Chronik eines absehbaren Todes?
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Chronik eines absehbaren Todes?
vom 22.01.2015 Chronik eines absehbaren Todes? Bloß keine Schuldzuweisungen: Das Freiburger Kinderschutzzentrum und das Landratsamt äußern sich zum Schicksal des dreijährigen Lenzkirchers Vo n u n s e r e m R e d a k t e u r Wulf Rüsk am p Die Warnungen waren eindeutig: Eine Rückkehr des Kindes in die Familie ist nicht zu verantworten. Das haben die Experten der Freiburger Universitätskinderklinik und des dortigen Pädiatrischen Kinderschutzzentrums dem Landratsamt Breisgau-Hochschwarzwald im August schriftlich mitgeteilt. Wie konnte es dann aber geschehen, dass am vergangenen Freitag der Dreijährige mit seinem allem Anschein nach gewalttätigen Stiefvater allein war im Haus der Familie in Lenzkirch? Dies ist eine Frage, die die Ärzte, Psychologen und Betreuer in der Kinderklinik umtreibt. Tief bestürzt haben sie erfahren, dass das Kind, das sie fünf Monate zuvor behandelt hatten, tot ist – vermutlich durch Schläge des Stiefvaters, auch wenn der im Verhör der Polizei behauptet, das Kind sei die Treppe hinuntergestürzt. Der medizinische Befund ist eindeutig: Todesursache waren schwere innere Verletzungen, die, so sagt Staatsanwalt Wolfgang Mächtel, nicht durch einen Sturz auf der Treppe entstanden sein können. Wie konnte es dazu kommen? Die Ratlosigkeit beherrscht auch die Pressekonferenz, in der sich am Mittwochmittag in Freiburg Vertreter von Kinderklinik und Kinderschutzzentrum zu dem Fall äußern. Auch auf eindringliches Nachfragen bleiben Charlotte Niemeyer, Direktorin des Zentrums für Kinder- und Jugendmedizin der Universitätsklinik, und ihre Chefarztkollegin Ute Spiekerkötter dabei: keine Schuldzuweisungen, keine einfachen Erklärungen. Aber man müsse für den Kinderschutz besser zusammenarbeiten, um solche schrecklichen Vorfälle in Zukunft zu verhindern, sagt Niemeyer. Doch was ist mit der unmissverständlichen Warnung der Kinderklinik, die das Landratsamt nach nur drei Monaten beiseitegelegt hatte, als die Eltern darauf bestanden, die Familie wieder zusammenzuführen? Als Antwort nur so viel vonseiten Spiekerkötters: „Natürlich gibt es in solchen Fällen eine Dynamik und Erkenntnisse, zu denen wir aber keinen Kommentar abge- Ute Spiekerkötter Hinter diesen Fenstern ist der Dreijährige ums Leben gekommen. ben können.“ Für den sich aber das Jugendamt vermutlich nicht interessiert hätte: Zwischen ihm und dem Kinderschutzzentrum herrschte Funkstille, nachdem das Kind die Klinik verlassen hatte – bedingt durch eine strikte Arbeitsteilung. Dafür aber, so berichtet Eva-Maria Münzer, Sozialdezernentin des Landkreises Breisgau-Hochschwarzwald, haben ihre Fachkräfte Anfang Oktober ohne Rücksprache bei den Fachkräften des Kinderschutzzentrums, entschieden, „dass es keine fachliche und rechtliche Grundlage für die Herausnahme des Kindes aus der Familie“ gebe, eine amtliche Inobhutnahme deshalb „nicht infrage kommt“. Wenn man so will, resultiert aus dieser Einschätzung der Tod des Dreijährigen. Einen Fehler will Münzer darin aber nicht sehen – auch wenn sie sagt: „Es wäre vermessen zu sagen, dass in der Jugendhilfe immer nur richtige Entscheidungen getroffen werden.“ Sie selber war, wie sie am Mittwochnachmittag vor den Journalisten sagt, an dieser Entscheidung nicht beteiligt – sie hat vom Fall des Dreijährigen überhaupt erst am Tag von dessen Tod erfahren. Bis dahin lief alles nur im Jugendamt. Was also hat dessen Entscheidung bestimmt? Sicher nicht die Vorgeschichte: 2011, als der Junge geboren wird, kümmert sich bereits im Auftrag des Jugendamtes eine sozialpädagogische Familienhilfe um die Familie. Ende Juli 2013 wird der nun Zweijährige erstmals im Zentrum für Kinder- und Ju- FOTOS: RALF MORYS/ MICHAEL BAMBERGER (2) gendmedizin an der Freiburger Universitätsklinik behandelt. Die Ärzte sowie ein Rechtsmediziner haben den Verdacht, dass er körperlich misshandelt worden ist, und melden dies dem Kinderschutzzentrum als „groben Umgang“. Das Jugendamt leitet daraufhin ein Kinderschutzverfahren ein; zur Familienhilfe, die fünf Stunden pro Woche vorbeischaut, stößt für acht Stunden am Tag eine Dorfhelferin hinzu. Das Jugendamt ist seit 2011 eingeschaltet Ende Juli 2014 zeigt sich, dass all dies die Gewalt in der Familie nicht aufhalten kann: Wieder wird der nun Dreijährige in die Freiburger Kinderklinik eingeliefert. Nun sind die Körperverletzungen so stark, dass die Klinik am 31. Juli Anzeige gegen unbekannt erstattet. An das Jugendamt des Landkreises geht ein Schreiben hinaus, indem umstandslos erklärt wird: Eine Rückkehr des Kindes in seine Familie sei nicht zu verantworten. Das Landratsamt reagiert nach Standard: Ein erneutes Kinderschutzverfahren kommt in Gang, und am runden Tisch erklären sich Mutter und Stiefvater einverstanden, dass Mutter und Kinder vom Stiefvater räumlich getrennt werden. 8. Oktober: An diesem Tag stellt die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen gegen den Stiefvater ein – die Beweislage reicht nicht aus, um ihn zu überführen, auch wenn bekannt ist, dass er den Buben hin und wieder schlägt. Zumal ihn die Mutter – sie habe ihn als „liebevollen Vater erlebt“ – und zwei weitere Zeuginnen entlasten: Mit seinen Erziehungsmethoden seien sie nicht immer einverstanden, aber gewalttätig hätten sie ihn nicht erlebt. Trotzdem bleibt die Tatsache der Verletzungen, die die Mutter vor der Polizei bagatellisiert: Ihr Sohn bekomme leicht blaue Flecken. Die Polizei weiß, dass das Unsinn ist – diese Einsicht liefert ihr keine Tat, keine Tatzeit, keinen Täter. Die Staatsanwaltschaft weist aber das Jugendamt ausdrücklich darauf hin, dass sie Handlungsbedarf sieht, um das Kind zu schützen. Für die Eltern, durch eine Anwältin beraten, ist die Einstellung der Ermittlungen der Zeitpunkt, um in die Offensive zu gehen: Sie wollen die Familie wieder zusammenführen. Dem stimmt das Jugendamt zu, macht dafür aber Auflagen, die Mutter und Stiefvater akzeptieren. Beide zeigen große Kooperationsbereitschaft, erklären sich bereit zur Familientherapie, zur Mutter-Kind-Kur, zu alle 14 Tage stattfindenden Kontrollen durch einen Kinderarzt. Dieses Auftreten beeindruckt die Fachkräfte des Landratsamtes offenbar. Münzer spricht von einer guten Entwicklung in der Familie, zumal der Stiefvater versprochen habe, an seinem Erziehungsstil zu arbeiten. „Es ist viel Positives passiert in den vier Monaten.