der sich als eine Art „objektiver Subjektivität“222 realisiert. Die diaristischen Aufzeichnungen werden von Lindner als ein „quasi-poetisches Bedeutungsgewebe, das sich auf eine abstrakte Textinstanz, gleichsam einen semantischen Knotenpunkt beziehen läßt“,223 bezeichnet. Selten lasse sich jedoch ein Tagebuch vollständig einer einzigen Schreibweise zuordnen; in den meisten Fällen werde sie durch andere unterbrochen. Den verschiedenen Schreibtypen ordnet Lindner zwei Kontexte zu, zum einen die Eintragung selbst und zum anderen alle anderen Sätze, die sich thematisch ähneln und sozusagen ein eigenes literarisches Feld bilden. Bei Überschneidungen von diversen Schreibweisen entwerfe das Diarium ein Subjekt, das als Funktionsträger mehrerer Bereiche, z. B. des Literaturbetriebs, als Staatsbürger oder auch als Familienmitglied, verschiedene Welten in sich vereint. Bezüglich der Literarizität unterscheidet Lindner zwischen drei Ebenen. Das Logbuch gehört in seiner Gliederung zur Ebene des sachlichen, referentiellen Normaltextes, dessen Urheber sich durch keinen besonderen Stil auszeichnet. Die semiliterarische Ebene wird in erster Linie durch stilistische und narrative Strukturen bestimmt; eine typische Form dafür ist die Reiseerzählung. Die dritte Ebene ist die eigentlich literarische und wird zum Bei221 222 Ebd., S. 23. Ebd., S. 25. 111 spiel durch das Tagebuchgedicht repräsentiert. Manfred Jurgensen faßt diese Selbststilisierung des diaristischen Ichs als ein „Frühstadium des Fiktionalisierungsprozesses“ auf. Dieser Vorgang ist dadurch gekennzeichnet, daß sich „[...] das diaristische Ich als reflektiverfundene Gestalt, als fiktional-literarisches Gegenüber des sich selbst lesenden Ich-Autors offenbart“.224 Thomas Manns Tagebücher ordnet Lindner in die Reihe der Logbücher ein, deshalb werde ich mich dieser Art am ausführlichsten widmen. Das Logbuch, das seinen Anfang als nüchternes Schiffstagebuch eines Kapitäns nahm, dient immer der Registrierung eines geschlossenen Systems. „Logbuch“ ist ein Begriff aus der Seefahrt, wobei das ’Log‘ ursprünglich einen Fahrtgeschwindigkeitsmesser bezeichnete, und im Logbuch folglich alle relevanten Daten für die jeweilige Fahrt vom Kapitän aufgezeichnet werden. Sehr häufig tauchen in der Tagebuch-Forschung Aufzeichnungen von Teilnehmern verschiedener Expeditionen auf, die als Prototypen der Logbücher bezeichnet werden können. Dazu gehören zum Beispiel die diaristischen Notizen von Fridtjof Nansen, der von 1893 bis 1896 die norwegische Polarexpedition leitete: Montag, 23. Oktober, 1893 Noch immer in meiner Höhle. Heute ist die Wassertiefe um 10 Meter geringer als gestern. Die Leine weist nach Südwest, was bedeutet, das wir nordostwärts treiben. Scott-Hansen hat die Messungen vom 19. Oktober ausgewertet und festgestellt, daß wir 10 Minuten weiter nach Norden gelangt sein und uns auf 78° 15´ nördlicher Breite befinden müssen. Endlich also macht sich, da sich der Wind gelegt hat, die nordwärts gehende Strömung bemerkbar.225 Das zentrale System des Logbuchs kann laut Lindner auch ein Garten, ein Haushalt, ein soziopolitisches System oder aber, wie im Fall Thomas Mann, das psychophysische System des Subjekts selbst sein. Das Ego von Mann stehe dabei im Zentrum der Welt. Den geographischen Raum identifiziert Linder mit der Literatur und dem Kulturbetrieb, und Mann zeichne demgemäß alles auf, was die Funktion des Systems „Thomas Mann“ beeinflußt.226 Unwohl, Darmempfindlichkeit. Verstimmt, angegriffen, müde. Diät. Schrieb morgens die Kino-Episode zu Ende und ging etwas spazieren. Schlief nachmittags. Schrieb nach Madrid und Paris wegen Übersetzungen. Die Nummer der N. Fr. Pr., worin »Süßer Schlaf« erschie- 223 Ebd., S. 36. Jurgensen: Das fiktionale Ich, S. 5-7. 225 Nansen: In Nacht und Eis, S. 100. 226 Lindner: ’Ich‘ schreiben im falschen Leben, S. 19. 224 112 nen, scheint endlich ausfindig gemacht. In London scheinen die Dinge sich zu arrangieren. (Tb, 7. 3. 1921) In der Beschreibung von Lindner dient das Logbuch der täglichen Buchführung und wird durch eine rigorose Auswahl der täglichen „chaotischen Datenmenge“ bestimmt. Die Einträge beziehen sich auf ein relativ stabiles Gerüst, das für das Funktionieren des jeweiligen Systems relevant scheint. Das federführende Ich verhalte sich distanziert zu den aufgezeichneten Sachverhalten, so daß keine Thematisierung des Wahrheits-Problems stattfindet, da die Wahrheit durch die „Objektivität der Maßstäbe und Meßmethoden“227 garantiert scheint. Das bedeutet jedoch keineswegs die Relativierung der Authentizitätsfrage, wie später noch zu zeigen sein wird. Im Mittelpunkt meiner Analysen soll die Wahrnehmung der ’Authentizität‘ aus dem Blickwinkel der Leser stehen, d. h. es geht, um bei Lindners Einteilung zu bleiben, um das Problem der „subjektiven Wahrhaftigkeit“. Bei dieser Frage spielt das Öffentlichkeitskriterium eine entscheidende Rolle. In den Tagebüchern vermischen sich Privatheit und Öffentlichkeit zumeist und sind nicht klar voneinander zu trennen. Ein Diarium kann vom Verfasser autorisiert, trotzdem aber nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sein. Die Tagebücher Thomas Manns wurden von ihm selbst autorisiert und für die Öffentlichkeit zwanzig Jahre nach seinem Tod freigegeben, obwohl er sich zwischendurch immer wieder mit dem Gedanken ihrer Vernichtung beschäftigte und dieses Vorhaben auch teilweise in die Tat umsetzte. Die verwischten Grenzen machen es unmöglich, über den Grad ihrer einkalkulierten Öffentlichkeit zu entscheiden, und somit bringen sie das verlockende und geheimnisvolle Moment des Verdachts ins Spiel. Er tritt in dem Moment auf, in dem die objektiven Untersuchungsmethoden an Grenzen stoßen, die nur mit subjektiven Vermutungen zu durchbrechen sind. Dabei ist die Frage des Ziels eminent wichtig: Möchte ich Antworten aus der Geschichte der Subjektkonzeptionen, auf die Frage nach der soziokulturellen Situation und auf literaturpsychologische Fragen nach der Biographie des Tagebuchverfassers finden, oder gebe ich mich mit der Analyse des Schreibaktes und des semantischen Raumes zufrieden. Lindner plädiert für eine Untersuchung des „textanalytischen Fundaments“, wozu die „Analyse des referentiellen Bildes von der ’Welt‘ und vom ’Selbst‘“ sowie die „Analyse der eigentlich ’literarischen‘ Dimension des Textes“ gehört, und darauf aufbauend lassen sich dann die Fragen rund um das Subjekt und seine ihn umgebende soziale Situation 227 Ebd., S. 21. 113 beantworten.228 Anders ausgedrückt: Nach der Analyse der textuellen Auffälligkeiten verringert sich der Verdacht, da man soziokulturelle und biographische Fragen aus dem semantischen Textgefüge erklären kann. Die Verklammerung von objektiver Wahrheit und subjektiver Wahrhaftigkeit bestätigt Lindners Betrachtung des Tagebuchs als archäologisches Relikt, dessen eigentliche Bedeutung erst rekonstruiert werden muß. Die wissenschaftliche Leserin müsse bemüht sein, [...] jeden Tagebuchtext nicht als Projektionsfläche der eigenen Subjektivität aufzufassen, sondern als gleichsam archäologisches Zeugnis einer fremden Kultur, als brüchigen, unvollständigen Fund, der erst im Verlauf der Rekonstruktion seine eigentliche Bedeutung preisgibt.229 Den Gedanken des archäologischen Reliktes läßt Lindner im Laufe seiner Untersuchung zwar wieder fallen, jedoch bleibt er zwischen den Zeilen, wenn von literarischer Konstruktion die Rede ist, ständig präsent. Die künstliche Erzeugung der Authentizität durch die Leserin erfolgt durch Verklärung und Rekonstruktion der objektiven Wirklichkeit der dargestellten Welt, die nur künstlich und konstruiert sein kann und die dargestellte Welt entfremdet, indem sie in eine neue Wirklichkeit eingepasst wird. Gewissermaßen findet hierbei ein doppelter Simulationsvorgang statt, da ja bereits die vom Subjekt dargestellte Wirklichkeit einen fiktiven Charakter gegenüber der „prädiskursiven Wirklichkeit“230 besitzt, sowohl die Wirklichkeit des Subjekts selbst als auch die Wirklichkeit der repräsentierten Welt. Die Wirklichkeit des Textes können wir als ein Konstrukt begreifen, das sich durch Transformation und Filterung gebildet hat. Das Tagebuch bildet den Extremfall einer offenen literarischen Form mit Prozeßcharakter, denn jede einzelne Eintragung kann durch die nächste widerlegt werden. Lindner betont die Sonderstellung des Tagebuchs als literarische Form. Es stellt keinen repräsentativen Ausschnitt einer ’wirklichen‘ Welt dar wie ein „Gebrauchstext“, bildet aber auch keine autonome Sprach- und Textwelt wie ein ’literarischer Text‘. Der Eindruck der ’Authentizität‘ steige, je weniger der Übersetzungsprozeß offensichtlich ist, d. h. ein Verfremdungseffekt von der Leserin wahrgenommen wird. Thomas Manns Logbuch stellt dabei den speziellen Fall eines fast geschlossenen Systems dar, da er fast lückenlos täglich bis auf einzelne Ausnahmen seine Eintragungen vorgenommen hat. Interessant sind die Äußerungen 228 Ebd., S. 8. Ebd., S. 4. 230 Vgl. oben, S. 39. 229 114 Lindners zum Schichtmodell in bezug auf die Rekonstruktion des Kontextes, das sich aus dem allgemeinen Weltbild der jeweiligen Kultur, aus einer „textspezifisch aktualisierten und modifizierten Variante dieses Weltbilds“ sowie dem „idiosynkratischen Weltbild des schreibenden Subjekts“ zusammensetzt.231 Die Schwierigkeit manifestiert sich darin, daß die einzelnen Einträge einerseits nur vor der Folie des mehrschichtigen Kontextes zu verstehen sind, andererseits sich der komplexe Kontext wiederum nur aus der Gesamtheit der einzelnen Einträge ergibt. Die Lösung dieses Problems findet Lindner in der Figur des „Ureintrags“, den er als „eine fiktive ’vollständige Eintragung‘“ definiert, „die alle Wirklichkeits- und Aussageebenen umfaßt, die im Text vorkommen und die gleichbleibenden Strukturen seiner ’Welt‘ ausmachen“.232 Hierbei unterscheidet er nochmal zwischen „text- bzw. kulturspezifischem Ureintrag“. Diese hermeneutische Analyse der Tagebucheinträge birgt die Schwierigkeit, daß sie versucht, aus dem Text heraus die Ureinträge zu rekonstruieren, dem sie doch eigentlich vorausgehen sollten. Lindner ist bemüht, dieses Problem zu umgehen, indem er die täglichen Einträge sowohl im synchronischen als auch im diachronischen Zusammenhang betrachtet, wodurch der zirkuläre Verstehensprozeß gesichert werden soll. Es wäre jedoch zu überlegen, inwiefern der hermeneutische Zirkel hier greift, da der Verfasser im Verlauf des Diariums subjektiven Veränderungen unterliegt, die es bei fiktionalen Texten sicherlich auch gibt, die jedoch aufgrund ihrer Homogenität nicht zum Tragen kommen. Während der fiktionale Text in der Regel eine geschlossene Konzeption aufweist, bewirkt der fragmentarische Charakter des Tagebuchs eine ständige Selbstreflexion des schreibenden Subjekts, wodurch folglich das synchrone Gesamtbild keine starre semantische Struktur verkörpert. Ebenso reicht es nicht, wenn man diesem textspezifischen „Ureintrag“ eine kulturelle Basis zur Seite stellt, die im jeweiligen zeitgeschichtlichen Horizont ihre Aktualität besitzt. Thomas Manns Tagebücher besitzen eine kompakte Logbuchstruktur, deren sprachliche Zeichen zwar zu entschlüsseln sind, jedoch die vollständige Rekonstruktion der ursprünglichen Dynamik des „Ureintrags“ bleibt der Leserin verschlossen. Es fehlt die Projektionsfläche der dargestellten Handlungen wie in fiktionalen Texten. Nur typologische Methoden, die auf der Herstellung von Analogien basieren, können Licht ins Dunkel bringen. Lindner spricht hinsichtlich der Tagebuchanalyse von Verbindungslinien, die man zwischen den einzelnen Schreibweisen innerhalb eines Diariums ziehen müsse. 231 Lindner: ’Ich‘ schreiben im falschen Leben, S. 38. 115 Allerdings scheint es mir wichtig zu sein, die Tagebücher im Gesamthorizont des literarischen Werkes des jeweiligen Autors zu betrachten und dadurch Parallelitäten bzw. Diskontinuitäten ausfindig zu machen, die dann innerhalb der synchronen und diachronen Betrachtung der Texte verortet werden müssen. Da Thomas Manns Tagebücher beispielsweise einen Großteil seines literarischen Werkes begleiten, sind alle Verschiebungen in der Subjektkonstitution darin implizit und bilden den scheinbar ’authentischen‘ Gegenpart zu den fiktionalen Texten. 2. Das Widerspiel von Authentizität und Simulation Aus den vorangegangenen Bemerkungen wird bereits ersichtlich, wie hoch der Anteil der spekulativen Deutungsversuche in der Tagebuch-Forschung ist. Um dem Tagebuch einen Weg aus dem unbefriedigenden Raum des Verdachts und der Vermutungen zu bahnen, möchte ich einen neuen Gedanken in die Diskussion einbringen, der in der bisherigen Forschung kaum Beachtung gefunden hat. Dieser Gedanke bezieht sich auf die Figuren des Simulakrums und der Mimesis, die ein Wechselspiel auf der Bühne des Tagebuchs vollführen. Die sich aus dieser Annahme entwickelnde Frage zielt auf die Verdoppelung der Simulation, wie ich sie bereits im Felix Krull nachgewiesen habe. Der Hochstapler fungiert in seinen Memoiren als sein eigener Doppelgänger. Er vollzieht nicht von einem einheitlichen Ich ausgehend seine Täuschungen, sondern diese sind wiederum so in die ständigen Rollenwechsel involviert, daß sie offensichtlich gar nicht als Simulationen aufzufassen sind. Stattdessen ist die Simulation durch das Bewußtsein einer pluralen Identität der Figur inhärent. Die literarische Simulation, die in den Bekenntnissen als Kipp-Phänomen funktioniert, wobei sich zusammengeschlossene Positionen wechselseitig negieren, erzeugt das ständige Umkippen von Situationen, wodurch dann der Entlarvungseffekt des Komischen erzeugt wird. Nun sind diaristische Schriften nicht durch eine vordergründige Referenzlosigkeit wie im fiktionalen Text gekennzeichnet, sondern der unmittelbare Bezug zur Wirklichkeit ist ständig präsent. Der Simulakrum-Effekt, und das ist der entscheidende Punkt, setzt hier schon auf der ersten Ebene ein. Die Bühne muß nicht erst durch die Fiktion geschaffen werden, sondern mit dem ersten Satz bewegt sich der Autor schon auf ihr. Er ist 232 Ebd. 116 bereits der Schauspieler, nicht die von ihm erfundenen Figuren, und dementsprechend ist er es auch, auf den sich der Demaskierungseffekt durch die sich stetig ändernden Positionen auswirkt. Mit dem Ergreifen der Feder verabschiedet sich der Autor bereits und verbirgt sich hinter der Maske des Erzählers, der das diaristische Ich dirigiert und überwacht. Im gleichen Maße wie der Schauspieler muß sich das schreibende Subjekt irrealisieren und den Text als ein anthropologisches Spielfeld der Rollenvielfalt begreifen, um eine Distanz und ein neutrales Verhältnis zu sich selbst aufzubauen.233 Nur dann besteht für ihn die Möglichkeit, real bzw. ’authentisch‘ zu erscheinen. Die Simulation als die Figur, welche die Literarizität des Tagebuchs mitbestimmt, fungiert meiner Auffassung nach als das tragende Element der diaristischen Schriften, da es sich erst im Moment der Literarisierung des Tagebuchs herauskristallisiert, d. h. wenn die eigene Wirklichkeit des Tagebuchs nicht als Fiktion, aber als Möglichkeit begriffen wird. Wenn wir die Tagebücher dagegen als darstellungsfreie Schriften rezipieren und ihre Authentizität als ontologische Setzung voraussetzen, spielt die Simulation keine Rolle, und wir erhalten ein verzerrtes Bild über den von Lindner beschriebenen „semantischen Raum“. Claus Vogelgesang schreibt in seiner Studie zum Tagebuch, [...] daß die Beschreibung des Lebens im Tagebuch Theatralisierung dieses Lebens ist, Transponierung aus der Realität auf eine Art Bühne, die das Zuschauen, zumindest das eigene, ermöglicht.234 Der Autor ist laut Vogelgesang also nicht nur sein eigener Zuschauer, sondern er übernimmt simultan auch die Rolle des Schauspielers. Dabei liegt der Widerspruch nicht unbedingt in der Parallelität der beiden Rollen, des Akteurs auf der Bühne sowie des Beobachters, sondern in der Tatsache, daß er der Zuschauer seines eigenen Schauspiels ist. Das Tagebuch dient ihm nicht nur zur Selbstreflexion im Moment des Schreibens, sondern kann ihm beim Wiederlesen eine andere Wirklichkeit präsentieren als die, in welcher er sich gerade befindet. Wie oben bereits festgestellt, wird die Welt des Tagebuchs durch den „diaristischen Pakt“ als ’authentisch‘ verstanden. Lindner unterscheidet zwei Arten von ’Authentizität‘. Sie kann zum einen im Hinblick auf die Wahrheit im Sinne von Richtigkeit verstanden werden. Etwas als ’authentisch‘ zu bezeichnen würde dann heißen, die Daten der darge233 234 Vgl. oben Ausführungen zu Wolfgang Iser, S. 80-81. Vogelgesang: Das Tagebuch. In: Weissenberger: Prosakunst ohne Erzählen, S. 196. 117 stellten Wirklichkeit auf ihre Wahrheit geprüft zu haben. Zum anderen kann ’Authentizität‘ im Tagebuch mit Wahrhaftigkeit gleichgesetzt werden. In diesem Fall nimmt die Leserin an, daß der Verfasser des Tagebuchs seine subjektive Weltsicht „möglichst bruchlos“ in die schriftliche Form übersetzt hat. Die Problematik der ’Authentizität‘ im Tagebuch liegt für Lindner jedoch im Paradoxon, daß sie erst literarisch erzeugt werden muß und in einen komplizierten Paratext eingebettet ist. Ähnlich wie in der Autobiographie, kann auch in diaristischen Schriften der Stil als „Sichtblende“235 fungieren und somit Authentizität simulieren. Auch die starre Struktur eines Logbuchs mit der scheinbaren Objektivität eines Protokolls kann ein literarisches Konstrukt sein. Gerade ein festes Raster unterliegt viel eher der Gefahr eines künstlichen Gebildes, das einer Demaskierung des schreibenden Subjekts vorbeugen soll. Es bildet gewissermaßen eine Schutzhülle, die ein sicheres Terrain umgibt, auf dem sich das schreibende Subjekt gefahrlos bewegen kann, solange das Logbuch nicht in ein subjektives Journal umkippt, in dem der Diarist seine Distanziertheit kurzzeitig aufgibt und das subjektive Fühlen und die persönlichen Eindrücke mit dem Schreibprozeß eine Synthese eingehen, die keinen Raum mehr für die Differenzierung zwischen der Schilderung von objektiven Sachverhalten und subjektivem Erlebnis zuläßt. Diese Bruchstellen sind es, die den Blick unter die mediale Zeichenoberfläche zu lenken scheinen und so der Leserin die Öffnung eines kleinen Spalts in den „submedialen Raum“236 gestatten. Wenn jedoch ’Authentizität‘ erst, wie Lindner sagt, „durch Textaussagen und Textmerkmale“ hergestellt wird, wäre „jedes Tagebuch literarisch“. Das Tagebuch-Ich ließe sich nicht mehr in einen literarischen und einen ’authentischen‘ Teil zerlegen, sondern wird ebenso wie die im Text dargestellte Wirklichkeit zu einer „genuin literarische Konstruktion“.237 Das Wort „genuin“ nimmt für mich hier eine Schlüsselposition ein. Es bringt das Dilemma der ’authentischen‘ TagebuchLiteratur auf den Punkt. Während des Schreibens konstruiert der Verfasser seine Gedanken, fügt sie in das festgesetzte Raster des Logbuchs ein und modelliert damit jeden Tag aufs Neue seine Wirklichkeit. Als Leser können wir die ’Authentizität‘ demnach nicht nur im Nicht-Gesagten, sondern vor allem in der Negation oder auch in der Dissimulation des Abwesenden vermuten. Unter der Dissimulation von etwas Abwesendem verstehe ich einen Prozeß der Filterung, der dem Tagebuchschreiben vorausgeht und auf die Wirklich235 Starobinski: Der Stil der Autobiographie, S. 201. Groys: Unter Verdacht, S. 27. 237 Lindner: ’Ich‘ schreiben im falschen Leben, S. 44. 236 118 keit, den sogenannten „Ureintrag“, vor dem Tagebuch verweist. Das Abwesende bezeichnet die Sichtweise der Leser, nicht des Diaristen. Lindner beschreibt die Probleme, die bei der Rekonstruktion der sprachlichen Nachbildung des Tages auftreten können: Die inhaltlichen Schwierigkeiten (die repräsentative Faktenauswahl; das Aufspüren von Verdrängungen) rücken ebenso ins Blickfeld wie die sprachlichen Schwierigkeiten (die Sprache bildet objektive Sachverhalte nicht einfach ab, sondern rekonstruiert sie; der authentische Ausdruck der Subjektivität wird durch sprachliche Fertigteile geformt).238 Wenn man also, wie Lindner hier, höhere Maßstäbe an die Frage der Authentizität, außerhalb von oberflächlicher Wahrheit oder Wahrhaftigkeit, anlegt, dann kommt es in letzter Konsequenz zur Aufhebung der ’Authentizität‘. Sie droht, im Meer eines Systems von Signifikaten und Signifikanten zu verschwimmen und unterzugehen. Christian Strub hat in seiner Trockenen Rede über mögliche Ordnungen der Authentizität diese Gefahr erkannt und das ’Authentische‘ als etwas Dargestelltes definiert, das durch die Art der Darstellung als nicht Dargestelltes präsentiert wird, d. h. wenn die Vermittlung verdeckt wird.239 Mit dieser Definition entgeht Strub dem Problem, ob es in der Frage der Authentizität einen unmittelbaren Bezug zwischen dem ’Ich‘ und der ’Welt‘ geben darf. Er geht nämlich gerade davon aus, daß bei jeder Darstellung ein Medium zwischen das Darstellungsunabhängige und das Darstellende tritt. Meine Untersuchungen zu den Tagebüchern von Thomas Mann werden sich vor allem auf die Frage über die Beschaffenheit dieses Mediums konzentrieren. Die Spannung dieser Frage liegt für mich jedoch nicht darin, die Modi der Wahrnehmung von ’Authentizität‘ zu analysieren, sondern dieses Medium zu konkretisieren. Ich frage also nicht danach, warum wir die Tagebucheinträge als ’authentische‘ Aussagen lesen, denn die Antwort auf diese Frage liegt bereits im „diaristischen Pakt“ begründet. Meine Aufmerksamkeit soll dem Zweifel an der ’authentischen‘ Darstellung gelten, der dann auftritt, „[...] wenn unter dem Bewußtsein der prinzipiell mimetischen Differenz zwischen Darstellung und Dargestelltem“240 die Darstellungstransparenz nicht gegeben ist. Was bildet die Vermittlungsinstanz zwischen dem ’Ich‘ und der ’Welt‘? Gibt es dieses Medium überhaupt, oder wird jede ’authentische‘ Darstellung von vornherein ein Opfer der Simulation? Da die ’Authentizität‘ in der Darstellung selbst nicht 238 Ebd., S. 46. Strub: Trockene Rede über mögliche Ordnungen der Authentizität. In: Berg; Hügel; Kurzenberger: Authentizität als Darstellungsform, S. 9. 240 Ebd., S. 10. 239 119 offenkundig ist, legt der Konstruktionscharakter nahe, daß sie nur ein „bloßer Schein im Sinn eines ideologischen oder rhetorischen Effekts“241 ist. Boris Groys unterscheidet in seinem Buch Unter Verdacht zwischen freiwilliger und erzwungener Aufrichtigkeit, wobei nur die freiwillige Aufrichtigkeit seiner Meinung nach simulationsverdächtig ist, da der „Effekt der Aufrichtigkeit“ durch das „Subjekt des submedialen Raumes strategisch eingesetzt“ werden muß, um sich vor den bedrohenden Blicken der Anderen zu schützen. Der Verdacht spiegelt sich in der Aufrichtigkeit wider, so Groys; „das Innere“ ist der „auf mich gerichtete Verdacht“.242 Der Verdacht ist also nicht die Folge von ’Authentizität‘, sondern die scheinbare Aufrichtigkeit ist die Reaktion auf den auf das Subjekt gelenkten Verdacht. Das Subjekt fühlt sich jedoch nicht von den Anderen beobachtet und setzt daraufhin die Strategie der Aufrichtigkeit ein, sondern das „Subjekt des submedialen Raumes“ wendet quasi vorbeugend diesen Effekt an, um die mediale Zeichenoberfläche geschlossen zu halten. Bei der Produktion von Aufrichtigkeit verschieben sich die Zeichen in einen fremden Kontext, was Starobinski in seiner Autobigraphie-Studie als „Stil der Abweichung“243 bezeichnet und die ’authentische‘ Wahrnehmung einer Autobiographie fördert. Der Eindruck der Aufrichtigkeit wird demnach durch die Kombination von fremden Zeichen mit dem eigenen Kontext erzeugt, wodurch die „Wahrheit des Ausnahmefalls“244 entsteht, wie es Groys beschreibt. Meiner Meinung nach wäre es deutlicher, in diesem Fall von einer Durchbrechung der Regelhaftigkeit und des Automatismus zu sprechen, da der „Ausnahmefall“ immer eine gewisse Einmaligkeit konnotiert, was aber keineswegs richtig sein muß. Die Wahrheit des Submedialen bzw. des Ausnahmefalls tritt nach Groys immer dann auf, wenn wir das Gefühl haben, daß sie von der Außenwelt erzwungen worden ist. Der „Effekt der Aufrichtigkeit“ könne vom „Subjekt des submedialen Raumes“ künstlich hergestellt werden, was aber nicht bedeute, daß „dieser Effekt bloß simuliert wäre und in der Realität nicht stattfinden würde“: Das Phänomen der Aufrichtigkeit ist nichts anderes als ein bestimmtes Verhältnis der Zeichen zu ihrem Kontext. Immer, wenn dieses Verhältnis etabliert wird und seine Funktion, den Verdacht des Betrachters zu bestätigen und somit abzuwehren, erfüllt, findet der Effekt der Aufrichtigkeit statt – unabhängig davon, wie dieser Effekt jeweils erzeugt wird.245 241 Ebd., S. 14. Groys: Unter Verdacht, S. 78-79. 243 Starobinski: Der Stil der Autobiographie, S. 202. 244 Groys: Unter Verdacht, S. 101-116. 245 Ebd., S. 79. 242 120 Werden wir mit einem scheinbar freiwillig geäußerten Geständnis konfrontiert, neigen wir schnell zur Erhebung des Vorwurfs der Simulation. Da das Tagebuch quasi als Prototyp einer nicht erzwungenen Preisgabe des schreibenden Subjekts gilt, hätten wir es also mit einer Inszenierung oder einer Simulation von Authentizität zu tun. Es ist unvermeidlich, den aus diesen theoretischen Überlegungen entstandenen Teufelskreis zu verlassen, um wissenschaftlich überprüfbare Ergebnisse bei der Analyse von Tagebüchern zu erzielen. Die Fragen der Aufrichtigkeit, des „submedialen Raumes“, des Verdachts, der Simulation sind geprägt von Paradoxa, die sich gegenseitig bedingen. Der Verdacht einer Existenz des „submedialen Raumes“ impliziert die Möglichkeit der Simulation von Aufrichtigkeit, da in diesem Moment das „submediale Subjekt“ dissimuliert wird. Wenn der Blick des anderen das Hervortreten des „submedialen Subjekts“, des ’Inneren‘, provoziert, kann das zum einen eine Maskierung vor dem „bösen Blick des Anderen bedeuten“.246 Andererseits spricht Groys von der Wahrheit des „submedialen Raumes“, die sich aber schon wieder in dem Moment relativiert, wenn dieses innere Subjekt eine Bühne benötigt, auf der es das Phänomen der Aufrichtigkeit inszeniert. Strub hat bereits deutlich darauf hingewiesen, daß der Authentizitätsbegriff hoffnungslos in der Falle des Widerspruchs gefangen bliebe, wenn man nicht das Vorhandensein einer Vermittlungsinstanz akzeptiert. Die beherrschende Frage meiner Untersuchung wird sich also vor allem mit dem Moment des Erscheinens des „submedialen Raumes“ beschäftigen und in diesem Zusammenhang auch um das Problem der Initiierung dieses Verdachtsmoments kreisen. Wie will man die freiwilligen Geständnisse im Tagebuch auf Simulation überprüfen – ein scheinbar zum Scheitern verurteiltes Unternehmen. Die obigen Ausführungen haben jedoch gezeigt, daß die Simulation aufgrund der sprachlichen Konstruktion der Sachverhalte eines Tages durchaus ihre Ausprägungen im Tagebuch findet, sowohl auf der Ebene der Literarizität als auch in Form eines spezifischen Effekts, der sich durch die typische Struktur von Thomas Manns Tagebüchern herausbildet. Dabei werde ich mich auch auf die Äußerungen von Plessner stützen, die besagen, daß sich der Mensch in der Maske versteckt und unsichtbar wird, aber nicht völlig als Person verschwindet. Groys bestätigt diese Behauptungen, indem er die Aufrichtigkeit als Maskierung bzw. Dissimulation beschreibt. In seinem vielzitierten Text Grenzen der Gemeinschaft beschwört Plessner die Distanz als den 246 Ebd., S. 78. 121 wichtigsten Verhaltenskodex im Habitus des Menschen der bürgerlichen Gesellschaft. Der Mensch übernimmt im privaten und öffentlichen Bereich jeweils getrennte Rollen, die ihm ein Leben des Ausbalancierens ermöglichen. Als Funktionsträger in der öffentlichen Gesellschaft spielt er eine Rolle, die ihm als Schutz vor Entblößung und Lächerlichkeit dienen soll. Im Gegensatz zur Gemeinschaft, in der es keine Beschränkungen der Aufrichtigkeit und der geheimen Triebe und Wünsche gibt, verlangt die bürgerliche Gesellschaft nach einem gebremsten Verhalten, das die zwischenmenschlichen Beziehungen überwacht. Der Verdacht liegt nahe, daß der Tagebuchschreiber Thomas Mann mit der objektivierenden Schreibweise des Logbuches, die er für seine täglichen Aufzeichnungen gewählt hat, genau diesem auf Ausgleich bedachten Plessnerschen Typus, der sich selbst mit Hilfe von künstlichen Mechanismen irrealisiert, indem er maskiert anderen Menschen gegenübertritt, entspricht. Bei Verlassen dieses sicheren Terrains besteht die Gefahr, dem Gelächter der anderen ausgesetzt zu sein: Gesundheit gebessert. Arbeitete glatter und lustiger. Zur Stadt, in weißen Hosen, um Besorgungen: Pillen, ein Halsband für Bauschan, ein paar Federhalter. – Schlief in der Nacht nervös und mochte frühe nicht mehr, ich glaube aus Freude über die Teppiche. (Tb, 17. 9. 1918) Die Diskrepanz zwischen dem Bewußtsein eines öffentlichen Repräsentanten, das durch die starre Logbuchstruktur abgesichert scheint und den plötzlich auftretenden Rissen, die einen Einblick in das private Rollendasein des Schriftstellers gewähren, unterstreicht die Vermutung. Die unfreiwillige Komik der „Freude über die Teppiche“ entsteht genau aus dieser Differenz, die wiederum durch die ungewohnte Aufrichtigkeit entsteht. Der gesellschaftsgeprägte Mensch, dem das zur Norm erhobene Verhalten der Balance antrainiert wurde, kann sich dieser lächerlichen Wirkung nicht erwehren, da es nicht der Verhaltensnorm entspricht, in der Öffentlichkeit seine Maske zu verlieren. Nun sehen wir uns hier jedoch der Textsorte Tagebuch gegenüber, die sich im Schnittpunkt befindet, an dem sich Privatheit und Öffentlichkeit treffen. Mit der Autorisierung der Tagebücher durch den Verfasser sind die Diarien zwar für die Öffentlichkeit freigegeben, was jedoch nicht heißt, daß sie auch während des Schreibens für die Allgemeinheit bestimmt waren. Plessner beschreibt dieses schillernde Zusammenspiel der repräsentativen Rolle und dem ’geheimen‘ Privatmenschen: Der natürliche Zauber des Erscheinungscharakters einer Psyche mit seiner seltsam widersprechenden Wirkung, lockend und abweisend in einem, ruft unsere Realitätstendenz, die 122 wissen will, wie der Mensch eigentlich ist, und unsere Illusionstendenz, die scheu vor dem Geheimnis uns fernhält, gleichmäßig wach.247 Das komplizierte Gefüge von schreibendem Subjekt und dem dargestellten Ich läßt sich nicht allein durch eine textimmanente Analyse entwirren, sondern es verlangt auch die Einbeziehung typologischer Methoden, wie es Lindner mit der Existenz verschiedener Schreibweisen, die jeweils eine eigene literarische Dimension bzw. Typologie bilden, angedeutet hat. Durch die rein literarische Betrachtung von Tagebüchern wird erst recht der Verdacht genährt, daß die verbergende Schreibweise des Verfassers entlarvt werden muß. Die Fokussierung auf interessante, sensationelle, scheinbar dem Bild des schreibenden Subjekts widersprechende Aussagen sind, wie Lindner schon hervorgehoben hat, einer objektiven Analyse in keiner Weise förderlich. Trotzdem darf nicht vergessen werden, daß es sich bei Tagebüchern um intime Texte handelt, in denen der Autor keine Gesetzmäßigkeiten einer bestimmten Gattung befolgen muß, also auch keine Rücksicht auf eine mögliche Aufdeckung von autobiographischen Details zu nehmen braucht wie in fiktionalen Texten. Bezüglich Thomas Mann stellt sich dann aber die berechtigte Frage, warum man sich als Leserin des Eindrucks nicht erwehren kann, daß sich die Persönlichkeit Thomas Manns in seinen Romanen viel eher offenbart als in den scheinbar ’authentischen‘ Schriften. Ist es nicht möglich, daß die Diarien erst den Verdacht bestätigen, den die Romane und Erzählungen bei den Lesern provoziert haben? Die folgenden Ausführungen über Michael Maars Untersuchung zu Thomas Manns Tagebüchern sollen diese Problematik verdeutlichen. 