MitOst Magazin Extra Festival Breslau
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MitOst Magazin Extra Festival Breslau
mitost magazin extra ¬ Die fremde Stadt - Buchtipp ¬ Gerhild Baer, MitOst-Mitglied, Fürstenfeldbruck Gregor Thum: Die fremde Stadt Breslau 1945, 2003, Siedler Verlag (2002 Frankfurt/Oder), 640 Seiten MitOst magazin Mitteilungen des MitOst e.V. – Verein für Sprach- und Kulturaustausch in Mittel-, Ost- und Südosteuropa extra tMitOs Festiv 05 al 20 Wer wissen möchte, wie „Breslau“ zu „Wrocław“ wurde, für den ist das 2003 im Siedler Verlag erschienene Buch „Die fremde Stadt Breslau 1945“ von Gregor Thum genau das Richtige. Der Leser erfährt, wie es ab 1945 mit der Stadt weiter geht. Zwar stellt 1945 einen markanten Schnitt in der Stadtgeschichte dar, der Übergang aber ist fließend. Nach dem für Deutschland verlorenen Weltkrieg sollte Polen deutsche Ostgebiete erhalten – dies nicht zuletzt als Entschädigung dafür, dass die Sowjetunion die polnischen Ostgebiete beanspruchte. Die Situation in Niederschlesien und damit auch in Breslau war eine ganz besondere: hier fand ein fast kompletter Bevölkerungswechsel statt, Polen musste sich bevölkerungstechnisch, administrativ und politisch ein im Grunde unbekanntes Gebiet aneignen. Dies war ein schwieriger und langwieriger Prozess: zunächst lebten Deutsche und Polen zusammen in der Stadt; eine polnische Verwaltung wurde aufgebaut, die aber in den ersten Jahren unmittelbar nach dem Krieg stets damit rechnen musste, dass die sowjetische Militärverwaltung ihr dazwischenfunkte – letztere ließ nicht zuletzt übergangsweise auch eine deutsche Verwaltung zu; nach und nach wurden die Deutschen ausgesiedelt, wobei jedoch verhindert werden musste, dass in der Stadt alles zusammenbrach, d.h. entsprechende Facharbeiter wurden zurückgehalten, bis Polen ihre Nachfolge antreten konnten. Dabei war es zunächst gar nicht so leicht, Polen zu finden, die sich in Niederschlesien niederlassen wollten. Werbeaktionen in Krakau etwa waren weitgehend erfolglos. Die meisten Siedler in Breslau kamen aus Zentralpolen, zumeist aus der Woiwodschaft Großpolen, (45,2 % laut Volkszählung am 31.12.1948); wesentlich weniger Siedler aus den ostpolnischen Gebieten, die an die Sowjetunion gefallen waren (24,1 %). Eine durch Krieg und Festungszeit stark zerstörte, durch sowjetische Reparationen und Ziegelabbau u.a. für die Rekonstruktion der Warschauer Altstadt gebeutelte Stadt musste wieder aufgebaut werden. Nicht zuletzt – und das wohl die schwierigste Aufgabe - sollte die neue Bevölkerung an diesem Ort, den deutsche Vertriebenenverbände teilweise weiterhin als den ihren reklamierten, heimisch werden. Das konnte nur mit Hilfe des Mythos der „wieder gewonnenen Gebiete“ geschehen, der – verkürzt gesagt – beanspruchte, mit den Westgebieten seien „urpolnische“ Gebiete zum polnischen Mutterland zurückgekehrt, deren vorherige Besiedlung durch Deutsche allenfalls als Besatzung zu verstehen sei. Von der Nachkriegszeit her betrachtet und vor allem im Hinblick auf die im Zweiten Weltkrieg durch Deutsche an Polen verübten Gräueltaten kein Wunder, dass Deutschland zum Feind Nummer eins erklärt wurde und – auch wenn dies ein irrsinniges und unmögliches Unterfangen war - deutsche Spuren aus dem Stadtbild zu entfernen versucht wurden. Mittels deutscher und polnischer Quellen untersucht Gregor Thum, genauestens und mit vielen Zitaten und Beispielen versehen, den Aufbau dieses Mythos und seine Auswirkungen auf Breslau. Die Buchausgabe ist zudem mit vielen schwarz-weiß Bildern, einer Vielzahl an bibliographischen Angaben und einem reichhaltigen Quellen- und Literaturverzeichnis sowie zwei farbigen Stadtplanausschnitten versehen. Schirmherrschaft Partner des MitOst-Festivals Dr. Reinhard Schweppe, Botschafter der Bundesrepublik Deutschland Prof. Dr. Adam Rotfeld, Außenminister von Polen ARTE Centrum Studiów Niemieckich i Europejskich im. Willy Brandta Förderer des MitOst-Festivals Rafal Dudkiewicz, Präsident Wrocław Förderer des MitOst-Festivals Robert Bosch Stiftung Schering Stiftung Gemeinnützige Hertie-Stiftung Internationaler Visegrad Fund Besonder Partner Fonds “Erinnerung und Zukunft” Besondere Partner Edith Stein Gesellschaft/ Towarzystwo im. Edyty Stein Deutsche Botschaft in Warschau Deutsches Generalkonsulat in Wrocław Dolnośląska Szkoła Służb Publicznych Asesor Dom Spotkań im. Angelusa Silesiusa Fundacja Pro Arte Gmina Wyznaniowa Zydowska we Wroclawiu FUN KLUB Grotowski Zentrum / Ośrodek Badań Twórczości Jerzego Grotowskiego i Poszukiwań Teatralno-Kulturowych Hotel Wrocław Kino Lalka Kulturhaus Klub pod Kolumnami Kulturhaus Wrocław Srodmiescie / Młodzieżowy Dom Kultury Śródmieście Mediothek / Mediateka Ost Europa Institut / Kolegium Europy Wschodniej Puppen Theater / Wrocławski Teatr Lalek Stadt Bibliothek und Goethe Bibliothek und Lesesaal / Wojewódzka i Miejska Biblioteka Publiczna; Wypozyczalnia i czytelnia Instytutu Goethego Synagoge Universität Wrocław / Uniwersytet Wrocławski Urząd Miasta Wrocławia Nachbarn begegnen MitOst-Festival 2005 in Breslau/Wrocław mitost magazin extra ¬ mitost magazin extra ¬ Deshalb ist das MitOst-Festival für uns so wichtig und deshalb freuen wir uns immer wieder auf das nächste – vom 13.-16. September 2006 in Timisoara/Temeswar, Rumänien! Viel Freude, Anregungen und Erinnerungen beim Lesen > wünschen Liebe MitOst-Mitglieder, liebe MitOst-Interessierte, die vorliegende Sonderausgabe des MitOstmagazins bietet einen Rückblick auf das MitOst-Festival 2005 in Breslau/Wrocław und damit die Gelegenheit für ein paar allgemeinere Gedanken zum MitOst-Festival. Denn in diesem Jahr wird MitOst sein 10-jähriges Bestehen feiern und gleichzeitig sein 4. Internationales MitOst-Festival veranstalten. Monika Nikzentaitis-Stobbe, 1. Vorsitzende kommunikation@mitost.de Monika Sus, 2. Vorsitzende festival@mitost.de Christopher Schumann, Schatzmeister finanzen@mitost.de Mascha Zakharova, Beisitz Alumniarbeit alumniarbeit@mitost.de Nora Hoffmann, Beisitz Regionalisierung vernetzung@mitost.de Andreas Lorenz, Beisitz Projektarbeit p r o j e k te @ m i t o s t . d e 0MitOst-Festival 2005 in Breslau/Wrocław Bereits zum dritten Mal nach Pécs 2003 und Vilnius 2004 fanden vom 26.