“ Man dürfe, sagt die Sozialdezernentin auch, den Fall nicht vom Ende her betrachten, sondern müsse den Prozess in seinem Ablauf sehen. Und da hatte sich dann eben die Warnung des Kinderschutzzentrums erledigt. Die Kooperationsbereitschaft der Eltern spielt vor Familiengerichten eine zentrale Rolle: Stets müssten, so der Grundtenor einschlägiger Urteile, die Eltern die Chance erhalten, ihr Kinder selbst zu erziehen. Dass Jugendämter ihnen die vernachlässigten oder misshandelten Kinder wegnehmen, dagegen spricht mit großem Gewicht das Elternrecht. Der Kinderschutz hat oft das Nachsehen. „Nur fünf oder sechs Prozent aller Fälle der Jugendhilfe münden in einer Inobhutnahme“, sagt Münzer. Und obwohl das Kinderschutzzentrum die Misshandlungen des Dreijährigen als einen seiner schwersten Fälle eingestuft hat, kommen die gerichtserfahrenen Fachkräfte des Jugendamtes deshalb zum Schluss, dass eine Anrufung des Familiengerichts, die für die Inobhutnahme nötig ist, „nicht infrage kommt“. 10. Dezember: Die Mutter meldet sich aus einer zweimonatigen Kur mit ihren Kindern, aber ohne den Stiefvater zurück; sie möchten die für die Familie vereinbarten Hilfen des Jugendamtes fortführen. Die Familie lebt nun wieder unter einem Dach. Doch Mitte Dezember muss die Mutter in die Klinik; eine Dorfhelferin springt für 25 Stunden in der Woche ein, um die Familie zu versorgen. Eva-Maria Münzer 29. Dezember: Kontrollbesuch des Kinderarztes. 14. Januar: Die Familientherapie beginnt, der Stiefvater nimmt teil. 16. Januar: Der Stiefvater erscheint beim Kinderarzt, das leblose Kind auf dem Arm. Es sei die Treppe hinuntergefallen. Eine Stunde später wird der Dreijährige für tot erklärt. „Wir müssen uns mit dem Jugendamt zusammensetzen und den Fall aufarbeiten bis ins kleinste Teil“, sagt die Ärztin Spiekerkötter. „Irgendetwas muss schiefgelaufen sein an irgendeiner Stelle.“ Von Schieflaufen möchte Münzer nicht sprechen, aber auch sie sieht die Notwendigkeit, das Schicksal des kleinen Lenzkirchers aufzuarbeiten. „Wir können nicht zur Tagesordnung übergehen.“ LEITARTIKEL Der Tod eines Dreijährigen Die falsche Abwägung Vo n Wu l f R ü s k a m p Das Entsetzen ist groß: Da ist in dem lich und rechtlich nicht in Frage, das geSchwarzwalddorf Lenzkirch ein dreijäh- fährdete Kind aus der Familie herauszuriges Kind die Hälfte seines Lebens ge- nehmen, es also vor der dortigen Gewalt schlagen worden, und seit einer Woche zu schützen, hat diese Entscheidung siist es tot. Als Täter steht der Stiefvater in cher nicht willkürlich getroffen – aber Verdacht, immer wieder offenbar ge- ohne Rücksprache etwa mit der Kinderdeckt von seiner Lebensgefährtin, der klinik. Dies ist gesetzlich nicht verlangt. Mutter des Kindes. Dazu kommt Empö- Aber wäre es nicht angebracht im bisher rung: All das ist gleichsam unter den Au- schwersten Fall von Kindesmisshandgen des Jugendamtes des Kreises Breis- lung im Landkreis? gau-Hochschwarzwald geschehen. Aber Die Eltern, anwaltlich gut beraten, haEmotionen sollten in der Analyse des Fal- ben dem Jugendamt alles zugesagt, was les keine Rolle spielen, so niederschmet- begründen hilft, dass die Kinder bei ihnen bleiben können: Kooperation, Initiaternd er auch ist. Die Mitarbeiter des Jugendamts waren tive, Bereitschaft zu Therapie und Verja nicht untätig. Aber sie haben, schaut haltensänderung. Solchen Vätern und man auf den Tod des Dreijährigen, das Müttern, das ist Praxis der FamiliengeFalsche getan: Sie haben auf eine positive richte, nimmt man die Kinder nicht weg Entwicklung der Familie gesetzt, wäh- – ein ohnehin rechtlich stets schwieriger Schritt. Denn das Elternrend der Schutz des Kindes recht als Basis der Familie und damit dessen Inobhutnahme durch die Behörde Durch den Respekt hat hohen Rang, wie viele das Gebotene gewesen wä- vor dem Elternrecht Kinderschützer beklagen. Daher lenken Jugendämter ren. Gewiss, im Nachhinist in Lenzkirch in vorauseilendem Gehorein ist man stets klüger. Aber hat es nicht genügend der Kinderschutz sam ein. Die Auflagen, die sie im Gegenzug für die ElHinweise auf die akute Geausgeblieben tern aussprechen, können fährdung gegeben, die ein akut gefährdete Kinder Zuwarten auf bessere Faaber nicht schützen. Das zeigt der Lenzmilienverhältnisse eigentlich verbot? Die Familie ist immer noch gesell- kircher Fall: Da kommen Dorf- und Famischaftliches Leitbild. Vom Grundgesetz lienhelferinnen ins Haus, um die Mutter geschützt, erfüllt sie in den allermeisten zu entlasten oder den Haushalt zu führen Fällen ihre Funktion als Keimzelle der so- – doch das hilft dem Kind nicht in seiner zialen Ordnung, als Ort, an dem Kinder Not. Als der Stiefvater mit ihm allein ist, die Regeln des Zusammenlebens, Liebe erweist sich alles amtliche Bemühen um und Förderung erfahren. Aber es gibt Familientherapie als vergebens: Dieser auch Familien, die für Kinder zur Folter- Mann ist offenkundig immer wieder gekammer oder gar zur Todeszelle werden; walttätig geworden. Hätte das dem Jugendamt nicht auffalin denen sie Opfer ihrer Eltern sind durch Vernachlässigung, Missbrauch len müssen? Bis hinauf zur Landrätin oder Gewalttätigkeit. Hier muss der Kin- weigert man sich, von einem Fehler, – eiderschutz eingreifen – auch wenn seine nem Fehler in der Abwägung, wohl nicht im Verfahren – zu sprechen. Doch es war Mittel oft viel zu stumpf sind. Die Mitarbeiter des Jugendamtes wis- ein Fehler, der sich womöglich hätte versen selbstverständlich um die Ambiva- meiden lassen, wenn man sich für Hinlenz von Familie. Aber im aktuellen weise von außen offener gezeigt oder Lenzkircher Fall haben sie sich über alle besser kooperiert hätte. Den DreijähriWarnungen der Freiburger Universitäts- gen macht diese Einsicht nicht mehr lekinderklinik, der Staatsanwaltschaft und bendig, wie nun Neunmalkluge einwenselbst des behandelnden Kinderarztes den. Aber sie kann vielleicht verhindern, hinweggesetzt. Das Team, das Anfang dass in Zukunft ein Kind in seiner Familie Oktober befunden hat, es komme fach- totgeschlagen wird. vom 12.02.2015 „Ich habe keinen Anlass zu zweifeln“ B Z - I N T E R V I E W mit Dorothea Störr-Ritter, Landrätin und CDU-Politikerin, über den Tod des Kindes Alessio, das Handeln ihrer Behörde und die Konsequenzen FREIBURG. Wie hätte der Tod des kleinen Alessio abgewendet werden können? Der Dreijährige aus Lenzkirch starb im Januar an Misshandlung, wohl durch den Stiefvater. Seitdem reißt die Kritik am Jugendamt, das die Familie betreut hat, nicht ab. Dessen Dienstvorgesetzte ist Dorothea Störr-Ritter, Landrätin des Kreises Breisgau-Hochschwarzwald. Mit ihr sprachen Stefan Hupka, Wulf Rüskamp und Tanja Bury. BZ: Frau Störr-Ritter, Sie haben neulich gesagt, hier sei „etwas schiefgelaufen“. Das klingt wie eine Panne. Störr-Ritter: Das ist sicher nicht das richtige Wort. Wenn ein Kind zu Tode kommt, dann ist das eine Katastrophe. Wie ist es dazu gekommen, warum konnte es dazu kommen? Diese Fragen stehen im Raum und müssen geklärt werden. BZ: Sind Sie noch immer sicher, dass hier im Haus kein Fehler passiert ist? Störr-Ritter: Ja, das bin ich. Ich habe mir drei Fragen gestellt: Haben wir hier im Haus ein geordnetes, allgemein aner- mit einbeziehen, sich auf die aktuelle Situation einlassen, ihre Beurteilungen hängen