3. Das Geheimnis um das Blaubartzimmer Was nun geschah, war etwas so Unverständliches und Infames, daß ich mich weigere, es ausführlich zu erzählen. Thomas Mann Dieses Zitat, das auf der Rückseite des Umschlags von Michael Maars Buch Das Blaubartzimmer steht, verdeutlicht nicht nur die Schwierigkeit dieser Studie, sondern vor allem die paradoxe Problematik der ’Authentizität‘ von Tagebüchern. Das Zitat stammt eben nicht 247 Plessner: Grenzen der Gemeinschaft, S. 85. 123 aus einem von Thomas Manns Tagebüchern, wie es die Leserin auf den ersten Blick verstehen würde, sondern es ist die Äußerung des Erzählers der Geschichte von Tobias Mindernickel, die in Maars Untersuchung eine zentrale Rolle spielt. Thomas Mann ist der Autor dieser kleinen Erzählung, aber nicht der Erzähler – eine Unterscheidung, die zu den Grundregeln in der Literaturwissenschaft zählt. Selbstverständlich weiß Maar das. Er erwähnt es auch im Laufe seiner Ausführungen, unterläuft aber ständig diese Tatsache. Dieses Dilemma, aus dem sich Maar nicht befreien kann, wird dieser spannenden, in der Art eines Kriminalfalls verfaßten Schrift zum Verhängnis. Maars Hypothese lautet vereinfacht: Thomas Manns Werk wurde von einem blutigen Ereignis beeinflußt, das 1896 in Neapel stattgefunden hat und an dem der Schriftsteller in irgendeiner Art und Weise beteiligt war. Den Ausgangspunkt für diese Spekulation findet Maar in mehreren Eintragungen in Manns Tagebüchern aus der Zeit, als Thomas Mann unfreiwillig ins Exil gehen mußte. Im Februar 1933 brach er zusammen mit seiner Frau Katia zu einer Vortragsreise auf, an die sich ein zweiwöchiger Aufenthalt in Arosa anschließen sollte. Dort erreichte sie die Nachricht von den nationalsozialistischen Hetzkampagnen gegen ihn, so daß eine Rückkehr nach München ausgeschlossen war. Golo wurde beauftragt, die Tagebücher aus dem Haus in der Poschingerstraße zu holen und sie in die Schweiz zu schicken. Der Chauffeur der Familie Mann, Hans Holzner, der sich inzwischen den Nazis angeschlossen hatte, übergab den Koffer mit den Tagebüchern zwar der Bahn, erstattete aber Meldung bei der Polizei, da er im Koffer politische Schriften vermutete. Schließlich gelang es jedoch dem Rechtsanwalt Dr. Heins, der Polizei den Koffer wieder abzuhandeln, so daß ihn Thomas Mann nach einer langen Odyssee nach mehreren Wochen am 19. Mai 1933 doch noch glücklich in Empfang nehmen konnte. Die besagten Tagebuchaufzeichnungen stammen sämtlich aus der Zeit der Ungewißheit über den Verbleib des Koffers. Meine Befürchtungen gelten jetzt in erster Linie u. fast ausschließlich diesem Anschlage gegen die Geheimnisse meines Lebens. Sie sind schwer und tief. Furchtbares, ja Tötliches kann geschehen. (Tb, 30. 4. 1933) Ich konnte nicht schlafen bis 3 Uhr, gequält von Altem u. namentlich von der Affaire des Koffers, hinter der mörderische Tücke lauert. (Tb, 2. 5. 1933) Bedeutende u. tiefe Erleichterung. Das Gefühl, einer großen, ja unaussprechlichen Gefahr entgangen zu sein, die vielleicht keinen Augenblick bestanden hat. (Tb, 2. 5. 1933) 124 Hinter diesen Äußerungen wähnt Maar ein Geheimnis, das von so schrecklicher Art sein müsse, daß es Thomas Mann bei seiner Aufdeckung in den Selbstmord treiben würde. Das Wort „Tötliches“ interpretiert Maar als Suizidabsicht. Diesen äußerst vagen Lesarten von Maar werde ich mich weder anschließen noch ihnen meine eigene Ansicht gegenüberstellen, um nicht ebenfalls in den Sog der subjektiven Deutungen zu geraten. Die zweite Basis der Vermutungen sucht Maar in den Aussagen von Erika Mann und in Thomas Manns Briefen an seinen Freund Otto Grautoff. Erika Mann gab Maar den Impuls für den Titel seines Buches: „Waren sie ’kompromittant‘, diese braven Schulhefte? Mag immerhin sein. Kein Lebensbau ohne ’Blaubartzimmer‘.“248 An Otto Grautoff schreibt Thomas Mann 1896, daß einige Händler in Neapel einen „auffordern, sie zu angeblich ’sehr schönen‘ Mädchen zu begleiten, und nicht nur zu Mädchen . . .“249 Entgegen der vorherrschenden Meinung in der Thomas-Mann-Forschung verbergen sich nach Maars Ansicht hinter diesen mehrdeutigen Äußerungen nicht nur homoerotische Abenteuer, sondern sie müssen mit einem blutigen Verbrechen verbunden sein. Maar sieht sich vor allem durch Manns literarisches Werk, deren Analyse den Hauptteil seiner Studie bildet, in seinen Annahmen bestätigt. Die Durchgängigkeit der Motivkette Mord – Blut – Schuld – Inzest – Homoerotik, die Maar in vielen Erzählungen und Romanen Thomas Manns nachweist, ist äußerst frappierend und stellt die eigentliche Leistung dieser Arbeit dar. Der Leserin läuft ein kalter Schauer über den Rücken, wenn sie mit den blutigen Details in den Erzählungen konfrontiert wird, die vor dem Hintergrund von Maars Hypothese plötzlich scheinbar enträtselt werden. Die Leserin ist schon geneigt, nach soviel Schuld und Blut dem Autor zuzustimmen und ihr Bild von Thomas Mann revidieren zu müssen, wenn sich nicht nach der Lektüre mehrere Zweifel einstellen würden. Maar verfolgt die Blutspur in einer Reihe von Erzählungen, die nach dem zweiten Neapel-Aufenthalt Thomas Manns entstanden sind und alle um das Thema der Demütigung eines Außenseiters kreisen. Während der kleine Herr Friedemann noch die Gewalt gegen sich selbst richtet, erkennt Maar in den nachfolgenden Erzählungen eine Veränderung: die Gedemütigten wenden nun Gewalt gegen ihre Peiniger an. Tobias Mindernickel, ein einsamer, scheinbar gutherziger Mann, kümmert sich um seinen Hund Esau aufopferungsvoll, quält ihn jedoch grausam, wenn dieser fröhlich im Zimmer spielt. In diesen Momenten steigt Wut über sein eigenes erbärmliches Dasein auf und seine Eifersucht richtet sich ge248 Erika Mann: Mein Vater, der Zauberer, S. 364. 125 gen das unschuldige Tier, das sorglos herumtollt. Schließlich tötet er Esau mit dem Messer und bedauert klagend seinen leidenden Hund: Allein Esau lag da und röchelte. Seine getrübten und fragenden Augen waren voll Verständnislosigkeit, Unschuld und Klage auf seinen Herrn gerichtet, – und dann streckte er ein wenig seine Beine und starb. Tobias aber verharrte unbeweglich in seiner Stellung. Er hatte das Gesicht auf Esaus Körper gelegt und weinte bitterlich. (GW, VIII, S. 150-151) Ob später dann Christian Buddenbrook Zeuge eines Mordes wird, Tonio Kröger Lisaweta von seinen wollüstigen Abenteuern im Süden erzählt, Gustav Aschenbach von blutigen Orgien des Dionysios träumt, Hans Castorp im Schneesturm eine Vision über einen Kindsmord ereilt, Joseph Opfer einer Gruppenvergewaltigung wird, Adrian Leverkühn seinen Freund Rudolf Schwerdtfeger in den Tod treibt, Felix Krull seine Bekenntnisse mit dem „Blutspiel“ des Stierkampfes beendet und Grigorß den Bruch des Inzesttabus siebzehn Jahre auf einem Stein sühnen muß – die Blutspur zieht sich laut Maar durch Thomas Manns Gesamtwerk. Eines von Maars Hauptargumenten lautet: Warum sollte Thomas Mann plötzlich vor der Veröffentlichung der Tagebücher durch die Nationalsozialisten panische Angst haben, wenn er seine Neigung in literarischer Form schon längst zugegeben hat? Karl Werner Böhm weist in seiner umfangreichen Studie zu Thomas Manns Homosexualität überzeugend nach, daß bis auf zwei zeitgenössische Rezensenten die Novelle Tod in Venedig, die Maar als coming out versteht, von den damaligen Lesern lediglich als Bekenntnis des Künstlers Thomas Mann verstanden wurde. Daran ändert auch ein offener Brief an den Grafen Hermann Keyserling, der 1925 als Essay mit dem Titel Über die Ehe (GW, X, S. 191-207) veröffentlicht wird, nichts. In diesem spricht Thomas Mann zwar offen über den Ästhetizismus der Homoerotik, wird darin jedoch in keiner Stelle persönlich, so Böhm: Obwohl sich Thomas Mann nie wieder so häufig und grundsätzlich zur Frage der gleichgeschlechtlichen Liebe geäußert hat wie unter den libertären zeitklimatischen Bedingungen der 20er Jahre [...] – beginnt mit diesen kein eigentlich neues Kapitel in der Geschichte des Themas Thomas Mann und Homosexualität. Sein forciertes öffentliches Sprechen über Homosexualität war kein ’coming out‘ im heutigen Sinne. Der Essayist und Redner Thomas Mann wahrt die Haltung des Unbetroffenen, der sich nichts Menschliches fremd sein läßt und dem, so mochte es wenigstens dem Außenstehenden damals erscheinen, als Autor einer ’einschlägigen‘ Novelle und Vater eines als ’dekadent‘ verschrieenen Sohnes ein gewisses 249 Thomas Mann: Briefe an Otto Grautoff 1894-1901 und Ida Boy-Ed 1903-1928, S. 81. 126 ’Anrecht‘ auf die Behandlung gerade dieses ’Gegenstandes‘ zukam, ohne deshalb sofort mit ihm identifiziert zu werden.250 Die endgültige Bestätigung von Manns homoerotischen Neigungen liegt erst mit der Publikation seiner Tagebücher vor. Nur mit Kenntnis der diaristischen Schriften ist es Maar möglich, sein literarisches Werk, die Essays und Briefe in dieser Richtung zu deuten. Maar geht bei seiner Untersuchung der Tagebücher unreflektiert von ihrer Authentizität und Nicht-Literarizität aus und projiziert seine eigene Subjektivität in Manns Aussagen. Seine Hypothesen beruhen aber nicht auf der Rezeption des Tagebuchs als darstellungsfreie Notizen, als die er sie normalerweise behandelt, sondern auf den daraus abgeleiteten Mutmaßungen, und damit unterliegen sie einer doppelten Konstruktion. Maar wird bei seinem kriminologischen Vorgehen nicht von der „Lust am Text“ getrieben, sondern von der ’Lust am Verdacht‘. Mit diesem perfekt dissimulierenden Spiel gelingt es Maar, die Leser zum Mitspielen zu überzeugen, so daß diese gar nicht die Täuschung wahrnehmen, in die hinein sie sich verstricken. Da in der Gattung des Tagebuchs die objektive Wahrheit mit der subjektiven Wahrhaftigkeit kombiniert wird, stößt auch Maar in seiner Untersuchung unweigerlich an eine Grenze, die durch den plötzlichen Verdacht entsteht und nicht überwunden werden kann. Er versucht jedoch diese Mauer zu durchbrechen, indem er seine subjektiven Spekulationen, die er aus Manns Tagebucheintragungen gewinnt, mit der objektiven Wahrheit der dargestellten Welt konfrontiert. Natürlich ist sich der Autor bewußt, daß er sich auf sehr dünnem Eis bewegt: Hierüber keine Täuschung: wir schwimmen in einem Meer von Unsicherheiten, zwischen Riffen und Schlünden der Über- und Unterschätzung; mit einigen Inselchen erhöhter Plausibilität. Ein solches Fleckchen halbwegs festen Bodens ist die Vermutung, daß es sich bei der traumatisierenden Tat um ein Vergehen auf dem Gebiet der Wollust gehandelt haben muß und daß ein bloßer Prostituiertenbesuch nicht ausreichen würde, um die heiße Schuld und die Blutspur zu erklären. Alles Genauere ist, wie im Falle Swidrigailows [Held aus der Erzählung Raskolnikow von Dostojewski (Anmerkung: U. B.)], der mehr oder weniger willigen Phantasie des Lesers überlassen.251 Während Maar noch zugibt, sich auf schwankendem Terrain zu befinden, ist nach zwei Zeilen schon wieder die widersprüchliche Formulierung zu lesen, daß sich die „Vermutung auf halbwegs festen Boden“ gründet und demnach ein sexuelles Abenteuer allein nicht Thomas Manns Schuld klären könne. Die Spuren des fiktiven Verbrechens werden endgül250 251 Böhm: Zwischen Selbstzucht und Verlangen, S. 23. Maar: Das Blaubartzimmer, S. 106. 127 tig verwischt, wenn Maar schreibt: „Ein Gewöll, in der Tat, das sich durchs Werk zieht, seit T. M. den armen Esau erstach“.252 Tobias Mindernickel tötete in der gleichnamigen Erzählung seinen Hund Esau. Indem Maar die Initialen T. M. verwendet, läßt er die Leser ins Grübeln kommen und manipuliert sie so, daß sie die Abkürzung zuerst mit der Person Thomas Mann assoziieren. Diese kleinen Tricks entlarven das Spiel, in welchem die Leserin wie eine Kugel in einem Flipper-Automaten hin- und hergeschoben wird, damit sie ja nicht aus der Partie aussteigt und der Verdacht aufrecht erhalten wird. Plötzlich befinden wir uns in einem Labyrinth, in dem wir nicht mehr zwischen Tatsachen und lediglich subjektiven Vermutungen differenzieren können und uns dadurch als Leser unmerklich in Maars Spiel verstricken und den Verdacht nicht mehr als solchen erkennen. Maar verwendet zwar quellenkritische Methoden, um seine Verdächtigungen aufzulösen und in objektive Wahrheiten zu verwandeln, bleibt mit dieser Strategie aber nur an der Oberfläche. Er setzt fiktionale Texte mit autobiographischen Schriften in Beziehung, vergleicht sie jedoch nicht auf der gleichen Ebene, d. h. er läßt die Problematik der Literarizität und Authentizität unberücksichtigt. Wenn verschiedene Textgattungen kombiniert werden, ohne dabei diese Differenz zu beachten, erhält man als Ergebnis ein verzerrtes Bild. Mit der von Maar nicht näher problematisierten Korrelation von Zitaten aus Tagebüchern, Briefen und Notizbüchern mit fiktionalen Texten unterstellt Maar den scheinbar authentischen Spuren entweder das Merkmal der Literarizität oder schreibt den Romanen und Erzählungen autobiographische Züge zu, je nachdem, wie es gerade am besten zum Verdacht paßt. Wenn man jedoch zwischen Authentizität und Literarizität ohne vorherige Erklärung hin- und herspringt, kann ein Verdacht weder bestätigt noch unterhöhlt werden. Wenn wir also aus Tagebuchäußerungen Thomas Manns Rückschlüsse auf seine privaten Geheimnisse ziehen möchten, dann ist das nicht mit Hilfe von Sätzen aus seinen fiktionalen Texten durchführbar, sondern muß im Rahmen der autobiographischen Schriften bleiben. Das rein literarische Werk bildet lediglich ein Arsenal von Äußerungen desselben Autors, ohne jedoch in irgendeiner Relation zu den diaristischen Texten stehen zu müssen. Die fiktionalen Texte können nur dann als Stützpfeiler für das autorbezogene Material dienen, wenn, wie es Maar voraussetzt, den literarischen Schriften autobiographische Inhalte unterstellt werden: 252 Ebd., S. 89. 128 Eine mögliche Folgerung wäre, Rückschlüsse von der Fiktion aufs Erlebte prinzipiell zu verbieten. Der Preis für dieses Verbot ist jedoch nicht gering. Nicht nur widerspricht es jeder Leseerfahrung, jeder Intuition und dem common sense, den sich die Theoretiker des Verbots mit derselben Strenge vom Leibe halten, mit der sie seine Übertretung als Biographismus abtun. Das große Verbot deckt auch einen Ameisenhaufen kleiner interessanter Unterschiede zu. Und es ändert nichts daran, daß es Fälle gibt, in denen Autoren mit verschiedenen Kniffs versuchen, die Kluft zu überspielen.253 Ohne methodischen Abschluß bleiben jedoch Vermutungen Vermutungen und jedem Verdacht haftet die Subjektivität an. Der kriminologische Charakter von Maars Untersuchung liegt darin verborgen, daß er das Medium, welches die Darstellungstransparenz verschleiert, ignoriert. Indem er Manns diaristische Notizen als ’authentisch‘ rezipiert, bleibt der Filterungsvorgang beim Übergang vom ’Ich‘ zur ’Welt‘ unter der Oberfläche. Jede ’authentische‘ Darstellung impliziert auch immer einen Prozeß der Simulation, der sich dadurch bemerkbar macht, daß sie immer nur einen Ausschnitt des Darstellungsunabhängigen repräsentiert bzw. transparent macht. Indem Maar diesen simulatorischen Akt nicht beachtet, konstruiert er subjektiv die Bedeutung der scheinbar ’authentischen‘ Darstellung. Hier schließt sich die Frage an, inwieweit es überhaupt möglich ist, der Simulationsfalle zu entgehen? Ist sie nicht immer durch das von Iser bezeichnete „Kipp-Phänomen“ gekennzeichnet, wobei eine Aussage durch die darauffolgende schon wieder negiert oder relativiert werden kann?254 Maar hat uns zwei Erzählungen vorenthalten, die vor dem Neapel-Aufenthalt entstanden sind. Die kleine Prosaskizze Vision, die Thomas Mann 1893 verfaßte, beschreibt die einer „Vergewaltigungsphantasie“255 eines Verliebten, die sich in Form eines Blickes zeigt: Aber schwer und mit grausamer Wollust lastet mein Blick, wie damals. Lastet auf der Hand, in der bebend der Kampf mit der Liebe, der Sieg der Liebe pulsiert . . . wie damals . . . wie damals . . . (GW, VIII, S. 10) In der kleinen Geschichte Gefallen, die ein Jahr später entstand, erzählt die Hauptfigur Dr. Selten innerhalb einer Diskussionsrunde über die Emanzipation der Frau von seiner großen Liebe in seiner Studentenzeit. Er verliebt sich in die junge Schauspielerin Irma Weltner und ertappt sie eines Tages dabei, wie sie sich einem älteren Mann für Geld hingibt. Seine Enttäuschung darüber verwandelt sich wie in der Vision in Rachegedanken: 253 Ebd., S. 122. Vgl. oben, S. 83-84. 255 Kurzke: Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk, S. 60. 254 129 Da stürzte er sich auf sie und bedeckte sie mit wahnsinnigen, grausamen, geißelnden Küssen, und es klang, wie wenn in seinem stammelnden ›O du . . . du . . .!!‹ seine ganze Liebe verzweiflungsvoll gegen furchtbare, widerstrebende Gefühle rang. Vielleicht, daß er es schon aus diesen Küssen lernte, daß für ihn fortan die Liebe im Haß sei und die Wollust in wilder Rache; vielleicht, daß da später noch eins zum anderen kam. Er weiß es selber nicht. (GW, VIII, S. 40) In beiden Erzählungen empfindet der Held Liebe und Verliebtsein als Demütigung und Vernichtung, die durch Enttäuschungen hervorgerufen werden. Schon in diesen frühen dichterischen Versuchen kippt die Lust in Rache um und wendet sich gegen die Peinigerin, auch wenn sie in beiden Fällen noch keinen blutigen Ausgang nimmt. Das für Thomas Mann charakteristische Verführungsmotiv, das Klaus Mann in seinem Tagebuch so treffend beschreibt, zeichnet sich jedoch bereits hier klar ab: „Verführungsmotiv: Romantik – Musik – Wagner – Venedig – Tod – ’Sympathie mit dem Abgrund‘ – Päderastie. Verdrängung der Päderastie als Ursache dieses Motivs“ (Tb, KM, 4. 4. 1933).256 Diese Beispiele können in keiner Weise den Verdacht entschärfen, verdeutlichen jedoch, wie schnell durch die Verfahren der Simulation bzw. Dissimulation die Spuren plötzlich in eine andere Richtung gelenkt werden können. Maar erreicht mit dem Mittel der Dissimulation eine Verschleierung seiner Indizien, erliegt jedoch in gleicher Weise der von Thomas Mann in seinen Tagebüchern simulierten Wirklichkeit des Subjekts und seinem Verhältnis zur simulierten objektiven Wirklichkeit der dargestellten Welt. 4. Kurzer Forschungsbericht zu Thomas Manns Tagebüchern Welcher Grund bewegte Thomas Mann zu diesem diaristischen Mammutwerk, in dem er mit Akribie fast lückenlos den „fliegenden Tag“ (Tb, 11. 2. 1934) an sich vorbeiziehen läßt? Diese Frage, die sich nicht zwangsläufig bei der Betrachtung der Diarien anderer Autoren stellt, bildet bis heute ausnahmslos das Zentralproblem in den wissenschaftlichen Arbeiten zu Thomas Manns Tagebüchern. Das Rätsel liegt im Gegensatz ihrer Schreibweise zur Sprache von Manns erzählerischem Werk begründet. Der Meister der ständig präsenten Ironie verwendet in den Tagebüchern eine Sprache, die scheinbar völlig Mannuntypisch ist und keinen Wiedererkennungswert besitzt. Lediglich die gleichbleibende 256 Klaus Mann: Tagebücher. Bd. 1-6. Im folgenden Text zitiert mit den Siglen Tb, KM. 130 Struktur der Einträge, entsprechend der Geschehnisse mit leichten Modifikationen und Abweichungen versehen, kristallisiert sich als Besonderheit des Stils heraus. Demzufolge spielt die Sprache in den meisten Kommentaren zu den Tagebüchern nur eine untergeordnete Rolle, da sich keiner der Autoren richtig festlegt. Spricht ein Rezensent von der Virtuosität der Sprache, wird diese vom nächsten rigoros in Zweifel gezogen. In ähnlicher Weise gehen die Meinungen bezüglich des wissenschaftlichen Wertes des Kompendiums auseinander. Während die einen ihren Wert in erster Linie als Ergänzungsmaterial für die Interpretationen des literarischen Werks sehen, betont die andere Gruppe der Forscher ihre einzigartige Stellung innerhalb des Mannschen Gesamtwerks und schreibt ihnen einen literarischen Charakter zu. Die gegensätzlichen Lesarten der diaristischen Schriften Thomas Manns liegen meines Erachtens darin begründet, daß sich die Tagebücher nicht nur von den Romanen und Erzählungen in extremer Art und Weise unterscheiden, sondern sich auch inhaltlich und sprachlich von den Essays, Briefen, Notizbüchern und anderen Dokumenten abgrenzen. Es fällt auf, daß sich die Rezensenten davor scheuen, ihre Aufmerksamkeit auf die unspektakuläre und triviale Sprache in den schriftlichen Zeugnissen des Dichters zu lenken, stattdessen jedoch ihre Authentizität, Direktheit, Offenheit und überraschende Deutlichkeit hervorheben. Während sie auf der einen Seite die Echtheit der ’Bekenntnisse‘ beschwören, konstatieren sie im nächsten Moment, daß wir es wohl hier trotzdem nicht mit dem ’wahren‘ Thomas Mann zu tun hätten, da der Schreiber der Tagebücher bemüht sei, einer Enthüllung auch gleich wieder ein Geheimnis folgen zu lassen, um das Gleichgewicht und den gewohnten Rhythmus wiederherzustellen. Hierin zeigt sich das Dilemma, in dem die Thomas-Mann-Forscher stecken: Die plurale Persönlichkeit, die aus seinen fiktionalen Texten bekannt ist, und die dann in der Literaturwissenschaft in die Kategorien der Künstler-Bürger-Problematik, Schopenhauers Willensmetaphysik und Weltlillusionismus, Nietzsches Künstlerpsychologie, der Goethe-Imitatio und Homosexualität mit ihrer Überhöhung ins Metaphysische sowie den körperlichen und seelischen Defekten der Außenseiterfiguren eingeordnet wird, begegnet uns in den Tagebüchern auf einer anderen Ebene, und zwar im Gewand der ’wahrhaftigen‘ Rede. Die Tatsache, daß es sich hierbei jedoch um keine skandalträchtigen Geständnisse handelt, sondern lediglich um Bestätigungen der bereits vermuteten Ausprägungen der vielschichtigen Leiden Thomas Manns, punktuell 131 mit kleinen Banalitäten verstärkt, die bei einigen Rezensenten peinliche Berührungen auslösen, macht es äußerst kompliziert, mit den Tagebüchern zu arbeiten. Unmittelbar nach der Veröffentlichung des ersten Bandes der Tagebücher im Jahr 1975 erschienen einige Rezensionen, die sich vor allem mit den trivialen und pikanten Details beschäftigten: „Entzücken an Eissi“.257 Sie folgten damit der damaligen Stimmung in bezug auf Thomas Mann. Schon mit dem Erscheinen der Briefe an Otto Grautoff und Ida Boy-Ed betrieben einige deutsche Schriftsteller und Literaturwissenschaftler den Denkmalsturz des großen deutschen Repräsentanten, indem sie sich über seine Egomanie und seine Kleinkariertheit mokierten. Nach dieser ersten ’Schockphase‘ wurden im Zuge der Publikationen der weiteren Bände die Untersuchungen differenzierter, und sie entfernten sich zunehmend von der einseitigen Betrachtung bezüglich des narzißtischen Habitus Thomas Manns. Stattdessen stellten sie sein seelisches Leiden als bürgerlicher Künstler in den Mittelpunkt ihrer Analysen, indem sie aus den Tagebüchern ein Subjekt konstruierten, das sich der Einheit von Leben und Werk bewußt ist, sich als letzter Repräsentant der deutschen Kultur fühlt, und dem sein Diarium aufgrund dieser großen Verantwortung, die schwer auf ihm lastete, als ein Ort der seelischen Entlastungen von den ihm auferlegten Zwängen dient. Im Folgenden möchte ich versuchen, die wichtigsten Positionen der Kommentare zum diaristischen Konvolut gegenüberzustellen. Der zentrale Begriff, um den Hans Mayers Rezensionen der ersten drei veröffentlichten Bände von 1977-1979 kreisen, ist der des Dualismus von Leben und Schreiben im Werk und im Tagebuch. In den diaristischen Schriften zeige sich ein Dualismus zwischen Alltagsleid und schöpferischer Arbeit, wobei uns Thomas Manns Leiden und Größe in dreifacher Ausprägung gegenübertrete: als zweifelnder und kranker Mensch, als objektivierender Tagebuchschreiber sowie als unerschütterlichen in Sorge und Labilität weiterschreibender Thomas Mann. Mayer sieht im „erbarmungslosen Urteil Thomas Manns über Thomas Mann“258 den Blick des anderen bereits durch das eigene Augenpaar repräsentiert, d. h. der Tagebuchschreiber lebt und deutet sich gleichzeitig. Die Aufzeichnungen ab 1933 seien frei von jeglichen Gefühlsumschwüngen: „Man kannte sich aus mit sich selbst“,259 obwohl auch diese Tagebücher einen unvertrauten Thomas Mann zeigen. Gleichzeitig bestätigen 257 So lautete die Überschrift der Rezension im Spiegel. Entzücken an Eissi. In: Der Spiegel, 3. September 1979, S. 238-241. 258 Mayer: Thomas Mann, S. 453. 259 Ebd., S. 458 132 sie jedoch die innere Einheit des Werks, auch wenn die Themen und Motive der literarischen Texte nicht direkt, sondern nur latent auftauchen. Das Tagebuch offenbare nur das Ergebnis von Überlegungen bezüglich der literarischen Stoffe, nicht die Überlegungen selbst. Hans Mayer betont den immensen literarischen Wert der Tagebuchaufzeichnungen: Es könnte sein, daß Thomas Manns Tagebücher, wenn sie einmal vollständig ediert sind, durchaus gleichberechtigt neben dem Gesamtwerk des Erzählers und Essayisten ihren Rang behaupten dürfen. [...] Man wird also wiederum an Ironie denken müssen, wenn die letztwillige Anordnung über das Schicksal der Tagebücher ausdrücklich vermerkt, es handele sich hier um Papiere »ohne literarischen Wert«. Das ist grundfalsch. Kaum einmal in seinen Erzählwerken, gewiß nicht in seinen bewußt stilisierten und »vermittelten« Briefen, schreibt Thomas Mann so eindringlich und genau wie jeweils am Morgen, wenn das vergangene Tagewerk mit aller Lust und Unlust erinnert wird, und jeweils auch bewertet.260 Insgesamt wirkt der „Zauberer“ in seinen Diarien laut Mayer wie ein „Entzauberer“, dessen Mitteilungen von unendlicher Einsamkeit und fehlender Liebe geprägt sind. Als sein eigener Doppelgänger verzichte Thomas Mann auf alle Stilisierung, wodurch mangelnde Selbstliebe und Sympathie gegenüber anderen Menschen sichtbar werden. „Thomas Mann möchte aufrichtig sein und ist es auf seine Art“.261 Weit entfernt, den Schlüssel zum Geheimnis von Thomas Mann zu bieten, sondern selbst in hohem Grade interpretationsbedürftig – so betrachtet Ronald Speirs die Tagebücher in seinem Aufsatz Aus dem Leben eines Taugenichts. Er geht davon aus, daß Mann seine Aufzeichnungen seit der Emigration 1933 wahrscheinlich im Hinblick auf eine Veröffentlichung dieser geschrieben hat, da z. B. sein Essay Leiden an Deutschland zum großen Teil auf den Diarien aus dieser Zeit basiert. In den Blättern von 1918-21 befinde sich der unterdrückte Teil der Lebensdokumentation. Die Spannungen zwischen der Pflicht zur Repräsentation auf der einen und der Privatheit auf der anderen Seite haben wohl das ständige Schwanken bezüglich der Veröffentlichung der Tagebücher provoziert. Da sich Manns Drang zur Offenheit dialektisch zu seiner Neigung zur Selbstverheimlichung verhalte, werde der Leserin dieselbe geistige Interpretationsarbeit abverlangt wie bei den literarischen Werken. Das eigene Leben, das Thomas Mann in seinen Werken seziert hat, mußte im Tagebuch durch Selbstgefälligkeit und Schuldverdrängung wieder ins Gleichgewicht gebracht werden. Mit dieser Ansicht widerspricht Speirs Mayers Auffassung vom „bösen Blick des Anderen“, den Mann ständig auf sich selbst gerichtet sieht. Stattdessen 260 261 Ebd. Ebd., S. 476. 133 wollte sich der Dichter seiner Meinung nach in den Tagebüchern besonders positiv darstellen. Auf der sprachlichen Ebene betont auch Speirs den Kontrast zwischen ironischer Komplexität in Thomas Manns künstlerischer Methode und dem Mangel an Ironie und Komplexität in seinen Tagebüchern. Da ironische Strukturen durch das Widerspiel von Selbstanalyse und dem Zwang zur Selbstverheimlichung entstehen und im Tagebuch jedoch der Tagebuchschreiber mit dem dargestellten Ich identisch sei, werde eine komplexe Selbstanalyse vermieden. Die unfreiwillige Selbstparodie, welche der Schreiber durch bestimmte Bemerkungen auslöst, versteht Speirs als einen „Racheakt des Lebens gegen den vermeintlich souveränen Geist der Ironie“:262 „Auch leide ich seelisch und körperlich darunter, daß N° 4 aller Unterkleider mir zu klein, N° 5 mir zu groß ist“ (Tb, 20. 11. 1921). Speirs hebt vor allem die kindlich-narzißtischen Züge Thomas Manns im Tagebuch hervor, die durch die extreme Beschäftigung mit dem eigenen Ich, vergleichbar mit einem phantasierenden Kind, sichtbar werde. Als Beispiele nennt Speirs Manns kindliche Freude über die Wiederherstellung seines Arbeitszimmers in Küsnacht nach der langen Odyssee durch mehrere Hotels in der Schweiz und Frankreich, seine kindische Verstimmung bei sehr gering ausfallendem Beifall nach einem Vortrag sowie die rührende Eintragung, daß seine Tür zu Katias Schlafzimmer offen blieb oder er zur ihr ins Bett kroch, wenn er sich krank fühlte: Die Vorstellung, daß ich in absehbarer Zeit wieder zwischen meinem Schreibtisch und Lesefauteuil wohnen und das Grammophon wieder haben werde, ist angenehm, ja erheiternd. (Tb, 17. 8. 1933) Neue erregte Depression. Nahm gegen 5 Uhr Evipan und schlief dann noch. K. war bei mir u. ließ die Verbindungstür offen. (Tb, 31. 3. 