Diagnostik und Behandlung des ADHS in der kinderärztlichen Praxis
Transcription
Diagnostik und Behandlung des ADHS in der kinderärztlichen Praxis
Charité – Universitätsmedizin Berlin ADHS im Vorschulalter Kriterien Dr. med. Dipl. Psych. Anton Lindermüller Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Bäckerstr.4 / III, 81241 München Tel.: 089 - 89 68 99 93 Fax: 089 - 89 68 99 61 Diagnostische Kriterien Kernsymptome Aufmerksamkeitsstörung - immer Hyperaktivität - unterschiedlich Impulsivität – in der Regel Kriterien für die Diagnose einer hyperkinetischen Störung nach Aufmerksamkeitsstörung + Hyperaktivität + Impulsivität situationsübergreifend F90.0 Einfache Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung + Störung des Sozialverhaltens F90.1 Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens Kriterien für die Diagnose einer ADHS nach einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung nach Aufmerksamkeitsstörung + Hyperaktivität/ Impulsivität situationsübergreifend Aufmerksamkeitsstörung > Hyperaktivität/ Impulsivität situationsübergreifend Aufmerksamkeitsstörung < Hyperaktivität/ Impulsivität situationsübergreifend Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung Mischtyp Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung vorwiegend unaufmerksamer Typ Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung Vorwiegend hyperaktiv-impulsiver Typ Diagnostische Kriterien (ICD-10) – Aufmerksamkeitsstörung mind. 6 Monate lang mind. 6 der folgenden 9 Symptome 1. unaufmerksam gegenüber Aufgabendetails oder Sorgfaltsfehler bei Aufgaben 2. häufig nicht in der Lage, Aufmerksamkeit beim Spiel oder bei Aufgaben aufrechtzuerhalten 3. hören häufig scheinbar nicht, was ihnen gesagt wird 4. können Aufgaben und Pflichten häufig nicht erfüllen (nicht aufgrund oppositionellen Verhaltens) 5. beeinträchtigt, Aufgaben und Pflichten zu organisieren 6. vermeiden ungeliebte Aufgaben, die Durchhaltevermögen erfordern 7. verlieren häufig Dinge, die zur Durchführung von Aufgaben wichtig sind (z.B. Stifte) 8. werden häufig von externen Stimuli abgelenkt 9. sind im Verlauf der alltäglichen Aktivitäten oft vergesslich Diagnostische Kriterien (ICD-10) – Überaktivität mind. 6 Monate lang mind. 3 der folgenden 5 Symptome 1. fuchteln häufig mit Händen und Füßen oder winden sich auf Sitzen 2. verlassen ihren Platz im Klassenraum oder in anderen Situationen, in denen Sitzenbleiben erwartet wird 3. laufen häufig herum oder klettern exzessiv in Situationen, in denen dies unpassend ist 4. sind häufig unnötig laut beim Spielen oder haben Schwierigkeiten bei den leisen Freizeitbeschäftigungen 5. anhaltendes Muster exzessiver motorischer Aktivität, die durch den sozialen Kontakt oder Verbote nicht durchgreifend beeinflussbar sind Diagnostische Kriterien (ICD-10) – Impulsivität mind. 6 Monate lang mind. eines der folgenden 4 Symptome 1. platzen mit der Antwort heraus, bevor die Frage beendet ist 2. können häufig nicht warten, bis sie an der Reihe sind 3. unterbrechen oder stören andere häufig (z.B. mischen sich ins Gespräch oder Spiel anderer ein) 4. reden häufig exzessiv, ohne angemessen auf soziale Beschränkungen zu reagieren Diagnostische Kriterien (ICD-10) – Zusatzkriterien die drei Kernsymptome (Aufmerksamkeitsstörung, Hyperaktivität und Impulsivität) müssen: 1. vor dem 6. Lebensjahr beginnen 2. in mehr als einer Situation (Elternhaus/Vorschule/Praxis) deutlich ausgeprägt sein (situationsübergreifende Symptomausprägung z.B. Beobachtungsbogen CBCL) 3. Leidensdruck mit sozialer, schulischer oder beruflicher Funktionsbeeinträchtigung bedingen 4. Ausschlusskriterien: tiefgreifende Entwicklungsstörung (F84), Angststörung (F41), manische Episode (F30), depressive Episode (F32) Epidemiologie ADHS • Jungen : Mädchen ca. 10:1 • 18,5% der kinderpsychiatrischen Inanspruchnahmepopulation • ADHS ohne und mit Störung des Sozialverhaltens (F90.0 bzw. F90.1) etwa gleich häufig diagnostiziert Differentialdiagnose der ADHS • • • • • • • • • • • • • • • Entwicklungsbedingte Hyperaktivität als normale Reifungsvariante (v.a. Kleinkindes- und Vorschulalter) Organische Psychosyndrome Erethrie bei geistiger Behinderung Psychogene Hyperaktivität Frühkindlicher Autismus Desintegrative exogene Psychosen Schizophrenien Akute und chronische Intoxikationen Altersentsprechende Hyperaktivität Chaotische Familienverhältnisse Erhebliche Familienkonflikte Isolierte Teilleistungsstörung / Überforderung / Unterforderung Tic-Erkrankung Organische Erkrankungen (z.B. Epilepsie, Hyperthyreose) Medikamente (z.B. Nebenwirkungen von Asthmamittel) ADHS als Defizit der Selbstkontrolle Selbstkontrolle hängt ab vom funktionierenden Zusammenspiel der Exekutivfunktionen Ursache hierfür ist ein primäres „Defizit“ von Verhaltenshemmung Hemmung einer Reaktionstendenz Unterbrechung eines Verhaltens ablenkende Reize werden gebremst Barkley 1997 Exekutivfunktion: Nonverbales Gedächtnis Speichert Informationen im „Zeitfenster“ um sie mit Erinnerungen zu vergleichen Voraussetzung für „Lernen aus Fehlern“ und für Antizipation von Ereignissen und planvollem Handeln Exekutivfunktion: Verbales Gedächtnis ab dem 3. Lebensjahr beginnt handlungsbegleitendes Sprechen nach dem 10. Lj. „innere Anleitung“ Exekutivfunktion: Regulation von Gefühlen Affektmodulation (Anpassen oder unterdrücken) Kinder lernen ihren Gefühlen nicht hilflos ausgeliefert zu sein Exekutivfunktion: „roten Faden“ behalten Ablenkbarkeit Einzelsituation vs. Gruppensituation Die Kleingruppe bietet dem ADHS Kind einen geschützten Rahmen Was erhärtet den frühen Verdacht auf ADHS 1. Lebensjahr • • • • • • • • • nach Dunitz et al 1998 scheinen über „unerschöpfliche“ Energie zu verfügen es beruhigt sich im Wachzustand schwer „Kolik- und Schreibabys“ Überempfindlichkeit gegenüber Berührungen, Gerüchen, Geräuschen, Kleidern heikle Esser Schlaf kurz und unruhig beginnen früh zu krabbeln sehr aktiv in der Interaktion und Kommunikation lassen sich schwer halten und liebkosen Was erhärtet den frühen Verdacht auf ADHS 2. Lebensjahr • • • • • • nach Dunitz et al 1998 dauernd in Bewegung außergewöhnlich neugierig überraschende und haarsträubende Aktionen werden als extrem anstrengend empfunden furchtlos, waghalsig mit erhöhtem Unfallrisiko reagieren schwer auf Signale Was erhärtet den frühen Verdacht auf ADHS 3. Lebensjahr • • • • • • • nach Dunitz et al 1998 Lust an heftigen Bewegungen heftige Wutanfälle bis zu Affektkrämpfen affektlabil, ausgeprägte Trotzphasen motorisch sehr geschickt oder ungestüm ungeschickt Zerstörung von Spielsachen hohe Ablenkbarkeit macht schnell Chaos VBV - El und VBV - Er Motorische Unruhe • 28. Redet/fragt ständig • 31. Kann am Tisch nicht stillsitzen • 54. Motorisch ungeschickt • 78. Ist ständig auf Achse Aufmerksamkeitsschwäche/Ablenkbarkeit • 12. Wechselt ständig Tätigkeiten • 18. Wechselt zwischen Lust und Unlust • 41. verliert leicht das Interesse • 48. Konzentrationsschwäche beim Spiel • 50. Fragt nach/kann nicht zuhören • 69. Läßt sich leicht ablenken • 74. Vermeidet ausdauernde Spiele ADHS - Pathogenese • • • • • • • neuro(bio)logische Faktoren neurochemische Hypothesen (Imbalance von Neurotransmittersystemen) Dysfunktion des Frontalhirns Theorie der neuronalen Untererregung („arousal-Theorie“) Störung des Immunsystems (Allergiehypothese: Oligoantigene Diäten) genetische Faktoren psychosoziale Bedingungen Integratives Modell der Genese Genetische Befunde • Familienuntersuchungen, Zwillingsstudien und Adoptionsstudien legen eine Heretabilität der Erkrankung zwischen 50 – 98 % nahe. • Für das Zustandekommen von von ADHS spielen ca. 14 – 15 Gene eine Rolle Exogene Faktoren • • • • • • • • • Geringes Geburtsgewicht Alkohol und Nicotinabusus während der SS Frühkindliche Deprivation Erziehungsstil Betroffener Elternteil Niedriger sozioökonomischer Status Exzessiver elektronischer Medienkonsum Ernährung Komorbiditäten Mögliche Folgen Patient Gesundheitswesen 50% – in Motorradunfällen1 33% – Inanspruchnahme von chir. Ambulanz2 2–4x mehr