Biografiearbeit mit Menschen mit Behinderung

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Biografiearbeit mit Menschen mit Behinderung
Biografiearbeit
mit Menschen mit Behinderung
Eine Handreichung
des Bundesverbands evangelische Behindertenhilfe
Biografiearbeit mit Menschen mit Behinderung
Herausgeber:
Bundesverband evangelische Behindertenhilfe e.V.
Postfach 33 02 20, 14172 Berlin
Tel.: 030 83001-270
Fax: 030 83001-275
E-Mail: info@beb-ev.de
Internet: www.beb-ev.de
Verabschiedet durch den Vorstand des BeB am 18.06.2012.
Das Dokument steht als kostenloser Download zur Verfügung unter
www.beb-ev.de und www.bebnet.de – jeweils in der Rubrik „Fachthemen“.
Zielgruppen:
Menschen mit Behinderung und/oder psychischer Erkrankung
Angehörige und gesetzliche Betreuer/innen
Mitgliedseinrichtungen
Themenhüterinnen im BeB-Vorstand:
Astrid Faber, Dr. Ilka Sax-Eckes
Erarbeitet von:
Dr. Laurenz Aselmeier (BeB), Claudia Bender (Johannes Diakonie Mosbach), Astrid Faber
(Mühlhäuser Werkstätten und Vorstand BeB), Ingeborg Hirt (BAB im BeB), Inge HoyerWeber (kreuznacher diakonie), Marianne Münz (Beirat MmB im BeB), Dr. Ilka Sax-Eckes
(kreuznacher diakonie und Vorstand BeB), Ina Ströbele (BAB im BeB)
© BeB
Berlin, im Juni 2012
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Biografiearbeit mit Menschen mit Behinderung
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung: Biografiearbeit – Warum?....................................................................................4
2. Biografiearbeit – Mit welchen Schwerpunkten?.....................................................................5
2.1 Lebensgeschichtliche Ebene..................................................................5
2.2 Fachliche Ebene.....................................................................................6
2.3 Angehörigenebene..................................................................................7
3. Biografiearbeit – Wie?............................................................................................................8
3.1 Rahmenbedingungen..............................................................................8
3.2 Methodische Hinweise............................................................................9
4. Quellen und weiterführende Literatur...................................................................................10
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Biografiearbeit mit Menschen mit Behinderung
1. Einleitung: Biografiearbeit – Warum?
Jeder Mensch hat und braucht eine Vergangenheit – um sich seiner Wurzeln bewusst zu
werden, um sich eingebunden zu fühlen in einen größeren familiären Kontext, um seine
Identität ausbilden zu können oder auf der Grundlage gemachter Erfahrungen seine Persön­
lichkeit weiter zu entwickeln.
Dieses „Recht auf Vergangenheit“ geht bei Menschen mit Behinderungen oft verloren.
Betroffen sind in erster Linie diejenigen Menschen, die schon lange in Einrichtungen leben
und von denen viele kaum noch Kontakt zu ihrer Herkunftsfamilie oder zu ihrem angestamm­
ten Sozialraum haben. Die Akten in den Institutionen sind kaum aussagekräftig, beschreiben
sie doch eher die Defizite, Dinge, die die Person nicht kann oder wo Unterstützung ge­
braucht wird. Erlebnisse der Kindheit, Ressourcen, auf die zurückgegriffen werden kann oder
auch einfach nur positive Erinnerungen gehen verloren, Bilder aus vergangener Zeit sind
kaum vorhanden. Der Mensch mit Behinderung ist in dieser Hinsicht amputiert, seiner eige­
nen Geschichte beraubt. Dabei speist sich doch das Hier und Jetzt im Wesentlichen aus Er­
innerungen, aus Erfahrungen, die jeder Einzelne gemacht hat und aus Erlebnissen, die oft so
prägend auf die Gesamtpersönlichkeit wirken.
