Theorie des Dramas: Modelle und Begriffe Inhaltsverzeichnis
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Theorie des Dramas: Modelle und Begriffe Inhaltsverzeichnis
Lobo Lutz, Unterrichtsfach Deutsch Thema: Drama Seite 1 von 17 Theorie des Dramas: Modelle und Begriffe An Stelle eines Lehrbuchs habe ich hier eine Sammlung verschiedener Unterlagen zur Theorie des Dramas zusammengetragen. Der Grossteil davon stammt aus den Unterlagen einer Einführungsvorlesung der Universität Duisburg.1 Inhaltsverzeichnis • • • • • • • • S. 2/3: Modelle – Gedacht zur Anwendung auf Lessings 'Nathan der Weise'. Sie gelten aber auch für andere Stücke. S. 4/5: Einzelne Begriffe: Protagonist / Chor / Botenbericht / Ständeklausel / Dramatische Einheiten / Lesedrama S. 6/7: Dialog / Monolog - Ausführungen S. 8/9: Tragödie / Komödie - Ausführungen S. 10-12: J.C. Gottscheds Regelpoetik und G.E. Lessings Reaktion S. 13/14: Gustav Freytag: Technik des Dramas (Einteilung der Akte) S. 15/16: Bertolt Brecht: Episches Drama S. 17: Offenes und geschlossenes Drama – Eine Gegenüberstellung 1 http://www.uni-due.de/einladung/Vorlesungen/dramatik/main.html (22.02.2011) – Die Auswahl richtet sich nach meinen Unterrichtsplänen. Ich empfehle euch aber im Verlaufe dieses Semesters selbst einmal einen Blick auf die Seite zu werfen. 1 Lobo Lutz, Unterrichtsfach Deutsch Thema: Aufklärung Seite 1 von 2 Theorie des Dramas1 – Lessings 'Nathan der Weise' In den nächsten 3 Wochen werden wir gemeinsam den Nathan lesen. Das will ich zum Anlass nehmen neben dem Stück selbst und dem übergeordneten Thema 'Aufklärung' auch auf die Literaturgattung 'Drama' einzugehen. Parallel zum Stück werden wir auf Folgendes zu sprechen kommen (Ergänzt die Ausführungen/Stichwörter auf diesen Blättern durch eigene Gedanken zu Lessing Stück): Stichwort/Thema Eigene Gedanken Textgestalt des Dramas Akt Szene Haupttext Nebentext Monolog Personenverzeichns Dialog Regieanweisungen Gelesener Text Aufgeführtes Stück Formen des Dramas Lyrik Tragödie - Trauerspiel - Held verliert - Antiheld gewinnt - Nahe am Publikum Drama Epik Komödie - Lustspiel - Held gewinnt - Antiheld verliert - Weit vom Publikum Frei nach Billy Wilder: „Ein Mann läuft die Strasse hinunter und fällt hin. Wenn er wieder aufsteht, ist das eine Komödie, die Leute lachen; bleibt er liegen, ist es eine Tragödie. Ständeklausel (Nach Aristoteles und Gottsched): In der Tragödie sollen nur Personen hohen Standes (Könige udg.) auftreten. Bürgerliche Figuren sollten nur in der Komödie erscheinen. (Lessing u.a. bestreiten das). Pro Argument: Fallhöhe 1 Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf des Theater bis ca. 1850. Danach kommt es zu Änderungen und Perspektivverschiebungen, die hier nicht thematisiert werden. Und falls das Unklar sein solle: Hier wird nur eine grobe Übersicht gewährt. 2 Lobo Lutz, Unterrichtsfach Deutsch Thema: Aufklärung Stichwort/Thema Seite 2 von 2 Eigene Gedanken Aufbau des Dramas Höhepunkt / Peripetie Steigende Handlung / erregendes Moment Fallende Handlung / retardierendes Moment Exposition Katastrophe 1. Akt Exposition - Einführung in Ort und Zeit der Handlung - Vorgeschichten, wichtige Figuren - Vorstellen des Konflikts 2. Akt Steigerung - Beschleunigung der Entwicklung - Intrigen, Verknüpfung von Handlungen 3. Akt Höhepunkt - Entscheidende Auseinandersetzung - Unerwartete Wende zu Sieg oder Niederlage 4. Akt Verlangsamung - Entwicklung gegen das Ende, Steigerung der Spannung - Verzögerung der Entwicklung (Retardatio) 5. Akt Katastrophe - Lösung des Konfliktes - Untergang des Helden (Tragödie) oder Sieg Einheiten des Geschlossenen Dramas (Aristoteles + Gottsched) Ort: Nur ein Handlungort Zeit: Ein Tag Handlung: abgeschlossen, keine Nebenhandlug Analyse des Dramas Figuren Handlung Dialoge / Monologe Situation 3 Einzelne Begriffe Protagonist griech. protagonistes: erster Kämpfer Im antiken griechischen Theater war der Protagonist der erste Schauspieler, der nicht nur gleichberechtigt in den Urkunden über dramatische Inszenierungen neben dem Autor stand, sondern auch die anderen Schauspieler aussuchte. Heute ist 'Protagonist' die allgemeine Bezeichnung für den Haupthelden (in der Regel die Titelfigur) eines Stückes. Chor griech. choros: Tanzplatz, Tanz, Reigen mit Gesang, schließlich die ihn aufführenden Personen Der Chor ist der eigentliche Ursprung des griechischen Dramas: Aus Einzel- und Wechselreden des Chores entwickelte sich die Wechselrede zwischen Chor und Schauspielern (seit Aischylos zwei, seit Sophokles drei; Ursache für die begrenzte Personenzahl im antiken Drama). Ursprünglich war der Chor Hauptträger der Handlung, er griff direkt in diese ein, besonders durch den Chorführer, der die Handlung kommentierte. Im weiteren Verlauf wurde der Chor allmählich (bereits bei Euripides) von der Handlung gelöst und auf betrachtende Teilnahme beschränkt. In den Tragödien Senecas kommt er nur in den Zwischenakten vor, ebenso im deutschen Barockdrama als "Reyen" zwischen den "Abhandlungen". In der tragédie classique wird der Chor dann durch den "Vertrauten" ersetzt, bei Shakespeare durch die Rolle des Narren. Hier wird die reflektierende und kommentierende Funktion des antiken Chores innerhalb der Handlung von einer Einzelperson übernommen. In Brechts Stücken übernehmen oftmals die Songs diese Funktion. An diesen Beispielen wird deutlich, daß der Chor mehr und mehr im Verschwinden begriffen ist, auch wenn es berühmte 'Wiederbelebungsversuche' gab, wie Goethes Faust II. Botenbericht Der Botenbericht läßt vergangene Ereignisse, die in räumlicher und zeitlicher Entfernung zum Bühnengeschehen stehen, von einer Figur erzählen. Meist handelt es sich dabei um technisch schwer darstellbare Begebenheiten, die in der Zwischenzeit außerhalb der Bühnenhandlung geschehen sind, um Ereignisse, deren Darstellung die Moral verbietet, oder um Handlungselemente, die der Wahrscheinlichkeit der Darstellung abträglich sind. Der Botenbericht ist ein typisches Strukturelement des geschlossenen Dramas. Er wahrt die drei Einheiten von Ort, Zeit und Handlung auf der Bühne und ermöglicht gleichzeitig eine Erweiterung des Geschehens über die Grenzen der drei Einheiten hinaus. (vgl. Mauerschau) 4 Ständeklausel Die Ständeklausel ist ein dramenpoetisches Prinzip, das die dramatische Produktion über mehr als zwei Jahrtausende beeinflußte. Sie geht auf Aristoteles zurück, der in seiner Poetik die Tragödie für die Darstellung der Konflikte und Probleme der "guten" Menschen reservierte, die "schlechteren Menschen" jedoch auf die Komödie verwies, in der sie mit ihren Schwierigkeiten und Unzulänglichkeiten dargestellt und verlacht werden sollten. Opitz greift diese Scheidung dann 1624 in seinem Buch von der Deutschen Poeterey auf und definiert den guten als den adeligen Menschen, den schlechteren als den Bürger. Auch Gottsched hält mehr als hundert Jahre später in seinem Versuch einer critischen Dichtkunst vor die Deutschen an dieser Vorschrift fest. Erst mit Lessing findet ein Umdenken statt. Er entwickelt das bürgerliche Trauerspiel, eine spezifisch aufklärerische Form der Tragödie, in der die Bürger mit ihren Problemen dramatisch präsentiert werden. Es ist kaum noch der Erwähnung wert, daß die Ständeklausel im 20. Jahrhundert natürlich keine Rolle mehr spielt. Die drei Einheiten Die drei Einheiten sind eine dramentheoretische Vorschrift, die auf die Poetik des Aristoteles zurückgeht. Sie besagt, daß jedes Drama eine einheitliche, geschlossene Handlung mit Anfang, Mitte und Ende besitzen muß (Einheit der Handlung), an einem einzigen überschaubaren Ort spielen soll (Einheit des Ortes) und eine angemessene zeitliche Ausdehnung nicht überschreiten darf (Einheit der Zeit) – bei Aristoteles ist es ein einziger Sonnenumlauf. Dies alles dient dazu, der Wahrscheinlichkeit der dramatischen Darstellung Plausibilität zu verleihen. Noch Gottsched bekräftigt diese Vorstellung 1730 in seinem Versuch einer critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Die Anwendung des Prinzips der drei Einheiten ist streng mit der Vorstellung vom 'geschlossenen Drama' verbunden, das bis ins 18. Jahrhundert in Deutschland die vorherrschende dramatische Form bleibt. Erst Lessing lehnt mit seinem bürgerlichen Trauerspiel die Anwendung der drei Einheiten ab. Er glaubt, daß die Erzeugung von Wahrscheinlichkeit einer szenischen Präsentation nicht von der Einheit der Zeit und des Ortes abhängig ist, sondern nur von der Einheit der Handlung. Heute spielen die drei Einheiten meist keine Rolle mehr. Hält der Dramatiker an ihnen fest, dann sind sie eine freiwillige Variation der dramatischen Produktion des 20. Jahrhunderts und kein 'Muß' mehr, das auf die verpflichtende Befolgung einer Regelpoetik zurückgeht. Lesedrama Lesedramen sind dramatische Texte, die zwar die dramatische Form wählen (Dialog, Bühnenanweisung, Akte, etc.), aber nicht für die Aufführung gedacht sind. Dies kann an der Länge des Stückes liegen, an einer zu hohen Figurenzahl, an ständigen Schauplatzwechseln oder zu hohen Anforderungen an das Bühnenbild. In Einzelfällen haben sich im Laufe der Theatergeschichte mit der Verbesserung der Bühnentechnik Lesedramen doch noch zu Bühnendramen gewandelt, z.B. Goethes Faust II (1832). Beispiele für typische Lesedramen sind die Dramen Senecas, Schillers Die Räuber (1781) und viele Dramen der Romantik. 