-31. Oktober 2005 in Breslau rund um die Mitgliederversammlung des MitOst e.V. ein internationales Kulturfestival und eine Werkstatt zum Projektmanagement statt. Besonders war in diesem Jahr, dass das MitOst-Festival zugleich ein „Leuchtturmprojekt“ (polnisch: lokomotywa!) im Deutsch-Polnischen Jahr war. Die Schirmherrschaft hatten der polnische Außenminister, der deutsche Botschafter in Warschau und der Stadtpräsident von Wrocław übernommen. Unter dem Motto „Nachbarn begegnen“ konnten die über 400 Teilnehmer aus 21 Ländern aus fast 40 Workshops zum Projektmanagement, mehreren Diskussionsveranstaltungen und über 30 Programmpunkten im Kulturprogramm auswählen: Von Filmvorführungen, Ausstellungseröffnungen, Konzerten und Lesungen bis hin zu thematischen Stadtführungen und „Polnisch für Anfänger“. INHALTSVERZEICHNIS 2_ 3_ 4_ 4_ 5_ 6_ 8_ 8_ 9_ 10_ Editorial Was bedeuten die Festivals inzwischen für MitOst? Ein Höhepunkt des Festivals war neben der feierlichen Eröffnung des Festivals in der barocken Aula Leopoldina der Universität das erstmals in dieser Form eingerichtete Projektehaus im historischen Puppentheater: Neben den diesjährigen MitOst-Projekten wurden hier auch die Angebote der von MitOst durchgeführten Programme und einiger Partner und Förderer von MitOst vorgestellt. Die Zeiten, in denen sich der Großteil der Mitglieder persönlich kannte - aus Einmalig war auch die Unterstützung für das erneut gewachsene Festival: Neben der Robert Bosch Stiftung, der Hertie-Stiftung und der Schering Stiftung, die schon in den letzten beiden Jahren das Festival gefördert hatten, wurden 2005 auch der Fonds „Erinnerung und Zukunft“ und der „Vysegrad Fonds“ als Förderer gewonnen. Ein Tag – Projektnetzwerkstatt Literarische Oderfahrt – Lesung Mittelosteuropa tanzt – Workshop der gemeinsamen Stipendienzeit, gemeinsamen Projekten oder der Mitglieder- Transitraum Deutsch – Lesung Breslau – Festung des Multi-Kulkti versammlung mit gut 50 Personen – sind bei inzwischen über 1400 Mitgliedern n-ost – Korrespondentennetzwerk lange vorbei. Viele Mitglieder waren auch noch nie auf einem MitOst-Festival, Schlesiens wilder Westen - Filmrezension weil sie keine Zeit haben, weil sie die Kosten dafür nicht aufbringen können, Hawdala – Jüdisches Leben in Breslau aber vielleicht auch, weil sie gar kein Interesse daran haben und sich bei MitOst Interview – mit einem belarussischen nur informieren oder den Verein einfach durch ihren Beitrag unterstützen wollen. Festivalteilnehmer Und dennoch ist das MitOst-Festival nicht nur der Höhepunkt jedes Vereins- 11_ Projektehaus 12_ Die fremde Stadt – Buchtipp 12_ Förderer und Partner des MitOst-Festivals jahres, sondern auch ein Kernbereich des Vereins. Warum? > Es ist die einzige Gelegenheit im Jahr, viele Mitglieder aus (fast) allen MitOst- > Impressum MitOstmagazin extra Festival 2005 Herausgeber: MitOst e.V. Verein für Sprach- und Kulturaustausch in Mittel-, Ost- und Südosteuropa > Verantwortlich: Monika Nikzentaitis-Stobbe, Vorstandsvorsitzende MitOst e.V. Schillerstraße 57 D-10627 Berlin vorstand@mitost.de Redaktion: Arndt Lorenz, Aachen magazin@mitost.de > Fotonachweis: Bea Be, Stephanie Endter, Dirk Enters, Sascha Götz, Anna Litvinenko, Arndt Lorenz, Judith Schifferle, Christopher Schumann, Jochen Staudacher, Jan Zappner Lektorat: Robert Sobotta, Dresden / London > Gestaltung, Bildbearbeitung: Susanne Töpfer, Kathrin Hölker, Dresden sus.t@powerkom-dd.de > 4 Ländern persönlich zu treffen. Das ist wichtig für das Zusammengehörigkeitsgefühl und für den Austausch untereinander, der häufig der Startpunkt für neue Ideen und Aktivitäten im Verein ist. Sowohl der gemeinsame Besuch des Workshop- und Kulturprogramms als auch die Treffen in den verschiedenen Gruppen – Arbeitsgruppen zum Verein, Länderund Alumnigruppen – geben neue Inspiration, was auf den verschiedenen Gebieten die nächsten Schritte sein könnten. In vielen unserer Projekte und Aktivitäten sind demokratische Prinzipien und eine offene Bürgergesellschaft unser Ziel. Auf dem MitOst-Festival und vor allem auf der Mitgliederversammlung und in den Vereinswerkstätten setzen wir diese demokratischen Prinzipien um oder üben vielleicht auch noch, sie in der Praxis umzusetzen. Denn für viele unserer Mitglieder ist ein Verein auch eine ganz neue Organisationsform. Vereinszweck von MitOst ist der Sprach- und Kulturaustausch. In diesem Sinne ist das MitOst-Festival jedes Jahr unser größtes Projekt. Denn wir lernen beim Besuch nicht nur neue Kulturen kennen – z.B. ungarische Literatur in Pécs, litauischer Barock in Vilnius, polnische Musik in Breslau –, wir bringen den jeweiligen Städten und ihren Bewohnern auch unsere vielfältigen Kulturen aus allen MitOst-Ländern mit. Geben und Nehmen ist auch unser Prinzip bei den Workshops, in denen wir lehren und lernen, indem die Erfahreneren ihr Wissen weitergeben. Wir haben gemeinsam Spaß beim Tanzen, Singen, Diskutieren, Lachen... MitOstmagazin extra Sascha Götz, Geschäftsführer, g f @ m i t o s t . d e Ein Tag Projektnetzwerkstatt ¬ Nina Körner, n-ost-Korrespondentin Zwei Tage lang konnten sich die Festivalteilnehmer in Breslau Handwerkszeug für die ehrenamtliche Projektarbeit aneignen. Ob man einen Verkehrsführer für russischsprachige Tramper plant, osteuropäische Städte in Deutschland touristisch bewerben will oder ein lettisches Studententheater auf Tournee bringen möchte – in über 40 Workshops war professioneller Rat zu finden. Auch bei einem Telefonat ist Lächeln wichtig. Jeder Interviewer sollte sich das bestätigende „Mmhh“ sparen. Journalisten sind zwischen Weihnachten und Silvester leicht glücklich zu machen – nicht jeder hatte das gewusst. In den Workshops der Projektnetzwerkstatt wurden echte Insiderinformationen zu Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, zu Projektanträgen und Fundraising, zu Filmemachen und Layout weitergegeben. Und das sah ganz konkret so aus: Am Vormittag in Raum 209 der niederschlesischen Schule des öffentlichen Rechts ASESOR probt eine Gruppe den ersten Anruf bei einem MitOstmagazin extra künftigen Förderer. In einer Minute muss das Anliegen überzeugend vorgebracht sein, sonst wird energisch auf den Tisch geklopft, um den die neun Teilnehmer sitzen. Einen Raum weiter diskutieren fünfzehn Leute im Kreis rege, wie Projekte und Veranstaltungen in die Presse zu bringen sind. Vor den Computern in Raum 11 entdecken ein Dutzend Personen im Workshop „Layout und Design“ gerade die Welt der Schriften. Außerdem kommen Vektorprogramme, Urheberrecht und Papierarten zur Sprache. Zum Stundenwechsel lärmt es auf den hellgrünen Gängen der Rechtsschule. Eine kleine Pause zwischendurch und Zeit für eine Stadtführung über den Marktplatz oder zur Dominsel – soviel Zeit lässt das Tagesprogramm zu. Immerhin ist das MitOst-Festival eine „Leuchtturmveranstaltung“ im Deutsch-Polnischen Jahr. Kulturaustausch und Begegnung mit den Nachbarn dürfen also nicht zu kurz kommen. Um drei Uhr nachmittags geht es weiter. Im Filmworkshop schauen sechzehn Interessierte nicht nur einen Film, sondern auch den zugehörigen Kostenvoranschlag an. Große Posten im Filmbudget sind, so wird klar, neben Reisekosten die Ausgaben für Personal und Versicherung. Aber auch die Sicherheitskopie will einkalkuliert sein. Die Layouter experimentieren inzwischen mit dem Programm InDesign, drehen Bilder und schreiben Texte entlang der gewagtesten Linien. Im Raum 210 werden einer seitlich sitzenden Gruppe Kürzel der Nachrichtenagenturen eingeführt, dpa, epd, KNA etc. Ganz unterschiedlich sind die Workshops geführt, mal im Frontalvortrag, mal in Gruppenarbeit. Mal gibt es Powerpointpräsentation, Handout, Flipcharts, mal gar nichts. Für jeden Weiterbildungsworkshop bekommen die Teilnehmer eine Bestätigung und die Leiter eine Evaluation. Auch das Feedback fällt unterschiedlich aus. Die Kommunikationsspiele habe sie sich ein wenig anders vorgestellt, meint Ulrike. Carmina dagegen hat sich beim „Kreativen Denken“ anhand einer Zahnbürste auf ganz neue Ideen bringen lassen. 