Einige Anmerkungen zur Aktualität der

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Einige Anmerkungen zur Aktualität der
Jürg Frick
Einige Anmerkungen zur Aktualität der Individualpsychologie
Vortrag zum 60. Geburtstag der Schweizerischen Gesellschaft für Individualpsychologie nach
Alfred Adler (SGIPA) in Zürich, 6.6.2009
Zusammenfassung
Nach einer Auflistung von wichtig und aktuell erscheinenden Themen und Konzepten der Individualpsychologie greift
der Autor im ersten Teil einige Schwerpunkte (Menschenbild und Gemeinschaftsgefühl, Beziehungspsychologie,
Verwöhnung, Geschwister, Ermutigung und Entmutigung, Lebensstil, Finalität, Kompensation, Neuroplastizität,
Machtstreben, Lebensaufgaben) heraus, zeigt ihre Bedeutung für die Gegenwart und macht an einigen Punkten
Vorschläge für die Weiterentwicklung der individualpsychologischen Konzepte.
Schlagwörter: Menschenbild und Gemeinschaftsgefühl, Beziehungspsychologie, Verwöhnung, Geschwister,
Ermutigung und Entmutigung, Lebensstil, Finalität, Kompensation, Neuroplastizität, Machtstreben, Lebensaufgaben.
Inhalt
1. Kurzer Einstieg: Grußwort
2. Warum und wo ist die Individualpsychologie auch heute aktuell?
Einige Themen, Konzepte, Erkenntnisse, Leistungen und Fragestellungen
3. Schlussbemerkung
1. Kurzer Einstieg: Grußwort
Ich freue mich, Ihnen aus meiner Sicht als individualpsychologisch orientierter Hochschuldozent
(Pädagogische Hochschule Zürich) und psychologischer Berater (ebd.) meine Grüsse zum
Geburtstag (exakt: 11.11.1948) der SGIPA überbringen zu dürfen. Die Individualpsychologie ist
in der Schweiz ins reife 61. Altersjahr gekommen – und soll weiterleben! Warum und mit
welchen möglichen Themen – das soll gleich anschließend näher referiert werden.
2. Warum und wo ist die Individualpsychologie auch heute aktuell?
Einige Themen, Konzepte, Erkenntnisse, Leistungen und Fragestellungen
Beim Durchlesen der 1999-er Broschüre der SGIPA zur «Individualpsychologischen Identität»
bin ich auf Ausführungen von A. Bruder-Bezzel (1999, S. 7) gestoßen, von denen ich einen
Abschnitt herausgreifen möchte. Sie meinte damals: «Alle Grundbegriffe oder Grundkonzepte
Adlers oder auch manche einzelne Gedanken halte ich für wertvoll und für wesentlich, auch für
jede Arbeit mit Menschen, in Beratung, Erziehung oder Therapie. Als solches müssen sie
aufrechterhalten und ausgearbeitet werden.» Diese Aussage gilt aus meiner Sicht heute, 2009,
für die Individualpsychologie genauso. Viele Annahmen der Individualpsychologie hält BruderBezzel im weiteren aber für problematisch, zu wenig differenziert. Ich möchte mich hier im
Rahmen der vorgegebenen Zeit vor allem auf die – aus meiner persönlichen Sicht – positiven
Aspekte beschränken und das möglichst konkret und verständlich skizzieren.
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Die Individualpsychologie hat aus meiner Perspektive wesentliche Themen und Fragestellungen
aufgeworfen bzw. wichtige Vorleistungen und Leistungen erbracht und bedeutsame
Erkenntnisse entwickelt, von denen ich einige wenige nennen möchte – die Auswahl und
Gewichtung ist meine ganz persönliche. Auf diese kleine Auswahl davon werde ich dann
anschließend kurz eingehen. Nun zu meiner Auflistung. Sie umfasst:
- Menschenbild und Gemeinschaftsgefühl (2.1)
- Beziehungspsychologie, Ermutigung und Wirkfaktoren in Beratung und Therapie (2.2)
- Verwöhnung (2.3)
- Geschwister (2.4)
- Ermutigung und Entmutigung (2.5)
- Lebensstil und Finalität (2.6)
- Kompensation und Neuroplastizität (2.7)
- Geltung und Machtstreben (2.8)
- Lebensaufgaben oder Herausforderungen des Lebens (2.9)
2.1 Menschenbild und Gemeinschaftsgefühl
Als AdlerianerInnen gehen Sie von einem grundsätzlich positiven Menschenbild aus. Der AdlerSchüler Sperber (1971, S. 101) meinte einmal: «Adlers Optimismus war also nicht so sehr durch
das begründet, was der Mensch ist, sondern was er werden, was er sein könnte.»
Während Freud den Menschen als triebgesteuertes, voller Aggressionen steckendes, teilweise
irrationales Wesen betrachtete (Frick 1987) und letztlich auch eine pessimistische Kulturanalyse
zeichnete, sieht die Individualpsychologie in Übereinstimmung mit der heutigen
Gesundheitspsychologie (Schwartz et al. 2003), der positiven Psychologie (Seligman 1999,
2007, Auhagen 2004), der Intelligenzpsychologie (Goleman 1996, 2006), der Entwicklungs- und
Bindungspsychologie (Oerter/Montada 2002, Grossmann & Grossmann 2004), der
Vertrauenspsychologie (Schweer/Thies 2004) und der Neurobiologie (Bauer 2005, 2006) den
Menschen als grundsätzlich offenes, soziales, beziehungsorientiertes, entwicklungsfähiges und
veränderbares Wesen, das durch entsprechende Rahmenbedingungen zu einem sozialen,
kooperativen und nützlichen Wesen heranwachsen kann (nicht muss, wie auch die heutige Welt
an vielen Orten leider zur Genüge zeigt!), zudem auch umlernen kann. Der englische
Soziobiologe Ridley spricht sogar von einer «instinktiven Kooperationsbereitschaft» (Ridley
1997, S. 340) und gemäss der Selbstbestimmungstheorie von Deci & Ryan (1993) haben
Menschen drei angeborene psychologische Bedürfnisse: nach sozialer Eingebundenheit, nach
Kompetenz und nach Autonomie. Das kommt bei der Individualpsychologie u.a. im
vieldiskutierten, manchmal missverstandenen, teilweise auch unklaren, widersprüchlichen und
mit unterschiedlichen Bedeutungen überfrachteten Begriff «Gemeinschaftsgefühl» zum
Ausdruck: aus zeitlichen Gründen kann ich auf diesen Begriff hier nicht näher eingehen. E. Kern
hat dazu schon 1996 dazu einen wichtigen Beitrag in seinem Vortrag am IVIP-Kongress in
Oxford geleistet, der es verdienen würde, in diesem Kreis aufgegriffen zu werden: In seinem
Tetraeder-Modell umfasst das Gemeinschaftsgefühl das Zugehörigkeits-, das Selbstwert-, das
Verantwortungs- und das Gleichwertigkeitsgefühl – ich würde gerne noch das Beitragsgefühl
hinzufügen. Wir wissen heute – Jahre nach Adler – noch klarer und mit vielen empirischen
Studien bestätigt: Wer Menschen helfen, sie zu einem günstigeren Verhalten ermutigen möchte,
aber auch wer von angebotener Hilfe profitieren will, fährt besser, wenn er oder sie von einem
positiven Menschenbild ausgeht. Damit meine ich nicht einen naiven Optimismus, der die
Schattenseiten von Menschen ausblendet, treffend sprechen Scheier und Carver (1987) deshalb
von einem «dispositionalen» Optimismus – man könnte auch von realistischem Optimismus
ausgehen. Gelebtes Gemeinschaftsgefühl beispielsweise in der Form adäquaten Helfens fördert
die eigene psychische wie körperliche Gesundheit (Schwartz et al. 2003). Unser Gehirn
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produziert morphinähnliche Substanzen (Endorphine), die beim Helfen nicht nur schmerztötend
wirken, sondern auch starke Gefühle des Wohlbefindens, ja der Euphorie auslösen (Luks/Payne
1998). Optimismus und Zuwendung fördern tendenziell die Gesundheit. Umgekehrt gilt auch:
Feindselige Gefühle und gefühlte Einsamkeit erhöhen die Anfälligkeit für Herzerkrankungen
sowie Herzattacken. Gefühlte Einsamkeit, also ein Gefühl, nicht mit Menschen verbunden zu
sein, gilt heute als enormer Risikofaktor, nicht nur im Altersbereich. Aber Achtung: Wer erkrankt
verfügt deshalb nicht automatisch über ein schlechtes Menschenbild und Krebs lässt sich auch
nicht mit Optimismus und einer positiven Einstellung heilen! Allerdings ist letzteres hilfreich
beim Umgang mit Krankheiten. Nach langjährigen Untersuchungen kommt Seligman (2007) zum
interessanten Schluss, dass Pessimisten mit einer rund achtmal höheren Wahrscheinlichkeit
depressiv werden, wenn negative Ereignisse eintreffen; zudem ist ihre körperliche Gesundheit
weniger gut und die Beziehungen zu anderen Menschen sind brüchiger.