1933) Erika Mann berichtet in einer Anekdote über ihren Vater, daß er an seinem 80. Geburtstag mitten in der Nacht, als schon alle schliefen, in die Bibliothek hinunterging, um dort mit seinen Geschenken zu „spielen“.263 Das von vielen Rezensenten beanstandete beleidigte Verhalten Thomas Manns, wenn er von Tischnachbarn auf dem Schiff nicht erkannt und dementsprechend behandelt wurde oder sich über zu wenig Zugaberufe nach einer Lesung ärgerte, ist meiner Meinung nach mit dem natürlichen Habitus eines beifallsüchtigen Künstlers erklärbar, der keineswegs nur für Thomas Mann typisch sein dürfte. 262 263 Speirs: Aus dem Leben eines Taugenichts. In: Text + Kritik, S. 153. Erika Mann: Das letzte Jahr. In: Mein Vater, der Zauberer, S. 428. 134 Eine ganz andere und sehr interessante Sichtweise auf die Mannschen Tagebücher, besonders den sprachlichen Aspekt betreffend, präsentiert etwa zur gleichen Zeit Friedrich Dieckmann, Essayist und Kritiker aus der DDR. In seinem Essay Thomas Mann nach Hitlers Machtantritt äußert er Kritik an Marcel Reich-Ranicki, der seiner Rezension in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung den Titel Die Wahrheit über Thomas Mann gab und die Tagebuchnotizen mit den Worten „Verzicht auf Schminke und Maske“264 charakterisiert. Dieckmann zufolge erfahren wir in den Tagebüchern nichts Neues. Die dialektische Einheit von „Labilität und Elastizität“ sowie „Anfälligkeit und Schöpfertum“ sei schon im Werk offensichtlich. Stattdessen werde unsere Aufmerksamkeit auf den empirischen Aspekt dessen gelenkt, „[...] was als Selbstaussage und Selbstdeutung seine erste und wichtigste Stelle im Werk hat, es ist seine Projektion ins Alltägliche und Private“.265 Äußerst erhellend ist Dieckmanns ambivalente Betrachtung des sprachlichen Gestus im Tagebuch. Thomas Mann zeige sich in seinen Diarien durchaus als Dichter, mit treffender, wohlausgeformter Sprache – jedoch ohne eine persönliche Sprache für sich zu entwickeln: Tagebuchschreiben ist die geschützteste, freieste Form des Sich-Äußerns – Thomas Mann dient sie dazu, sich nur desto vollkommener zu verbergen. [...] Wir erleben keine persönliche Sprache für persönliche Dinge, sondern gleichsam die Leerform, den Leerlauf einer artifiziellen Diktion; eben das macht das teils Quälende, teils Erheiternde der Lektüre aus. Der Unmittelbarkeit des Stoffes erwidert keine der sprachlichen Darstellung; so gerät manches in die Nähe der Selbstparodie. Es scheint paradox, aber es ist unverkennbar: der Dichter und Essayist Thomas Mann gibt sich persönlicher denn der Tagebuchschreiber.266 Dieckmann erklärt demnach die teilweise erheiternde und befremdliche Wirkung der Notizen mit dem Paradoxon, daß persönliche Dinge in der Sprache des Dichters verfaßt werden, der sich seiner gesellschaftlichen Stellung als Dichter und kultureller Repräsentant bewußt ist. „Eine Diktion, die im Werk humoristisch fungiert, wirkt, naiv gesetzt, oft unfreiwillig komisch.“267 Worüber der sprachlich ständig präsente Gestus des Dichters hinwegtäuschen könnte, das wird durch die wahllose Aneinanderreihung von Banalem und Belanglosem und essentiell politischen und zeitgeschichtlichen Umwälzungen beglaubigt: „das Kennzeichen echten Tagebuchschreibens“,268 so Dieckmann. Gleichzeitig wendet er sich auch gegen die Kritiker, die über das Registrieren vom Gang zum Schneider, den 264 Reich-Ranicki: Thomas Mann und die Seinen, S. 34. Dieckmann: Thomas Mann nach Hitlers Machtantritt. In: Sinn und Form 32, H. 1 u. 2, S. 168. 266 Ebd., S. 170. 267 Ebd., S. 172. 268 Ebd., S. 169. 265 135 Zahnarztbesuch oder über die Verträglichkeit des Frühstückeis stolpern. Diese privaten Dinge entziehen sich der ästhetischen Beurteilung. Dieckmann verweist in diesem Zusammenhang auf den Unterschied zu den Arbeitsjournalen von Max Frisch und Bertolt Brecht. Das Rauchen und Essen sei Brecht zwar auch wichtig gewesen; während es bei Thomas Mann jedoch bei der Aufzählung bleibe, werden diese Notizen bei Brecht in einen höheren literarischen Zusammenhang eingebunden. Reich-Ranicki wundert sich beispielsweise, daß Thomas Mann in der wilden Zeit von 1933 notiert, daß er sich rasiert und Zigarren gekauft oder „Lindenblütenthee mit einer Citronenscheibe“ (Tb, 2. 5. 1933) getrunken hat. Diese außergewöhnliche Mischung von banalen Dingen mit wichtigen politischen Ereignissen hängt jedoch gerade mit der wertfreien Aneinanderreihung der Tatsachen zusammen. Außerdem bleibt es mit Sicherheit unbestritten, daß auch 1933 die Menschen gern gegessen, geraucht und sich gepflegt haben. Gerade die alltäglichen Dinge sind für Menschen in politischen Umbruchzeiten die größte psychische Stütze. Das gilt erst recht für Thomas Mann, für den der gewohnte Lebensrhythmus für seine tägliche Arbeit am Werk unabdingbar war. Auch wenn Reich-Ranicki auffällt, daß dem Tagebuchschreiber häufig die Geburtstage von seinen Kindern Elisabeth und Michael sowie seiner Frau Katia entgehen, wirft das ein Licht auf eine merkwürdige Leser-Erwartungshaltung. Thomas Mann entscheidet immer noch selbst, welche Informationen er in sein tägliches Journal aufnimmt. Wenn er die fiktiven Leser über die erwähnten Geburtstage im Unklaren läßt, bedeutet das noch lange nicht, daß er sie auch in Wirklichkeit vergessen hat. Auch Frank Busch versucht in seiner Studie Zeichen und Gefühle über August Graf von Platen und Thomas Mann, ähnlich wie Dieckmann, die erheiternde Wirkung bestimmter Äußerungen im Tagebuch mit dem unterschiedlichen Zeithorizont zu erklären. Er folgt dabei einem einfachen Gedankenspiel in einer Rezension von Thorsten Müller im Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt 1979, in der er die Leser auffordert sich einmal folgendes vorzustellen: Wenn jemand im Jahr des Erscheinens von Manns Tagebüchern 45 Jahre alt ist, so alt wie Thomas Mann 1920, und derjenige ebenfalls bis zu seinem 80. Lebensjahr Tagebuch führt, seine Diarien dann zwanzig Jahre nach seinem Tod veröffentlicht werden, dann schrieben wir das Jahr 2034. Müller schlußfolgert daraus, daß sich unsere Lebensgewohnheiten bis dahin in dem Maße verändert haben, daß wir dann auch bestimmte Bemerkungen aus diesem Tagebuch amüsant finden würden und für uns schwer nachvollziehbar wären. Diese Schlußfolgerung ist zwar scheinbar äußerst logisch, wird von 136 vielen Interpreten jedoch in den Hintergrund gedrängt. Wenn die Rezension im Spiegel Manns „Frack-toilette“ (Tb, 6. 12. 1938) ironisiert, dann vergißt sie diesen Zeitsprung. Über die „Frack-toiletten“ wird so berichtet, als wenn es zum Habitus Manns dazugehören würde, ohne zu reflektieren, daß es in den gesellschaftlichen Kreisen, in denen er sich bewegte, ein übliches Kleidungsstück für bestimmte Anlässe war. Das Außergewöhnliche hierbei ist nicht die Tatsache, daß Thomas Mann „Frack-toilette“ macht, sondern daß er es registriert. Die Notiz wird auch deshalb häufig als banal-absonderlich abgetan, weil sie nicht in das literarische Bild ihres Verfassers paßt, der als Dichter für seine bis ins letzte Detail ausgearbeiteten und überpointierten Sätze bekannt ist. An den angenehmen Seiten des bürgerlichen Lebens, das er in seinen Romanen und Erzählungen nur ironisch und humoristisch betrachtet – genußvolles Essen, wohleingerichtete Zimmer, hoher Komfort auf Reisen, auf die er zum Beispiel häufig seine Gummibadewanne mitnahm, – ergötzt er sich scheinbar im Tagebuch vollkommen schamlos. Busch erkennt sehr richtig, daß ein Urteil nur über das Material vorgenommen werden kann, das vorliegt. Das Subjekt im Tagebuch werde für die Interpreten zum Objekt und damit das subjektive Bewußtsein des Tagebuchschreibers oft ignoriert.269 Für Maar sind allerdings gerade die Lücken in den diaristischen Texten interessant, das Untersuchenswerte liegt für ihn im Nichtgesagten. So läßt er sich von einer Spur des Verdachts in die nächste treiben, ohne sich des Ausgangspunktes zu vergewissern, wenn er die Fährte von Manns Sorge über das Ausbleiben des Koffers mit seinen Tagebüchern bis zu einem möglichen Sexualverbrechen verfolgt. Erstaunlicherweise gelingt es Maar jedoch, mit dieser ihm eigenen Methode den Tagebüchern ganz unerkannte Seiten zu entlocken, obwohl auch er keine befriedigende Lösung zum Grad der Literarizität der Diarien Manns beitragen kann. Er argumentiert ähnlich wie Busch, daß die Tagebücher Thomas Manns sowohl die Einheit von Leben und Werk als auch von Tagebuch und Werk bestätigen. Besonders offensichtlich wird das, wenn der Tagebuchschreiber von seiner „Tonio-KrögerEinsamkeit“ spricht oder wenn er Fridos Hand mit der Echos vergleicht (Tb, 2. 8. 1951). Auch die diaristischen Offenbarungen basieren laut Busch auf einem „literarischen Mechanismus“, denn zu einem Drama gehöre neben der Inszenierung auch immer ein Text.270 Problematisch wird es, wenn Maar sagt, daß wir über den Menschen Thomas Mann, über sein „Innerstes und Intimstes“ nur etwas im Werk erfahren können, nicht im Tagebuch. 269 Vgl. Busch: August Graf von Platen – Thomas Mann, S. 192. 137 Was wir aber dann im Tagebuch finden können – darüber schweigt sich Maar aus. Seine widersprüchliche Einstellung bezüglich der Authentizität von Manns Tagebüchern wird in folgender Bemerkung besonders deutlich: Zur Pietät des Beiseitestehens war Thomas Mann außerstande. Sohn Klaus hätte den Selbstmord spätestens dann verübt, wenn er gelesen hätte, was der Vater über den Wendepunkt schrieb; nichts Unwahres, nur Eisiges.271 Thomas Mann machte in seinen Tagebüchern einen einzigen Eintrag zu Klaus Manns Autobiographie, den man negativ interpretieren könnte: Der »Wendepunkt« von Klaus, dessen Grab in Cannes, wie Breitkopf schrieb, in gutem Stande gehalten wird. Las viel in dem Buch, bewegt von den späteren Teilen, dann doch recht gequält von Vielem. Eine kranke Literaten-Existenz, angezogen von allem Faulen, was schon recht wäre, wenn es dabei auch einen Sinn für das Gesunde, Lebengesegnete, Heilvolle gäbe. Wo ist ein Interesse an Goethe, Tolstoi, kurz an der Kraft und irgendwelcher Erquickung durch sie? Ergreifend Lob und Preis für Mielein. Fürchte für Erika, daß es mißfallen wird. (Tb, 27. 5. 1952) Abgesehen davon, daß Maars krasses Urteil auf einer für ihn typischen vagen Interpretation dieses mehrdeutigen Tagebucheintrags beruht, deckt diese Bemerkung auch wieder die paradoxe Kompliziertheit dieses diaristischen Werks auf. An anderer Stelle schreibt Maar, daß sich Thomas Mann selbst „genauso kühl wie seine Opfer analysiert“.272 Warum wundert sich Maar dann über Manns „eisiges“ Urteil, und warum ist dann der Mensch Thomas Mann nur in den eindeutig literarischen Texten zu finden? Auf diese Fragen gibt Maar keine Antworten. Der folgende Tagebucheintrag bietet einen Lösungsansatz für dieses Problem: Auf der anderen Seite verstärkt sich die Freude am bewußten Genuß der kleinen und alltäglichen Annehmlichkeiten des Lebens, wie sie in der Faust-Novelle thematisch werden soll. Mein Zimmer hier ist außerordentlich bequem und praktisch, es freut mich der geräumige Waschtisch mit beliebig viel heißem Wasser und dem kleineren Becken mit rotierender Spühlung. Das Frühstück war genußreich, das große und frische Ei zum Thee, der schmackhafte Honig, das schaumige Brot. Es ist zu bemerken und in Acht zu halten, daß das Lob des Behagens und der Sinne leicht eine widerwillige Wirkung hervorbringt. Dennoch wird es in der geplanten oder geahnten Arbeit takterfordernd am Platze sein. (Tb, 27. 2. 1934) 270 Ebd., S. 195. Maar: Die Feuer- und die Wasserprobe, S. 71. 272 Ebd., S. 190. 271 138 Dieser Eintrag, der von einer Figur Thomas Manns stammen könnte, würde, eingebettet in einen Mannschen Roman, eine ironische Färbung annehmen. Auch Dieckmann ist diese Verwischung der Grenzen zwischen erzählerischem Werk und Tagebuch aufgefallen: [...] wenn Thomas Mann ganz für sich spricht, spricht er alsbald – wie eine Figur von Thomas Mann. Man kennt die Geschichte von dem chinesischen Maler, der sich am Ende seiner Tage in eins seiner Bilder hineinmalt und der Welt damit verschwindet. Was hier an das Ende eines Künstlerlebens gesetzt ist, erweist sich an Thomas Mann als eine Grundbefindlichkeit: die Person macht sich verschwinden in ihren Gestalten. Zwischen beiden ist keine genaue Grenze mehr zu ziehen; eine öffentliche Existenz in des Wortes radikaler und subtiler Bedeutung begibt sich. Thomas Mann hat um diesen Preis der Größe früh gewußt, er hat unter ihm gelitten und hat ihn gezollt.273 Ebenso negiert Eckhard Heftrich den Bekenntnischarakter von Manns Aufzeichnungen, beispielsweise hinsichtlich der Homosexualität, und verweist stattdessen auf seine Werke. Die Fixierung des Tagebuchschreibers auf Details begreift Heftrich nicht als Wunsch des Schreibers, sein ’wahres Ich‘ zu zeigen. Thomas Manns exzessive Tagebuchschreiberei sei ein Zeichen der von Wysling diagnostizierten „Scheu vor dem Autobiographischen“274 im Mannschen Schreiben. Heftrich betrachtet das Führen des Tagebuchs als beständigen Versuch des Schreibers, schreibenderweise mit allem fertig zu werden, was ihn am Weiterführen des Hauptwerks hindert.275 In den neueren Rezensionen, wie z. B. von Michael Maar und Joachim Kaiser, richtet sich das Hauptaugenmerk besonders auf die Sprache der Tagebücher, wodurch der literarische Aspekt der Diarien in den Vordergrund gerät. Kaiser gibt eine Antwort auf die bei Maar im Unklaren gebliebene Frage, wodurch sich Thomas Manns Ehrlichkeit im Werk von der Ehrlichkeit in den Tagebüchern unterscheidet. Nach Auffassung von Kaiser tritt uns in den diaristischen Aufzeichnungen zwar „Situativ-Authentisches“, aber keineswegs das Wahre und Endgültige gegenüber. In Manns täglichen Notizen fänden wir lediglich die Abreaktionen, d. h. nur das „Verdrängte“, wie es Hermann Kurzke sehr treffend formuliert.276 Kaiser beobachtet in den Tagebüchern des ’Zauberers‘ eine „faszinierende Wortwelt, die auch bei knappsten Mitteilungen von einem persönlichen Sprachrhythmus vibriert“.277 Die Sprache sei Ausdruck einer permanenten produktiven Reizbarkeit und von 273 Dieckmann: Thomas Mann nach Hitlers Machtantritt, S. 459. Wysling: Narzißmus und illusionäre Existenzform, S. 63. 275 Heftrich: Über Thomas Mann. Bd. 2: Vom Verfall zur Apokalypse, S. 114. 276 Kurzke: Thomas Mann. Epoche – Werk – Wirkung, S. 295. 277 Kaiser: Lächelnd beiseite legen. In: Neue Rundschau 107, H. 1, S. 129. 274 139 einer erstaunlichen Radikalität geprägt. Manns Formulierungen seien nicht auf einen Ausgleich bedacht, sondern glänzten durch ihre treffsichere, intelligente Wortwahl: Wir spüren: Er formulierte nicht ausgleichend, sondern extrem, lustvoll exzessiv. Doch während bei den meisten Literaten die Übertreibungsmasche ein sicheres Zeichen von Dummheit ist, von Simplizität, Einseitigkeit, blödem Genie-Simulantentum – übertrieb Thomas Mann sprühend intelligent. Das war das Nietzschehafte seines Geistes, seines Tagebuchführens auch . . .278 Die immense Tragweite, die für Thomas Mann die exakte sprachliche Benennung besitzt, findet Kaiser bereits im Tonio Kröger begründet. Tonio äußert sich im Gespräch mit Lisaweta über den „Erkenntnisekel“: „Hellsehen noch durch den Tränenschleier des Gefühls hindurch, erkennen, merken, beobachten und das Beobachtete lächelnd beiseite legen müssen [...]“ (GW, VIII, S. 300-301). Dieses Lächeln Tonio Krögers entdeckt Kaiser siebenundvierzig Jahre später als „eine mystisch entrückte Spiegelung“279 in den Tagebüchern wieder. Thomas Mann prophezeit darin folgende Resonanz nach der Veröffentlichung seiner privaten Notizen: „Heitere Entdeckungen dann, in Gottes Namen. Es kenne mich die Welt, aber erst, wenn alles tot ist“ (Tb, 13. 10. 1950). Kaiser beeilt sich aber sofort richtigzustellen, daß es ein Mißverständnis wäre, zu glauben, der Tagebuchschreiber hätte beim Schreiben fortwährend sein augurenhaftes Lächeln auf dem Gesicht gehabt und sich schon insgeheim diese „heiteren Entdeckungen“ in seiner Phantasie ausgemalt. Er führt dafür dann auch das für diese Fälle berühmte parate Gegenzitat an: „Über das Falsche, Schädliche und Kompromittierende des Tagebuch-Schreibens, das ich unter dem Choc des Exils wieder begann und fortführe, um diese Geschichte zusammen mit meinem Alltag zu notieren“ (Tb, 8. 2. 1942). Es bleibt also ungeklärt, auf welchen Zusammenhang uns die Verbindung der Worte „lächelnd beiseite legen“ und „Heitere Entdeckungen dann“ aufmerksam machen soll. Des weiteren spürt Kaiser in Manns täglichen Schriften die Konjunktion ’aber‘ in differenzierter Gebrauchsweise auf, z. B. in seinem letzten Eintrag vor dem Tod: „Prof. Löffler, sympathische Berühmtheit, etwas Primadonna, aber angenehm.“ (Tb, 29. 7. 1955), und verweist damit auf den literarischen Konstruktionscharakter der Tagebucheintragungen. Nach Maars Auffassung flackert im letzten Band der Diarien Thomas Manns Dichtkunst erst richtig auf, da er im Alter, als ihm zur erneuten Konzeption eines größeren Stof278 279 Ebd., S. 136. Ebd., S. 130. 140 fes die Energie und der Wille fehlte, plötzlich in den künstlerischen Improvisationsgestus verfalle. Wenn der Schriftsteller Tag für Tag lakonisch über die lästigen Besucher berichtet: „Qualvoll-komische Seßhaftigkeit der Gäste“ (Tb, 12. 2. 1952), wenn er vom „falschen Wetter“ (Tb, 7. 12. 1951) spricht oder über den Kreislauf der stetig ausscheidenden und wieder oder neu eintretenden Mägde sinniert, dann kommen, laut Maar, Manns wahre Qualitäten als ’Sprachzauberer‘ zum Vorschein. Der „Schwarm der Kleinigkeiten“ durchtränkt das hingeworfene Lebensmaterial und läßt die Diktion „nobel und graziös bis in den Silbenschlag“ aufleuchten, so Maar weiter.280 Die Schwierigkeit bei der Sezierung der Mannschen Tagebuchsprache lauert in der Befangenheit der Leserin, die den Tagebuchschreiber als Literaten kennt und somit manchmal schon krampfhaft versucht, Bedeutsamkeiten des Stils aufzuzeigen, wo es vielleicht gar nichts zu zeigen gibt, weil es eben ein „echtes Tagebuch“ ist, wie Dieckmann formuliert hat. Inge Jens, die Herausgeberin des zweiten Teils der Tagebücher Thomas Manns, bezeichnet die Diarien gleichzeitig als Chronik, Konfession, Geschichtsbuch und Seelenjournal, durchaus nicht durchgängig ohne literarischen Wert. Sie betont den undifferenzierten und spontanen Gebrauch der Adjektive und spricht deshalb von einem Steinbruch, der vor uns liegt. Für Inge und Walter Jens bedeutet Thomas Manns Äußerung: Warum schreibe ich dies alles? Um es noch rechtzeitig vor meinem Tode zu vernichten? Oder wünsche ich, daß die Welt mich kenne? Ich glaube, sie weiß, wenigstens unter Kennern, ohnedies mehr von mir, als sie mir zugibt. (Tb, 25. 8. 1950) einen schlüssigen Beweis, daß zumindest der späte Thomas Mann durchaus die Absicht hatte, sich der Welt zu offenbaren. Jens erkennt in diesem Satz, der von Mann im Oktober des gleichen Jahres noch einmal in ähnlicher Weise wiederholt wird, den von dem Schriftsteller in der Vorrede der Betrachtungen eines Unpolitischen zitierten August von PlatenVers: „Erkenne mich die Welt, auf daß sie mir verzeihe“.281 Inge Jens ist der Auffassung, daß Manns Notate seit dem Exil eine grundsätzlich andere Intention als die der Münchner Jahre implizieren. Standen die frühen Aufzeichnungen von 1918-21 noch im Zeichen der Betrachtungen eines Unpolitischen, gehen die Exil- und Nach-Exil-Tagebücher in ihrer 280 Maar: Die Feuer- und die Wasserprobe, S. 73-74. Jens, Inge u. Walter: Die Tagebücher. In: Thomas-Mann-Handbuch, S. 729. Thomas Mann bezeichnet den Platen-Vers in der Vorrede seiner Betrachtungen als sein „Grund-Ethos“: „Noch bin ich nicht so bleich, daß ich der Schminke brauchte; Es kenne mich die Welt, auf daß sie mir verzeihe!“ (GW, XII, S. 19) Ursprünglich in: Platen: Sämtliche Werke, III/IV, S. 119-120. 281 141 Bedeutung als allgemeingültige Relevanz über die frühen Diarien hinaus. Mit dem Namen Arosa beginnt laut Jens eine neue Ära für den Tagebuchschreiber, dessen Aufgabe es nun ist, die Geschichte des Nationalsozialismus als letzter Repräsentant des Abendlandes zu erzählen. Die Welt sollte jedoch nicht nur den smoking-gekleideten Künstler kennen, sondern ihn auch als Verkörperung seiner Figuren Tonio Kröger, Felix Krull, Gustav Aschenbach, Rosemarie von Tümmler, Grigorß oder Adrian Leverkühn verstehen und ihm womöglich schließlich auch verzeihen. Wonach suchen die Rezensenten in Manns Tagebüchern? Sie suchen nach Möglichkeiten der Decodierung, um im Medium der Eintragungen einen Wahrheitsgrund zu entschlüsseln. Daher rührt ihre Enttäuschung. Reinhard Baumgart entdeckt im Tagebuchschreiber Thomas Mann lediglich einen Buchhalter, der als Schriftsteller überhaupt nicht in Erscheinung tritt. Baumgart fragt danach, ob „das Tagebuch mit einem Millionenaufwand an Worten immer nur die arme Fassade dieses Doppellebens überliefern sollte, das Alltagsmartyrium, den leeren Repräsentationsglanz, um dahinter das Rätsel, das Mysterium der Kreativität um so unbegreiflicher erscheinen zu lassen.“282 Wenn Dieckmann die persönliche Sprache bei Thomas Mann vermißt, so vermißt er Zeichen der Authentizität, Stilfiguren, die Augenblicke der ’Wahrheit‘ präsent machen. Dieckmann versteht Manns Diarium als eine versachlichte Transformation der Aussagen der erzählerischen Texte in die private und alltägliche Form des Tagebuchs. Dieser Lesart widerspricht jedoch der Inhalt der Tagebucheintragungen, die sich in erster Linie mit Alltagsroutine beschäftigen, die in Manns Prosa sicherlich auch verarbeitet, jedoch in keiner Weise als ironischer Gegenpart zu den Tagebüchern thematisiert werden. Der Grund, warum in Manns Diarien nur wenig Neues zu erfahren ist, besteht nicht darin, daß wir in ihnen noch einmal Vergleichbares wie in seinen erzählerischen Texten, nur in abgewandelter Form, lesen können. Die Enttäuschung der Leser beruht vielmehr im Mangel an spannenden Details, die den Unterbau des erzählerischen Werks bilden könnten. Was Thomas Mann in seinen fiktionalen Texten teilweise durch die Technik der Camouflage283 an persönlichen Konflikten verarbeiten 282 Baumgart: Glücksgeist und Jammerseele, S. 45. Der Begriff der literarischen Camouflage unterscheidet sich von der Kategorie der Simulation hinsichtlich der Ursache seiner Anwendung. Während der Simulationsakt einen Prozeß der Vortäuschung impliziert, um die Realität zu Gunsten des Simulanten zu beeinflussen, maskiert die Strategie der Camouflage einen tabuisierten Sachverhalt. Das camouflierende Verfahren provoziert bewußt eine Mehrdeutigkeit, die den Grund der Verschleierung nur einigen wenigen Adressaten zu erkennen gibt. Heinrich Detering, der dieses literarische Maskierungsverfahren explizit an der Mann-Novelle Tonio Kröger nachgewiesen hat, nennt folgende definitorische Merkmale: „Der potentiell anstößige Gegenstand wird durch Transponierung in einen nicht 283 142 konnte, wird ihn kaum dazu bewegt haben, dasselbe noch einmal Tag für Tag morgens bzw. abends als Entspannungsprogramm ’ohne Filter‘ darzulegen. Stattdessen beschreibt Mann die Begleitumstände seiner Arbeit und achtet dabei auf das gleichberechtigte Verhältnis von Offenbarung und Geheimhaltung. In dem Moment, wenn die Leserin glaubt: das ist der ’authentische‘, der echte Thomas Mann, kommen schon wieder Zweifel auf, wenn sie eine Seite weiterblättert und auf eine scheinbar subjektive Äußerung stößt, die aber lediglich aus einem Wort besteht und nicht weiter ausgeführt wird. Ich möchte versuchen, dieses Problem mit der Verwendung der Kategorie der Simulation näher zu untersuchen, indem ich sie als ein Element bestimme, das für die Literarizität der Tagebücher Thomas Manns mitverantwortlich ist. 5. Das Logbuch als verdeckte Simulation 1. Schön und kühl. Darm u. Magen etwas angegriffen. Eumydrin, Vorsicht. – Brief von Frau Fischer wegen ihres Kommens und über Wassermanns Ehe-Affaire, die überschüssige Aufregung bringt. [Wetter, körperliche Konstitution, Einnahme von Medikamenten] 2. Telephoniere mit dem Mann in Locarno, dem ich absage. Gestern Abend mit Prof. Joel aus Basel. Der Anlaß war Kiefer, aber er erinnerte mich an seinen Vorschlag von früher, nach Basel überzusiedeln, der heute neuen Sinn bekommen hat. Der Gedanke zu erwägen. Verabredung mit Joel zu einer Begegnung. [Telefonate] 3. Nachdenken über die Komprimierung der Reise durch Aegypten. Mit K. gegen Gandria spazieren. Nach dem Lunch in der Rundschau über Jüngers Buch gelesen (»Faust«) und im Tolstoi fortgefahren. ¼ [ ? ] Uhr mit K. u. Medi per Tram zum Hotel Bellevue au lac. Thee mit Joels. Gespräche über die Lage beim Thee und auf dem langsamen Rückweg. Das Problem Basel. Die teure Wirtschaft. Aber als geistiges Milieu und europäischer Punkt sehr sympathisch. [Spaziergang, Lektüre, Gespräche] anstößigen Bereich und gleichzeitige Signalisierung des ursprünglich Gemeinten öffentlich formulierbar gemacht. Aus der Kombination eines Oberflächen- und eines Subtextes können darüber hinaus produktive Effekte resultieren, die in der Aussageabsicht zwar begründet und aus ihr abgeleitet sind, nicht aber in ihr aufgehen.“ (In: Detering: Camouflage. In: Reallexikon Bd. 1, S. 292). Auch die Strategien der Simulation und Dissimulation leben von dem wechselseitigen Spiel von Verbergung und Offenheit, wobei die Signalisierung des ’eigentlich‘ Gemeinten schon die Grenze zur Ironie überschreitet. (Vgl. Plett: Rhetorische Textanalyse, S. 93) Camouflage und Simulation sind im literarischen Text durch eine Doppeldeutigkeit gekennzeichnet, die sie wechselseitig sichtbar oder unsichtbar werden läßt. Im Gegensatz zum defensiven Charakter der Camouflage wird der Leser durch die offensive Strategie der Simulation stärker in eine bestimmte Richtung gelenkt. 143 4. Erika mit der Giese wieder angekommen. Mit Eri vorm Hause beim Cocktail. AbendToilette. Begrüßung der Giese, die entschlossen ist, nicht nach München zu gehen, obgleich man ihren Bruder als Geisel behandelt, in K.’s Zimmer. Diner zu Fünft. Nachher im großen Salon mit Fulda`s, Franks u. Speyer. Geteilte u. gemeinsame Konversation. Recht glückliche u. neue Perspektiven aufreißende Anregung Fulda’s, wir möchten Süd-Tirol, Bozen zum längeren Aufenthalt nehmen. Die Reise von hier über Mailand ist bequem. Nähe Venedigs. Höhenaufenthalte bieten sich für den Sommer. Nähe Münchens in Hinsicht auf K’s Eltern. Medi’s Wunsch und Recht zur Schule zu gehen bietet eine Schwierigkeit. Neue Aufregung, neue Aussichten. [Besuch] 5. Nachricht, daß man sich jetzt in Deutschland anschickt, bei den Intellektuellen u. zwar nicht nur bei Juden, sondern auch bei solchen, die man für politisch unzuverlässig, dem Regime abgeneigt hält, nach dem Rechten zu sehen. Mit Haussuchung zu rechnen. Neue Beunruhigung wegen meiner Tagebücher. Bedürfnis sie in Sicherheit zu bringen. [Politisches Geschehen] 6. Vorm Einschlafen Tolstoi, jeden Tag. Mächtig gefesselt immer. Nur größte Schläfrigkeit kann mich zwingen, die Lektüre zu unterbrechen, und sie tritt rasch ein, ohne eine Garantie für dauerhaften Schlaf zu bedeuten. [Bettlektüre] (1-6: Tb, 7. 4. 1933) Eine strikte Grenzziehung zwischen Logbuch und subjektivem Journal erweist sich generell als äußerst problematisch, da die Einteilung auch von der Sichtweise der Leserin abhängig ist. Wir können oftmals ein Hinübergleiten von einer diaristischen Schreibweise in die andere beobachten, wobei es zu einer wechselseitigen ’Authentisierung‘ der Einträge kommt, d. h. der Effekt der Aufrichtigkeit wird durch diese regelmäßig auftretenden Brüche erzielt. Mit seinen festen Strukturen der Einträge, die sich jeden Tag in gleicher Weise wiederholen, wobei lediglich die ’Kategorien‘, in die sich die Einträge einordnen lassen, wechseln, sind alle Weichen für ein typisches Logbuch gestellt. Jedoch treten in regelmäßigem Abstand Äußerungen auf, die diese Art des Tagebuchschreibens unterlaufen. Anhand der Eintragung vom 7. April 1933, einen Tag, bevor Thomas Mann seinen Sohn Golo bat, seine Tagebücher aus München zu holen, möchte ich versuchen, dieses Problem deutlich zu machen. Neben den distanzierten Äußerungen des Tagebuchschreibers, bei denen er, selbst wenn er Begebenheiten beschreibt, die ihn persönlich betreffen, Haltung bewahrt, tauchen immer auch ein paar Bemerkungen auf, die nicht in das Raster des Logbuchs zu passen scheinen. Was bedeuten solche Worte wie „Vorsicht“ in bezug auf die Einnahme des Medikaments Eumydrin? Kann man die „überschüssige Aufregung“, die Thomas Mann nach Erhalt des 144 Briefes von Frau Fischer empfindet, noch als eine sachliche Darstellung des Ichs im Verhältnis zu der ihn umgebenden Welt bezeichnen? Wie läßt sich Manns mitgeteilte Nervosität wegen seiner restlichen Tagebücher beurteilen? Kippt das Logbuch bei diesen genannten Bemerkungen in ein subjektives Journal um, oder sind sie auf der gleichen Ebene einzuordnen? Nach Lindner unterscheiden sich selbst die persönlichsten Äußerungen nicht von denen, die sich beispielsweise auf das weltpolitische Geschehen beziehen. Besteht ein Unterschied zwischen den Bemerkungen „Darm und Magen etwas angegriffen“ und dem anschließenden Wort „Vorsicht“, das eine persönliche Wertung impliziert? Wir haben es hier mit zwei verschiedenen Ebenen zu tun, wobei noch nicht klar ist, ob es sich hierbei um innerliterale Divergenzen handelt oder ob beide Ebenen durch nicht-literarische Elemente voneinander getrennt werden. Es scheint so, als wenn diese subjektiven Äußerungen den Übergang vom Umkippen des Logbuchs in ein subjektives Journal markieren. Die Grenze vom Logbuch zum subjektiven Journal wird Lindner zufolge in dem Augenblick überschritten, „[...] wenn die analytische Distanz aufgegeben wird, wenn Fühlen, Bewußtseinsstrom und Schreibakt verschmelzen“.284 Der Gestus des Abwägens und Beobachtens werde von einem diffusen „Gestus des Suchens und Umkreisens“285 abgelöst. Das Subjekt ist demzufolge dann nicht mehr Gegenstand des Tagebuchs, sondern es entwickelt sich mit jedem Satz neu. Befindet sich Thomas Mann auf der Suche nach seinem Ich, wenn er schreibt: „Neue Aufregungen, neue Aussichten“? Nein. Die Selbst-Reflexionen des Subjekts wurden hier schon übersprungen; nur ’das Faktum an sich‘ bleibt übrig. Dadurch führt das Logbuch seine Leser in Irritationen, da die Gedankengänge für sie unsichtbar bleiben und nicht mehr nachvollziehbar sind. Die Betrachter werden mit einer Beurteilung des schreibenden Subjekts durch sich selbst konfrontiert, wodurch das Ich im Tagebuch für die Leser einen maskenhaften und inauthentischen Charakter erhält, d. h. die unerzwungene Aufrichtigkeit des Diaristen läßt die Leserin an eben dieser zweifeln. Das Auge des Anderen wird durch Thomas Mann selbst personifiziert. Wir erfahren, daß der Schriftsteller schlecht geschlafen hat, sich krank fühlt, eine Dinner-Party genossen hat oder ihm die politische Situation mißfällt; wir erfahren jedoch nicht – warum? Die Antwort auf diese Frage wird durch den vorangegangenen subjektiven Filterungsprozeß übergangen. Das subjektive Journal bildet demnach die Voraussetzung für das Logbuch, ist also im Logbuch zusätzlich enthalten, jedoch nur maskiert, und für den Außenstehenden auf den ersten Blick nicht 284 Lindner: ’Ich‘ schreiben im falschen Leben, S. 21. 