Bei näherem Kontakt wird deutlich, dass Menschen mit Behinderungen, wenn man ihnen
aufmerksam zuhört oder ihre ganz eigene Ausdrucksweise versteht, durchaus etwas aus der
Vergangenheit zu berichten haben. Dieses Aufeinander hören geht aber oft in der Hektik und
den Verpflichtungen des Alltags unter. Hier bedarf es Raum und Zeit, Erinnerungen zu we­
cken, Geschichten zu erzählen und zu hören und das Gesagte oder Ausgedrückte auch fest­
zuhalten, damit nach und nach, wie bei einem Puzzle, die verschiedenen Facetten der per­
sönlichen Vergangenheit zu einem Gesamtbild zusammengesetzt werden können.
Viele Verhaltensweisen der Gegenwart lassen sich erst durch einen Blick in die Vergangen­
heit verstehen und erklären.
Erinnerungen können dabei aber nicht nur positiv sein. Es gibt Menschen mit Behinderun­
gen, die traumatische Situationen erlebt haben, die geschlagen und missbraucht wurden und
die sich nicht erinnern möchten, da diese Erinnerungen alte Wunden aufreißen und Ver­
drängtes wieder an die Oberfläche kommt. Oberste Prämisse jeder Biografiearbeit muss da­
her die Freiwilligkeit sein. Der Mensch mit Behinderung muss sich frei entscheiden können,
ob er sich seiner Vergangenheit stellen will oder auch nicht. Diese Entscheidung ist in jedem
Fall zu respektieren. Zu keiner Zeit darf jemand mit einer traumatischen Erinnerung alleine
gelassen werden. Es muss ein professionelles Netz im Hintergrund vorhanden sein, um auch
kritische Situationen auffangen zu können.
Zu unterscheiden davon ist die vorwiegend anamnestische Arbeit, bei der es für Mitarbeiten­
de in den Einrichtungen wichtig ist, den Menschen als Ganzes wahrzunehmen und gegen­
wärtiges Verhalten aus der Vergangenheit erklären und verstehen zu können. Dies gilt insbe­
sondere bei Menschen mit sogenanntem „herausforderndem Verhalten“. Viele Reaktionen,
Aggressionen und Autoaggressionen lassen sich erst im Kontext der Vergangenheit verste­
hen und beeinflussen. Man muss das Herkunftssystem kennen und verstehen wie es funktio­
niert, welche Rolle der Mensch mit Behinderung im Familiensystem einnahm und warum
sein Verhalten innerhalb dieses Systems durchaus sinnvoll war. Nur dann hat man über­
haupt eine Chance zur Intervention.
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Biografiearbeit mit Menschen mit Behinderung
Von daher liegt die Biografiearbeit im ureigenen Interesse der Mitarbeitenden, denn aufwen­
dige Pläne zur Verhaltensmodifikation können durch die Kenntnis familiärer Zusammenhän­
ge und der Sinnhaftigkeit von Verhaltensweisen in bestimmten Bezügen obsolet werden.
Aufgrund dieser gewonnen Einsichten empfiehlt der BeB allen Mitgliedseinrichtungen, sich
aktiv in den Einrichtungen mit dem Thema Biografiearbeit auseinanderzusetzen und diese
Arbeit als wesentliches Qualitätsmerkmal der eigenen Arbeit zu begreifen – im Sinne der
Menschen mit Behinderungen, die ein Recht auf ihre eigene Geschichte haben aber auch im
Sinne einer professionalisierten Arbeit, die ein dem Menschen gerechtes Reagieren erst in
Kenntnis auch der Vergangenheit des Betroffen adäquat möglich macht.
2. Biografiearbeit – Mit welchen Schwerpunkten?
2.1
Lebensgeschichtliche Ebene
Erinnerungen sind wichtig. Im Alltag und mit der Zeit verblassen die Erinnerungen. Deshalb
ist es für alle Menschen bedeutsam, sie festzuhalten und immer wieder aufzufrischen – das
heißt zu erzählen, Fotos zu betrachten, Geschichten aufzuschreiben, Gewohnheiten beizu­
behalten.
Besonders bei Menschen mit Behinderungen sollte Biografiearbeit eine große Rolle spielen.