immer vom Rahmen ab. Deshalb ist es rückblickend so schwer zu sagen, da war etwas richtig oder falsch. BZ: Aber man wird, mit Verlaub, doch sagen können: Rückblickend war es ein Fehler, den Jungen alleinzulassen mit dem Stiefvater, der offensichtlich eine Zeitbombe war mit seiner Aggressivität. Störr-Ritter: Wenn der Junge an jenem Tag zu jener Uhrzeit nicht beim Stiefvater gewesen wäre, dann würde er heute noch leben, das ist so. Gleichzeitig hatten die Mitarbeiter viele gute und richtige Gründe, mit der Familie das Unterstützungsund Schutzkonzept unter Auflagen durchzuführen. Sie haben das immer wieder geprüft, hinterfragt, neu eingeschätzt – im Team und mit Blick von außen durch einen Supervisor. Ich habe keinen Anlass zu zweifeln, dass die Entscheidungen gewissenhaft getroffen worden sind. BZ: Der Stiefvater wurde anwaltlich beraten. Ein Anwalt weiß, wie sein Mandant prüfen, mit welchen öffentlichen Hilfen vorrangig vor einer Herausnahme eines Kindes eine Familie unterstützt werden kann. Dabei haben sie auch das Elternrecht im Blick und die Chance, eine Familie wieder funktionsfähig zu machen. BZ: Elternrecht klingt hier vielleicht etwas makaber. Der Kinderschutz sollte doch mindestens gleichrangig sein. Störr-Ritter: Hier gibt es keinen Automatismus. Wir müssen aber auch das Elternrecht berücksichtigen. Wir können uns da nicht einfach über die klare und eindeutige Rechtsprechung der Familiengerichte und des Bundesverfassungsgerichtes hinwegsetzen. BZ: Hätte man sich nicht doch eine Inobhutnahme trauen müssen? Wir möchten den Familienrichter sehen, der angesichts dieser Misshandlungsvorwürfe noch auf dem Elternrecht beharrt. Störr-Ritter: Zunächst, nach den Befunden der Kinderklinik, haben unsere Mitarbeiter die Kinder für zwei Monate vom Vater getrennt. Dann hat sich mit der Familie aber nachweislich etwas zum Positiven entwickelt, und da ist es unsere erste Aufgabe, zu versuchen, mit der Familie eine Zukunft zu erarbeiten. BZ: Nochmal: Haben Ihre Leute zu viel Angst vor einer Niederlage bei Gericht? Störr-Ritter: Nein. „Ich bitte jetzt um Geduld für eine gewisse Gründlichkeit “: Störr-Ritter „Die Kosten dürfen keine Rolle spielen“ BZ: Hätten die Mitarbeiter Rückendeckung auch für den Fall einer gerichtlichen Niederlage, oder müssen sie fürchten, dass das negativ verbucht wird? Störr-Ritter: Die Mitarbeiter bekommen Rückendeckung dafür, dass sie gewissenhaft ihrem Auftrag entsprechend arbeiten, und das wissen sie auch. „Meine Kollegen sind, wie ich, tief erschüttert.“ kanntes Verfahren zum Kinderschutz? Ja. Davon war ich schon vorher überzeugt und habe mich erneut überzeugen lassen. Haben wir dieses Verfahren auch im Fall Alessio angewandt? Ja, das haben wir. Und wie haben die Mitarbeiter sich dabei verhalten? Gewissenhaft und sorgfältig, das ist meine Antwort. Aus diesen Gründen stehe ich nach wie vor zu meiner Aussage. BZ: Gibt es in diesem „geordneten Verfahren“ einen Zeitpunkt, von dem Sie – wenigstens rückblickend – sagen, hier hätte man anders handeln müssen? Störr-Ritter: Wir haben großes Interesse daran, genau dies jetzt herauszufinden: Was hätte man anders machen können, wann hätte man dies tun können und was kann man für die Zukunft daraus lernen? Wo können wir zusätzliche Sicherungen einziehen, für den Kinderschutz, auch für unsere Mitarbeiter? Aber dafür brauchen wir noch Zeit. BZ: Sie argumentieren mit Verfahren und Rechtslagen. Die mögen alle eingehalten worden sein. Aber wurde nicht gerade in inhaltlichen Fragen falsch abgewogen? Störr-Ritter: Falsch oder richtig – das ist sehr schwer zu sagen im Alltag von Sozialarbeitern. Wenn man das könnte, würde es ihnen die Arbeit enorm vereinfachen. Sozialarbeiter müssen immer das Umfeld FOTOS: SCHNEIDER(2)/BURY sich zu verhalten hat, damit er sein Kind wiederbekommt. Zu einem bestimmten Zeitpunkt hat der Mann sich plötzlich kooperationswillig gezeigt. Hätten Ihre Mitarbeiter das nicht durchschauen müssen? Störr-Ritter: Ich bin überzeugt, dass sich die Fachkräfte die Entscheidung nicht leicht gemacht haben, das Kind in der Familie zu belassen. Ich respektiere die Entscheidung. Aber wir werden das alles noch einmal prüfen lassen, auch um für die Zukunft zu lernen. BZ: Wenn es Restzweifel gibt an der Gefährlichkeit eines Erziehungsberechtigten, muss man dann nicht ein Gutachten über ihn einholen? Störr-Ritter: So ein Gutachten ist in Kinderschutzverfahren, wie sie sich auch aus dem Gesetz ergeben, nicht vorgesehen, nicht nur bei uns, allgemein – bisher. Aber wer weiß, vielleicht geht der Expertenrat, den wir jetzt einholen, genau in diese Richtung. BZ: Bei Gericht gilt „in dubio pro reo“, beim Jugendamt kann es doch nur heißen: im Zweifel für den Kinderschutz. Störr-Ritter: Es geht immer um eine Risikoabschätzung. Dabei hat der Kinderschutz bei uns einen hohen Stellenwert. Allerdings haben die Sozialarbeiter nicht die Aufgabe, ein Umfeld psychologisch zu durchleuchten, sondern den Auftrag, zu BZ: Welche Rolle spielen die Kosten? Aus dem Jugendhilfeausschuss hören wir, dass das Jugendamt dort auch immer wieder die Kosten einer Unterbringung anspricht. Stimmt das? Störr-Ritter: Die Kosten spielen bei einer Inobhutnahme keine Rolle. Im Ausschuss legen wir aber selbstverständlich Rechenschaft ab, wie wir die Haushaltsmittel einsetzen. Ich kann sagen, dass wir von 2007 bis 2014 im Bereich Allgemeine Soziale Dienste, also vor allem im Jugendamt, die Stellen fast verdoppelt haben und jetzt überdurchschnittlich gut besetzt sind im Vergleich der Kreisjugendämter. Jugendämtern. Und natürlich kann man überall noch eins drauflegen. Aber der Kreistag hat auch viel investiert in den letzten Jahren. BZ: Heimmitarbeiter vermuten eine „Unterbringungsvermeidungsstrategie“ bei Ihnen im Hause. Störr-Ritter: Das Wort höre ich zum ersten Mal. Falls man Fremdunterbringung vermeiden will, dann nicht, weil sie zu teuer ist, sondern weil man Chancen sieht, eine Familie zusammenzuhalten. Die Familie ist durch das Grundgesetz geschützt. Es könnten uns auch später Heimkinder fragen, warum habt Ihr es mit meiner Familie nicht wenigstens versucht, es sind meine leiblichen Eltern. BZ: Trotzdem könnten Mitarbeiter sagen, besser wäre die Trennung der Familie, BZ: Wie kann man jetzt verhindern, dass sich so ein Fall wiederholt? Störr-Ritter: Wir werden externe Experten beauftragen, um zu sehen, was wir bei uns anders machen können. Da wird auch das Thema Kommunikation eine große Rolle spielen, Kommunikation nach innen und außen. Deshalb habe ich auch der Unikinderklinik bereits ein Angebot zur Aufarbeitung gemacht. Ich bitte jetzt um Geduld für eine gewisse Gründlichkeit in der Aufarbeitung, damit wir zu guten Erkenntnissen kommen – mit dem Ziel, solche Katastrophen auszuschließen, soweit das möglich ist. BZ: Sie sind nicht nur Behördenleiterin, sondern auch Politikerin. Könnten