Die Betonung des Menschenbildes scheint mir auch angesichts der heutigen gesellschaftlichkulturellen Situation von Bedeutung zu sein: vielen Leuten ist der Optimismus der 68-er Jahre
abhanden gekommen, sie sind pessimistisch bis gar zynisch geworden. Die heutigen Medien
präsentieren uns leider vorwiegend Negativmeldungen und mehr als fragwürdige Vorbilder.
Kulturpessimismus und Resignation sind en vogue, bestimmen den Mainstream, für die
individuell-persönliche wie die Entwicklung der Menschheit als Ganzes sind sie aber gefährlich,
wirken lähmend. Schwerwiegende Missstände und Ungerechtigkeiten der heutigen Welt lassen
sich nur mit Tatendrang, nicht mit Weltuntergangsgefühlen oder dem Beklagen des angeblich
völlig lernunfähigen oder schlechten Menschen angehen.
Individualpsychologisch orientierte Fachleute für Beratung, Therapie, Spielgruppen,
Alterspflege, Schule usw. gehen von einem tendenziell positiven Menschenbild, von einer
optimistischen Grundhaltung aus – und sie sehen im Gegenüber einen gleichwertigen,
mündigen Menschen, dem sie mit Respekt begegnen! Was heißt das alles etwas konkreter?
Dazu einige Punkte:
• In vermutlich jedem Menschen steckt neben problematischen Anteilen ein guter Kern oder
er verfügt zumindest in Teilbereichen über positive Seiten, unterstützenswerte Potentiale
usw. Rogers (1977) spricht – so lautet sogar einer seiner Buchtitel – von der Kraft des
Guten.
• Kein Mensch möchte grundlos, einfach so, „böse”, gemein usw. sein oder ist es einfach so,
quasi aus purer Freude oder von Natur aus: Dahinter steckt eine Geschichte, lassen sich
Erfahrungen, Gründe (nicht Entschuldigungen oder bequeme Rechtfertigungen!), irrtümliche
Ziele identifizieren.
• Die meisten (nicht alle!) zwischenmenschlichen Probleme haben mit unangemessenen,
«verzerrten», einseitigen Wahrnehmungen («tendenziöse Apperzeption») bzw.
Vorstellungen («Irrtümer»), Haltungen («Lebensstil») und Handlungsweisen («Lebensstil»)
ihrer TrägerInnen zu tun – und schaden diesen häufig selber am meisten. Das Aufzeigen
dieser Zusammenhänge stellt eine wichtige Aufgabe jeder Beratung dar – und hätte auch
eine enorme gesellschaftspolitische Bedeutung!
• Viele (nicht alle) Schwierigkeiten, die ihren Ursprung in früheren und aktuelleren
Lebenserfahrungen haben, lassen sich unter günstigen Umständen in einer neuen, auf
Vertrauen und gegenseitigen Achtung begründeten Beziehung verändern; d.h. Menschen
sind unter bestimmten Voraussetzungen erstaunlich entwicklungsfähig; Mängel lassen sich
kompensieren, Irrtümer erkennen, Haltungen verändern. Man könnte
individualpsychologisch diese Grundhaltung deshalb als entwicklungsorientiert bezeichnen
im Sinne des Vertrauens in die Entwicklungspotentiale des Menschen. Die meisten
tiefgreifenden Veränderungen benötigen allerdings Zeit.
• Verfestigte Angst und «Entmutigung» (Adler 1973b), negative bzw. adlerianisch und
moderner ausgesprochen «trennende Affekte» des Grolls, Ressentiments usw. sind
meistens Reaktionen auf Erfahrungen und persönliche Verarbeitungsmodi von Zwang,
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Gewalt, Demütigung und werden zu wesentlichen Kräften für destruktives, selbst- oder
fremdschädigendes menschliches Verhalten.
Menschen sind in der Regel bereit, sich zu verändern, wenn sie Möglichkeiten dazu sehen,
Unterstützung erhalten und genügend Mut entwickeln. Die Individualpsychologie ist also
auch eine Psychologie des Muts!
Menschen sind im individualpsychologischen Konzept Wesen, die von ihren Möglichkeiten
her potenziell die Fähigkeiten des Denkens, des Reflektierens, des Entscheidens, des
Fühlens, des Sprechens und des Handelns besitzen. Sie sind Erkenntnis suchende,
mündige und aktive Wesen. Sie sind zudem, wie es Adler (Adler 1931, 1933) und später
auch Frankl ausdrücken, sinnsuchend und sinnschaffend. Die Sinnfrage nimmt heute ja
sowohl in der Gesundheitspsychologie – Stichwort: Salutogenese (Antonovsky 1997) –,
oder auch in der Philosophie der Lebenskunst (Schmid 2004) nicht zufällig eine prominente
Stellung ein.
Man könnte sozusagen eine ergänzende individualpsychologische „4-M-Regel oder –
Formel“ einführen: Man muss Menschen mögen – eben gleichfalls mit ihren Macken und
Eigenheiten! Rogers (1973, S. 47), der ja einiges von Adler gelernt hat, schreibt dazu: „Die
Sicherheit, als Mensch gemocht und geschätzt zu werden, ist anscheinend ein höchst
wirkungsvolles Element einer hilfreichen Beziehung.“ Es geht darum, eine warme, positive
und akzeptierende Einstellung zum Gegenüber einzunehmen – aber nicht zu all seinen
Handlungsweisen! Die Individualpsychologie bringt hier zu Recht das Kriterium der sozialen
Bezogenheit, der Gemeinschaftlichkeit ins Spiel. Die Muss-Formulierung sollte übrigens
nicht als imperative, moralische Forderung, sondern vielmehr als Zielorientierung, als
Leitstern, verstanden werden! Und sie bedeutet überdies überhaupt nicht, dass die
beratende Person alle Äusserungen und Verhaltensweisen von Hilfesuchenden gutheissen
soll oder muss ...