5 mitost magazin extra ¬ mitost magazin extra ¬ „Herr“ der Werkstatt „Mittelosteuropa tanzt“ ein. Für viele war es der erste Kontakt mit dieser künstlerischen Darbietungsform. Die jungen Tänzer aus Polen, Rumänien, Weißrussland, Ukraine, SerbienMontenegro und Deutschland lernten sich beim Training nicht nur näher kennen, sondern diskutierten auch über nationale und europäische Identität. Der fertige Tanz wurde während des Festivals auf dem Wrocławer Marktplatz und im Puppentheater aufgeführt und Mythos der Zukunft – „Oder“ – die Heimat im Dazwischen ¬ Judith Schifferle, MitOst-Mitglied, Basel Zwei Stunden hat es gedauert, um die Oder in einen Mythos zu verwandeln. Aber dennoch: So lange und unerbittlich hat sich ein Fluss nur selten gegen den eigenen Ruhm und Mythos gewehrt. Als hätte die Oder auf diesen Abend gewartet, an dem es in ihrem Namen zu einer fast intimen deutsch-polnischen Begegnung gekommen ist; die Lesung von Olga Tokarczuk und Uwe Rada in den Räumen des Breslauer Grotowski Theaters war eine „literarische Oderfahrt“, die an wilde und noch unbebaute Ufer eines neuen Mitteleuropas führte. Im Rahmen des Breslauer MitOst-Festivals stellten die polnische Autorin Olga Tokarczuk (geboren 1962 in Sulechów) und der deutsche Journalist Uwe Rada (geboren 1963 in Göppingen) gemeinsam, aber unterschiedlich in Sprache und Form, ihre Wahrnehmung der Oder dar. Während Uwe Rada seine Kulturgeschichte mit einer Flussreise von der Quelle im Mährischen Gebirge Tschechiens bis zur Ostsee verband, las Olga Tukarczuk „Die Macht der Oder“ als ihre poetische Kindheitsvision vor. Beide Perspektiven begegneten sich da, wo sowohl die historische als auch die poetische Erinnerung auf einem neuen deutsch-polnischen Begriff von „Heimat” aufbaute, einem gemeinsamen Kulturgebiet, dem die Trennung von gestern wie die Verbindung von heute gleichsam angehören. Welcher andere Begriff hatte in der Literatur unserer Zeit mehr Umdeutungen, Anschauungen und Notwendigkeiten erhalten als der von „Heimat”? Und wie heimatlos blieb dagegen die Oder als Dazwischen, als Fluss des ewig Gleichen und einer Grenze, über die es bisher keine Mythen, – nur Mühen gegeben hatte. „Mühe und Schweiß“ nennt Rada die einzigen Marksteine eines gemeinsamen Kulturraumes zwischen Polen, Deutschland und Tschechien. Aber ohne Überhöhungen ins Poetische, ohne Mythen, wie für den Rhein, der nicht an den Ländern entlang, sondern durch sie hindurch streift. Nicht eine Grenze, sondern ein „Zwischenland“ markiert die Oder bei Rada und bedeutet ein „Einzugsgebiet“ für Tokarczuk in der Mitte Europas. Als „poetische Vision“ funktioniert die Oder in der literarischen Vorstellung der Autorin; eine Vision auf mehreren Ebenen zugleich: nicht nur als Ort der Kindheit, als Quelle von „Energie und Temperament“, sondern auch als Identität und Intimität von Träumen bedeutet dieser Fluss eine der „wenig unveränderlichen Erscheinungen dieser Welt“; eine Konstante der Erinnerung, wo das Wasser fließt, das Flussbett aber dasselbe bleibt. Ein Fluss, der heute weder Schleusen, Staustufenbau oder groß bebaute Ufer besitzt und ein Naturgebiet, das zur Aufgabe des Naturschutzes geworden ist. Außer als Transportweg zwischen den niederschlesischen Industriegebieten bei Katowice und dem Brandenburger Raum, der Einmündung in die Ostsee, wurde die Oder für wirtschaftliche Zwecke nie wesentlich genutzt. 6 Die Oder blieb ein eigenwilliges und wildes „Lebewesen“. Ihr Ort war immer an der Peripherie der Mächte, ihre Lage ein Dazwischen der Völker und ihre Funktion deren Trennung. Dennoch aber ist diese Grenze keine natürliche, sondern ein Konstrukt. Denn laut Rada ist die Angst vor der Osterweiterung im Grenzgebiet nicht so groß wie im Westen; die Bürgermeister der Grenzstädte in Görlitz, Frankfurt, Schwedt und Guben orientieren sich auch am Osten und geben sich als „eindeutige Befürworter“ einer sofortigen Gewährung der Freizügigkeit. In diesem Sinne kann der Fluss eine verbindende Lebensader in Mitteleuropa werden. „Breslau besinnt sich auf sein multikulturelles Erbe, Frankfurt und Slubice wenden sich dem Fluss zu, die Menschen im Oderraum erzählen sich ihre Geschichten von Krieg, Vertreibung und Versöhnung. Sie entwerfen eine gemeinsame Zukunft.“ (Rada) Gerade das Fehlen einer mythologischen Zuordnung bedeutet eine kulturelle Chance. Die Zusammenführung und individuelle Umformung eines gemeinsam erinnerten Lebensraumes zeugen somit nicht nur für ein kollektives Gedächtnis, sondern auch für eine gemeinsame Kultur grenzenloser „Zuflüsse“. Literaturhinweise: Uwe Rada: „Zwischenland – Europäische Geschichten aus dem deutsch-polnischen Grenzgebiet” be.bra verlag, 2004 Olga Tokarczuk: „Podró ludzi ksi´gi“ [Die Reise der Buchmenschen]. Warszawa: PrzedÊwit, 1993 Die Oder. Lebenslauf eines Flusses. Kiepenheuer, 2005 [Ur und andere Zeiten]. Warszawa: W.A.B., 1996 „Prawiek i inne czasy” „Szafa” [Der Schrank]. Lublin: Wydawnictwo UMCS; Wabrzych: Ruta, 1998 Auf Deutsch erschienen: „Ur und andere Zeiten.” Übers. von Esther Kinsky. Berlin: Berlin Verlag, 2000 „Der Schrank” Übers. von Esther Kinsky. München: DVA, 2000 „Taghaus, Nachthaus” in der Übers. von Esther Kinsky: DVA, 2001 Mittelosteuropa tanzt! Workshop beim MitOst-Festival in Breslau 2005 ¬ Tatjana Reitmann, Lektorin der Robert Bosch Stiftung, Ostrava sowohl von den Festivalteilnehmern als auch von den Einheimischen begeistert aufgenommen. Die Organisatoren Marta Masojc und Grzegorz Nocko haben aber schon wieder große Pläne. Sie wollen den Tanz so weiter entwickeln, dass man das Publikum mit einbeziehen kann. Und wenn Völkerverständigung im Kleinen gleichzeitig so viel Spaß macht und auch noch schön anzusehen ist, warum geht das dann nicht öfter im Großen? Transitraum Deutsch Lesung bosnischer Autoren beim MitOst-Festival in Breslau ¬ Bojana Radetiç, Theodor-Heuss-Stipendiatin, Übersetzerin, MitOst-Mitglied, Rijeka „In Bosnien und Herzegowina ist alles zerbombt, die Leute müssen sehr aufpassen, nicht auf eine Mine zu treten und sie laufen sowieso fast nackt herum.