Sie sich vorstellen, dass im Zuge dieser Aufarbeitung der Moment kommt, wo es heißt, hier muss jemand die politische Verantwortung für Behördenversagen übernehmen? Störr-Ritter: Das sehe ich nicht. Ich bin zuversichtlich, dass es mir gelingt, das Landratsamt durch diese schwierige Zeit zu führen. BZ: Sie sagen, Fälle dieser Schwere seien gar nicht so ungewöhnlich in Ihrer Behörde. Hat dieser Fall bereits bewirkt, dass sie anders verfahren als bisher? Störr-Ritter: Alles, was wir jetzt tun, geschieht natürlich im Lichte dieses Ereignisses, das ist klar. Und wir haben uns alle Zweifelsfälle noch einmal genau angeschaut. Ganz wichtig scheint mir dabei auch zu sein, dass die Sozialarbeiter wieder Sicherheit bekommen in ihrer Arbeit. Diese sind ja täglich wieder draußen und müssen weiter Entscheidungen treffen, so wie sie es in ihrer Ausbildung und Erfahrung gelernt haben. BZ: Familie oder Heim – das ist ja ein erheblicher Kostenunterschied. Störr-Ritter: In der Tat. Aber der darf keine Rolle spielen. Entscheidend ist allein, ob eine akute Gefährdung des Kindeswohls vorliegt, oder ob man auch mit anderen Hilfen etwas erreichen kann. BZ: Könnte es dennoch eine Rolle spielen in den Hinterköpfen, wenn am Jahresende Budgetgrenzen erreicht sind und der Abteilungsleiter schon ein paar Mal vorwurfsvoll geguckt hat? Störr-Ritter: Nein. Wir nehmen die Jugendhilfe sehr ernst, da spreche ich auch für den Kreistag. Wir kennen zudem die gestiege- Alessio-Gedenken in Freiburg am Dienstag nen Anforderungen und werden auch weiterhin genügend Ressourcen da- aber sie ist auch teuer, deshalb versuchen für bereitstellen. Die Entscheidungen in wir es jetzt nochmal und drücken die der Jugendhilfe sollen nicht unter dem Daumen, dass nichts passiert. Störr-Ritter: Sie müssten mal sehen, Diktat der Finanzen getroffen werden. wie sehr es unsere Mitarbeiter jetzt belasBZ: Sie bestreiten, dass das Jugendamt tet, dass trotz ihres Einsatzes dieser Fall so schlimm ausgegangen ist. Dann würden häufig mit Kostendruck argumentiert? Störr-Ritter: Ja, denn der Kostendruck Sie verstehen, dass diese Mitarbeiter niedarf nicht zu Lasten einer guten Arbeit ge- mals riskieren würden, den Kinderschutz hen. Natürlich muss wirtschaftlich ge- hinter finanzielle Erwägungen zurückzuhandelt werden, überall, auch in anderen stellen. BZ: Wie kommt die zum Teil heftige öffentliche Debatte bei Ihren Kollegen an? Störr-Ritter: Sie trifft uns alle massiv. Ich will aber nochmals betonen: Meine Kollegen sind, wie ich, tief erschüttert vom Tod des Kindes. – Dorothea Störr-Ritter (59) wurde in Freiburg geboren und wuchs in Waldkirch auf. Sie ist Juristin, trat1994 in die CDU ein und wurde 2008 – als damals landesweit erste Frau in einem solchen Amt – Landrätin des Kreises Breisgau-Hochschwarzwald. vom 09.02.2015 Der Kreistag findet keine Fehler Nach ausgiebigem Aktenstudium im Fall des toten Alessio sehen die Kreisräte keinen Grund, dem Jugendamt etwas vorzuwerfen Vo n u n s e r e m R e d a k t e u r Wulf Rüsk am p FREIBURG. Stundenlang haben am Samstag Kreisräte des Kreises BreisgauHochschwarzwald Akten zum Fall des toten Lenzkircher Jungen Alessio studiert. Am Ende einigten sie sich fraktionsübergreifend darauf: Es gebe am Handeln des Jugendamtes rechtlich nichts auszusetzen. Der Tod des Kindes sei ein „tragischer Unglücksfall“, so Oliver Rein, Chef der CDU-Kreistagsfraktion und Breisacher Bürgermeister. Allerdings soll nun eine Expertengruppe den Fall noch einmal genauer unter die Lupe nehmen. Die Einschätzung, dass im Jugendamt des Landkreises alles richtig gelaufen ist, teilen nicht alle Kreisräte: Aus der Fraktion der Grünen gibt es Widerspruch, wie Kreisrätin Silke Eisfeld berichtete. Der wurde jedoch nur am Rande der Pressekonferenz nach der Akteneinsicht bekannt – offiziell tragen alle Fraktionen, auch die Grünen, die von Rein vorgetragene gemeinsame Erklärung mit. Die Kreisräte haben bei der Akteneinsicht, die unter engen datenschutzrechtlichen Auflagen gewährt wurde, in erster Linie darauf geachtet, ob die vorgeschriebenen Standards eines Kinderschutzverfahrens eingehalten wurden; Urteile dagegen, ob die Entscheidungen des Jugendamts sachgerecht waren, lägen nicht in ihrer Kompetenz, so Rein. Das Kinderschutzverfahren war in Gang gesetzt worden, nachdem im Juli 2014 das Kinderschutzzentrum an der Freiburger Universitätskinderklinik massive innere Verletzungen bei Alessio festgestellt hatte. Die Staatsanwaltschaft Freiburg stellte aber die Ermittlungen gegen den tatverdächtigen Stiefvater ein: Ihm sei nicht direkt nachzuweisen, dass er Alessio geschlagen hatte. Er selbst verweigerte jede Aussage, bestritt aber über seinen Anwalt die Tat. Nachdem die Kinderklinik es im August für unverantwortbar erklärt hatte, die Kinder in der Familie zu belassen, teilte im Oktober nach Einstellung der Ermittlungen auch die Staatsanwaltschaft dem Jugendamt mit, aus ihrer Sicht bestehe „dringlicher Handlungsbedarf“ zum Schutz des Kindes. Dennoch wurde dort wenige Tage später beschlossen, dass die vierköpfige Familie – der Stiefvater hat mit Alessios Mutter noch eine gemeinsame Tochter von zehn Monaten – unter bestimmten Auflagen wieder zusammengeführt werden sollte. Von Mitte Dezember an war der Stiefvater sogar allein mit den Kindern auf dem Bauernhof in Lenzkirch, weil die Mutter in die Klinik musste. Am 16. Januar war der dreijährige Alessio tot – angeblich sei er, so der Stiefvater, die Treppe hinuntergefallen. Da das Kind aber an inneren Verletzungen gestorben ist, die nicht durch einen Treppensturz hervorgerufen sein können, ermittelt die Staatsanwaltschaft seither erneut gegen den inhaftierten Stiefvater. Warum wurde der Stiefvater nicht genauer untersucht? Dass das Jugendamt diesen 32 Jahre alten Mann, im Nachhinein betrachtet, falsch eingeschätzt hat, weshalb das Kind am Ende sterben musste, gestehen manche Kreisräte unumwunden zu. Das Jugendamt selbst verweist dagegen darauf, dass es aufgrund der Entwicklungen innerhalb der Familie seit August mit guten Gründen zu einer positiven Prognose gekommen sei. Diese Argumentation steht auch im Mittelpunkt des Berichts, mit dem das Landratsamt gegenüber dem Regierungspräsidium Freiburg sein Vorgehen rechtfertigt: Immer wieder wird die Kooperationsbereitschaft des Stiefvaters wie auch die der Mutter hervorgehoben. Selbst in der ersten familientherapeutischen Sitzung im Januar habe der Mann auf die Therapeutinnen einen überzeugenden Eindruck hinterlassen: Sie berich- Wohl noch lange nicht geschlossen: Akte Todesfall Alessio teten den Jugendamtsmitarbeitern, der Stiefvater „sei sehr zugänglich gewesen, habe tiefe Reue über sein Fehlverhalten gezeigt, er habe geweint, als er davon berichtete“. Unerwähnt bleibt, dass diese Reue nicht reichte, um sich der Staatsanwaltschaft gegenüber zur Tat zu bekennen. Zwei Tage