Allerdings ist es leider immer noch häufig so, dass die Lebensgeschichte eines Menschen
mit Behinderung hinter ihrer „Akte“ zurücktritt. Eine Akte, gefüllt mit diagnostischen und me­
dizinischen Unterlagen bietet jedoch weder Raum, sich seiner eigenen Lebensgeschichte zu
bemächtigen, noch eine Grundlage für eine Begegnung auf Augenhöhe darzustellen. Vor al­
lem Menschen, die in Einrichtungen leben, können kaum auf ein Gegenüber zurückgreifen,
der ihnen zuhört und sie auffordert, sich ihrer eigenen Geschichte zu erinnern. So sind sie für
viele Mitarbeitende Menschen ohne eigene Geschichte und damit ohne eigene Identität, die
über das Leben in der Einrichtung hinaus weist.
Denn das Sich–Beschäftigen mit der eigenen Geschichte ist nicht nur wichtig für die ande­
ren, sondern vor allem für die Person selbst. Nur so, wenn man seine Vergangenheit reflek­
tiert, bekommt man eine Gewissheit, was man bis jetzt alles erreicht und erlebt hat. Man er­
kennt, wo man herkommt und wie man zu dem geworden ist, was man heute ist. Das erleich­
tert auch anderen Menschen das Verständnis im Umgang miteinander.
Wenn man sich nicht an seine Geschichte erinnern kann, weiß man nicht mal mehr wo man
herkommt, wer man ist und was man alles schon erlebt hat. Erst recht, wenn kein anderer
mehr da ist (Familie, Angehörige…), der darüber erzählen kann.
Zum Beschäftigen mit der Vergangenheit bedarf es der Hilfe und Begleitung von Angehöri­
gen und besonders vertrauten Mitarbeitenden, die dies begleiten, unterstützen und auf be­
sonders emotionale Situationen richtig reagieren können. Sie haben auch die Aufgabe, die
Lebensgeschichte mit der Person zusammen in einer Weise festzuhalten, die für die betrof­
fene Person so verständlich ist, dass sie sich selber wieder erkennt und wieder findet. Zu­
dem muss ihre Lebensgeschichte immer wieder zugänglich für sie sein. Auch dadurch er­
fährt dieser Mensch, dass er einzigartig ist und etwas besonderes, was auch das Selbstbe­
wusstsein stärkt.
Biografiearbeit sollte immer auch ein Teil des Lebens sein. Je früher man damit beginnt,
umso besser, damit nicht wichtige Punkte in der Lebensgeschichte verloren gehen. Es ist
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wichtig, mit dem betroffenen Menschen immer wieder an seiner Biografie zu arbeiten und die
Geschichte fortzusetzen.
2.2
Fachliche Ebene
Biografisches Arbeiten kann nicht nur einen wertvollen Beitrag zur Identitäts- und Persönlich­
keitsentwicklung eines Menschen mit Behinderung leisten. Die Rekonstruktion der individuel­
len Lebensgeschichte trägt auch zu einem ganzheitlichen Verständnis der Person und ihres
Verhaltens bei und bietet die Grundlage für das pädagogische und therapeutische Handeln
sowie den alltäglichen Umgang mit dem betreuten Menschen.
Im Gegensatz zur biografieorientierten Arbeit im pädagogischen Alltag wird die Betrachtung
der Lebensgeschichte fachdienstlich eher als ein diagnostisches Verfahren i.S. einer rehisto­
risierenden Diagnostik eingesetzt. Vor allem in der Betreuung von Menschen mit Behinde­
rung und so genannten Verhaltensstörungen dient dieser Zugang dem Verstehen und Be­
wältigen auffälliger Verhaltensmuster.
Die Methode der Rehistorisierung geht davon aus, dass die persönliche Lebensgeschichte
den Menschen prägt und sämtliche Verhaltensweisen für die betreffende Person sinnvoll
sind. Auch Verhaltensauffälligkeiten stellen zunächst sinnvolle Bewältigungsmuster dar, die
sich unter den individuellen Lebensbedingungen entwickelt haben. Dieser Ansatz sieht den
Menschen mit Behinderung und Problemverhalten nicht nur als ‚Defektträger’, sondern ver­
sucht das ‚So-geworden-sein’ vor dem Hintergrund seiner Sozialisation zu entschlüsseln.