Die Individualpsychologie ist in ihrem Selbstverständnis immer auch eine
ressourcenorientierte Psychologie: Sie fordert uns auf, Menschen zu unterstützen, ihre
ungenutzten Fähigkeiten, wenig entwickelte Potentiale oder Ressourcen zu entdecken und
zur Entfaltung zu bringen: Jeder Mensch bringt Ressourcen mit, und seien sie noch so
verschüttet, kaum erkennbar! Die Individualpsychologie weiss, dass der Mensch sehr vieles
lernen, umlernen sowie kompensieren kann. Die Basis dazu bildet eine vertrauensvolle,
gleichwertige Beziehung, in der sich beide Seiten – so wie sie sind – bejahen und
akzeptieren.
2.2 Individualpsychologie als Beziehungspsychologie
Die Individualpsychologie ist von ihrer zentralen Konzeption her eine Beziehungspsychologie:
So ist die Person oder Persönlichkeit des Beraters/der Beraterin sowohl für den Verlauf wie die
Effektivität des Beratungsprozesses – neben den entsprechenden fachlichen Kompetenzen –
von erheblicher Bedeutung wie auch der Prozess der Beziehungsbildung KlientBeratungsperson. Was ich hier am Beispiel der Beratung erläutere, gilt weitgehend auch in
anderen Bereichen (Pädagogik, Altersarbeit usw.). Einer der wichtigsten primären Wirkfaktoren
in einer Beratung und Therapie liegt in der Person (und den entsprechenden Eigenschaften
dieser Person) - weit vor den angewandten Techniken oder Methoden der Behandlung. Die
vertrauensvolle, tragende Arbeitsbeziehung zwischen Beratungsperson und Hilfesuchenden
stellt die Basis für jede erfolgreiche Zusammenarbeit dar. Die meisten beraterischen
Interventionen sind wahrscheinlich nur auf der Grundlage einer vertrauensvollen und stabilen
Beziehung möglich und setzen natürlich ein echtes Interesse auf der Expertenseite voraus (vgl.
Breitenbach/Requardt 2005). Auch Becker (1999) führt an erster Stelle seiner Liste der
wichtigsten therapeutischen Maxime den Satz auf: „Widme der Pflege (und vorher natürlich dem
Aufbau – J.F) der therapeutischen Beziehung höchste Aufmerksamkeit!“1 Man könnte deshalb
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ebenso von einer beziehungsorientierten Beratungsarbeit (Pearson 1997) sprechen. Dazu
gehört auch, dass die beratende Person die Beziehung auch so zu gestalten vermag, dass sich
Hilfesuchende ernst genommen fühlen. Auch hier werden Bezüge zum
individualpsychologischen Menschenbild deutlich. In der heute teilweise entmenschlichten,
bürokratisierten, zunehmend ökonomisch orientierten Fall- statt personenzentrierten Medizin
sehen wir häufig leider das Gegenteil.
Die Beziehung ist darum so wichtig, weil vor allem sie eine korrigierende Erfahrung der
Hilfesuchenden, den Mut für Lebensstiländerungen ermöglicht – die Beziehung stellt eine
wesentliche Ressource dar, welche die Selbsthilfebemühungen der Hilfesuchenden sehr
erleichtert, unterstützt und vermutlich erst ermöglicht (vgl. Tallmann/Bohart 2001). Aus der
Psychotherapieforschung kommt deshalb – wenig überraschend – die Forderung, besonders bei
Beginn einer Behandlung eine gute Beziehung zu etablieren: Erfolgreiche Therapie weisen, so
Smith & Grawe (2003), schon in den ersten vier Sitzungen eine gelungenere Therapiebeziehung
auf als weniger erfolgreiche Therapien.
In jeder psychologischen Beratung (und in jeder Psychotherapie) sind immer verschiedene
Faktoren für einen Erfolg oder Misserfolg verantwortlich oder besser beteiligt: So tragen die
hilfesuchende Person mit ihren individuellen Voraussetzungen und Bereitschaften sowie ihre
Hoffnungen und Erwartungen, das Umfeld, in dem diese Person eingebettet ist, die vorliegende
Problemstellung (z.B. der Schweregrad einer Depression), die hilfeleistende Person (BeraterIn
bzw. TherapeutIn) und ihre Beziehungsgestaltung sowie deren Modell- und
Behandlungstechniken zum günstigen oder eben ungünstigen Verlauf einer Behandlung bei.
Aus weltweiten Untersuchungen (Meta-Analysen) zu Wirkfaktoren in psychotherapeutischen
Behandlungen lassen sich aus den Forschungsergebnissen im Wesentlichen vier Wirkfaktoren
oder Einfluss-Bereiche zusammenfassen, sozusagen die „großen Vier“ (vgl. Hubble et al 2001),
die sich mit großer Wahrscheinlichkeit ebenso im Beratungskontext wiederfinden und natürlich
stark miteinander in Verbindung stehen. Die Gewichtung dieser Faktoren wird bei Hubble et al
(2001) mit 40% (1.), 30% (2.), 15% (3.) sowie 15% (4.) angegeben. Ob sich diese so exakten
Prozentanteile eindeutig zuordnen lassen, soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden; die
Bedeutung der Faktoren ist aber unbestritten. Es sind dies:
1. Die so genannten extratherapeutischen Faktoren
Hierzu zählen PatientInnen- oder KlientInnen-Merkmale wie persönliche Stärken (z.B. ein
günstiges Selbstwertgefühl, realistischer Optimismus, Offenheit, reflexive und aktive
Bewältigungsmuster) oder Schwächen, Schwere und Art der Störung oder Problemstellung,
Motivation, die Fähigkeit, sich auf Beziehungen einzulassen, Ich-Stärke, unterstützende oder
hemmende Elemente ihrer Umgebung (PartnerIn, Freunde, weitere Familienmitglieder,
Lehrpersonen), ihres Beziehungsumfeldes. Die Fähigkeiten und Ressourcen einer
hilfesuchenden Person zur Veränderung und Selbstheilung stellen den wirksamsten Faktor
innerhalb der Psychotherapie (und wohl auch in einer psychologischen Beratung) dar (vgl.
Tallmann/Bohart 2001). TherapeutInnen und Beratende fungieren so als Unterstützungssysteme
und RessourcenlieferantInnen und sind deshalb (zum Glück!) keine HeilerInnen oder
ErzeugerInnen von Lösungen. Im Gegenteil: Genau genommen muss ein wesentlicher Teil der
Arbeit von den Hilfesuchenden geleistet werden. Die beratende Person hilft, die Problemstellung
zu klären, traut dem Gegenüber etwas zu, fordert auch! Sie merken: Auch hier spielt die
angemessene Ermutigung eine zentrale Rolle.
2. Die Beziehungsfaktoren
Hier stehen Aspekte wie Empathie, Wärme, Akzeptanz, Wertschätzung, gegenseitige
Bestätigung und Ermutigung im Vordergrund. Die Beziehung – genauer: die von der
hilfesuchenden Person persönlich wahrgenommene Beziehung – zwischen TherapeutIn (oder
BeraterIn) und Hilfesuchender/m ist hier entscheidend. Welch primäre Bedeutung diese
wahrgenommene Beziehung für einen günstigen Therapie- oder Beratungsverlauf einnimmt,
belegen zahlreiche Befunde aus der Forschung, die sich wie folgt zusammenfassen lassen:
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„Gleichgültig, wie chronisch, widerspenstig oder ‚unmöglich’ ein Fall erscheinen mag, wenn die
Sicht der Beziehung durch die KlientIn günstig ausfällt, wird die (positive J.F.) Veränderung mit
grösserer Wahrscheinlichkeit zustande kommen.“ (Hubble et al. 2001, S. 297). Der
Beziehungsfaktor ist also wesentlicher als die Art und Schwere des vorliegenden Problems der
hilfesuchenden Person! Die Qualität der therapeutischen oder beraterischen Beziehung stellt
über verschiedenste Therapieansätze hinweg eine bedeutsame Determinante zur Erreichung
günstiger Ergebnisse dar: Das gilt mittlerweile als gesicherte Erkenntnis aus der umfangreichen
Therapieforschung (vgl. Bachelor/Horvath 2001).
