Der Vortrag zum Herunterladen - OSI-Club

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Der Vortrag zum Herunterladen - OSI-Club
Hans Leyendecker
Ressortleiter „Investigative Recherche“, Süddeutsche Zeitung
Die Macht, die Wut, die Medien – wo bleibt die Aufklärung?
Vortrag im Otto Suhr-Institut der Freien Universität Berlin
am 25. Juni 2012
Guten Abend. Nett, dass sie gekommen sind. Vielen Dank für die sehr freundliche Begrüßung.
Ich möchte zu meinen biografischen Daten etwas hinzufügen, was für mich wichtig ist –
eigentlich das einzige, was richtig wichtig ist. Ich bin 63 Jahre alt, habe fünf Kinder und acht Enkel und es
ist meine erste Ehe. Dieses persönliche Glück ist am Ende das, was zählt.
Ich bin Ressortleiter „Investigative Recherche“ bei der Süddeutschen Zeitung und der
Grundüberzeugung, dass es in aller Regel bei uns gar keinen Investigativjournalismus gibt in Deutschland.
Das muss man vermutlich erklären.
Für den investigativen Journalismus gibt es besondere Merkmale. Dazu gehört etwa, dass eine
Geschichte von besonderer gesellschaftlicher Bedeutung ist und dass der Sachverhalt zuvor unbekannt
war. Wenn ein Reporter sich auf die Spuren eines Ermittlungsverfahrens macht, kann das guter
Recherchejournalismus sein, investigativ ist das nicht. Die Intensität, mit der wir Geschichten machen
unterscheidet sich völlig von der der amerikanischen Kollegen. Wir versuchen es hier und da zu machen,
aber meist ist die Vokabel Investigationsteam hier in Deutschland oft nur eine Marketingmaßnahme. Es
sind jetzt ganz viele Investigationsteams entstanden, ganz viele übern sich in der angeblichen
Königsdisziplin und es dient oft nur dem Zweck, so zu tun, als ob. Nehmen sie es nicht so ernst, wenn sie
es hören.
Wer war zuerst? Das Huhn oder das Ei? Ein vernünftiger Mensch stellt solche Fragen nicht. Ein
vernünftiger Mensch stellt solche Fragen höchstens, wenn er einen anderen vorführen will. Wenn er ihm
sagen will, dass der andere doch nicht durchblickt. Es gab auch eine Zeit, da wurde die Frage, wer zuerst
da war, das Huhn oder das Ei, sehr ernst genommen. In der Predigt von dem edlen Menschen des
Meisters Eckehart, der im 14. Jahrhundert in Köln und Paris lehrte, wird die Frage nicht nur ernst
genommen, sondern sogar beantwortet. Ich rezitiere einen Teil der Übersetzung: „Die Natur macht den
Mann aus dem Kind und das Huhn aus dem Ei. Gott aber machte den Mann vor dem Kind und das Huhn
vor dem Ei.“ Ich will sie nicht mit europäischer Mystik langweilen, sondern nur darauf hinweisen, dass es
viele Wirklichkeiten geben kann. Meist, wenn sie Journalist sind, begegnet einem das Leben
verschwommen, verschleiert, verzerrt, man tut aber so, als sehe man klar. Was ist Wahrheit, was ist
Wirklichkeit? Diese Frage stellt sich immer wieder für Journalisten.
Ringvorlesung „PresseFreiheit“ des OSI-Clubs, Verein der Freundinnen und Freunde des Otto-Suhr-Instituts e. V., Sommersemester 2013
Hans Leyendecker: Die Macht, die Wut, die Medien – wo bleibt die Aufklärung?
„Die Macht, die Wut, die Medien – wo bleibt die Aufklärung?“ – das ist der Titel meines Vortrags.
Was ist Aufklärung? Alte Lexika weisen darauf hin, dass der Begriff mit Klarheit und mit Klären zu tun hat.
Aufklärung heißt demnach, eine Sache klar, hell oder verständlich machen. Manchmal meint das Wort
auch klarlegen oder klarstellen. Kämpfen wir ausreichend gegen Vorurteile, gegen Autoritätsdenken,
stellen wir die Dinge klar? Im 18. Jahrhundert war Aufklärung ein philosophischer Terminus. Vertreter
der Aufklärung kämpften gegen Aberglaube, Vorurteile und die Verzerrung der Wirklichkeit.
Ich will Sie nicht mit europäischer Mystik langweilen, sondern nur darauf hinweisen, dass es viele
Wirklichkeiten geben kann. Meist begegnet uns das Leben aber nur verschwommen, verschleiert,
verzerrt. Wir haben in den vergangenen Monaten Erstaunliches erlebt. Wir haben einen Präsidenten mit
Fehlern erlebt, dessen größter Fehler es war, dass er augenscheinlich nichts lernte aus den Fehlern, die
er gemacht hatte. Wir erlebten Medien, die keine Lager mehr kannten, sondern nur noch ein Ziel: Den
Mann, der sich selbst demontiert hatte zu demaskieren.
Der tiefe Fall des Christian Wulff zeigte vieles:
Er demonstrierte beispielsweise, wie sich die Medienzyklen immer mehr beschleunigen. Oft gibt
das Internet den Takt vor und rund um die Uhr wurden Wahrheiten, Spekulationen und Gerüchte unter
die Leute gebracht. Die Fehler hatte der Bundespräsident a.D. gemacht. Medien spiegelten die Fehler
wider und stellten dabei selbst Zerrspiegel auf. Und sie traten noch auf ihn als er schon am Boden war.
Bild trat ganz besonders fest zu.
Erstaunlicherweise hat das Boulevardblatt für seine Berichte in der Wulff-Affäre im Mai den
Henri-Nannen-Preis in der Sparte „Investigation“ bekommen. Sie haben möglicherweise davon gehört,
dass es bei der Preisverleihung einen, wie die Berichterstatter schrieben, Eklat gegeben habe, also ein
aufsehenerregendes Ereignis. In dem Begriff „Eklat“ liegt schon das Problem, denn eigentlich ist etwas
passiert, was ich für völlig normal halte. Das Investigations-Team der Süddeutschen Zeitung, dem ich
angehöre, sollte in derselben Sparte wie Bild den Preis erhalten. Die Jury war bei einem Patt
hängengeblieben Daraufhin verzichteten wir auf den Preis.
Es gab für uns keine Alternative zu dieser Entscheidung. Keine Sekunde, ja, keine
Zehntelsekunde, haben wir uns vorstellen können, den Preis mit Bild gemeinsam anzunehmen. Im
Mittelpunkt aller Bild-Veröffentlichungen stecken Inszenierung und nicht aufklärerischer Journalismus.
Warum wird eigentlich alles mit demselben Wort Journalismus bezeichnet?
„Wahrhaftig, wenn die Tagespresse, wie andere Gewerbetreibende, verpflichtet wäre, ein Schild
auszuhängen, so müsste darauf stehen: „Hier werden Menschen demoralisiert, in der kürzesten Zeit, im
größten Maßstab, zum billigsten Preis“. Diesen Satz hat der Philosoph Sören Kierkegaard 1848 in sein
Tagebuch geschrieben. Er hatte natürlich nicht die Bild-Zeitung vor Augen, sondern ein satirisches
Wochenblättchen, das ihm Ärger gemacht hatte. Aber ist das Bild mit dem größten Maßstab zum
billigsten Preis nicht doch eine vorweggenommene Beschreibung der Bild-Praktiken? Nötigung,
journalistische Schutzgelderpressung gehören nach wie vor zu den Methoden dieses Massenblattes.
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Hans Leyendecker: Die Macht, die Wut, die Medien – wo bleibt die Aufklärung?
„Bild wird gelesen nicht obwohl, sondern weil das Blatt von nichts handelt, jeden Inhalt
liquidiert, weder Vergangenheit noch Zukunft kennt, alle historischen moralischen, politischen
Kategorien zertrümmert; nicht obwohl, sondern weil es droht, quatscht, ängstigt, schweinigelt, hetzt,
leeres Stroh drischt, geifert, tröstet, manipuliert, verklärt, lügt, blödelt, vernichtet. Gerade dieser
unveränderliche, alltägliche Terror verschafft dem Leser den paradoxen Genuss, den er mit jedem
Süchtigen teilt, und der sich von der bewusst erlebten Erniedrigung, die mit ihm verbunden ist, gar nicht
trennbar ist.“ An den manipulativen Techniken der Zeitung gebe es nichts zu entlarven.
Das hat Hans Magnus Enzensberger vor fast dreißig Jahren in einem Aufsatz über den „Triumph
der Bild-Zeitung oder Die Katastrophe der Pressefreiheit“ geschrieben. Jede Aufklärung über die BildZeitung sei vergeblich, weil es über sie nichts zu sagen gäbe, was nicht schon alle wüssten, hat
Enzensberger, der alte Seher, hinzugefügt: „Das gilt nicht nur für diejenigen, die die Zeitung machen. Es
gilt vor allem für Ihre Leser, deren Zynismus hinter dem der Macher nicht zurücksteht. Ihre
selbstverschuldete Unmündigkeit erwartet keinen Befreier. Sie ist sich durchaus selbst bewusst. An
diesem Schuldbewusstsein scheitert alle Aufklärung, weil es bereits aufgeklärt ist“.
Vor vielen Jahren gab es in Hannover einen Kabarettisten, der sich „Denkspaßmacher“ nannte.
Das war Dietrich Kittner und der hat mit Bild eine empirische Felduntersuchung gemacht. An zwanzig
Zeitungskiosken im Bundesgebiet zwischen Kiel und Regensburg verlangte er „das Lügenblatt“. Und in
allen zwanzig Fällen erhielt er kommentarlos die Bild-Zeitung.
Wenn wir heute eine ähnliche Untersuchung machen würden, was würde dann passieren? Ich
bin mir ziemlich sicher, dass der Begriff Lügenblatt auch heute am Kiosk reichen würde. Wie kann man
dann auf den Gedanken kommen, dass wir, also meine Kollegen Nicolas Richter, Klaus Ott und ich,
gemeinsam mit Bild einen wichtigen Preis annehmen würden?
Mein Kollege Nicolas Richter hat seine Ablehnung neulich so begründet: „Im vergangenen Jahr
hat der Schauspieler Ottfried Fischer in einem Interview von seinen Erlebnissen mit Bild erzählt. Als er
einmal eine Affäre hatte, meldete sich ein Bild-Reporter bei ihm und sagte sinngemäß: Wir haben hier
ein paar Fotos, die Sie mit einem Bikini-Mädchen zeigen. Wir haben das jetzt erst mal vom Markt
genommen. Was machen wir denn jetzt? Fischer sagte, da mache man jetzt gar nichts, denn sonst sei
seine Ehe kaputt. Der Reporter soll nach Fischers Erinnerung geantwortet haben: Das schreiben wir
schon so, dass Ihre Frau nicht so einen großen Schreck bekommt.
Die Bild gibt sich gerne nett. Wer es mit ihren Reportern zu tun bekommt, berichtet von
höflichen, zuweilen sogar vorgeblich fürsorglichen Menschen. Ob man ein Exklusiv-Interview haben, oder
gemeinsam eine schöne ‚home story‘ machen könne, heißt es dann ganz unschuldig. So ähnlich hat Bild
auch bei Fischer angefragt. Ob er sich nicht zu einem Abenteuer mit Prostituierten äußern wolle, bei dem
er betrogen worden war und das Bild öffentlich gemacht hatte. In diesem Zusammenhang wies der BildRedakteur laut Anklage der Staatsanwaltschaft München darauf hin, dass er einen Film aus der
Unterwelt besitze, der Fischer mit den Prostituierten zeige. Fürsorge? Oder Nötigung? Oder eine Art
journalistische Schutzgelderpressung?
