Chronik eines absehbaren Todes?

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Chronik eines absehbaren Todes?
vom 22.01.2015
Chronik eines absehbaren Todes?
Bloß keine Schuldzuweisungen: Das Freiburger Kinderschutzzentrum und das Landratsamt äußern sich zum Schicksal des dreijährigen Lenzkirchers
Vo n u n s e r e m R e d a k t e u r
Wulf Rüsk am p
Die Warnungen waren eindeutig: Eine
Rückkehr des Kindes in die Familie ist
nicht zu verantworten. Das haben die Experten der Freiburger Universitätskinderklinik und des dortigen Pädiatrischen Kinderschutzzentrums dem Landratsamt
Breisgau-Hochschwarzwald im August
schriftlich mitgeteilt. Wie konnte es dann
aber geschehen, dass am vergangenen Freitag der Dreijährige mit seinem allem Anschein nach gewalttätigen Stiefvater allein
war im Haus der Familie in Lenzkirch?
Dies ist eine Frage, die die Ärzte, Psychologen und Betreuer in der Kinderklinik umtreibt. Tief bestürzt haben sie erfahren,
dass das Kind, das sie fünf Monate zuvor behandelt hatten, tot ist – vermutlich durch
Schläge des Stiefvaters, auch wenn der im
Verhör der Polizei behauptet, das Kind sei
die Treppe hinuntergestürzt. Der medizinische Befund ist eindeutig: Todesursache
waren schwere innere Verletzungen, die,
so sagt Staatsanwalt Wolfgang Mächtel,
nicht durch einen Sturz auf der Treppe entstanden sein können.
Wie konnte es dazu kommen? Die Ratlosigkeit beherrscht auch die Pressekonferenz, in der sich am Mittwochmittag in
Freiburg Vertreter von Kinderklinik und
Kinderschutzzentrum zu dem Fall äußern.
Auch auf eindringliches Nachfragen bleiben Charlotte Niemeyer, Direktorin des
Zentrums für Kinder- und Jugendmedizin
der Universitätsklinik, und ihre Chefarztkollegin Ute Spiekerkötter dabei: keine
Schuldzuweisungen, keine einfachen Erklärungen. Aber man müsse für den Kinderschutz besser zusammenarbeiten, um
solche schrecklichen Vorfälle in Zukunft zu
verhindern, sagt Niemeyer.
Doch was ist mit der unmissverständlichen Warnung der Kinderklinik, die das
Landratsamt nach nur drei Monaten beiseitegelegt hatte, als die Eltern darauf bestanden, die Familie wieder zusammenzuführen? Als Antwort nur so viel vonseiten Spiekerkötters: „Natürlich gibt es in solchen
Fällen eine Dynamik und Erkenntnisse, zu
denen wir aber keinen Kommentar abge-
Ute Spiekerkötter
Hinter diesen Fenstern ist der Dreijährige ums Leben gekommen.
ben können.“ Für den sich aber das Jugendamt vermutlich nicht interessiert hätte:
Zwischen ihm und dem Kinderschutzzentrum herrschte Funkstille, nachdem das
Kind die Klinik verlassen hatte – bedingt
durch eine strikte Arbeitsteilung.
Dafür aber, so berichtet Eva-Maria Münzer, Sozialdezernentin des Landkreises
Breisgau-Hochschwarzwald, haben ihre
Fachkräfte Anfang Oktober ohne Rücksprache bei den Fachkräften des Kinderschutzzentrums, entschieden, „dass es keine
fachliche und rechtliche Grundlage für die
Herausnahme des Kindes aus der Familie“
gebe, eine amtliche Inobhutnahme deshalb „nicht infrage kommt“. Wenn man so
will, resultiert aus dieser Einschätzung der
Tod des Dreijährigen.
Einen Fehler will Münzer darin aber
nicht sehen – auch wenn sie sagt: „Es wäre
vermessen zu sagen, dass in der Jugendhilfe immer nur richtige Entscheidungen getroffen werden.“ Sie selber war, wie sie am
Mittwochnachmittag vor den Journalisten
sagt, an dieser Entscheidung nicht beteiligt
– sie hat vom Fall des Dreijährigen überhaupt erst am Tag von dessen Tod erfahren.
Bis dahin lief alles nur im Jugendamt.
Was also hat dessen Entscheidung bestimmt? Sicher nicht die Vorgeschichte:
2011, als der Junge geboren wird, kümmert sich bereits im Auftrag des Jugendamtes eine sozialpädagogische Familienhilfe
um die Familie.
Ende Juli 2013 wird der nun Zweijährige erstmals im Zentrum für Kinder- und Ju-
FOTOS: RALF MORYS/ MICHAEL BAMBERGER (2)
gendmedizin an der Freiburger Universitätsklinik behandelt. Die Ärzte sowie ein
Rechtsmediziner haben den Verdacht, dass
er körperlich misshandelt worden ist, und
melden dies dem Kinderschutzzentrum als
„groben Umgang“. Das Jugendamt leitet
daraufhin ein Kinderschutzverfahren ein;
zur Familienhilfe, die fünf Stunden pro Woche vorbeischaut, stößt für acht Stunden
am Tag eine Dorfhelferin hinzu.
Das Jugendamt ist
seit 2011 eingeschaltet
Ende Juli 2014 zeigt sich, dass all dies
die Gewalt in der Familie nicht aufhalten
kann: Wieder wird der nun Dreijährige in
die Freiburger Kinderklinik eingeliefert.
Nun sind die Körperverletzungen so stark,
dass die Klinik am 31. Juli Anzeige gegen
unbekannt erstattet. An das Jugendamt des
Landkreises geht ein Schreiben hinaus, indem umstandslos erklärt wird: Eine Rückkehr des Kindes in seine Familie sei nicht
zu verantworten. Das Landratsamt reagiert
nach Standard: Ein erneutes Kinderschutzverfahren kommt in Gang, und am runden
Tisch erklären sich Mutter und Stiefvater
einverstanden, dass Mutter und Kinder
vom Stiefvater räumlich getrennt werden.
8. Oktober: An diesem Tag stellt die
Staatsanwaltschaft die Ermittlungen gegen
den Stiefvater ein – die Beweislage reicht
nicht aus, um ihn zu überführen, auch
wenn bekannt ist, dass er den Buben hin
und wieder schlägt. Zumal ihn die Mutter –
sie habe ihn als „liebevollen Vater erlebt“ –
und zwei weitere Zeuginnen entlasten: Mit
seinen Erziehungsmethoden seien sie
nicht immer einverstanden, aber gewalttätig hätten sie ihn nicht erlebt.
Trotzdem bleibt die Tatsache der Verletzungen, die die Mutter vor der Polizei bagatellisiert: Ihr Sohn bekomme leicht blaue
Flecken. Die Polizei weiß, dass das Unsinn
ist – diese Einsicht liefert ihr keine Tat, keine Tatzeit, keinen Täter. Die Staatsanwaltschaft weist aber das Jugendamt ausdrücklich darauf hin, dass sie Handlungsbedarf
sieht, um das Kind zu schützen.
Für die Eltern, durch eine Anwältin beraten, ist die Einstellung der Ermittlungen
der Zeitpunkt, um in die Offensive zu gehen: Sie wollen die Familie wieder zusammenführen. Dem stimmt das Jugendamt
zu, macht dafür aber Auflagen, die Mutter
und Stiefvater akzeptieren. Beide zeigen
große Kooperationsbereitschaft, erklären
sich bereit zur Familientherapie, zur Mutter-Kind-Kur, zu alle 14 Tage stattfindenden
Kontrollen durch einen Kinderarzt.
Dieses Auftreten beeindruckt die Fachkräfte des Landratsamtes offenbar. Münzer
spricht von einer guten Entwicklung in der
Familie, zumal der Stiefvater versprochen
habe, an seinem Erziehungsstil zu arbeiten. „Es ist viel Positives passiert in den vier
Monaten.“ Man dürfe, sagt die Sozialdezernentin auch, den Fall nicht vom Ende her
betrachten, sondern müsse den Prozess in
seinem Ablauf sehen. Und da hatte sich
dann eben die Warnung des Kinderschutzzentrums erledigt.
Die Kooperationsbereitschaft der Eltern
spielt vor Familiengerichten eine zentrale
Rolle: Stets müssten, so der Grundtenor
einschlägiger Urteile, die Eltern die Chance erhalten, ihr Kinder selbst zu erziehen.