“ Dieses im Westen bzw. bei den Ausländern vorherrschende Bild wollen junge bosnische Autoren mit ihrem vor zwei Jahren herausgegebenen Buch „Ein Hund läuft durch die Republik“ verändern. Diese Autoren konnte ein zahlreich erschienenes Publikum während des MitOst-Festivals 2005 in Breslau im Grotowski Theater bei der Lesung „Transitraum Deutsch“ erleben. Indirekt verantwortlich für die Entstehung des vorgestellten Buches ist Juli Zeh, die deutsche Autorin, die vor einigen Jahren bei einer Lesung an der Universität Tuzla ihre Bosnien-Texte vorstellte. Im Gespräch mit dem damaligen österreichischen Lektor am dortigen Germanistikinstitut, Oskar Terš, wurde die Idee für ein Buch über Bosnien geboren, das Studenten selbst verfassen sollten. Trotz der erstaunten Studenten („Aber so was macht man doch in Bosnien nicht!“), wurde das Projekt an den Unis ausgeschrieben. Der Erfolg war unerwartet groß: von über 50 eingereichten Texten konnten die zwanzig besten veröffentlicht werden. Als Projektleiter wollte Oskar Terš bosnischen Studenten Gelegenheit geben, die deutsche Sprache kreativ anzuwenden und gleichzeitig junge deutschsprachige Autoren aus Bosnien zu fördern. nach Bosnien. Das Schreiben auf Deutsch fällt ihm leicht, lediglich für die Lyrik hat er Bosnisch reserviert. Als Oskar Terš mit seiner deutschsprachigen Theatergruppe einmal in Pécs war, ergaben sich Anregungen für ein Folgeprojekt. Und so haben sich junge bosnische Autoren zusammen mit ungarischen Studentenkollegen zu zwei Literaturwerkstätten in Pécs und in Tuzla getroffen und sich anhand von Fotos aus diesen Städten für weitere Geschichten inspirieren lassen. Während der Lesung in Breslau war deswegen auch die ungarische Autorin Aniko Hetesi zu hören. Das Buch „Ein Hund läuft durch die Republik“ wurde (vor allem im Ausland) etwa 3000 Mal verkauft. In Bosnien stößt diese Textsammlung bisher auf fast kein Interesse. Gerade deswegen sind weitere Lesungen, zum Beispiel in Osijek/Kroatien, geplant. Literaturhinweis: Beim Tanzen lernt man sich kennen und verstehen. Das wussten schon unsere Mütter und Väter... Aber Völkerverständigung durch Tanz? 10 junge Leute aus 6 Ländern zeigten beim MitOst-Festival in Wrocław, was Tanz alles leisten kann. Unter dem Motto „Die Welt ist eine Kugel, Osteuropa ist ein Oktaeder“ wurde eine tänzerische Melange aus Osteuropa einstudiert und aufgeführt. Den so genannten „MOE-Tanz“ hatten Stipendiaten des Theodor-Heuss-Kollegs (THK) während eines einwöchigen Seminars im März 2005 entwikkelt. Dazu wurden Elemente aus Tänzen aus ganz Osteuropa zu einem neuen Tanz zusammengefasst: Der „MOE-Tanz“ war geboren. Da die THK- und MitOst-Sprache Deutsch ist, wurde als Verbindung zwischen den Tänzern und dem neuen Tanz das deutsche Lied „Alles ist jut, alles ist gut, ich bin froh, ein Berliner zu sein“ gewählt. Diesen Tanz studierten dann während des MitOst-Festivals 9 „Damen“ und 1 MitOstmagazin extra Für Elmedin Kukiç, Germanistikstudent in Tuzla, schon an „komische“ Aufsatz-Aufgaben vom Lektor gewöhnt, war es nicht schwer, eine Geschichte auf Deutsch zu schreiben. Viel schwieriger fiel ihm, die Geschichten zu übersetzen, weil die zwei Sprachen verschiedene Ausdrucksweisen haben. Obwohl er von einer professionellen Fußballkarriere geträumt hatte, entschied er sich nach der Rückkehr aus Deutschland, wo er einige Jahre als Flüchtling gelebt hatte, für den nicht so „risikovollen Bereich“ der Germanistik. Überwiegend schreibt er Prosa und möchte, motiviert durch die Arbeit an diesem Projekt, mit seinen Kurzgeschichten weiter über Bosnien aufklären. Juli Zeh – Ein Hund läuft durch die Republik Geschichten aus Bosnien Herausgegeben von Juli Zeh, David Finck und Oskar Terš 144 Seiten. Gebunden. ISBN 3-89561-057-7 EUR 16,90 Saša Stanisiç, Student am Deutschen Literaturinstitut Leipzig, ist im Gegensatz zu Kukiç schon ein erfahrener Autor mit mehreren veröffentlichten Geschichten und mit einem Roman, an dem er gerade arbeitet. Ständiges Thema ist bei ihm die Frage der Rückkehr MitOstmagazin extra 7 mitost magazin extra ¬ mitost magazin extra ¬ Breslau – Festung des Multi-Kulti Ida Moegelin sieht verzweifelt und müde aus. Heute hat sie sich in ihrer Heimatstadt verlaufen. „Wegen der ganzen Neubauten und der umbenannten Straßen konnte ich mein Haus nicht mehr finden“, sagt sie enttäuscht. Nach fast 60 Jahren ist sie in die Stadt zurückgekehrt, wo sie aufgewachsen ist. Heute tragen hier die Straßen doppelte Namen und die Einwohner stammen aus allen Ecken der Welt. „Ich denke, dass Breslau die liberalste Stadt Polens ist. Allein deswegen, weil hier so viele internationale Wurzeln zusammengeflochten sind“, sagt Jolanta Bielanska. Sie sitzt in der rot-weißen Breslauer „Mediatheke“, die mit den zahlreichen Bildern an den Wänden einer avantgardistischen Kunsthalle ähnelt und hält einen Vortrag über die polnische Kunst vor einem Dutzend Interessierten. Die Familie der 35-Jährigen Polin stammt aus Lemberg und teilweise aus Armenien. Sie ist Malerin in Breslau, der viertgrößten Stadt Polens, und kann stundenlang über die Kunst und Geschichte ihrer Wahlheimat erzählen. „Wir in Wrocław haben ein Problem mit der Identität, sind auf der Suche nach uns selbst“, sagt Jolanta. Eine Verkörperung davon sei der Künstler Andrzej Dudek Dürer, der sich als Inkarnation von Albrecht Dürer preist. „Und ich glaube ihm“, lächelt die Malerin. ¬ Anna Litvinenko, n-ost-Korrespondentin und MitOst-Mitglied Die Identität von Breslau, in Polen Wrocław genannt, wurde von Böhmen, Polen und Deutschen geprägt, denen die Stadt zu verschiedenen Zeiten gehörte. 1763 wurde sie Teil von Preußen und entwickelte sich im 19. Jahrhundert zu einer der wichtigsten Städte Deutschlands. 1945 wurde Breslau zur Festung umgewandelt. Heute noch sind manche Straßen in Breslau viel zu breit für eine mittelalterliche Stadt: In der Festung wurden viele Häuser gesprengt, um etwa die Flugbahn oder den Bunker für den Gauleiter Hanke zu bauen. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als Polen die deutschen Gebiete im Westen bekam, wurde die Stadt wie auch der größte Teil Schlesiens polnisch. Viele Breslauer, vor allem junge Menschen, wollen nichts mehr mit der Geschichte zu tun haben und genießen es einfach, auf dem Kreuzweg verschiedener Kulturen zu leben. „Mir ist es egal, wie die Stadt genannt wird – Breslau oder Wrocław, ich verbinde mit dem alten Namen keine Erinnerungen wie die alte Generation“, zuckt Anna Karolina Wieszczek die Schultern, wenn man nach dem Namen der Stadt fragt. Sie schlürft ihren Kaffee auf der Flaniermeile der Altstadt, die am Mittag voll ist mit beschäftigten Männern und zierlichen Frauen, deren Stöckelschuhe immer wieder schief auf das Pflaster treten. Die 26-Jährige ist hier aufgewachsen, hat studiert und ist seit diesem Jahr mit einem DAAD-Stipendium nach Hamburg gegangen. Wenn es um die Zukunft geht, wirkt sie inspiriert. „Ich will meine künftige Berufstätigkeit unbedingt mit der Aussöhnung unserer Völker – der Deutschen und Polen – verbinden“, sagt sie. „Deswegen engagiere ich mich schon seit einigen Jahren bei MitOst und anderen Institutionen.” Immer wieder stößt man in Breslau auf alte deutsche Inschriften, wie etwa auf dem Friedhof oder in den zahlreichen Kirchen auf der Dominsel. Die Zeit verwischt allerdings langsam die deutschen Spuren in der Stadt. Es gibt hier keine deutsche Gemeinde, wie etwa im benachbarten Opeln, und nur die auf Deutsch zwitschernden Nostalgietouristenscharen erinnern hier und da an die schon verstaubte Vergangenheit. Die 85-Jährige Ida Moegelin ist eine dieser Touristen. Sie kann selbst mit Hilfe ihres Spazierstocks kaum laufen, will aber nicht die Gelegenheit versäumen, vielleicht zum 8 MitOstmagazin extra MitOstmagazin extra letzten Mal für zwei Tage ihre Heimat zu besuchen. Sie sitzt im Schweidnitzer Keller, dem deutschen Restaurant am Breslauer Marktplatz, heute „Piwnica Swidnicka“ genannt. Sie hat Fisch mit Kartoffeln bestellt, ist enttäuscht, dass man hier nicht mehr ihr Lieblingsbackobst mit Klopsen serviert. „Nicht weit von hier hat meine Schwester damals im Wäschegeschäft gearbeitet. Die Damen im Geschäft waren so elegant: In schwarzen Röcken und weißen Blusen“, schwärmt die Berlinerin. Sie ist bis 1946 in der Stadt geblieben, als Breslau schon längst von Russen besetzt war. Sie habe sich damals daran gewöhnt, unter ständiger Lebensgefahr zu leben. Im Oktober 1944, als die ersten Bomben auf die Stadt fielen, hat sie ihren ersten Mann geheiratet, mit dem sie später nach Berlin geflohen ist, nach Ostberlin. Die Tränen drängen sich in die Augen der alten Dame, als sie sich an ihre Vergangenheit erinnert. „Ich hatte eine wunderschöne Kindheit hier in Breslau“, reißt sie sich zusammen und will lieber über die Glücksmomente in ihrem Leben erzählen, viele, die mit dieser Stadt verbunden sind. Liebe hat die junge Belarussin Larissa Moszizynska nach Breslau geführt. Seit sieben Jahren lebt sie hier mit ihrem polnischen Mann und sagt, die Stadt wäre nicht immer so weltoffen gewesen wie heute. Es hätte Zeiten gegeben, noch nicht lange her, als man in Breslau lieber kein Russisch sprechen sollte. Heute habe sich die Situation sichtlich geändert. „Auf der Straße hört man alle möglichen Sprachen.“ Auch Russisch sei in Polen wieder willkommen, ungefähr zehn Abiturienten ringen um einen Platz in der RussistikAbteilung der Universität. „Die Polen haben verstanden, dass die Russen so wie die Deutschen ihre wichtigsten Partner sind“, sagt die Ökonomin. „Heute ist die Stadt sehr international“, freut sich Larissa. Ein Zeichen dafür sei auch das MitOst-Festival, an dem sie in diesem Jahr zum ersten Mal als Volontärin teilgenommen hat und sogar auf dem Marktplatz zum Berlin-Lied den MitOst-Tanz mittanzte. Trotz der Offenheit gen Westen wie gen Osten kann die Stadt doch die von Warschau gesetzten Schranken nicht überwinden. Jolanta Bielanska erzählt in der hochmodernen Breslauer „Mediatheke“, wie die katholische Kirche die moderne polnische Kunst unterdrücke und wie schwer es sei, sich als provinzieller Künstler gegen Warschau zu behaupten. „Unter Kaczynski wird die Kontrolle noch stärker“, seufzt sie. Doch ihre schwarzen Augen beginnen zu funkeln, wenn sie nach der Freiheitsbewegung der 80iger Jahre in Breslau befragt wird. Die Anhänger der Breslauer „Orangen Alternative“, die sich Bergmännchen nannten, brachten damals die Polizei mit ihren „flash mobs“ außer sich. Sie erschienen auf den Straßen zum Beispiel als „Geheimagenten“, die verdächtig über ihre schwarze Brille guckten oder begannen, auf dem Marktplatz zu hopsen. Heute sind über die Altstadt kleine Steinbergmännchen verstreut – ein Denkmal für die witzigen Freiheitskämpfer. Dass die „Orange Alternative“, die sowohl gegen die kommunistische Regierung als auch gegen die konservative Solidarnosc auftrat, in Breslau entstand, findet Jolanta Bielanska symbolhaft. Schließlich sei Breslau eine der liberalsten Städte Polens. Ida Moegelin schaut sich um auf dem großen Marktplatz. „Die Polen sind sehr gute Restauratoren, das muss man zugeben“, sagt sie und zeigt auf die glänzenden Fassaden der Kaufhäuser. „Aber die Atmosphäre von damals kann man hier natürlich nicht mehr wiedererkennen“, seufzt sie und will zum zweiten Mal an diesem Tag ihr Geburtshaus suchen gehen. 9 mitost magazin extra ¬ mitost magazin extra ¬ "Den Trick finden": n-ost bringt Osteuropa in deutschsprachige Medien ¬ Thomas Kirschner, MitOst-Mitglied, Prag „Maluch“ nennen ihn die Polen liebevoll – „Winzling“. Der polnische Lizenzbau des Fiat 126 hat einst die halbe Nation motorisiert, und die Polen vergelten es ihm mit anhaltender Zuneigung. Ein Artikel über den polnischen Maluch-Kult (vgl. MitOst Magazin Nr. 16) ist eines der Vorzeigestücke des jungen Korrespondenten-Netzwerkes n-ost. Zahlreiche Abdrucke in deutschen Zeitungen zeigen, dass das Modell n-ost funktioniert und Themen aus dem Osten auch im Westen auf Interesse stoßen können. Auf dem MitOst-Treffen in Breslau stellte sich n-ost für alle Interessierten vor. Rund 70 Berichterstatter in 20 Ländern Mittel- und Osteuropas haben sich unter dem Dach von n-ost zusammengefunden - von Journalisten mit langjähriger Praxis bis hin zu engagierten MOE-Kennern. Ihr Anspruch: unmittelbar und unkonventionell aus den Regionen Mittel- und Osteuropas in den deutschen Sprachraum zu berichten. So will n-ost zu einer anderen Wahrnehmung des osteuropäischen Raumes beitragen. Und langfristig auf das Wunschziel hinarbeiten, in den deutschsprachigen Medien eine Lobby für die Themen dieser Region zu schaffen. „Du musst einen Trick finden, um osteuropäische Themen in Deutschland anzubringen“, erläutert Andreas Metz eine der Haupthürden auf dem Weg in die deutschen Medien. Er ist einer der Mitinitiatoren von n-ost und leitet heute das Berliner Büro des Netzwerks. Aktuell und originell müssen die Themen sein. Gute Bilder sind daneben nicht nur die beste Visitenkarte für den Text, sondern können auch das Autorenhonorar erheblich aufbessern. Wichtig ist schließlich auch der Bezug zur deutschen Lebenswirklichkeit. „Nicht alles, was die Menschen auf dem Kaukasus bewegt, kann auch in Deutschland Interesse beanspruchen“, meint Metz. „Oft ist der umgekehrte Ansatz erfolgversprechender – also von den Themen auszugehen, die in Deutschland gerade diskutiert werden und dann nachzuschauen: was gibt es dazu aus Lettland, Belarus, Kasachstan zu sagen.