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Hans Leyendecker: Die Macht, die Wut, die Medien – wo bleibt die Aufklärung?
Schutzgelderpresser drohen nie offen. Sie kommen mit einem Goldfisch ins chinesische Lokal
und erkundigen sich beim Wirt, ob er nicht gegen viel Geld den Fisch haben möchte. Das Restaurant sei
doch so schön und der Fisch freue sich auch. Ähnlich läuft es in manchen Niederungen des ‚PeopleJournalismus‘: Niemand droht offen, aber die Zwischentöne, Andeutungen oder guten Ratschläge
werden von Prominenten immer wieder eindeutig verstanden – so, dass Gefahr im Verzug ist. Wenn Bild
jemanden fallen lässt, dann fällt der oft sehr tief.
Ich möchte nicht mit einem Blatt geehrt werden, das im Privatleben von Prominenten oder
Halbprominenten wildert, das die Schwächen oder Fehltritte von Schauspielern und anderen Sternchen
ausnutzt, um an sogenannte Exklusiv-Interviews zu gelangen. Es geht nicht darum, sich moralisch oder
intellektuell über den Boulevard zu erheben, noch über alle Kollegen, die bei Bild arbeiten. Wir möchten
uns aber von Recherchetechniken distanzieren, die zum Beispiel im Fall Fischer nach Strafprozessen in
drei Instanzen noch immer unter dem Verdacht stehen, kriminell gewesen zu sein. Viele ähnliche Fälle
soll es geben, aber sie erreichen die Justiz meist gar nicht. Fischer hat den Bild-Reporter vielleicht nur
deswegen angezeigt, weil ihm die Huren-Artikelserie ohnehin schon seine Würde genommen hatte.
Bild gibt sich immer nett, und neuerdings auch seriöser. Das nackte Mädchen ist von der ersten
Seite verschwunden, Recherchen zu Afghanistan oder zum Bundespräsidenten wirken wie ein Bemühen,
politisch ernst genommen zu werden. Manche behaupten jetzt, ein Journalistenpreis ermutige die Bild,
auf diesem Weg voranzuschreiten. Sie übersehen, dass solche Preise kein Geschäftsmodell in Frage
stellen, sondern es stärken. Das Geschäftsmodell der Bild ist es, mit Indiskretionen ohne jede
gesellschaftliche Relevanz Geld zu verdienen. Auch mit Vorverurteilung, Häme, Bloßstellung. Zuweilen
auch damit, dass Bild auf Leute eintritt, die schon am Boden liegen. Als das CIA-Entführungsopfer Khaled
el-Masri Straftaten beging, nannte Bild ihn ‚irre‘ und einen ‚durchgeknallten Schläger‘.
Das Landgericht Berlin hat Bild vorgeworfen, in der Redaktion suche man seinen wirtschaftlichen
Vorteil bewusst darin, dass man die Persönlichkeitsrechte anderer verletze. Ähnliches steht in etlichen,
stets folgenlosen Rügen durch den deutschen Presserat. Investigativer Journalismus kann weh tun, er
kann Karrieren beenden, er kann Mächtige stürzen, er kann Manager ihr Vermögen kosten, kann sie
sogar ins Gefängnis bringen. Aber er darf Menschen nie ihrer Ehre, ihre Würde berauben. Vorbildlich
sind deswegen die Recherchen des britischen Kollegen Nick Davies, der im Guardian die hochgradig
kriminelle Ausforschungs- und Bloßstellungsmaschinerie der Murdoch-Presse offengelegt hat. Davies hat
den Henri-Nannen-Preis für Pressefreiheit verdient. Das ist eine tiefe, ganz persönliche Überzeugung.
Eine ganz persönliche Entscheidung war es auch, den Recherche-Preis nicht zusammen mit Bild
anzunehmen.“
So hat mein 25 Jahre jüngerer Kollege unsere Entscheidung begründet.
Das Hamburger Publikum klatschte Beifall, als Davies erklärte, den wütenden Murdoch-Blättern
gehe es nur um Rendite und Macht. Um was geht es dann dem Wüterich Bild – geht es Bild nicht um
Macht, nicht um Rendite?
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Hans Leyendecker: Die Macht, die Wut, die Medien – wo bleibt die Aufklärung?
Die Auszeichnung der Bild-Zeitung war ein Ärgernis, ein Kulturbruch, ein Anschlag auf den
journalistischen Anstand. Und es war eine Zustandsbeschreibung zugleich.
Alles verwischt sich. Es gibt Moden, es gibt Wut – und die Wut hat viele Gesichter. Wut auf die
Planer eines Bahnhofsumbaus. Wut auf Wulff. Wut auf die Journalisten. Wut auf die Politiker. Wut hat
zwar meist einen Anlass, aber sie bedarf oft keiner Argumente. Sie ist bei dem Wütenden mit Empörung
verbunden. Das Gefühl der Empörung fällt mit dem Gefühl des Rechthabens zusammen.
Und das Ventil für diese Wut und die Empörung und all das Recht haben ist auch und vor allem
das Netz. Jeder, der in der öffentlichen Diskussion steht, wird im Cyberspace noch einmal besonders
niedergemacht in Online-Foren, auf Facebook, YouTube, Twitter. Es gibt immer mehr Menschen, die
schreiben und publizieren. Doch für einige von ihnen gilt im Unterschied zum Journalisten: Ein Pferd
ohne Reiter ist immer noch ein Pferd. Ein Reiter ohne Pferd ist nur noch ein Reiter.
Es gibt den allgegenwärtigen Talk, durch den das Ungefähre in der Sprache zu- und die
Trennschärfe abgenommen haben. Und daneben gibt es die Attacke, den immerwährenden Angriff auf
irgendjemanden, auf irgendetwas.
Anfang des Jahres ist das Wort „shitstorm“ zum Anglizismus des Jahres gewählt worden. Der
Begriff, so die Jury, fülle „eine Lücke im deutschen Wortschatz, die sich durch Veränderungen in der
öffentlichen Diskussionskultur aufgetan hat. Diese neue Art des Protests unterscheidet sich in Ausmaß
und Art deutlich von allem, was man in früheren Zeiten als Reaktion auf eine Äußerung oder Handlung
erwarten konnte.“ Shitstorm trifft die Lage: Wem die Scheiße um die Ohren fliegt, dem vergehen Hören
und Sehen. Der verliert die Orientierung. Es gibt, vor allem im Internet, den Hass, die Wut, den Spott. Es
gibt vor allem im Netz gossenhafte Wortprügeleien, die eine Schar meist anonymer Blogger mit
Diskussion und Freiheit verwechselt.
Das Internet hat längst seine Unschuld verloren. Dabei liegen die Anfänge gar nicht so weit
zurück. Anfänge bewegen uns immer. Wenn wir Kinder bekommen, Enkelkinder oder gar Urenkel, ist das
immer ein Ereignis. Den Zauber aller Anfänge hat eine meiner Töchter mal so formuliert, als es ihr Baby
sah und sagte: Es hat so schöne, unabgelaufene Füße.
Jeder Anfang hat die Zartheit und den Glanz des Unverdorbenen. Es ist eine Erinnerung und auch
ein Versprechen. Eine Erinnerung an all die Anfänge, die hinter uns liegen und in Hoffnung begonnen
wurden, ein Versprechen, dass es einmal einen Anfang geben wird, der nicht gleich überholt ist. Die
Geschichte des Internets ist eine Geschichte von einem unverdorbenen Anfang, der sehr rasch seinen
Glanz verlor.
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Hans Leyendecker: Die Macht, die Wut, die Medien – wo bleibt die Aufklärung?
Der klassische alte Skandal, der viele Jahre mein journalistisches Leben bestimmt hat, ging
tatsächlich noch auf das altgriechische „scandalon“ zurück: Das Wort bedeutete ursprünglich das
Stellhölzchen einer Tierfalle, welche zuklappt, wenn das Hölzchen berührt wird. Der Unglückliche saß
dann in der Falle und wurde vom Publikum bestaunt. Das Opfer wurde so zum negativen Vor-Bild, zum
„Unwunschbild”, wie der Philosoph Ernst Bloch einmal geschrieben hat.
Voraussetzung für einen ordentlichen Skandal war es allerdings, dass es dem Skandalierer
überhaupt gelang, ein Ereignis als Skandal zu definieren. „Was dem einen ein Skandal, ist dem anderen
vielleicht eine ephemere Bagatelle, dem Dritten eine durchaus korrekte Handlungsweise und dem
Vierten womöglich gar schon der Beifall heischende Nachweis besonderer Befähigungen”, befand der
Soziologe Ronald Hitzler in den achtziger Jahren in einem vielbeachteten Aufsatz.
War die Miles-und-More–Geschichte, die vor vielen Jahren Opfer im rot-grünen Lager forderte,
eine Affäre oder nicht? Meist definieren Medien, was ein Skandal wird oder eine Bagatelle bleibt. Für
den Boulevard beispielsweise kann jedes Verhalten, das nicht ganz der Norm entspricht, ein Skandal
sein. Hinter der Fassade sind andere Fassaden. Nicht selten haben die Skandalierer eine Gemeinde, die
ihnen gerne folgt. Oft will das Publikum durch die Entdeckung eines angeblich neuen Sachverhalts nur im
eigenen Vor-Urteil bestätigt werden.
Bei der Frage, Skandal oder kein Skandal, kommt auch auf den Zeitpunkt an, und natürlich: auf
die Aura. Die römische Kaiserin Messalina kopulierte öffentlich im Wettstreit mit einer bekannten
Kurtisane mit 25 Männern. Das hat ihrem Image so wenig geschadet, wie dem FC-BayernEhrenpräsidenten Franz Beckenbauer sein unehelich und noch dazu auf der Club-Weihnachtsfeier
gezeugtes Kind. Die Frage, ob es Aura gibt, lässt sich an einer Messaliana und erst recht an einem
Beckenbauer zweifelsfrei mit Ja beantworten.
Voraussetzung für einen ordentlichen Skandal ist es, dass es ein Publikum gibt, das an den
Skandal glaubt. So lebt ein Teil des Publikums gut mit der Legende, dass der frühere Kieler CDUMinisterpräsident Uwe Barschel in den achtziger Jahren mit den perfidesten Methoden seine Gegner
ausschalten wollte. Er war für viele Leute, nur Täter, kein bisschen Opfer. Mitte der neunziger Jahre fand
ein neuer Untersuchungsausschuss heraus, dass Barschel durchaus auch Täter, aber viel mehr noch
Opfer der Machenschaften seines Medienreferenten war. Wer hat danach das eigene Bild von
Waterkantgate korrigiert, wer wollte es überhaupt noch korrigieren?
Die Fehlspur wird verdeckt, die Legende gewoben. Gern wird dann Heinrich Böll zitiert: „Es
bleiben Nebel, es bleiben Unklarheiten, es bleibt Ungeklärtes, nicht wirklich gelichtet.” Das Klare muss
unklar werden, damit man Recht behält, das eigentlich Unrecht ist.
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Hans Leyendecker: Die Macht, die Wut, die Medien – wo bleibt die Aufklärung?