Dass Jugendämter ihnen die vernachlässigten oder misshandelten Kinder wegnehmen, dagegen spricht mit großem Gewicht
das Elternrecht. Der Kinderschutz hat oft
das Nachsehen. „Nur fünf oder sechs Prozent aller Fälle der Jugendhilfe münden in
einer Inobhutnahme“, sagt Münzer. Und
obwohl das Kinderschutzzentrum die
Misshandlungen des Dreijährigen als einen seiner schwersten Fälle eingestuft hat,
kommen die gerichtserfahrenen Fachkräfte des Jugendamtes deshalb zum Schluss,
dass eine Anrufung des Familiengerichts,
die für die Inobhutnahme nötig ist, „nicht
infrage kommt“.
10. Dezember: Die Mutter meldet sich
aus einer zweimonatigen Kur mit ihren
Kindern, aber ohne den Stiefvater zurück;
sie möchten die für die Familie vereinbarten Hilfen des Jugendamtes fortführen. Die
Familie lebt nun wieder unter einem Dach.
Doch Mitte Dezember muss die Mutter in
die Klinik; eine Dorfhelferin springt für 25
Stunden in der Woche ein, um die Familie
zu versorgen.
Eva-Maria Münzer
29. Dezember: Kontrollbesuch des
Kinderarztes.
14. Januar: Die Familientherapie beginnt, der Stiefvater nimmt teil.
16. Januar: Der Stiefvater erscheint
beim Kinderarzt, das leblose Kind auf dem
Arm. Es sei die Treppe hinuntergefallen. Eine Stunde später wird der Dreijährige für
tot erklärt.
„Wir müssen uns mit dem Jugendamt zusammensetzen und den Fall aufarbeiten bis
ins kleinste Teil“, sagt die Ärztin Spiekerkötter. „Irgendetwas muss schiefgelaufen
sein an irgendeiner Stelle.“ Von Schieflaufen möchte Münzer nicht sprechen, aber
auch sie sieht die Notwendigkeit, das
Schicksal des kleinen Lenzkirchers aufzuarbeiten. „Wir können nicht zur Tagesordnung übergehen.“
LEITARTIKEL
Der Tod eines Dreijährigen
Die falsche
Abwägung
Vo n Wu l f R ü s k a m p
Das Entsetzen ist groß: Da ist in dem lich und rechtlich nicht in Frage, das geSchwarzwalddorf Lenzkirch ein dreijäh- fährdete Kind aus der Familie herauszuriges Kind die Hälfte seines Lebens ge- nehmen, es also vor der dortigen Gewalt
schlagen worden, und seit einer Woche zu schützen, hat diese Entscheidung siist es tot. Als Täter steht der Stiefvater in cher nicht willkürlich getroffen – aber
Verdacht, immer wieder offenbar ge- ohne Rücksprache etwa mit der Kinderdeckt von seiner Lebensgefährtin, der klinik. Dies ist gesetzlich nicht verlangt.
Mutter des Kindes. Dazu kommt Empö- Aber wäre es nicht angebracht im bisher
rung: All das ist gleichsam unter den Au- schwersten Fall von Kindesmisshandgen des Jugendamtes des Kreises Breis- lung im Landkreis?
gau-Hochschwarzwald geschehen. Aber
Die Eltern, anwaltlich gut beraten, haEmotionen sollten in der Analyse des Fal- ben dem Jugendamt alles zugesagt, was
les keine Rolle spielen, so niederschmet- begründen hilft, dass die Kinder bei ihnen bleiben können: Kooperation, Initiaternd er auch ist.
Die Mitarbeiter des Jugendamts waren tive, Bereitschaft zu Therapie und Verja nicht untätig. Aber sie haben, schaut haltensänderung. Solchen Vätern und
man auf den Tod des Dreijährigen, das Müttern, das ist Praxis der FamiliengeFalsche getan: Sie haben auf eine positive richte, nimmt man die Kinder nicht weg
Entwicklung der Familie gesetzt, wäh- – ein ohnehin rechtlich stets schwieriger
Schritt. Denn das Elternrend der Schutz des Kindes
recht als Basis der Familie
und damit dessen Inobhutnahme durch die Behörde Durch den Respekt hat hohen Rang, wie viele
das Gebotene gewesen wä- vor dem Elternrecht Kinderschützer beklagen.
Daher lenken Jugendämter
ren. Gewiss, im Nachhinist in Lenzkirch in vorauseilendem Gehorein ist man stets klüger.
Aber hat es nicht genügend der Kinderschutz sam ein. Die Auflagen, die
sie im Gegenzug für die ElHinweise auf die akute Geausgeblieben
tern aussprechen, können
fährdung gegeben, die ein
akut gefährdete Kinder
Zuwarten auf bessere Faaber nicht schützen. Das zeigt der Lenzmilienverhältnisse eigentlich verbot?
Die Familie ist immer noch gesell- kircher Fall: Da kommen Dorf- und Famischaftliches Leitbild. Vom Grundgesetz lienhelferinnen ins Haus, um die Mutter
geschützt, erfüllt sie in den allermeisten zu entlasten oder den Haushalt zu führen
Fällen ihre Funktion als Keimzelle der so- – doch das hilft dem Kind nicht in seiner
zialen Ordnung, als Ort, an dem Kinder Not. Als der Stiefvater mit ihm allein ist,
die Regeln des Zusammenlebens, Liebe erweist sich alles amtliche Bemühen um
und Förderung erfahren. Aber es gibt Familientherapie als vergebens: Dieser
auch Familien, die für Kinder zur Folter- Mann ist offenkundig immer wieder gekammer oder gar zur Todeszelle werden; walttätig geworden.
Hätte das dem Jugendamt nicht auffalin denen sie Opfer ihrer Eltern sind
durch Vernachlässigung, Missbrauch len müssen? Bis hinauf zur Landrätin
oder Gewalttätigkeit. Hier muss der Kin- weigert man sich, von einem Fehler, – eiderschutz eingreifen – auch wenn seine nem Fehler in der Abwägung, wohl nicht
im Verfahren – zu sprechen. Doch es war
Mittel oft viel zu stumpf sind.
Die Mitarbeiter des Jugendamtes wis- ein Fehler, der sich womöglich hätte versen selbstverständlich um die Ambiva- meiden lassen, wenn man sich für Hinlenz von Familie. Aber im aktuellen weise von außen offener gezeigt oder
Lenzkircher Fall haben sie sich über alle besser kooperiert hätte. Den DreijähriWarnungen der Freiburger Universitäts- gen macht diese Einsicht nicht mehr lekinderklinik, der Staatsanwaltschaft und bendig, wie nun Neunmalkluge einwenselbst des behandelnden Kinderarztes den. Aber sie kann vielleicht verhindern,
hinweggesetzt. Das Team, das Anfang dass in Zukunft ein Kind in seiner Familie
Oktober befunden hat, es komme fach- totgeschlagen wird.
vom 12.02.2015
„Ich habe keinen Anlass zu zweifeln“
B Z - I N T E R V I E W mit Dorothea Störr-Ritter, Landrätin und CDU-Politikerin, über den Tod des Kindes Alessio, das Handeln ihrer Behörde und die Konsequenzen
FREIBURG. Wie hätte der Tod des kleinen Alessio abgewendet werden können? Der Dreijährige aus Lenzkirch
starb im Januar an Misshandlung, wohl
durch den Stiefvater. Seitdem reißt die
Kritik am Jugendamt, das die Familie
betreut hat, nicht ab. Dessen Dienstvorgesetzte ist Dorothea Störr-Ritter, Landrätin des Kreises Breisgau-Hochschwarzwald. Mit ihr sprachen Stefan
Hupka, Wulf Rüskamp und Tanja Bury.
BZ: Frau Störr-Ritter, Sie haben neulich
gesagt, hier sei „etwas schiefgelaufen“.
Das klingt wie eine Panne.
Störr-Ritter: Das ist sicher nicht das
richtige Wort. Wenn ein Kind zu Tode
kommt, dann ist das eine Katastrophe.
Wie ist es dazu gekommen, warum konnte es dazu kommen? Diese Fragen stehen
im Raum und müssen geklärt werden.
BZ: Sind Sie noch immer sicher, dass hier
im Haus kein Fehler passiert ist?