Die systematische Aufarbeitung der individuellen Lebensgeschichte anhand der vorhande­
nen Unterlagen erfolgt zunächst stellvertretend und wird ergänzt durch Informationen aus
Gesprächen mit der betreffenden Person, mit Mitarbeitern und Angehörigen. Biografiearbeit
aus fachdienstlicher Sicht bedeutet neben dem Zusammentragen objektiver und subjektiver
Daten aus unterschiedlichen Quellen, auch das Erfassen von Kompetenzen, Ressourcen
und individuellen Bedürfnissen der Person. Im stationären Kontext berücksichtigt Biografiear­
beit auch die institutionelle Biografie, da viele Menschen mit Behinderung häufige Wechsel
der Einrichtungen in der Behindertenhilfe und oft auch stationäre Aufenthalte in psychiatri­
schen Kliniken erlebt haben.
Die chronologische Darstellung der Sozialisation soll Aufschluss über die Entstehung und
den Verlauf von Problemverhalten geben und Lebensereignisse transparenter und letztlich
verstehbarer machen. Zwischen vergangenen und gegenwärtigen Ereignissen sowie lebens­
geschichtlichen Erfahrungen und aktueller Verhaltensproblematik muss ein Zusammenhang
hergestellt werden. Die Wechselwirkungen zwischen den bio-psycho-sozialen Ebenen müs­
sen dabei herausgearbeitet werden. Betrachtet wird deshalb nicht nur der Mensch und sein
Verhalten, sondern auch das Umfeld, in dem dieses Verhalten auftritt. Aus diesem Verste­
henszugang werden die weiteren milieutherapeutischen, pädagogischen und therapeuti­
schen Maßnahmen abgeleitet und realistische Entwicklungsziele formuliert.
Die ganzheitliche Betrachtung des Menschen verhindert eine Reduzierung auf Verhaltens­
auffälligkeiten oder gravierende kritische Lebensereignisse. Kenntnisse über Kompetenzen
und Ressourcen ermöglichen den Aufbau neuer bzw. alternativer Verhaltensweisen unter
Berücksichtigung der Grundbedürfnisse von Autonomie, Selbstwirksamkeit und sozialer Ein­
gebundenheit (Bindung). Diese Bedürfnissysteme zählen nach Befunden zur Resilienzfor­
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schung zu den „protektiven Systembereichen“, die es im Sinne prozessorientierter Strategien
verfügbar zu machen und zu stärken gilt.
Aus Datenschutzgründen muss mit den zur Verfügung stehenden Informationen sehr sensi­
bel umgegangen werden. Die Erstellung individueller Lebensgeschichten erfolgt in erster Li­
nie mit dem Ziel den Menschen mit Behinderung in seiner Ganzheitlichkeit zu betrachten,
auftretende Verhaltensprobleme besser zu verstehen und mit ihm, sofern möglich, und dem
Betreuungspersonal individuelle Maßnahmen zu erarbeiten. Dieses Wissen sollte Mitarbei­
tende, die Menschen mit Behinderung und Verhaltensproblemen betreuen, als Basis für die
pädagogische / therapeutische Arbeit zur Verfügung gestellt werden. Da Mitarbeitende in
Einrichtungen der Behindertenhilfe dienstrechtlich der Schweigepflicht unterliegen, dürfen
diese Informationen nicht an Dritte weitergegeben werden.
2.3
Angehörigenebene
In der Biografiearbeit sollte das, was jemand in seinem Leben bewältigt und geleistet hat,
Bestätigung, Anerkennung und Wertschätzung finden. Deshalb ist es wichtig, möglichst früh
schon die Mittel der Biografiearbeit zu nutzen. Die Aufmerksamkeit anderer für die eigene
Biografie kann sich auf Menschen mit Behinderung positiv und stärkend auswirken: Ich, als
Mensch mit Behinderung, bin gefragt, ich bin wichtig auch für andere Menschen. Dadurch
wird die Neugier auf die eigene Lebensgeschichte geweckt, Angehörige bzw. Mitarbeitende
können einen Menschen als Person mit eigener Lebenserfahrung sehen. Hier ist Sensibilität
gefragt und hierbei können die Angehörigen sehr viel einbringen, denn sie sind die vertrau­
testen Personen seit der Geburt.