3. Die Hoffnungs-, Erwartungs- und Placebofaktoren
Allein die Erwartung von Hilfe bewirkt häufig schon erste Veränderungen. In erfolgreichen
Beratungen/Therapien glauben sowohl Hilfesuchende wie BeraterInnen/TherapeutInnen an die
helfende oder heilende Kraft der Behandlungsformen. Diesen Faktor verstärken natürlich
Fachpersonen, die überzeugt sind, dass einige oder gar viele der vorliegenden Probleme
überwunden oder zumindest teilweise bewältigt werden können. Hier spielt das Menschenbild
der Beratungsperson, ihr Glaube an die Lernfähigkeit der Hilfesuchenden, wiederum eine
wichtige Rolle. Welch prominenten Beitrag die Beratungsperson dabei leisten kann, betonen
ferner Grawe-Gerber & Grawe (1999): Die Bedeutung des Erweckens einer positiven
Erwartungshaltung als entscheidende Ressource für erste Therapieerfolge sei eine zentrale
Aufgabe für Hilfeleistende. Es geht also hier darum, in Hilfesuchenden die realistische Hoffnung
zu wecken oder zu verstärken, dass die Angebote und Möglichkeiten, die eine beratende Person
in den gemeinsamen Prozess einbringt, ihnen helfen wird (oder kann), Veränderungen in ihrem
Leben herbeizuführen. Als IndividualpsychologInnen glauben Sie zu Recht an die Möglichkeit
und Fähigkeit des Menschen, sich verändern zu können: eine wichtige, für den Klienten
spürbare Haltung!
4. Die eigentlichen Techniken der/des Therapeuten/der Therapeutin bzw. der beratenden
Person
Damit sind die Annahmen, die Erklärungsansätze und Modelle für die Probleme der
Hilfesuchenden und die entsprechenden Strategien, Interventionen und Vorgehensweisen
gemeint, wie sie in unzähligen Varianten und Spielarten in psychotherapeutischen Schulen
gelernt werden.
2.3 Verwöhnung
Die Individualpsychologie hat als erste und bisher einzige psychologische Richtung oder Schule
dieses außerordentlich wichtige Probleme frühzeitig erkannt, aufgegriffen, beschrieben und in
der konkreten Anwendung (z.B. Erziehungsberatung, Einzelberatung, Elternbildung) bearbeitet.
Viele von Ihnen sind als individualpsychologische BeraterInnen oder TherapeutInnen, als
Lehrpersonen, SchulleiterInnen, BetreuerIn usw. aktiv engagiert und haben zu dieser Frage ein
Bewusstsein, das bei vielen Fachpersonen erst allmählich heranwächst. Blenden wir zurück: Ab
etwa 1930 bezeichnet Adler die Verwöhnung sogar als «schwersten und folgenreichsten
Erziehungsfehler» (Adler 1973a, S. 99). Ich teile zwar diese etwas gar zu einseitig-radikale
Einschätzung nicht, denn wir sollten die nach wie vor ebenso existierende autoritäre Erziehung
in Theorie und Praxis weiterhin nicht unterschätzen und uns zudem vor neokonservativen
AutorInnen, die wieder für Härte und Unterordnung plädieren (Beispiel: Buob 2006) in Acht
nehmen. Die Individualpsychologie hat z.B. mit wie Dreikurs 1964/1990, Rattner 1968, Oehler
1977, Brandl 1977, Rüedi 1995 u.a. immer wieder die Verwöhnungsthematik aufgegriffen, bis
dann später (endlich!) auch der Individualpsychologie fernere AutorInnen und Fachleute darauf
aufmerksam wurden. Heute besteht bei vielen Menschen – auch dank der Individualpsychologie
– ein erhöhtes Bewusstsein über die verheerenden Folgen einer verwöhnenden Erziehung. Ich
erlebe das selber in Fortbildungsveranstaltungen für Eltern und Lehrpersonen zu diesem Thema
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immer wieder.
Übrigens: Das Gegenteil von Verwöhnung heißt nicht autoritäres Verhalten! Und: Nebenbei
bemerkt finden wir totalitär-autoritäre Tendenzen auch in der Heilslehre eines Bert Hellinger (vgl.
Goldner 2003). Die Individualpsychologie hat aus meiner Sicht die Aufgabe, ihr Wissen über das
Themenfeld Verwöhnung weiter zu verbreiten und gleichzeitig autoritären, simplifizierenden
Tendenzen mit Entschiedenheit entgegenzutreten. Der Erziehungsansatz der
Individualpsychologie findet in der heutigen Erziehungswissenschaft unter dem Begriff
«autoritative Erziehung» eine breite, auch empirisch abgestützte Bestätigung (vgl. Fuhrer 2007).
Die weltweite Finanzkrise hat im Übrigen eindrücklich gezeigt, wie verzogene, unersättliche
Manager völlig unangebrachte «Abfindungssummen» - genauer: 198 Millionen Dollar! – trotz
miserabler Leistungen als selbstverständlich betrachten (Fall McKinell bei der Firma Pfizer,
2006) oder andere (Fall Vasella, Firma Novartis) eine Diskussion über Managerlöhne in einem
Interview 2009 eine Frechheit und unverständlich finden! Vasella verdiente im Jahr 2008 643Mal mehr als die Mitarbeitenden seiner Firma in der tiefsten Lohnklasse (34,75 Millionen vs.
54'000 Franken). Maßloses Fordern und keine Verantwortung für das eigene Verhalten
übernehmen: Was in der Erziehung nun doch als Problem erkannt wird, gilt langsam aber sicher
ebenso in der Wirtschaft zunehmend als unangebracht.
2.4 Geschwister
In vielen psychologischen Schulen wird dem bedeutsamen Einflussfaktor Geschwister leider bis
heute immer noch zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet, wie ich selber bei Recherchen für mein
Buch über Geschwister feststellen musste (Frick 2004). Geschwisterbeziehungen sind
Primärbeziehungen wie die Eltern-Kind-Beziehung! Die persönliche subjektive Wahrnehmung
und Verarbeitung der eigenen Geschwisterkonstellation und ihre Auswirkungen auf
Beziehungsmuster, Erlebnismuster, Denkmuster, die Lebensstilbildung, Berufswahl, Partnerwahl
usw. sind für das Verständnis der Entwicklung wie für die Unterstützung eines Menschen, sei es
im Lehrberuf, in der Beratung oder der Altersarbeit von nicht zu unterschätzender Bedeutung.
Adler (1927) und seine SchülerInnen haben auf diesen wichtigen persönlichkeitsbildenden
Faktor schon außerordentlich früh hingewiesen, auch wenn einige Aussagen Adlers zu
Geschwisterpositionen aus heutiger Sicht zu pauschalisierend, plakativ und moralisierend
ausgefallen sind. Wer den Faktor Geschwister in seiner Arbeit nicht berücksichtigt, wird in
helfenden Berufen Menschen zu wenig gerecht! Auch diese Erkenntnis stellt ein wichtiges und
bleibendes Verdienst der Individualpsychologie dar. Dazu zwei kurze Beispiele aus meiner
Dozenten- und Beratungspraxis. Im ersten Beispiel erkennen wir Adlers «Organsprache», heute
sprechen wir von somatoformen Störungen im Zusammenhang mit der Geschwistereifersucht.