später war Alessio tot, aufgrund der Verletzungen, die ihm vermutlich sein Stiefvater zugefügt hatte. Die positive Prognose, sagte Rein für seine Kreistagskollegen, sei nachvollziehbar und schlüssig. Auch aus dem familiären Umfeld seien positive Rückmeldungen erfolgt. Auf Nachfrage mussten die Kreisräte aber zugeben, dass das Jugendamt nie ein externes psychologisches Gutachten über den für Gewalttätigkeit und ein cholerisches Temperament bekannten Stiefvater angefordert habe. Manche Kreisräte sehen darin ein Versäumnis, Rein, der für den Kreistag sprach, dagegen nicht. Ob dies ein entscheidender Fehler gewesen sei, dieses Urteil wollen sie dem Gespräch mit Experten überlassen, das FOTO: DPA das Landratsamt zum Fall Alessio vorbereiten will. Es sei aber auch klar, dass die Kommunikation zwischen Jugendamt einerseits, Staatsanwaltschaft, Kinderärzten und Kinderklinik sowie freien Trägern in der Jugendhilfe andererseits verbessert werden müsse. Kreisräte sprachen von einer „risikobelasteten Gratwanderung“ zwischen Elternrecht und Kinderschutz. Deshalb erwarten sie vom Gesetzgeber klarere rechtliche Vorgaben für die Arbeit der Jugendämter. In den letzten Lebenstagen Alessios, als die Mutter in einer Klinik war, unterstützte eine Dorfhelferin den Stiefvater bei der Arbeit auf dem Lenzkircher Bauernhof; sie ist eine Cousine des Landwirts. Das Dorfhelferinnenwerk hat jetzt die Kritik an dieser Entscheidung zurückgewiesen. Man habe bewusst diese Person ausgewählt, weil sie „sehr viel Hintergrundwissen zur familiären Situation“ besitze und sich schon länger für Alessio engagiert habe. Denn sie hatte ihn schon 2013 in die Universitätskinderklinik gebracht, weil sie vermutete, er sei misshandelt worden. Im Alleingang Warum gab das Jugendamt im Fall Alessio den Dreijährigen in die Obhut des Stiefvaters zurück? Die Geschichte eines verhängnisvollen Fehlers Vo n u n s e r e m R e d a k t e u r Michael Brendler Am 14. Oktober 2014 hat nicht nur Alessio einen rabenschwarzen Tag erwischt. Auch Herr X., so hat man im Nachhinein den Eindruck, scheint zumindest mit dem falschen Fuß aufgestanden zu sein. Sonst hätte er an diesem Morgen hoffentlich anders reagiert. In seinem Büro, so ist dem Protokoll zu entnehmen, das das Landratsamt dem Freiburger Regierungspräsidium überlassen hat, haben sich an diesem Dienstag nicht nur ein kleiner dreijähriger Junge mit einer schrecklichen Vorgeschichte und seine beiden Eltern versammelt. Herr R. und Frau S., wie wir sie in der Folge nennen wollen, haben sich diesmal Verstärkung mitgebracht – eine Anwältin. Eine ungemütliche Situation für einen Sozialarbeiter, der begründen muss, warum die Familie immer noch nicht zusammenleben darf. Seine Großmutter habe einen Kreislaufzusammenbruch erlitten, bedrängen der Stiefvater und die Anwältin den Sachbearbeiter. Die aktuelle Situation werde ihr zu viel. Denn dort ist der Kleine untergebracht. Nachdem der Dreijährige aus Lenzkirch mit schweren Misshandlungen in die Uniklinik eingeliefert worden war, war er mit seiner Mutter und Schwester bei R.s Oma eingezogen – um vor dem Stiefvater in Sicherheit zu sein, so die Vereinbarung mit dem Jugendamt. Ohne bei der Großmutter den Wahrheitsgehalt dieser Geschichte nachzuprüfen, knickt Sachbearbeiter X. ein. „Vor diesem Hintergrund“, schreibt er in seinem Protokoll, „kann eine Rückführung von Frau S. und ihren beiden Kindern in den Haushalt von Herrn R. schon heute . . . erfolgen.“ „Die Umgangskontakte können ab sofort ohne weitere Aufsicht gestaltet werden.“ Das Schutzkonzept, so der fachmännische Ausdruck, das den kleinen Alessio bis dato vor dem wahrscheinlich gewalttätigen Stiefvater retten sollte, war damit über den Haufen geworfen. Und was nicht unwichtig ist: X. fällt diese Entscheidung, so ist im Protokoll zu lesen, allein. Wenn es um den Schutz eines bedrohten Kindes geht, lässt das Sozialgesetzbuch wenig Spielraum. „Das Gefährdungsrisiko für ein Kind kann immer nur im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte eingeschätzt werden. Ebenso kann ein Schutzkonzept immer nur von mehreren qualifizierten Fachkräften zusammen erstellt werden und es kann auch nur von mehreren geändert werden“, sagt Ludwig Salgo, Seniorprofessor mit Schwerpunkt Familien- und Jugendrecht an der Universität Frankfurt „Es war uns bekannt, dass der Vater das Kind damals geohrfeigt hat. Aber wenn wir alle Kinder, die jemals geohrfeigt worden sind, wegen des Verdachts auf Kindeswohlgefährdung gleich aus den Familien nehmen sollten, dann wäre der Auftrag der Kinder und Jugendhilfe nicht erfüllt.“ Eva-Maria Münzer, Sozialdezernentin, 21. Januar sowie Gutachter in Kinderschutzfragen, unter anderem für das Bundesverfassungsgericht. Etwas so Gewichtiges wie die Frage, ob ein Kind aus der Obhut seiner gewalttätigen, alkoholabhängigen, vernachlässigenden Eltern genommen oder in sie zurückgegeben wird, darf niemals eine Person im Jugendamt alleine entscheiden. Für eine solche gemeinsame und zu protokollierende Entscheidung findet sich allerdings kein Beleg in dem Bericht, mit dem das Landratsamt sein Verhalten im Fall Alessio vor den Prüfern des Regierungspräsidiums (RP) rechtfertigen musste – einen Verfahrensfehler entdeckte die Behörde trotzdem nicht. Auch im Landratsamt bestreitet man den Alleingang des eigenen Mitarbeiters. Schließlich habe man bereits zuvor im Team über das weitere Vorgehen im Fall Alessio beraten – das von Herrn X. neu entworfene Schutzkonzept wurde in dieser Form jedoch nie beschlossen, geschweige denn protokolliert. Erst einen Tag später wurde die Zusammenführung von Vater und Familie von einem Sozialarbeiter-Team abgesegnet – zu spät, sagt Salgo. Nicht mehr als ein Formfehler, könnte man sagen, aber die Geschichte des toten Alessio lehrt: Auch im Kinderschutz sind es die vielen kleinen Fehler, die in die großen Katastrophen münden. Besonders irritierend wird der verhängnisvolle Beschluss vor dem Hintergrund seines Zeitpunkts: Sechs Tage zuvor hatte die Staatsanwaltschaft ihr Verfahren gegen Herrn R., Alessios Stiefvater, eingestellt – mangels hinreichenden Tatverdachts. „Maßnahmen des zuständigen Jugendamtes zum Schutz des Dreijährigen“ erschienen den Juristen in ihrem Schreiben aber, wie berichtet, dennoch „dringend geboten“. Und fünf Tage nach Erhalt des Briefes schickt der Sachbearbeiter Herr X. das Kind wieder in die Obhut jenes mutmaßlichen Täters zurück. Geschützt allein durch ein Maßnahmenpaket, das Alessio in ähnlicher Version bereits ein Jahr zuvor nicht vor der brutalen Gewalt hatte schützen können. „Wir haben alles umgesetzt, was nach bestem Wissen und Gewissen machbar war.