Störr-Ritter: Ja, das bin ich. Ich habe mir
drei Fragen gestellt: Haben wir hier im
Haus ein geordnetes, allgemein aner-
mit einbeziehen, sich auf die aktuelle Situation einlassen, ihre Beurteilungen
hängen immer vom Rahmen ab. Deshalb
ist es rückblickend so schwer zu sagen, da
war etwas richtig oder falsch.
BZ: Aber man wird, mit Verlaub, doch sagen können: Rückblickend war es ein
Fehler, den Jungen alleinzulassen mit
dem Stiefvater, der offensichtlich eine
Zeitbombe war mit seiner Aggressivität.
Störr-Ritter: Wenn der Junge an jenem
Tag zu jener Uhrzeit nicht beim Stiefvater
gewesen wäre, dann würde er heute noch
leben, das ist so. Gleichzeitig hatten die
Mitarbeiter viele gute und richtige Gründe, mit der Familie das Unterstützungsund Schutzkonzept unter Auflagen durchzuführen. Sie haben das immer wieder geprüft, hinterfragt, neu eingeschätzt – im
Team und mit Blick von außen durch einen Supervisor. Ich habe keinen Anlass zu
zweifeln, dass die Entscheidungen gewissenhaft getroffen worden sind.
BZ: Der Stiefvater wurde anwaltlich beraten. Ein Anwalt weiß, wie sein Mandant
prüfen, mit welchen öffentlichen Hilfen
vorrangig vor einer Herausnahme eines
Kindes eine Familie unterstützt werden
kann. Dabei haben sie auch das Elternrecht im Blick und die Chance, eine Familie wieder funktionsfähig zu machen.
BZ: Elternrecht klingt hier vielleicht etwas makaber. Der Kinderschutz sollte
doch mindestens gleichrangig sein.
Störr-Ritter: Hier gibt es keinen Automatismus. Wir müssen aber auch das Elternrecht berücksichtigen. Wir können
uns da nicht einfach über die klare und
eindeutige Rechtsprechung der Familiengerichte und des Bundesverfassungsgerichtes hinwegsetzen.
BZ: Hätte man sich nicht doch eine Inobhutnahme trauen müssen? Wir möchten
den Familienrichter sehen, der angesichts dieser Misshandlungsvorwürfe
noch auf dem Elternrecht beharrt.
Störr-Ritter: Zunächst, nach den Befunden der Kinderklinik, haben unsere Mitarbeiter die Kinder für zwei Monate vom
Vater getrennt. Dann hat sich mit der Familie aber nachweislich etwas zum Positiven entwickelt, und da ist es unsere erste
Aufgabe, zu versuchen, mit der Familie
eine Zukunft zu erarbeiten.
BZ: Nochmal: Haben Ihre Leute zu viel
Angst vor einer Niederlage bei Gericht?
Störr-Ritter: Nein.
„Ich bitte jetzt um Geduld für eine gewisse Gründlichkeit “: Störr-Ritter
„Die Kosten dürfen
keine Rolle spielen“
BZ: Hätten die Mitarbeiter Rückendeckung auch für den Fall einer gerichtlichen Niederlage, oder müssen sie fürchten, dass das negativ verbucht wird?
Störr-Ritter: Die Mitarbeiter bekommen Rückendeckung dafür, dass sie gewissenhaft ihrem Auftrag entsprechend
arbeiten, und das wissen sie auch.
„Meine Kollegen sind, wie ich, tief erschüttert.“
kanntes Verfahren zum Kinderschutz? Ja.
Davon war ich schon vorher überzeugt
und habe mich erneut überzeugen lassen.
Haben wir dieses Verfahren auch im Fall
Alessio angewandt? Ja, das haben wir.
Und wie haben die Mitarbeiter sich dabei
verhalten? Gewissenhaft und sorgfältig,
das ist meine Antwort. Aus diesen Gründen stehe ich nach wie vor zu meiner Aussage.
BZ: Gibt es in diesem „geordneten Verfahren“ einen Zeitpunkt, von dem Sie –
wenigstens rückblickend – sagen, hier
hätte man anders handeln müssen?
Störr-Ritter: Wir haben großes Interesse daran, genau dies jetzt herauszufinden:
Was hätte man anders machen können,
wann hätte man dies tun können und was
kann man für die Zukunft daraus lernen?
Wo können wir zusätzliche Sicherungen
einziehen, für den Kinderschutz, auch für
unsere Mitarbeiter? Aber dafür brauchen
wir noch Zeit.
BZ: Sie argumentieren mit Verfahren und
Rechtslagen. Die mögen alle eingehalten
worden sein. Aber wurde nicht gerade in
inhaltlichen Fragen falsch abgewogen?
Störr-Ritter: Falsch oder richtig – das ist
sehr schwer zu sagen im Alltag von Sozialarbeitern. Wenn man das könnte, würde
es ihnen die Arbeit enorm vereinfachen.
Sozialarbeiter müssen immer das Umfeld
FOTOS: SCHNEIDER(2)/BURY
sich zu verhalten hat, damit er sein Kind
wiederbekommt. Zu einem bestimmten
Zeitpunkt hat der Mann sich plötzlich kooperationswillig gezeigt. Hätten Ihre Mitarbeiter das nicht durchschauen müssen?
Störr-Ritter: Ich bin überzeugt, dass
sich die Fachkräfte die Entscheidung
nicht leicht gemacht haben, das Kind in
der Familie zu belassen. Ich respektiere
die Entscheidung. Aber wir werden das
alles noch einmal prüfen lassen, auch um
für die Zukunft zu lernen.
BZ: Wenn es Restzweifel gibt an der Gefährlichkeit eines Erziehungsberechtigten, muss man dann nicht ein Gutachten
über ihn einholen?
Störr-Ritter: So ein Gutachten ist in Kinderschutzverfahren, wie sie sich auch aus
dem Gesetz ergeben, nicht vorgesehen,
nicht nur bei uns, allgemein – bisher.
Aber wer weiß, vielleicht geht der Expertenrat, den wir jetzt einholen, genau in
diese Richtung.
BZ: Bei Gericht gilt „in dubio pro reo“,
beim Jugendamt kann es doch nur heißen: im Zweifel für den Kinderschutz.
Störr-Ritter: Es geht immer um eine Risikoabschätzung. Dabei hat der Kinderschutz bei uns einen hohen Stellenwert.
Allerdings haben die Sozialarbeiter nicht
die Aufgabe, ein Umfeld psychologisch zu
durchleuchten, sondern den Auftrag, zu
BZ: Welche Rolle spielen die Kosten? Aus
dem Jugendhilfeausschuss hören wir,
dass das Jugendamt dort auch immer wieder die Kosten einer Unterbringung anspricht. Stimmt das?
Störr-Ritter: Die Kosten spielen bei einer Inobhutnahme keine Rolle. Im Ausschuss legen wir aber selbstverständlich
Rechenschaft ab, wie wir die Haushaltsmittel einsetzen. Ich kann sagen,
dass wir von 2007 bis 2014 im Bereich Allgemeine Soziale Dienste,
also vor allem im Jugendamt, die
Stellen fast verdoppelt haben und
jetzt überdurchschnittlich gut besetzt sind im Vergleich der Kreisjugendämter.
Jugendämtern. Und natürlich kann man
überall noch eins drauflegen. Aber der
Kreistag hat auch viel investiert in den
letzten Jahren.
BZ: Heimmitarbeiter vermuten eine „Unterbringungsvermeidungsstrategie“ bei
Ihnen im Hause.
Störr-Ritter: Das Wort höre ich zum ersten Mal. Falls man Fremdunterbringung
vermeiden will, dann nicht, weil sie zu
teuer ist, sondern weil man Chancen
sieht, eine Familie zusammenzuhalten.
Die Familie ist durch das Grundgesetz geschützt. Es könnten uns auch später
Heimkinder fragen, warum habt Ihr es
mit meiner Familie nicht wenigstens versucht, es sind meine leiblichen Eltern.
BZ: Trotzdem könnten Mitarbeiter sagen,
besser wäre die Trennung der Familie,
BZ: Wie kann man jetzt verhindern, dass
sich so ein Fall wiederholt?
Störr-Ritter: Wir werden externe Experten beauftragen, um zu sehen, was wir
bei uns anders machen können. Da wird
auch das Thema Kommunikation eine
große Rolle spielen, Kommunikation
nach innen und außen. Deshalb habe ich
auch der Unikinderklinik bereits ein Angebot zur Aufarbeitung gemacht. Ich bitte
jetzt um Geduld für eine gewisse Gründlichkeit in der Aufarbeitung, damit wir zu
guten Erkenntnissen kommen – mit dem
Ziel, solche Katastrophen auszuschließen, soweit das möglich ist.