„Organsprache“ (Fall einer Studentin)
Sarah hatte nach der Geburt ihrer kleinen Schwester verschiedene Formen von psychosomatischen
Reaktionen in Form von „Organsprachen“ entwickelt: So zeigte sie einige Zeit eine Gesichtslähmung – die
verschiedentlich herbeigezogenen Ärzte fanden trotz intensiver Untersuchung keine medizinische
Begründung dafür. Nach dem abrupten Verschwinden der Gesichtslähmung klagte Sarah dann über
Kopfschmerzen, im Vorschulalter konnte sie plötzlich nicht mehr auf dem rechten Fuß stehen. Erst als sie
sich in ihrer Rolle als Geschwisterkind in der Familie sicherer wurde, blieb Sarah ‚beschwerdefrei’. Die
körperlichen Symptome sollten wohl die Aufmerksamkeit der Eltern auf die Not und Angst des Mädchens
richten.
Im zweiten Beispiel war ich im Rahmen einer Beratung mit einer erfahrenden Lehrerin
konfrontiert:
Beispiel aus der Beratung: Die Kollegin als jüngere Schwester
Frau Rom, eine stämmige und kräftige Frau teilt ihre Stelle als langjährige Grundschullehrerin seit zwei
Jahren mit einer jüngeren Kollegin. Beide arbeiten mit der gemeinsamen Klasse je 50 %. Der Anlass für
die Beratung ist der folgende: Frau Rom fühlt sich von ihrer Kollegin völlig dominiert und unterdrückt.
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Diese würde ihr jeweils am Anfang eines neuen Schuljahres einfach die Stunden und Fächer zuteilen –
und sie müsse dann in den sauren Apfel beißen und sich fügen. Möglichkeiten, das vorher in Ruhe zu
besprechen und auch eigene Wünsche klar einzubringen, sieht sie nicht, wehrt meine diesbezüglichen
Ideen vehement ab. Das sei unmöglich, mit der Kollegin könne man nicht reden, die diktiere und sie
müsse dann halt gehorchen! Warum das denn so bleiben müsse, frage ich sie. Frau Rom beginnt wie ein
kleines Kind zu weinen und meint, das sei unmöglich, sie sei der einfach nicht gewachsen, sobald die
rede, fühle sie sich klein und alle eigenen Argumente seien wie ausgelöscht. Im Laufe der weiteren
Gespräche thematisieren wir u.a. auch ihren familiären und geschwisterlichen Hintergrund, wobei
herauskommt, dass sich Frau Rom gegenüber der Kollegin in der Schule fast identisch wie gegenüber der
jüngeren Schwester fühlt: auch im Kontakt mit der jüngeren Schwester fühlte sie sich in Konflikten
ausgeliefert, hilflos, sie verlor die Übersicht, rang vergeblich mit Worten, verlor die Fähigkeit, klar zu
denken. Nach mehreren Gesprächen erkennt Frau Rom hier einige Parallelen ihrer Gefühle, Denkmuster
und Verhaltensweisen. Schließlich wehrt sie meinen Vorschlag nicht mehr rundweg ab, mit der
Stellenpartnerin die Neuaufteilung der Stunden im Semester zur Sprache zu bringen, obwohl sie große
Bedenken hat. Im nächsten Gespräch zeigt sich eine überraschende Wende: Entgegen der Ängste von
Frau Rom hat die Kollegin ihren Vorschlag, die Stunden neu aufzuteilen, überhaupt nicht abgelehnt! Das
könne man durchaus ändern, ihre wäre das auch recht, dann könne sie einmal andere Fächer
unterrichten und das gäbe für sie Abwechslung. Frau Rom ist immer noch etwas überrumpelt von diesem
gänzlich unerwarteten Verlauf! Im weiteren gemeinsamen Gespräch erkennt sie die bisher unerkannt und
ungelöste Schwesterthematik, die sie so ins Berufsfeld mitgenommen hat. Sechs Monate später nimmt
die Geschichte eine zusätzliche unerwartete Wende: Die Schulbehörde kündigt der jüngeren Kollegin
wegen schweren Führungsmängeln und bittet Frau Rom als kompetente Lehrperson, vorübergehend alle
Stunden zu erteilen. Für Frau Rom erneut eine Überraschung, hat sie die Kollegin doch bisher als
unfehlbar und stark auch in der Schule wahrgenommen. Ihre eigene langjährige Erfahrung und
Kompetenz sind ihr dabei völlig aus dem Blickfeld geraten.
Beide Beispiele zeigen: Wer die Geschwisterthematik nicht in die Analyse seiner Arbeit
miteinbezieht, übersieht u.U. einen wichtigen Problemfaktor. Das passiert außerhalb der
Individualpsychologie leider immer noch häufig.
2.5 Ermutigung und Entmutigung
Für mich sind diese beiden Begriffe aus der Individualpsychologie besonders zentral, ja
elementar – und sie sind wohl besonders wertvolle Kernstücke oder Perlen der Adlerschen
Lehre und Praxis. Keine andere psychologische Richtung hat sich so ausgiebig und differenziert
mit der Bedeutung, den Hintergründen, den Möglichkeiten, den Formen, der Begründung, aber
auch den Hindernissen und Klippen von Ermutigung gewidmet. «Ermutigung macht den
Schwachen stärker, den Kranken gesünder, den Zweifelnden sicherer, den Ängstlichen
mutiger», schrieb der Individualpsychologe Schoenaker (1996, S. 9) einmal treffend. Das
Gegenstück, die Entmutigung, wurde später von vielen anderen Autorinnen, so etwa von
kognitiven Psychologen wie Ellis (1993) studiert und zu einem Kernelement ihrer
Psychopathologie gemacht. Das wird etwa in Ellis Aussage, dass «Selbstentmutigung
wahrscheinlich eines der häufigsten Symptome psychischer Erkrankung» (Ellis 1993, S. 164)
sei, auf den Punkt gebracht.
Was heisst nun Ermutigen in der Beratung? Wie schon angedeutet, gilt in jedem Beratungsund Therapieprozess: Ein Fortschritt, eine Hilfeleistung, eine Veränderung – all dies ist immer
nur als Eigenleistung möglich. Keine Beratungsperson kann das Gegenüber – mit welchen
Kräften auch immer – einfach ‚heilen’, verändern, unterstützen usw. Wer sich nicht von einer
beratenden Person ermutigen, anregen lässt, vermag sich innerhalb dieser Beziehung kaum zu
entwickeln. Ermutigende Beratung heißt, in der gemeinsamen Arbeit mit der hilfesuchenden
Person positive Erwartungen, neue Sichtweisen, neue Kommunikationsmuster zu ermöglichen
sowie eine neue oder angemessenere Wirklichkeitskonstruktion zu fördern – und auf positive
Veränderungen bei ihren Hilfesuchenden hinzuweisen – kurz: das Gegenüber aus einer
entwicklungsorientierten Perspektive zu betrachten und zu begleiten. Entmutigte Menschen
leiden ja im Grunde genommen an einer einengenden Wirklichkeitskonstruktion: sie sehen sich
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und die anderen in einem verzerrten Bild. Heinz von Foerster (1998, S. 33) hat eine wesentliche
Aufgabe der beratenden Person einmal sehr treffend wie folgt formuliert: «Handle stets so, dass
du die Anzahl der Möglichkeiten (des/der Hilfesuchenden – J.F.) vergrößerst.» Dazu gehört –
und damit sind wir einmal mehr bei der Grundhaltung der beratenden Person – die
«Einstimmung auf Zuversicht», wie es der Systemiker Bamberger (2001) einmal präzis
individualpsychologisch formuliert hat. Selbstverständlich ist damit nicht eine naive,
unrealistische Zentrierung auf falsch verstandenes positives Denken, wie es die Esoterik-Szene
in unzähligen Varianten vorführt, gemeint. Ermutigend wirkt hier eine Grundhaltung der
Zuversicht, der Sicherheit, der Hoffnung, des Optimismus, die im Rahmen der Realität und des
Möglichen bleibt. Optimismus meint hier nicht eine naive Stimmungsmache, krampfhafte
Heiterkeit oder gar realitätsfremde Träumerei (Dick 2003), sondern beinhaltet den Glauben an
die Möglichkeiten einer positiven Veränderung oder Entwicklung der Ausgangslage.