5 Dialog griech. dialogos: Unterredung Das Drama besteht aus Handlung, Rede und Gegenrede. Vielfach wird der Dialog, das Gespräch als das Charakteristikum der dramatischen Form begriffen. So schreibt Hegel in seiner Ästhetik: "Die vollständige dramatische Form ist der Dialog." Das Wechselgespräch, das Zwiegespräch zwischen zwei oder mehreren Personen wird zum wichtigsten Element des Dramatischen. Aber kein Drama ohne Ereignisse (sieht man einmal von Sonderformen des Dramas ab, z.B. dem lyrischen Drama), ohne Handlung. Deswegen ist der Dialog oft aktionaler Dialog, in ihm vollzieht sich ein situationsveränderndes Handeln. Jede Rede und Gegenrede verändert das Handlungsgeschehen, treibt es voran, so steigert der Dialog einen Streit zwischen Widersachern bis zum Kampf, der wiederum von Rede und Gegenrede begleitet wird, oder der Dialog vergrößert, wie in Shakespeares Romeo und Julia, die Verzweiflung von Liebenden über die feindliche Welt, die ihrer Liebe entgegenwirkt und sie bis zum Selbstmord treibt, damit sie im Tode vereint sind und ihre Liebe leben können. Aber es gibt im Drama auch den nichtaktionalen Dialog, der keine Handlungen auslöst, für sich steht und etwa einer Figur zum subjektiven Ich-Ausdruck verhilft. Historisch geht der Monolog dem Dialog voraus, denn im antiken Drama gab es bis zur Einführung eines zweiten Schauspielers bei Aischylos nur die Wechselrede zwischen Chor und Protagonist. Die große Zeit des aktionalen Dialoges war theatergeschichtlich die Zeit des geschlossenen Dramas. ©rein Sekundärliteratur: 1. D. Bauer: Zur Poetik des Dialoges, Darmstadt 1969. 2. V. Klotz: Geschlossene und offene Form im Drama, München 1980. 3. J. Mukarovsky: Dialog und Monolog, Frankfurt/M. 1967. 6 Monolog griech.: monos: allein; logos: Rede Der Monolog ist im Gegensatz zum Dialog ein 'Selbstgespräch' und findet vor allem im Drama Verwendung. Er richtet sich nicht direkt an einen Zuhörer, sondern an eine imaginäre Person. Faktisch ist natürlich das Publikum Adressat des Monologisierenden. Eine Sonderform des Monologs ist der "Innere Monolog" in der Erzählprosa. Die Funktionen des Monologs im Drama sind so vielfältig wie seine Erscheinungsweisen. Klassisch ist eine Kategorisierung, die die inhaltliche Seite betont. So wird ein Monolog, in dem sich der Held mit all seinen Gefühlen offenbart, als lyrischer Monolog bezeichnet. Der Reflexions-Monolog dagegen bietet den Figuren die Möglichkeit, das vergangene und das zukünftige Geschehen sowie die gegenwärtige Situation aus ihrer individuellen Perspektive zu bedenken. Damit übernimmt er die Funktion der vermittelnden Kommentierung des antiken Chors. Als epischen Monolog bezeichnet man die Darstellung von Nicht-Darstellbarem, die Zusammenfassung der bisherigen Handlung und die informierende Vorbereitung eines neuen Aktes oder des gesamten Stückes. Letzteres wird in der Literatur auch Expositionsmonolog genannt, der den Zuschauer vor allem in die historische Zeit des Dramas und in die Gefühlslagen der Handelnden einführen soll. Eine eher prosaische Monologform ist der Brücken- und Übergangsmonolog, der verhindern soll, daß die Bühne zu irgendeinem Zeitpunkt leer ist. Er ermöglicht also das Auf- und Abtreten von Personen. Das Verbot der verwaisten Bühne finden wir etwa bei Gottsched, der es von der französischen tragédie classique übernommen hat. Den dramatischsten und wahrscheinlich bekanntesten Monolog nennen wir zum Schluß: den Konflikt-Monolog. Er wird zumeist auf dem Höhepunkt der dramatischen Entwicklung vom Helden gesprochen. In ihm wägt er das Für und Wider bestimmter Handlungsmöglichkeit ab, bedenkt er Alternativen, verwirft sie wieder und kommt letztendlich zu einer Entscheidung. Diese Entscheidung führt entweder die Lösung eines Konfliktes herbei oder bereitet die Katastrophe vor. Ein berühmtes Beispiel ist der Monolog des Prinzen von Homburg aus Kleists gleichnamigen Drama, in dem dieser zur Einsicht seiner Schuld kommt und den großen Kurfürsten nun dazu zu bewegen beschließt, das Todesurteil gegen ihn aufrecht zu erhalten. Ein anderes, eher struktural orientiertes Kategorisierungsschema unterscheidet nur zwei Monologformen: die aktionalen und die nicht-aktionalen Monologe. Manfred Pfister beschränkt sich in diesem Sinne auf die Differenz von situationsverändernden Monologen (Konflikt-Monolog) und informierenden oder kommentierenden Monologen, die keine direkte Handlungsauswirkungen haben. Hierzu können wir den informierenden epischen Monolog und den kommentierenden Reflexions-Monolog rechnen. Die Stellung des lyrischen und des Brückenmonologs in diesem Schema bleibt offen; die Entscheidung bleibt dem Einzelfall überlassen. Festzuhalten ist, daß beide Ordnungsschemata in den dramatischen Werken nur selten ihre ideale Ausprägung erhalten. Wir begegnen vielmehr stets Mischformen. Es gibt weder den reinen nicht-aktionalen Monolog noch den reinen lyrischen Monolog. Den vorläufigen Höhepunkt der Entwicklung des Monologs als eines Elements der