BZ: Sie sind nicht nur Behördenleiterin,
sondern auch Politikerin. Könnten Sie
sich vorstellen, dass im Zuge dieser Aufarbeitung der Moment kommt, wo es heißt,
hier muss jemand die politische Verantwortung für Behördenversagen
übernehmen?
Störr-Ritter: Das sehe ich nicht.
Ich bin zuversichtlich, dass es mir
gelingt, das Landratsamt durch
diese schwierige Zeit zu führen.
BZ: Sie sagen, Fälle dieser Schwere seien gar nicht so ungewöhnlich in Ihrer Behörde. Hat dieser
Fall bereits bewirkt, dass sie anders verfahren als bisher?
Störr-Ritter: Alles, was wir jetzt
tun, geschieht natürlich im Lichte
dieses Ereignisses, das ist klar.
Und wir haben uns alle Zweifelsfälle noch einmal genau angeschaut. Ganz wichtig scheint mir
dabei auch zu sein, dass die Sozialarbeiter wieder Sicherheit bekommen in ihrer Arbeit. Diese
sind ja täglich wieder draußen
und müssen weiter Entscheidungen treffen, so wie sie es in ihrer
Ausbildung und Erfahrung gelernt haben.
BZ: Familie oder Heim – das ist ja
ein erheblicher Kostenunterschied.
Störr-Ritter: In der Tat. Aber der
darf keine Rolle spielen. Entscheidend ist allein, ob eine akute Gefährdung des Kindeswohls vorliegt, oder ob man auch mit anderen Hilfen etwas erreichen kann.
BZ: Könnte es dennoch eine Rolle
spielen in den Hinterköpfen,
wenn am Jahresende Budgetgrenzen erreicht sind und der Abteilungsleiter schon ein paar Mal
vorwurfsvoll geguckt hat?
Störr-Ritter: Nein. Wir nehmen
die Jugendhilfe sehr ernst, da
spreche ich auch für den Kreistag.
Wir kennen zudem die gestiege- Alessio-Gedenken in Freiburg am Dienstag
nen Anforderungen und werden
auch weiterhin genügend Ressourcen da- aber sie ist auch teuer, deshalb versuchen
für bereitstellen. Die Entscheidungen in wir es jetzt nochmal und drücken die
der Jugendhilfe sollen nicht unter dem Daumen, dass nichts passiert.
Störr-Ritter: Sie müssten mal sehen,
Diktat der Finanzen getroffen werden.
wie sehr es unsere Mitarbeiter jetzt belasBZ: Sie bestreiten, dass das Jugendamt tet, dass trotz ihres Einsatzes dieser Fall so
schlimm ausgegangen ist. Dann würden
häufig mit Kostendruck argumentiert?
Störr-Ritter: Ja, denn der Kostendruck Sie verstehen, dass diese Mitarbeiter niedarf nicht zu Lasten einer guten Arbeit ge- mals riskieren würden, den Kinderschutz
hen. Natürlich muss wirtschaftlich ge- hinter finanzielle Erwägungen zurückzuhandelt werden, überall, auch in anderen stellen.
BZ: Wie kommt die zum Teil heftige öffentliche Debatte bei Ihren
Kollegen an?
Störr-Ritter: Sie trifft uns alle massiv.
Ich will aber nochmals betonen: Meine
Kollegen sind, wie ich, tief erschüttert
vom Tod des Kindes.
–
Dorothea Störr-Ritter (59) wurde in
Freiburg geboren und wuchs in Waldkirch
auf. Sie ist Juristin, trat1994 in die CDU ein
und wurde 2008 – als damals landesweit
erste Frau in einem solchen Amt – Landrätin
des Kreises Breisgau-Hochschwarzwald.
vom 09.02.2015
Der Kreistag
findet keine Fehler
Nach ausgiebigem Aktenstudium im Fall des toten Alessio sehen
die Kreisräte keinen Grund, dem Jugendamt etwas vorzuwerfen
Vo n u n s e r e m R e d a k t e u r
Wulf Rüsk am p
FREIBURG. Stundenlang haben am
Samstag Kreisräte des Kreises BreisgauHochschwarzwald Akten zum Fall des
toten Lenzkircher Jungen Alessio studiert. Am Ende einigten sie sich fraktionsübergreifend darauf: Es gebe am
Handeln des Jugendamtes rechtlich
nichts auszusetzen. Der Tod des Kindes
sei ein „tragischer Unglücksfall“, so
Oliver Rein, Chef der CDU-Kreistagsfraktion und Breisacher Bürgermeister.
Allerdings soll nun eine Expertengruppe
den Fall noch einmal genauer unter die
Lupe nehmen. Die Einschätzung, dass im
Jugendamt des Landkreises alles richtig
gelaufen ist, teilen nicht alle Kreisräte:
Aus der Fraktion der Grünen gibt es Widerspruch, wie Kreisrätin Silke Eisfeld berichtete. Der wurde jedoch nur am Rande
der Pressekonferenz nach der Akteneinsicht bekannt – offiziell tragen alle Fraktionen, auch die Grünen, die von Rein
vorgetragene gemeinsame Erklärung mit.
Die Kreisräte haben bei der Akteneinsicht, die unter engen datenschutzrechtlichen Auflagen gewährt wurde, in erster
Linie darauf geachtet, ob die vorgeschriebenen Standards eines Kinderschutzverfahrens eingehalten wurden; Urteile dagegen, ob die Entscheidungen des Jugendamts sachgerecht waren, lägen nicht
in ihrer Kompetenz, so Rein.
Das Kinderschutzverfahren war in
Gang gesetzt worden, nachdem im Juli
2014 das Kinderschutzzentrum an der
Freiburger Universitätskinderklinik massive innere Verletzungen bei Alessio festgestellt hatte. Die Staatsanwaltschaft Freiburg stellte aber die Ermittlungen gegen
den tatverdächtigen Stiefvater ein: Ihm
sei nicht direkt nachzuweisen, dass er
Alessio geschlagen hatte. Er selbst verweigerte jede Aussage, bestritt aber über
seinen Anwalt die Tat.
Nachdem die Kinderklinik es im August für unverantwortbar erklärt hatte,
die Kinder in der Familie zu belassen, teilte im Oktober nach Einstellung der Ermittlungen auch die Staatsanwaltschaft
dem Jugendamt mit, aus ihrer Sicht bestehe „dringlicher Handlungsbedarf“ zum
Schutz des Kindes. Dennoch wurde dort
wenige Tage später beschlossen, dass die
vierköpfige Familie – der Stiefvater hat
mit Alessios Mutter noch eine gemeinsame Tochter von zehn Monaten – unter bestimmten Auflagen wieder zusammengeführt werden sollte. Von Mitte Dezember
an war der Stiefvater sogar allein mit den
Kindern auf dem Bauernhof in Lenzkirch,
weil die Mutter in die Klinik musste. Am
16. Januar war der dreijährige Alessio tot
– angeblich sei er, so der Stiefvater, die
Treppe hinuntergefallen. Da das Kind
aber an inneren Verletzungen gestorben
ist, die nicht durch einen Treppensturz
hervorgerufen sein können, ermittelt die
Staatsanwaltschaft seither erneut gegen
den inhaftierten Stiefvater.
Warum wurde der Stiefvater
nicht genauer untersucht?
Dass das Jugendamt diesen 32 Jahre
alten Mann, im Nachhinein betrachtet,
falsch eingeschätzt hat, weshalb das Kind
am Ende sterben musste, gestehen manche Kreisräte unumwunden zu. Das Jugendamt selbst verweist dagegen darauf,
dass es aufgrund der Entwicklungen innerhalb der Familie seit August mit guten
Gründen zu einer positiven Prognose gekommen sei.
Diese Argumentation steht auch im
Mittelpunkt des Berichts, mit dem das
Landratsamt gegenüber dem Regierungspräsidium Freiburg sein Vorgehen rechtfertigt: Immer wieder wird die Kooperationsbereitschaft des Stiefvaters wie auch
die der Mutter hervorgehoben.