“ Bestes Beispiel aus der letzten Zeit: Als sich zum Regierungswechsel ganz Deutschland für den Werdegang der Frau interessierte, die nun erste Kanzlerin der Republik werden sollte, da bot n-ost einen Artikel über die familiären Wurzeln von Angela Merkel an, die ins heutige Polen führen. Heimat im Wilden Westen ¬ Oxana Mezentseva, MitOst-Mitglied, Berlin Im Rahmen des MitOst-Festivals in Breslau wurde im Kino „Lalka“ auch der Film von Ute Badura „Schlesiens Wilder Westen“ gezeigt. Als ich diesen Film sah, ist mir ein Gedicht eingefallen. Es gehört bei uns zu jenen Gedichten, die die Schüler gleich in der ersten Klassenstufe in der Schule lernen: Wo fängt die Heimat an? Mit einem Bild in deiner Fibel, Mit guten und treuen Freunden, Die in einem Nachbarhof wohnen. Und vielleicht fängt sie mit jenem Lied an, Das uns die Mutter sang. Es ist jenes, was uns niemand niemals nehmen kann. Der Film zeigt aber das Gegenteil der letzten Strophe. Es geht um die Geschichte eines Dorfes in Niederschlesien – früher hieß es Seifershau, heute Kopaniec. Die Welt dieses Ortes ist durch die Vertreibung der Deutschen und die Neuansiedlung der Polen, die oft selbst Vertriebene aus der heutigen Ukraine waren, geprägt. Die Autorin zeigt uns viele Geschichten, die von Polen und Deutschen, von Krieg und Vertreibung und auch vom gemeinsamen Leben im Dorf nach dem Krieg berichten. Die erste Zeit nach dem Kriegsende wurde diese Region in Polen „Der Wilde Westen“ genannt. 10 Entstanden ist n-ost 2003 aus einer Initiative von Boschlektoren. Heute gibt es ein n-ost-Büro mit zwei Mitarbeitern und einen eigenen Etat von der Robert Bosch Stiftung. Aus einem Versuchsballon ist eine professionell arbeitende Agentur geworden. Gelernt hat man dabei vor allem aus Fehlern: „Am Anfang haben wir alle gedacht, wir müssen für den Spiegel schreiben“, erinnert sich Metz. Die seitenlangen Manuskripte fanden jedoch, wenn überhaupt, dann nur radikal gekürzt den Weg in den Druck. Auch der ständigen Verlockung, der Welt ihre Meinung zu sagen, geben die n-ostler mittlerweile nur noch selten nach: „Kommentare sind das Königsgenre und damit das ureigenste Revier der alten Platzhirsche in den Redaktionen. Da darf jemand von außen nur ganz ausnahmsweise einmal ran“, erzählt Metz mit einem Schulterzucken. Inzwischen hat sich n-ost auf die Bedürfnisse der Zeitungen eingestellt – und die haben Vertrauen zu dem neuen Partner gefasst. Werktäglich bietet das Netzwerk im Schnitt zwei Artikel an, im Monat können die n-ostler mittlerweile 35 bis 40 Abdrucke zählen. Zu den Kunden zählen neben zahlreichen lokalen und regionalen Zeitungen inzwischen auch die Frankfurter Allgemeine, die Welt, die taz und Spiegel online. „Manche Artikel werden gar nicht genommen, manche gleich von mehreren Zeitungen“, berichtet Andreas Metz. „Reich werden dabei allerdings weder die Autoren, die nach dem Standardsatz der Zeitungen bezahlt werden, noch das n-ost-Koordinationsbüro, das eine Provision einbehält. Diese Einnahmen reichen nicht einmal zur Deckung der Bürokosten, und das dürfte auch auf absehbare Zeit so bleiben.“ Daher versteht sich n-ost eher als Interessensvertretung denn als Wirtschaftsunternehmen. Jedenfalls ist die Zahl der Abdrucke nicht das einzige Maß, an dem Andreas Metz die Wirkung von n-ost gemessen sehen will: „Auch die Artikel, die nicht gedruckt werden, werden von den Redakteuren gelesen, geben Anregungen und bereiten das Feld für osteuropäische Themen. Und wenn das nächste Mal ein Artikel zu einem ähnlichen Thema kommt, dann denkt der Redakteur nicht mehr ´Was ist denn das?´ sondern ´Aha - darüber habe ich doch schon mal etwas gelesen!´" Seit Mitte der 70iger Jahre kommen immer mehr deutsche Reisegruppen nach Kopaniec. Es sind Schicksalsgenossen, sie wollen die alte Heimat wiedersehen, beim Zusammensein sich über ihren Lebensweg unterhalten, die alten Häuser besuchen, und wenn es sich ergibt, auch Gespräche mit den heutigen Besitzern führen. Es ist dieser sehr persönliche Zugang zum Thema, der emotional berührt, oftmals auch aufwühlt. Ich, der durch den Film das erste Mal mit dem Thema intensiv in Berührung kam, wurde „gepackt“ von den Schilderungen der Menschen. Jeder erzählte sein Schicksal, wie er es erlebt und heute in seiner Erinnerung aufbereitet hat. Unmittelbare historische Wertungen werden nicht gegeben, man versteht die Menschen, will dem einen und dem anderen Recht geben und sieht sich plötzlich mitten in der Zerrissenheit dieses Gegenstandes wieder. Die Regisseurin zeigt auch die Lebenswege von nach Sibirien vertriebenen und zurückgekehrten Polen sowie von Deutschen, die eine familiäre Verwurzelung in Schlesien besitzen und hier einen Neuanfang wagen. Nach der Filmvorführung hatten die Zuschauer die Möglichkeit, mit der Regisseurin ins Gespräch zu kommen und eigene Ansichten über den Film zu äußern. Das Publikum im Saal war gemischt, darunter auch direkt oder indirekt (über ihre Eltern oder Großeltern) Betroffene. Ein Pole hatte Frau Badura folgende Frage gestellt: „Warum haben Sie in keiner Aussage in ihrem Film hervorgehoben, dass alles, was damals geschehen ist, Hitlers und damit der Deutschen Schuld ist?“ „Es liegt alles viel tiefer“, – antwortete sie. Und sie hat Recht. MitOstmagazin extra Hawdala im Weißen Storch Eine junge Szene und eine reiche Vergangenheit charakterisieren die jüdische Gemeinde Breslaus. Das konnten die Festivalteilnehmer bei einem Synagogenkonzert und Friedhofsbesuch erfahren. ¬ Nina Körner, n-ost-Korrespondentin Punkt 18:43 müsste es beginnen, das Hawdala-Konzert, genau zum Sonnenuntergang, genau zum Shabbat-Ende, wenn in ganz Breslau die letzten Sonnenstrahlen durch gelbe Ahornblätter fallen. Doch an diesem Oktobersamstag beginnt es etwas später. Man wartet auf die Gäste des MitOst-Festivals. Mehr als dreihundert Personen drängen sich in der Breslauer Synagoge „Zum weißen Storch“, um den Klezmersound der Gruppe „Cukunft“ zu hören. Deren Besetzung ist unkonventionell. Neben Klarinette und Fagott gibt es Schlagzeug und eine Elektrogitarre, auf der zuweilen gegeigt wird. Es gibt nichts, was die Musik aufhalten kann. Nur Erdgeschoss und Decke der Synagoge sind renoviert, die Bögen der zweistöckigen Balustrade zeigen blanke Ziegel. Melancholische und übermütige Töne ziehen durch einen einzigartigen Raum zwischen Jugendstil und Neuer Sachlichkeit. „Hawdala ist ein kleines Ritual, das den Shabbat von der weltlichen Zeit, der Arbeitswoche, trennt. Danach haben wir unsere Konzerte benannt“, erklärt Karolina Szykierska, die zierliche Organisatorin. Für Karolina sind die Synagogenkonzerte Teil eines jüdischen Revivals: „Die Generation unserer Eltern wurde im Sozialismus atheistisch erzogen. Daher besteht die jüdische Gemeinde zum großen Teil aus älteren Leuten. Doch es gibt immer öfter junge Leute, die nach ihren Wurzeln suchen. Wie bei unseren Konzerten in Breslau.