145 erkennbar. Ich werde jedoch später noch zeigen, daß auch in Manns Tagebüchern das subjektive Journal offen zu Tage tritt. Aufgrund dieses verschleierten Reflexionsprozesses scheint sich für Maar hinter bestimmten Tagebuchäußerungen ein Subtext bzw. die ’eigentliche Wahrheit‘ zu befinden. Diese bestimmten Eintragungen sind es, die ihm Hinweise auf das verborgene subjektive Journal geben, indem sie für einen kurzen Moment das nüchterne Registrieren des Logbuches durchstoßen. Es bedarf also einer Suche nach den Auffälligkeiten dieser Bemerkungen des federführenden Ichs. Warum sind es gerade diese Sätze, die für Maar den Verdachtsmoment auslösen, daß sich hinter ihnen eine geheime Wahrheit verberge? Die Lösung findet meines Erachtens ihren Ausgangspunkt bei dem bereits erwähnten Grundsatz von Plessner: „Der Mensch verallgemeinert und objektiviert sich durch eine Maske, hinter der er bis zu einem gewissen Grade unsichtbar wird, ohne doch völlig als Person zu verschwinden“. Indem der Autor der Tagebücher also die Reflexionen, die sonst Gegenstand des subjektiven Journals sind, für sich behält und nur ihre Ergebnisse registriert, objektiviert er sich und wird bis zu einem gewissen Grad unsichtbar, ohne dabei jedoch als Individuum völlig in den Hintergrund zu treten. Maar, der die Tagebuchäußerungen als darstellungsfreie Texte liest, vermutet hinter den scheinbar subjektiven Gefühlsdarstellungen einen Subtext, der von Thomas Mann bewußt dissimuliert wird, um seine Lebensgeheimnisse zu bewahren. Wie Busch in seiner Untersuchung zu Manns Tagebüchern jedoch sehr einleuchtend darlegt, unterscheiden sich Manns Berichte über sein persönliches Befinden insofern nicht von den Schilderungen äußerlicher Verhältnisse, da sie sich ebenfalls lediglich auf das Registrieren beschränken: Das Register erstreckt sich allerdings nicht nur auf die Korrespondenz und die Lektüre, die für einen Autor zum Geschäft gehören, nicht nur auf Einnahmen und Ausgaben verschiedenster Art, sondern auch auf Gefühltes, Erlebtes, Gedachtes. Ein so umfassendes Register treibt die Einrichtung der Buchführung über sich hinaus, denn es gehört gerade zum bürgerlichen Verständnis des Gefühls, daß damit nicht gehaushaltet wird, daß darüber nicht Buch geführt wird. Ein Journal intime, das als Haushaltsbuch geführt wird, birgt seinen Widerspruch bereits in sich.286 Deshalb werden Manns diaristische Aufzeichnungen häufig als kalt, distanziert und gefühllos empfunden, selbst wenn es sich um familiäre Angelegenheiten handelt. Mayer bezeich- 285 286 Ebd. Busch: August Graf von Platen – Thomas Mann, S. 195. 146 net dieses Verfahren als „Form eines Dualismus“,287 wobei Thomas Mann als Tagebuchschreiber „als sein eigener Doppelgänger“ fungiert. Mann habe die Erzähltechnik der Zweiteilung als episches Prinzip auf seine Diarien übertragen. In dem Maße, wie er im Doktor Faustus die Lebensgeschichte von Adrian Leverkühn erzähle und Serenus Zeitblom dabei als Kommentator auftrete, so erzähle Thomas Mann in seinen Tagebüchern sein eigenes Leben, indem er es selbst kommentiert: „Der Tagebuchschreiber Thomas Mann ist gleichzeitig Leverkühn und Zeitblom. Er lebt sich und er deutet sich.“288 Die wesentliche Differenz zum Doktor Faustus besteht jedoch darin, daß in Manns Tagebuch nur Zeitblom hervortritt – Adrian Leverkühn bleibt im Verborgenen. Im Felix Krull kommentiert der Hochstapler, der mittlerweile im Zuchthaus sitzt, sein Leben als künstlerischer Simulant. Mit diesem auf die Tagebücher angewandten Verfahren gelingt es Mann, in jedem Fall scheinbar Objektivität zu bewahren und sich selbst mit dem Blick des Anderen zu beobachten. Daß ihm dieser Gedanke durchaus nahe lag, beweist die kleine Erzählung Der Bajazzo, in der es heißt: Gleichgültigkeit, ich weiß, das wäre eine Art von Glück . . . Aber ich bin nicht imstande, gleichgültig gegen mich zu sein, ich bin nicht imstande, mich mit anderen Augen anzusehen als mit denen der ›Leute‹, und ich gehe an bösem Gewissen zugrunde, – erfüllt von Unschuld . . . Sollte das böse Gewissen denn niemals etwas anderes sein als eiternde Eitelkeit? – (GW, VII, S. 138) Diese Gedanken des Bajazzos klingen wie das subjektive Journal zu folgendem Tagebucheintrag: Der Zustand, unter dem ich leide, hängt zusammen 1.) mit Abspannung und WiederAkklimatisation nach der Reise, 2.) mit der Spannung unmittelbar vor Erscheinen des tief greifenden Romans, 3.) mit dem Kummer über die Vorgänge hierzulande, 4.) auch, weil noch ohne Nachrichten von Dial Press über die Auswahl./ [...] (Tb, 7. 10. 1947) In den Tagebüchern finden sich mehrere Einträge, die zu den Äußerungen des Bajazzos passen. Sie alle basieren auf einem Leidenszustand, der mit der extremen Sensibiltät des Künstlers zusammenhängt, dem nichts gleichgültig ist und der immer von neuem seinen Standort im Verhältnis zur Umgebung bestimmt. Der Schreibende mißt die Verfassung seines geistig-körperlichen Zustands wie bei einem physikalischen oder chemischen Expe- 287 288 Mayer: Thomas Mann, S. 452. Ebd., S. 460. 147 riment, wobei als Indikator für die Ergebnisse das subjektive Empfinden in Verbindung mit den objektiven Außenbedingungen gilt. Diese protokollarischen Notizen könnte man als die Rohform des Logbuches bezeichnen, in dem es lediglich auf das reine Registrieren und Beobachten ankommt. Außerdem bestätigt dieser Eintrag augenfällig Lindners These, daß der Schreiber auch bei persönlichen Bemerkungen die Form des Logbuches beibehält. Offensichtlich scheint es für Thomas Mann von außerordentlicher Bedeutsamkeit zu sein, seine körperliche und seelische Verfassung genauestens zu untersuchen und die Ursachen zu erforschen. Es entspricht jedoch Lindners Analyse, daß wir hier mit einem Zustandsprotokoll konfrontiert werden, in welchem Thomas Mann die Rolle eines Großseglers einnimmt, dessen Lage und Situation Tag für Tag neu bestimmt werden muß. Gleichzeitig muß der logbuchartige ’Gemütsbericht‘ Befremden auslösen. Die Auflistung zeigt einen hohen Grad von Nüchternheit und Objektivität und läßt die Strategie des Tagebuchschreibens transparent werden. Für Groys, der die Aufrichtigkeit in unserer Kultur nicht als Gegenteil von Lüge, sondern als Gegensatz zu Automatismus und Routine betrachtet,289 verkörpert der ganze Mensch bloß einen Verdacht, d. h. unter dem Verdacht befindet sich laut Groys keine weitere Schicht. Unter diesem Blickwinkel müssen Maars Deutungsversuche, hinter Manns Tagebuchaussagen die Wahrheit zu suchen, scheitern, da der beste Schutz gegen den Blick des anderen die Geste der Aufrichtigkeit sei, wodurch dann der ’Effekt der Authentizität‘ entsteht. Im Fall von Manns Tagebüchern würde das bedeuten, daß die Leserin sich in dem Moment mit einer Form von ’Authentizität‘ konfrontiert sieht, wenn die Art und Weise der Eintragung scheinbar vom üblichen Muster abweicht. Hier ist jedoch immer nur der Effekt oder eine Inszenierung von Aufrichtigkeit gemeint, die völlig unabhängig von der subjektiven Wahrheit zu analysieren ist. Jedesmal, wenn der Automatismus des täglichen Rhythmus durchbrochen wird, also, um mit Groys zu sprechen, der „Ausnahmefall“ eintritt, vermutet die Leserin einen besonderen Akt der Aufrichtigkeit. Eine Abweichung von einem ’normalsprachlichen‘ Text wird in Manns Aufzeichnungen in erster Linie durch die spezifische Sprache in den Einträgen gewährleistet, die oftmals fragmentarisch und bruchstückhaft sowie durch häufige Wiederholungen geprägt ist: Bemühungen um die Form für das Musikalische in XXII./ Gegangen bis über das alte Haus. [...] (Tb, 26. 9. 1944) 289 Groys: Unter Verdacht, S. 68. 148 Geschrieben an XXII. Gegangen Amalfi Drive. [...] (Tb, 27. 9. 1944) Am XXII., mühsam. Zu ändern./ Gegangen Amalfi Drive. [...] (Tb, 28. 9. 1944) Zu dieser Zeit schrieb Thomas Mann gerade mit immenser Kraft und Stetigkeit am Doktor Faustus. Den herausragenden Stellenwert, den er diesem Roman beimißt, zeigt sich vor allem in den häufigen Zusatzbemerkungen, die der Diarist an die übliche Standortangabe im Roman anschließt. Die ich-bezogenen Eintragungen zur Stimmungslage bezüglich des Doktor Faustus umfassen größtenteils lediglich ein paar Worte, z. B. „Schluß von XXI, prekär“ (Tb, 24. 8. 1944), „Müde. Wenig geschrieben. /Mußte heikle Stelle verschieben.“ (Tb, 30. 11. 1944), „Schwerdtfeger“ (Tb, 20. 10. 1944) oder „Hölle“ (Tb, 4. 2. 1945). Diese persönlichen Äußerungen stellen jedoch in keiner Weise einen Übergang vom Logbuch zum subjektiven Journal dar. Der Unterschied zwischen den beiden Schreibweisen ist hierbei lediglich in der Thematik zu sehen. Während der Tagebuchschreiber zu Beginn der Eintragung Auskunft über den derzeitigen Arbeitsstand und den obligatorischen Morgenspaziergang erteilt, gibt er anschließend Informationen zum Inhalt des Romans bzw. über seine persönlichen Empfindungen diesbezüglich: „Die Integrierung des Studierten und Übernommenen in Atmosphäre und Zusammenhang des Werks als reizvoll empfunden“ (Tb, 30. 9. 1944). Subjektivität und Objektivität befinden sich in beiden Varianten in der gleichen Konstellation zueinander. Am 17. September 1935 trifft Ida Herz, eine leidenschaftliche Verehrerin Thomas Manns, in Küsnacht ein. Ida Herz, eine Buchhändlerin aus Nürnberg, lernte Thomas Mann 1925 kennen und wurde von ihm beauftragt, seine Münchner Bibliothek zu ordnen. Seit dieser Zeit besuchte sie die Manns regelmäßig und stand in regem Briefwechsel mit dem Autor. Sie sammelte Zeitungsartikel, Manuskriptabschriften und Kuriosa, die mit dem Schriftsteller zusammenhingen. Teilweise fügte Mann auch selbst eigene Unterlagen der Sammlung hinzu. Als sie 1935 nach Zürich reiste, floh sie bereits vor den zunehmenden Drangsalierungen in Nürnberg. Thomas Mann reagiert in seinem Tagebuch auf den Besuch seiner Verehrerin nicht gerade freundlich. Ab der Eintragung am 18. September bis zum 4. Oktober notiert der Tagebuchschreiber 11 Mal den Satz: „Zum Tisch leider die Herz“. Durch die mehrmalige Wiederholung dieses Satzes wird bei der Leserin die Wahrnehmung des Leidens des diaristischen Ichs unter dieser Frau bestärkt. Gleichzeitig erzeugen die 149 Äußerungen bei der Leserin eine komische Wirkung. Bezüglich Ida Herz finden sich weitere humorige Notizen in den Tagebüchern: Drucksachen für die Herz bereit gemacht, damit sie etwas zu knabbern und nagen hat (Tb, 9. 7. 1953) Zum Abendessen die Herz. Tat mein Bestes, zeigte ihr das Kreuz der Ehrenlegion, gab ihr das Merkurheft mit dem Schluß der Novelle, die sie nicht versteht, erzählte bei Tisch eine oder die andere Anekdote. Als nachher K. und Moni Platten suchten und mich ihr auslieferten, verlor ich die Nerven, sprang auf und ging, zerquält und zerstört. (Tb, 13. 7. 1953) Albern-treuliebender Brief der Herz, die telephoniert und telegraphiert hat, weil es geheißen hat, des Herrn Doktors Befinden sei schlecht. Und was denn also, wenn ich stürbe? Sie sollte es bescheiden abwarten, die dumme Person. – – (Tb, 17. 2. 1954) Wo bleibt das objektive Registrieren in diesen Einträgen? Thema dieser Bemerkungen ist nicht das Subjekt des Diaristen, sondern die Person Ida Herz, die zwar eine negative Stimmung beim diaristischen Ich erzeugt, die aber nicht Gegenstand der Äußerungen bildet, sondern die Ursache ihrer Registrierungen darstellt. Die Frage, die diese Notizen unweigerlich hervorrufen, ist die nach dem Grund der komischen Wirkung der Einträge. Tritt hier wirklich nur eine unfreiwillig komische Wirkung zu tage, die durch das nüchterne Registrieren intimer Details, wie es einige Rezensenten nahelegen, entsteht? Als Beispiele folgen dann häufig Zitate, in denen sich der Tagebuchschreiber über die Größe seiner Unterhosen ärgert oder über seine Verdauungsschwierigkeiten spricht. Beruht die Komik dieser Äußerungen nicht einfach auf der Tatsache, daß es der Leserin gestattet wird, durch das Schlüsselloch zu schauen und einen berühmten Schriftsteller bei seinen intimen Leiden zu beobachten? Der Humor der Ida-Herz-Episoden dagegen entsteht durch die pointierte Sprache, die den Erzähler Thomas Mann erahnen läßt. Der aus einer detaillierten Beobachtungsgabe resultierende Humor, der aus seinen erzählerischen Werken bekannt ist, blitzt in seinen diaristischen Schriften allerdings äußerst selten auf. Erstaunlicherweise verstärken diese erzählerischen Passagen ihre ’authentische‘ Wahrnehmung von seiten der Leser, da die ansonsten typische Logbuchsprache durchbrochen wird. Unruhiges Schlafen, die Einnahme von Medikamenten, Äußerungen von großem Unwohlsein sind für Maar Zeichen einer Ausnahme oder einer Irregularität, die für ihn die Berechtigung seiner Zweifel bestätigen. Maar begreift Sätze wie die folgenden: „K. u. ich saßen viel Hand in Hand. Sie versteht halb und halb meine Furcht wegen des KofferInhalts“ (Tb, 30. 4. 1933) als ’authentisch‘, wodurch aber erst recht seine Skepsis genährt 150 wird, sie könnten irgendein Geheimnis verbergen. Maar kommentiert diese Stelle wie folgt: Das ist die einzige Stelle, bei der ein Lichtchen von außen auf sein Inneres fällt, der einzige Moment, in dem wir aus seiner Hirnkammer schlüpfen dürfen, in der ihn die Ängste foltern, um ihn aus fremden Pupillen zu sehen.290 Laut Maar ist es die einzige Notiz, die der Leserin einen Einblick in die Ursachen von Manns Befürchtungen vor der Veröffentlichung der vermeintlich verlorengegangenen Tagebücher gewährt. Im Gegensatz zu Maar bin ich allerdings der Auffassung, daß wir erst gar nicht in die „Hirnkammer“ des Dichters hineinblicken konnten. Da der Prozeß der Selbstreflexion uns Lesern verschlossen bleibt, können wir nur das Ergebnis der Angstkämpfe des Tagebuchschreibers schwarz auf weiß sehen. Wenn er schreibt, daß seine Frau Katia seine Ängste teilweise verstehen kann, ist das nichts anderes als ein Effekt der Aufrichtigkeit, der durch die Einbettung fremder Zeichen in den eigenen Kontext erreicht wird,291 d. h. durch einen Wechsel der Schreibweise, indem das schreibende Subjekt als ein anderer Funktionsträger agiert. Das besagt jedoch nicht, daß der Autor diese Strategie bewußt einsetzt, um sich selbst zu maskieren oder die Leser zu verwirren. Entsteht dieser Verdacht lediglich als Produkt des mißtrauischen Blicks der Interpreten? 6. Simulation als Notwendigkeit zur Aufhebung des körperlich-geistigen Dualismus Ich esse, um mich zu nähren und um rauchen zu können. Mein Glaube an meine zukünftige Leistungsfähigkeit ist gering. Ich bin wütend über Anforderungen, Belästigungen, zittere vor Erschöpfung, wenn ich ausnahmsweise gezwungen war, ein Telephongespräch zu führen. Das Lagernde an Briefen und Manuskripten beschwert mich mit Ekel und Verzweiflung. Meist graut mir vor allem. Ich habe fast keine anderen als peinliche Erinnerungen, und die Zukunft scheint nur Versagen zu bergen. Mein Leben scheint mir eines Umsturzes, wie er geplant ist, nicht mehr wert zu sein. Wenn ich in die Schweiz gehe, tue ich es nicht, um dort zu leben, sondern um dort zu sterben. Aber der Körper ist noch sehr widerstandsfähig. (Tb, 15. 12. 1951) Der Diarist beschreibt seinen Lebenszustand, der durch geistige und körperliche Überlastung geprägt ist. Die Folgen der geistigen Anforderungen zeigen sich in körperlichen und psychischen Reaktionen – leider ist jedoch „der Körper noch sehr widerstandsfähig“. Die 290 Maar: Das Blaubartzimmer, S. 15. 151 von Gerhard Härle beschriebene Einheit von Körper und Geist, die sich im Felix Krull als Schein des Scheins äußert, wird in dieser Notiz offenbar. Während Krull den epileptischen Anfall vor der Musterungskommission für die Leser glaubhaft simuliert, deckt Härle diese Simulation wiederum nur als Reaktion auf seine geistige Verfassung auf, so daß dieses Täuschungsmanöver als eine doppelte Simulation verstanden werden kann. In einer ähnlichen Situation befindet sich das diaristische Ich in Thomas Manns Tagebuch am 15. Dezember 1951, mit dem Unterschied, daß es nicht willentlich versucht, körperliche Reaktionen herbeizuführen. Lesen wir diese Sätze des schreibenden Ichs als unvermittelte, ’authentische’ Zeichen, dann bleibt dieser paradoxe Dualismus im Verborgenen. Es bleibt uns zwar bewußt, daß die mangelnde Leistungsfähigkeit, die der Diarist beklagt, sowohl auf psychischer als auch auf physischer Schwäche beruht und sich diese beiden Pole wechselseitig bedingen – ein Simulationsakt zeigt sich bei dieser Betrachtungsweise jedoch nicht. Das scheinhafte Leben eines Felix Krull hat unseren Blick jedoch geschärft, so daß uns der letzte Satz dieses Auszuges aufhorchen läßt. Bei der Lektüre erinnern wir uns sofort an Felix’ Ausspruch: Wenn jetzt etwas Erschütterndes mit mir geschähe, denkt wohl der Mensch. Wenn Du ohnmächtig niederstürztest, wenn Blut aus Deinem Munde bräche, Krämpfe dich packten – wie würde dann auf einmal die Härte und Gleichgültigkeit der Welt sich in Aufmerksamkeit, Schrecken und späte Reue verkehren! Aber der Körper ist zäh und stumpfsinnig dauerhaft, er hält aus, wenn die Seele sich längst nach Mitleid und milder Pflege sehnt, er gibt die alarmierenden und handgreiflichen Erscheinungen nicht her, die jedem die Möglichkeit eigenen Jammers vor Augen rücken und der Welt mit fürchterlicher Stimme ins Gewissen reden. (GW, VII, S. 301-302) Haben wir es also doch mit einer doppelten Konstruktion des diaristischen Ichs zu tun? Wer kann mit Gewißheit sagen, daß der Verfasser der diaristischen Schriften sich nicht ähnlich wie Felix Krull durch Täuschungen als Souverän auf der Bühne des Tagebuchs bewegt und mit allen Mitteln versucht, seiner Maske nicht verlustig zu gehen? Während Felix jedoch bewußt seine Befähigungen zur Simulation einsetzt, um ausgemustert zu werden, kann man dem Tagebuchschreiber diesen Vorwurf nicht machen. Sein psychischer Zustand nimmt zwar ebenfalls auf seine Körperlichkeit Einfluß, ohne jedoch einen bestimmten Teil der ihn umgebenden Außenwelt mit Absicht zu täuschen. 291 Vgl. Groys: Unter Verdacht, S. 112. 152 Körper und Geist bilden laut Härle gegenseitige Projektionsflächen, wodurch der „Scheincharakter des Unwillkürlichen, wie z. B. eine Krankheit, als willkürlich Gewolltes im Scheincharakter der Simulation erkennbar“292 wird. Eine weitere Notiz zeigt, daß Thomas Mann für sich selbst die Existenz einer schwachen Seele beansprucht, sie aber seinem Bruder Heinrich abspricht, obwohl dieser auch gerade in seinen letzten Jahren Trost in Thomas’ Familie suchte, um vor seiner Einsamkeit zu fliehen: Ich mag mich täuschen, aber indem ich Heinrich beobachte, habe ich den Eindruck, daß zum mindesten seine psychische Gesundheit viel robuster ist als meine. Auch trinkt er abends seine halbe Flasche Rotwein, die er sehr liebt, danach zwei Cognacs und morgens und nachmittags Kaffee, was – ich auch gern täte. Zwar hat er auch in Nizza nervenärztliche Hilfe in Anspruch genommen und nimmt Phosphor zum Essen. Aber schon die Tatsache, daß er allein leben kann, spricht dafür, daß er seelisch weniger prekär daran ist als ich. (Tb, 20. 5. 1933) Dieser Eintrag zeugt aber nicht nur vom narzißtischen Wesen des Tagebuchschreibers, sondern bestätigt auch das Leiden unter seinen psychischen Problemen. Wir erkennen den bemitleidenswerten Blick, den Felix Krull dem Musterungsarzt zuwendet, in diesen Sätzen wieder: Warum quälst du mich? Fragte ich mit diesem Blick. Warum zwingst du mich zu reden? Siehest du, hörst und fühlst du denn nicht, daß ich ein feiner und besonderer Jüngling bin, der unter freundlich gesittetem Außenwesen tiefe Wunden verbirgt, welche das feindliche Leben ihm schlug? (GW, VII, S. 361) Der Unterschied zum Hochstapler Felix besteht nur darin, daß der Adressat des Blicks und damit das Opfer der Täuschung nicht der Oberstabsarzt, sondern die Leserin des Tagebuchs ist. Auf die Frage des Arztes, warum Felix denn noch niemandem von seinem epileptischen Leiden erzählt habe, antwortet er: Weil ich mich schämte [...] und es niemandem sagen mochte; denn mir war, als müsse es ein Geheimnis bleiben. Und dann hoffte ich auch im stillen, daß es sich mit der Zeit verlieren werde. Und nie hätte ich gedacht, daß ich zu jemandem so viel Vertrauen fassen könnte, um ihm einzubekennen, wie sehr sonderbar es mir oftmals geht. (GW, VII, S. 364) Schon werden wir wieder mit dem Motiv des Geheimnisses konfrontiert, das Härle im Zusammenhang mit dem Doppelgesicht der Sexualität betrachtet. Das Geheimnis der Epilep292 Härle: Simulationen der Wahrheit, S. 83. 153 sie nicht mit der Thematik der verdrängten homoerotischen Neigungen Thomas Manns in Beziehung zu setzen, würde bedeuten, unter großen Anstrengungen komplizierte Theorien zu entwickeln und damit die mögliche Wahrheit zu umschiffen, um ja nicht den Kern der Sache zu treffen. Zu eindeutig sind Notizen wie: „Kein Fieber. Besser, ich hätte welches.“ (Tb, 26. 12. 1951), die aus dem Munde von Felix oder Hans Castorp zu kommen scheinen. Sie möchten, daß sich ihr inneres Leiden veräußerlicht, der „Leib-Geist-Dualismus“293 wieder aufgehoben wird, und damit der Wahrheit auf die Sprünge geholfen werden soll, was paradoxerweise durch eine scheinbare Lüge geschieht. Thomas Mann selbst spricht in einem Brief an seinen Freund Otto Grautoff von den „diskreten Formen und Masken“, die er mit der Novelle Der kleine Herr Friedemann gefunden habe, und die es ihm ermöglichen, mit „seinen Erlebnissen unter die Leute zu gehen“, während er das Tagebuch benötigte „um, nur fürs Kämmerlein, mich zu erleichtern“.294 Maske und Simulation sind zwei analoge Spielarten der Vortäuschung, aber sie sind nicht nur als Formen des Versteckens zu verstehen: sie sind auch Formen der Offenbarung, indem sie auch eine andere Wahrheit simulieren als die augenfällige – und ob diese andere Wahrheit eine Täuschung ist oder eine tiefere Wahrheit, das zu entscheiden sind wir häufig nicht imstande. Besonders im Zusammenhang mit Thomas Mann erscheint es als kontraproduktiv, eine Entscheidung zwischen Wahrheit und Trug, zwischen Spiel und Echtheit treffen zu wollen. Oft genug dienen gerade die Masken, die er seinen Gestalten aufsetzt, deren Entlarvung.295 Die Untersuchung der Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull unter dem Aspekt der Simulation hat die Ununterscheidbarkeit und das Spiel zwischen Wahrheit und Lüge sowie Realität und Fiktion gezeigt. Das Subjekt geht in diesem Spiel unter, wird brüchig und zerfällt schließlich ganz. Felix, der sich selbst nicht als einheitliches Ich begreift: „[...] das Ich-selber-Sein, war nicht bestimmbar, weil tatsächlich nicht vorhanden“ (GW, VII, S. 498), treibt mit seinen wechselnden Identitäten die Leser in vollkommene Verwirrung. Das Spiel der fließenden Grenzen von Täuschung und Wahrheit setzt sich im Tagebuch fort. Am 29. Dezember 1951 heißt es: 10 Uhr zu Dr. Wolf zur Untersuchung. Natürlich liegt organisch nichts vor. Für Mittwoch Erprobung des Verdauungstrakts angesetzt – notorisch lästig und bestimmt überflüssig, da alles nervös und psychisch. Früher stimmte die Bestätigung meiner körperlichen Tüchtigkeit mich heiter, ich glaube, sie tut das nicht mehr. (Tb, 29. 12. 1951) 293 294 Ebd., S. 65. Mann: Briefe an Otto Grautoff, S. 95 u. 97. 154 Zahllose Einträge ähnlicher Art und Weise könnten an dieser Stelle aufgeführt werden. Wie in Thomas Manns Romanen und Erzählungen die Krankheiten die Hauptfiguren zu Grenzgängern stigmatisieren, so ist auch das tägliche Aufzeichnen des physischen Unwohlseins für den Tagebuchschreiber von existenzieller Bedeutung. Die Äußerungen über seinen körperlichen Zustand bilden einen festen Bestandteil fast jeden Eintrags und zeigen damit das extreme Bewußtsein ihres Urhebers über die Ambivalenz der Leib-GeistRelation, denn wir lesen in den Tagebüchern nicht nur den Wunsch, daß sich der starke Körper der schwachen Psyche anpaßt, sondern auch umgekehrt berichtet der Tagebuchschreiber von körperlichen Reaktionen auf die starke Beanspruchung und Gespanntheit des Geistes. Nachdem Thomas Mann nach der Beendigung des Doktor Faustus eine schwere Lungenoperation überstanden hatte, schrieb der Diarist ins Tagebuch: Mit K. über die »Morde« des Buches: Reisi, Annette, Preetorius, Geffcken. Schlimm, schlimm. Das rücksichtslose Autobiographische (unverleugnet) zusammen mit dem Montagehaften macht [?]. Der tief erregende Radikalismus des Ganzen. Jene »Morde« habe ich mit der Lungenoperation bezahlt, die mit dem Werk in unzweifelhaftem Zusammenhang stand. (Tb, 18. 7. 1947) Das Interessante an dieser Notiz sind die genannten Namen der Ermordeten, die nicht den Romanfiguren gehören, sondern die realen Vorbilder der Figuren bezeichnen – ein Zeichen für die enorm enge Verbundenheit von Realem und Imaginärem in Manns fiktionalen Texten. Nach Manns eigenem Maßstab hat das Autobiographische in den Doktor Faustus sogar unverstellt Eingang gefunden, was durch den anschließend hergestellten Zusammenhang mit der Lungenoperation sofort ’authentisiert‘ wird. Härle macht die Krankheiten, unter denen die Gestalten aus Manns Werk leiden, für die Entdeckung ihrer individuellen und inneren Wahrheit verantwortlich: Es ist dies eine Wahrheit, die sie nicht leben, sondern nur antizipieren können, die Wahrheit eines Entwurfs, nicht einer Realität. Es ist eine simulierte Wahrheit, und sie verwirklicht sich ganz konsequent in der Metapher des Todes als dem Höhepunkt aller Verwandlungen und Verbergungen.296 „Simulierte Wahrheit“ meint hier eine Wahrheit, die im Geist der betreffenden Personen verankert ist, aber nicht zum Vorschein kommen kann, da ihre Angst vor der Aufdeckung ihres Geheimnisses den Mut zur Verwirklichung ihrer Wahrheit hemmt. Die Wunden des 295 Härle: Simulationen der Wahrheit, S. 73. 155 Körpers entstehen jedoch erst als Folge auf ihren inneren Zwiespalt, die heimliche Wahrheit dissimulieren zu müssen. In dem Moment, wenn die verdrängte Leidenschaft ausbricht, wenn Gustav Aschenbach Tadzio verfolgt, wenn Hans Castorp sich an seine frühe Liebe zu Pribislav Hippe erinnert oder wenn Rosalie von Tümmler für den gutaussehenden, jungen Amerikaner Ken Keaton schwärmt – dann reagiert der Körper darauf und symbolisiert in der Ausprägung von Krankheiten das Verbotene, das die Liebenden gerade in die Wirklichkeit hinüberretten wollen. Rosalie von Tümmler, eine Frau von fünfzig Jahren, verliebt sich in den vierundzwanzigjährigen Ken Keaton, der ihrem Sohn Nachhilfestunden in der englischen Sprache gibt. Die ersten Anzeichen ihrer Krankheit, die sie als Wiederherstellung des harmonischen Verhältnisses von Körper und Geist versteht, stellen sich später als Betrug der Natur heraus. Bei der Analyse der Simulation bezüglich des Geist-Körper-Dualismus wird beim Versuch des Vergleichs von überwiegend fiktionalen und in erster Linie autobiographischen Texten ein Unterschied besonders augenfällig. Im Felix Krull wird den Lesern die Lebensgeschichte eines Pikaros präsentiert – seine Entwicklung, seine pluralistisch ausgeprägte Identität und die damit verbundene Mittelstellung bezüglich des Geschlechts, der Sexualität, der Körperlichkeit sowie der Künstler-Bürger-Problematik liegen offen, d. h. Felix’ Simulationen sind deshalb nicht nur sichtbar, sondern auch erklärbar. Krull liefert für seine auftretenden Krankheiten immer sofort einen erläuternden Kommentar ab, der den Betrug vor den Lesern rechtfertigen soll. Die Sache entwickelt sich noch komplizierter, wenn man Härles Vermutung zur doppelten Simulation bzw. zum Schein des Scheins einbezieht, hinter der offensichtlichen Vortäuschung des epileptischen Anfalls verberge sich die Verstellungskunst des Erzählers, der der Leserin die Simulation durch eine ironische und spielerische Darstellungsweise glaubhaft vermitteln möchte, um von den ’eigentlichen‘ Defekten Krulls abzulenken. Hier schließt sich die Frage an, ob der Erzähler der zweiten Ebene in diesem Fall bewußt die Strategie der Verstellung anwendet, um die Leserin in den Irrgarten der Simulationen zu locken, oder er die Aufmerksamkeit auf das Moment der Selbsttäuschung lenken möchte, der auch Hans Castorp und Rosalie von Tümmler unterliegen, indem sie ihre Liebe aus dem Reich der Verstellung in die Wirklichkeit transferieren; jedoch um den Preis der Simulation in Form einer Krankheit, die sie irrtümlich als die synchrone Relation zwischen Leib und Geist diagnostizieren. Bei Felix Krull würde die Selbsttäu296 Ebd., S. 82. 