Selbst in der ersten familientherapeutischen Sitzung im Januar habe der Mann
auf die Therapeutinnen einen überzeugenden Eindruck hinterlassen: Sie berich-
Wohl noch lange nicht geschlossen: Akte Todesfall Alessio
teten den Jugendamtsmitarbeitern, der
Stiefvater „sei sehr zugänglich gewesen,
habe tiefe Reue über sein Fehlverhalten
gezeigt, er habe geweint, als er davon berichtete“. Unerwähnt bleibt, dass diese
Reue nicht reichte, um sich der Staatsanwaltschaft gegenüber zur Tat zu bekennen. Zwei Tage später war Alessio tot, aufgrund der Verletzungen, die ihm vermutlich sein Stiefvater zugefügt hatte.
Die positive Prognose, sagte Rein für
seine Kreistagskollegen, sei nachvollziehbar und schlüssig. Auch aus dem familiären Umfeld seien positive Rückmeldungen erfolgt. Auf Nachfrage mussten die
Kreisräte aber zugeben, dass das Jugendamt nie ein externes psychologisches
Gutachten über den für Gewalttätigkeit
und ein cholerisches Temperament bekannten Stiefvater angefordert habe.
Manche Kreisräte sehen darin ein Versäumnis, Rein, der für den Kreistag
sprach, dagegen nicht.
Ob dies ein entscheidender Fehler gewesen sei, dieses Urteil wollen sie dem
Gespräch mit Experten überlassen, das
FOTO: DPA
das Landratsamt zum Fall Alessio vorbereiten will. Es sei aber auch klar, dass die
Kommunikation zwischen Jugendamt einerseits, Staatsanwaltschaft, Kinderärzten und Kinderklinik sowie freien Trägern in der Jugendhilfe andererseits verbessert werden müsse. Kreisräte sprachen von einer „risikobelasteten Gratwanderung“ zwischen Elternrecht und
Kinderschutz. Deshalb erwarten sie vom
Gesetzgeber klarere rechtliche Vorgaben
für die Arbeit der Jugendämter.
In den letzten Lebenstagen Alessios, als
die Mutter in einer Klinik war, unterstützte eine Dorfhelferin den Stiefvater bei der
Arbeit auf dem Lenzkircher Bauernhof;
sie ist eine Cousine des Landwirts. Das
Dorfhelferinnenwerk hat jetzt die Kritik
an dieser Entscheidung zurückgewiesen.
Man habe bewusst diese Person ausgewählt, weil sie „sehr viel Hintergrundwissen zur familiären Situation“ besitze und
sich schon länger für Alessio engagiert habe. Denn sie hatte ihn schon 2013 in die
Universitätskinderklinik gebracht, weil
sie vermutete, er sei misshandelt worden.
Im Alleingang
Warum gab das Jugendamt im Fall Alessio den Dreijährigen in die Obhut des Stiefvaters zurück? Die Geschichte eines verhängnisvollen Fehlers
Vo n u n s e r e m R e d a k t e u r
Michael Brendler
Am 14. Oktober 2014 hat nicht nur Alessio
einen rabenschwarzen Tag erwischt. Auch
Herr X., so hat man im Nachhinein den Eindruck, scheint zumindest mit dem falschen
Fuß aufgestanden zu sein. Sonst hätte er an
diesem Morgen hoffentlich anders reagiert. In seinem Büro, so ist dem Protokoll
zu entnehmen, das das Landratsamt dem
Freiburger Regierungspräsidium überlassen hat, haben sich an diesem Dienstag
nicht nur ein kleiner dreijähriger Junge mit
einer schrecklichen Vorgeschichte und seine beiden Eltern versammelt. Herr R. und
Frau S., wie wir sie in der Folge nennen
wollen, haben sich diesmal Verstärkung
mitgebracht – eine Anwältin. Eine ungemütliche Situation für einen Sozialarbeiter,
der begründen muss, warum die Familie
immer noch nicht zusammenleben darf.
Seine Großmutter habe einen Kreislaufzusammenbruch erlitten, bedrängen der
Stiefvater und die Anwältin den Sachbearbeiter. Die aktuelle Situation werde ihr zu
viel. Denn dort ist der Kleine untergebracht. Nachdem der Dreijährige aus Lenzkirch mit schweren Misshandlungen in die
Uniklinik eingeliefert worden war, war er
mit seiner Mutter und Schwester bei R.s
Oma eingezogen – um vor dem Stiefvater
in Sicherheit zu sein, so die Vereinbarung
mit dem Jugendamt.
Ohne bei der Großmutter den Wahrheitsgehalt dieser Geschichte nachzuprüfen, knickt Sachbearbeiter X. ein. „Vor diesem Hintergrund“, schreibt er in seinem
Protokoll, „kann eine Rückführung von
Frau S. und ihren beiden Kindern in den
Haushalt von Herrn R. schon heute . . . erfolgen.“ „Die Umgangskontakte können ab
sofort ohne weitere Aufsicht gestaltet werden.“ Das Schutzkonzept, so der fachmännische Ausdruck, das den kleinen Alessio
bis dato vor dem wahrscheinlich gewalttätigen Stiefvater retten sollte, war damit
über den Haufen geworfen. Und was nicht
unwichtig ist: X. fällt diese Entscheidung,
so ist im Protokoll zu lesen, allein.
Wenn es um den Schutz eines bedrohten
Kindes geht, lässt das Sozialgesetzbuch wenig Spielraum. „Das Gefährdungsrisiko für
ein Kind kann immer nur im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte eingeschätzt
werden. Ebenso kann ein Schutzkonzept
immer nur von mehreren qualifizierten
Fachkräften zusammen erstellt werden
und es kann auch nur von mehreren geändert werden“, sagt Ludwig Salgo, Seniorprofessor mit Schwerpunkt Familien- und
Jugendrecht an der Universität Frankfurt
„Es war uns bekannt, dass der Vater
das Kind damals geohrfeigt hat. Aber
wenn wir alle Kinder, die jemals
geohrfeigt worden sind, wegen des
Verdachts auf Kindeswohlgefährdung
gleich aus den Familien nehmen
sollten, dann wäre der Auftrag der
Kinder und Jugendhilfe nicht erfüllt.“
Eva-Maria Münzer,
Sozialdezernentin, 21. Januar
sowie Gutachter in Kinderschutzfragen,
unter anderem für das Bundesverfassungsgericht. Etwas so Gewichtiges wie die Frage, ob ein Kind aus der Obhut seiner gewalttätigen, alkoholabhängigen, vernachlässigenden Eltern genommen oder in sie
zurückgegeben wird, darf niemals eine Person im Jugendamt alleine entscheiden.
Für eine solche gemeinsame und zu protokollierende Entscheidung findet sich allerdings kein Beleg in dem Bericht, mit
dem das Landratsamt sein Verhalten im Fall
Alessio vor den Prüfern des Regierungspräsidiums (RP) rechtfertigen musste – einen
Verfahrensfehler entdeckte die Behörde
trotzdem nicht. Auch im Landratsamt bestreitet man den Alleingang des eigenen
Mitarbeiters. Schließlich habe man bereits
zuvor im Team über das weitere Vorgehen
im Fall Alessio beraten – das von Herrn X.
neu entworfene Schutzkonzept wurde in
dieser Form jedoch nie beschlossen, geschweige denn protokolliert. Erst einen
Tag später wurde die Zusammenführung
von Vater und Familie von einem Sozialarbeiter-Team abgesegnet – zu spät, sagt Salgo. Nicht mehr als ein Formfehler, könnte
man sagen, aber die Geschichte des toten
Alessio lehrt: Auch im Kinderschutz sind es
die vielen kleinen Fehler, die in die großen
Katastrophen münden.
Besonders irritierend wird der verhängnisvolle Beschluss vor dem Hintergrund
seines Zeitpunkts: Sechs Tage zuvor hatte
die Staatsanwaltschaft ihr Verfahren gegen
Herrn R., Alessios Stiefvater, eingestellt –
mangels hinreichenden Tatverdachts.
„Maßnahmen des zuständigen Jugendamtes zum Schutz des Dreijährigen“ erschienen den Juristen in ihrem Schreiben aber,
wie berichtet, dennoch „dringend geboten“. Und fünf Tage nach Erhalt des Briefes
schickt der Sachbearbeiter Herr X. das Kind
wieder in die Obhut jenes mutmaßlichen
Täters zurück. Geschützt allein durch ein
Maßnahmenpaket, das Alessio in ähnlicher
Version bereits ein Jahr zuvor nicht vor der
brutalen Gewalt hatte schützen können.