dramatischen Form bilden die Monodramen des 20. Jahrhunderts, so z.B. von Peter Handke (Kaspar, 1968) oder Franz Xaver Kroetz (Wunschkonzert, 1972). Sie gelten als plakativer Ausdruck gestörter Kommunikation und als Abbild des entfremdeten und vereinzelten Individuums. © rein 7 Tragödie Im Drama werden uns "handelnde Menschen" (Aristoteles‘ Poetik [Dramatik]) auf der Bühne vorgestellt. Wer handelt, muß sich stets entscheiden ("Tue ich dies oder jenes, was wird passieren, ist meine Entscheidung richtig?"). In diesem Zwang zur Entscheidung steckt eine grundsätzliche Spannung, denn die Entscheidungen können tragische Folgen haben und genau hierin liegt das Wesen der Tragödie: Der Protagonist der Tragödie befindet sich in einem Konflikt, in einer Grenzsituation, er ist zwischen Extremen gefangen und seine Gefangenschaft ist ohne Ausweg. Egal wie er sich verhalten wird, er wird scheitern. Diese faktische Unterlegenheit unter das Schicksal wird in der Tragödie kombiniert mit dem Wissen um diese Unterlegenheit. Der Held weiß, daß er scheitern muß, sein Aufbegehren gegen das Schicksal, denn er versucht ja zumindest, das Unglück abzuwenden, wird so besonders tragisch. Goethe schreibt dazu: "Alles Tragische beruht auf einem unausgleichbaren Gegensatz. Sowie Ausgleichung eintritt oder möglich wird, schwindet das Tragische." Die Tragödie ist in der griechischen Antike modellhaft ausgebildet worden und wurde über Jahrtausende hinweg variiert. Oft galt sie als 'höchste' Gattung im poetischen Spektrum auch bei Hegel in seiner Ästhetik. Auslöser für tragische Konflikte kann a) eine tragische Schuld sein, die oft nicht durch eigene Handlungen des Protagonisten erworben wurde, aber trotzdem objektiv vorhanden ist (z. B. Ödipus), b) eine persönliche Schuld, die auf die Eigenverantwortlichkeit des Protagonisten zurückgeht (z. B. Schillers Die Räuber, 1781), c) das – wie immer auch geartete – Schicksal (z. B. Kleists Die Familie Schroffenstein, 1803) und d) Mißverständnisse, Irrtümer und Lügen (z.B. Shakespeares Othello, 1603). Etwas konkreter formuliert: Die Protagonisten können in einen Konflikt geraten zu Göttern, anonymen Mächten oder der Gesellschaft mit ihren Beschränkungen (z.B. Standesschranken, die Liebesehen verhindern, ökonomische Einschränkungen, kulturelle Grenzen, etc.). Durch Darstellung von Menschen in tragischen Konflikten, in Extremsituationen vermag die Tragödie, die Möglichkeiten des Menschseins zu zeigen. ©rein Sekundärliteratur: 1. H. Geiger / H. Haarmann: Aspekte des Dramas. Eine Einführung in die Theatergeschichte und Dramenanalyse, 4. neub. u. erw. Aufl., Opladen 1996. 2. V. Klotz: Geschlossene und offene Form im Drama, München 1960. 3. P. Szondi: Theorie des modernen Dramas, Frankfurt/M. 1956. 8 Komödie Werden in der Tragödie "handelnde Menschen" (Aristoteles‘ Poetik zum Drama) in tragischen, unlösbaren Konflikten gezeigt, die in jeder Sekunde ihres Handelns um dessen Aussichtslosigkeit wissen, so werden in der Komödie Menschen gezeigt, die sich in einem lösbaren Konflikt befinden, aber nicht unbedingt von dieser Lösbarkeit wissen. Sie sind faktisch dem Schicksal überlegen, obwohl die dargestellten Konflikte ebenso aussichtslos erscheinen wie in der Tragödie. Wie gelingt die Lösung der Konflikte? a) durch Zufall, b) durch persönliche Schläue oder Dummheit des 'Helden' oder c) durch persönliche Schläue oder Dummheit des Gegners des 'Helden'. Warum ist die Komödie aber "komisch", wenn sie doch ähnlich ernste Konflikte zeigt wie die Tragödie? Einerseits natürlich durch die Zeichnung der Charaktere, denn weder 'Schläue' noch 'Dummheit' sprechen für einen besonders edlen Charakter, andererseits wird die Komödie komisch durch eine übertriebene, geradezu groteske Darstellung des Konflikts. Bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts informierte schon die Liste der auftretenden Personen den Zuschauer darüber, ob er lachen oder weinen sollte. War das Drama mit bürgerlichen Figuren oder gar Bauern und Dienern bestückt, konnte es sich nur um eine Komödie handeln, war es mit adeligen Helden versehen, konnte es nur eine Tragödie sein. Diese sogenannte 'Ständeklausel' geht zurück auf die Poetik Aristoteles', der die Darstellung der schlechteren Menschen der Komödie überließ, die Tragödie hingegen für die besseren Menschen reservierte. Diese Vorschrift wurde dann im Barock von Opitz in seiner Poetik Über die deutsche Poeterey übernommen und explizit auf die Scheidung von guten / adeligen und schlechten / bürgerlichen Menschen übertragen. Noch der Aufklärer Gottsched steht 1730 in dieser Tradition und erst Lessing lehnte die Ständeklausel endgültig ab und schuf das Bürgerliche Trauerspiel. ©rein Sekundärliteratur: 1. R. Grimm / K. Berghahn (Hg.): Wesen und Formen des Komischen im Drama, Darmstadt 1975. 