156 schung darin bestehen, daß die idealisierte und scheinbar perfekte Einheit von Körper und Geist, die jedoch auf starken Verwundungen der Seele beruhen, nur durch Aufwendung einer extremen Willenskraft aufrechterhalten werden kann. Warum ist es nun so schwierig, diese doppelte Simulationsebene auch in Thomas Manns Tagebüchern nachzuweisen? Während den Lesern in seinen Romanen und Erzählungen in das ’Innenleben‘ der Figuren nur soviel Einblick gewährt wird, wie der Erzähler es für seine Geschichte für notwendig erachtet, erhalten wir von der Hauptperson im Tagebuch nur gefilterte Informationen, da ja mehr reelle Details aus dem Leben des Helden existieren, die wir kennen müßten, um seine Lebensgeschichte vollständig zu verstehen. In den Tagebüchern werden wir lediglich mit den Kommentaren des Erzählers über den Verlauf seines Lebens konfrontiert, währenddessen der Hintergrund desselben ausgeblendet bzw. überdeckt wird. Der vordergründig fiktionale Text hat keine Geheimnisse zu verbergen – welche sollten das auch sein, da sie ja fiktiv wären. Hinter diesem Text befindet sich nur ein leerer Raum. Der autobiographische Text schiebt sich als „Sichtblende“ vor die Lebensereignisse des Verfassers und simuliert damit die Authentizität, die von den Lesern durch den Abschluß des „diaristischen Paktes“ erwartet wird. Demzufolge scheint es unmöglich zu sein, für einen diaristischen Eintrag hinsichtlich des Verhältnisses von Körper und Geist beim schreibenden Ich eine Aussage zu treffen. In einem fiktionalen Text hat dies der Autor bereits für die Leser vorweggenommen – wir brauchen ihn ’nur‘ noch zu analysieren. Im Gegensatz zu seinen Romanfiguren zeigen die Tagebücher Manns, daß der Diarist die Übertragung seiner Liebesabenteuer in die Wirklichkeit nicht erprobt. Er beläßt es bei Träumen, Phantasien und Vorstellungen, die allenfalls durch einen scheuen Kuß oder einen kurzen Wortwechsel gespeist werden. Offensichtlich wird diese Abgrenzung des fiktionalen vom autobiographischen Text, wenn wir die Episode mit dem schweizerischen Kellner Franz W. quasi als Schablone auf Manns 1953 erschienene Novelle Die Betrogene legen. Im Jahr 1950 lernt Thomas Mann Franz Westermeier im Hotel Dolder in Zürich kennen und verliebt sich in ihn; der Diarist bezeichnet dieses Affäre später als seine letzte große Liebe. Er ist jedoch weit davon entfernt, Franz seine Liebe zu gestehen, da dieses Geständnis für ihn einen viel zu großen Energieaufwand bedeuten würde: Durchtränkt und überschattet alles von entbehrender Trauer um den Erreger, Schmerz, Liebe, nervöse Erwartung, stündliche Träumereien, Zerstreutheit und Leiden. [...] Wie gering dabei die Energie zur Wirklichkeit. Schließlich bestünden Möglichkeiten, dem Gefühl ziel- 157 strebig nachzugehen, Begegnungen herbeizuführen. Wenn ich mich morgens gleich anzöge und auf der Terrasse frühstückte, könnte es leicht sein, daß er Dienst für mich hätte. Außer der Scheu vor der Erschütterung und außer dem Zwang, das Geheimnis zu wahren, ist es sogar Bequemlichkeit, was mich abhält – Widerwille gegen Aktivität und Unternehmen, bei soviel Ergriffenheit! – Drei Tage noch, und ich werde den Jungen überhaupt nicht mehr sehen, sein Gesicht vergessen. Aber nicht das Abenteuer meines Herzens. Aufgenommen ist er in die Galerie, von der keine »Literaturgeschichte« melden wird, und die über Klaus H. zurückreicht zu denen im Totenreich, Paul, Willri und Armin. (Tb, 1. 7. 1950) Der Energieaufwand bezieht sich also nicht nur auf das Nervenkostüm des Liebenden, das dabei arg in Mitleidenschaft gezogen würde, sondern vor allen Dingen auch auf die „Wahrung des Geheimnisses“, das ihm diesen letzten Schritt erschwert. Das Erlebnis mit Franz Westermeier nimmt im Diarium einen so großen Raum ein wie kein anderes Ereignis. Zwei Monate lang, von Juli bis August, spielt der junge Kellner, wenn auch nicht immer direkt, eine Rolle in jeder Aufzeichnung und beeinflußt das tägliche Leben des Tagebuchschreibers. Nachts, nach kurzem Schlaf, gewaltige Ermächtigung und Auslösung. Sei es darum, Dir zu Ehren, Tor! Ein gewisser Stolz auf die Vitalität meiner Jahre, wie auf das ganze Erlebnis, spricht mit. Banale Aktivität, Aggressivität, die Erprobung, wie weit er willens wäre, gehört nicht zu meinem Leben, das Geheimnis gebietet. Es ist auch keine Gelegenheit und Möglichkeit dazu. Zurückschrecken vor einer nach ihren Glücksmöglichkeiten sehr zweifelhaften Wirklichkeit. (Tb, 10. 7. 1950) Die abweichende Schreibweise zur Darstellung des diaristischen Ichs ist in diesen Äußerungen aus den besagten zwei Monaten nicht zu übersehen. Überwiegt vorher die logbuchartige Wiedergabe des Erlebten, so verwendet das federführende Ich jetzt die Darstellungsweise des subjektiven Journals, da es sich nicht mehr nur auf die Mitteilung der Geschehnisse selbst beschränkt, sondern ausführlich seine Selbst-Reflexionen fließen läßt, indem es der Niederschrift der Fakten ihre Einflußnahme auf seinen Körper und Geist folgen läßt. Das diaristische Ich, das von den Lesern rekonstruiert werden muß, wird wiederum vom schreibenden Subjekt sowohl in der Schreibweise des Logbuchs als auch des subjektiven Journals konstruiert. Den unterschiedlichen Grad der Wertschätzung des Kennenlernens beider Personen wird in folgenden Äußerungen offensichtlich: Er hat meine Zuneigung wohl gefühlt, insgeheim auch das Zärtliche daran, und sich ihrer gefreut. Er sah, mit welcher Ehrerbietung Beidler sich in der Halle von mir verabschiedete. Die Eroberung, die er an mir gemacht, muß seinem Selbstvertrauen zuträglich sein, vielleicht zu sehr. Wahrscheinlich war ihm dergleichen noch nicht geschehen. Es ist so gut wie gewiß, daß ich ihn nie wiedersehen, auch nichts von ihm hören werde. Leb wohl in Ewigkeit, Du Reizender, später, schmerzlich aufwühlender Liebestraum! (Tb, 14. 7. 1950) 158 Der „Erreger“ äußert sich nach der Veröffentlichung der Tagebücher folgendermaßen: Ich kann mich noch sehr gut an Thomas Mann erinnern, aber daß er in mich verliebt war und mich zum Vorbild für seinen Romanhelden Felix Krull nahm, davon habe ich erst durch ihren Bericht erfahren. Als wir uns im Züricher Hotel Dolder 1950 kennenlernten war ich gerade 19 [Thomas Mann schätzte ihn damals auf 25 Jahre (Anm. U. B.)] und hatte noch nie etwas von ihm gelesen. Wenn ich an Thomas Manns Tisch servierte, war er immer sehr freundlich und steckte mir heimlich Trinkgeld zu, damit ich es nicht abliefern mußte. Nie ist er mir in irgendeiner Art und Weise zu nahe getreten [...]297 Auch Klaus Heuser hat sich später ähnlich über sein Verhältnis zu Thomas Mann geäußert und bestätigte seinerseits, nie Annäherungsversuche von ihm erlebt zu haben, während der Liebende im Tagebuch davon spricht, Klaus Heuser habe einen Kuß von ihm erwartet: „Er erwartete, daß ich ihn küßte, ich tat es aber nicht, sondern sagte ihm nur vorm Abschied etwas Liebes“ (Tb, 21. 9. 1935).298 Die Liebesphantasien des Tagebuchschreibers waren also weit von der Wirklichkeit entfernt; er projiziert seine Reizempfindlichkeit auch auf die Auslöser seiner Verwirrung. Das, was Thomas Mann als Annäherungsversuche deutet, sind für Franz Westermeier und Klaus Heuser nur höfliche und aufmerksame Gesten. Rosalie von Tümmler unterliegt in ihrem Liebeswahn ebenfalls einer Selbsttäuschung. Die ersten Anzeichen des sich bildenden Gebärmutterkrebses verkennt sie als Erneuerung ihrer jugendlichen Weiblichkeit und läßt die unheilvolle Krankheit gewähren. Im Unterschied zu den Erlebnissen in Manns Tagebüchern erkennt jedoch der heißbegehrte Ken Keaton Rosalies Verhalten als Annäherungsversuche und erwidert ihr Werben. Während eines sonntäglichen Schloßbesuches kommen sich die beiden näher, und der Erzähler erweckt den Anschein, als wenn sich alles zum Guten wendet und Rosalies Freude berechtigt war. Plötzlich aber bricht die Krankheit aus und befindet sich in einem so fortgeschrittenen Stadium, daß Frau von Tümmler wenig später an ihrer Selbsttäuschung zugrunde geht. Erst der Tod kann den „Leib-Geist-Dualismus“ wieder aufheben. Die Selbsttäuschung, der das Ich in Manns täglichen Aufzeichnungen ausgeliefert ist, setzt sich auch in den Erzählungen und Romanen fort, wobei die Täuschung im fiktionalen Raum sich nicht in bloßen Gedankenspielen erschöpft, sondern die Ausprägung der Krankheit, d. h. die durch den festen Willen herbeigeführte Analogie von Körper und Seele, die Übertragung des Willens der Vorstellung in die Welt der Wirklichkeit provoziert, 297 Wysling; Schmidlin: Thomas Mann. Ein Leben in Bildern, S. 462. 159 wodurch das Unglück nicht mehr aufzuhalten ist. Thomas Mann, der als Tagebuchschreiber des öfteren die Widerstandskraft seines Körpers bedauert: „Gefühl der Auflösung, der Ratlosigkeit, des Abstiegs und Ruins erschüttert mehr und mehr meinen Nervenzustand, – nicht des Todes, leider, da meine Physis aushält.“ (Tb, 17. 5. 1952) und sich im höheren Alter durchaus Signale seines Körpers wünscht, läßt diesen Traum in seinen Erzählungen in Erfüllung gehen. Als Erzähler besitzt er dabei jedoch das allgemein umfassende Wissen über die auftretenden Figuren, so daß die Selbsttäuschungen selbst konstruiert sind und somit die Verwicklungen der verschiedenen Simulationen für die Leserin sichtbar werden. Als ’Erzähler‘ des Tagebuchs verfügt er dagegen nicht über dieses umfangreiche Wissen und demzufolge bleiben die Simulationen nicht nur für ihn selbst, sondern auch für den außenstehenden Betrachter im ungewissen. Wenn der Diarist selbst nicht weiß, daß er sich täuscht, kann die Täuschung zumindest durch die textimmanente Rezeption nicht herausgefiltert werden. Während Plessner den simulatorischen Akt als jedem Menschen inhärente lebensnotwendige Strategie betrachtet, beschreibt ihn Härle als einen Zwang, der es dem Menschen verbietet, seine Geheimnisse der Realität zugänglich zu machen und somit nur eine sekundäre Dimension der Simulation, als Selbsttäuschung bzw. Krankheit getarnt, ihn aus dieser unerträglichen und belastenden Situation befreien kann. Laut Plessners Theorem von der Notwendigkeit der Künstlichkeit des Menschen299 durch Maskierung und Objektivierung, würde sich erst in der Differenz zwischen fiktionalem und autobiographischem Text die Zweiteilung des Menschen in Privatperson und öffentliche Person, die vom Zwang des künstlichen Verhaltens außerhalb der Privatsphäre bzw. der Maskierung und Irrealisierung der Individualität verursacht wird, zeigen. Überträgt man Plessners These auf den Autor Thomas Mann, könnte das bedeuten, daß er mit einer „Rüstung“ ausgestattet den „Kampfplatz“ des Tagebuchs betritt und sich damit sowohl nach innen als auch nach außen vor Angriffen schützt.300 In diesem Fall bedeutete das, daß sich Thomas Mann als Tagebuchschreiber in einer sozialen Rolle zeigt und als eine Person der öffentlichen Gesellschaft konstruiert. 298 Vgl. Interview mit Klaus Heuser. In: Böhm: Zwischen Selbstzucht und Verlangen, S. 376-381. Heuser: „Ich war sicherlich, auf die argloseste Weise, freundlich und lieb zu ihm, aber mehr nicht. Das war die ganze ’Gewährung‘. [...] Nein, das habe ich nicht. Ich habe keinen Kuß erwartet, gewiß nicht.“ (S. 380-381) 299 Plessner: Die Sphäre des Menschen: „Als exzentrisch organisiertes Wesen muß er sich zu dem, was er schon ist, erst machen.“ (S. 383) 300 Vgl. Plessner: Grenzen der Gemeinschaft, S. 82. 160 Thomas Mann könnte demnach als fiktiver Erzähler seine „Rüstung“ ablegen, um seiner Subjektivität Ausdruck zu verleihen, indem er maskierende Erzählstrategien anwendet, die keine Rückschlüsse auf seine Person zulassen. Bedeutet das nun aber, daß er sich im Tagebuch nur als Repräsentant der Gesellschaft und als Dichter darstellt, weil er sich auf einer Bühne befindet und das sich darauf abspielende Schauspiel nach zwanzig Jahren von jedem bewundert werden kann? 7. Simulation und Dissimulation als Provokation eines „authentischen Personalstils“ Was wäre, wenn die vordergründig lakonische Redeweise des Tagebuchtextes, die scheinbar sämtlicher literarischer Merkmale entbehrt, mit der ironischen Erzählweise der Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull korrespondierte? Das würde bedeuten, daß der Tagebuchschreiber sowie der Günstling der Gesellschaft, Felix Krull, den Status der Souveränität einnehmen und der Welt suggerieren, daß sie sich mit ihr im Einklang befinden. Das Paradoxon liegt jedoch darin, daß beide Figuren das Mittel der Simulation benötigen, um diese Selbstsicherheit erfolgreich demonstrieren zu können. Während aber Felix Krull sich mit der Welt arrangieren kann, indem er die jeweils passende Rolle einnimmt, gelingt dem Diaristen diese Verbundenheit durch die Bändigung seines pluralen Ichs in Form des Tagebuchs. Können wir im Sprachgestus der diaristischen Eintragungen selten Ironie wahrnehmen, so erhalten sie doch durch ihre gleichbleibende Struktur eine souveräne Wirkung, die den Eindruck eines einheitlichen Ichs fördert. Die ironisch gefärbten Reden von Felix gegenüber dem Oberstabsarzt, Miss Twentyman oder Zouzou werden von diesen Personen nicht als solche erkannt, da die Ironiesignale nur von der Leserin im Zusammenspiel mit Felix’ Verhalten offensichtlich werden. Für den Tagebuchschreiber jedoch sind die Leser die unmittelbaren Kommunikationspartner, für die es kein klärendes Zwischenglied gibt, das die Rollenpluralität aufdecken könnte. Auf den ersten Blick scheint diese Fragestellung sehr gewagt zu sein. Das Gelingen dieses Experimentes wird jedoch aussichtsreicher, wenn wir uns genauer mit den stilistischen Besonderheiten der Tagebücher Thomas Manns beschäftigen und als Vergleich die diaristischen Schriften seines Sohnes Klaus mitheranziehen. Die Gegenüberstellung der Tagebücher von Vater und Sohn hat nicht zum Ziel, die Ursachen für die Unterschiede zwi- 161 schen beiden Diarien auf der Grundlage der Vater-Sohn-Beziehung bzw. der Differenzen ihrer Persönlichkeiten zu erforschen. Ich möchte die Aufmerksamkeit auf die Schreibweisen lenken, die einen unterschiedlichen Grad von ’authentischer‘ Wirkung erzeugen. Klaus Manns Tagebücher ähneln denen seines Vaters in bezug auf die ’Sachlichkeit‘ seiner Darstellungsweise, d. h. sie beschränken sich ebenfalls auf stichpunktartige Mitteilungen über die Ereignisse des Tages, ohne sich dabei in langen Selbstreflexionen zu ergießen. Es gibt jedoch wesentliche Unterschiede zwischen diesen beiden Tagebüchern, die teilweise auch in der grundsätzlich verschiedenen Lebensweise von Vater und Sohn begründet liegen. Die Notizen von Klaus Mann ziehen vor den Augen der Leserin wie eine rauschhafte Ereigniswelle vorbei. Viele wechselnde Namen, Orte, Lokale tauchen auf und sind im nächsten Moment schon wieder verschwunden, da sie von neuen Personen, neuen Städten und neuen Theateraufführungen abgelöst werden: Erwiderung auf den Völkischen Beobachter geschrieben; bin gespannt, ob es hier jemand bringt. Zum Tee: Schlüter und hübscher Lyriker Meister, der mir recht gefällt. »Fach«-Gespräch. Doris abgeholt, die heute schon nach Dessau flog: mit ihr in der Volksbühne »Grossherzogin von Gerolstein«, mit sehr süßer Dorsch (Hubsi, Valentin nett, Turnertanz mit Willi.) – Nach der Vorstellung: oben in Demby-Garderobe Kaffee getrunken; Demby, die Eckstein, Tänzer Orsulin. – Doris, die müde, abgesetzt. Mit W und Orsulin aus. Erst »Groschentheater«, Trude Hesterberg, Lotte Lenya, zu viel literarisches Pack; dann »Cercle Privé«, trauliche – schwuhle – talmi-mondäne Transvestiten-Atmosphäre. – Willi übernachtet hier. L`amour. (Tb, KM, 17. 1. 1932) Das rastlose Dasein von Klaus Mann hat so gar nichts gemein mit dem strengen Tagesablauf seines Vaters, auch wenn dieser entgegen den gängigen Klischees in den seltensten Fällen wirklich durchgehalten wurde. Die Tagebuchaufzeichnungen zeigen, daß sich Thomas Mann diesem täglichen arbeitsreichen Pflichtprogramm unterwarf, um ein festes Gerüst zu haben, das ihn als Person stützt. Meistens wurde er jedoch von diversen körperlichen oder seelischen Leiden beherrscht, die es ihm unmöglich machten, seinen Tagesablauf regelgerecht einzuhalten. Trotzdem weisen alle uns vorliegenden Einträge denselben Grundtenor sowie dieselbe Struktur auf, unabhängig von politischen Krisenzeiten oder familiären Tragödien. Im Gegensatz dazu zeigen Klaus Manns Tagebücher seine persönliche Entwicklung, da seine Einträge spontan ’dahingeworfen‘ sind. Er hat sich nicht die Zeit genommen, seine Gedanken zu filtrieren. Diese Schreibweise verursacht bei der Leserin ein gewisses Maß an ’authentischer‘ Wirkung. Die Form der Notizen paßt sich seiner Lebensweise an. Ab dem Jahr 1940, als Klaus Mann an der Zeitschrift Decision arbeitete, 162 wird der vertraute Rahmen der Tagebuchführung aufgebrochen; die Aufzeichnungen erfolgen jetzt nur noch sporadisch. Nach der Einberufung in die Armee im Jahr 1943 reduzieren sich die Einträge teilweise auf wenige Zeilen pro Tag. Das Jahr 1949 beginnt der Diarist schließlich mit den Worten: „Ich werde diese Notizen nicht weiterführen. Ich wünsche nicht, dieses Jahr zu überleben.“ (Tb, KM, 1. 1. 1949). Von diesem Zeitpunkt an bis zu seinem Tod am 21. Mai 1949 teilen sich die Tagebucheinträge in zwei Spalten. Die linke Spalte ist für das Datum, den Ort und eine kurze Tageszusammenfassung, bestehend aus wenigen Worten, vorgesehen. In der rechten Spalte werden die schriftlichen Arbeiten des Tages eingetragen. Im Fall der Tagebücher von Klaus Mann zeigt sich das diaristische Ich als ein sich ständig veränderndes Subjekt, deren Entwicklung wir als Leser mitverfolgen können – allerdings entgegen der Auffassung des Tagebuchschreibers selbst: Fällt mir auf, wie unheimlich oberflächlich solche Notizen für jeden Zweiten erscheinen müssen – wenn er sie jemals in die Hand bekäme – , da sie immer nur die nackten Tatsachen, überhaupt keine Entwicklung geben. (Tb, KM, 27. 1. 1933) Uns fehlen zwar die Hintergrundinformationen der „nackten Tatsachen“, so daß die Personen hinter den Namen im Verborgenen bleiben, und auch alle weiteren Plätze und Geschehnisse bleiben leer, da sie in keinen Handlungzusammenhang eingebunden sind. Aber erfahren wir denn vom schreibenden Subjekt mehr als von den anderen Figuren, die im Tagebuch auftreten? Das ’Mehr‘ erschöpft sich in der subjektiven Konstruktion der im Tagebuch dargestellten Wirklichkeitselemente, d. h. die persönliche Färbung, die als Lasur auf den Gegenständen aus der Wirklichkeit haften bleibt. Anders ausgedrückt könnte man auch sagen, daß für Klaus Manns Tagebücher der Schreibakt einen wesentlichen Teil zum „Effekt der Aufrichtigkeit“ beiträgt. In ähnlicher Weise äußert sich auch Wilfried F. Schoeller im Nachwort zum letzten Band der Tagebuchedition: Diese Journale kommen der Vorstellung vom Schreiben als einem unwillkürlichen, kreatürlichen Akt am nächsten: sie enthalten auf das Genaueste seine Schreibart als Lebensweise. [...] Aber die besondere Signatur dieser skizzenhaften Texte ist die rückstandslose Verwandlung von Leben in Schreiben. Klaus Mann schreibt das Leben tageweise in eine Sammlung von Augenblicken, räumlichen Strecken, menschlichen Beziehungen um, er bannt den flüchtigen Rohstoff in Buchstaben. Diese Diarien bilden eine Herausforderung für die in der Literaturwissenschaft so sorgsam konservierte Auffassung, nur das Werk in seiner überzeitlichen Dauer zähle und sei die Inkarnation des Autors. Bei Klaus Mann jedoch liegen keine Bücher vor, die diesem Anspruch vollständig genügen könnten. Aber die Lebendigkeit, die dieses Werk noch heute ausstrahlt, ist nicht zu übersehen. (Tb, KM, VI, S. 230) 163 Der Moment des Schreibaktes gibt demzufolge den Barometerstand der gerade aktuellen Lebenslage des schreibenden Subjekts an. Auf dem Hintergrund dieser Beobachtungen von Klaus Manns Tagebüchern lassen sich jetzt die stilistischen Auffälligkeiten der diaristischen Schriften Thomas Manns detaillierter betrachten. Warum wirken seine täglichen Notizen im Vergleich mit den Eintragungen seines Sohnes so seltsam ’langweilig‘, eintönig und vorhersehbar? Die wenigen Brüche in der Schreibweise seiner Tagebücher können kaum über den Mangel an Merkmalen hinwegtäuschen, die den ’Effekt der Authentizität‘ erzeugen. Die Sprache verändert sich über die Jahre hinweg nicht. Wenn sich das diaristische Ich im Schreibakt jedoch ständig neu konstruiert, dann müßten im Laufe der Zeit Veränderungen der Schreibweise sichtbar werden. Die Wahrnehmung der ’Authentizität‘ in den Tagebüchern Thomas Manns ist deshalb scheinbar nicht mit dem Schreibakt verknüpft, so wie es bei seinem Sohn Klaus der Fall ist. Sie muß demnach an anderer Stelle gesucht werden. Einen Weg dazu öffnet der Blick auf die schon weiter oben im Zusammenhang mit dem Felix Krull betrachteten rhetorischen Figur der Ironie, deren Ursprung in Felix’ Hochstaplertum zu suchen ist. Vordergründig senden die Tagebuchtexte keine (selbst-)ironischen Signale aus, während Manns Romane und Erzählungen durchgehend von einem ironischen und humoristischen Duktus durchzogen werden. In den sogenannten fiktionalen Texten wird die Ironie, und damit auch ihr simulatorischer bzw. dissimulatorischer Charakter, durch das Wechselspiel in der Handlung offenbar. In den Tagebüchern gibt es jedoch keine Projektionsfläche für die Ironie. Worin soll sie sich spiegeln, wie können wir sie entdecken, wenn ein gleichbleibender Redestatus vorherrscht? In Klaus Manns Diarien finden wir ein harmonisches Miteinander der einzelnen Rollen. Er schreibt als Verliebter, als Schriftsteller, als politischer Mensch, als Reisender, als Drogenabhängiger usw. Auch wenn er dem sachlichen Stil des Tagebuchschreibens verhaftet bleibt, paßt sich die intersubjektive Sprachstruktur, der Wortschatz sowie der Tenor der Sprache der jeweiligen Thematik an. Logbuchartig berichtet das schreibende Subjekt über den Fortgang seiner schriftstellerischen Arbeit, seine täglichen Bekanntschaften, Veranstaltungsbesuche, Drogenkonsum sowie seine sexuellen Eroberungen – eine völlig konträre Leitmotivik im Vergleich zu den Aufzeichnungen seines Vaters. Unterbrochen wird dieses grobe Raster immer wieder von längeren essayistischen Passagen über Politik, das Mysterium des Lebens, Tod, Wollust usw. Zusätzlich erfahren wir häufig sehr intime Details, die 164 den jeweiligen Gemütszustand des Diaristen erkennen lassen. Klaus Mann gebraucht eine freie, unbelastete Sprache, die mit dem Vermittelten zusammenfällt. Es scheint demnach so, als wenn das Vermittelnde, der Schreibakt, und das Vermittelte fast fließend ineinander übergehen, während bei Thomas Manns Aufzeichnungen scheinbar eine größere Lücke zwischen Darstellendem und Dargestelltem klafft, die Grenze demnach eindeutig zu erkennen ist und somit der Effekt des ’Authentischen‘ in den Hintergrund gerät. Unwillkürlich stellt sich die Frage, ob der Eindruck der Distanz bei Thomas Mann sowie die Distanzlosigkeit bei Klaus Mann wirklich in der Relation zum Schreibakt verborgen liegt oder ob diese Differenz zwischen beiden Diarien einfach im unterschiedlichen Erleben der täglichen Geschehnisse durch die Figuren zu sehen ist. Einen kleinen Anhaltspunkt geben uns folgende Sätze aus Klaus Manns Diarium: Mit wie viel Kleinigkeiten, Nichtigkeiten, Sinnlosigkeiten habe ich dies dumme Heft wieder gefüllt. Ist ihre Summe ein Leben? Alles Wesentliche bleibt hier unausgesprochen. Die Schönheit und die ganze Traurigkeit bleibt unausgesprochen. Ich errate sie später wieder. Die Fakten sind Stichworte für die Erinnerung, kleine Hilfe für das Gedächtnis. Sonst nichts. Fortsetzung folgt – bis auf weiteres. (Tb, KM, 9. 4. 1936) Der Diarist betont hier nicht nur den Konstruktionscharakter der Notate, der durch den vorangehenden Filterungsprozeß unvermeidlich wird, sondern gibt als Gründe für diese Aufzeichnungen die Funktionen der Erinnerung und Gedächtnisstütze an. Demgegenüber lesen wir in Thomas Manns Diarium über die Funktion seines Tagebuchschreibens: Ich liebe es, den fliegenden Tag nach seinem sinnlichen und andeutungsweise auch nach seinem geistigen Leben und Inhalt fest zu halten, weniger zur Erinnerung und zum Wiederlesen als im Sinn der Rechenschaft, Rekapitulation, Bewußthaltung und bindender Überwachung... (Tb, 11. 2. 1934) An dieser kurzen Bemerkung läßt sich ablesen, welche Prioritäten der Tagebuchschreiber für die Verfassung seiner täglichen Notizen angibt. Am wichtigsten ist es für ihn, das sinnliche Leben des Tages zu rekapitulieren; die Andeutungen des geistigen Lebens beschränken sich meistens auf die Kapitelangabe des jeweiligen Werks, an dem er gerade arbeitet. Nach seinen Worten dient ihm das Tagebuch demnach nicht als Gedächtnisspeicher, sondern als Selbstvergewisserung und Selbstüberprüfung. Diese beiden unscheinbaren Beschreibungen des täglichen Buchführens von Vater und Sohn offenbaren die wesentliche Differenz dieser beiden Notate und geben demzufolge auch den Hauptgrund für ihre unter- 165 schiedliche Wirkung an. Ein Tagebuch erhält einen beschreibenden Charakter, wenn das schreibende Subjekt alles das niederschreibt, was es am jeweiligen Tag erlebt, geleistet, empfunden hat, worüber es sich Gedanken oder Sorgen gemacht hat. Wenn der Diarist jedoch sein Tagebuch vorwiegend aus disziplinarischen Gründen der Selbstüberwachung führt, trifft er dementsprechend seine Auswahl hinsichtlich des zu Notierenden im Hinblick darauf, wie er den Tag unabhängig von seiner schriftstellerischen Arbeit verbracht hat, aber nicht im Sinne einer Berichterstattung von Ereignissen, sondern immer unter der Bestätigung des souveränen Status des eigenen Ichs. Die Tatsache jedoch, daß Thomas Mann einige seiner früheren Tagebücher durchaus noch einmal gelesen hat, z. B. für das Schreiben des Romans zum Roman Die Entstehung des Doktor Faustus, muß als ein Achtungszeichen dafür gelten, daß keine Äußerung in diesen Tagebüchern wortwörtlich zu nehmen ist. Bei der Lektüre von Thomas Manns Notizen erschließt sich der Leserin kein lebendiges Bild des diaristischen Ichs in Verbindung mit dem zeitgeschichtlichen Horizont. Das liegt daran, daß sämtliche Ereignisse im Hinblick auf ihre Wirkung auf das schreibende Ich betrachtet und notiert werden. Klaus Manns Aufzeichnungen beschäftigen sich selbstverständlich auch mit subjektiven Reaktionen des Tagebuchschreibers auf bestimmte Entwicklungen, ohne jedoch seine Person zu einem zentralen Punkt zu erheben, um welchen alle weiteren Geschehnisse kreisen. Vielmehr haben wir es hier mit einem Ich zu tun, das als Erzähler im Hintergrund bleibt und nur in einigen Situationen (Drogenkonsum, sexuelle Abenteuer, Auseinandersetzungen mit anderen Schriftstellerkollegen) als Hauptdarsteller agiert. Dagegen erfolgen sämtliche Einträge in den Tagebüchern Thomas Manns als Ergebnis der Beobachtung der Reaktionen des schreibenden Ichs auf die Einwirkungen der lebensweltlichen Ereignisse. Als Leser sehen wir uns mit einem diaristischen Ich konfrontiert, das sich ständig im Spiegel beobachtet. Deshalb entsteht der Eindruck, als wenn das schreibende Ich einen Doppelungscharakter trägt, d. h. als wenn sich zwischen das schreibende Ich und das diaristische Ich noch ein verdeckter Erzähler schiebt, der die Konstruktionsaufgabe übernimmt. Schauen wir uns folgenden Eintrag unter diesem Gesichtspunkt etwas genauer an: Was nicht hindert, daß sich unter dem toten Kram manches Schatzartige befindet. – Von mir weichen möge der Ekel, das Grauen vor allem, das ich, als Resultat nervöser Erschöpfung, in letzter Zeit empfand. – Was die Liebesabenteuer betrifft, so gilt es einzugestehen, daß man um ihretwillen auszieht. Die vorige Reise, wenn ich nicht irre, war enttäuschend frei davon. 166 Aber zweifellos ist mein Enthusiasmus für das Jung-Männliche in letzter Zeit, vielleicht aus Torschluß-Gefühl, stürmisch gewachsen, mein Auge ungeheuer wach und schmerzlichbegierig für alle dergleichen Schönheit, die Nicht-Empfänglichkeit dafür mir bis zur Verachtung unbegreiflich. Daß die Bewunderungswürdigkeit des »göttlichen Jünglings« alles Weibliche weit übertrifft und eine Sehnsucht erregt, vergleichlich mit nichts in der Welt, ist mir Axiom. Andeutungen des Ideals genügen dem Entzücken. Franzl war kein göttlicher Jüngling, sondern nur lieb. (Tb, 28. 8. 1950) Selbst solche scheinbar vollkommen subjektiven Bemerkungen des Tagebuchschreibers über seinen Erschöpfungszustand, seine „Liebesabenteuer“ auf Reisen und seine Neigungen zum „Jung-Männlichen“ zeigen nur das Resultat von Selbst-Reflexionen, die diesen Eintragungen vorausgegangen sein müssen. Im Tagebuch ist schon alles fest statuiert: Sein „Grauen und Ekel vor allem“ ist nur das Ergebnis seiner allgemeinen nervlichen Schwäche; eine Reise macht man sowieso nur, in der Hoffnung auf ein kleines Abenteuer; seine Leidenschaft für die Jünglinge ist selbstverständlich in seinem Alter wegen Torschluß-Panik gestiegen. Diese etwas lapidare Aufzählung meinerseits zeigt vor allen Dingen eines: Im Moment des Schreibaktes ist für das diaristische Ich schon alles gesagt. Eine ständige Selbstbefragung, Stimmungswandlungen, Veränderungen von Einstellungen zu unterschiedlichsten Themen wie bei seinem Sohn finden selten statt. Stattdessen spricht hier ein Souverän, der sein Leben bekenntnishaft niederschreibt, mit einer Distanz zum Ich im Tagebuch, die es ihm erlaubt, sein Leben als Außenstehender zu betrachten. Diese Haltung bedeutet jedoch keine Abkehr vom Subjekt, sondern der Blick ist vollständig auf das Subjekt fixiert. Von Ironie als Folge einer möglichen Simulation ist in diesem Eintrag allerdings nichts zu spüren. Miss Eleanore Twentyman und der Oberstabsarzt empfinden die Reden von Felix Krull jedoch auch nicht ironisch oder humoristisch. Wenn der Tagebuchschreiber nun aber ebenfalls nur eine Rolle spielt, und in diesem Spiel der Leser der unmittelbare Adressat ist, wäre dann die Simulation überhaupt sichtbar? Nach 8 Uhr auf. Klares Sommerwetter. Maria zum Packen. Golo spricht vor. – Die gestrige Begegnung wirkt stark im Gemüte nach. Das Wesen der Liebe seltsamste Aufhebung der Abneigung gegen das Mitgeschöpf durch Sympathie: Kein Widerwille mehr gegen zu nahe Berührung, gegen die fremde Leiblichkeit, etwa mit ihm im Bett zu liegen. Dies primär, aber sogleich zum Verlangen werdend. Nicht notwendig zum starken Verlangen und Begehren, zur Leidenschaft. Es kann sich im Negativen, in der Suspendierung des fleischlichen Ich-Du-Verhältnis halten, Zärtlichkeit bleiben, kurz, was man »Herz« nennt. – Unsicher, ob das richtig ist. Das Glück der realen Vereinigung und Umarmung sehr zweifelhaft. [...] (Tb, 16. 8. 