„Wir haben alles umgesetzt,
was nach bestem Wissen und
Gewissen machbar war.“
Dorothea Störr-Ritter, 19. Januar
Immerhin: Der Stiefvater schien sich
laut dem Rechtfertigungsschreiben des
Landratsamts innerhalb von zwei Monaten
zu einem völlig neuen Menschen gemausert zu haben. Als jemand, „der keine geeignete Problemeinsicht oder Bereitschaft
zeigt, geeignete Hilfe in Anspruch zu nehmen“, hatte die Uniklinik in ihrem Arztbrief noch im August Herrn R. beschrieben. Das Jugendamt kam Mitte Oktober zu
einer ganz anderen Einschätzung: „Reflektiert, ehrlich und bereit, sein Handeln mit
professioneller Hilfe zu ändern“ – ein erstaunlicher Charakterwandel, vor allem
wenn man bedenkt, dass der angeblich so
kooperative Klient laut den internen Protokollen am 14. Oktober die Hälfte der unterbreiteten Hilfsangebote ablehnt und
gleichzeitig die weitere Zusammenarbeit
mit der Familienhelferin und den bisherigen Kinderärzten verweigert.
Auch im Fall Kevin – der Zweijährige,
der 2006 in Bremen tot und misshandelt
im Kühlschrank seines Stiefvaters aufgefunden wurde – hätten die Eltern stets ihre
Kooperationsbereitschaft demonstriert,
darauf weist Christine Köckeritz hin.
„Trotzdem ging die Gewalt weiter“, so die
frühere Jugendamtsleiterin, die heute an
der Hochschule Esslingen für Entwicklungspsychologie und Jugendhilfe zuständig ist. „Die zugrunde liegenden Probleme
werden nicht aus der Welt geschafft, indem
die Eltern sagen, wir kooperieren.“ Warum, fragt man sich, hat sich das eigentlich
nicht bis in den Kreis Breisgau-Hochschwarzwald herumgesprochen?
Einblutungen ins Gehirn wie nach
Schlägen vor den Kopf, das Kinn ein einziger Bluterguss, Oberkörper, Arme, Beine
und Po übersät mit blauen und gelben Flecken, auf den Schultern Hämatome in
Zeichen der Trauer: Kerzen für
Alessio vor dem Landratsamt
FOTOS: TANJA BURY/DPA (2)
Form von Fingern, als hätte jemand zu hart
zugegriffen, der Hodensack ein kleiner gequetschter dunkelblauer Bluterguss – trotz
dieser ärztlichen Diagnosen vier Monate
zuvor entschied sich das Jugendamt Mitte
Dezember, diesmal allerdings im vorgesehenen Fachgremium, das Kind dem mutmaßlichen Gewalttäter alleine anzuvertrauen, die Mutter war in eine Klinik gebracht worden.
Ein Paket an Therapie- und Unterstützungsmaßnahmen sollte gleichzeitig den
Eltern Frust und Stress nehmen und ihre
Bindung zu den Kindern stärken. Eine verhängnisvolle Fehleinschätzung, wie man
heute weiß. Und ein gefährliches Spiel mit
dem Feuer, wie nicht nur der Psychologe
Holger Reinisch meint: „Ein Mensch, der
ein kleines dreijähriges Kind so zusammenschlägt, hat ein massives Problem mit seiner Impulskontrolle. Der hat sich nicht im
Griff und hat nie gelernt, seinen Frust und
seine Gewaltimpulse zu zügeln“, sagt der
erfahrene Kinderschutzexperte und Gerichtsgutachter. Diese Warnung hätten die
Sachbearbeiter auch dem Arztbrief der
Uniklinik entnehmen können. „Solange
man an dieser Impulskontrolle nicht erfolgreich gearbeitet hat“, so die Esslinger Professorin Köckeritz, „muss
man damit rechnen, dass es der Betreffende trotz aller Beteuerungen
nicht schafft.“ Die Zeitbombe in der
Familie, weiß man heute, tickte weiter. „Das Jugendamt hat nur versucht dafür zu sorgen, dass sie zumindest keiner versehentlich auslöst“, so Reinisch.
Natürlich sind die dunklen Ecken
im Gehirn eines potenziellen Gewalttäters nur bedingt auszuleuchten, sind die komplexen Strukturen
einer Familie nur schwer zu erfassen. Und
genau wie jedem anderen Menschen können auch Jugendamtsmitarbeitern Fehler
passieren. Aber erfahrene Kinderschutzexperten wissen auch: Man kann erfolgreich
versuchen, seine Fehlerquote zu senken.
Und je mehr man über den Fall erfährt, desto mehr festigt sich der Eindruck: Gerade
an solchen Versuchen hat es im Landratsamt Breisgau-Hochschwarzwald gemangelt.
So wird auch das beste Schutzkonzept
schnell Makulatur, wenn man nicht überprüft, ob es auch umgesetzt wird. Im Jugendamt wurde zwar bereits Mitte August
beschlossen, Alessios Eltern zu 14-tägigen
Kontrollbesuchen beim Arzt zu verpflichten. Aber anscheinend überwachte niemand, ob sie dieser Auflage auch nachkamen. Als Mutter und Kind nach fast einem
Monat tatsächlich das erste Mal bei ihren
Pädiatern in Bonndorf auftauchten, hatte
sich vonseiten des Amtes noch niemand
bei diesen nach dem Stand der Dinge erkundigt. „So etwas muss kontrolliert werden, sonst hat es keinen Zweck“, sagt Kö-
ckeritz. In der Zwischenzeit hätten „zwei
externe Termine bei anderen Fachstellen“
stattgefunden, rechtfertigt sich das Amt. In
den Akten an das Regierungspräsidium findet sich dafür allerdings kein Beleg.
Monika Spitz-Valkoun, eine elegant gekleidete grauhaarige Dame, die selbst in ihrer Aufregung noch gepflegt und analytisch
wirkt, und ihr Mann, der mit Wollpullover,
Hemdkragen und dem grauen Seitenscheitel auch nicht unbedingt das typische Bild
eines Obrigkeitsrebellen abgibt, nehmen
kein Blatt vor den Mund: Man habe die
Sachbearbeiter des Jugendamtes vor der
Lebensgefahr für den Jungen gewarnt, habe Briefe geschrieben, den zuständigen Sozialarbeitern hinterhertelefoniert, ohne Erfolg. „Unsere Bedenken wurden zur Kenntnis genommen, hatten aber keinerlei Konsequenzen. Die haben sich eher angegriffen gefühlt und wollten sich nicht reinreden lassen“, erzählen die Kinderärzte.
Dabei hätte man viel voneinander lernen können: Monika Spitz-Valkoun hätte
zum Beispiel die Möglichkeit gehabt, von
ihrem Erlebnis mit Stiefvater und Sohn zu
berichten. Bei der Erinnerung scheint es
sie heute noch zu schaudern: „Jedes Kind
hat Angst vor einer Spritze“, erläutert sie,
Alessio aber hatte mehr Angst vor dem
Stiefvater, der gerade noch die Ärztin zusammengestaucht hatte. Das Brüllen reichte, um den Stiefsohn zur Salzsäule erstarren zu lassen. „Es war unheimlich. Der Junge hat während der Blutabnahme starr dagesessen, keine Miene verzogen und keinen Piep gesagt.“ Im Jugendamt hat man
das Verhältnis zwischen Stiefvater und
Stiefsohn ganz anders in Erinnerung: „Positiv, innig, vertrauensvoll“, zitieren die Sozialarbeiter gegenüber dem Regierungspräsidium die Dorfhelferin, die auf dem Hof aushalf und welche das Jugendamt mit ausgesucht hat. Die Frau, die so gute Noten für
Herrn R. vergab, war seine Cousine (!).
Regelmäßiger Austausch, Helferkonferenzen, enge Kooperation, darin sind sich
fast alle Fachleute einig, sind unverzichtbar
in einem Kinderschutzverfahren. Im Fall
Alessio nimmt das Landratsamt stattdessen
nach der Entlassung des Jungen von der
Station wochenlang keinen Kontakt zu
Uniklinik und Kinderärzten auf. Bei den
Bonndorfer Ärzten, so berichten sie selbst,
rief Ende September dann ein Jugendamtsmitarbeiter an, um sich über deren Einmischung zu beschweren. Was man seitens
des Landratsamts wiederum bestreitet.