Biografiearbeit sollte mit Angehörigenarbeit verknüpft sein, denn die Angehörigen können
wesentliche Beiträge zur biografischen Arbeit leisten, sofern sie engen Kontakt pflegen. Sie
sind die Personen, die wertvolle Hinweise zur Lebensgeschichte und zu Entwicklungsprozes­
sen geben können. Gerade bei Menschen, die sich nicht selbst durch Sprache artikulieren
können, können Angehörige wichtige Hilfestellungen geben. Versterben Angehörige oder
sind aufgrund großer räumlicher Entfernungen nicht verfügbar, drohen wichtige Elemente der
Lebensgeschichte eines Menschen für immer verloren zu gehen bzw. lassen sich mitunter
nur sehr schwer rekonstruieren.
Mit Hilfe von Materialien wie Fotos, Zeichnungen, Kinderspielzeug oder methodischen Her­
angehensweisen wie musikalische Zeitreise usw. besteht die Möglichkeit der Anknüpfung an
früher, an das Elternhaus oder an vertraute Personen herzustellen. Oftmals können nur An­
gehörige Erkenntnisse zu wichtigen Fragen liefern wie z. B.:
• Wo hat er / sie früher gelebt?
• Was hat er / sie früher gern gegessen?
• Welche Vorlieben und Abneigungen hatte er/sie?
• Was hat er / sie als Kind gern gespielt?
• Was waren die Hoffnungen und Träume seiner / ihrer Jugend?
• Was ist aus ihnen geworden?
• Welche besonderen erfreulichen Erlebnisse oder Begegnungen hatte er / sie?
• Welche traurigen Erlebnisse hatte er / sie? Vielleicht möchte er / sie heute nicht mehr
daran erinnert werden.
Zudem können Angehörige Dinge aus früheren Zeiten wie Fotos oder für eine Person wichti­
ge Gegenstände zur Verfügung stellen und dadurch helfen, die eigene Lebensgeschichte er­
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fahrbar und lebendig zu machen. So können Angehörige einen wichtigen Beitrag leisten, den
Schatz der verschütteten Erinnerungen für den betroffenen Menschen mit Behinderung zu
bergen und zu sichern.
Angehörige können auch für sich selbst einen Nutzen aus der Biografiearbeit ziehen. Ihnen
bietet sich dadurch die Möglichkeit, Dinge aus der Perspektive ihres Angehörigen mit Behin­
derung zu erfahren, seine Sicht auf die eigene Lebensgeschichte gezielt kennenzulernen
und dadurch Situationen und Erlebtes besser einzuordnen. Im Alltag mit einem Kind oder er­
wachsenen Angehörigen mit Behinderung bleibt oftmals zu wenig Raum für eine entspre­
chende Auseinandersetzung. So kann die Biografiearbeit mit einem Menschen mit Behinde­
rung auch einen Beitrag zur eigenen Biografiearbeit seiner Angehörigen leisten.
3. Biografiearbeit – Wie?
3.1
Rahmenbedingungen
Zeit/ Rahmen/ Privatheit
Die Biografiearbeit bedarf einer guten Vorbereitung, Absprache und Kommunikation. Die am
Prozess beteiligten Personen sind thematisch einzubeziehen und auf diese Methode vorzu­
bereiten. Biografiearbeit ist ein fortlaufender Prozess, der nie beendet ist und genügend
Raum (Zeit) benötigt. Die Gesprächspartner sollten sich eine störungsfreie Zeit festlegen, die
Zeit begrenzen (Überforderung vermeiden) und einige Fragestellungen zuvor festgesetzt ha­
ben. Externe Räume sind ebenfalls denkbar, um genügend Ruhe für das Gespräch zu ha­
ben.
Das Gespräch findet unter Ausschluss anderer Personen statt, wenn es sich um ein individu­
elles Angebot handelt.
Gesprächsführung
Die betroffene Person bestimmt, mit wem er über seine persönlichen Ereignisse sprechen
möchte. Die gewählte Person ist zum Datenschutz verpflichtet, es sei denn, der Klient stimmt
einer Weitergabe von Informationen zu.
Der betroffenen Person muss es gestattet sein, auch andere externe Anbietern (VHS, Bil­
dungswerke…), Mitarbeitende anderer Fachbereiche und Einrichtungen sowie Vertrauens­
personen wie Angehörige, Freunde und Bekannte als Gesprächspartner wählen zu können.
Vorgehen
Biografiearbeit kann auf Wunsch der betroffen Person als individuelles oder Gruppenangebot
vorgehalten werden.