2. B. Greiner: Die Komödie. Eine theatralische Sendung: Grundlagen und Interpretationen, Tübingen 1992. 3. W. Preisendanz: Das Komische, München 1976. 9 Johann Christoph Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst vor die Deutschen (1730) Johann Christoph Gottsched hat in seiner Poetik nicht nur Regeln für die Produktion von lyrischen und epischen Werken bereitgestellt, sondern auch für das Drama, dessen Hauptaufgabe er in der sittlich-moralischen Erziehung der Deutschen sieht. Deshalb fordert er den Dichter auf, zunächst die von ihm gewünschte Aussage festzulegen: "Zuallererst wähle man sich einen moralischen Satz, der in dem ganzen Gedichte zum Grunde liegen soll, nach Beschaffenheit der Absichten, die man sich zu erlangen vorgenommen. Hierzu ersinne man sich eine ganz allgemeine Begebenheit, worin eine Handlung vorkommt, daran dieser erwählte Lehrsatz sehr augenscheinlich in die Sinne fällt." (S. 96f.) Die Handlung muß nach dem Vorbild der Wirklichkeit, der Natur dargestellt werden. Der Dichter muß das Gegebene nachahmen (Mimesis) und darf mit seiner Darstellung das Wahrscheinliche nicht überschreiten. Götter, die in das Geschehen im Drama eingreifen, sind völlig unglaubwürdig und sollen von der Bühne verbannt werden. Bei der Unterscheidung der beiden dramatischen Grundformen – Tragödie und Komödie – bleibt Gottsched ganz der bekannten Ständeklausel verhaftet: "Die Tragödie ist von der Komödie nur in der besondern Absicht unterschieden, daß sie anstatt des Gelächters die Verwunderung, das Schrecken und Mitleiden zu erwecken sucht. Daher pflegt sie sich lauter vornehmer Personen zu bedienen, die durch ihren Stand, Namen und Aufzug mehr in die Augen fallen und durch große Laster und traurige Unglücks-Fälle solche heftige Gemüts-Bewegungen erwecken können. [...] Die Personen, die zur Comödie gehören, sind ordentliche Bürger, oder doch Leute von mäßigem Stand: Nicht, als wenn die Großen dieser Welt etwa keine Torheiten zu begehen pflegten, die lächerlich wären; nein, weil es wider die Ehrerbiethung läuft, die man ihnen schuldig ist, sie als auslachenswürdig vorzustellen." (S. 99) Auch die drei Einheiten (Handlung, Zeit, Ort), die wir aus der Poetik Aristoteles‘ kennen, werden von ihm als Grundprinzipien des Dramas festgeschrieben. Dies ist nur konsequent, wenn man bedenkt, daß das Drama einen moralischen Satz illustrieren soll. Also muß die Handlung übersichtlich bleiben und stets mit der gewünschten Aussageabsicht korrespondieren: "Die ganze Fabel hat nur eine Haupt-Absicht: nämlich einen moralischen Satz; also muß sie auch nur eine Haupt-Handlung haben, um derentwegen alles übrige vorgehet. Die Neben-Handlungen aber, die zur Ausführung der Haupt-Handlung gehören, können gar wohl andre moralische Wahrheiten in sich schließen [...]. Alle Stücke sind also tadelhaft und verwerflich, die aus zwoen Handlungen bestehen, davon keine die vornehmste ist." Die Einheit der Zeit wird Wahrscheinlichkeitsprinzips begründet: von Gottsched mit der Einhaltung des "Die Einheit der Zeit ist das andre, so in der Tragödie unentbehrlich ist. Die Fabel eines Helden-Gedichtes kann viel Monate dauren [...]: das macht, sie wird nur gelesen: Aber die Fabel eines Schau-Spieles, die mit lebendigen Personen in etlichen Stunden lebendig vorgestellet wird, kann nur einen Umlauf der Sonnen, wie Aristoteles spricht, das ist einen Tag dauren. [...] Die besten Fabeln sind also diejenigen, die nicht mehr Zeit nötig gehabt, 10 wirklich zu geschehen, als sie zur Vorstellung brauchen; das ist etwa drei oder vier Stunden: Und so sind die meisten griechischen Tragödien. Kommt es hoch, so bedörfen sie sechs, acht oder zum höchsten zehn Stunden zu ihrem ganzen Verlauf: Und höher muß es ein Poet nicht treiben, wenn er nicht wider die Wahrscheinlichkeit handeln will." Auch die Einheit des Ortes begründet Gottsched mit dem obersten Prinzip der Dichtung: Das Werk muß wahrscheinlich sein. "Zum dritten gehört zur Tragödie die Einigkeit des Ortes. Die Zuschauer bleiben auf einer Stelle sitzen, folglich müssen auch die spielenden Personen alle auf einem Platze bleiben, den jene übersehen können, ohne ihren Ort zu ändern [...]. Es ist also in einer regelmäßigen Tragödie nicht erlaubt, den Schau-Platz zu ändern. Wo man ist, da muß man bleiben; und daher auch nicht in der ersten Handlung im Walde, in der andern in der Stadt, in der dritten im Kriege und in der vierten in einem Garten oder gar auf der See sein. Das sind lauter Fehler wider die Wahrscheinlichkeit: Eine Fabel aber, die nicht wahrscheinlich ist, taugt nichts: weil dieses ihre vornehmste Eigenschaft ist." (S. 163-167) ©rein Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen, in: ders. Schriften zur Literatur, hg. v. Horst Steinmetz, Stuttgart: 1972. 