Und selbst wenn es kein gemeinsames
Auskommen gibt: „Wenn die Einschätzungen der Fachleute so stark voneinander abweichen“, sagt der Jurist und einstige Vizepräsident des Deutschen Kinderschutzbundes, Ludwig Salgo, „dann hätte man zumindest einen unabhängigen Gutachter
hinzurufen oder die Sachen beim Familiengericht klären lassen müssen.“ Aber weder
das eine noch das andere wurde getan.
Die ungenügende Zusammenarbeit ist
kein Einzelfall: Im Vergleich der südbadischen Jugendämter, darin sind sich das
Freiburger Kinderschutzzentrum und die
Bonndorfer Kinderärzte einig, ist die Zusammenarbeit mit dem des Kreises Breisgau-Hochschwarzwald besonders unerfreulich – nicht nur im Fall Alessio.
Für schlechte Kooperationskultur und
antiquierte Vorgehensweisen gibt es auch
andere Indizien. Weil Kinder- und Jugendarbeit Kommunalsache ist, gibt das Sozialgesetz zwar bundesweit die Richtung vor,
die genauen Schritte, die der Meldung einer akuten Kindeswohlgefahr zu
folgen haben, regeln die jeweiligen Städte und Landkreise aber
mit eigenen Verfahrensstandards.
In einer Untersuchung für den
Kommunalverband Jugend und
Soziales
Baden-Württemberg
prüfte die Esslingerin Christine
Köckeritz, wie gute Standards
auszusehen haben: Einschätzungshilfen in Form von Checklisten müssten vorhanden sein,
hält sie fest, Definitionen der
wichtigsten Gefährdungskonstellationen seien zu fordern, um Operationalisierungen – Diagramme, die genau festlegen, wer wann was zu tun hat und zu welchem Zeitpunkt Hilfe hinzugerufen werden muss – solle man sich bemühen. Im
Verfahrensstandard
Breisgau-Hochschwarzwald sucht man all das vergeblich.
Andere Jugendämter machen das Zusammensetzen mit anderen beteiligten
Fachleuten in Helferkonferenzen zur
Pflicht – im Landratsamt hält man schon
die Kontaktaufnahme nur „gegebenenfalls“ für nötig. Auch was Arbeitskreise mit
Kindergärten, Ärzten, Schulen, Therapeuten angeht, lässt die Arbeit des Kreises
Breisgau-Hochschwarzwald, so ist zu hören, noch Wünsche offen, was aber auch
für sehr viele andere Jugendämter gilt.
Wir haben ein geordnetes, allgemein anerkanntes Verfahren zum Kinderschutz,
und wir haben es angewandt – versichert
Landrätin Dorothea Störr-Ritter. Über beides kann man streiten. Und selbst wenn es
so war, steht die Frage im Raum: Warum ist
am Ende ein Kind tot, und wer trägt dafür
die Verantwortung?
vom 27.02.2015
LEITARTIKEL
Die Frage der Verantwortung im Fall Alessio
Standards allein
reichen nicht
Vo n Wu l f R ü s k a m p
Der Fall Alessio treibt die Menschen lich Möglichen zu wahren. Dass solche
nicht nur in Südbaden um. Und man darf selbstgenügsame Berufung auf Standards
der Landrätin Dorothea Störr-Ritter glau- zu wenig erscheint für ein engagiertes Juben, dass der Tod des kleinen Jungen aus gendamt, steht auf einem anderen Blatt.
Das hätte der Kreistag beschreiben
Lenzkirch Anfang Januar auch die Mitarbeiter im Landratsamt und speziell im Ju- können. Er ist nicht daran gebunden, nur
gendamt des Kreises Breisgau-Hoch- auf die Ordentlichkeit bürokratischer
schwarzwald erschüttert hat. Das sagt Abläufe zu achten, er darf – und sollte soaber nichts darüber aus, was man dort gar – inhaltlich und politisch Position beziehen. Denn er ist Kontrollorgan der
unter Aufarbeitung des Falls versteht.
Die bis heute aufrechterhaltene Vor- Kreisverwaltung. Er darf sich nicht damit
wärtsverteidigung der Landrätin, ihr zufriedengeben, dass die Verantwortung
Haus habe keine Fehler gemacht, offen- eines Jugendamtes schon damit eingelöst
bart eine Denkweise, die bürokratisches ist, wenn es die Standards des KinderVerfahren von dessen Ergebnis zu tren- schutzverfahrens einhält. Doch genau
nen vermag. Zumal wenn der Satz nach- das haben die Sprecher der Kreistagsfrakgeschoben wird, irgendetwas sei „schief- tionen getan, als sie die Version der Landgelaufen“: Das klingt so, als habe eine an- rätin wiederholten: Es gibt keine Fehler.
onyme Macht gehandelt, so dass nie- Und was das „Schieflaufen“ angeht, vertraut die Mehrheit der Klämand Verantwortung für
rung durch die von der
den Tod des Kindes trägt –
ausgenommen der Stiefva- Die Aufarbeitung Landrätin einzuberufende
Expertenkommission.
ter, der unter Tatverdacht
im Fall Alessio
Verwunderlich ist das
steht.
dreht sich um
nicht: Der Kreistag wird
Entsprechend ist in der
bisherigen Aufarbeitung Verfahrensfragen dominiert von Bürgermeisdie Frage zentral, ob die – das ist zu wenig tern, die auch Verwaltungschefs sind – und desStandards des Kinderhalb oft ebenfalls in büroschutzverfahrens eingehalten worden sind – die darin erfolgten in- kratischen Legitimationsmustern denhaltlichen Abwägungen und Entschei- ken. Die Solidarisierung mit dem eigedungen des Jugendamts bleiben ausge- nen Landratsamt – mit dem sie in andeblendet, obwohl gerade sie den Tod des ren Fragen eng zusammenarbeiten
Dreijährigen ermöglicht haben, den es müssen – erfolgte zudem offenbar vordoch schützen sollte. Schon die Sozialde- schnell: Wie Kreisräte berichten, reichte
zernentin Eva-Maria Münzer hatte dar- der zeitliche Rahmen für eine eingehenauf hingewiesen, man dürfe den Fall de Sichtung der Akten gar nicht aus.
Es gibt aber außer dem Kreistag keine
nicht vom Ende her betrachten, sondern
müsse den Prozess sehen. Deshalb geht verbindliche Instanz, die kritisch die Ares ihr und dem Amt vor allem darum, die beit des Jugendamtes befragen kann, und
angebliche Fehlerlosigkeit dieses Prozes- zwar genau vom Ende des Falls Alessio
her: Wie konnte es geschehen, dass mit
ses zu behaupten und nachzuweisen.
Sind also Behörden nur dafür verant- Billigung des Amtes der Stiefvater mit
wortlich, dass Verfahrensvorgaben ein- dem Kind alleine war? Diese Frage haben
gehalten werden, egal was am Ende die Kreispolitiker weiter gereicht an die
steht? Auf diesen Aspekt hat auch das Re- kommende Expertenkommission, die
gierungspräsidium geachtet, als es als über den aktuellen Fall hinaus die ArRechtsaufsicht für das Landratsamt ein- beitsweise des Jugendamtes untersugeschaltet wurde. Das Prüfergebnis war chen soll. Von ihr muss man sich erhoferwartbar, auch wenn inzwischen man- fen, was der Kreistag nicht einfordern
cher Vorgang zweifelhaft erscheint. Aber will: Dass Verantwortung nicht nur in
den Prüfern des Regierungspräsidiums den Prozessen, sondern auch in deren Erschien dies alles den Rahmen des recht- gebnissen gesucht wird.
vom 07.03.2015
Aufsicht stellt
kritische Fragen
Einsame Einschätzungen, unerklärliche Milde: Im Fall des toten
Alessio kommen nun doch Fehler des Jugendamts zum Vorschein
Vo n M i c h a e l B r e n d l e r
und Wulf Rüsk am p
FREIBURG. „Gewissenhaft und sorgfältig“: So hat Landrätin Dorothea StörrRitter (CDU) beschrieben, wie das Jugendamt ihres Kreises Breisgau-Hochschwarzwald im Fall des dreijährigen
Alessio aus Lenzkirch vorgegangen sei.
Der Prüfbericht des Regierungspräsidiums vermittelt, obwohl er sich auf
rechtliche Aspekte beschränkt, einen
anderen Eindruck: An wichtigen Entscheidungen des Jugendamts übt er Kritik – Entscheidungen, die verhindert
haben, dass das Kleinkind von seinem
jetzt des Totschlags dringend verdächtigen Stiefvater getrennt wurde.