1950) 167 Die Sätze sind aus der gleichen Erzählperspektive wie der Wetterbericht geschrieben worden. Der Erzähler berichtet hier mit demselben selbstanalytischen Gestus wie Felix Krull, wenn er über seinen Liebesgenuß spricht. Die Tagebucheintragung aus der Zeit der Begegnung mit dem Kellner Franz Westermeier korrespondiert mit dem folgenden Auszug aus dem Felix Krull, als der Hochstapler im Anschluß an die Schilderung „der großen Freude“, die er mit seiner Amme Genofeva erlebt hat, ein Plädoyer für die ’feinere Art‘ der Liebe hält: Ich für meinen Teil kenne viel feinere, köstlichere, verflüchtigtere Arten der Genugtuung als die derbe Handlung, die zuletzt doch nur eine beschränkte und trügerische Abspeisung des Verlangens bedeutet, und ich meine, daß derjenige sich wenig auf das Glück versteht, dessen Trachten nur geradewegs auf dies Ziel gerichtet ist. Das meine ging stets ins Große, Ganze und Weite, es fand feine, würzige Sättigung, wo andere sie nicht suchen würden, es war von jeher wenig spezialisiert oder genau bestimmt, und dies ist eine der Ursachen, weshalb ich trotz inbrünstiger Veranlagung so lange unwissend und unschuldig, ja eigentlich zeit meines Lebens ein Kind und Träumer verblieb. (GW, VII, S. 315) Unabhängig davon, daß diese Aussage auffällige Ähnlichkeiten zu Thomas Manns Tagebuchaussagen aufweist, erhalten diese Sätze nur im Hinblick auf den Habitus und die Lebenswelt des Hochstaplers eine ironische Färbung. Da wir nicht wissen, ob der Gestus des Tagebuchschreibers ebenfalls hochstaplerische Züge trägt, sind wir als Leser auch nicht in der Lage, über die Ironie zu entscheiden. Daran würde sich die logische Frage anschließen, warum uns dann beim Lesen der Diarien von Klaus Mann nicht sofort der Verdacht der Simulation befällt, obwohl die Leser als unmittelbare Kommunikationspartner fungieren. Klaus Mann läßt uns an seinem Leben teilhaben, der „diaristische Pakt“ zwischen Leserin und Tagebuchschreiber geht auf, der Text wird dem Authentizitätsanspruch in den Augen der Leserin gerecht. Thomas Manns Aufzeichnungen entbehren jeglichen erzählenden Charakter, d. h. alle anderen auftretenden Figuren im Tagebuch verblassen hinter dem diaristischen Ich und erhalten keine Charakterzüge und Persönlichkeitsmerkmale. Sie spielen Statistenrollen und werden nur zur Darstellung der eigenen Befindlichkeit und des eigenen vollbrachten Tagewerkes benötigt. Es werden ihre Reaktionen auf Vorlesungen des Dichters, ihre Reisen, Krankheiten und selten auch ihre beruflichen Tätigkeiten mitgeteilt – niemals jedoch wird ihnen soviel Beachtung zuteil, daß die Leserin sie in ihrer Vorstellungskraft vor sich sieht. Klaus Manns Leben dagegen läßt sich als Erzählung oder Entwicklungsroman lesen, nicht als fiktional in sich abgeschlossene Geschichte, sondern als eine fortlaufende Handlung mit immer neu entstehenden Konflikten und plötzlichen Ereig- 168 nissen, die mit den Lesern zusammen ausgefochten werden. Die Leser werden wie in einem Roman zum Mitspielen aufgefordert; sie sind als Kommunikationspartner notwendig, um den Schreibakt aus der Vergangenheit in die Gegenwart zu holen und somit wieder zum Leben zu erwecken. Klaus Manns Figuren dürfen in seinem Tagebuch parallel zu seinem Leben ihr eigenes führen und bekommen von ihrem Erzähler dafür auch Aufmerksamkeit geschenkt. Das diaristische Ich in den Tagebüchern Thomas Manns bewältigt seine Abenteuer ohne die Leser; er kennt sofort die Ursachen seines Leidens, stellt seine eigene Diagnose und therapiert sich selbst. Sein Leben wird der Leserin als fertige Entwicklung präsentiert – aber nicht auf chronologischer Ebene; jeder Eintrag ist für sich nicht nur zeitlich abgeschlossen, sondern auch gedanklich. Unter gedanklicher Abgeschlossenheit verstehe ich hier, daß keine Aufforderung an die fiktive Leserin gestellt wird, sich an Problemlösungen zu beteiligen. Ganz anders Klaus Manns Einträge: Genommen, mit F. Ach, wie es schmeckt! Ich muss an E schreiben. Sie ist in Prag. So weit weg. – – Mielein muss ich auch schreiben. Der Gedanke an alle nahen Menschen ist bis zum Rand voll von Mitleid. – – Verlaine »Sagesse«. Die Ekstase der Demut; die Erniedrigung vorm Kruzifix als Wollust. Reue. (Tb, KM, 9. 1. 1935) Seine Gedankengänge bleiben offen, er hofft auf den nächsten Tag. Die Leserin versucht die Gedanken des schreibenden Ichs nachzuvollziehen, fühlt im Geiste mit ihm und wartet gespannt auf seine Gemütslage am nächsten Tag. Thomas Manns Einträge enden zum überwiegenden Teil mit einer sachlichen Information, die sich auf die politische Situation, Besucher oder die Bettlektüre bezieht. Klaus Mann beendet seine Aufzeichnungen dagegen fast immer mit Reflexionen über den vollendeten Tag. Nach diesen vergleichenden Beobachtungen stellt man sich unwillkürlich die Frage nach dem Grund des Tagebuchführens bei Thomas Mann. Seine Funktion der Rekapitulation und der Selbstversicherung, wie er es selbst sagt, bestätigen den geschlossenen und vorhersehbaren Charakter der Tagebücher. Man wundert sich als Leserin, daß der Tagebuchschreiber in den schwierigen Situationen der Ausbürgerung aus Deutschland, der Emigration in die Schweiz und nach Amerika oder des Selbstmordes seines Sohnes zwar manchmal von Verzweiflung, Müdigkeit, Todessehnsucht und Erschöpfung spricht, jedoch niemals den Schreibstil durchbricht und seine Verzweiflung im Tagebuch auslebt. Er ge- 169 horcht stattdessen, so scheint es, dem „Ordnungsruf des Lebendigen“,301 der ihn wieder zur Raison zwingt, d. h. der souveräne Habitus eines Felix Krull ist zwar vorhanden, kommt hier aber nicht zum Vorschein, sondern wird durch die Maske, durch den Stil als „Sichtblende“ verdeckt. Die doppelte Simulation des Felix Krull bleibt unerkannt, weil er ausschließlich als Simulant lebt und durch das Widerspiel von Simulation und Dissimulation ein lakonischer Sprachgestus und ein scheinbar „authentischer Personalstil“302 entsteht, der den anderen Figuren keinen Handlungsspielraum läßt, und sie somit der Überlegenheit des Hochstaplers erliegen, indem sie der Lächerlichkeit ausgeliefert sind. Im Fall der Tagebücher übernehmen die Leser den Part der ’Ahnungslosen‘. Die Simulation der Hauptfigur zeigt sich hier nicht auf der Handlungsebene, sondern in der Erzählstrategie des Tagebuchschreibers, der den Filterungsprozeß bestimmt und dadurch ein eventuell entstandenes Ungleichgewicht im Redestatus durch die Überwachung dieser Selektion im abwechslungsreichen Verfahren von Simulation und Dissimulation wiederherstellt. Der Unterschied zum Roman besteht hier in einer Verdoppelung der Simulation, die nicht durch bewußte Vortäuschung, die der Simulant unter Anwendung extremer Willenskraft verübt, besteht, sondern in der Maskierung durch den Schreibstil. Diese Thesen würden Plessners Theorie von der Maskenhaftigkeit des Menschen als Schutzpanzer in der öffentlichen Gesellschaft entsprechen. Durch die Einbindung fremder Zeichen in den eigenen Kontext303 und die damit einhergehende Sichtbarmachung des Stils in der Abweichung,304 nämlich die Vermeidung einer ironischen und stattdessen die Hinwendung zu einer völlig konträren Schreibweise gegenüber seinen fiktionalen Texten, verursacht Thomas Mann als Tagebuchschreiber den Effekt des ’Authentischen‘ und lenkt deshalb vom Verdacht der Simulation ab. Wenn er jedoch trotzdem droht, in eine ’offene‘ Sprache zu verfallen, wenn er z. B. über seine Liebe zu Franz Westermeier berichtet, findet er schnell wieder seine Souveränität zurück und setzt seine Maske wieder auf. Der Mangel an Selbstreflexion und kritischer Selbstanalyse in Manns Tagebüchern blockiert den ironischen Sprachhabitus und begünstigt stattdessen die nüchtern lakonische Redeweise eines Kapitäns, dessen wichtigste Aufgabe darin besteht, aufzupassen, daß sein Schiff den richtigen Kurs nicht verläßt. 301 Greiner: Die Komödie, S. 100. Oesterreich: Fundamentalrhetorik, S. 139. 303 Vgl. Groys: Unter Verdacht, S.112. 304 Vgl. Starobinski: Der Stil der Autobiographie, S. 33-36. 302 170 Die Schwierigkeit, die sich in den Weg stellt, wenn den Mannschen Tagebüchern eine Grundhaltung unterstellt wird, die auf der brüchigen Identität des schreibenden Subjekts basiert, liegt in der Tatsache begründet, daß sie nach meinen vorangegangenen Überlegungen für uns nicht transparent wird, da die Gleichzeitigkeit von Simulation und Dissimulation zu einem Gleichgewicht zwischen diesen beiden rhetorischen Figuren führt, die die lakonisch ’authentische‘ Rede in der Felix Krull-Manier provoziert. Die Problematik wird noch durch die komplizierte dreifache Erzählstrategie und den konstruierten Charakter des diaristischen Ichs erweitert, das uns die Wahrnehmung des Tagebuchschreibers als ’authentisches‘ Subjekt verwehrt. 8. Die Gleichzeitigkeit von Simulation und Authentizität Thomas Manns Tagebücher hinterlassen bei den Lesern nach der Lektüre eine Ungewißheit über ihre ’authentische‘ Wirkung. Die scheinbaren Authentizitätssignale, die die nüchternen Registrierungen aussenden, werden durch ihren unspektakulären und starren Inhalt wieder überdeckt. Das Vorherrschen des Logbuchcharakters suggeriert uns eine fast lückenlose Aufarbeitung des Alltags des Tagebuchschreibers. Die Angaben von Datum und jeweiligem Aufenthaltsort lassen die Leser gemeinsam mit dem Diaristen den beschriebenen Tag Revue passieren, wobei der wesentliche Unterschied in der Zeitdifferenz liegt. Während Thomas Mann am Abend oder am darauffolgenden Morgen den abgelaufenen Tag schriftlich nacherlebt, wird den Lesern erst zwanzig Jahre später die Gelegenheit dazu gegeben. Wir haben nun die Möglichkeit, durch akribische Quellenforschung die Zeit- und Ortsangaben sowie die geschilderten Sachverhalte zu überprüfen bzw. noch zusätzliche Aussagen anderer Personen einzubeziehen und die Authentizität der diaristischen Schriften bezüglich ihres Wahrheitsgehaltes der dargestellten Welt festzustellen. Bei Betrachtung des Anmerkungsapparates der Mannschen Tagebücher scheint aus diesem Blickwinkel ihre Authentizität verbürgt zu sein. Die Problematik entsteht, wenn wir aufgrund der Kenntnis über die ’objektive Wahrheit‘ der Tagebücher die Sätze als nicht-literarische ’Fingerabdrücke‘ verstehen und in unsere eigene Welt übersetzen. Warum schwanken ausgerechnet die Rezensenten der doch angeblich die Wirklichkeit des Verfassers so authentisch und detailgetreu widerspiegeln- 171 den Aufzeichnungen in ihren Bewertungen zwischen schonungsloser Selbstabrechnung und dem gleichzeitigen Hinweis auf seine nichtgeschriebenen Verdrängungen und das vorsichtige Widerspiel von Geheimhaltung und Offenbarung? Die Erklärung dieser zweideutigen Lesart liegt meines Erachtens in fast unmerklichen Details verborgen. Es geht an dieser Stelle nicht um die Aufdeckung einer möglichen Selbstinszenierung des Tagebuchschreibers, sondern um die Suche nach Indizien, die den Täuschungsprozeß und die Verunsicherung der Leser auslösen, unabhängig von einer bewußten oder unbewußten Simulationsabsicht des Tagebuchschreibers. Den Ausgangspunkt für meine folgenden Überlegungen bildet eine nochmalige Differenzierung des Simulationsbegriffs bezüglich seiner Anwendung auf Thomas Manns fiktionale Texte auf der einen und die Tagebuchtexte auf der anderen Seite. Aufgrund des fiktionalen Status der Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull können wir innerhalb der eigenen Realität des Textes die Simulation erkennen, da wir uns als Leser in der Rolle des Spielleiters befinden, der zwar nicht außerhalb am Spielfeldrand steht, sondern dem Spiel seine Richtung geben muß, trotzdem jeoch nicht als Mitspieler mit anderen Figuren interagiert. Deshalb ist es für uns als Leser möglich, im komplizierten Handlungsgeflecht Täuschungen aufzudecken. Der autobiographische Charakter des Tagebuchs widersetzt sich dagegen einer möglichen Offenlegung simulatorischer Vorgänge, da die eindimensionale Erzählweise auf keinen Reflektor trifft. Aus diesen Tatsachen würde es sich ergeben, auf Manns Tagebücher einen Simulationsbegriff anzuwenden, der auf der Totalität einer Baudrillardschen Vorstellung eines Simulakrums beruht. Das würde heißen, die Diarien als eine „Hyperrealität“ zu betrachten, die ähnlich wie televisionale und computerielle Darstellungen angeblich eine eigene Realität repräsentieren. Danach wären die Tagebücher Thomas Manns als ein Modell der vorausgehenden Wirklichkeit zu begreifen, das durch Reduzierung und Simplifizierung der zugrundeliegenden Daten für die außenstehende Leserin verstehbar und transparent wird. In vergleichbarer Weise, wie im Fernsehen die Realität zerrieben wird, können wir auch bei der Lektüre von Manns Tagebüchern nur kleine Teile der Realität aufnehmen und zu einem eigenen Bild der möglichen Wirklichkeit des Tagebuchschreibers zusammenfügen. Götz Großklaus beschreibt in seinem Aufsatz Das technische Bild der Wirklichkeit die Besonderheiten der televisionalen Darstellung: Die televisionale Wahrnehmung – das ist meine These – ordnet das Gesehene, gliedert das sog. Wirklichkeitsfeld vergleichbar als Raster oder Mosaik, in das in beschleunigtem 172 Reiz/Aufnahme- und Verarbeitungstempo »gestreute Punktmengen« [...] zu flüchtigen BildGestalten auf- und wiederabgebaut werden.305 Während in einer Autobiographie das Geschehene aus der rückwärtig gerichteten Perspektive erzählt wird, schreibt der Diarist seine Erlebnisse fast in der Echt-Zeit auf. „Das Erscheinen und Verschwinden von Bildern in Echt-Zeit gestattet keine Verdichtung zu Geschichten“,306 so Großklaus. Er sagt weiter: Diente die erzählte Geschichte bekanntlich oralen und literarischen Epochen der kollektiven Versicherung von geschichtlichem Sinn in Mythos oder Epos, so dient das kurzfristig erscheinende TV-Bild der kurzfristigen Versicherung gegenwärtiger Realität [...]307 Nun ist Vorsicht geboten bei der Übertragung von typischen Merkmalen des Fernsehens auf das Tagebuch von Thomas Mann, denn die Möglichkeit des Wahrnehmens von „Echtzeit-Bildern“ in Form der Live-Übertragung im Fernsehen existiert beim Tagebuch schlicht und einfach nicht. Dennoch suggeriert der Tagebuchschreiber durch die Angabe von Datum und Ort der Leserin eine nachträgliche Gleichzeitigkeit und gestattet ihr damit das Nacherleben der einzelnen Tagesgeschehnisse nicht im Gefühl der „Echtzeit“, aber als tägliche Beglaubigung der Realitätsnähe. Während der fiktionale Text als ein Simulakrum betrachtet werden kann, in der Hinsicht, daß er, wie Iser sagt, etwas Abwesendes darstellt, das durch die Verknüpfung von einer modifizierten Realität mit dem Imaginärem im fiktionalen Raum entsteht, erheben die logbuchartigen Aufzeichnungen Thomas Manns den Anspruch, eine Wirklichkeit nachzubilden, deren konkrete Grundlage kontinuierlich bestätigt wird. Der Unterschied zu den Fernsehbildern liegt darin, daß diese nicht nur auf eine Realität verweisen, sondern sie auch selbst erschaffen. Die Tagebücher konstruieren zwar auch ihre eigene Realität, aber nur bedingt durch den vorangehenden Filterungsprozeß. Die Außergewöhnlichkeit bei Thomas Manns Notaten besteht darin, daß sie in ihrer Gesamtheit von einer extrem gleichförmigen und starren Struktur geprägt sind, die den Gedanken an Notizen eines Beamten aufkommen lassen.308 Beim Versuch einer detaillierteren Analyse verweigern sich die Tagebucheinträge paradoxerweise genau diesem strengen Schema, das im Tagebuch angelegt ist. Thomas Manns Einträge basieren zwar auf einer thematischen Grundstruktur, die sich mehr oder weniger immer wiederholt, jedoch extrem 305 Großklaus: Das technische Bild der Wirklichkeit. In: Fridericana 45, S. 50. Ebd., S. 50. 307 Ebd., S. 50-51. 308 Vgl. Lukosz: Thomas Mann als Tagebuchschreiber, S. 4. 306 173 variantenreich präsentiert wird. Die stichpunktartige Wiedergabe von Dingen, die den jeweiligen Tag geprägt haben bzw. für die Kennzeichnung des Zustandes des Tagebuchschreibers wichtig waren, verstärkt sich im Laufe der Jahre. Oftmals benötigt der Diarist lediglich ein Wort, um seine psychische oder physische Verfassung oder eine Handlung zu beschreiben. Diese Reduzierung der Codes bewirkt eine zunehmende Literarisierung von Manns Tagebüchern und führt bei der Leserin zu einer Wahrnehmung, die durch viele aufeinanderfolgende Bilder, d. h. kurze Auf- und Abblendungen, gesteuert wird. Einige Beispiele aus dem letzten Band der Tagebücher sollen diese Beobachtungen verdeutlichen: Kälte, Bise, dazu Schneetreiben. Dabei hoher Barometerstand. Erkältet. Viel Post wieder. [...] (Tb, 1. 3. 1955) Wiederum heiteres Wetter nach Frostnacht. ½ 8 Uhr. Früh rasiert. – »The Listener« mit dem Tschechow-Essay. – In »Hommes et Mondes« Boucher über »Krull«. (Glanzszene Mme Houpflé). – Kleinschrift zur Sache Luther. – Allein mit dem Pudel gegangen. – Brief an Lavinia M.. – Der »Tartüff« doch wendungsreich u. interessant. »Der Geizige«. (Tb, 8. 3. 1955) Heiteres Wetter bei tiefem Barometerstand. – Der Holzwurm im Dachgebälk. Kalamität. [...] – – Der Holzwurm in unserem Dachgebälk. Große Kosten. Juristische Frage. (Tb, 9. 3. 1955) Erstaunlicherweise können diese prägnanten, kurz gefaßten Sätze die Stimmung und Atmosphäre des Tages intensiver und ’realistischer‘ schildern als es längere Passagen mit Tendenz zum subjektiven Journal vermögen. Die zweimalige Erwähnung des Problems mit dem Holzwurm am Anfang und am Ende des Eintrags charakterisiert den Gemütszustand des Tagebuchschreibers besser als ausführlichere Schilderungen der Alltagsroutine, da nämlich genau jene unerwähnt bleibt und damit als Auslassung kenntlich gemacht wird. Beim Blick in den ersten Tagebuchband aus den Jahren 1918-1921 stoßen wir jedoch ebenfalls auf solche bruchstückartigen Notizen: Sympathieschreiben aus Schweden. – Brief an Fischer über alle schwebenden Fragen. – Bei Gosch. – Schlecht geschlafen, Erschöpfungsgefühl. – Golos Geburtstag. Bescherung nach dem Essen. – Auch nachmittags nicht zur Ruhe gekommen. – Es kam das neue Briefpapier, Bogen und Karten, nobel bedruckt, erfreulich. [...] (Tb, 27. 3. 1919) Schneefall, morgens und abends leichter Frost. Der gewendete Winterpaletot, wie neu. Schrieb die übliche Seite. Beck schickte Wandrey’s »Fontane«, worin ich mehrfach citiert. Vieles steif und ledern, anderes besser. Werde es wohl rezensieren. [...] (Tb, 29. 10. 1919) Der Unterschied zwischen diesen zeitlich weit auseinanderliegenden Notizen liegt darin, daß die früheren Eintragungen in einen ausführlicheren und lebhafteren Kontext einge- 174 bettet sind, während die späten Aufzeichnungen von einem Tagebuchschreiber stammen, dessen Alltag im gehobenen Lebensalter beschwerlicher und weniger ereignisreich war. Andererseits findet sich auch im Tagebuch aus dem Jahr 1950 eine Erzählung der Episode von Manns letzter Liebe, Franz Westermeier, der er in seinen Aufzeichnungen einen Raum widmet, der alle anderen Episoden übertrifft und fast selbst schon eine kleine Novelle darstellt. Die Wahrnehmung der besonderen Eintönigkeit der späteren Einträge wird also scheinbar durch die sich verändernden Lebensumstände gelenkt. Manns Diarien sind von Stimmungsschwankungen ihres Verfassers geprägt, die jedoch nicht in den äußeren Strukturen des Diariums sichtbar werden, sondern in geringfügigen Änderungen der Schreibweise erkennbar sind. Aus diesem Grund verweigern sich diese Tagebücher einer systematischen Analyse, die es sich zur Aufgabe macht, die Entwicklung des Tagebuchschreibers anhand der sprachlichen Auffälligkeiten oder Auslassungen nachzuzeichnen. Ich erachte es daher auch für äußerst problematisch, das schreibende Subjekt im Nichtgeschriebenen zu suchen, wie es Lindner vorschlägt, da sich aus Manns Diarien kein festes Gerüst konstruieren läßt, das als gesetzte ’Norm‘ eine adäquate Vergleichsgröße für mögliche Auslassungen bilden könnte. Die Notate weisen in ihrer Gesamtheit eine gleichbleibende Logbuchstruktur auf, von der in keinem Fall abgerückt wird. Innerhalb dieses Gefüges finden sich jedoch immer wieder Brüche, die in einem kurzen Hinübergleiten in die Schreibweise des subjektiven Journals oder auch in der Abweichung innerhalb der logbuchartigen Eintragungen selbst erkennbar werden. Während Thomas Manns Arbeit am Doktor Faustus sind im Tagebuch folgende Zeilen zu lesen: „Wiedersehen mit Frido, beglückend. Schrieb am Kapitel (Dunkelszene mit Schwerdtfeger, heikel.)“ (Tb, 24. 12. 1945). Die kurze in Klammern gefaßte Anmerkung zum Kapitel schert aus dem üblichen Logbuchmuster aus, da sie sich nicht auf das Registrieren einer Information beschränkt, unabhängig davon, ob es sich dabei um die Person des Tagebuchschreibers selbst handelt oder über die üblichen Tagesereignisse berichtet wird. Im Zusammenhang mit der Arbeit am Zauberberg oder Doktor Faustus finden wir häufig solche kurzen Zusatzbemerkungen, wie z. B. „In diesen Tagen Mühe mit einer Besserung an früherer Stelle des Zbg (erotische Atmosphäre).“ (Tb, 29. 10. 1920), „Neue Aufregung zur Sache.“ (Tb, 13. 10. 1921), „Gewagtheit“ (Tb, 25. 12. 1945), „Suchend, versuchend“ (Tb, 3. 1. 1946). Diese knappen, aber aussagekräftigen Äußerungen gestatten scheinbar für einen kurzen Moment den Blick unter die Oberfläche der täglichen Buchhal- 175 tung, da sie einer eigenen Interpretation bedürfen und nur vom Tagebuchschreiber selbst zu entschlüsseln sind. Schauen wir uns unter diesem Gesichtspunkt eine weitere Eintragung an: Morgens weiterer Rundgang. Frühstück auf der Terrasse. /Etwas am Roman, zögernd./ Mittags am Meer, auf dem Steg. Beschwerende Post. /Schlechter Kopf,/ zu Schmerz, Schwindel, nervösem Versagen geneigt. [...] (Tb, 15. 12. 1945) Die Registrierung des Gesundheitszustandes gehört, wie Lindner bereits konstatierte, nicht in den Bereich des subjektiven Journals, weil sie zu den relevanten Meßdaten gehört, die die jeweilige Situation des „zentralen Systems“,309 das in diesem Fall kein Expeditionsschiff, sondern der Schriftsteller Thomas Mann ist, näher bestimmen. Die Informationen, die die körperliche Verfassung des Tagebuchschreibers betreffen, sind für die Leserin nachvollziehbar und verständlich. Die ’internen‘ Bemerkungen zur laufenden schriftstellerischen Tätigkeit scheinen dagegen nur für den Diaristen selbst bestimmt zu sein. Blickt uns hier also der ’wirkliche‘, der ’authentische‘ Thomas Mann in die Augen, oder beruht diese ’authentische‘ Wahrnehmung wiederum nur auf unserer Neigung, jede nicht völlig transparente Aussage dem Verdacht zu unterziehen, dahinter könnte eine weitere Tür verborgen sein? Die Vielfalt im Detail innerhalb des „Großen, Ganzen“ (GW, VII, S. 315) zeigt sich zum Beispiel auch bei einer eingehenden Betrachtung des täglichen Wetterberichtes in den Tagebüchern des Jahres 1953: Dunkelheit und unheimlich-unaufhörlicher Regen. (26. 6.); Wetter zeigt leichte Neigung zum Besseren. (27. 6.); Helleres Wetter. (28. 6.); Dunstig. Kühler. (29. 6.); Schönes sommerliches Wetter. (30. 6.); Kühleres, bedecktes Wetter (1. 7.); Bedeckt, kühler. (2. 7.); Andauernder Regen (3. 7.); Der Morgen verhieß heißen Tag, aber es bezog sich bald wieder regnerisch (4. 7.); Grau bedeckt. (5. 7.); Das Wetter neblig bedeckt u. immer zum Regen geneigt, aber mild. (6. 7.); Das gleiche weiche, dunstige Wetter. (7. 7.); Schöner Sommermorgen. (8. 7.); Bedeckt, Regen ankündigend. (9. 7.); Grau, sehr kühl. (10. 7.); Seit gestern viel kühler. Wolkig mit Blau dazwischen. (11. 7.); Kühl und leicht bedeckt. (12. 7.); Föhnsturm und gepeitschter Regenguß (13. 7.); Heller Himmel, Föhndeutlichkeit. Kühl. (14. 7.); Immer kühl, immer halb oder ganz regnerisch. (15. 7.); Klarer Himmel, frisches schönes Wetter. (16. 7.); Noch heiteres Wetter, windig. (17. 7.); Sehr warm, schwühl wie gestern. (18. 7.); Trübes, kühleres Föhnwetter von stumpfer Deutlichkeit des Ausblicks. (19. 7.) Es ist jedoch falsch zu glauben, daß diese verschiedenen Wetterdiagnosen lediglich typisch für die letzten Lebensjahre Thomas Manns wären. Für die frühen Tagebücher ließen sich 176 ähnliche Listen erstellen. Neben dem Datum und der Ortsangabe bildet das Wetter die dritte Instanz zur Bestätigung der ’Authentizität‘ der Aufzeichnungen. Unterbrochen wird der Wetterbericht lediglich in Krankheitsphasen des diaristischen Ichs, während Reisen oder anderer besonderer Vorkommnisse. Das stetige Zurückkehren zur Wetterbeobachtung unterstützt jedoch seine Funktion der täglichen Selbstüberwachung sowie der Realitätsabsicherung. Das Wetter dient nicht nur als Seismograph zur täglichen Lagebestimmung des schreibenden Subjekts, sondern bietet dem Diaristen auch die Möglichkeit, sich in der Rolle des Schriftstellers zu präsentieren, bevor er wieder in den Schreibstil des nüchternen Buchhalters verfällt, wenn es z. B. darum geht, über seine künstlerische Arbeit zu berichten. In diesem Moment setzt der strenge vorher festgelegte Filterungsprozeß ein, der die Niederschrift der zulässigen Daten überwacht. Es ist schwierig, weitere ständige Eckdaten in den Tagebüchern zu benennen. Das Verzeichnen der tagsüber getätigten Korrespondenzen, der Veranstaltungsbesuche, der Aufwartungen der unterschiedlichsten Gäste, der Arztkonsultationen usw. wechselt und liegt im Ermessen des Tagebuchschreibers. Deshalb ist es grundsätzlich kompliziert, in den Tagebüchern Indikatoren für mögliches bewußtes Ignorieren bestimmter Sachverhalte aufzuzeigen und damit Kriterien für die Maskierung oder Nicht-Maskierung des Diaristen zu erstellen. Da jedem Führen eines Tagebuchs ein subjektiver Auswahlprozeß vorangeht, den die Leser logischerweise nicht nachprüfen können, scheint es fast unmöglich, basierend auf der Textanalyse solche Auslassungen zu markieren und zu systematisieren. Nur die minimalen Differenzen innerhalb der Tagebucheinträge und zwischen den einzelnen Schreibweisen scheinen einen möglichen Maskierungsprozeß aufzudecken. Die täglichen Wetterbeobachtungen spielen für mich deshalb so eine bedeutende Rolle, da sie zeigen, wie bemüht der Diarist ist, sie jeden Tag für sich sprachlich neu zu fassen und damit auch das nüchterne Logbuch zur Literarisierung des Tagebuchs beiträgt. Die Tagebucheinträge kreisen immer um die gleichen Themen, verblüffen jedoch durch ihren Variantenreichtum im Detail, den die oberflächliche Lektüre verwischt. Mit einem genaueren Blick auf das komplizierte Zusammenspiel zwischen Manns erzählerischen Texten und seinen diaristischen Schriften möchte ich zu ergründen versuchen, wodurch das monotone und leidende Gesamtbild von Manns Diarium ausgelöst wird. 309 Lindner: ‘Ich‘ schreiben im falschen Leben, S. 19. 177 Der Kontrast zwischen Thomas Manns Prosa und seinen Tagebüchern bezieht sich in erster Linie auf die stilistischen Unterschiede und nicht auf die Differenz zwischen den Figuren und dem Tagebuchschreiber, wie Ulrike Prechtl-Fröhlich in ihrer Studie zur Melancholie im Werk Thomas Manns nachweist. Die Problematik des Bewußtseins über die eigene Unvollkommenheit und die grundsätzlich traurige Lebenshaltung, die aus dieser Erkenntnis erwächst, bestimmt laut Prechtl-Fröhlich Thomas Manns Figuren genauso wie ihn selbst. Eine Ausnahme bilden Joseph und Felix Krull, die aufgrund ihrer angeborenen Leichtigkeit und ihrer Neigung zum Spielerischen die auch bei ihnen latent vorhandene Problematik des Leidens unter dem Außenseitertum überspielen und ihr entgegentreten können. Die anderen Figuren müssen dagegen mit starker Willenskraft versuchen, sich im bürgerlichen Leben zu integrieren, woran die meisten Figuren mit ihrer „feinnervigen Künstlerart“310 zugrunde gehen. Prechtl-Fröhlichs Analyse der Melancholie in Manns fiktionalen Texten deckt sich mit ihrer Lesart von seinen Tagebüchern: Die Tagebücher demonstrieren schließlich auch, warum gerade der Melancholiker zu dieser Form des täglichen Schreibens eine besondere Affinität findet: In der minutiösen Aufzählung kleinster Ereignisse, Unternehmungen, Erledigungen, im detailreichen Memorieren jeglicher körperlicher wie seelischer Irritation entspricht das Tagebuch seinem dringenden Verlangen nach Kontinuität und Stabilität und wird so zum Zufluchtsort eines innerlich stets aufgewühlten Menschen. [...]311 Was dabei auch immer und jederzeit aufs neue an vor allem inneren Hemmnissen und Rückschlägen zu überwinden war, Thomas Mann blieb am Ende doch stets Herr seiner melancholischen Artung – nicht zuletzt wohl deshalb, weil er sich im Werk Figuren und Lebensentwürfe zu erfinden verstand, die sein eigenes zu befürchtendes Scheitern antizipierten.312 Diese Charakterisierung der Mannschen Tagebücher beruht auf ihrer Lektüre als ’authentische‘ Notizen. In der Tat stellen diese Diarien ein nahezu unerschöpfliches Reservoir dar, wenn es darum geht, Anhaltspunkte für Manns zweiflerische und zerrissene Natur zu finden: „Quälende, tief niedergedrückte und hoffnungslose Zustände, schwer zu ertragen, eine Art seelischer Wurzelhautentzündung, kommen, nach Aufhellungen immer wieder.“ (Tb, 25. 9. 1933); „Verzweiflung an meiner Lebensfähigkeit nach der Zerstörung der ohnedies knappen Angepaßtheitssituation.“ (Tb, 16. 3. 1933); „Den ganzen Tag herabgestimmt, melancholisch, unbehaglich.“ (Tb, 20. 3. 1921); „Es gab wohl selten ein solches Ineinander von Qual und Glanz“ (Tb, 20. 9. 1953). 310 Prechtl-Fröhlich: Die Dinge sehen, wie sie sind, S. 238. Ebd., S. 237. 312 Ebd., S. 239. 311 178 Mir geht es nicht darum, diese Lesart zu widerlegen, sondern ihren Grund zu analysieren. Es drängt sich die Frage auf, warum zur Bestätigung der ’Authentizität‘ von Manns Tagebüchern immer wieder lediglich auf die Äußerungen zurückgegriffen wird, die das durch die fiktionalen Texte vorgeprägte Bild des Schriftstellers bestätigen. Es ist richtig, daß die Aussagen, die eine negative Stimmung des Tagebuchschreibers widerspiegeln, überwiegen. Das Ignorieren des vorangehenden Filterungsprozesses führt jedoch zu einer einseitigen Sichtweise derjenigen Leser, die die Tagebuchäußerungen irrtümlich vollständig mit der Person Thomas Mann identifizieren. Das bedeutet nicht, daß der Diarist permanent lügt, um ein falsches Bild von sich zu zeichnen, sondern daß sich die Leserin über die Konstruktionsaufgabe des Tagebuchschreibers bewußt sein muß. Das diaristische Ich, das von einer ambivalenten Grundhaltung gegenüber der Welt („Qual und Glanz“) geprägt wird, bestätigt die Leser in ihrem Bild von einem Thomas Mann, der sich durch die Heirat mit Katia Pringsheim bewußt ein „strenges Glück“ 313 geschaffen hat und sein Leben mit immensem Pflichtbewußtsein meistert. Die Tagebuchform dagegen widersetzt sich wegen mangelnder literarischer Merkmale dem Thomas-MannBild. Wahrscheinlich würde ein Thomas-Mann-Tagebuch, das in Lindners Kategorie des „literarischen Tagebuchs“ passen würde, an ’Authentizität‘ gewinnen, da wir sagen würden: „Ja, diesen Thomas Mann kennen wir.