11 Gotthold Ephraim Lessing * 22.01.1729, Kamenz / Sachsen † 15.02.1781, Braunschweig Theaterautor, Dramaturg, Theoretiker und Kritiker Gotthold Ephraim Lessing gilt als der Erneuerer des deutschen Schauspiels. Er hat uns nicht nur die bürgerlichen Trauerspiele Miß Sara Sampson (1755) und Emilia Galotti (1771), die Komödie Minna von Barnhelm (1764) und das Schauspiel Nathan der Weise (1779) hinterlassen - Stücke also, die immer noch die Spielpläne vieler Theater bereichern, sondern auch grundlegende theoretische Reflexionen zur Dramatik und zur Literaturkritik, so in den Briefwechseln über das Trauerspiel (1756) und später in der Hamburgischen Dramaturgie (1767). Was ist nun das Neue? Als Aufklärer verfolgt Lessing mit seiner Kritik am bestehenden deutschen Theater und der Schaffung alternativer Formen das Ziel, den Bürger mittels des Schauspiels moralisch zu heben. Es geht ihm – wie seinem Vorgänger Gottsched – um die Vermittlung einer aufgeklärten, vernünftigen Moral. Von der Vorschrift, das dramatische Geschehen habe wahrscheinlich zu sein, müsse sich also an den Möglichkeitsvorgaben der Wirklichkeit messen lassen – dies kennen wir von Gottsched wie von Aristoteles - , weicht er nicht ab. Also, nichts Neues!? Ganz im Gegenteil. Obwohl es auch schon vor Lessing Dramatiker gab, die mit der Ständeklausel brachen, z.B. im 17. Jahrhundert Gryphius mit "Cardenio und Celinde", war er derjenige, der diese dramenpoetische Vorschrift endgültig zu Fall brachte. Dies hängt eng zusammen mit seiner Neuinterpretation der aristotelischen Poetik. Soll die Tragödie bei Aristoteles "Jammern" und "Schaudern" hervorrufen, um dadurch eine Katharsis zu erreichen, so will Lessing "Furcht" und "Mitleid" erzeugen. Der Zuschauer soll sich in die Figuren einfühlen, soll erleben, daß ihm ähnliches widerfahren kann; er wird vom Schicksal der Protagonisten gerührt, und die auf der Bühne dargestellten Leidenschaften verwandeln sich durch dieses dramatische Erlebnis in der Seele des Einzelnen in "tugendhafte Fertigkeiten". Dem Bürger, der sich einfühlen soll, gelingt dies natürlich leichter bei einem anderen Bürger als bei einem König oder Fürsten. Ein weiterer Bruch Lessings mit seinen Vorgängern ist die Ablehnung der drei Einheiten (Ort, Zeit, Handlung). Ein Stück, das "rühren" soll, das "Furcht und Mitleid" erzeugen soll, muß sich nicht zwangsläufig auf einen Ort und auf die Darstellung eines Tages begrenzen. Wenn die Einheit der Handlung gewährleistet ist, die ja die Nachvollziehbarkeit einer Darstellung garantiert, dann wird die Einheit des Ortes und der Zeit zu einem schematischen Zwang. ©rein Wichtige Schriften: Miß Sara Sampson (1755) Briefwechsel über das Trauerspiel (1756/57) Laokoon: Oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie (1766) Hamburgische Dramaturgie (1767) Emilia Galotti (1772) Sekundärliteratur: 1. P. J. Brenner: Gotthold Ephraim Lessing, Stuttgart 2000. 2. M. Hofmann: Aufklärung. Tendenzen - Autoren - Texte, Stuttgart 1999. 12 Gustav Freytag: Die Technik des Dramas (1863) Gustav Freytag versucht in seiner Abhandlung Die Technik des Dramas noch einmal das überlieferte Standardschema der Dramatik festzuschreiben. Zu diesem Schema gehören eine spezifische Art der Handlung, eine entsprechende Handlungsführung und eine Akt-Struktur. Zur Art der dramatischen Handlung: "Das Drama stellt in einer Handlung durch Charaktere, vermittelst Wort, Stimme, Gebärde diejenigen Seelenvorgänge dar, welche der Mensch vom Aufleuchten eines Eindruckes bis zu leidenschaftlichem Begehren und zur Tat durchmacht, sowie die inneren Bewegungen, welche durch eigene und fremde Tat aufgeregt werden. Der Bau des Dramas soll diese beiden Gegensätze des Dramatischen zu einer Einheit verbunden zeigen, Ausströmen und Einströmen der Willenskraft, das Werden der Tat und ihre Reflexe auf die Seele, Satz und Gegensatz, Kampf und Gegenkampf, Steigen und Sinken, Binden und Lösen." (S. 93) Zur spezifischen Handlungsführung im Drama: "Durch die beiden Hälften der Handlung, welche in einem Punkt zusammenschließen, erhält das Drama, - wenn man die Anordnung durch Linien verbildlicht, - einen pyramidalen Bau. Es steigt von der Einleitung mit dem Zutritt des erregenden Moments bis zu dem Höhepunkt, und fällt von da bis zur Katastrophe. Zwischen diesen drei Teilen liegen die Teile der Steigung und des Falles. Jeder dieser fünf Teile kann aus einer Szene oder aus einer gegliederten Folge von Szenen bestehen, nur der Höhepunkt ist gewöhnlich in einer Hauptszene zusammengefaßt. Diese Teile des Dramas, a) Einleitung, b) Steigerung, c) Höhepunkt, d) Fall oder Umkehr, e) Katastrophe, haben jeder Besonderes in Zweck und Baurichtung. Zwischen ihnen stehen drei wichtige szenische Wirkungen, durch welche die fünf Teile sowohl geschieden