Ein weiterer schwerer Fall war Jürgen W. Möllemann. Durch Verquickungen von Geschäften mit
der Politik stand er seit zwei Jahrzehnten im Dauerverdacht korrupter Machenschaften. Aber außer
Vermutungen gibt es keinen Beleg dafür, dass er auch in Waffengeschäfte verwickelt gewesen sein
könnte. „Keine Anhaltspunkte” hatten die Ermittler. Warum beriefen sich dennoch Medien auf anonyme
Ermittler, um den Eindruck zu erwecken, er habe mit Waffengeschäften das große Geld gemacht? Kam
es bei Möllemann nicht mehr darauf an, ob etwas wahr ist oder unwahr? Dürfen wir den Toten, noch ein
bisschen zumindest, jagen? Kommt doch nicht drauf an.
Oder die Geschichte der Terrorvereinigung Nationalsozialistischer Untergrund: Im November
vergangenen Jahres war klar geworden, dass eine braune Bande neun Migranten und eine Polizistin
ermordet hatte, ohne dass Ermittler auch nur eine Ahnung hatten, wer hinter der Mordserie steckte. Die
thüringische Polizei hatte die Täter laufen lassen und danach versagten Verfassungsschutz und
Zielfahnder. Und die bis zu 160 Ermittler, die der Blutspur folgten, waren sich fast alle sicher, dass das
Motiv ganz gewiss im Bereich der Organisierten Kriminalität zu suchen sei. Die Opfer und ihre Familien
wurden kriminalisiert.
Einige Zeitungen witterten eine braune Staatsaffäre. Sie gingen von einer Kumpanei des Staates
mit den Mördern aus und streuten den Verdacht, dass Quellen des Verfassungsschutzes eng mit den
Mördern zusammengearbeitet hätten. Nichts davon stimmte. Am saubersten hatten, wie sich später
herausstellte, die vorgeblich unsauberen Quellen gearbeitet. Ihre Berichte waren leider nicht ordentlich
ausgewertet und nicht an die richtigen Stellen weitergeleitet worden. Ein Desaster? Ja. Ein
Staatsversagen? Ja. Aber doch ganz anders als es zunächst von Journalisten bedeutet worden war.
Enthüllungsjournalismus muss mehr sein als die Auswertung von Ermittlungsakten oder das Verfassen
von Kommentaren. Es braucht journalistische Aufklärer, die ergebnisoffen ans Werk gehen. Und die,
wenn es denn angebracht ist, auch gegen ihre Vorurteile publizieren.
Bei all diesen Geschichten und Geschichtchen, die mein berufliches Leben bestimmt haben, ging
es zumeist um Konflikte über die Ausübung, Kontrolle und Legitimierung von Macht, es ging um
Theaterdonner, Ehrenwörter, Korruption und die Legitimationsempfindlichkeit staatlicher Politik und
wirtschaftlicher Macht. Es ging um Ansichtssachen, darum, wie Fakten zu Skandalen werden, aber es
ging nie um Nichts.
Einen neuen Einblick in eine neue Dimension der Skandale liefert übrigens das Buch von Hanne
Detel und Bernhard Pörksen „Der entfesselte Skandal: Das Ende der Kontrolle im digitalen Zeitalter“. Ein
wichtiger Punkt des Buches ist die These, dass sich in der Digitalen Welt ein neues Skandalschema
entwickelt hat. Früher fand er in einer linearen Medienwelt statt. Heute habe er sich davon entkoppelt.
Das Publikum werde zum Akteur, gesellschaftliche Fallhöhe sei kein Schlüsselkriterium mehr, auch sei die
Frage der gesellschaftlichen Bedeutung nicht mehr ausschließlich entscheidend.
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Hans Leyendecker: Die Macht, die Wut, die Medien – wo bleibt die Aufklärung?
Jeder könne heute effektiv skandalisieren, wenn es ihm gelinge, durch Medien im Social Web auf
den Multimedia-Plattformen Skandalierungsprozesse einzuleiten. Es gebe neue Opfer, darunter
Ohnmächtige, komplett Unschuldige und bislang der Öffentlichkeit Unbekannte, die zum Objekt
kollektiver Empörung und unerwünschter Aufmerksamkeitsexzesse werden könnten. Die Diagnose, dass
gegen Ohnmächtige oder kleine Leute kein Skandal ausbreche, wie Johannes Gross noch vor fast einem
halben Jahrhundert meinte, war nie richtig.
Der Boulevard, die Gosse lässt sich beim Skandalieren selten davon abhalten, dass es um
Ohnmächtige oder kleine Leute geht. Der Einbruch in die Privatsphäre auch der kleinen Leute ist Teil des
Geschäfts. Aber es gibt neuerdings den Cybermob, der Menschen jagt und Menschenfleisch sucht. Die
Autoren beschreiben, wie eine junge Frau in Washington, die von ihren Sex-Abenteuern in ihrer
Arbeitswelt berichtet, zu einer öffentlichen Figur wird, deren Geschichte sich rasend im Netz ausbreitet.
Da wird eine junge Frau, die Unsinn über ein Erdbeben und die Opfer des Erdbebens geredet hat, gejagt,
gehetzt und von der Welle der Empörung erdrückt. Alte, längst vergessene Geschichten werden im Netz
zu einer Waffe.
Noch einmal: Wie ist das mit der Wahrheit. Lessing, der Demokrat, hat den Wahrheitsbegriff so
formuliert. Er sagte: „Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist, oder zu sein vermeinet,
sondern die aufrichtig Mühe, die er angewandet hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert
des Menschen.“ Lessing erklärte, wenn Gott ihm in der rechten Hand die volle Wahrheit anböte, in der
linken aber das unablässige Streben nach Wahrheit mit allen Möglichkeiten des Irrtums, er würde die
linke nehmen.
Will der Leser, der Hörer, Zuschauer die Wahrheit? Der größte der Großen, Johann Wolfgang von
Goethe, hat 1819 an Rochlitz einen Brief über die Unterschiede bei den Lesern geschrieben. Es gebe drei
Arten von Lesern: eine, die ohne Urteil genießt, eine, die ohne zu genießen urteilt und eine die
genießend urteilt und urteilend genießt. Diese reproduziere eigentlich ein Kunstwerk aufs Neue. Welcher
Lesertyp sind Sie: Der ohne Urteil, der ohne Genuss oder der Genießende mit einem überlegten,
kenntnisreichen Urteil?
Akzeptieren Sie als Zuschauer, Leser. Hörer eigentlich den Zweifel oder wollen Sie als Leser nur in
Ihrem Verdacht bestätigt werden? „Der schreibt, was ich immer schon gesagt habe; gute Frau, guter
Mann.“ Meine Erfahrung nach rund vierzig Jahren im Journalismus ist einfach: Es ist nicht leicht, Leute zu
finden, die etwas Neues zu sagen haben, es ist aber noch sehr viel schwieriger, Leute zu finden, die
etwas Neues hören wollen.
Ich will versuchen, das am Beispiel Leuna zu erklären. Angeblich hatte es bei der Privatisierung
der Leuna-Werke durch den französischen Konzern Elf Aquitaine einen riesigen Korruptionsskandal
gegeben, in den angeblich die CDU und der ehemalige Bundeskanzler Helmut Kohl verwickelt waren. Ein
Genfer Generalstaatsanwalt und eine Pariser Richterin hatten der deutschen Justiz vorgeworfen, sie
traue sich nicht gegen die Mächtigen ernsthaft zu ermitteln. Ich habe, ebenso wie andere Journalisten,
über den Verdacht berichtet und, glücklicherweise, nicht zu dick aufgetragen.
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Hans Leyendecker: Die Macht, die Wut, die Medien – wo bleibt die Aufklärung?
Dann gab es die Gelegenheit, die Akten zu lesen, auf die sich die Richterin und der Strafverfolger
bei ihren Vorwürfen gestützt hatten. Es zeigte sich rasch, dass es sich um ein Missverständnis handelte.
Zwar hatten Christdemokraten Geld bekommen, aber es handelte sich um ehemalige Politiker, die zwar
mal Minister oder Staatssekretärinnen gewesen waren, jedoch ihr Geld jetzt als Lobbyisten verdienten.
Ich habe dann, als ich die Akten auswerten konnte, über diese Zusammenhänge berichtet und
geschrieben, dass Leuna anders gewesen sei. Es habe sich offenbar um ein Kick-Back der französischen
Manager von Elf Aquitaine gehandelt und auf keinen Fall um eine Fortsetzung der CDU-Affäre.
Wie war das Echo der Leser, die doch so freundlich und aufmerksam die Entwicklungen der KohlAffäre verfolgt hatten? Sie schrieben mir Briefe, schickten Faxe und protestierten. Lange hätten sie
geglaubt, ich sei ehrlich bemüht, die Wahrheit herauszufinden. Aber jetzt sei klar, dass ich gekauft, faul,
dämlich und korrupt sei. Offenbar habe mich die CDU geschmiert, damit ich die Unwahrheit schriebe.
Die kollektive Phantasie braucht immer neue Opfer, immer neue Täter und vor allem: klare
Verhältnisse. Nur nicht zögern. Überall Übeltäter, Schufte und trockne Schleicher. Wer ist schuld? Immer
ist doch irgendeiner schuld. Das kleine Wort ermöglicht das Rechthaben, die Empörung und die
Empörung stiftet Ordnung, weil sie die Schuldigen benennt. Man braucht nicht mehr zu zweifeln, man
weiß doch, wie es läuft.
Es gab bei den Debatten um den Plagiator Guttenberg und um Wulff zeitweise eine Entfremdung
zwischen Teilen des Publikums und Teilen der Medien. Die Redaktion einer bürgerlichen Zeitung wurde
von Journalisten mit einem Leuchtturm ausgezeichnet, weil sie in der Sache Guttenberg Haltung
bewiesen habe. Trotz der Proteste vieler bürgerlicher Leser, trotz Abbestellungen und trotz
Beschimpfungen, war das Blatt dran geblieben. So soll Journalismus funktionieren.
Vom „Mythos zum Logos“ heißt eine Formel, die vermutlich Wilhelm Nestle geprägt hat. Der
Logos, meine Damen und Herren, gelangt nie dorthin, wo der Mythos von Anfang an schon war. Es gibt
im Journalismus die Währung, die alle belohnt, die Aufmerksamkeit um jeden Preis schaffen wollen.
Aufmerksamkeit ist die Leitwährung. Der oft skrupellose Zugriff auf das Potenzial der Aufmerksamkeit
des Lesers, Hörers, Zuschauers ist ein Angriff auf die Freiheit der Presse. Die ganz großen Gefahren für
den Journalismus entstehen dort, wo die Aufmerksamkeit die Relevanz auffrisst.
Durch das Enthüllungsportal Wikileaks – erinnern Sie sich noch an den Namen? – wurde eine
Diskussion ausgelöst, die sich vorzugsweise um Geheimnis und Macht, um die totale Transparenz, die
grenzenlose Blogosphäre und das Internet überhaupt drehte. Die Debatte in den Medien fand im
Zwielicht von Argwohn und Komplizenschaft, Glorifizierung und Verachtung, Furcht und völliger
Überschätzung statt. Mitunter standen sich Internet-Fans und klassische Journalisten fast unversöhnlich
gegenüber. „Mit unseren derzeitigen Aktionen bestimmen wir das Schicksal der internationalen Medien
in den kommenden Jahren“, tönte Julian Assange, Mitbegründer und Sprecher von Wikileaks. Kleiner
mag er es selten. Er gab sich nicht wie David, sondern wie der Goliath der neuen Zeit. Und Journalisten
machten ihn dazu.