Ermutigung in der Beratung bedeutet aber, mit der hilfesuchenden Person neue Denk- und
Verhaltensweisen zu erarbeiten, ihre Reflexionsfähigkeit über das eigene Verhalten und seine
Folgen anzuregen, an vorhandene Kompetenzen und Ressourcen anzuknüpfen, sie bewusst zu
machen und zu stärken, zu Veränderungsprozessen anzuregen – oder, wie es in einem
pädagogischen Zusammenhang von Hentig (1985) als Titel eines Büchleins einmal genannt hat:
„Die Menschen stärken, die Sachen klären.“ Konkret geht es in einer hilfreichen Beratung um die
Bearbeitung und Klärung konkreter Lebensfragen und Entwicklungsaufgaben sowie um die
Erarbeitung einer realistischen Weltsicht. In Anlehnung an die Butler (2002), Klemenz (2003)
und Böckelmann (2002), alles keine IndividualpsychologInnen, heisst das (zusammengefasst
und von mir verändert) folgendes – und bestätigt erneut zentrale individualpsychologische
Konzepte und Postulate:
• Die Erweiterung von Perspektiven sowie die Veränderung von Denkmustern:
Hilfesuchende kommen nicht darum herum, ihre Wahrnehmung, ihr Denken, ihre Annahmen
über sich und die anderen, zu überprüfen und in bestimmten Bereichen zu verändern. Also:
Überprüfen der «tendenziösen Apperzeption», «irrtümlicher Ziele» usw. Ermutigung bedeutet
so immer auch, Hilfesuchende anzuregen, ihre Welt zusätzlich aus einer anderen, neuen
Perspektive als der bisher gewohnten zu betrachten.
• Die Veränderung von Verhaltensweisen:
Als Folge der korrigierten Denkmuster, der Entfernung der „Trübung in der Linse”, der
Veränderung des Wahrnehmungsfilters, der „Minimierung des irrationalen Denkens
zugunsten einer Maximierung des rationalen Denkens“ (Ellis 1993, S. 35) gehören bewusst
neue Verhaltensweisen zu einer nachhaltigen Veränderung, kurz: Veränderungen im
Lebensstil. Für den Begriff irrational kann man ebenso die Wörter unangemessen,
unrealistisch, selbstschädigend, pessimistisch usw. gebrauchen.
• Die Selbstzentrierung abbauen:
Statt sich hauptsächlich auf die eigenen Unzulänglichkeiten, Minderwertigkeitsgefühle usw.
zu konzentrieren – und damit in der Entmutigung zu verharren! – geht es darum, das
Augenmerk, die Aufmerksamkeit sowie das Interesse gezielt auf andere Menschen und
Dinge der Umgebung zu richten: Wo kann ich bei anderen Positives beitragen, ihnen
behilflich sein u.a. sind Möglichkeiten zur De-Zentrierung auf sich selbst. Auf diesen Aspekt
haben Adler (1933/1973a) sowie Bertrand Russell (1930/1951) schon in den 1930-er Jahren
hingewiesen!
• Das Vertrauen in sich selbst aufbauen:
Mit den vorhergehenden Punkten in engem Zusammenhang steht als Folge die Steigerung
des Selbstvertrauens, der Aufbau bzw. die Stärkung des Gefühls der Selbstwirksamkeit –
und als Resultat die Freude über Gelungenes, Erreichtes. Die Individualpsychologie hat hier
wirkungsvolle Instrumente zur Verfügung (Stichworte wären u.a.: Ermutigung,
Selbstermutigung, Engagement, Gemeinschaftsgefühl stärken).
9
• Die Identifizierung und Förderung von Ressourcen:
Die Individualpsychologie mit ihrem optimistischen Ansatz bietet hier viele Möglichkeiten an.
Viele Menschen erkennen nicht oder zu wenig, über welche Ressourcen sie (schon) verfügen
und wie sie diese bewusster und gezielter einsetzen können. Individualpsychologische
Beratung bewirkt im günstigen Fall, dass Hilfesuchende anfangen, ihre eigenen Ressourcen
zu mobilisieren und schliesslich bewusst einzusetzen. Es geht u.a. darum, Hilfesuchende zu
bestärken, sich selbst als Quelle von wirksamen und wichtigen Einflüssen zu betrachten
(Stichwort «Selbstwirksamkeit») – und damit auch Verantwortung für sich zu übernehmen.
Weitere bleibende Verdienste der Individualpsychologie zur Ermutigungsthematik sehe ich u.a.
in folgenden Feldern:
• Die ermutigende Grundhaltung. Dieser Punkt ist sozusagen die Ausgangsbasis! Die
Voraussetzungen und Aufgaben der Individualpsychologie dazu sehe ich hier in zwei
Aspekten: Der Stärkung und der Aufklärung, der Klärung. Ermutigen heißt so u.a. an das
Gegenüber glauben, von ihm etwas fordern, es unterstützen und in seinen konstruktiven
Bemühungen bekräftigen.
• Die Bedeutung der subjektiven Verarbeitung. Die Individualpsychologie hat mit der Lehre der
«tendenziösen Apperzeption» hierzu wichtige Einsichten späterer Konstruktivisten
vorweggenommen; Ermutigung wird letztlich nur durch Selbstermutigung wirksam.
• Der Ermutigungs- und der Entmutigungskreislauf. Diese vor allem von NachAdlerianerInnen ausgearbeitete Modelle sind in die allgemeine Psychologie eingeflossen:
Stichworte wie Bewältigungsoptimismus bzw. –Pessimismus seien hier nur erwähnt (vgl.
Mietzel 2002). Die Individualpsychologie als optimistische Psychologie kann hier wesentliche
Beiträge vorlegen, die zeigen, wie man andere Menschen – und sich selber – optimaler
unterstützen, ermutigen, bestärken kann. Die Zusammenhänge von mangelndem
Selbstwertgefühl und Entmutigung hat vor einigen Jahren der Zürcher Lehrer und
Liedermacher Jürg Jegge (1976) in seinem Lied «Nachtgebet vom dummen Schüler», das
sicher viele kennen, sehr anschaulich vorgetragen.
• Die Sprache der Ermutigung. Hier haben sich vor allem Dreikurs (1987), Dinkmeyer et al.
(2004) und Schoenaker (1996) verdienstvoll gemacht – und natürlich Sie als praktische
IndividualpsychologInnen! Viele Menschen ergänzen ein Kompliment mit einem AberNachsatz, der alles entwertet: Bezüglich solcher Aspekte sind individualpsychologisch
orientierte Personen geschult.
• Den inneren Dialog besser gestalten, positive Selbstgespräche. Hier haben Dinkmeyer et al.
2004b, 2005), Schoenaker (1996) und viele andere individualpsychologische Autoren
wichtige Beiträge geleistet – und andere psychologische Richtungen haben das ebenfalls in
ihr Konzept aufgenommen (Fenell 2005).