“ In Breslau, das ist ihr wichtig. Breslau war die Stadt des assimilierten, deutschsprachigen Judentums, im Gegensatz zu Krakau, wo sich das osteuropäische Judentum sammelte. Das zeigen auch die unorthodoxen Formen der MitOstmagazin extra Gräber, die kleinen Pyramiden und Tempel in klassizistischem Stil oder in Art Deco, auf dem jüdischen Friedhof im Süden der Stadt. Von 1806 bis 1942 ließ sich das aufgeklärte Judentum hier bestatten. Zwischen Efeuranken, Baumstümpfen, gelbem Ahornlaub liegen Berühmtheiten: Ferdinand Lassalle, der Philosoph und Gründer der ersten sozialistischen Partei in Deutschland, nachdem er sich mit dem Vater seiner künftigen Frau duelliert hatte. Mehrere deutsche Kanzler haben bei Polenreisen diesem Grab einen Besuch abgestattet. Oder Edith Stein, die zum katholischen Glauben konvertierte, den Karmeliterinnen beitrat und aus ihrem Ordenshaus deportiert wurde. Seit vierzehn Jahren führt Wladislaw Cagara über das Friedhofsmuseum. „Neun von vierzig jüdischen Nobelpreisträgern stammen aus Breslau und Umgebung“, erzählt der alte Mann einer polnischen Schulklasse leidenschaftlich. Dreihundert Mitglieder zählt die jüdische Gemeinde Breslau heute. Mehr als in Krakau, wie Karolina betont. Wegen der bewegten Stadtgeschichte, dem Kommen und Gehen verschiedener Nationalitäten, findet sie nichts typischer für Breslau als Internationalität und Offenheit. Wenn sich auch alte Möbel im Flur der Synagoge stapeln, die Stiegen baufällig sind und die Renovierung sich wegen fehlender Mittel hinzieht, so ist Breslau, nach Karolinas Worten, doch „der schönste Fleck in Polen“. Mag sein, dass mancher Festivalteilnehmer ihre Meinung teilt, während er über den nächtlichen Synagogenhof geht und das gelbe Laub leise unter den Füßen raschelt. 11 mitost magazin extra ¬ mitost magazin extra ¬ Lächeln unter anderen Umständen Interview mit einem belarussischen Festival-Teilnehmer, der internationale Bildungsprojekte mit Jugendlichen und Erwachsenen koordiniert Der Abend im Projektehaus: Was ist für Sie Belarus und die „Europäische Union? Die EU ist eine Union von vielen Ländern, wo man die Werte von Freiheit, Gleichberechtigung wirklich im Alltagsleben nicht nur sehen, sondern auch diskutieren kann. Denn wenn ich die Situation in meinem Land sehe, dann haben wir im Prinzip mehr Kontrolle als Freiheit. Wenn man nach Westeuropa fährt, dann nimmt man einen Atem von Freiheit mit. Dann kommt man wieder nach Weißrussland und wenigstens für ein Jahr reicht es, die Freiheit in Portionen auszuatmen. Ich mag mein Land sehr, weil die Natur schön ist, das ist ein bisschen poetisch, es gibt gute, kreative Leute mit interessanten Ideen, die sogar unter den heutigen Bedingungen sehr viel machen. Die Leute sitzen mit einem Lächeln im Restaurant, ich würde sagen, wir sind nicht von der Mentalität, dass wir mit Schwierigkeiten traurig leben, sondern wir lachen! Wie schätzen Sie den Widerstand in Belarus ein? Es kann sein, dass es einen Zufall gibt, dass plötzlich Zehntausend auf die Straße gehen würden. Und diese Zehntausend würden dann immer wieder kommen. Aber die Umstände sind nicht so wie in der Stalinzeit, dass man Angst haben muss, dass ein Auto in der Nacht kommt und dich mitnimmt. Man hat eine Arbeit, man hat ein Existenzminimum, die Menschen sind dadurch weniger revolutionär. Und über normale Wege wie die Wahlen ist man gewohnt, dass sich nichts mehr verändert. Lukaschenko arbeitet nach dem Prinzip von Stalin: „Die Wahlen gewinnt nicht der, der wählt, sondern der, der zählt!” In Belarus haben nur 20 Prozent der Leute Zugang zu alternativen Informationsquellen, die auch wissen, dass es Deklarationen gibt gegen das Regime. Die unabhängige Tageszeitung „Narodna Volja“ können Sie zum Beispiel nicht am Kiosk kaufen. Projekte für und mit Belarus durchzuführen, wird immer schwerer. Was kann man Ihrer Meinung nach überhaupt noch tun? INFOTEXT: Während des Festivals in Breslau organisierte die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik eine Podiumsdiskussion. Unter dem Thema „Neue Grenzen in Europa – oder neue Chancen einer Wie Europäischen Nachbarschaftspolitik?!“ debattierten mehrere Politiker und Politikwissenschaftler über das künftige Verhältnis zwischen Europäischer Union und Belarus. Wenn es die Möglichkeit gibt, dann soll man private, kleine Projekte machen, keine großen Projekte, weil, die kann man sehr gut bremsen. Durch viele kleine könnte ein großer Fluss entstehen. Aber momentan wird die Situation allgemein immer schlimmer. Deswegen sollte man mit den Leuten, die zu den Demonstrationen kommen, Solidarität zeigen. Nicht nur alle paar Monate, sondern immer wieder. könnte Belarus in zwanzig Jahren aussehen? Ich bin optimistischer Pessimist, hier eher Optimist. Gerade das, was ich heute mache, mit all den Schwierigkeiten, muss ich machen, auch wenn es gefährlich ist. Belarus wird vielleicht kein Mitglied der Europäischen Union werden. Aber ich bin auch gegen eine Union mit Russland, denn das bedeutet, wir würden einfach gefressen werden. Die EU würde ich als sehr, sehr guten Nachbar sehen. Ich glaube, Belarus könnte einmal so ein unabhängiger Staat wie die Schweiz werden. ¬ Das Gespräch führte MitOst-Mitglied Andrea Nehr. Nach einem Gesetz, das die belarussische Regierung Ende 2005 verabschiedet hat, können Personen, die sich im Ausland kritisch über Weißrussland äußern, mit Haftstrafen belangt werden. Deshalb wird der Name des Interviewten nicht genannt. 12 MitOstmagazin extra ¬ Sanna Schondelmayer, MitOst-Vorstandsmitglied 2004/2005, Berlin Hurra, die Projekte sind im Haus! Endlich! Und dann auch noch in einem so schönen Haus. Durch die großen Flügeltüren des Puppentheaters, dass majestätisch über der Festivalzentrale thront, kommt man über eine marmorne (oder zumindest an Marmor erinnernde Treppe) in den großen Saal des Hauses, dessen hohe Decken durch 6 stolze Säulen getragen werden. An den Säulen, mit feinen Bändern befestigt, hängen Fotos, Plakate und Beschreibungen, rechts schmücken drei gelbe Tuchbahnen, die von unten rot beleuchtet werden, den Raum. Entlang der mintgrünen Wände stehen mit Stoffen geschmückte Tische, darauf Kartonbögen ebenfalls mit Fotos und Beschreibungen und auf den Tischen findet der Besucher weiteres Anschauungsmaterial. In den vier Ecken des Raumes je zwei Aufstellfahnen, die dem Gast den Weg zu den Programmen weisen, die sich am Fuße ihrer Fahnen mit schwer beladenen Tischen voll Informationsmaterial, Fotos und Hörbars positioniert haben. Der Säulengang führt zu einer weiteren Tür, die sich als Eingang in ein Zugabteil entpuppt. Quer durch Osteuropa kann man hier fahren, wenn