Autounfälle3–5 Schule & Beruf 46% der Schule verwiesen6 35% vorzeitig abgegangen6 Niedrigerer beruflicher Status7 1. DiScala et al. (1998) 2. Liebson et al. (2001) 3. NHTSA (1997) 4+5. Barkley et al. (1993, 1996) Familie 3–5x mehr Scheidungen/ Trennungen11,12 2–4x mehr Geschwisterrivalität13 Gesellschaft Höheres Suchtrisiko8 Früherer „Einstieg“9 Wahrscheinlichkeit geringer, als Erwachsener aufzuhören10 6. Barkley et al. (1990) 9. Pomerleau et al. (1995) 7. Mannuzza et al. (1997) 10. Wilens et al. (1995) 8. Lojewski et al. (2002) 11. Barkley, Fischer et al. (1991) 12. Brown & Pacini (1989) 13. Mash & Johnston (1983) 14. Noe et al. (1999) Arbeitgeber Eltern nicht am Arbeitsplatz, Produktivitätsverlust14 Multimodales Therapiekonzept Pädagogisch Psychologisch Medizinisch Stets mit dem Alter angemessener Beteiligung der Patienten – wenn möglich in Kooperation mit den Eltern - wenn möglich in Kooperation mit weiteren Bezugspersonen – wenn möglich Behandlungsstandards bei Kindern mit ADHS (American Academy of Child and Adolescent Psychiatry, 1991) Behandlung-multimodal (Psychotherapie und psychosoziale Intervention sowie Psychopharmakotherapie sind zu berücksichtigen) Auflärung und Beratung • Aufklärung der Eltern und Bezugspersonen über Symptomatik, Verlauf und Prognose der Störung sowie der Methode der Verhaltenssteuerung • Aufklärung des Kindes über die Störung in altersangemessener Weise • Aufklärung und Zusammenarbeit mit Pädagogen, soweit wie möglich • Beratung der Eltern und Pädagogen hinsichtlich adäquater Beschulung und pädagogischer Strategien in der Schule Behandlungsstandards bei Kindern mit ADHS (American Academy of Child and Adolescent Psychiatry, 1991) Psychotherapie und psychosoziale Intervention, soweit wie möglich • Familientherapie bei Störungen der Familienbeziehung • Einzel- und/oder Gruppenpsychotherapie zur Verminderung von geringem Selbstwertgefühl und/oder Probleme mit Gleichaltrigen • soziales Kompetenztraining bei sozialen Defiziten (einschl. Förderung der EmpathieFähigkeit) und kognitiver Therapie bei Aufmerksamkeitsstörungen und Impulsivität • Elterntraining zur Entwicklung angemessener und konsistenter Grenzsetzung und Verhaltensmodifikationsprogramme zur Verminderung von Verhaltensstörungen in der Familie Mehrdimensionale Therapie bei ADHS • • • • • Pharmakotherapie mit Stimulatien (Methylphenidat) oder mit Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (Atomoxetin) verhaltenstherapeutische Methoden – Kontingenzprogramme – Selbstinstruktions-/Selbstmanagementprogramme – THOP (Döpfner et a. 1997) funktionelle Therapie – Ergotherapie – Psychomotorische Übungsbehandlung Psychotherapie – Einzel-/Gruppen-/Familientherapie sowie Elternberatung Sonderpäd./schulische Maßnahmen Pharmakotherapie bei ADHS Zusammenfassung der Studien zur Wirksamkeit von Methylphenidat (z.B. Ritalin, Medikinet, Equasym, Concerta) • • • 85% der Kinder über dem fünften Lebensjahr sprechen auf Behandlung positiv an (Responder) bei Kindern unter dem fünften Lebensjahr liegt ein ungünstigeres Nutzen-RisikoVerhältnis vor bei 50-70% der Kinder normalisiert sich durch die medikamentöse Behandlung das Verhalten Therapieprogramm für Kinder mit hyperkinetischem und oppositionellem Problemverhalten (THOP; Döpfner et al. 1998) • • • • THOP ist multimodales Interventionsprogramm – verhaltenstherapeutische Intervention in der Familie, Kindergarten/Schule und beim Kind selbst – medikamentöse Intervention THOP ist für die Behandlung für Kinder im Alter von 3 bis 12 Jahren geeignet THOP wurde im Rahmen der Kölner Multimodalen Therapiestudie entwickelt THOP ist auch bei Kindern mit ausschließlich oppositionellen Verhaltensauffälligkeiten einsetzbar Dr. Anton Lindermüller Literaturempfehlung: Brandau, Petris, Kaschnitz, ADHS bei Klein- und Vorschulkindern reinhardt Verlag Neuhaus C., Das hyperaktive Baby und Kleinkind Urania Verlag Döpfner et al. Therapieprogramm für Kinder mit hyperkinetischen und oppositionellem Problemverhalten THOP Beltz Verlag