“ Dorothea Störr-Ritter, 19. Januar Immerhin: Der Stiefvater schien sich laut dem Rechtfertigungsschreiben des Landratsamts innerhalb von zwei Monaten zu einem völlig neuen Menschen gemausert zu haben. Als jemand, „der keine geeignete Problemeinsicht oder Bereitschaft zeigt, geeignete Hilfe in Anspruch zu nehmen“, hatte die Uniklinik in ihrem Arztbrief noch im August Herrn R. beschrieben. Das Jugendamt kam Mitte Oktober zu einer ganz anderen Einschätzung: „Reflektiert, ehrlich und bereit, sein Handeln mit professioneller Hilfe zu ändern“ – ein erstaunlicher Charakterwandel, vor allem wenn man bedenkt, dass der angeblich so kooperative Klient laut den internen Protokollen am 14. Oktober die Hälfte der unterbreiteten Hilfsangebote ablehnt und gleichzeitig die weitere Zusammenarbeit mit der Familienhelferin und den bisherigen Kinderärzten verweigert. Auch im Fall Kevin – der Zweijährige, der 2006 in Bremen tot und misshandelt im Kühlschrank seines Stiefvaters aufgefunden wurde – hätten die Eltern stets ihre Kooperationsbereitschaft demonstriert, darauf weist Christine Köckeritz hin. „Trotzdem ging die Gewalt weiter“, so die frühere Jugendamtsleiterin, die heute an der Hochschule Esslingen für Entwicklungspsychologie und Jugendhilfe zuständig ist. „Die zugrunde liegenden Probleme werden nicht aus der Welt geschafft, indem die Eltern sagen, wir kooperieren.“ Warum, fragt man sich, hat sich das eigentlich nicht bis in den Kreis Breisgau-Hochschwarzwald herumgesprochen? Einblutungen ins Gehirn wie nach Schlägen vor den Kopf, das Kinn ein einziger Bluterguss, Oberkörper, Arme, Beine und Po übersät mit blauen und gelben Flecken, auf den Schultern Hämatome in Zeichen der Trauer: Kerzen für Alessio vor dem Landratsamt FOTOS: TANJA BURY/DPA (2) Form von Fingern, als hätte jemand zu hart zugegriffen, der Hodensack ein kleiner gequetschter dunkelblauer Bluterguss – trotz dieser ärztlichen Diagnosen vier Monate zuvor entschied sich das Jugendamt Mitte Dezember, diesmal allerdings im vorgesehenen Fachgremium, das Kind dem mutmaßlichen Gewalttäter alleine anzuvertrauen, die Mutter war in eine Klinik gebracht worden. Ein Paket an Therapie- und Unterstützungsmaßnahmen sollte gleichzeitig den Eltern Frust und Stress nehmen und ihre Bindung zu den Kindern stärken. Eine verhängnisvolle Fehleinschätzung, wie man heute weiß. Und ein gefährliches Spiel mit dem Feuer, wie nicht nur der Psychologe Holger Reinisch meint: „Ein Mensch, der ein kleines dreijähriges Kind so zusammenschlägt, hat ein massives Problem mit seiner Impulskontrolle. Der hat sich nicht im Griff und hat nie gelernt, seinen Frust und seine Gewaltimpulse zu zügeln“, sagt der erfahrene Kinderschutzexperte und Gerichtsgutachter. Diese Warnung hätten die Sachbearbeiter auch dem Arztbrief der Uniklinik entnehmen können. „Solange man an dieser Impulskontrolle nicht erfolgreich gearbeitet hat“, so die Esslinger Professorin Köckeritz, „muss man damit rechnen, dass es der Betreffende trotz aller Beteuerungen nicht schafft.“ Die Zeitbombe in der Familie, weiß man heute, tickte weiter. „Das Jugendamt hat nur versucht dafür zu sorgen, dass sie zumindest keiner versehentlich auslöst“, so Reinisch. Natürlich sind die dunklen Ecken im Gehirn eines potenziellen Gewalttäters nur bedingt auszuleuchten, sind die komplexen Strukturen einer Familie nur schwer zu erfassen. Und genau wie jedem anderen Menschen können auch Jugendamtsmitarbeitern Fehler passieren. Aber erfahrene Kinderschutzexperten wissen auch: Man kann erfolgreich versuchen, seine Fehlerquote zu senken. Und je mehr man über den Fall erfährt, desto mehr festigt sich der Eindruck: Gerade an solchen Versuchen hat es im Landratsamt Breisgau-Hochschwarzwald gemangelt. So wird auch das beste Schutzkonzept schnell Makulatur, wenn man nicht überprüft, ob es auch umgesetzt wird. Im Jugendamt wurde zwar bereits Mitte August beschlossen, Alessios Eltern zu 14-tägigen Kontrollbesuchen beim Arzt zu verpflichten. Aber anscheinend überwachte niemand, ob sie dieser Auflage auch nachkamen. Als Mutter und Kind nach fast einem Monat tatsächlich das erste Mal bei ihren Pädiatern in Bonndorf auftauchten, hatte sich vonseiten des Amtes noch niemand bei diesen nach dem Stand der Dinge erkundigt. „So etwas muss kontrolliert werden, sonst hat es keinen Zweck“, sagt Kö- ckeritz. In der Zwischenzeit hätten „zwei externe Termine bei anderen Fachstellen“ stattgefunden, rechtfertigt sich das Amt. In den Akten an das Regierungspräsidium findet sich dafür allerdings kein Beleg. Monika Spitz-Valkoun, eine elegant gekleidete grauhaarige Dame, die selbst in ihrer Aufregung noch gepflegt und analytisch wirkt, und ihr Mann, der mit Wollpullover, Hemdkragen und dem grauen Seitenscheitel auch nicht unbedingt das typische Bild eines Obrigkeitsrebellen abgibt, nehmen kein Blatt vor den Mund: Man habe die Sachbearbeiter des Jugendamtes vor der Lebensgefahr für den Jungen gewarnt, habe Briefe geschrieben, den zuständigen Sozialarbeitern hinterhertelefoniert, ohne Erfolg. „Unsere Bedenken wurden zur Kenntnis genommen, hatten aber keinerlei Konsequenzen. Die haben sich eher angegriffen gefühlt und wollten sich nicht reinreden lassen“, erzählen die Kinderärzte. Dabei hätte man viel voneinander lernen können: Monika Spitz-Valkoun hätte zum Beispiel die Möglichkeit gehabt, von ihrem Erlebnis mit Stiefvater und Sohn zu berichten. Bei der Erinnerung scheint es sie heute noch zu schaudern: „Jedes Kind hat Angst vor einer Spritze“, erläutert sie, Alessio aber hatte mehr Angst vor dem Stiefvater, der gerade noch die Ärztin zusammengestaucht hatte. Das Brüllen reichte, um den Stiefsohn zur Salzsäule erstarren zu lassen. „Es war unheimlich. Der Junge hat während der Blutabnahme starr dagesessen, keine Miene verzogen und keinen Piep gesagt.“ Im Jugendamt hat man das Verhältnis zwischen Stiefvater und Stiefsohn ganz anders in Erinnerung: „Positiv, innig, vertrauensvoll“, zitieren die Sozialarbeiter gegenüber dem Regierungspräsidium die Dorfhelferin, die auf dem Hof aushalf und welche das Jugendamt mit ausgesucht hat. Die Frau, die so gute Noten für Herrn R. vergab, war seine Cousine (!). Regelmäßiger Austausch, Helferkonferenzen, enge Kooperation, darin sind sich fast alle Fachleute einig, sind unverzichtbar in einem Kinderschutzverfahren. Im Fall Alessio nimmt das Landratsamt stattdessen nach der Entlassung des Jungen von der Station wochenlang keinen Kontakt zu Uniklinik und Kinderärzten auf. Bei den Bonndorfer Ärzten, so berichten sie selbst, rief Ende September dann ein Jugendamtsmitarbeiter an, um sich über deren Einmischung zu beschweren. Was man seitens des Landratsamts wiederum bestreitet. Und selbst wenn es kein gemeinsames Auskommen gibt: „Wenn die Einschätzungen der Fachleute so stark voneinander abweichen“, sagt der Jurist und einstige Vizepräsident des Deutschen Kinderschutzbundes, Ludwig Salgo, „dann hätte man zumindest einen unabhängigen Gutachter hinzurufen oder die Sachen beim Familiengericht klären lassen müssen.