In der Kinderklinik der Universität Freiburg waren die Ärzte entsetzt über die
schweren Verletzungen, mit denen Alessio im Juli 2014 eingeliefert worden war.
Rasch war klar, dass es Misshandlungen
waren. Obwohl die Klinik Strafanzeige
ankündigte, hielt man im Jugendamt den
Ball flach: Zwar schloss man eine Rückkehr des Kindes auf den Bauernhof des
Stiefvaters in Lenzkirch zunächst aus,
stufte das Ganze aber nicht als „komplexen Fall“ ein. Eine Begründung dafür
konnte das Regierungspräsidium laut seinem Bericht, der der BZ vorliegt, in den
Akten aber nicht finden. Ohne diese Einstufung kann aber nach den Vorschriften,
die sich das Landratsamt gegeben hat, die
Information der Fachgruppenleitung und
anderer Leitungsebenen unterbleiben.
Doch denen blieb wohl auch anderes
vorenthalten. Das Regierungspräsidium
vermutet, dass die ausführliche Stellungnahme der Kinderklinik zu Alessio „weder von der Dezernentin noch der Fachbereichsleitung beziehungsweise Fachgruppenleitung gelesen oder nachträglich
zur Kenntnisnahme vorgelegt“ worden
ist. Gleiches geschah der Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren gegen den Stiefvater vom
8. Oktober, in der „Maßnahmen des zuständigen Jugendamtes zum Schutz des
dreijährigen Kindes für dringend geboten“ gehalten werden. Auch das las man,
vermuten die Prüfer, nur in der Jugendamtsaußenstelle Titisee-Neustadt, nicht
in der Zentrale. Rechtswidrig ist das freilich nicht, weil ja der Fall Alessio nicht
„komplex“ ist. Aber angemessen?
Zentrale Figur ist der Sachbearbeiter
des Falles. Wenn der Bericht des Landratsamts vollständig ist, dann ist der
Mann der Einzige im Jugendamt, der Kontakt mit Alessios Familie hatte. Alle Einschätzungen der angeblichen Kooperation des Stiefvaters beruhen auf seinen Beobachtungen. Dies hat das Landratsamt
auf Anfrage der BZ indirekt bestätigt. Er
war quasi das Auge des Teams, das im Fall
Alessio eigentlich nach dem „Mehraugenprinzip“ entscheiden sollte – ein
Team, das sich bei seinen Einschätzungen
mangels eigener Eindrücke stets auf den
Sachbearbeiter verlassen musste. Und
dem zwar drei oder vier Personen angehörten, die aber mit Ausnahme des Sachbearbeiters immer wieder wechselten.
Eine fragwürdige Variante des Mehraugenprinzips – findet Ludwig Salgo, Seniorprofessor für Familien- und Jugendrecht
an der Uni Frankfurt: „Das vorgeschriebene Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte bedeutet meines Erachtens in einer solchen Konstellation, dass sich zumindest
zwei Fachkräfte einen unmittelbaren persönlichen Eindruck von der Lage und den
beteiligten Personen, vor allem von ihrer
Interaktion verschafft haben. Das gegenseitige Korrektiv würde entfallen, wenn
nur eine Fachkraft sich unmittelbare Eindrücke verschaffen würde. Zudem widerspricht ein ständiger Wechsel im Fachteam der vom Gesetz beabsichtigten kontinuitätssichernden Hilfeplanung.“
Der Mann hatte sich bei
Stress nicht unter Kontrolle
„Das Zusammenwirken mehrerer
Fachkräfte läuft leicht ins Leere“, sagt
auch Heinz Kindler, der am Deutschen Jugendinstitut in München den Bereich Familienhilfe und Kinderschutz leitet,
„wenn nur eine Fachkraft die Beteiligten
und die Situation aus eigener Anschauung kennt“. Dann gebe es oft keine Chance, Fehlwahrnehmungen zu korrigieren.
Für die positiven Einschätzungen des
Stiefvaters, auf die sich das Landratsamt
auch in seinen Rechtfertigungen nach
Alessios Tod berufen hat, fehlt dem Regierungspräsidium wiederholt schlicht die
Begründung. Da konnte der Stiefvater wesentliche Teile des Hilfsprogramms ablehnen, ebenso den weiteren Einsatz der Sozialpädagogischen Familienhilfe – der
Sachbearbeiter sprach dennoch von einer
„erkennbar vorhandenen“ Mitwirkungsbereitschaft. Die Rechtsaufsicht dazu: „Es
lässt sich aus der Akte nicht nachvollziehen, welche Überlegungen seitens des Ju-
gendamtes dazu geführt haben, bei dieser
Sachlage dennoch eine Mitwirkungsbereitschaft zu diagnostizieren, die unter
anderem den Verbleib des Kindes in der
Familie rechtfertigt.“
Im Gegenteil: Die ablehnende Haltung
des Stiefvaters lasse zweifeln, dass er es
ernst meinte mit seinen Beteuerungen, er
wolle sich ändern. Zumal für diese Änderung – die Uniklinik hatte eine nicht ausreichende Impulskontrolle des Mannes in
Stresssituationen gesehen – noch keinerlei Therapie erfolgt sei. Aber in den Akten
des Jugendamts taucht diese Diagnose ohnehin nicht mehr auf – obwohl Helfer von
außen darauf hinwiesen, dass der Mann
Stresssituationen nicht gewachsen sei,
wie sie bei einer kranken Frau, zwei
Kleinkindern und einer Menge Vieh im
Stall häufig auftreten können.
Im Dezember wurde die Lage auf dem
Hof schwieriger, dennoch reagierte das
Jugendamt nicht: „Eine neue, an die geänderte Situation angepasste Gefährdungsanalyse lässt sich der Akte nicht entnehmen“, so das Regierungspräsidium. Das
Jugendamt verweist immer wieder auf die
Hilfe der Großfamilie insbesondere des
Stiefvaters, aber auch der Kindsmutter.
Das Regierungspräsidium vermisst jedoch die Verbindlichkeit dieser Hilfen.
All diese kritischen Fragen, die das Regierungspräsidium aufgrund der Protokolle stellt, sie alle hätten schon im Team
diskutiert werden können. Doch von solchen Diskussionen erfährt man aus den
Akten so gut wie nichts. Das Mehraugenprinzip, das andere Blicke auf den Fall, ein
Denken in Alternativen ermöglichen und
so den einzelnen Sachbearbeiter von sei-
ner Verantwortung entlasten soll, ist, so
scheint es, ein formaler Akt geblieben. Ob
dies gängige Praxis im Jugendamt ist, werden die angekündigten Untersuchungen
von Experten zeigen.
Nichts auszusetzen hatte das Amt dagegen daran, dass Alessio, obwohl mit ihr
nicht verwandt, nach seiner Entlassung
aus der Klinik bei der Großmutter des 32jährigen Stiefvaters untergebracht war –
trotz deren fortgeschrittenen Alters. Die
Entscheidung, sagt nun das Landratsamt,
„war die Wahl des mildesten Mittels“ für
die Kinder. Die räumliche Trennung vom
Stiefvater bis Mitte Oktober wurde aber
nicht durchgehalten. Wie das Amt mitteilt, besuchte der Stiefvater, gegen den
damals wegen Misshandlung ermittelt
wurde, seine Großmutter und damit auch
das Kind. „Zum Ausmaß der Umgangsbefugnis gab es Absprachen, die auch durchgesetzt wurden“, so das Landratsamt.
Laut Akte vom 1. August seien die Besuche unter Aufsicht erfolgt – der Aufsicht der Großmutter. 21 Tage später, am
22. August, stellt sich das Team freilich
die (in dem Protokoll nicht beantwortete)
Frage, ob die Großmutter eher gegenüber
dem Stiefvater oder dem Amt loyal sei.
Der Prüfbericht des Regierungspräsidiums kommt zu vielen kritischen Anmerkungen im Umgang mit dem Fall Alessio.
In der Pressemitteilung dazu ist allerdings
nicht viel zu lesen – sie wurde aus „datenschutzrechtlichen Gründen“ weich gespült. Deshalb ist da nur von der Bitte die
Rede, das Landratsamt möge die Gefährdungseinschätzung intensiv aufarbeiten.
Am 11. März soll der Kreistag zu dieser
Aufarbeitung Beschlüsse fassen.