Die Gesprächspartner müssen über eine empathische Kommunikationskultur verfügen, gute
Zuhörer sein und Gesagtes reflektieren können. Das Gespräch ist stets wertfrei zu führen.
Gespräche sind vorzubereiten, müssen aber trotzdem Spielraum für eine Eigendynamik er­
möglichen. Gesprächsleiter müssen in der Lage sein, mit unerwarteten Situationen (Weinen,
Schreien, Wutausbrüche) umzugehen und hilfreiche Lösungen anzubieten.
Schriftliche Aufzeichnungen sind der betroffenen Person vorzulesen und die Wiedergabe soll
von ihr als richtig bestätigt werden.
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3.2
Methodische Hinweise
In der Fachliteratur findet sich eine Fülle an Texten und Materialien zur Biografiearbeit im All­
gemeinen, aber auch in Abwandlung für die Biografiearbeit mit Menschen mit Behinderung.
Deshalb soll in dieser Handreichung das Rad nicht neu erfunden werden, wohl aber soll ein
Überblick über praxiserprobte Methoden gegeben werden. Grundlage für diesen Abschnitt
bilden die im Praxisbuch von Christian Lindmeier mit dem Titel „Biografiearbeit mit geistig be­
hinderten Menschen“ (S. 133 ff) vorgestellten Methoden.
Zu unterscheiden ist zwischen Methoden zur Arbeit mit einzelnen Menschen, in Kleingrup­
pen von bis zu vier Personen oder in größeren Gruppen von bis zu zwölf Personen. Vorab ist
zu klären, ob durch die Biografiearbeit Erinnerungen geweckt oder bewahrt werden sollen.
Im Folgenden sind methodische Beispiele genannt, die nach der jeweiligen Situation ausge­
wählt und angewendet werden können
Methoden zum Wecken von Erinnerungen
• In Einzelarbeit können persönliche Briefe einer Person vorgelesen oder gemeinsam gele­
sen werden und anschließend die damit zusammenhängenden Erinnerungen bespro­
chen werden.
• Die Methode Leben aufräumen findet in Einzelarbeit in den Privaträumen einer Person
statt, durch das gemeinsame Aufräumen und neu Platzieren von Gegenständen in den
Privaträumen werden Gesprächsanstöße gegeben.
• Zum Einstieg in eine Gruppenarbeitsphase nennen die Teilnehmenden ihre Namen und
erzählen Geschichten aus ihrem Leben mit Bezug zu ihrem Namen.
• Die Einstiegsmethode Alte Lieder zielt darauf, mit Einzelnen oder in einer Gruppe über
das Hören bzw. Singen von Liedern Erinnerungen zu wecken.
• In der Gruppe können mit Assoziationssignalen, also Gegenständen, die sinnlich erfahr­
bar sind, Erinnerungen geweckt werden.
• Durch das Betrachten von Bildbänden von Regionen, die den Teilnehmenden bekannt
sind, kann in der Kleingruppe herausgefunden werden, was den Teilnehmenden zu den
Bildern einfällt.
• Beim biografischen Brettspiel ziehen die Teilnehmenden einer Kleingruppe Figuren auf
einem Weg mit farbigen oder nummerierten Feldern und beantworten Fragen auf ent­
sprechen zugeordneten Fragekarten.
• Zum Einstieg in eine Gruppeneinheit bringen die Teilnehmenden Erinnerungsstücke mit
und erzählen sich gegenseitig Geschichten, die sie damit verbinden.
• Die eigene Esskultur liefert wichtige Hinweise auf die Biografie: In der Kleingruppe wird
über Lieblingsspeisen gesprochen, die Zutaten werden gemeinsam eingekauft und zube­
reitet, beim Essen wird über die damit verbundenen Erinnerungen gesprochen.
• Beim Leben feiern werden in der Gruppe Feste und Jahrestage besprochen, durchge­
spielt und gefeiert.
• Auf Lebenskarten sind Fragen zu einzelnen Lebensabschnitten formuliert. Nacheinander
ziehen die Gruppenmitglieder die Karten und beantworten die Fragen reihum.