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Hans Leyendecker: Die Macht, die Wut, die Medien – wo bleibt die Aufklärung?
Er war ein moderner Robin Hood für die Jungen. Nahezu einhellig stand die Netzgemeinde bei
Facebook oder in den Kommentaren der Zeitungsportale auf Seiten von Assange. Eine Lagerbildung hatte
stattgefunden hat. Hier die Älteren, auch die älteren Journalisten, die den radikalen Ruf nach Offenheit
skeptisch sehen. Dort die Jungen, die sich über die Wikileaks-Verfolgung ähnlich empörten wie die Alten
damals, 1962, über die Spiegel- Affäre. Die Kritik vieler Journalisten an Wikileaks wurde von ihnen nicht
als das wahrgenommen, was sie sein sollte: Ein Appell, handwerkliche Tugenden wie das Einordnen und
die Gewichtung von Informationen in die digitale Welt hinüberzuretten. Für sie kam die Kritik an
Wikileaks einem Generalangriff auf das Netz und seine offene Kultur gleich – auf das, was heute auch
Pressefreiheit ist.
Die Möglichkeit, eine Menge von Daten auf eine kleine Silberscheibe zu transformieren, hatte
ohnehin schon vor Assange den Enthüllungsjournalismus verändert. Noch in den achtziger Jahren wäre
es unvorstellbar gewesen, dass ein untreuer Angestellter oder ein ehrlicher Informant die kompletten
Aufzeichnungen Hunderter schwerreicher Steuerhinterzieher an Medien lancieren konnte. Das Kopieren
aller Unterlagen eines Liechtensteiner Treuhänders hätte jede Quelle überfordert. Heute reicht das
Laden eines einzigen Memory-Sticks für die Beschaffung Tausender Dokumente. Durch die Wucht der
überlieferten Berichte werden Staatsdebatten ausgelöst.
Nur nebenbei: Ob eine Quelle uneigennützig dem Guten zum Durchbruch verhelfen möchte oder
aus niederen Motiven sprudelt, ist für den Enthüllungsjournalismus meist unerheblich. Spätestens seit
dem 1714 erschienenen Werk „Die Bienenfabel oder Private Laster, öffentliche Vorteile“ des
niederländischen Sozialtheoretikers Bernard Mandeville, gilt die Theorie, dass auch Handlungen aus
verwerflichen Motiven für das Gemeinwohl förderlich sein können. Diese Feststellung galt auch für Julian
Assange, den die einen für einen Helden der Wahrheit und die anderen für einen geltungssüchtigen
Egozentriker hielten. Das Gute im Bösen und das Böse im Guten liegen auch im Journalismus dicht
beieinander.
Immer häufiger werden Redaktionen umfangreiche Datensammlungen angeboten, die dann mit
sogenannten Hit-Wörtern nach Namen, Orten und Begebenheiten durchsucht werden können. Auch
arbeiten mittlerweile in einigen großen Blättern professionelle Internet-Rechercheure, die jenseits von
Google Interessantes im Netz fischen. Wenn sie dann noch über spezielle Sprachkenntnisse wie Arabisch
verfügen, können sie beispielsweise frühzeitig die Webseiten der Dschihadisten analysieren. Diese
Journalisten sind manchmal fixer als die Nachrichtendienste.
Es gibt auch Mischformen zwischen der Vermittlung von Material durch Internet-Plattformen
und der Arbeit klassischer Medien. Die Umweltorganisation Greenpeace Deutschland etwa verfügt über
ein Recherche-Team, das spezielle Erkenntnisse ins Netz stellt. Das kann ein von einem Anonymus
gelieferter dicker Bericht über die Lobbyarbeit einer Unternehmensberatung für Politik- und
Krisenmanagement von sein, oder es kann sich um Tausende Blatt der „Akte Gorleben“ handeln.
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Hans Leyendecker: Die Macht, die Wut, die Medien – wo bleibt die Aufklärung?
Manfred Redelfs, Leiter des Recherche-Teams bei Greenpeace hält es für die Aufgabe einer
solchen Truppe, „das Material einzuordnen und auch auf Authentizität zu prüfen.“ Wichtig sei das
„Gesamtbild“. Bei Wikileaks habe man es mit einer Art „Zwischeninstanz“ zu tun, hat Redelfs gesagt.
Angeblich geht es immer um Aufklärung, aber zu oft geht es um eine Mission. Angeblich gehen
Journalisten ergebnisoffen an ihre Arbeit. Aber oft steht das Ergebnis schon fest, bevor die Recherchen
beginnen. Angeblich haben Journalisten mindestens zwei Quellen. Aber oft haben sie nicht mal eine, das
Internet ausgenommen.
„Wie haben Sie eigentlich früher recherchiert, als es Google noch nicht gab?“ Diese Frage hat mir
neulich eine junge Redakteurin gestellt. Nach einer Studie einer Kommunikationswissenschaftlerin, die
Beiträge aus Zeitungen und Hörfunk und von Nachrichtenagenturen nach der Quellenlage prüfte, gab es
in 85 Prozent aller Fälle als Basis für eine Geschichte nur eine Quelle. Und das waren in der Regel
Informationen aus einer Pressekonferenz oder PR-Mitteilungen, die ungeprüft verarbeitet worden
waren. Einer anderen Untersuchung zufolge recherchiert ein Viertel der deutschen Journalisten am Tag
nicht mehr als eine Stunde. Die ökonomische Krise der Verlage hat die Lage nicht verbessert.
Nach Auskunft des Handbuches „Journalismus und Medien“ ist journalistische Recherche ein
professionelles Verfahren, mit dem Aussagen über Vorgänge, beschafft, geprüft und beurteilt werden.
Die Recherche setzt eine aktive Rolle des Journalisten voraus. Die Entgegennahme und redaktionelle
Bearbeitung von Texten fällt nicht unter Recherche. Wutjournalismus auch nicht.
Den eigenen Ergebnissen misstrauen, Fakten bewerten, jede Quelle mehrmals auf ihre
Glaubwürdigkeit prüfen. Das gehört zum Recherchejournalismus: „If your mother says, she loves you,
check it out“, verlangte der Lokalchef einer Tageszeitung in Chicago von seinen Mitarbeitern. Er hatte
den Spruch auf seinem Schreibtisch. Die vierte Gewalt, meine Damen und Herren, sollte bei ihrer Arbeit
ergebnisoffen sein.
Die so genannte vierte Gewalt wird von vielen, die Macht haben, als lästig empfunden. Wir
Journalisten, die Unruhestifter vom Dienst sein sollten, werden gern zum Teufel gewünscht. Das ist in
Ordnung. Nicht in Ordnung ist, dass dieselben Politiker, die sich über die Medien bis zur Weißglut
erzürnen, an Medien wieder ranschmeißen.
Rudolf Augstein, der Gründer des Spiegel, erzählte gern die Geschichte vom ungarischen
Schuster, der einst in einem kleinen Dorf sein Einmonatsblättchen redigierte und glücklich vor sich
hinmurmelte: „Was wird der Zar sich am Montag ärgern.“
Journalisten, meine Damen und Herren, haben nicht das Mandat, Wahlen zu gewinnen oder
Parteien zu promovieren. Ein Journalist gerät auf die Verliererstraße, wenn er versucht, Minister und
Kanzler zu machen, Große und Kleine Koalitionen zu begünstigen; kurz, wenn er der Versuchung erliegt,
Politik treiben zu wollen. Unternimmt er es dagegen, Einsichten zum Durchbruch zu verhelfen und zu
sagen, was ist, dann ist er mächtig. Für einen kurzen Augenblick.
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Hans Leyendecker: Die Macht, die Wut, die Medien – wo bleibt die Aufklärung?
Lassen Sie uns kurz über Pressefreiheit reden. Die Pressefreiheit und ihre Schwester, die
Rundfunkfreiheit, sind, was für eine Freiheit nicht ungewöhnlich ist, der einzige unverrückbare Rahmen,
in dem der Journalist agiert.
Die Pressefreiheit ist eine eigenständige funktionsbezogene Freiheit, die sich auf die
publizistische Vermittlungstätigkeit bezieht. Sie ist „nicht im Interesse der Grundrechtsträger
gewährleistet, sondern im Interesse der Rezipienten“, hat der frühere Richter des
Bundesverfassungsgerichts, Dieter Grimm, erklärt. Medien erbringen also eine Leistung, derentwegen sie
Freiheit genießen. Diese Leistung besteht, grob gesprochen, darin, eine Art von Öffentlichkeit
herzustellen, ohne die eine demokratisch verfasste Gesellschaft nicht auskommt. Medien halten auf
vielen Wegen den Informationsfluss und den Meinungsaustausch innerhalb des Publikums und zwischen
Regierenden und Regierten aufrecht.
Am Rande des Weges lauern Beeinträchtigungen und Gefährdungen. Sie entstehen daraus, wie
der Journalist seinem Beruf nachgeht und sie entsteht aus den Bedingungen, unter denen Journalisten
ihre Arbeit tun. Wenn Politiker über Journalisten sprechen, neigen sie meist zu eindeutigen Urteilen.
Selbst vom ehemaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt, der in jungen Jahren mal Journalist werden
wollte und im Alter dann Herausgeber der Zeit wurde, stammen die Etiketten „Wegelagerer“ und
„Indiskretins“. Bismarck nannte Journalisten Leute, die ihren Beruf verfehlt hätten. Und der
amerikanische Politiker Adlai Stevenston definierte, ein Journalist sei „jemand, der die Spreu vom
Weizen sondert und die Spreu druckt.“
Der Informationshunger der Medien wird oft in die verdeckte Planung einbezogen. Man kann
den Hunger mit gezielten Nachrichten füttern, kann deren Wirkung kalkulieren und timen. Es ist ein
Märchen, zu behaupten, in Deutschland habe knallharter Recherchejournalismus Konjunktur, hier setze
eine Armada aufklärungswütiger Medien Marlowes den Wirtschaftsführern und Politikern zu, wenn das
notwendig ist, ein Irrtum. Noch immer und trotz Wulff holen sich die Machtinhaber beim Umgang mit
Journalisten „eher Knutschflecken als blaue Flecken“, wie Siegfried Weischenberg mal festgestellt hat.
Die Lage des Journalismus, meine Damen und Herren, ist ziemlich unübersichtlich. Zum einen
war Journalismus weltweit noch nie so zugänglich wie heute. Es ist doch ein Erlebnis und ein Privileg
zugleich, im Internet morgens die „New York Times“ vom selben Tag lesen zu können. Noch nie hatten
Journalisten ein größeres Publikum als nach der digitalen Revolution. Auch war selten das Bedürfnis nach
einem wirklich aufklärenden Journalismus größer als heute. Noch nie war die Konkurrenz so groß und
noch nie war der Mainstream so stark. Die wirklich große Gefahr für den Journalismus geht nicht von
durchgeknallten Staatsbeamten oder Vorratsdatenspeicherung oder Onlinedurchsuchungen aus,
sondern von der Bedrohung der Pressefreiheit durch Abläufe im Innern der Verlage und Redaktionen.
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Hans Leyendecker: Die Macht, die Wut, die Medien – wo bleibt die Aufklärung?