2.6 Lebensstil und Finalität
Elemente des Lebensstilkonzepts sind von verschiedenen individualpsychologischen AutorInnen
an vielen Stellen schon diskutiert und kritisiert worden, so etwa Adlers Auffassung, der
Lebensstil sei nach dem fünften Lebensjahr nicht mehr wandelbar. Auch vor der Gefahr einer
vorschnellen Blitzdeutung einer Früherinnerung darf durchaus gewarnt werden. Andererseits:
Das Lebensstilkonzept scheint mir – erneuert, ergänzt, modernisiert – immer noch und auch für
die Zukunft wichtig und hilfreich zu sein: Angeblich widersprüchliche, ja gegensätzliche
Äußerungen und Verhaltensweisen der Menschen lassen sich mit diesem Konzept viel klarer
verstehen als im Freudschen Trieb- bzw. Instanzenmodell! Was treibt den Menschen, was ist
seine Melodie des Lebens, wie geht er mit den Herausforderungen, den Anforderungen des
Lebens um, wie antwortet er? Der Lebensstil bildet die konkreten Erfahrungen, Meinungen, auch
Fiktionen und Ziele des Individuums ab, in ihm sind sozusagen Vergangenheit, Gegenwart und
10
Zukunft enthalten. Das Lebensstilkonzept erachte ich als außerordentlich hilfreiches Instrument,
um Menschen besser und angemessener verstehen zu können – und um sie bei auch für
Einstellungs- und Verhaltensänderungen besser unterstützen zu können. Damit eng verbunden
steht auch das Konzept der Finalität: Der Mensch ist nicht nur Produkt sondern auch Produzent,
unterliegt deshalb nicht der in der Verhaltenspsychologie sehr lange postulierten Determination
(klassisches und operantes Konditionieren), sondern er hat Handlungsmöglichkeiten – allerdings
nicht im Sinne des christlichen freien Willens! Menschen setzen sich schon sehr früh
unterschiedliche Ziele, die sie bald und später leiten, die sie unter Umständen verändern, von
denen sie aber häufig selber wenig wissen oder gar verstehen. Das Aufdecken und
Verständlichmachen von Lebenszielen wie Lebensstilen, die bei den Betreffenden häufig
unverstanden oder unbewusst sind – stellt ein bleibendes Verdienst der Individualpsychologie
dar.
2.7 Kompensation und Neuroplastizität
Ich zitiere hier gerne die Aussage des Adler-Schülers Sperber: «Wir haben gefordert, dass man
Kinder keineswegs davor bewahren soll, die Schwierigkeiten des Lebens richtig wahrzunehmen,
denn nur durch die Entfaltung kompensatorischer Kräfte werden sie mit ihnen schließlich fertig.
Im Psychischen ist aller Wert Überwindungsprämie; zwar können wir sie nicht immer allein, doch
müssen wir sie stets selbst erringen.» (Sperber 1981, S. 13). Der Mensch als zur Kompensation
sozusagen verdammtes wie aber auch fähiges Wesen, das zudem nicht verwöhnt werden soll:
ein heute mehr denn je aktuelles Postulat, schon 1934 verfasst!
Die enorme Lern- und Kompensationsfähigkeit des menschlichen Individuums, die Adler und
seine NachfolgerInnen außerordentlich früh postuliert haben (z.B. Adler 1907/1977) wird heute
sowohl in der Entwicklungspsychologie (Oerter/Montada 2002, Berk 2005), in der Neurobiologie
(Hüther 2002, Spitzer 2003, Roth 2003) und der Resilienzforschung mit unzähligen
eindrücklichen Befunden und Beispielen belegt. Es kann als Adlers Verdienst gelten, den
Kompensationsbegriff in die Psychologie eingeführt haben. In der Heilpädagogik sind solche
Einsichten schon längst unter dem Begriff der Ressourcenoptimierung oder selektive
Optimierung (Nicolay 2004) weiterentwickelt und in der Förderung von Kindern umgesetzt
worden: Beispiele sind die Gebärdensprache bei gehörlosen Kindern, Tastkompetenz bei visuell
blinden Kindern. Neue Forschungen bestätigen, dass Blinde in Bereichen wie Hör- und Tastsinn
bessere Leistungen als Sehende hervorbringen (Röder 2005). Oder: Blinde vermögen besser
als Sehende, eine andere Person an ihrer Stimme zu erkennen. Die Neuroplastizität bei Tieren
wie Menschen fördert immer neue erstaunliche Erkenntnisse zu Tage, so dass Spitzer (2003, S.
114 meint: «Plastizität scheint eine grundlegende Eigenschaft des Nervensystems darzustellen,
eine Eigenschaft, die über die gesamte Lebensspanne hinweg bestehen bleibt.»
Eine Untersuchung von Londoner Taxifahrern zeigte, dass das räumliche Vorstellungsvermögen
mit der Dauer der Berufstätigkeit im Zusammenhang stand: Menschen, die während Jahren
täglich durch den Verkehr der Millionenstadt navigieren, haben regional ausgedehntere Felder in
ihrem Gehirn als der Durchschnitt der Bevölkerung (Maguire et al. 2000, in Spitzer 2003)!
Lernen als Spezialisierung. Adler hätte sich über diese neuen Belege gefreut!
Wir Menschen verfügen offensichtlich über die Fähigkeit, unter bestimmten Umständen
ausgefallene kognitive oder motorische Fähigkeiten teilweise oder sogar vollständig zu
kompensieren: entweder durch Reparatur (Regeneration) oder durch das Inkrafttreten von
Ersatzschaltungen (Roth 1997). Ein besonders eindrückliches Beispiel dafür ist der Schweizer
Christian Lohr, der als Contergan-Opfer schwer behindert auf die Welt kam und durch eigene
Leistung und dank günstiger Umstände ein Leben als selbstbewusster und selbständiger Mann
führt: auch ohne Arme und mit deformierten Beinen (vgl. Frick 2007).
2.8 Geltung und Machtstreben
Wie Bruder-Bezzel im schon erwähnten Referat von 1999 betont, kommt Adler das Verdienst zu,
11
das Thema Macht (1912e/1973d) mit aller Deutlichkeit in die Psychologie eingebracht zu haben.