als verbunden werden. Von diesen drei dramatischen Momenten steht eines, welches den Beginn der bewegten Handlung bezeichnet, zwischen Einleitung und Steigerung, das zweite, Beginn der Gegenwirkung, zwischen Höhepunkt und Umkehr, das dritte, welches vor Eintritt der Katastrophe noch einmal zu steigern hat, zwischen Umkehr und Katastrophe. Sie heißen hier: das erregende Moment, das tragische Moment, das Moment der letzten Spannung. Die erste Wirkung ist jedem Drama nötig, die zweite und dritte sind gute, aber nicht unentbehrliche Hilfsmittel." (S. 102) Zur Akt-Struktur: "In dem modernen Drama umschließt, im ganzen betrachtet, jeder Akt einen der fünf Teile des Dramas, der erste enthält die Einleitung, der zweite die Steigerung, der dritte den Höhepunkt, der vierte die Umkehr, der fünfte die Katastrophe. Aber die Notwendigkeit, die großen Teile des Stückes auch in dem äußeren Umfang einander gleichartig zu bilden, bewirkte, daß die einzelnen Akte nicht ganz den fünf Hauptteilen der Handlung entsprechen konnten. Von der steigenden Handlung wurde gewöhnlich die erste Stufe noch in den ersten Akt, die letzte zuweilen in den dritten, von der sinkenden Handlung ebenso Beginn und Ende bisweilen in den dritten und fünften Akt genommen und mit den übrigen Bestandteilen dieser Akte zu einem ganzen gegliedert. Allerdings hat bereits Shakespeare seine Abteilungen in der Regel so gebildet. 13 Die Fünfzahl der Akte ist also kein Zufall. Schon die römische Bühne hielt auf sie. Aber erst seit Ausbildung der neueren Bühne bei Franzosen und Deutschen ist ihr gegenwärtiger Bau festgestellt. Nur nebenbei sei bemerkt, daß die fünf Teile der Handlung bei kleineren Stoffen und kurzer Behandlung sehr wohl ein Zusammenziehen in eine geringere Zahl von Akten vertragen. Immer müssen die drei Momente: Beginn des Kampfes, Höhepunkt und Katastrophe, sich stark voneinander abheben, die Handlung läßt sich dann in drei Akten zusammenfassen. Auch bei der kleinsten Handlung, welche in einem Akte verlaufen kann, sind innerhalb desselben die fünf oder drei Teile erkennbar." (S. 170f.) ©rein Gustav Freytag: Die Technik des Dramas, unveränderter Nachdruck, Darmstadt 1969. 14 Bertolt Brecht: Das epische Theater (um 1936) In seinem Essay Das epische Theater wendet sich Bertolt Brecht gegen die auf Aristoteles zurückgehende Unterscheidung zwischen dramatischer und epischer Form. Seit der Entwicklung des bürgerlichen Romans beobachtet er eine langsame Verwischung der Gattungsgrenzen (Gattungen), die sich auch immer stärker in der Dramatik bemerkbar macht und machen soll, denn diese Grenzverwischung ist inhaltlich motiviert und notwendig: "Die wichtigsten Vorgänge unter Menschen [können] nicht mehr so einfach dargestellt werden". (S. 53). In einer immer unübersichtlicher und komplexer werdenden Welt reicht es nicht mehr aus, die Handlung eines Einzelnen auf die Bühne zu bringen. Die einfache Darstellung von handelnden Personen läßt das, was ihre Handlungen hervorruft – also die Gesellschaft mit ihren spezifischen Gesetzen – nicht mehr selbstverständlich transparent werden. Der Zuschauer weiß nicht mehr, warum sich der Held so oder so entscheidet: "Zum Verständnis der Vorgänge war es nötig geworden, die Umwelt, in der die Menschen lebten, groß und 'bedeutend' zur Geltung zu bringen." (S. 53f.) Hier setzt das epische Theater an: "Die Bühne begann zu erzählen. Nicht mehr fehlte mit der vierten Wand zugleich der Erzähler. Nicht nur der Hintergrund nahm Stellung zu den Vorgängen auf der Bühne, indem er auf großen Tafeln gleichzeitige andere Vorgänge an anderen Orten in die Erinnerung rief, Aussprüche von Personen durch projizierte Dokumente belegte oder widerlegte, zu abstrakten Gesprächen sinnlich faßbare, konkrete Zahlen lieferte, zu plastischen, aber in ihrem Sinn undeutlichen Vorgängen Zahlen und Sätze zur Verfügung stellte – auch die Schauspieler vollzogen die Verwandlung nicht vollständig, sondern hielten Abstand zu der von ihnen dargestellten Figur, ja forderten deutlich zur Kritik auf." (S. 54) Das Drama bietet bei Brecht mehr als die Darstellung von "handelnden Personen" (Aristoteles in seiner Poetik), es gibt vielmehr einen Erzähler und den informierenden Zwischentitel. Auch der Schauspieler wird nicht mehr nur zur Figur, sondern bleibt SchauSpieler. Dies soll nicht nur der besseren Verständlichkeit der Handlungen der Figuren in einer hochkomplexen Gesellschaft dienen, sondern auch die von Aristoteles bis Lessing bekannte 'Einfühlung' des Zuschauers in den Protagonisten verhindern: "Von keiner Seite wurde es dem Zuschauer weiterhin ermöglicht, durch einfach Einfühlung in dramatische Personen sich kritiklos (und praktisch folgenlos) Erlebnissen hinzugeben. Die Darstellung setzte die Stoffe und Vorgänge einem Entfremdungsprozeß