Die wirklich große Gefahr für den Journalismus geht vom Journalismus aus, von den Medien
selbst, von einem Journalismus, der den Journalismus und seine Kernaufgaben vernachlässigt, der
Larifari an die Stelle von Haltung setzt. Es gibt den Zerfall einer Berufskultur, die von den Zynikern
Realismus genannt wird. Die Gefahr geht von Verlegern aus, die den Journalismus aus echten
vermeintlichen Sparzwängen kaputt machen. Sie geht von Medienunternehmen aus, die den
Journalismus auf den Altar des Anzeigen-und Werbemarktes legen.
Aber es gibt auch Gegenläufiges. Bei einem Seminar mit dem schönen Titel „Watergate in
Wuppertal“, das sich vor allem an freie – und Teilzeit-Journalisten richtete, erklärten etliche Kollegen, sie
würden finanzielle Einbußen in Kauf nehmen, wenn sie einmal tiefer in ein Thema eindringen könnten.
Ein Vertreter derjenigen, die am Ende der Nahrungskette sind, erklärte: „Auch das nehme ich noch in
Kauf, wenn ich meine Geschichte ordentlich machen kann und vielleicht sogar Wirkung erzeugen kann.“
Vor diesen Kollegen verbeuge ich mich.
Wirken zu können kann ein unerhörter Spaß sein – vor allem, wenn Wirkung erzeugt wird. Ich will bei
dem Begriff „Wirken“ auf den Mann zurückkommen, zu dessen Hauptbegriffen dieses Wort gehörte. Auf
Goethe, den Bewundernswerten. Wenn es eine Sünde für ihn gab, der doch die Kategorie Sünde
eigentlich nicht ausstehen konnte, war es Faulheit, besonders schlimm war für ihn die apathische
Faulheit. Insbesondere seit er Spinoza begegnet war, war für Goethe das Tätigsein weit mehr als die
bürgerliche Tugend des Fleißes. Journalismus ist Passion, ist Leidenschaft – Leidenschaft für das Wort, für
die Sache.
Goethe war zornig, als er im Stammbuch seines kleinen Enkels Walther auf eine Klage Jean Pauls
stieß: „Der Mensch hat hier dritthalb Minuten: eine zu lächeln, eine zu seufzen und eine halbe zu lieben,
denn mitten in dieser Minute stirbt er. Lächeln, seufzen sterben.“ Goethe schrieb auf, was er von jeder
Minute im menschlichen Leben hielt: „Ihrer sechzig hat die Stunde, über tausend hat der Tag. Söhnchen!
Werde dir die Kunde, was man alles leisten mag.“
Das war ein Bekenntnis gegen den Weltschmerz, gegen die Schwermut, welche manchen
Schreiberling im 19. Jahrhundert immer neu in Versuchung führte. Ihrer sechzig hat die Stunde, über
tausend hat der Tag – das wäre auch ein Spruch für die Redaktionsstuben. Auch bei den Verlegern gibt es
sehr unterschiedliche Typen: Die Fleißigen, die Neugierigen, die Tüchtigen – und es gibt auch die
anderen.
Es gab mal einen wunderbaren, wirklichen Verleger, der von einem Kinounternehmer angemacht
wurde. Der Kinounternehmer ärgerte sich fürchterlich darüber, dass ein junger Journalist häufig kritisch
über die gezeigten Filme berichtete. Und dann kam eines Tages dieser Kinomann zu dem Verleger und
sagte: „Ich setze jetzt die Anzeigen bei Ihnen aus. Ihr Journalist hat mich zu sehr geärgert“. Dann kam er
nach sechs Wochen wieder, weil die Kinosäle fast leer waren und sagte: „Jetzt bin ich wieder so weit!“
Und dann sagte unser Verleger den schönen Satz: „Ich aber noch nicht.“
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Hans Leyendecker: Die Macht, die Wut, die Medien – wo bleibt die Aufklärung?
Manchmal sehnt man sich als Journalist nach diesem Verleger zurück, der vermutlich auch
schwierig war. Aber für den hatte das Verlegen etwas mit Liebe zu tun. Die Verbindung zu dem, was er
machte, war ein Liebesverhältnis. Heute habe ich manchmal den Eindruck, dass sich Journalisten bei der
Suche nach Lösungen intensiver und sachkundiger mit Geldfragen beschäftigen als manche Verlagsleute.
Journalisten sollten unabhängig und nur der Wahrheit verpflichtet sein. Das ist eine der
wesentlichen Grundlagen des Berufes. Aber manches, was wir tun, hat wenig mit Wahrheit und zu wenig
mit der Wirklichkeit zu tun. Es gibt den oft beklagten Mainstream-Journalismus und gleichzeitig gibt es
einen Wettbewerb um Schlagzeilen und vorgeblich atemraubende Enthüllungen.
Wir leben in einer permanenten Gegenwart – ohne Vergangenheit, ohne Zukunft. Ständig wird
eine neue Sau durchs Dorf getrieben. Es sind ganze Herden von Schweinen unterwegs und es werden
immer mehr. Angestrebt wird das frühzeitige Besetzen von Themen, das Anzetteln von
Aufregungskommunikation, die dafür sorgt, dass das eigene Blatt, der eigene Sender von anderen
Blättern, von anderen Sendern erwähnt wird. Es ist eine der Verrücktheiten unserer Tage ist es, dass wir
manchmal die Nachricht für die Agentur schon schreiben, bevor wir den Text für Online oder Print
geschrieben haben.
„Die Kolportage ersetzt die Reportage und Exclusivitis und Sensationshascherei prägen das
Tagesgeschäft“, hat Johannes Rau mal gesagt. Man kann auch mit wenig auffallen. Inszenierungen
nehmen zu. Wir Journalisten laufen allzu oft den großen Events hinterher, aber es werden zu wenige
Prozesse abgebildet. Der wirtschaftliche Druck, unter dem die Verlage, ganz anders übrigens als das
öffentlich-rechtliche Fernsehen, heute stehen, hat viele Folgen. Ich will Ihnen die Entwicklung anhand
von zwei exotischen Beispielen erläutern:
Beispiel 1: Im kalifornischen Pasadena gibt es einen ebenso sparsamen wie erfindungsreichen
Verleger. Weil die Sitzungen des Stadtrats von Pasadena im Internet direkt übertragen werden, schickt er
nicht einen Mitarbeiter ins Rathaus, denn davon hat er keinen mehr, sondern beauftragt einen
Journalisten in Indien, über die Sitzungen zu berichten. Der sieht sich die Sitzungen im Internet an und
schreibt auf, was er hört und sieht. Das ist preisgünstiger und kostengünstiger als der kostengünstigste
Journalist in Kalifornien.
Beispiel 2: Baseball ist, wie Sie vielleicht wissen, ein Spiel mit viel Statistik. Neulich kam ein
Tüftler auf die Idee, mit den Statistiken einen Computer zu speisen, der dann einen Spielbericht fertigte.
Der Tüftler mit dem Computer ließ unabhängig davon Spielberichte von richtigen Journalisten schreiben
und präsentierte die Arbeit einer Jury. Die konnte nicht herausfinden, welcher Text vom Computer
stammte und welcher Text Werkstück eines Journalisten war. Im Finanzjournalismus stützt sich eine
Institution wie Forbes auf eine Firma mit dem Namen „Narrative Science“, die Daten in Texte
verwandelt. Eins der Programme von „Narrative Science“ kann Artikel verfassen, wie sich der
amerikanische Wahlkampf in sozialen Netzwerken abspielt. Zehn Dollar für 3.000 Zeichen. Der
Roboterjournalismus kann Texte in kürzester Zeit produzieren.
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Hans Leyendecker: Die Macht, die Wut, die Medien – wo bleibt die Aufklärung?
Was sagen uns diese Beispiele? Diese Beispiele sagen: Wenn wir die Computer und alles andere
überstehen wollen, müssen wir Dinge abliefern, die ein Computer nicht machen kann. Wir müssen
anders schreiben, andere strukturelle Zusammenhänge zeigen, die man so einfach nicht findet
anderswo. Computer haben keine Haltung. Journalisten können Haltung haben. Das Wort, auch das ist
wahr, ist ein wenig aus der Mode gekommen. Haltung meint, für etwas einstehen, sich nicht verbiegen
lassen; nicht von kurzfristigen Moden, nicht von der Sucht nach Anerkennung.
Journalismus hat eine Aufgabe, die über das Geldverdienen hinausgeht. Haltung gibt also Halt,
Autorität kommt von Autor und Qualität kommt von Qual: „Qualität kommt von Qual.“ Der Satz steht
über dem Eingang der Hamburger Henri-Nannen-Schule. Er gilt nicht nur für Journalistenschüler. Dieser
Satz verlangt von Journalisten, dass sie keine Wut-Journalisten sind, dass sie sich quälen, das Beste
leisten und er verlangt von den Verlegern, dass sie die Journalisten in die Lage versetzen, das Beste
leisten zu können.
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Hans Leyendecker: Die Macht, die Wut, die Medien – wo bleibt die Aufklärung?
Diskussion
Sie sprachen das Pörksen-Buch „Der entfesselte Skandal“ an. Da ist es doch aber meines
Erachtens so: Das sind Beispiele drin, die ja mehr so aus Asien, China und Amerika kommen und auch gar
nicht so richtig mit unserem Deutschland zu tun haben. Und auch das Beispiel, das sie ansprachen mit
dieser Frau, die ihr Liebesleben ausbreitete. Das hat sie ja dann auch erst mal von sich preisgegeben. Es
kam von ihr selber und dann muss sie sich ja nicht wundern, dass es doch durchsickert, oder?
Da habe ich eine völlig andere Auffassung. Es kann jemand von sich etwas preisgeben, aber das
gibt niemandem die Berechtigung jemanden zu jagen. Das ist keine Jagdgesellschaft hier.
Gerade dieses Beispiel ist ein bisschen heikel, würde ich sagen. Da können wir aber später weiter
drüber reden.
Nein. Das ist ein wichtiger Punkt. Es sagt jemand etwas Dummes im Internet, wem gibt das die
Berechtigung, die Frau zu erledigen?
Ich fand es ja ganz gut, dass sie auch den Vormärz 1848 genannt haben. Da fällt mir das
bekannte Zitat ein, das nicht nur die persönliche Verantwortung des Journalisten trifft, sondern auch das
Strukturelle. Das Zitat heißt: „Nicht Pressfreiheit, sondern Fressfreiheit.“ (Karl Marx) Wenn das
„Fressfreiheit“ nicht nur vulgär meint, sondern im Sinne von Brecht, „erst kommt das Fressen, dann die
Moral“, das heißt, erst die materielle Substanz einer Gesellschaft. Das meint also den
gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang. Das wurde mir zu wenig beleuchtet, wie diese Dialektik da
funktioniert.
Das wäre die eine Frage. Die andere Frage wäre bezogen auf das zukünftige, andere
Medienverständnis. Es hat hier immerhin eine breitere Bewegung alternativer Medienarbeiter gegeben.
Wie sehen sie heute die Chancen, dass im Sinne der Traditionen aus den 1920er Jahren, Brecht, Benjamin,
ein anderes Verständnis von Rezipient und Sender geherrscht hat. Wie kann man daran anknüpfen und
wie kann man das ein stückweit ausbauen?
Man darf nicht glauben, dass man ein Massenmedium schafft. Es gibt in Baden-Württemberg in
der Nähe von Stuttgart den Versuch, eine alternative Zeitung zu machen. Die wird von der taz
unterstützt. Freudenreich, ein großer Reporter im Südwesten, hat dieses Projekt auf den Weg gebracht.