“ Das bedeutet: Obwohl die emphatische Authentizität, d. h. die literarische Erzeugung ’authentischer‘ Effekte, nur simuliert wäre, ließen wir uns gern betrügen, indem wir den Text trotz auffälliger Warnungen und Signale als ’authentische‘ Notizen lesen. Es geht jetzt nicht darum, die Leser zu animieren, Thomas Manns Notate als darstellungsfreie Schriften zu verstehen, sondern auf das Vergnügen aufmerksam zu machen, mit dem sie sich bei der Tagebuch-Lektüre täuschen lassen, ähnlich wie Felix Krulls Hotelgesellschaft. Da uns Thomas Mann den Gefallen jedoch nicht getan hat, auch in seinem Tagebuch die Haltung des Ironikers einzunehmen, sondern sich für die Schreibweise des Logbuchs entschieden hat, ist unsere Wahrnehmung gestört, und es fällt uns schwer, die nicht gesetzten Authentizitätssignale trotzdem aufzuspüren. Wir können uns also bei Thomas Manns Tagebüchern deshalb dem Verdacht nicht entziehen, daß mit ihnen etwas nicht stimmt, weil sie auf der einen Seite durch ihre Struktur des objektiven Registrierens und dem damit entstehenden „Ausnahmefall“ im Gesamtwerk 313 Vgl. Briefwechsel Heinrich – Thomas Mann, 23. 12. 1904, S. 53. 179 Manns eine erzwungene Art der Aufrichtigkeit314 erahnen lassen, andererseits jedoch durch die Verfremdung des „konventionellen Sprachsystems“,315 das wir von Thomas Mann gewohnt sind, die ’Authentizität‘ wiederum in Frage gestellt wird. Das Kamera-Auge, das im Tagebuch durch Thomas Mann selbst personifiziert wird, liefert uns intimste Bilder, die der Logik gemäß vom schreibenden Subjekt wegführen, da sie von ihm selbst ’gefilmt‘ werden und damit nach außen gerichtet sind. Es entsteht die paradoxe Situation, daß der Diarist sich zwar selbst und die ihn umgebenden Umstände beobachtet, jedoch nur von außen, indem er sich selbst irrealisiert und sich in eine andere Rolle begibt. Der Autor Thomas Mann verbirgt sich in der Logbuchstruktur und zeigt sich nur in seltenen Momenten des subjektiven Journals an der ’Oberfläche‘. Heinrich Detering kehrt in seiner Studie Das offene Geheimnis, in der er sich mit literarischen Texten befaßt, in denen die Autoren homoerotische Erfahrungen in camouflierender Erzählweise darstellen, demonstrativ zum Autor zurück. Der Aspekt, der diese Sichtweise für die Analyse von Manns Tagebüchern interessant werden läßt, bezieht sich auf den Begriff der Camouflage. Beide Techniken, Simulation und Camouflage, basieren auf einer Strategie, mit der ein Sachverhalt in modifizierter Form so wiedergegeben wird, daß der Adressat getäuscht wird. Während der Simulationsakt die Leserin jedoch in die Irre leitet, möchte der Autor durch das Prinzip der Camouflage, so Detering, gleichzeitig auch erkannt werden. Detering bezeichnet die camouflierende Rede als einen „Gegendiskurs“, da diese Autoren eine eigene Sprache – er nennt sie mit Brecht „Sklavensprache“ – verwendeten, um den Inhalt des „Subtextes“ nicht direkt aussprechen zu müssen. Diese sogenannte „Sklavensprache“ kennzeichne die produktive Wirkung, die das Verfahren der Camouflage hervorruft. Detering weist in seiner Analyse zur Novelle Tonio Kröger überzeugend nach, daß die Thematik der Homosexualität in dieser Erzählung als ein „gesellschaftlich tabuisiertes Phänomen verschlüsselt kenntlich gemacht wird“ und als „Produkt einer intentional gesteuerten, hochbewußten, ja raffinierten Konzeption“ zu verstehen ist.316 Die Tanzszene fungiert laut Detering als eine chiffrierte Episode, in der der Gesellschaftstanz für den Begriff der „gesellschaftlichen Konvention“ steht. Die Tatsache, daß Tonio in der Tanzstunde von Herrn Knaak bei der Quadrille „unter die Damen gerät“ (GW, VIII, S. 285) und 314 Vgl. Groys: Unter Verdacht, S. 102-103. Lindner: ’Ich‘ schreiben im falschen Leben, S. 40. 316 Detering: Das offene Geheimnis, S. 333. 315 180 damit zum Gespött aller Anwesenden wird, können wir laut Detering als Darstellung eines Außenseitertums begreifen, das nicht im Künstlerproblem verankert ist. Diese Szene wiederholt sich am Ende noch einmal mit der ungeschickten Magdalena Vermehren und bildet für Detering ein weiteres Indiz dafür, daß Tonio nicht nur homoerotisch „handelt“, sondern auch seine „Identität“ als homoerotisch zu bezeichnen ist.317 François Knaaks Anrede „Fräulein Kröger“ (GW, VIII, S. 285) und Tonios Frage an Lisaweta: „Ist der Künstler überhaupt ein Mann?“ (GW, VIII, S. 296) bestätigen Deterings Auffassung von Tonios zweideutiger Geschlechtlichkeit, die in der Novelle ausdrücklich betont wird, und weisen diese als einen Konflikt aus, der dem Künstlerproblem vorgelagert ist. Auch die Darstellung der Liebe zu Inge Holm dürfe nicht lediglich als Maßnahme aufgefaßt werden, die die Sehnsucht nach Hans Hansen tarnen soll, sondern sie sei als weiterer Beleg für Tonios Kennzeichnung als ’Mischwesen‘ zu verstehen.318 Im Gegensatz zu Böhm wird nach Ansicht von Detering nicht das Verdrängte zum Ausgangspunkt der Motivation für die Strategie der Camouflage, sondern der „leidende Autor“ selbst: „Die ästhetische Sublimation des Erotischen geht dem Text nicht voraus, sondern wird in ihm vorgeführt. Sie ist nicht seine Voraussetzung, sondern sein Thema“.319 Der Autor verschwindet also nicht im Text, sondern findet im Akt des Camouflierens eine Möglichkeit, die herrschenden Diskurse zu umgehen und stattdessen einen „Gegendiskurs“ zu starten. Dieser Rückbezug auf den Autor erklärt dann auch die Notwendigkeit, bei der Textanalyse camouflierender Texte auf autobiographische Texte des jeweiligen Autors zurückzugreifen, um den „Subtext“ aufdecken und den „Oberflächentext“ besser verstehen zu können. Thomas Manns Tagebücher begreift Detering als eine „Leseanweisung“ und damit sozusagen als das ’Lösungsbuch‘ für seine camouflierenden Prosatexte. Das kontrastreiche Verhältnis zwischen Manns erzählerischem Werk und Tagebüchern ließe eine zur Technik der Camouflage entgegengesetzte Erzählstrategie vermuten. Die Tatsache jedoch, daß wir für Thomas Manns Notate fast eine eigene Kategorie entwickeln müßten, gestaltet diese Frage wieder offen. Können wir also auch Spuren camouflierenden Schreibens in Manns Diarien finden? Laut Detering müßten wir diese Frage zumindest teilweise bejahen, da die Tagebücher seiner Meinung nach in bezug auf Manns „Erkennt- 317 Ebd., S. 313. Ebd., S. 307. 319 Ebd., S. 333. 318 181 niswunsch“320 eine Komplementärfunktion besitzen, d. h. zusammen mit anderen autobiographischen Schriften ermöglichen sie es den Lesern, die Motivierungen für die Verwendung der Strategie der Camouflage zu untersuchen. Auch Inge Jens vertritt mit Rückgriff auf den bereits erwähnten Platen-Vers diese Auffassung: Nein, für mich besteht kein Zweifel, der Tagebuchschreiber wollte, daß ihn die Welt kenne – mit allen Details des Alltäglich- ’Normalen‘, die – und das wußte der ausgewiesene Schriftsteller genau – unabdingbar sind, wenn es um Verbindlichkeit geht.’Es kenne mich die Welt‘: das Diktum markiert den Entschluß eines sich seiner Mittel bewußten Künstlers. Die Tatsache, daß er die Geltung durch den Nebensatz einschränkte ’. . . aber erst, wenn alles tot ist‘ [...], widerspricht dem nicht. Im Gegenteil: die Mitwelt mußte das Podest, das Thomas Mann durch die Lebensleistung erklommen hatte, respektieren; die Nachwelt hingegen sollte erfahren, wie schwer es errungen war, welche Ambivalenzen in der eigenen Person, welches ’Doppelleben‘ nicht nur in ’Qual und Glanz‘, sondern, vor allem, in der Spannung zwischen persönlich sinnlicher Erfahrung und moralischer Verpflichtung, zwischen ’Chaos‘ und ’Verfassung‘ es auszuhalten galt. Nur in seinen Tagebüchern bekennt sich Thomas Mann uneingeschränkt zu seiner Existenz in jenen zwei Reichen, die der Jüngling mit den Schlagworten ’Bürger‘ und ’Künstler‘ literarisierte [...]321 Jens sagt zwar, daß die aufmerksamen Leser die existenziellen Konflikte des Dichters, wozu auch seine homoerotische Neigung gehört, schon aus seinen erzählerischen Werken erraten konnte, jedoch die Art und Weise ihrer Verarbeitung und Kompensierung ließen sich erst mit Kenntnis der Diarien begreifen. Diese Ansicht entspricht Deterings Definition von Camouflage in der Hinsicht, daß die „Signalisierung des ursprünglich Gemeinten“ prinzipiell von allen Lesern bemerkt werden kann, die Dechiffrierung dieses „ursprünglich Gemeinten“ jedoch nur einem vertrauten Leserkreis vorbehalten bleibt.322 Bei der Betrachtung von Manns diaristischen Schriften als einem Offenbarungseid, nach dem sich plötzlich der Vorhang öffnet, wir hinter die Kulissen blicken dürfen und sich ein ganz neuer Horizont zeigt, der es uns erlaubt, die Thomas-Mann-Texte in ganz anderem Licht zu sehen, unterliegen wir meines Erachtens der Gefahr, die wichtige Komponente der Literarizität im Tagebuch zu unterwandern. Auch Detering begreift Tagebücher nicht als ’authentisch‘, sondern betont die „fiktionale Regulierung allen autobiographischen Schrei320 Gerhard Härle unterscheidet drei Arten des Erkenntniswunsches. Er kann zum einen vom Interesse für eine bestimmte Person getrieben sein. Eine andere Möglichkeit ist der Wunsch nach Selbsterkenntnis, dem die Autobiographen durch Selbstreflexion ein Stück näher kommen wollen und die Leser sich durch das Nachvollziehen dieser Reflexionen eine Befriedigung dieses Wunsches erhoffen. Der „passive Erkenntniswunsch“ schließlich wird vom Verlangen beeinflußt, erkannt und verstanden zu werden. (Vgl. Härle; Kalveram; Popp: Erkenntniswunsch und Diskretion, S. 19-20) 321 Jens: ‚Über das Falsche, Schädliche und Kompromittierende des Tagebuchschreibens, das ich unter dem Choc des Exils wieder begann und fortführte...‘. In: German life and letters 51, H. 2, S. 290. 322 Detering: Das offene Geheimnis, S. 30. 182 bens“.323 Auf welche Prätexte sollen wir uns jedoch beziehen, um camouflierende oder simulierende Vorgänge im Tagebuch zu erkennen? Es lohnt sich zu fragen, ob dieTexte, in denen sich der Autor Thomas Mann maskiert, notwendigerweise ein Diarium verlangen, das ebenfalls einen verhüllenden Charkter besitzt. Der „Gegendiskurs“, den die prosaischen Texte mit ihrer durchkonstruierten Struktur ausführen, würde sich dann auch auf die Tagebücher übertragen. Das könnte ein weiterer Mosaikstein zum Verständnis der unvergleichlichen Schreibweise in Manns Diarien sein. Das ’diaristische Handbuch‘ als Interpretationshilfe kann einige bislang nur vermutete Deutungen bestätigen – es entstehen jedoch gleichzeitig mindestens genausoviele neue Fragen. An die Stelle der Technik der Camouflage im Tonio Kröger, Zauberberg oder Doktor Faustus, tritt die offensive Strategie der Simulation, die einige intime ’Wahrheiten‘ preisgibt – jedoch nur die gewollten. 9. Zusammenfassung Warum überfällt uns beim Lesen von Thomas Manns Tagebüchern der Eindruck, den wir nicht auszusprechen wagen: Es sind Äußerungen eines Nobelpreisträgers? Nicht, daß wir damit rechnen müßten, jeden Tag Zeuge eines sensationellen Ereignisses zu werden, aber es passiert so rein gar nichts Spektakuläres im Alltag des vielgerühmten Dichters. Niemals befindet er sich am Abgrund der Verzweiflung – „das diarische Ich zeigt sich als ein integriertes Ich, allen Krisen zuwider“.324 Wenn man nicht wüßte, daß der Verfasser dieser Notizen der große Thomas Mann ist, könnte man annehmen, es handelt sich um die täglichen ’Bekenntnisse‘ eines Beamten, wie es Jerzy Lukosz in seiner Studie Thomas Mann als Tagebuchschreiber bemerkt. Ganz so einfach macht es uns der Tagebuchschreiber nun aber doch nicht, da er sich nicht immer mit der Schreibweise des Registrierens begnügt, sondern sich auch häufig als Stilist präsentiert. Folgende Auszüge sollen das verdeutlichen: Seit zwei Wochen gerade hier nichts eingetragen. Unser Leben geht weiter wie bis dahin bei immer klarem Himmel und in den Mittagsstunden sehr feuriger Sonne, doch ist die Hitze keineswegs übergroß, ein Sturmtag, der, wie es scheint, als Gewitter fungierte hat sie sogar beträchtlich herabgesetzt, und immer sind die Abende frisch, an denen ich, wenn wir allein 323 324 Ebd., S. 27. Lukosz: Thomas Mann als Tagebuchschreiber, S. 3. 183 zu Hause sind, gern längere Zeit in einem Korbstuhl vor der Tür meines Arbeitszimmers auf der kleinen Veranda sitze und rauche, während die Sterne hervortreten. (Tb, 20. 7. 1933) Herausgerissen aus dem Kontext des Tagebuchs, könnten diese Sätze auch aus einem Prosatext Thomas Manns stammen. An diesen Abschnitt schließen sich die üblichen Registrierungen der Tagesereignisse in bewährter Logbuchmanier an. Notizen wie die zitierten Zeilen treten in unregelmäßigen Abständen auf, so daß es äußerst schwierig ist, ihnen eine bestimmte Funktion zuzuschreiben. Diese autobiographisch gefärbten Einträge suggerieren der Leserin: ’Ich, Thomas Mann, bin auch noch als Stilist da.‘ Plötzlich spricht der Autor der uns bekannten Werke zu uns, um dann jedoch abrupt wieder in die Anonymität des Logbuchs abzutauchen. Ich schließe die diesen Aufenthalt begleitenden Aufzeichnungen, an den ich dankbar zurückblicken werde. Die Zukunft ist ungewiß, wie sie es im Grunde immer ist, und nur darauf darf ich wohl mit einer Art von natürlicher Sicherheit rechnen, daß der bei aller Schwierigkeit glückliche Grundcharakter meines Lebens sich auch unter Umständen durchsetzen wird, die mir anfangs den Atem nahmen. (Tb, 22. 9. 1933) Diese, im späten optimistischen Tonio-Kröger-Sprachhabitus verfaßte Selbstreflexion, zeigt einen Tagebuchschreiber, der sich vom protokollierenden diaristischen Ich auf eine Art und Weise abgrenzt, die einen Verdacht von zwei verschiedenen Diaristen aufkommen läßt. Sowohl die logbuchartigen Dokumentationen des Alltags als auch die autobiographischen Aussagen in der Ich-Form bestätigen ein interessantes Phänomen: Beide Schreibweisen erwecken gleichzeitig den Eindruck des ’Authentischen‘ und des Inszenierten. Die Aneinanderreihung von Fakten nimmt für sich einerseits das Prädikat des ’Authentischen‘ in Anspruch, weil sie größtenteils durch archivalische Recherche überprüft wurden und diese Informationen den Lesern im umfangreichen Kommentarteil der edierten Tagebücher auch zugänglich sind. Auf der anderen Seite verlieren sie durch den notwendigerweise vom Verfasser des Tagebuchs gesteuerten Filterungsprozeß das Wahrhaftigkeitssiegel. Die Leserin hegt berechtigterweise den Verdacht, der Tagebuchschreiber könnte der Öffentlichkeit besonders spektakuläre Dinge verheimlichen, die ein negatives Licht auf seine Person oder sein Werk werfen könnten. Mit den in der Form des subjektiven Journals geschriebenen Aufzeichnungen erreicht der Erzähler eine größere Nähe zur Leserin, indem er aus der Beobachterrolle in die Rolle 184 des selbstreflektierenden Künstlers schlüpft. Der auf diese Weise erlangte Effekt wird jedoch wieder dadurch relativiert, daß der prosaische Stil an einen fiktionalen literarischen Text erinnert. Es scheint so, als wenn dieses schillernde Mißverhältnis zwischen dem Gestus des ’Authentischen‘ und der Simulation von Authentizität auf dem Verhältnis zwischen Intimität und Repräsentation beruht, das ein ständiges Ausbalancieren dieser beiden Komponenten verlangt und zu dieser eindimensionalen Schreibweise führt. Durch den ständigen Zwang, dem der Tagebuchschreiber unterliegt, zwischen der Rolle als Repräsentant und der Rolle des intimen Bürgers und Künstlers zu vermitteln, erhält die Struktur des Tagebuchs einen starren Charakter. Die seltenen Rückfälle in das subjektive Journal und die anschließende Weiterführung der üblichen Schreibweise bestätigen die Bemühungen des Diaristen um die Bewahrung der Logbuchstruktur. Die Problematik beginnt mit dem Versuch, den Text hinsichtlich der möglichen Indizien zu entschlüsseln, die für eine Inszenierung dieses Wechselspiels von Simulation und Dissimulation verantwortlich sind. Warum ist uns das logbuchartige Registrieren des Intimen nicht intim genug, und stellen sich somit Zweifel bezüglich der Wahrhaftigkeit des Textes ein? Wenn wir uns die täglichen Eintragungen etwas genauer anschauen und miteinander vergleichen, stellen wir fest, daß die Buchhaltung immer dann abbricht, wenn der multidimensionale Charakter der Persönlichkeit Thomas Manns in den Vordergrund zu rücken droht. Der Tagebuchschreiber achtet pedantisch darauf, daß die Rollenvielfalt seiner Prosa von der eindimensionalen Erzählweise im Diarium abgelöst wird. Wieder ein strahlender, frischer, sonniger Morgen. Es ist sehr hübsch, sich nach dem Frühstück rauchend, bei offener Balkontür, zu der leichten Tätigkeit des Tagebuch- oder Briefschreibens zu setzen; [...] (Tb, 3. 4. 1933) Die Kombination aus der angenehmen Arbeit am Tagebuch und der Korrespondenz sowie dem Genuß des Rauchens offenbart die entlastende und befreiende Wirkung, die das Tagebuchschreiben auf den Diaristen ausübt. Das Gefühl muß nicht, wie im Tonio Kröger, durch literarische Sprache „erledigt“ werden, sondern durch die Niederschrift der alltäglichen Routine, die von der geistigen Tätigkeit des Dichtens getrennt werden muß, kann eine Entlastung und Entschlackung des Geistes erreicht werden. „Mit der Sprachmagie werden 185 in den Tagebüchern Thomas Manns die wildesten Empfindungen gezähmt“.325 In der Tat besitzt die Sprache dieses Diariums etwas Magisches. Sie verblüfft durch ihre scheinbar unvermittelte ’Authentizität‘, die freilich nur ein Effekt der Registerwechsel ist, und wirkt im gleichen Moment jedoch wieder seltsam fremd, distanziert und mysteriös. Die magische Wirkung entsteht durch den entlastenden Effekt, den die Sprache im Moment des Schreibaktes auf den Tagebuchschreiber überträgt. Die Abfallschicht des Tages, die die künstlerische Tätigkeit des Diaristen umschließt und stützt, wird durch das objektive logbuchartige Registrieren der Tagesereignisse in Schrift verwandelt. Der ’normale‘ und einfache Alltag, den auch der Schriftsteller Thomas Mann nicht umgehen kann, wird vom Tagebuchschreiber in einfache bzw. ’Normalsprache‘ umgesetzt, und damit befreit er gleichzeitig sein literarisches Schreiben von den beschwerlichen und nervenaufreibenden Pflichten des Alltags. Die Leitmotive der Romane und Erzählungen werden von den Leitmotiven des Alltags (Wetter, Medikamente, Rauchen, Körperpflege, Korrespondenz, Besuch, Lektüre) abgelöst. Thomas Mann schafft es, sich auch als Erzähler im Tagebuch so zu irrealisieren, daß er den Lesern den Eindruck vermittelt, etwas verberge sich hinter einer Maske. Dürfen die Figuren in Thomas Manns fiktionalen Texten ihre inneren Konflikte ausleben, so strebt das auf den Ausgleich mit der Welt bedachte Ich im Tagebuch einen souveränen Status an. Diese Tatsache bewirkt die starke Affinität zum Felix Krull, in dem beide Komponenten durch den Simulationsakt miteinander kombiniert werden, d. h. Felix erreicht seine thronende Existenz durch seine Immunität gegen die seelische Zerstörung durch die plurale Persönlichkeit, an der andere Thomas-Mann-Figuren zugrunde gehen. Diese Immunität gewinnt Krull mit Hilfe eines Abwehrmechanismus in Form von Simulationen. Das schreibende Subjekt versucht in den Tagebüchern ebenfalls, sich auf eine Rolle festzulegen, bleibt aber trotzdem in der Rollenvielfalt gefangen. Die tägliche protokollarische Buchführung bildet eine eigene Erzählebene und garantiert die souveräne Existenz des diaristischen Ichs. Das Mannsche Tagebuch inszeniert ein Modell nach dem kybernetischen Simulationsverständnis, das den Alltag des Dichters in Form eines Diariums neu entstehen läßt. Es gilt jetzt, die Simulationsakte innerhalb dieses Modells sichtbar zu machen und ihre Funktion und Wirkung zu verstehen. 325 Ebd., S. 14. 186 Die Offenheit der Schilderungen des Tagebuchschreibers über den eigenen gesundheitlichen Zustand, die exakten Angaben über Besuche, kulturelle Veranstaltungen, Tagespolitik, repräsentative Verpflichtungen, Spaziergänge usw. vermittelt in der ’Normalsprache‘ bzw. in der Sprache, die von Manns Prosa abweicht, scheinbar das ’authentische‘ Bild des Privatlebens des Schriftstellers. Lukosz spricht jedoch von einer Authentizität und Intimität des Tagebuchs, die lediglich in der Intention des Tagebuchschreibers begründet liegt,326 d. h. dieses Diarium enthüllt keine sensationellen intimen Skandale, sondern versucht bei der Darstellung von äußerer und innerer Realität eine Ichbegrenzung zu erreichen, die die multiperspektivische Ironie der Ichentgrenzung in den Romanen und Erzählungen unterdrückt. Der sich bei der Leserin einschleichende Verdacht der Simulation erhält dadurch Nahrung, daß die Buchhaltung an dem Punkt halt macht, wenn es um das Werk geht, an dem Thomas Mann gerade arbeitet. Außer einer Registrierung des jeweiligen Kapitels und eventuell ein paar kurzen Zusatzbemerkungen, die den entsprechenden Fortschritt der Arbeit kennzeichnen, erfahren wir kaum etwas, das der Werkgeschichte neue Aufschlüsse geben könnte. Unsere Erwartungshaltung wird ebenfalls enttäuscht, wenn wir ausführliche und direkte Urteile über zeitgenössische Schriftstellerkollegen erhoffen, ebenso wie eine Einordnung politischer Ereignisse in einen größeren philosophischen Zusammenhang, wie wir es beispielsweise aus den täglichen Aufzeichnungen von Klaus Mann kennen. Der große Denker Thomas Mann, der Autor des Zauberbergs und der JosephTetralogie, gestattet uns lediglich einen Einblick in den sich Jahr für Jahr wiederholenden, immer gleichen Tagesablauf, den wir doch schon aus dem ersten Band kennen. Während er am Doktor Faustus arbeitet, dürfen wir uns wenigstens mit solchen Worten wie „Hölle“, „Schwerdtfeger“ oder „nervös“ beschäftigen. Der Verdacht erhärtet sich, daß sich hinter diesen hingeworfenen Satzbrocken ein Geheimnis verbirgt. Dem Verdacht nachzugehen, führt uns jedoch in eine Sackgasse, wie es uns von Maar so anschaulich wie unfreiwillig vorgeführt wurde. Fruchtbarer scheint es mir da, Wolfgang Isers Spielfeld der Inszenierung zu folgen und zu überprüfen, ob seine Theorie, daß sich das Ich über imaginäre Konstruktionen entwirft, um seiner selbst habhaft zu werden, auch für das Tagebuch, im speziellen Fall von Thomas Mann, gilt. Durch das „Spiel der Differenz“, das mit dem Übersetzungsakt des Realen in das Gebiet des Fiktiven einsetzt, lassen 326 Ebd., S. 5. 187 wir uns auf ein offenes Spiel von semantischen Differenzen ein. Die Schnittstelle zwischen Realem und Imaginärem wird im Tagebuch jedoch nicht durch das Fiktive, sondern lediglich durch den Schreibakt selbst gekennzeichnet. Im Vollzug des Schreibaktes, der durch einen subjektiven Filterungsprozeß des Verfassers gelenkt wird, korreliert das Reale mit dem Imaginären – für die Leser beginnt das Spiel. Gerade bei der Gattung des Tagebuchs bleibt bei uns während der Lektüre die Suche nach dem Code zur Entschlüsselung der ’geheimen‘ Botschaften des Diaristen präsent. Durch den geschickten Wechsel der Schreibweise in den Notaten Thomas Manns, der keinem festen Muster folgt, gelingt es der Leserin nicht, sich dem Spiel zu entziehen oder es von einer Beobachterposition außerhalb des Textes zu verfolgen. Sie wird zwischen Enthüllung und Verschleierung eingeschlossen und versucht immer von Neuem, einen Spalt zu finden, der unter die ’Oberfläche‘ führt. Die Monotonie der täglichen Eintragungen des Diaristen, der nicht müde wird, jeden Tag den Wetterbericht abzugeben und seine persönlichen Daten zu notieren, führt zu einer kontrastiven Wirkung gegenüber seinen fiktionalen Texten und damit zur Simulation eines darstellungsfreien Berichtes. Mit der gleichbleibenden Struktur der Einträge suggeriert der Tagebuchschreiber seinen Lesern ein eindimensionales Leben, das nur auf Disziplin, Pflichterfüllung und die Kontrolle psychischer Labilität gegründet ist. Was passiert, wenn wir die ständig wiederkehrenden Angaben aus den Notizen tilgen? Übrig bleibt die Erwähnung einiger besonderer innerfamiliärer Vorkommnisse, politischer Auseinandersetzungen sowie Reiseberichte; neutrale Bemerkungen, die jeglichen ironisch-eleganten Stil vermissen lassen, auch wenn man sicher einige stilistische Feinheiten erkennen kann, die aber nur mit Thomas Manns Treffsicherheit bezüglich der Wortwahl zusammenhängen und seine sprachlichen Fähigkeiten bezeugen. Diese kleinen stilistischen Bonmots können jedoch in keiner Weise den Eindruck eines ’normalsprachlichen‘ Textes ohne besondere sprachliche Auffälligkeiten entkräften. Erst das Notieren des täglichen Leidens beeinflußt die Leserin in ihrer Wahrnehmungshaltung, da sie zum Mitleiden aufgefordert wird. Die Leserin identifiziert sich mit der Rolle des Diaristen. Berufen wir uns noch einmal auf Iser mit seiner Behauptung, die Darstellung von Imaginärem im literarischen Text basiere auf der natürlichen Fiktionsbedürftigkeit des Menschen, verursacht durch seine exzentrische Position. Nur durch Spielvariationen können die Unverfügbarkeiten und Vorstellungen des Menschen veranschaulicht und realisiert werden. Worin liegen nun die Differenzen zum fiktionalen Text, wenn wir Isers 188 Hypothese auf das Tagebuch Thomas Manns übertragen? Es bedeutet nicht die letzte Konsequenz, die Paul de Man proklamiert, nämlich die Indifferenz zwischen traditionell fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten und stattdessen die Erhebung der Rhetorizität zum Unterscheidungsmerkmal der Texte.327 Das diaristische Ich wird im Tagebuch zwar fiktional entworfen, wodurch der Text aber nicht automatisch einen fiktionalen Status erhält. Der Prozeß der Simulierung, der Inszenierung des Lebens von Thomas Mann in Form eines Tagebuchs, bewirkt die Fiktionalisierung des Ichs. Nach Isers literarischer Anthropologie würde es also bedeuten, daß sich Thomas Mann beim Schreiben seines Tagebuchs in einer anderen Rolle befindet als beim Verfassen seiner Erzählungen und Romane. Die diaristische Sprache Thomas Manns befindet sich in einem Grenzbereich. Sie bietet uns keinen Anhaltspunkt, von dem aus man einen Verfremdungseffekt oder eine Abweichung von ’normalsprachlichen Texten‘ erkennen könnte. Aus diesem Grund schließt Martin Lindner es nicht aus, daß wir bei Manns Aufzeichnungen mit ’Fingerabdrücken des Wirklichen‘ konfrontiert werden. Meine vorhergehenden Analysen haben jedoch gezeigt, daß wir uns in den Fängen des Verdachts befinden, wenn wir die Diarien als darstellungsfreie Texte lesen. Die Tagebücher sind nicht vom Autor der Werke geschrieben. Wir werden mit dem „Leerlauf einer artifiziellen Diktion“328 konfrontiert, mit welcher der Tagebuchschreiber den ’Abfall‘ des Tages, die Lücken zwischen der literarischen Produktion rekonstruiert. Die Dichotomie zwischen Thomas Manns Prosa und den melancholisch gefärbten diaristischen Schriften bewirkt auch die gegenseitige ’Authentisierung‘ von fiktionalen und scheinbar darstellungsfreien Texten. Thomas Manns Tagebücher und seine fiktionalen Texte verhalten sich komplementär zueinander, d. h. sie wenden eine Simulationsstrategie als Schutzpanzer für den Autor bzw. Erzähler an, die in verschiedener Art und Weise in beiden Erzählformen ihre Ausprägung findet. In seinen Romanen und Erzählungen nutzt Thomas Mann seine inneren Konflikte, die er mit sich selbst austrägt, als Antrieb für seine künstlerischen Produktionen, worüber er selbst mehrfach in Briefen und anderen uns vorliegenden Dokumenten gesprochen hat. Die Interpreten verfolgen in ihren Textanalysen das Ziel, diese persönlichen Verdrängun327 Vgl. de Man: Der Widerstand gegen die Theorie. In: Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. „Der Widerstand gegen die Theorie ist ein Widerstand gegen die rhetorische oder tropologische Dimension der Sprache, eine Dimension, die vielleicht in der Literatur (in einem weiten Verständnis) ausdrücklicher im Vordergrund steht als in anderen verbalen Manifestationen oder – um etwas weniger vag zu sein – die in jedem verbalen Ereignis, wenn es als Text gelesen wird, aufgedeckt werden kann.“ (S. 325) 328 Vgl. Dieckmann: Thomas Mann nach Hitlers Machtantritt, S. 170. 189 gen zu entlarven und durch die Entwirrung der komplexen Verstrickung der sich in jedem Text wiederholenden Hauptmotive das Bild des ’wahren‘ Dichters zu zeichnen. Mit der zusätzlichen Rezeption des Tagebuchs als darstellungsfreien Abdruck des schreibenden Subjekts erhalten wir einen Einblick in die Auswirkungen dieser Verdrängungen auf den alltäglichen und privaten Bereich. Der Verdacht, daß sich hinter dem Text Geheimnisse verbergen, die zwischen den Zeilen entschlüsselt werden müssen, bleibt bestehen. Lesen wir die täglichen Notate aber als nicht-darstellungsfreie Texte, wird die Doppelstrategie der Simulation auch in den Tagebüchern weitergeführt. Das Spiel der schwankenden Identitäten wird im großen Rahmen zwischen erzählerischen Texten auf der einen Seite und berichtenden Texten auf der anderen Seite aufrecht erhalten. Man kann das Tagebuch in gleicher Weise wie den fiktionalen Text in Isers Kategorie des Simulakrums einordnen, als die Darstellung von etwas Imaginärem oder Unverfügbarem, das in keinem unmittelbaren mimetischen Verhältnis zur Realität steht. Bei der Betrachtung des literarischen Textes als Simulakrum spricht Iser diesem jedoch die Täuschungsabsicht ab, da ein Simulakrum, das nur aus Vorstellungsbildern besteht, nichts vortäuschen kann. Im Fall des Tagebuchs jedoch, das für sich das Merkmal der ’Authentizität‘ beansprucht, würde der Tagebuchtext als Simulakrum durchaus einen Täuschungsvorgang implizieren. Der von Iser gewählte Begriff des Simulakrums für den fiktionalen Text ist meiner Meinung nach etwas irreführend, da Iser dem Simulakrum keinen Täuschungscharakter zugesteht – der Begriff der Inszenierung wäre deshalb für den fiktionalen Text ausreichend. Laut Iser entstehen durch Inszenierungen Simulakren, die das Unverfügbare bzw. das Abwesende modellieren. Damit würde er die kybernetische Auffassung von Simulation als Modellierungsprozeß auf die Literatur übertragen. Beim Schreiben eines Tagebuchs inszeniert der Diarist auch sein Leben, unabhängig von Bewußtsein bzw. Intention, entwirft sich also über imaginäre Konstruktionen selbst. Hieraus entwickelt sich nun ein Simulakrum in seiner eigentlichen Wortbedeutung, da das Tagebuch im Gegensatz zum fiktionalen Text durch den diaristischen Pakt objektive Wahrheiten suggeriert. Während also im fiktionalen Text Zeichen aus der Realität über die Schwelle der Fiktion transformiert und mit imaginären Zeichen kombiniert werden, wird im Tagebuchtext das lebensweltliche Zeichenmaterial über die Grenze des Schreibaktes transportiert und dort zwar nicht mit imaginären Zeichen, aber mit einer bestimmten Schreibweise und Zeichen, die einem Filterungsprozeß entspringen, vermischt. Das „Spiel 190 der Differenz“ findet also nicht auf dem Hintergrund der Fiktion statt, sondern wird in Verbindung mit dem Schreibakt ausgetragen. Demzufolge läßt sich das Simulakrum nicht als ein konträres Modell zur Wirklichkeit begreifen, sondern entfaltet seine Wirkung im kleinen Vakuum zwischen dargestellter Wirklichkeit und dem Medium, das sie vermittelt. Spielt auf der fiktionalen Ebene der Schreibakt zur Beurteilung von Simulation nur eine untergeordnete Rolle, so bildet er im Tagebuch die einzige Möglichkeit, Anhaltspunkte für das simulatorische Spiel zu finden. 