Wie wir aus der weiteren Geschichte nach dem Tode Adlers zur Genüge Kenntnis nehmen
mussten, beherrscht Macht nicht nur das individuelle, sondern auch das gesellschaftliche Leben,
durchdringt es wie ein Krebsgeschwür. Im Gegensatz zu anderen AutorInnen verlegt Adler aber
die Genese des Machtstrebens nicht in Gene, Gengruppen oder in eine wie auch immer
geartete biologische oder psychologische Ausstattung des Menschen, sondern betrachtet es als
kompensatorisches, irregeleitetes Geltungsstreben, das bezwingbar ist bzw. mit Prävention zu
minimieren sei. Andere Autoren, namentlich genannt sei hier nur Bertrand Russell, der Adler
bezüglich der Machtthematik nachweislich studiert, zwei Werke zur Machtfrage publiziert und in
einem sogar aus der «Menschenkenntnis» zitiert (Russell 1947/1938, S. 14; 1949/1967) haben
sich mit dieser Thematik in unterschiedlicher Tiefe weiter auseinandergesetzt und die heutigen
GlobalisierungskritikerInnen, etwa attac, engagieren sich konkret gegen die verheerenden
Folgen des Machtstrebens. Die (Fehl-) Entwicklung der Globalisierung, die u.a. zu einer noch
nie dagewesenen Konzentration von wirtschaftlicher bzw. finanzieller Macht auf eine schmale
Schicht von rücksichtslosen, allein der Gewinnmaximierung anhängenden Gruppe von Personen
geführt hat, zeigt erneut die gesellschaftliche Bedeutung der Machtfrage. Ob sauberes Wasser,
Pflanzen, Tiere oder Rohstoffe: alles soll privatisiert oder patentiert und in der Hand einiger
weniger globaler Unternehmungen zentriert werden. Eine unglaubliche Macht- und
Finanzkonzentration hat bis heute schon stattgefunden. Adler hat uns gezeigt, wie das
Machtstreben in der Kinderstube beginnt, welche Faktoren das fördern, welche Gegenmittel
vorhanden sind. Das rücksichts- und schrankenlose Machtstreben zeigte sich u.a. in der
Beherrschung der Märkte und Menschen und hat seinen folgenschweren Niederschlag in der
weltweiten Finanzkrise gefunden – und verlangt eine globale Gegenbewegung. Kritische Frage:
Wo sind heute die PsychologInnen, die diesen Ansatz weitererforschen? Wie lässt sich das
natürliche Geltungsstreben des heranwachsenden Menschen in gesunde Bahnen lenken, wie
lässt sich die Machtballung von heute wieder eindämmen? Das sind zentrale Fragen, die eine
gesellschaftskritische Individualpsychologie weiter bearbeiten könnte und sollte!
2.9 Lebensaufgaben oder Herausforderungen des Lebens
Mit dem Konzept der Lebensaufgaben nach Adler sind Sie bestens vertraut: Das Leben stellt –
letztlich von der Geburt bis zum Tod – dem Individuum Herausforderungen in den Weg, denen
es begegnen, auf die es Antworten, Teilantworten zu geben sucht bzw. mit denen es immer
wieder in Lösungsversuchen ringt. Die drei Lebensaufgaben nach Adler (Arbeit, Liebe,
Gemeinschaft) sind später durch Dreikurs ergänzt worden (Beziehung zu sich selbst, Beziehung
zum Kosmos). Andere individualpsychologische AutorInnen haben dieses Konzept ergänzt,
verändert, vertieft. Übrigens hat auch hier die Individualpsychologie für die
Entwicklungspsychologie Vorarbeit geleistet: Havighurst postulierte 1948 sein berühmt
gewordenes altersspezifisches Konzept der Entwicklungsaufgaben, das sich von der Geburt bis
ins frühe Erwachsenenalter erstreckt und – unausgesprochen – adlerianisch beeinflusst ist:
Entwicklung wird als Lernprozess an Themen und Problemstelllungen verstanden. Weitere
AutorInnen haben dieses Konzept dann weiterentwickelt und differenziert (z.B. Dreher & Dreher
1985; Hoppe-Graf & Kim 2002; Jugert, Petermann et al. 2004). Auch in Eriksons Modell der
Identitätsentwicklung (1966) – wie auch bei seinen NachfolgerInnen – werden indirekt
individualpsychologische Einflüsse erkennbar, so z.B. in der psychosozialen Krise im Schulalter,
die vom Gegensatzpaar Werksinn vs. Minderwertigkeitsgefühl gekennzeichnet ist oder in der
psychosozialen Krise im reifen Erwachsenenalter, wo Integrität oder Verzweiflung die
Gegensätze der Lebensantwort darstellen.
Was mich hier am individualpsychologischen Konzept besonders anspricht ist die Einsicht in
die Unabänderlichkeit grundlegender Lebensfragen: Wer sich beispielsweise nur mit der
Berufsaufgabe beschäftigt, verliert andere wichtige Aspekte des Lebens aus dem Auge – und
kommt so letztlich zu kurz. Vermutlich lassen sich diese Lebensaufgaben oder präziser
Herausforderungen nicht gleichgewichtig nebeneinander stellen – und sie bedeuten auch nicht
12
für alle Menschen in allen Lebensphasen gleich viel. Trotzdem hilft dieses Konzept sehr,
Menschen in ihrem Werdegang besser zu verstehen, sowie angemessener zu unterstützen und zwar:
- Im Erkennen von Ungleichgewichten
- Im Erkennen von Ausweichen, «Vergessen» bzw. «Verdrängen» anderer wichtiger Bereiche
- Aus der Art der Antworten, Stellungnahmen auf diese Herausforderungen
Diese drei Aspekte können natürlich auch für die Selbstreflexion und Selbstentwicklung –
außerhalb einer Beratung oder Therapie sowie in blumenthalscher Terminologie als
«Selbsterziehung» von Nutzen sein.
Auf mögliche und spannende Zusammenhänge von Resilienzforschung und
Individualpsychologie als weiteres Thema kann ich hier aus Zeitgründen nicht eingehen. Ich
verweise auf den Artikel in der Zeitschrift für Individualpsychologie, der voraussichtlich Anfang
2010 dazu erscheinen wird.
3. Schlussbemerkung
Wie Sie aus den hier nur angedeuteten Ausführungen entnehmen können, sind Ihr Engagement
für die Individualpsychologie und Ihre Erkenntnisse höchst willkommen und wichtig! Ich wünsche
Ihnen viel Freude, aber auch ein Selbstbewusstsein als individualpsychologisch orientierte und
geschulte Person: die gegenwärtige wie auch zukünftige Gesellschaft benötigt für eine sinnvolle
Weiterentwicklung eine positive, menschenfreundliche, kompetente, moderne, aber auch
kritische Stimme wie die Individualpsychologie. Herzlichen Dank für Ihr Interesse und das
Mitdenken!
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Spitzer, Manfred (2003: Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens. Berlin: Spektrum.
Welter-Enderlin, Rosmarie; Hildenbrand, Bruno (2006)(Hrsg.): Resilienz – Gedeihen trotz widriger Umstände.
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Werner, Emmy E. (1999): Entwicklung zwischen Risiko und Resilienz. In: Opp, Günther et al. (Hrsg.) (1999): Was
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Wydler, Hans et al. (2002): Salutogenese und Kohärenzgefühl. Grundlagen, Empirie und Praxis eines
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Korrespondenzadresse
Prof. Dr. Jürg Frick, Pädagagogische Hochschule Zürich, Zentrum für Beratung Weiterbildung Schulentwicklung,
Birchstrasse 95, Postfach, CH-8090 Zürich. Email: juerg.frick@phzh.ch. Homepage: www.juergfrick.ch
Zum Autor
Jürg Frick, Prof. Dr. phil., Psychologe FSP, Dozent für Entwicklungspsychologie und Berater an der Pädagogischen
Hochschule Zürich, Individualpsychologischer Berater SGIPA/AAI, Fortbildungen, Kurse und Vorträge an Schulen, bei
Elternvereinen, Ärztetagungen usw.. Diverse Zeitschriften- und Buch-Veröffentlichungen, u.a.: Die Droge
Verwöhnung. Beispiele, Folgen, Alternativen. Bern: Huber 2001; Ich mag dich – du nervst mich! Geschwister und ihre
Bedeutung für das Leben. Bern: Huber 2004; Die Kraft der Ermutigung. Grundlagen und Beispiele zur Hilfe und
Selbsthilfe. Bern: Huber 2007; Ermutigendes Konzept: Schutzfaktoren bei ungünstigen Startbedingungen. Bern:
Psychosope 6/2007. Arbeitsschwerpunkte: Entwicklungspsychologie, Resilienz, Beratungspsychologie, Psychologie
der Geschwisterbeziehungen, Verwöhnung, klinische Psychologie (speziell Depressionen).
6/2009 JF AAI Aktualität.Individualps.6.6.09.doc
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