man eine Idee für ein spannendes Projekt hat, in dem es um Völkerverständigung, um Sprach- und Kulturaustausch, um das praktische Erleben interkultureller Kommunikation geht. Öffnet man die Hintertür des Europazuges, umgibt einen Dunkelheit – Stille – zunächst. Hat sich das Auge nach dem Sprung aus dem Zug an die Umgebung gewöhnt, sieht der Ankömmling eine große Filmleinwand, hört leises Gewisper in den Reihen der Zuschauer und wird von den Filmemachern mitgenommen auf die nächste Reise, als retrospektiver Zuschauer eines Projektes nach Litauen, nach Galizien oder in die transzendenten Welten der Frage: was sehe ich? Gerade mal zwei Stunden haben die Zuschauer Zeit, sich alles anzusehen, mit den Projektleitern, die neben ihren Exponaten stehen, zu reden, Fragen zu stellen, gemeinsam Ideen für neue Projekte zu spinnen. Zwei Stunden sind die Räume voll von Stimmengewirr. Hier wird gelacht und dort ernsthaft diskutiert, da vorne bemüht sich jemand, jedes Projekt ganz genau anzusehen und hier mittendrin lässt man sich mit einem Glas Wein in der Hand eher durch die Menge treiben, erhascht hier und da einen Blick auf ein Exponat. Kaum einer ist an diesem Abend zu Hause geblieben. Man hat den Eindruck eines gelungenen Abends und keiner möchte um 22.00 Uhr gehen. Um 23.00 Uhr haben es die Heinzelmännchen und der Hausmeister des Puppentheaters geschafft: auch die letzte gutgelaunte Gruppe der Projekthausbesucher ist gegangen, die schweren Türen fallen ins Schloss. So märchenhaft erschien mir alles am Abend der Eröffnung. Aber wagen wir mal einen Blick zurück. Die Vorgeschichte zum Projektehaus: Mitte Juli 2005. Monika Sus ist in Breslau bereits tief in die Vorbereitung des Festivals eingestiegen. Langsam wird es auch für mich Zeit, die Präsentation der Projekte zu planen. Obwohl ich weiß, dass viele Projekte noch im Laufen sind, manche gerade erst begonnen haben, denke ich, es ist höchste Zeit, die Projektleiter wegen ihrer Präsentation anzufragen. Auf meine Rundmail bekomme ich von 13 Projektleitern zwei schnelle und klare Antworten, von fünf weiteren sehr nette E-Mails mit MitOstmagazin extra guten Gründen, warum sie sich jetzt noch nicht mit dem Thema Präsentation befassen können; von manchen höre ich gar nichts. Dann plane ich eben zunächst den Raum, denke ich mir und rufe Moni in Breslau an. Aber welche Angaben soll ich ihr mitteilen? Wie viele Leute werden präsentieren? Wie viel Platz brauchen sie? Was muss sonst in dem Raum sein? All das kann ich zu diesem Zeitpunkt nicht beantworten. Gut, denke ich mir, fange ich eben mit den Programmleitern an. Die Programme sollen ja auch im Projektehaus präsent sein, denn es geht schließlich auch darum, zu zeigen, wie vielfältig und breit die Projektarbeit bei MitOst gefächert ist, darum, Projektleiter und Projektinteressierte zu vernetzen und den Mitgliedern zu zeigen, wo sie sich überall engagieren können. Eine grobe Absprache mit den Programmleitern ist schnell getroffen, aber auch die möchten gerne Konkreteres wissen. Wie viel Platz können wir haben? Sollen wir auch Projekte aus unseren Programmen präsentieren? In welcher Form präsentieren sich die anderen? Es hilft nichts. Ich muss mehr von den Projektleitern wissen. Die nächste Rundmail geht raus. Auch hier bleibt die Resonanz spärlich und häufig unkonkret: Ja, wir kommen zum Festival! Ja wir möchten gerne was präsentieren. Vielleicht Fotos oder einen Film. Unser Projekt hat gerade angefangen, wir können noch nichts sagen! Verständlich! Ich merke, dass ich kurzfristiger planen muss und widme mich anderen Dingen. Ende August. Der Raum steht. Ein schöner Raum, groß, hell, direkt über der Festivalzentrale. Perfekt! Nur darf man nichts an die Wände hängen. Nicht kleben, nicht nageln. Nichts. Stellwände gibt es drei. Und ich habe 13 Projekte und 4 Programme. Partner und Freunde von MitOst haben inzwischen auch schon ihr Interesse angekündigt. Eine Konstruktion zur Hängung muss her. Möglichst günstig und freistehend. In der Schillerstrasse werden Ideen und Stoffe und Seile gesammelt, in Breslau nach Kartonherstellern geforscht. Aber Moni kümmert sich schon um alles andere, die Kartons muss ich also selbst besorgen. Von den Projektleitern trudeln die ersten konkreten Angaben ein. Es beginnt die Zeit der Nach- und Rückfragen. „Kann ich einen Beamer und einen PC mit Wechsellaufwerk haben? Gibt es Internetzugang im Projektehaus? Ich würde gerne 20 Fotos aufhängen!“ Die Spannung steigt. Lässt sich alles, was ich mir am Schreibtisch ausgedacht habe, in den Räumen umsetzen? 23. Oktober. Ich reise nach Breslau. Der Raum ist wunderbar. Woher ich die Kartonplatten bekomme - noch unklar. Tische können wir aus einer Schule am anderen Ende der Stadt ausleihen. Am folgenden Tag kommt der Kleinbus aus der Schillerstrasse an mit den Stoffen, den Aufstellern und mit Miriam, die in den folgenden Tagen erleben wird, was ihre Tätigkeit als Büroleiterin so alles beinhaltet. Einen Kleinbus durch eine fremde Stadt kutschieren, Tische und Stühle tragen sowie den Bus so packen, dass alles zur richtigen Zeit am richtigen Ort ausgeladen werden kann. Seile spannen, Tische verschrauben, Ruhe bewahren und ein Lächeln. Sylwia erklärt uns die Fahrtstrecken und schickt Helfer, Nadine Csonka kommt mit der Wahlurne und krempelt die Ärmel hoch und jedem, der beim Aus- und Einladen vorbeikommt, wird schnell ein Tisch unter den Arm gedrückt. Der Hausmeister – zunächst – zurückhaltend, ist aufgetaut und hilft, so gut er kann. Überwacht aber auch streng, dass wir die Wände nicht berühren. Am 25. Oktober kommen die ersten Projektleiter. Plätze, Kartonplatten, Klebstifte, Scheren und Stoffe werden verteilt. Im angrenzen Theaterraum werden die Leinwand und der Beamer für Filme, Powerpoint und Diashows installiert. 26. Oktober. Nach der offiziellen Eröffnung am Morgen bleiben am Nachmittag drei Stunden, um alles bis 20.00 Uhr aufzubauen. – Vorher konnten wir den Raum nicht bekommen. Um 17.30 Uhr – die Projektleiter warten drauf, dass sie ihre DVDS und CDs testen können, teilt mir der Hausmeister mit, im kleinen Theater, wo unser Beamer steht, finde jetzt eine Kinderveranstaltung statt, die verlegt werden musste. Ab 19.30 Uhr könnten wir den Raum aber haben. Ich nehme an, es war die Panik, die sich in meinem Gesicht abgezeichnet haben muss, die unseren Ansprechpartner dazu brachte, für die Kinder doch noch einen anderen Raum zu finden. Und so hing, stand und funktionierte um 19.30 Uhr alles so, als sei es schon immer da gewesen. Na ja fast. Aber auf kleine Änderungen kam es an diesem Punkt nicht mehr an. Jeder und jede der Aussteller und Helfer hatte in den letzten Stunden dazu beigetragen, dass ein gelungener Abend und eine schöne Präsentation zustande kamen. 13