Es gibt ein paar bürgerliche Leute, die das mitfinanzieren. Aber: Sie haben nur 1.200 Auflage. Das ist so.
In Basel gibt es auch einen interessanten Versuch. Basel ist eine interessante Pressestadt und da
gibt es reiche Basler, die sich zum Ziel gesetzt haben, eine Zeitung zu bringen, die nicht unbedingt von
der SVP (Schweizerische Volkspartei) gemacht wird. Da gehen dann andere Inhalte rein. Wir haben sie
doch bei ProPublica [Non-Profit-Newsdesk für investigativen Journalismus, die Red.] in den USA. Wo
reiche Leute wirklich Geld in die Hand nehmen und sagen: „Wir ermöglichen hier Journalisten Arbeit, wie
es normalerweise Redaktionen nicht mehr können.“ ProPublica kann Arbeiten machen, die die New York
Times nicht mehr schafft, weil sie dafür keinen Etat mehr hat.
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Hans Leyendecker: Die Macht, die Wut, die Medien – wo bleibt die Aufklärung?
Dafür brauchen sie aber auch Leute, die mit Stiftungen anders umgehen, als sie es bei uns tun.
Das ist ein anderes Thema, wie wir in diesem Lande auch mit Stiftern umgegangen sind und welches
Verhältnis wir da auch steuerlich immer hatten.
Ich empfehle ihnen wirklich: Zu 1848 gibt es eine wunderbare Reihe bei den Marbachern
[Marbacher Magazine, die Red.]. Die Marbacher haben eine Reihe aufgelegt der großen Journalisten von
1848. Von denen, die allerdings völlig andere Bedingungen hatten als wir, kann man lernen. Gucken sie
sich den Streit an, den Börne [Ludwig Börne, die Red.] mit Heine [Heinrich Heine, die Red.] immer hatte,
über die Frage, ob Heine nicht in Wirklichkeit immer vor der Wahrheit sich drückt und nur modisch sein
möchte. Es waren völlig andere Zeiten. Wenn sie sie sich unsere Hetze angucken, die Bedingungen unter
denen wir heute versuchen, dieses zu machen, indem wir uns manchmal unterwerfen und manchmal
entziehen, sind sie so anders.
Dennoch einigt man sich dann wieder wegen dem eigentlichen Ziel. Das heißt, man versucht zu
definieren, dass man Dinge nicht nur verschwommen und verzerrt lässt. Welchem Druck die damals
ausgesetzt waren, wie die Staatsmacht mit denen umgegangen ist. Das hat man doch alles gar nicht
mehr. Wenn sie heute nach Weißrussland gehen, nach Algerien gehen, da gibt es viele Journalisten, die
verfolgt werden. Uns droht hier manchmal der Presseanwalt. Wo ist das Problem? Wir leben unter ganz
anderen Bedingungen, als die, die vor uns gewesen sind. Eigentlich unter besseren, aber auch wieder
unter schwierigeren.
Mir machen die unabgelaufenen Füße ein bisschen Kopfschmerzen, weil sie ja dem Internet so viel
Unschuld zusprechen. Also ich weiß nicht, ob es allgemein bekannt ist, dass das Internet aus dem ARPANet entstanden ist, aus dem Militär. Und dem würde ich schon mal wirkliche Unschuld absprechen. Ich
denke, dass es auch unsere Paranoia schürt und eigentlich unseren Kindern nicht so gut tut, den größten
Teil des Tages im Internet, im facebook, wie auch immer, zu verbringen.
Mit den unabgelaufenen Füßen: für mich war es neu, für mich hatte das Internet mehr Infos.
Vergeben sie mir. Ich habe dann festgestellt, dass sie nicht mehr unabgelaufen sind.
Finden sie nicht, dass sie ein Armutszeugnis ausgesprochen haben für den investigativen
Journalismus mit ihrem Vortrag? Und sich damit selber diskreditieren? Und perlen Angriffe auf die eigene
Person auch nach 40 Jahren Pressearbeit an ihnen ab?
Armutszeugnis, ja, partiell ja, weil wir von dem ganzen Mythos von Watergate, etc. in der Praxis
ganz weit weg sind. Wir sind in anderen Zusammenhängen, haben andere Probleme und das versuchte
ich ihnen ungelenk zu sagen. Ich habe vor kurzem Helmut Schmidt/Peer Steinbrück: „Zug um Zug“
gelesen und meine daraus gelernt zu haben, dass Peer Steinbrück zumindest befürchtet, dass all das was
zu der schweren Finanzkrise geführt hat, nach wie vor relevant ist. Ich bin da kein Fachmann. Können sie
mit der SZ, vielleicht auch mit ihren Freunden beim WDR, einen Preis ausschreiben, der denjenigen
Ökonom zum Sieger erklärt, der Schuldige benennt und einen fairen Prozess anfordert, damit der
Schlamassel sich nicht wiederholt?
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Hans Leyendecker: Die Macht, die Wut, die Medien – wo bleibt die Aufklärung?
Wie man das mit dem Preis macht, ich glaube in diesem Lande kommen die Leute dann immer
darauf, Hickel [Prof. Rudolf Hickel, Wirtschaftswissenschafter, die Red.] einen Preis zu geben. Das wäre
nicht sehr originell, fände ich, für die Finanzkrise. Die SZ ist auch nicht in der Lage und fühlt sich auch
nicht berufen, gemeinsam mit anderen einen Preis auszuschreiben.
Herr Leyendecker, sie haben angedeutet, dass es rein qualitativ um den investigativen
Journalismus in Deutschland ja nicht so toll bestellt ist. Können sie das noch ein wenig konkretisieren?
Welche Zeitungen oder Rundfunkanstalten sind überhaupt in der Lage, das auch angesichts der
Finanzierung und der Notlage der Presse das überhaupt zu realisieren?
Wie ist das mit den investigativen Sendern und Zeitungen? Es gibt Investigationsbüros und ressorts seit längerer Zeit. Bei Zeitungen ist es so, dass sich viele insgesamt als Investigationsteam
betrachten. Das ist ein Markenzeichen. Es gibt sowas bei Bild, bei der WAZ, bei der Zeit, bei der SZ und
Focus hatte mal eins, aber das Schicksal habe ich dann nicht mehr verfolgt. Das sind relativ kleine Trupps.
Bei den Sendern gibt es das beim SWR, MDR und NDR. Die haben eigentlich eine andere Situation, als
wir. Die öffentlich-rechtlichen bekommen acht Milliarden im Jahr. Und wie viel sie eigentlich für dieses
schmale Spektrum dann ausgeben, das ist nicht alles. Es ist auch nur eine Spielart. Und das ist relativ
bescheiden.
Das Problem, das alle Investigationsteams haben, um das Armutszeugnis nochmal mit
aufzunehmen: Es findet zu oft ein Wettbewerb um Nichts statt. Wenn sie sich mal die NSUBerichterstattung seit November angucken. Wie viele Fehlspuren drin waren. Angeblich waren die
Ermittler noch näher dran und sie waren immer weit weg. Die haben nie eine Ahnung gehabt, von dieser
Gruppe, die unterwegs war. Aber man dreht immer, um irgendwie in die Nachrichten zu kommen. Es gibt
eine völlig idiotische Einrichtung, eine Firma namens Mediacontrol. Die macht in diesem Lande die
Exklusivgeschichten. Dann ist Bild vorne, Spiegel vorne, SZ vorne. Ein völlig verrücktes System. Weil
Mediacontrol natürlich nicht sehen kann, ob die Geschichte richtig oder falsch ist. Oder ob sie schon mal
da war und nur neu angestrichen worden ist. Sie wird nur von anderen aufgenommen.
Wenn sie das Wochenende beachten: am Wochenende heißt es immer: „...weitet sich aus.“ Am
Wochenende weitet sich immer irgendein Quatsch aus, bis er am Montag wieder platzt. Diese
Luftballons, immer „weitet sich aus“. Da kriege ich Gänsehaut. Die Verlage und die Sender wollen
erwähnt werden. Das ist eigentlich für Leute, die veröffentlichen eine skurrile Situation. Man möchte
wahrgenommen werden, dass es einen gibt. Was ist das für ein komischer Wettstreit? Ich veröffentliche
ständig und die Menschen sollen sagen: „Es gibt ihn wirklich. Er ist keine Schattenexistenz. Er ist
wahrhaftig.“ Das führt zu Absonderlichkeiten der Chefredakteure von Zeitungen, die ihre armen
Redakteure einladen. Wenn diese eine Exklusiv-Geschichte haben, dann müssen die mit dem Chef
abends Essen gehen. Das kann eine große Strafe sein.
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Hans Leyendecker: Die Macht, die Wut, die Medien – wo bleibt die Aufklärung?
Mich interessiert bei dem Thema immer, wie sie überhaupt die Auswahl treffen. Wie sie an Tipps
kommen, dass sie einer Sache nachgehen. Bei Guttenberg war das offensichtlich, aber ist gibt ja auch
andere Dinge, zum Beispiel Vorgänge in Behörden, wo sie persönlich auch schon mal recherchiert haben.
Und da finde ich interessant: Wann greifen sie das auf, wie konkret müssen die Hinweise desjenigen sein,
die ihnen einen Hinweis geben, dass man da recherchieren sollte?
Das ist unterschiedlich in den Systemen, in den Investigativtrupps in den USA oder bei uns. Wir
haben in Behörden und in Firmen Informanten, mit denen wir ständig reden. Wir versuchen, unser Netz
auszubauen, um an wichtige Dinge ranzukommen und haben dann auch so ein Spezialistensystem. Ich
habe zeitweise, wenn ich viel über Proliferation gemacht habe, von Gaszentrifugen so viel verstanden,
dass ich mich mit den Menschen, die die herstellen, unterhalten konnte. Das war auch die Bedingung
dafür, dass man Material bekam. Es ist nichts schlimmer, als wenn Leute feststellen, dass der Journalist
sich nicht die Mühe macht. Oft hast du ein Halbwissen.
Oder wenn man über Kälbermast berichtet. Kälbermast war mal ein riesiges Thema hier in
diesem Lande. Es gab im Landwirtschaftsministerium NRW Leute, die brachten die Kälber alle um, wenn
sie mit Hormonen gespritzt waren. Das war ein wichtiges Thema, also musste man da auf dem
Laufenden sein und auch Akten dazu haben. Also macht man sich da zum Experten. Aber generell läuft es
so, dass wir ein Informanten-System haben und die Informanten ernähren uns hoffentlich.
Thema Whistleblower. Ich rate in der Regel Leuten ab, es Medien zu geben. Wenn sie sich mal
die Geschichte der Whistleblower angucken, sind viele von denen völlig unglücklich geworden. Ehen sind
kaputt gegangen, sie sind mit dem Ruhm nicht fertig geworden, die Medien haben sie fallen gelassen,
haben sie erst hochgehoben, wenn sie eine Fallhöhe nach unten hatten. Das ist ein ganz schwieriges
Thema. Wenn jemand zu mir kommt und sagt: „Ich habe einen ganzen wichtigen Vermerk, den haben
nur drei unterzeichnet.“ Dann sage ich ihm: „Sorgen sie dafür, dass er wieder ins Haus zurückkommt und
das 40 Leute unterzeichnen. Damit die Gefahr verringert wird.“
Gucken sie sich Manning [Bradley E. Manning, die Red.] an. Assange wäscht sich grade die Hände
und sagt er habe nichts damit zu tun, was der Manning gemacht hat. Keiner weiß doch, ob der unser
Informant war. Es hat zwischen denen eine Kommunikation gegeben, die feststellbar ist. Und dem zu
sagen: „Du riskierst dein Leben, wenn du das machst“, das ist unser Job. Zu fragen, ob die Person sich
klar ist über das, was auch passieren kann.