“ Aber weder das eine noch das andere wurde getan. Die ungenügende Zusammenarbeit ist kein Einzelfall: Im Vergleich der südbadischen Jugendämter, darin sind sich das Freiburger Kinderschutzzentrum und die Bonndorfer Kinderärzte einig, ist die Zusammenarbeit mit dem des Kreises Breisgau-Hochschwarzwald besonders unerfreulich – nicht nur im Fall Alessio. Für schlechte Kooperationskultur und antiquierte Vorgehensweisen gibt es auch andere Indizien. Weil Kinder- und Jugendarbeit Kommunalsache ist, gibt das Sozialgesetz zwar bundesweit die Richtung vor, die genauen Schritte, die der Meldung einer akuten Kindeswohlgefahr zu folgen haben, regeln die jeweiligen Städte und Landkreise aber mit eigenen Verfahrensstandards. In einer Untersuchung für den Kommunalverband Jugend und Soziales Baden-Württemberg prüfte die Esslingerin Christine Köckeritz, wie gute Standards auszusehen haben: Einschätzungshilfen in Form von Checklisten müssten vorhanden sein, hält sie fest, Definitionen der wichtigsten Gefährdungskonstellationen seien zu fordern, um Operationalisierungen – Diagramme, die genau festlegen, wer wann was zu tun hat und zu welchem Zeitpunkt Hilfe hinzugerufen werden muss – solle man sich bemühen. Im Verfahrensstandard Breisgau-Hochschwarzwald sucht man all das vergeblich. Andere Jugendämter machen das Zusammensetzen mit anderen beteiligten Fachleuten in Helferkonferenzen zur Pflicht – im Landratsamt hält man schon die Kontaktaufnahme nur „gegebenenfalls“ für nötig. Auch was Arbeitskreise mit Kindergärten, Ärzten, Schulen, Therapeuten angeht, lässt die Arbeit des Kreises Breisgau-Hochschwarzwald, so ist zu hören, noch Wünsche offen, was aber auch für sehr viele andere Jugendämter gilt. Wir haben ein geordnetes, allgemein anerkanntes Verfahren zum Kinderschutz, und wir haben es angewandt – versichert Landrätin Dorothea Störr-Ritter. Über beides kann man streiten. Und selbst wenn es so war, steht die Frage im Raum: Warum ist am Ende ein Kind tot, und wer trägt dafür die Verantwortung? vom 27.02.2015 LEITARTIKEL Die Frage der Verantwortung im Fall Alessio Standards allein reichen nicht Vo n Wu l f R ü s k a m p Der Fall Alessio treibt die Menschen lich Möglichen zu wahren. Dass solche nicht nur in Südbaden um. Und man darf selbstgenügsame Berufung auf Standards der Landrätin Dorothea Störr-Ritter glau- zu wenig erscheint für ein engagiertes Juben, dass der Tod des kleinen Jungen aus gendamt, steht auf einem anderen Blatt. Das hätte der Kreistag beschreiben Lenzkirch Anfang Januar auch die Mitarbeiter im Landratsamt und speziell im Ju- können. Er ist nicht daran gebunden, nur gendamt des Kreises Breisgau-Hoch- auf die Ordentlichkeit bürokratischer schwarzwald erschüttert hat. Das sagt Abläufe zu achten, er darf – und sollte soaber nichts darüber aus, was man dort gar – inhaltlich und politisch Position beziehen. Denn er ist Kontrollorgan der unter Aufarbeitung des Falls versteht. Die bis heute aufrechterhaltene Vor- Kreisverwaltung. Er darf sich nicht damit wärtsverteidigung der Landrätin, ihr zufriedengeben, dass die Verantwortung Haus habe keine Fehler gemacht, offen- eines Jugendamtes schon damit eingelöst bart eine Denkweise, die bürokratisches ist, wenn es die Standards des KinderVerfahren von dessen Ergebnis zu tren- schutzverfahrens einhält. Doch genau nen vermag. Zumal wenn der Satz nach- das haben die Sprecher der Kreistagsfrakgeschoben wird, irgendetwas sei „schief- tionen getan, als sie die Version der Landgelaufen“: Das klingt so, als habe eine an- rätin wiederholten: Es gibt keine Fehler. onyme Macht gehandelt, so dass nie- Und was das „Schieflaufen“ angeht, vertraut die Mehrheit der Klämand Verantwortung für rung durch die von der den Tod des Kindes trägt – ausgenommen der Stiefva- Die Aufarbeitung Landrätin einzuberufende Expertenkommission. ter, der unter Tatverdacht im Fall Alessio Verwunderlich ist das steht. dreht sich um nicht: Der Kreistag wird Entsprechend ist in der bisherigen Aufarbeitung Verfahrensfragen dominiert von Bürgermeisdie Frage zentral, ob die – das ist zu wenig tern, die auch Verwaltungschefs sind – und desStandards des Kinderhalb oft ebenfalls in büroschutzverfahrens eingehalten worden sind – die darin erfolgten in- kratischen Legitimationsmustern denhaltlichen Abwägungen und Entschei- ken. Die Solidarisierung mit dem eigedungen des Jugendamts bleiben ausge- nen Landratsamt – mit dem sie in andeblendet, obwohl gerade sie den Tod des ren Fragen eng zusammenarbeiten Dreijährigen ermöglicht haben, den es müssen – erfolgte zudem offenbar vordoch schützen sollte. Schon die Sozialde- schnell: Wie Kreisräte berichten, reichte zernentin Eva-Maria Münzer hatte dar- der zeitliche Rahmen für eine eingehenauf hingewiesen, man dürfe den Fall de Sichtung der Akten gar nicht aus. Es gibt aber außer dem Kreistag keine nicht vom Ende her betrachten, sondern müsse den Prozess sehen. Deshalb geht verbindliche Instanz, die kritisch die Ares ihr und dem Amt vor allem darum, die beit des Jugendamtes befragen kann, und angebliche Fehlerlosigkeit dieses Prozes- zwar genau vom Ende des Falls Alessio her: Wie konnte es geschehen, dass mit ses zu behaupten und nachzuweisen. Sind also Behörden nur dafür verant- Billigung des Amtes der Stiefvater mit wortlich, dass Verfahrensvorgaben ein- dem Kind alleine war? Diese Frage haben gehalten werden, egal was am Ende die Kreispolitiker weiter gereicht an die steht? Auf diesen Aspekt hat auch das Re- kommende Expertenkommission, die gierungspräsidium geachtet, als es als über den aktuellen Fall hinaus die ArRechtsaufsicht für das Landratsamt ein- beitsweise des Jugendamtes untersugeschaltet wurde. Das Prüfergebnis war chen soll. Von ihr muss man sich erhoferwartbar, auch wenn inzwischen man- fen, was der Kreistag nicht einfordern cher Vorgang zweifelhaft erscheint. Aber will: Dass Verantwortung nicht nur in den Prüfern des Regierungspräsidiums den Prozessen, sondern auch in deren Erschien dies alles den Rahmen des recht- gebnissen gesucht wird. vom 07.03.2015 Aufsicht stellt kritische Fragen Einsame Einschätzungen, unerklärliche Milde: Im Fall des toten Alessio kommen nun doch Fehler des Jugendamts zum Vorschein Vo n M i c h a e l B r e n d l e r und Wulf Rüsk am p FREIBURG. „Gewissenhaft und sorgfältig“: So hat Landrätin Dorothea StörrRitter (CDU) beschrieben, wie das Jugendamt ihres Kreises Breisgau-Hochschwarzwald im Fall des dreijährigen Alessio aus Lenzkirch vorgegangen sei. Der Prüfbericht des Regierungspräsidiums vermittelt, obwohl er sich auf rechtliche Aspekte beschränkt, einen anderen Eindruck: An wichtigen Entscheidungen des Jugendamts übt er Kritik – Entscheidungen, die verhindert haben, dass das Kleinkind von seinem jetzt des Totschlags dringend verdächtigen Stiefvater getrennt wurde. In der Kinderklinik der Universität Freiburg waren die Ärzte entsetzt über die schweren Verletzungen, mit