191 Schluß Ziel der Arbeit war es, ein theoretisches Panorama über das Begriffsfeld der Simulation aufzuspannen, um Thomas Manns Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull und seine Tagebücher zu untersuchen. Mir ging es bei dieser Analyse nicht darum, Thomas Manns Leben als Selbstinszenierung zu entlarven, sondern die Strategien seiner Texte aufzudecken, die die Simulation vorantreiben. Viele Rezensenten und Thomas-Mann-Forscher verstehen Manns Tagebücher als einen Balanceakt zwischen Öffentlichkeit und Privatheit bzw. Verbergung und Offenbarung. Hans Rudolf Vaget beschreibt diese Problematik folgendermaßen: Finally, the diaries force us to acknowledge the central role in Mann’s life of the element of deception and self-deception. With the publication of the diaries now complete, it is quite apparent that Mann’s life may be seen as one grand performance, or, to be more precise, one long high-wire act of simulation in public and in private.329 Die Inszenierung ist jedoch nur ein Teil des Simulationsaktes, genauer gesagt: die Voraussetzung. Die Annahme der Selbstinszenierung bzw. -täuschung im Fall Thomas Manns beruht vor allen Dingen auf seinen Tagebuchaussagen, die seine homoerotische Neigung und die damit verbundene Ehepflicht betreffen. Meine Untersuchung hat sich zur Aufgabe gemacht, nicht die Spur der Inszenierung zu verfolgen, sondern auf der sprachlichen Ebene des Textes die Mechanismen sichtbar zu machen, die die Leserin verführen, eine bestimmte Rezeptionshaltung einzunehmen. Ich verstehe die Simulation ähnlich wie Groys und Baudrillard als konstitutives Element der modernen Kultur, wobei ich jedoch den Begriff der Simulation in seinem ursprünglich rhetorischen Umfeld belasse. Nur so ist es möglich, diesem Phänomen das Pathos zu nehmen und zu beweisen, daß dieser Mechanismus nicht nur für das Informationszeitalter typisch ist, denn ein Computer- oder Fernsehbild täuscht nicht mehr oder weniger vor als das Schriftbild auf einem Blatt Papier. Es sind in gleichem Maße Materialien, die als Hilfsmittel dienen, um entweder Teile der Wirklichkeit abzubilden bzw. sie zu modifizieren und mit imaginären Elementen zu kombinieren. Der Unterschied besteht nur auf der quantitativen, aber nicht auf der qualitativen Ebene, d. h. durch das Fernsehen wird die Raumdifferenz und durch die Computertechnologie die Zeitdifferenz aufgehoben.330 Die Komplexität 329 330 Vaget: Confession and Camouflage. In: Journal of english and germanic philology 96, Nr. 1, S. 577. Vgl. Großklaus: Das technische Bild der Wirklichkeit, S. 56-57. 192 der neuen technischen Möglichkeiten suggeriert einen Niedergang der Mimesis und feiert den Aufstieg der Simulation und der Darstellung von Möglichkeiten statt einer Realität. Televisionale Vermittlung basiert jedoch ebenso wie die Vermittlung von Tagebuchnotizen durch den Schreibakt auf einem Filterungsprozeß, der die Wirklichkeit nicht widerspiegeln kann. Die Neuartigkeit der Simulation besteht bei der computeriellen oder televisionalen Wahrnehmung nicht im Verlust der Zeit- bzw. Raumdifferenz, sondern äußert sich durch eine scheinbare „Hyperrealität“, die wiederum aber nur als Schein zu begreifen ist. Nicht das mimetische Prinzip verändert sich, sondern nur seine Art der Darstellung. Da der Wahrnehmende die komplexen Vorgänge zwischen Wirklichkeit und Abbild nur noch schwer durchschauen kann, wird bei ihm der Verdacht genährt, daß unter der Oberfläche ein geheimer Manipulator existiert, der eine simulierte Wirklichkeit kreiert. Dieser Verdacht unterscheidet sich jedoch nicht von Spekulationen, die bei der Lektüre von Thomas Manns Diarien aufkommen. Immer dann, wenn ein bestimmter Vorgang im Verborgenen bleibt, entsteht ein Verdacht. Wenn mit der Unterstützung des Computers ein mögliches Modell der Wirklichkeit erstellt wird, bedeutet das keine Simulation als ein Akt der Vortäuschung, sondern lediglich die Inszenierung einer Vorstellung wie in einem fiktionalen Text. Die qualitative Verbesserung resultiert lediglich aus der Visualisierung des Imaginären. Dieses Verständnis der Simulation korreliert mit Isers Figur des Simulakrums, die er mit dem Inszenierungsakt identifiziert, den ein literarischer Text vollführt. Da die Simulation bzw. die Inszenierung nicht mehr exklusiv durch die Literatur abgedeckt wird, sondern von anderen Medien aufgegriffen wurde, versucht Iser die Figur der Simulation in der Literatur als eine anthropologische Kategorie neu zu verorten, die nur noch teilweise mit der Mimesis verbunden ist.331 Mit Isers „Spiel der Differenz“ greifen Baudrillards Grundthese der „Hyperrealität“, die Indifferenz zwischen Realität und Fiktion, sowie der kybernetische Simulationsbegriff als Modellierungsprozeß ineinander. Während dieses Simulationskonzept für die Beschreibung des fiktionalen Textes wenig Neues bietet, eröffnet es uns für die Analyse der Mannschen Tagebücher die Möglichkeit, den diaristischen Text ebenfalls als Probespielraum zu begreifen, in dem der Autor Thomas Mann unsichtbar wird, da er sich im Moment des Schreibens schon selbst auf der Bühne befindet, ohne daß er sie durch das Überschreiten der fiktiven Grenze selbst herstellen muß. Diese Grundlage schafft die Voraussetzung, das Simulationsspiel als einen Akt der Vortäuschung zu erkennen, in dem in 331 Vgl. Spielmann: Gespräch mit Wolfgang Iser. In: Weimarer Beiträge 44, H. 1, S. 95-97. 193 Verbindung mit Plessners Plädoyer für die Maske der Tagebuchschreiber steckt. Laut Iser ist jede Person nur das „Differential seiner Rollen“, so daß man schlußfolgern kann, daß sich der Autor Thomas Mann beim Verfassen seiner Tagebücher in eine andere Rolle als während des Schreibens seiner Prosa begibt. Der Hochstapler Felix Krull demonstriert mit seinem Verhalten, daß er sich in einem Simulakrum befindet, das ständig veränderbar bzw. manipulierbar ist. Die Hotelgäste des St. James and Albany tragen weder Masken noch betreten sie ’nackt‘ die Spielfläche. Sie befinden sich in einer schwebenden Existenz, in der sie sich genüßlich dem Schein hingeben, ohne selbst maskiert oder unmaskiert zu sein. Sie sind einfach nur da. Die einzige Funktion, die sie ausüben, besteht in der Aufgabe, sich in einem inszenierten Vakuum zu bewegen, das für jede Art von Simulation anfällig ist, ohne daß Felix’ Täuschungen im Hinblick auf die Moralität einer Bewertung unterliegen könnten. Die verschiedenen Simulationstheorien, die ich am Beispiel der Bekenntnisse und den Tagebüchern untersucht habe, bleiben sämtlich der Mimesis verhaftet. Selbst Dotzlers Auffassung des Hochstaplerromans als „Nullsummenspiel“ der Literatur, das nur noch Dichtung vortäuscht anstatt sie wirklich zu machen, orientiert sich durch den Gedanken der Reproduktion von alten Mustern mit neuen technischen Mitteln weiterhin am Abbild. Mit Isers Betrachtung des fiktionalen Textes als Inszenierung bzw. Simulakrum wird das im Felix Krull problematisierte Betrugsbedürfnis des Menschen bestätigt, indem sich bei der Beobachtung der Hotelszenerie Isers Thesen über die imaginären Konstruktionen und die Rollenpluralität, über die sich der Mensch selbst entwirft, in Plessners Grundsätzen zur natürlichen Künstlichkeit des Menschen widerspiegeln. In Manns Tagebüchern rückt der performative Akt des In-Szene-Setzens in den Vordergrund, da ihre Literarizität unmittelbar durch den Schreibakt hergestellt wird, das diaristische Ich die Doppelfunktion des Autors und Tagebuchschreibers in sich vereint und sich somit die Simulation in erster Linie durch den Verdacht bei der Leserin äußert. Es hat sich jedoch im Verlauf meiner Untersuchung gezeigt, daß dieser Verdacht verifizierbar ist, wenn man die Logbuchstruktur im Tagebuch sowie die darin auftretenden Risse analysiert. Dann greift auch hier der von Härle angewandte rhetorische Simulationsbegriff, der sich als Prototyp im Musterungskapitel des Felix Krull nachweisen läßt. Während die Leser bei der Lektüre des Hochstaplerromans die Simulationen durchschauen bzw. die Reaktionen, die sie auslösen, beobachten können, lassen sich die Täuschungsmanöver in den Diarien nur durch Kontrastierung, sei 194 es zwischen Prosa und Tagebuch oder Logbuch und subjektivem Journal, wahrnehmen. Auch hier bestätigt sich Plessners Theorie von der veränderbaren Maske, die sich der jeweiligen gesellschaftlich verlangten Rollenfunktion anpaßt. Für weitere Forschungen wäre es interessant, Lösungsansätze zu entwickeln, wie literarische Tagebücher der Simulationsfalle entgehen können. Ist die Kategorie im Zusammenhang mit der Textsorte des Tagebuchs überhaupt noch notwendig? Simulieren die Tagebuchschreiber nicht grundsätzlich die Authentizität der Darstellung ihrer täglichen ’Bekenntnisse‘? Den Ausgangspunkt für weitere Untersuchungen muß die strikte Trennung der Begriffe Simulation und Inszenierung bilden. Impliziert die Inszenierung immer schon das Moment der Simulation? Die entgegengesetzte Entwicklung von zunehmender künstlicher Konstruktion ’authentischer‘ Effekte und abnehmender Glaubwürdigkeit beweist die Unsicherheit bezüglich der Beurteilung von Aufrichtigkeit. Der strenge Logbuchcharakter in Thomas Manns Tagebüchern demonstriert nicht die Simulation der Aufrichtigkeit als Intention des Tagebuchschreibers, sondern zeigt die Hilflosigkeit der Leser und ihre Anfälligkeit für Täuschungen durch ’authentische Effekte’, die durch verschiedene Varianten des „Spiels der Differenz“ entstehen. Die gravierenden Differenzen zwischen Manns Diarien auf der einen und seinen prosaischen Texten auf der anderen Seite sowie die Risse, die der Wechsel vom Logbuch zur Schreibweise des subjektiven Journals auslöst, provozieren den mißtrauischen Blick der Leser. Boris Groys identifiziert den „submedialen Raum“ mit dem „Raum des Verdachts“ und negiert damit die Existenz eines manipulierenden Subjekts im Hintergrund, das den Verdacht rechtfertigt. Im Gegensatz zu Groys behaupte ich, daß der ’authentische‘ Effekt vom „Subjekt des submedialen Raums“ sehr wohl simuliert wird, denn auch ein Simulationsakt findet in der Realität statt und hat realistische Konsequenzen. Der Tagebuchschreiber inszeniert nicht die Darstellung des unmaskierten diaristischen Ichs, sondern seine Auswahl der Schreibweise erzeugt die Täuschungsstrategien und simuliert durch die Darstellung eines reduzierten Ausschnitts der Realität und ihrer Verzerrung infolge des Einhaltens eines strengen Rasters eine Möglichkeit der Wirklichkeit sowie eine mögliche Art der Aufrichtigkeit. 195 Thesen 1. Im Zeichen der Postmoderne stieg die Kategorie der Simulation zu einem Leitbegriff auf. Der Welt wird der Verlust von Wirklichkeit attestiert, an deren Stelle ein Automatismus der Produktion von Simulakren getreten ist. Der französische Theoretiker Jean Baudrillard formulierte bislang am prägnantesten das Verschwinden des Realen in der postmodernen Gesellschaft: Das Reale erhält nie wieder die Gelegenheit, sich zu produzieren – dies ist nun die lebendige Funktion des Modells in einem System des Todes oder vielmehr in einem System der vorweggenommenen Wiederauferstehung, wo dem Ereignis, selbst dem Ereignis des Todes, keine Möglichkeit mehr bleibt. Das Hyperreale ist von nun an vor dem Imaginären, vor jeder Trennung von Realem und Imaginärem sicher. Zugelassen wird nur noch ein orbitaler Rücklauf von Modellen und die simulierte Generierung von Differenzen.332 2. Für die nähere Bestimmung der Simulation ist es notwendig, das Begriffsfeld von Fiktion und Mimesis zu umreißen. Beide Kategorien sind nicht als diametral entgegengesetzt zu begreifen, in dem Sinne, daß Mimesis Imitation von Wirklichkeit bedeutet und Fiktionalität die radikale Autonomie von Dichtung bezeichnet. Gerade die Aristotelische Poetik verharrt nicht in einer ontologischen Entgegensetzung von Abbild und Wirklichkeit, sondern spricht bereits von einem Transformationsprozeß der Realität in der Dichtung. Nicht nur die Simulation, sondern schon die Mimesis problematisiert das Verhältnis von Wirklichkeit und Zeichenwelt. 3. Simulation bedeutet für die einen eine Perfektion der Mimesis, indem sie Bilder einer Welt kreiert, die sie selbst entwickelt hat. Die Differenz zwischen Abbild und Original verschwindet. Für Baudrillard und andere bedeutet die Herstellung von Simulakren den endgültigen Sieg über die Wirklichkeit. Gerhard Neumann und Andreas Kablitz haben das Paradoxon erkannt, daß der „dramatische Gestus“ des gegenwärtigen Simulationskonzeptes aus den Differenzen gegenüber der Mimesis resultiert, die das tradierte Denken, welches die Simulation gerade überwinden möchte, repräsentiert. 4. In den aktuellen Theorien zur Fiktionalität (Assmann, Iser, Petersen) wird die Fiktion als ein bestimmter Redestatus begriffen, der keine Implikationen von täuschendem Schein 196 enthält. Das fehlende Element der Täuschung offenbart die gravierende Differenz zwischen Simulation und Fiktion. Für die Verortung der Simulation im literarischen Text hat sich Wolfgang Isers Theorem vom „Fiktiven und Imaginären“ im Zusammenhang meiner Arbeit als besonders produktiv erwiesen. Da laut Iser die Wirklichkeit bereits aus einem Netz von symbolischen Verweisungen und kollektiver Imaginationen einer Kultur gespeist wird, die er „prädiskursive Realität“ nennt, stehe die Fiktion in keinem Oppositionsverhältnis zur Realität, sondern lasse sich nur in Relationen begreifen. Die Übersetzung der Wirklichkeit in einem fiktionalen Text können wir demnach als einen „Akt des Fingierens“ beschreiben, bei dem die im Text wiederkehrende Realität irrealisiert und das Imaginäre real wird. 5. Der Simulationsbegriff hat im Laufe seiner neuen Karriere auch Eingang in die Literaturwissenschaft gefunden. Dabei wird der Begriff der Simulation zunehmend von seinem ursprünglichen Bedeutungszusammenhang entkoppelt und für die Beschreibung neuartiger, medialer Zeichenstrukturen verwendet, die nur noch in einem hyperrealen Raum stattfinden sollen. Seltsamerweise verliert damit die Simulation ihre typischste Bedeutungskomponente, und zwar die der Vortäuschung. Indem die Simulation bzw. das Simulakrum im Sinne von Baudrillard für Prozesse gebraucht wird, die in einem Raum verlaufen, in dem die Indifferenz zwischen Realität und Fiktion herrscht, kreiert die Simulation eine eigene Wirklichkeit. 6. Die einzelnen Versuche, die Simulation zu verorten, lassen sich nicht strikt voneinander trennen, sondern greifen ineinander. Fünf verschiedene Lesarten haben sich bei meinen Untersuchungen herauskristallisiert: 1. Simulation als rhetorische Kategorie im semantischen Feld der Ironie 2. Simulation als Teil von kybernetischen Modellierungsprozessen 3. Simulakrum als Produkt der strukturalistischen Tätigkeit (R. Barthes) 4. Simulation als „Hyperrealität“ zur Kennzeichnung der postmodernen Gesellschaft (J. Baudrillard) 332 Baudrillard: Agonie des Realen, S. 9-10. 197 5. Simulakrum als anthroplogische Konstruktion zur Erfüllung des Fiktionsbedürfnisses des Menschen (W. Iser) 7. In der Rhetorik unterscheidet man zwischen den Begriffen Simulation und Dissimulation. Beide Termini verhalten sich als positiver und negativer Akt komplementär zueinander. Während beim negativen Akt der Dissimulation etwas Wahres verborgen wird (Sotun-als-ob-nicht), täuscht der Simulant etwas Falsches vor (So-tun-als-ob). Vor allem in der höfischen Kultur der Renaissance war die Verklammerung beider Strategien Programm. Ein Höfling mußte nicht nur ein guter Verstellungskünstler sein, sondern auch wiederum die Taktik der Dissimulation anwenden, um nicht als Simulant enttarnt zu werden. Simulation und Dissimulation reichen nur in das Gebiet der Ironie hinein, wenn sie für die Leserin durchsichtig sind. Deutlich in den Bereich der rhetorischen Simulation fällt die Mimesis, wozu z. B. die Nachahmung von Redeweisen sowie die Charakterisierung von Personen durch fiktionale Rede gehört. 8. Thomas Manns Roman Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull sowie seine Tagebücher sind geeignet, die Ausprägung der unterschiedlichen Simulationsbegriffe auf den Prüfstand zu heben. Für beide Texte bildet Isers anthropologische Verortung des Simulakrums als performativer Inszenierungsakt die Grundlage. Sein Theorem unterstütze ich mit Grundsätzen aus Helmuth Plessners vielzitierter Schrift Grenzen der Gemeinschaft. Die zusätzliche Problematisierung des ’Authentischen’ vor allem in den Tagebüchern machte die Implikation von aktuellen Medientheorien, wie z. B. von Boris Groys, unumgänglich. Ich betrachte die Simulation als konstitutives Element moderner Kultur, das jedoch in seinem ursprünglich rhetorischen Bedeutungszusammenhang eingebettet bleibt und die Wahrnehmung der Leserin steuert. Isers Auffassung des literarischen Textes als inszeniertem Diskurs, der den Charakter eines Spiels angenommen hat, ermöglicht es uns, innerhalb eines literarischen Textes die Simulation in ihrer jeweils eigenen Prägung zu verstehen. Die mangelnde referentielle Eindeutigkeit der mittelbaren Zeichen und ihre verdoppelte Struktur machen sie „als ein Analogon lesbar, für jene Rollenpluralität, als deren Einheit sich der ’Mensch‘ konstituiert“. Die Arbeit untersucht, wie in den Thomas-MannTexten das kulturelle Muster der Simulation als ’geheimer Koordinator‘ funktioniert. 198 9. Mit dem Neostrukturalisten Bernhard J. Dotzler, der sich in seiner Untersuchung Der Hochstapler vor allem auf Baudrillard beruft, betrachte ich den Hochstapler-Roman aus der Perspektive der neuesten Simulationstheorien. Dotzler koppelt die Simulation vollständig von der traditionellen Kategorie der literarischen Dichtung, der Mimesis, ab und erhebt stattdessen die Simulation zum vorherrschenden Prinzip in den Memoiren des Hochstaplers. Thomas Mann imitiere die Dichtung Goethes, integriere sich dabei jedoch gleichzeitig in das zeitgenössische Aufschreibungssystem, so daß kein Mehrwert an Sinn entstehe und wir es mit einem „Nullsummenspiel“ der Literatur zu tun hätten. Der Bildungsroman lasse sich nur noch in Form der Parodie und als Simulation einer Autobiographie verwirklichen. Das Wechselspiel von Geheimhaltung und Offenbarung werde in der Musterungsepisode anschaulich dargestellt und fungiere als Grundprinzip der gesamten Bekenntnisse. Das Motiv der Täuschung begleite Felix während seiner ganzen Entwicklung – vom Wunderkind des Geigenspiels bis zur Audienz beim portugiesischen König in Lissabon. Laut Dotzlers Analyse bleibt es der Leserin verschlossen, ob sie es mit einer simulierten Autobiographie oder mit einer autobiographischen Simulation zu tun hat. 10. Die hermeneutische Analyse von Gerhard Härle beruht auf dem rhetorischen Simulationsbegriff in seiner ursprünglichen Bedeutung von Vortäuschung bzw. Verbergung. Für Härle befindet sich Felix Krull im Dilemma vom Schein des Scheins gefangen. Der gute Wille, mit dem Felix seine Simulationen rechtfertigt, basiere laut Härle auf einem angeborenen „Defekt“, einem Bruch in seiner Identität, die ihn zu Verstellung und Rollenspiel zwingt, somit die Simulation also wiederum nur scheinbar ist und nicht verurteilt werden kann. Die Ursache für das Ineinanderfließen von Ästhetik und Moral findet Härle in Thomas Manns unterdrückter Homosexualität, die zu der komplizierten Strategie der Verschleierungs- und Enthüllungspraktiken im Verhalten des Hochstaplers führt. Im Rückgriff auf die französischen Moralisten, auf Kant und Nietzsche läßt sich Härles Darstellung der Körpersprache im Verhältnis zur Simulation als eine Aufwertung des Scheins verstehen, die Plessners Eintreten für die Maskierung und gegen den Aufrichtigkeitskult entsprechen. 11. Mit Isers Untersuchung zum Fiktiven und Imaginären versuche ich eine ganz neue und andere Sichtweise auf das Problem der Simulation in den Bekenntnissen des Hochstaplers 199 Felix Krull zu gewinnen. Iser begreift den literarischen Text als einen Akt des In-SzeneSetzens, in dem lebensweltliches Zeichenmaterial über die Grenze des Fiktiven getragen und dann im fiktionalen Raum mit neuen Imaginationen kombiniert wird. Mit der Figur des Hochstaplers Felix Krull findet ein weiterer Akt der Übersetzung statt, indem der Hochstapler sich selbst irrealisiert und die jeweilige Rolle in sein eigenes Ich transferiert. 12. Am Beispiel der Hotelsozietät, deren Scheinhaftigkeit durch den Verstellungskünstler Felix Krull entlarvt wird, habe ich versucht, Isers Spiel des Fiktiven und Imaginären zu erklären. Die Hotelgäste bewegen sich innerhalb eines Spiels, aus dem Spieler ausscheiden und dafür neue Figuren dazukommen, deren einziger gemeinsamer Nenner ein zielloses Durchwandern der Hotelhalle ist. Aufgrund des von Felix vorgeführten Tauschprinzips im Hotel St. James and Albany entwickelt sich Isers „Spiel der Differenz“ zum „Spiel der Indifferenz“, indem das Prinzip der Komödie bestimmend wird. Zusammengeschlossene Positionen negieren sich gegenseitig und bewirken ein ständiges Umkippen von sich widersprechenden Situationen, da die Menschen im Hotel nicht mehr als gesellschaftliche Funktionsträger agieren, sondern diese Rolle ablegen und stattdessen die private Identität in den Vordergrund tritt und damit die Unterschiede zwischen Kellner, Liftboys und Aristokraten egalisiert werden. Aufgrund dieser Haltung gehen sie das Risiko der Lächerlichkeit ein – und die Komödie kann beginnen. Plessners These, daß der Mensch ohne seine Rollenpluralität gar nicht er selbst wäre, läßt sich hier exemplarisch nachweisen. Felix Krull ist der einzige, der seinem Doppelungscharakter verhaftet bleibt und damit als Gegenpol zu den ’entblößten‘ Hotelgästen im „Spiel der Differenz“ den Entlarvungsprozeß in Gang setzt. Das bedeutet nicht, daß die starre Maske im Alltag die Aufdeckung der Simulation vollständig verhindert, in einer Hotelhalle, in der die Spielregeln ähnlich wie in der fiktiven Umgebung eines literarischen Textes funktionieren, sind die Grenzen jedoch fließend. 13. Bisher wurde in der Thomas-Mann-Forschung lediglich versucht, die einzigartige logbuchartige Struktur der Tagebücher unter dem Gesichtspunkt zu interpretieren, ob nun die Tagebücher oder das erzählerische Werk ’wahrhaftiger‘ seien. Im Blickpunkt stand vor allen Dingen die Frage nach der Veröffentlichungsabsicht des Autors und die Diskrepanz zwischen Intimität und repräsentativen Bewußtseins. Betont wurde der Mangel an Ironie, 200 die ’direkte‘ und ’wahrhaftige‘ Sprache. Gleichzeitig wurden jedoch die Tendenzen zur Verheimlichung hervorgehoben. In keiner Weise ist bis jetzt die Frage aufgeworfen worden, welches Medium das paradoxe Widerspiel von Enthüllung und Verheimlichung lenkt. Warum lassen wir uns bei der Lektüre von den ’authentischen‘ Effekten verführen, obwohl ständig neue Verdachtsmomente der Maskierung oder Simulation unsere Skepsis nähren? 14. Der Autor Thomas Mann verschwindet in der Logbuchstruktur des Tagebuchs. Der Simulakrum-Effekt setzt im Gegensatz zu den fiktionalen Texten schon auf der ersten Ebene ein. Die Bühne muß nicht erst durch die Fiktion hergestellt werden, sondern mit dem ersten Satz bewegt sich der Autor schon auf ihr. Er ist bereits der Schauspieler und dementsprechend ist er es auch, auf den sich der Demaskierungseffekt durch die sich stetig ändernden Positionen auswirkt. Mit dem Ergreifen der Feder verabschiedet sich der Autor bereits und verbirgt sich hinter der Maske des Erzählers, der das diaristische Ich dirigiert und überwacht. Während im Felix Krull das Subjekt in mehrere Identitäten zerfällt, erschafft die distanzierte Schreibweise des Logbuchs eine eigene literarische Physiognomie, die den Autor in den Hintergrund treten läßt. Er versteckt sich hinter der Gleichtönigkeit des Alltags und wird unsichtbar. Das sachliche Skizzieren der sich ständig wiederholenden täglichen Handlungen fungiert als Schutzwall vor den Blicken der imaginären Leser und suggeriert das Vorhandensein eines Submedialen, das von einer opaken Schicht verdeckt wird. Die gegenseitige ’Authentisierung‘ der wechselnden Schreibweisen Logbuch und subjektives Journal bewirkt das Simulations-Dissimulations-Spiel, in dem die Leser als Mitspieler integriert ist. 15. Im Gegensatz zu Manns fiktionalen Texten, in denen die Figuren ihre Konflikte ausleben und durch Selbsttäuschung mehrere Identitäten in die Wirklichkeit transformieren können und wie Felix Krull eine Aufhebung des Dualismus von Körper und Geist erreichen, strebt das Ich im Tagebuch einen souveränen Status an. Das Subjekt des Schreibens verzichtet auf die multiperspektivische Ichentgrenzung und ist stattdessen auf eine eindimensionale Ichbegrenzung bedacht, die ein ständiges Ausbalancieren zwischen Intimität und Öffentlichkeit erfordert. Hierin besteht die Affinität zu Felix Krull, der es mit Hilfe des Abwehrmechanismus schafft, gegen die seelische Zerstörung der pluralen Persönlichkeit 201 immun zu bleiben. Trotz der vordergründig eindimensionalen Logbuchstruktur bleibt das Ich also in der Rollenvielfalt gefangen, getreu Plessners Grundsatz: In der Maske objektiviert sich der Mensch und wird zu einem gewissen Grade unsichtbar, ohne als Person völlig in den Hintergrund zu treten. 16. Übertragen wir Isers Spielfeld der Inszenierung auf Thomas Manns Tagebücher, dann können wir die Schnittstelle zwischen dem Realen und Imaginären mit dem Schreibakt identifizieren. Im Vollzug des Schreibaktes, der durch einen subjektiven Filterungsprozeß gelenkt wird, korreliert das Reale mit dem Imaginären und das „Spiel der Differenz“ setzt ein. Wie im Fall eines prähistorischen Fundes, suchen wir nach dem Code zur Entschlüsselung von ’geheimen‘ Botschaften. Von der ’Lust am Verdacht‘ getrieben, liest Michael Maar in seinem Buch Das Blaubartzimmer Thomas Manns Tagebücher als darstellungsfreie Notizen, gerät damit selbst in das Netz des Simulationsspiels und verstrickt sich durch das Einbringen der eigenen Subjektivität in Vermutungen, die in die Sackgasse führen. 17. Die diaristische Sprache Thomas Manns befindet sich in einem Grenzbereich. Aufgrund der nichtvorhandenen Verfremdungseffekte oder einer Abweichung zu ’normalsprachlichen‘ Texten, schließen Maar und Lindner nicht aus, mit ’Fingerabdrücken des Wirklichen‘ konfrontiert zu sein. Wir befinden uns jedoch in den Fängen des Verdachts, wenn wir Manns Diarien als darstellungsfreie Texte lesen. Die Monotonie der Eintragungen, kombiniert mit der Aufforderung der Leser zum Mitleiden, bewirkt den Kontrast zwischen Thomas Manns ironischer Prosa und den melancholisch gefärbten diaristischen Schriften und damit die gegenseitige ’Authentisierung‘ von fiktionalen und scheinbar darstellungsfreien Texten. Nach Isers literarischer Anthropologie würde das bedeuten, daß sich Thomas Mann beim Schreiben seiner Tagebücher in einer anderen Rolle befindet als beim Verfassen seiner Erzählungen und Romane. Manns Tagebücher und seine fiktionalen Texte verhalten sich komplementär zueinander, d. h. sie wenden eine jeweils andere Art der Simulationsstrategie an, um einen Schutzpanzer für den Autor zu bilden. Durch die Einbettung fremder Zeichen in den eigenen Kontext, d. h. durch den Wechsel der Schreibweise, indem das schreibende Subjekt als ein anderer Funktionsträger fungiert, wird der Effekt der Aufrichtigkeit erreicht. 202 18. Die Zunahme der Aufmerksamkeit für mediale Inszenierungen hat den Blick der Leser geschärft, so daß sie überall nach einer vom Text verdeckten ’Authentizität‘ suchen. Die Auflösung des ’Authentischen‘ durch Aufdeckung der Inszenierungsstrategien kann die Rezeptionshaltung verändern. Stehen wir hier vor einer neuen Art von ’Authentizität‘, die darin besteht, daß ein Inszenierungsprozeß offen dargelegt wird und somit das ’Authentische‘ nicht mehr unter der Oberfläche zu suchen ist, sondern die Aufrichtigkeit mit der Offenlegung der Simulation gleichzusetzen ist? Wir befinden uns nun in einer paradoxen Konstellation: Der Theatralisierungsprozeß, dem das diaristische Ich in Thomas Manns Tagebuch unterliegt, bewirkt die Wahrnehmung des diaristischen Raumes als einer AlsOb-Situation, die aber ebenfalls wiederum in Frage gestellt wird, da das Theater sich als Moment der Performation zeigt. 203 Literaturverzeichnis 1. Thomas – Mann – Texte Thomas Mann: Briefe 1948-1955 und Nachlese. 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Polytechnische Oberschule, Rostock 1990 – 1994 Erasmus-Gymnasium, Rostock Abschluß: Abitur Studium: Oktober 1994 Beginn des Magisterstudiums an der Universität Rostock: Deutsche Sprache und Literatur, Geschichte, Ur- und Frühgeschichte, Englische Sprachwissenschaft September 1995/ August 1996 Ausgrabungspraktika in Rostock und Gadebusch SS 1996-WS 1998/99 Tätigkeit als studentische Hilfskraft im Fachbereich Geschichte bei Prof. Dr. Tilmann Schmidt Februar/März 1997 Archäologisches Praktikum zum Thema Fundbearbeitung und -dokumentation im Fachbereich Ur- und Frühgeschichte August 1997/ Juli/September 1998 Ausgrabungspraktikum auf dem befestigten mittelalterlichen Hof Gudow in Schleswig Holstein Oktober 1999 Abschluß des Studiums mit dem Grad des Magister Artium in den Fächern Deutsche Sprache und Literatur, Geschichte, Ur- und Frühgeschichte März 2000 Magisterprüfung im Zusatzfach Englische Sprachwissenschaft 214 Promotionsstudium Mai 2000-Juli 2002 Erhalt eines Stipendiums der Landesgraduiertenförderung Mecklenburg-Vorpommern Oktober/November 2000 Tätigkeit als Praktikantin im Buddenbrookhaus in Lübeck 215