aus. Es war die Entfremdung, welche nötig ist, damit verstanden werden kann. Bei allem 'Selbstverständlichen' wird auf das Verstehen einfach verzichtet. [...] Der Zuschauer des dramatischen Theaters sagt: Ja, das habe ich auch schon gefühlt. – So bin ich. – Das ist natürlich. – Das wird immer so sein. – Das Leid dieses Menschen erschüttert mich, weil es keinen Ausweg für ihn gibt. – Das ist große Kunst: da ist alles selbstverständlich. – Ich weine mit den Weinenden, ich lache mit den Lachenden. Der Zuschauer des epischen Theaters sagt: Das hätte ich nicht gedacht. – So darf man es nicht machen. – Das ist höchst auffällig, fast nicht zu glauben. – Das muß aufhören. – Das Leid dieses Menschen erschüttert mich, weil es doch einen Ausweg für ihn gäbe. – Ich lache mit den Weinenden, ich weine über den Lachenden." (S. 54f.) Die 'Einfühlung' wird bei Brecht zur problematischen Kategorie, weil sie die Möglichkeit verdeckt, daß es auch einen anderen Handlungsverlauf hätte geben können. Die dargestellte Situation, hätte nicht zwangsläufig in der Katastrophe – auf die nach Gustav Freytag jedes 15 Drama zusteuert – enden müssen. Dieses neue Lehrtheater soll jedoch nicht nur über das grundsätzliche Vorhandensein von Handlungsmöglichkeiten 'belehren', den Zuschauer also nicht nur über seine eigenen – auch politischen – Möglichkeiten aufklären, sondern auch – und vielleicht sogar vornehmlich – unterhalten: "Das Theater bleibt Theater, auch wenn es Lehrtheater ist, und soweit es gutes Theater ist, ist es amüsant." (S. 58) Theater, das Theater bleibt, ist für Brecht nicht nur unterhaltend, sich der Einfühlung widersetzend, sondern ist gleichzeitig "Theater für ein wissenschaftliches Zeitalter". Was ist darunter zu verstehen? Brecht beschreibt das Verhältnis von Theater und Wissenschaft wie folgt: "Kunst und Wissenschaft wirken in sehr verschiedener Weise, abgemacht. Dennoch muß ich gestehen, so schlimm es klingen mag, daß ich ohne Benutzung einiger Wissenschaften als Künstler nicht auskomme. Das mag vielen ernste Zweifel an meinen künstlerischen Fähigkeiten erregen. Sie sind es gewohnt, in Dichtern einzigartige, ziemlich unnatürlich Wesen zu sehen, die mit wahrhaft göttlicher Sicherheit Dinge erkennen, welche andere nur mit großer Mühe und viel Fleiß erkennen können. Es ist natürlich unangenehm, zugeben zu müssen, daß man nicht zu diesen Begnadeten gehört. Aber man muß es zugeben [...]. Ich muß sagen, ich benötige die Wissenschaften [...]." Brecht kommt zu der Überzeugung, daß der Dichter in einer so komplexen Gesellschaft wie der des 20. Jahrhunderts mit all ihrem Expertenwissen und Spezialistentum, nicht länger durch Gefühl, Intuition, Phantasie, Genialität in der Lage ist, sich in jede Situation hineinzuversetzen, um sie zu schildern. Die politischen oder wirtschaftlichen Strukturen sind so komplex, daß man sich auch als Dichter der Erkenntnisse aus den Sozialwissenschaften bedienen muß, um wirtschaftliche und / oder politische Prozesse verstehen und beschreiben zu können. Selbst die menschliche Psyche, z.B. der Seelenzustand eines Mörders, ist nur durch die moderne Psychoanalyse zu begreifen. ©rein Bertolt Brecht: Das epische Theater, in: ders.: Schriften zum Theater 3, Frankfurt/M. 1963. 16 Offenes und geschlossenes Drama Ein Schaubild nach Volker Klotz Handlung einheitliche, in sich abgeschlossene Haupthandlung kausale Verknüpfung der Szenen (Nichtaustauschbarkeit) einzelne Handlungen als Schritte einer logisch und psychologisch zwingenden Abfolge mehrere Handlungen gleichzeitig (Polymethie) Zerrissenheit der Handlungsabfolge Einheit der Zeit Zeit nur Rahmen des Geschehens ausgedehnter Zeitraum Zeit als in die Ereignisse eingreifende Wirkungsmacht Zeitsprünge zwischen Szenen relative Autonomie einzelner Episoden Zeit keine Zeitsprünge Ort Einheit des Ortes Ort nur Rahmen des Geschehens Vielheit der Orte Räume charakterisieren und determinieren Verhalten Personen geringe Zahl Ständeklausel hoher Bewußtseinsgrad große Zahl keine ständischen und und sozialen Beschränkungen komplexes Zusammenspiel von Innenwelt und Außenwelt Komposition Handlungszusammenhang als Ganzes Gliederung vom Ganzen zu den Teilen Funktionale Zuordnung der Szene zum Akt und des Aktes zum Drama lineare Abfolge des Geschehens Dominanz des Ausschnitts Gliederung von den Teilen zum Ganzen Szenen haben ihren Schwerpunkt in sich selbst Variation und Kontrastierung von Szenen Sprache einheitlicher an der Rhetorik ausgerichteter Sprachstil (Versform) Dialog als Rededuell (Stichomythie) Bewußtsein dominiert Sprache Pluralismus des Sprechens Mischung der Stilebenen und der Ausdruckshaltung Orientierung an der Alltagssprache Dominanz der Sprache über das Bewußtsein Volker Klotz: Geschlossene und offene Form im Drama, München 1960. 17