denen Alessio im Juli 2014 eingeliefert worden war. Rasch war klar, dass es Misshandlungen waren. Obwohl die Klinik Strafanzeige ankündigte, hielt man im Jugendamt den Ball flach: Zwar schloss man eine Rückkehr des Kindes auf den Bauernhof des Stiefvaters in Lenzkirch zunächst aus, stufte das Ganze aber nicht als „komplexen Fall“ ein. Eine Begründung dafür konnte das Regierungspräsidium laut seinem Bericht, der der BZ vorliegt, in den Akten aber nicht finden. Ohne diese Einstufung kann aber nach den Vorschriften, die sich das Landratsamt gegeben hat, die Information der Fachgruppenleitung und anderer Leitungsebenen unterbleiben. Doch denen blieb wohl auch anderes vorenthalten. Das Regierungspräsidium vermutet, dass die ausführliche Stellungnahme der Kinderklinik zu Alessio „weder von der Dezernentin noch der Fachbereichsleitung beziehungsweise Fachgruppenleitung gelesen oder nachträglich zur Kenntnisnahme vorgelegt“ worden ist. Gleiches geschah der Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren gegen den Stiefvater vom 8. Oktober, in der „Maßnahmen des zuständigen Jugendamtes zum Schutz des dreijährigen Kindes für dringend geboten“ gehalten werden. Auch das las man, vermuten die Prüfer, nur in der Jugendamtsaußenstelle Titisee-Neustadt, nicht in der Zentrale. Rechtswidrig ist das freilich nicht, weil ja der Fall Alessio nicht „komplex“ ist. Aber angemessen? Zentrale Figur ist der Sachbearbeiter des Falles. Wenn der Bericht des Landratsamts vollständig ist, dann ist der Mann der Einzige im Jugendamt, der Kontakt mit Alessios Familie hatte. Alle Einschätzungen der angeblichen Kooperation des Stiefvaters beruhen auf seinen Beobachtungen. Dies hat das Landratsamt auf Anfrage der BZ indirekt bestätigt. Er war quasi das Auge des Teams, das im Fall Alessio eigentlich nach dem „Mehraugenprinzip“ entscheiden sollte – ein Team, das sich bei seinen Einschätzungen mangels eigener Eindrücke stets auf den Sachbearbeiter verlassen musste. Und dem zwar drei oder vier Personen angehörten, die aber mit Ausnahme des Sachbearbeiters immer wieder wechselten. Eine fragwürdige Variante des Mehraugenprinzips – findet Ludwig Salgo, Seniorprofessor für Familien- und Jugendrecht an der Uni Frankfurt: „Das vorgeschriebene Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte bedeutet meines Erachtens in einer solchen Konstellation, dass sich zumindest zwei Fachkräfte einen unmittelbaren persönlichen Eindruck von der Lage und den beteiligten Personen, vor allem von ihrer Interaktion verschafft haben. Das gegenseitige Korrektiv würde entfallen, wenn nur eine Fachkraft sich unmittelbare Eindrücke verschaffen würde. Zudem widerspricht ein ständiger Wechsel im Fachteam der vom Gesetz beabsichtigten kontinuitätssichernden Hilfeplanung.“ Der Mann hatte sich bei Stress nicht unter Kontrolle „Das Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte läuft leicht ins Leere“, sagt auch Heinz Kindler, der am Deutschen Jugendinstitut in München den Bereich Familienhilfe und Kinderschutz leitet, „wenn nur eine Fachkraft die Beteiligten und die Situation aus eigener Anschauung kennt“. Dann gebe es oft keine Chance, Fehlwahrnehmungen zu korrigieren. Für die positiven Einschätzungen des Stiefvaters, auf die sich das Landratsamt auch in seinen Rechtfertigungen nach Alessios Tod berufen hat, fehlt dem Regierungspräsidium wiederholt schlicht die Begründung. Da konnte der Stiefvater wesentliche Teile des Hilfsprogramms ablehnen, ebenso den weiteren Einsatz der Sozialpädagogischen Familienhilfe – der Sachbearbeiter sprach dennoch von einer „erkennbar vorhandenen“ Mitwirkungsbereitschaft. Die Rechtsaufsicht dazu: „Es lässt sich aus der Akte nicht nachvollziehen, welche Überlegungen seitens des Ju- gendamtes dazu geführt haben, bei dieser Sachlage dennoch eine Mitwirkungsbereitschaft zu diagnostizieren, die unter anderem den Verbleib des Kindes in der Familie rechtfertigt.“ Im Gegenteil: Die ablehnende Haltung des Stiefvaters lasse zweifeln, dass er es ernst meinte mit seinen Beteuerungen, er wolle sich ändern. Zumal für diese Änderung – die Uniklinik hatte eine nicht ausreichende Impulskontrolle des Mannes in Stresssituationen gesehen – noch keinerlei Therapie erfolgt sei. Aber in den Akten des Jugendamts taucht diese Diagnose ohnehin nicht mehr auf – obwohl Helfer von außen darauf hinwiesen, dass der Mann Stresssituationen nicht gewachsen sei, wie sie bei einer kranken Frau, zwei Kleinkindern und einer Menge Vieh im Stall häufig auftreten können. Im Dezember wurde die Lage auf dem Hof schwieriger, dennoch reagierte das Jugendamt nicht: „Eine neue, an die geänderte Situation angepasste Gefährdungsanalyse lässt sich der Akte nicht entnehmen“, so das Regierungspräsidium. Das Jugendamt verweist immer wieder auf die Hilfe der Großfamilie insbesondere des Stiefvaters, aber auch der Kindsmutter. Das Regierungspräsidium vermisst jedoch die Verbindlichkeit dieser Hilfen. All diese kritischen Fragen, die das Regierungspräsidium aufgrund der Protokolle stellt, sie alle hätten schon im Team diskutiert werden können. Doch von solchen Diskussionen erfährt man aus den Akten so gut wie nichts. Das Mehraugenprinzip, das andere Blicke auf den Fall, ein Denken in Alternativen ermöglichen und so den einzelnen Sachbearbeiter von sei- ner Verantwortung entlasten soll, ist, so scheint es, ein formaler Akt geblieben. Ob dies gängige Praxis im Jugendamt ist, werden die angekündigten Untersuchungen von Experten zeigen. Nichts auszusetzen hatte das Amt dagegen daran, dass Alessio, obwohl mit ihr nicht verwandt, nach seiner Entlassung aus der Klinik bei der Großmutter des 32jährigen Stiefvaters untergebracht war – trotz deren fortgeschrittenen Alters. Die Entscheidung, sagt nun das Landratsamt, „war die Wahl des mildesten Mittels“ für die Kinder. Die räumliche Trennung vom Stiefvater bis Mitte Oktober wurde aber nicht durchgehalten. Wie das Amt mitteilt, besuchte der Stiefvater, gegen den damals wegen Misshandlung ermittelt wurde, seine Großmutter und damit auch das Kind. „Zum Ausmaß der Umgangsbefugnis gab es Absprachen, die auch durchgesetzt wurden“, so das Landratsamt. Laut Akte vom 1. August seien die Besuche unter Aufsicht erfolgt – der Aufsicht der Großmutter. 21 Tage später, am 22. August, stellt sich das Team freilich die (in dem Protokoll nicht beantwortete) Frage, ob die Großmutter eher gegenüber dem Stiefvater oder dem Amt loyal sei. Der Prüfbericht des Regierungspräsidiums kommt zu vielen kritischen Anmerkungen im Umgang mit dem Fall Alessio. In der Pressemitteilung dazu ist allerdings nicht viel zu lesen – sie wurde aus „datenschutzrechtlichen Gründen“ weich gespült. Deshalb ist da nur von der Bitte die Rede, das Landratsamt möge die Gefährdungseinschätzung intensiv aufarbeiten. Am 11. März soll der Kreistag zu dieser Aufarbeitung Beschlüsse fassen.