Sie haben ihren Vortrag mit der Wahrheit angefangen und versucht klar zu machen, dass die
Wahrheit viele Seiten hat und man sie differenziert betrachten muss. Aber mir kam es so vor, als ob sie
selbst bei einer Kritik der Bild-Zeitung oder einer Kritik der Arbeiter-Bild-Zeitung dazu nicht in der Lage
waren. Es erschien so, als wäre kein Attribut monströs genug, um die Bild-Zeitung und deren Arbeit zu
beschreiben. Können sie vielleicht Vermutungen anstellen, wie die moralische Rigorosität, die sie hervor
gebracht haben und auch die Differenzierung vor allem mit der Arbeit der Kollegen, die die Recherche im
Fall Wulff gemacht haben, wie man das miteinander vereinen kann und zu einer Kritik kommt, die
vielleicht nicht so, verzeihen sie mir, spießig und altlink rüberkommt?
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Hans Leyendecker: Die Macht, die Wut, die Medien – wo bleibt die Aufklärung?
Zu der Frage, ob ich spießig und alt-link bin, sage ich ja. Beides trifft zu. Ich habe sozusagen den
Enzensberger rausgeholt um zu sagen: Leute, diese Kritik war schon da und diese Kritik hat sich
eigentlich nicht geändert. Solange man kleine Leute fertig macht, solange man sie jagt und erniedrigt,
solange sie mit Prominenten so umgehen, interessiert es mich überhaupt. Wenn die Bild-Zeitung
aufrufen würde, man solle die Linke wählen, das interessiert mich alles nicht, wenn Leute erniedrigt und
erledigt werden. Das ist mein Kriterium, das zählt. Ob die Zeitung bei der Bild-Recherche nicht so
schlimm war, wie sie sonst ist. Ich will nur Kund tun, warum wir den Preis nicht angenommen haben.
Wenn sie jeden Tag diese Zeitung auswendig lernen, ist das OK. Für mich ist es ein Drecksblatt und ein
Lügenblatt und ich kaufe es nicht. Das habe ich von Klaus Staeck gelernt. Klaus hat immer gesagt, solche
Zeitungen kauft man nicht. Spießig und altlink ist korrekt.
Sie haben ja auch relativ ausführlich Kritik am Leser geäußert und dass er nur das bestätigt
bekommen möchte, was er schon denkt. Inwiefern glauben sie, dass sie sich bei ihrer Arbeit selbst davon
losmachen können? Da sie ja durch ihre Einstellung auch einer bestimmten Spur nachgehen und auf
andere Ideen wahrscheinlich gar nicht kommen?
Jeder hat irgendwas im Kopf und versucht, dem zu folgen. Davon muss man sich befreien. Wenn
man unterwegs merkt, dass führt zu was anderem. Das ist für Bundesjournalisten, für jemand der
Jahrgang 1949 ist, ist es nicht mehr das Problem zu sagen, da ist nichts dran. Die sagen dann: „Guck mal,
wie sorgfältig wir das machen.“ Wenn ein junger Mensch mit viel Zeit sowas gemacht hat, sagt man:
„Hast du dich denn verrannt? Haste denn falsch gesehen?“ Da muss man den jungen Leuten helfen,
dieses vortragen zu können.
Sie haben aus meiner Sicht ein relativ düsteres Bild des Internets und neuer Techniken gezeichnet.
Ich würde dahingehend gerne wissen, was sie dann von den datenjournalistischen Projekten ihrer jungen
Online-Kollegen aus anderen Redaktionen halten, weil sie einerseits sehr hoch gelobt wurden und weil sie
natürlich Möglichkeiten bieten, was Journalismus in Zukunft darstellen kann und weil es zusätzlich die
Möglichkeit bietet, große, vielleicht auch investigativ recherchierte Datensätze darzustellen?
Datenjournalismus ist in Amerika weit verbreitet und wird auch auf uns zukommen. Das wird
eine Revolution bringen. Sie können heute schon, wenn sie die Diskussionsgeschichten sehen, mit
Online-Daten-Journalismus enorm viel machen und ich glaube, dass in jede gute Investigationsgruppe
jemand gehört, der damit umgehen kann. Da können wir von den Amerikanern unheimlich viel lernen.
Die haben zwar ein anderes Zugangssystem, aber wird eine wesentliche Veränderung liegen.
Mich interessiert Ihre Meinung zu einem anderen Investigativjournalisten, der jüngst bei RTL
angefangen hat: Günter Wallraff. Und ob sie das auch schon als Kompromittierung dieses
Investigativjournalismus bezeichnen würden, sich auf ein Format von einem Sender zu verlegen, der jetzt
vielleicht nicht unbedingt mit der Bild-Zeitung so in einen Topf zu werfen ist, aber schon was die Seriosität
angeht in dieselbe Richtung geht?
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Hans Leyendecker: Die Macht, die Wut, die Medien – wo bleibt die Aufklärung?
Ich bewundere Wallraff zutiefst. Aber das sage ich, weil er kein Journalist ist. Das ist ein
Missverständnis. Ich glaube, dass Wallraff ein Literat ist. Dass er eine andere Herangehensweise hat. Ein
Journalist geht mit seinem Namen dahin. Mein Name ist Hans Leyendecker, wenn sie mit mir reden. Ich
kostümiere mich nur an Karneval. Aber die Muße, die Wallraff hat, wenn sie an Griechenland denken,
wenn sie an Portugal denken. Was er in diesen Ländern ausgelöst hat mit dem Türken Ali oder dieser
heroische Selbstversuch in Sachen Bild. Sich darauf einzulassen, nach Hannover zu gehen und dieses alles
zu ertragen. Und der hat das gemacht für uns. Und wir zehren immer noch davon.
Netzwerk Recherche, da haben sie doch auch mitgewirkt?
Netzwerk Recherche ist eine Vereinigung von hoffentlich recherchierenden Journalisten
gegründet, ich gehörte zu den Mitgründern. Ich war zweiter Vorsitzender, es gab einen Übervater, das
war Thomas Leif. Thomas Leif ist ein unheimlich fleißiger, erfindungsreicher, kundiger Mann, der Tag und
Nacht für dieses Netzwerk gearbeitet hat. Und da ist was passiert, was bei sozialen Organisationen
häufig passierte: Die Gründerväter nehmen es dann manchmal auch fast mit ins Grab. Es gab dann eine
Finanzkrise, in der wir noch stecken. Das Netzwerk Recherche das absolute Sauberkeit verkündete und
von jedermann in dieser Republik alles verlangte, war bei Zuschüssen unsauber, die es von der
Bundeszentrale für politische Bildung bekommen hatte.
Daraus ist dann eine große Affäre erwachsen und da hat sich eins gezeigt. Ich habe bei Weitem
nicht so viel für die Netzwerke getan wie er. Ich habe aber auch nach drei Jahren gesagt: Komm, lass es
jüngere Leute machen. Da sagte er: Sie wissen doch wie faul die sind und keiner macht was. Ich sagte:
Wenn die es nicht so machen, dann machen sie es anders, aber sie machen es. So läuft es auf dieser
Welt. Überall hast du die Friedhöfe mit den Leuten, die nicht mehr zu ersetzen sind. Und jetzt unter dem
Druck dieser Geschichte machen das ganz andere und die machen das wunderbar. Die machen das
anders und sie setzen andere Akzente. Das muss man schon sagen. Was ich auch gelernt habe, ich bin
früher mit Skandalen ganz anders umgegangen. Ich habe früher gedacht, Flick war unglaublich. Und ich
war verwundert, dass die Gesellschaft drüber hinweg ging. Aber heute weiß ich, wenn sie mir diese eine
Stunde geben dann kann ich das wenige, was ich habe, in ihre Ohren schreiben. Wenn ein junger Mann
rausgeht und sagt der alte Sack hat damals dieses eine gesagt: „Du musst im Journalismus begeistert
sein“ und er macht es, dann ist das doch toll. Dann hat es sich doch gelohnt. Die dritte Stelle hinterm
Komma, das hat auch was mit dem Älterwerden zu tun, dass du nicht mehr glaubst. Sondern dass du das
hohe Lied der dritten Stelle hinter dem Komma summen kannst. Das hat was.
Ich hätte auch eine Frage zu dem Thema Wahrheit. Nordkorea, Saddam Hussein, Scientology
oder neuerdings der Islam, der den Kommunismus abgelöst hat. Es gibt Dinge da kann man sagen das ist
Wahrheit. Ebenso im Positiven: Man könnte auch nicht sagen, tausend Menschen leiden unter der
Freiheit und das ist erwiesen. Nein es ist einfach ein Tabu. Mir ist ein altes Buch in die Hand gefallen, da
haben kleine Kinder mit ihren Eltern gespielt. Da dachte ich: „Das ginge heute gar nicht mehr. So etwas
Positives könnte man in dem Zusammenhang gar nicht mehr bringen.“ Da wollte ich fragen, wie kommt
das und wie sehen sie das?
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Hans Leyendecker: Die Macht, die Wut, die Medien – wo bleibt die Aufklärung?
Nordkorea und Saddam – nicht einfach. Es gibt die Freiheit als Kampfbegriff. Freiheit wird als
Kampfbegriff auch in den Dreck gezogen. Die Definition der Mächtigen, was jetzt Freiheit ist und was
Unfreiheit ist, ist ein Versuch, Dinge in ihrem Sinne zu beeinflussen. Das Positive, das bleibt. Erich
Kästner, immer wieder neu, wo bleibt das Positive? Ich denke, wir finden immer wieder Stellen, wo wir
es bringen. Bei unserer Truppe steht es nicht im Mittelpunkt, uns auf die Jagd nach dem Positiven zu
machen, sondern es ist mehr das andere.
Ich bin ein noch älterer englischer Journalist hier in Berlin und ich muss ehrlich sagen, ich war
völlig schockiert, als ich den Artikel vom 7. Januar [2011, die Red.], also den großen Gribkowsky [Gerhard
Gribkowsky, früherer Bayern-LB-Vorstand, die Red.] las. Das las sich für einen Ausländer, wie ein Artikel,
den man erst nach der Verurteilung eines Menschen lesen durfte. Dass es eigentlich Einflussnahme war.
Nun frage ich sie: Inwieweit basiert dieser Artikel auf dem Vermerk der Staatsanwältin also von diesen
Treffen, die sie mit Herrn Gribkowsky hatte, nachdem ihre Kollegen mit ihm gesprochen haben. Ich bin
ziemlich durcheinander, wie diese Geschichte zustande gekommen ist, weil ich da Widersprüche sehe, in
dem was sie dann präsentieren.
Das Folgende ist wirklich eine Fachfrage, ich weiß nicht, inwieweit ich sie damit traktieren kann.
Die beste investigative Geschichte, die ich selbst erlebt habe, war eine, die zwei Kollegen und ich dann
als Beifahrer gemacht haben. Das war die Geschichte über einen Menschen, der heißt Gribkowsky. Er
war bei der bayerischen Landesbank mal im Vorstand und gegen den lief ein Verfahren wegen ganz
allgemeiner Dinge. Der hatte in einer Vernehmung 2010 sein Vermögen mit 300.000 Euro angegeben.