• Anhand von Stationskarten erinnern sich die Teilnehmenden an ihren Lebensweg und er­
zählen von damit zusammenhängenden Ereignissen. Dies wird dann bildlich in Form ei­
nes Weges dargestellt. Diese Methode eignet sich auch zum Bewahren von Erinnerun­
gen.
• Beim Aufsuchen von Orten aus der Vergangenheit werden dazugehörige Erinnerungen
geweckt und besprochen.
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•
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Situationen, die von (Familien-)Ritualen der Teilnehmenden geprägt sind, werden aufge­
griffen, nachgespielt und besprochen.
In Rollenspielen können Alltagssituationen zur Anregung von Erinnerungsprozessen oder
als Verbalisierungshilfe gespielt werden.
Bei der Textarbeit werden in der Gruppe Texte gesammelt und gelesen. Anschließend
findet ein Austausch über die Anlässe statt, bei denen die Texte den Teilnehmenden zum
ersten Mal begegnet sind.
Beim Vergleichen wird unter Zuhilfenahme von Fragen das Vergangene mit der Gegen­
wart verglichen. Ergebnisse können auf Plakaten festgehalten werden.
Durch die Analyse aktueller und alter Zeitungen kann der Außenweltbezug der Teilneh­
menden erfasst und unterstützt werden.
Methoden zum Bewahren von Erinnerungen
• Durch die Erstellung eines Archivs können in Einzelarbeit oder in der Kleingruppe Erinne­
rungsstücke gesichtet, gesammelt und an einem besondern, für die betreffende Person
zugänglichen Platz aufbewahrt werden.
• Auf Gefühls- Arbeitsblättern oder mithilfe von Gefühlskarten können die Teilnehmenden
in Einzel- oder Kleingruppenarbeit schriftlich oder in Form von Zeichnungen/Bildern Ge­
fühle darstellen, die sie während einer bestimmten Lebensphase hatten.
• Als in der Gegenwart verankerte Methode wird ein Tagebuch in Einzelarbeit verfasst un­
ter Hilfestellung oder der Übernahme des Schreibens bei fehlender Schreibfähigkeit.
• Auf Lebens-Arbeitsblättern beantworten die Teilnehmenden Fragen zu ihrem Leben
schriftlich, in Zeichnungen oder Collagen. Während der Erstellung können sie darüber er­
zählen und das Ergebnis nach Fertigstellung präsentieren.
• Durch Malen & Collagen können Empfindungen zu einzelnen Lebensstationen bildlich
dargestellt und zu einem Gesamtbild zusammengefügt werden.
• Die Teilnehmenden erstellen mithilfe von Fotos oder Zeichnungen einen Familienstamm­
baum und erzählen über ihre Familie.
• Bei der Wohnbiografie erzählen die Teilnehmenden, wo sie bereits gelebt haben. Dies
wird mit Fotos, Zeichnungen etc. auf einem Plakat festgehalten.
4. Quellen und weiterführende Literatur
Gudjons, Herbert et al (2008): Auf meinen Spuren. Übungen zur Biografiearbeit. Bad Heilbrunn
Latschar, Birgit; Wiemann, Irmela (2011): Mädchen und Jungen entdecken ihre Geschichte. Weinheim
Lindmeier, Christian (2006): Biografiearbeit mit geistig behinderten Menschen. Ein Praxisbuch für Ein­
zel- und Gruppenarbeit. Weinheim
Mendi, Jasmin (2009): Die biographisch-strukturale Fallrekonstruktion am Beispiel psychischer Erkran­
kung. Göttingen
Miethe, Ingrid (2011): Biografiearbeit. Lehr- und Handbuch für Studium und Praxis. Weinheim
Ruhe, Hans Georg (2007): Methoden der Biografiearbeit. Lebensspuren entdecken und verstehen.
Weinheim
Ryan, Tony (2004): Wo gehöre ich hin? Biografiearbeit mit Kindern und Jugendlichen. Weinheim
Stuhlmann, Wilhelm (2011): Demenz braucht Bindung. Wie man Biografiearbeit in der Altenpflege ein ­
setzt. München
Zeitschrift „Seelenpflege in Heilpädagogik und Sozialtherapie“ (2012): Lebensstufen, Biografiearbeit,
Zukunftskonferenz, biografischer Mythos. Jahrgang 31 Heft 1
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