Dann gab es den Wunsch der bayrischen Landesbank, dass man sich von Leuten, die die ins Unglück
gestürzt hatte, Geld holt und hohe Schadensersatzforderungen stellt. Nun hatten wir eine Recherche
begonnen, die hieß „Wer hat eigentlich wie viel?“
Eines Tages kam ein Kollege zu mir und sagte: „Da ist ein Gribkowsky, dessen Namen ich gar
nicht kannte, der hat ganz viel.“ Ich fragte: „Was heißt ganz viel?“ Er sagte: „Der hat ganz, ganz viel.“ Die
Recherche ging über September, Oktober und November, wir haben mit ihm telefoniert und er hat
immer Angaben gemacht, die so nicht stimmten. Wir haben ihm dann am 23. Dezember einen
Fragebogen geschickt. Dann hat er erst erklärt, er äußere sich dazu nicht und dann hat er erklärt, er
wolle der Redaktion aber alles klar machen. Da war uns klar: entweder kam das Geld von Strabag oder es
kam aus der Formel Eins, es war jedenfalls illegal. Dann hat er mit uns einen Termin gemacht und bevor
das Gespräch stattfand, ist er zur Staatsanwaltschaft gegangen und hat bei der Staatsanwaltschaft
eingelassen und gesagt, zum einen fühle er sich von der SZ verfolgt und zum anderen habe er eine ganz
einfache Erklärung für die 50 Millionen. Da hat ihn die Staatsanwältin gefragt: „Wieso 50 Millionen, sie
haben doch in der Vernehmung gesagt, sie hätten 300.000.“ Da sagte er: „Ja, das lässt sich alles leicht
erklären.“
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Hans Leyendecker: Die Macht, die Wut, die Medien – wo bleibt die Aufklärung?
Anfang Januar ist er festgenommen worden, sodass wir bei dieser Geschichte den Punkt hatten,
dass es diese Ermittlungen in der Sache gegen ihn nicht gegeben hat. Und es ist nicht unsere Aufgabe,
Leute vor den Kadi zu bringen. Es ist kein Triumph. Er hat neulich ein Geständnis abgegeben und hat
gesagt, dass die Vorwürfe alle zuträfen, die in der Anklage seien, die dann gemacht wurde. Nachdem wir
diese Geschichte gemacht haben, hat sich die Staatsanwaltschaft dran gesetzt, hat ermittelt und dann
eine Anklage vorgelegt. Wir haben das begleitet. Das was wir geschrieben hatten, sehr früh, hat sich
dann im Zuge dieses Geständnisses als richtig herausgestellt. Wenn man länger in diesem Beruf ist, hat
man rasende Verfolger, die einen begleiten.
Es gibt einen Herrn Fischler [Hersch Fischler, die Red.], der begleitet mich schon viele Jahre.
Immer wenn er irgendwo auftaucht, begehrt er Rederecht und ich muss ihn dann bitten, den Raum zu
verlassen, weil er eben Unfug redet. Und dieser Fischler hat neulich etwas ähnliches, was sie jetzt sagen,
an viele Leute geschickt mit völlig unwahren Geschichten. Ich bin dann gebeten worden, da Stellung zu
nehmen. Da habe ich gesagt, ich nehme nicht zu einem rasenden Verfolger Stellung. Warum soll ich?
Warum soll ich im Detail Unfug widerlegen? Das ist auch seine Sache, das kann er auch machen. Nur
meine Lehre nach all den Jahren ist, du kannst mit einem Amokläufer nicht um die Wette rennen, weil du
dann wegen Seitenstechen aufgeben musst. Der Amokläufer rennt und rennt und rennt. Der bleibt in
seiner Spur. Und das mehr, als Rooney [Wayne Rooney, die Red.] hatte bei der EM. Soweit Gribkowsky.
Ich würde gerne wissen, warum sie so vehement abgelehnt haben, was über türkische
organisierte Kriminalität zu machen, also organisierte Kriminalität. Warum haben sie das direkt
abgelehnt bei der Anfrage ihrer Redaktion damals?
Warum nicht türkische Organisierte Kriminalität? Weil ich keine Lust hatte, Migranten und
türkische Organisierte Kriminalität zu machen. Es gibt so viele Leute, die darüber schreiben und es
drängte mich nicht, in diese Welt zu tauchen, weil du in Wahrheit auch nichts erfahren kannst. Du bist
immer angewiesen auf Ermittler, die sagen, es sei so rum und so rum. Du hast ja als Journalist überhaupt
keine Möglichkeiten, dich in diese Welt zu begeben. Du kannst niemanden anlaufen, du kannst nicht
gegenhalten, du kannst Ermittlungsergebnisse nicht abfragen und möglicherweise zu einem anderen
Schluss kommen. Du bist darauf angewiesen, dass diejenigen, die in diesem Land Organisierte
Kriminalität als Ziele haben, im LKA und BKA [Landeskriminalamt und Bundeskriminalamt, die Red.], das
rausfinden.
Und warum sollte ich das machen? Im Nachhinein wird es also nicht zum Boomerang, weil ich
genau das im Kopf hatte, was die Organisierte Kriminalität-Leute im Kopf hatten. Klassische türkische
Organisierte Kriminalität. Da ist halt der Moment, wo man sagen muss, man hat versagt, weil man in
seinem Kopf schon so eingestellt war. Wenn sie sich die Migranten-Morde angucken: Dass da irgendwas
komisch war, konnte man eigentlich schon schlussfolgern, wenn immer wieder kleine Gewerbetreibende
erschossen werden. Und dazu gibt es einen ganz großen Zusammenhang an verschiedenen Orten. In
Mecklenburg erschossen, sie wurden in Hamburg erschossen und in Dortmund. Das da irgendwo eine
lenkende Hand sein sollte, das war eine komische Geschichte. Man hätte sie nicht recherchieren können.
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Hans Leyendecker: Die Macht, die Wut, die Medien – wo bleibt die Aufklärung?
Wenn heute die Kinder, zum Beispiel die Tochter des Blumenhändlers, der als Erster sterben
musste, oder die Tochter vom Kiosk-Besitzer aus Dortmund sagen, sie seien kriminalisiert worden: Man
sei zu ihnen gekommen und habe gefragt, warum sie nicht die Wahrheit sagen würden. Da kann ich nur
sagen, auch Journalisten müssen um Vergebung bitten. Das gilt natürlich auch ein Stückweit für die,
deren ureigenes Gebiet Neo-Nazis sind. Die haben auch nichts gemacht. Die haben eigentlich überall
Leere gehabt. Ich glaube, dass sie nichts mit Neo-Nazis gemacht haben, weil sie nicht mit Bild
vergleichbar sein wollten, die das Thema groß gefahren haben. Wo eine Andrea Röpke, die
Riesenverdienste hat, auch nicht geschrieben hat. Die haben auch nicht für einen Moment gesagt: „Kann
es nicht sein, dass wir hier nicht nur Feierabend-Terrorismus haben, sondern dass wir hier ein gezieltes
Kommando unterwegs haben. Niemand der drin war, hat sich diese Frage gestellt. Deshalb muss man
auch Medienleute und ich mir selbst auch Vorwürfe machen.
Der Bürger ist doch aber verunsichert, gerade wegen der türkischen Organisierte Kriminalität.
Paralleljustiz ist ja DAS Wort zurzeit.
Es ist eins der Wörter, das geprüft wird.
Zu dem Metier noch eine Nachfrage: Wenn es um Prozesse geht, über die sie berichten, bei denen
Geheimdienste und V-Leute eine Rolle spielen, kann ich mir vorstellen, dass besondere Anforderungen an
die Recherche-Methoden gestellt werden. Vor dem Hintergrund des Gebotes, dass alle Bürger,
einschließlich der Journalisten, sich aus allgemein zugänglichen Informationsquellen informieren dürfen.
Sobald Geheimdienste und die V-Leute im Spiel sind, haben sie keinen direkten Zugang zu diesen
Dokumenten – von denen auch, wie man in der Presse gelesen hat, über ganze Perioden Dokumente
vernichtet worden sind. Wenn diese Unsicherheit der Recherche besteht, dann frage ich mich, wie sie zu
der sicheren Aussage gekommen sind, dass es sich in dem NSU-Fall nicht um ein Staatsversagen handelt?
Obwohl die Verbindungen zwischen V-Leuten und Geheimdiensten sehr undurchsichtig sind und in
zweierlei Richtungen funktionieren. Die V-Leute sind zum Beispiel nicht nur Informationsgeber, sondern
sie können auch von den Geheimdiensten aus eingesetzt werden, um bestimmte Aktionen auszulösen.
Staatsversagen sage ich ja. Aber ein anderes Staatsversagen als dieses Staatsversagen meine ich:
Das Versagen der Ermittlungsbehörden, das Versagen des Verfassungsschutzes. Aus meiner Sicht liegt
das Versagen in diesem Falle, dass es Alleswerter gibt, die nicht alles werten. Dass es Verbindungen gibt
zwischen Nachrichtendiensten und LKAs, die in dem Fall nicht stattfinden. Dass es Zielfahnder gibt, die
nach einem Jahr aufhören. Ich sehe das große Versagen im Entstehen der Zelle bis 2001 – wenn sie sich
die Berichte angucken, die Tilo Brandt und andere braune Quellen gemacht haben. Und das hat Schäfer
[Gerhard Schäfer, die Red.] gemacht.
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Hans Leyendecker: Die Macht, die Wut, die Medien – wo bleibt die Aufklärung?
Schäfer ist ein ehemaliger Bundesrichter, der sich in heiklen Geschichten Sachen angeguckt hat.
Es gab eine Schäfer-Kommission. Der Schäfer ist zum Fazit gekommen, den Bericht kann man im Internet
nachlesen, dass es eine Fülle von Hinweisen der V-Leute gab. Dass es aber ein riesiges Versagen in den
einzelnen Behörden gab. Eine völlig rätselhafte Situation: Da ist ein Auswerter, der konnte bis ins Detail
sagen, wie man richtig auswertet. Und die Frage war: „Warum haben sie es in diesem Fall nicht
gemacht?“ Der hat dann eine Erklärung gehabt wie: „Haben wir nicht für so wichtig gehalten. Wir haben
gedacht, die sind weg.“
Da haben sie in diesem Falle das Problem. Insgesamt haben sie natürlich Recht, da wo
Nachrichtendienste eine Rolle spielen, ist es für einen Journalisten immer deutlich schwieriger. Das gilt
auch in anderen Bereichen. Die machen es undurchsichtiger. Nur: Schäfer hat darauf bestanden, dass er
die Klarnamen aller V-Leute erfuhr. Hat sich jede Biographie angeguckt und sein Fazit ist und da
orientiere ich mich schon an jemandem, den ich für integer halte und der sämtliches Material dann hat.
Und der sagt: „Es ist halt ein unglaubliches Versagen dieser Behörden.“
Zu viele Leute da...
Zu viele oder zu wenig – ich glaube, dass man diese kleinen Landesämter für Verfassungsschutz
nicht lassen darf, weil sie überfordert sind mit ihrem eigenen Betrieb. Dass wir eine Zusammenlegung
machen, das geht aus Gründen des Föderalismus nicht. Warum gibt es Radio Rhön und warum gibt es
Saarländischen Rundfunk, jeder hat da so seinen kleinen Hof, den er halten will. Aber in diesem Bereich
ist es ein richtiges Problem. Vielen Dank.
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