Der Vortrag zum Herunterladen - OSI-Club
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Der Vortrag zum Herunterladen - OSI-Club
Hans Leyendecker Ressortleiter „Investigative Recherche“, Süddeutsche Zeitung Die Macht, die Wut, die Medien – wo bleibt die Aufklärung? Vortrag im Otto Suhr-Institut der Freien Universität Berlin am 25. Juni 2012 Guten Abend. Nett, dass sie gekommen sind. Vielen Dank für die sehr freundliche Begrüßung. Ich möchte zu meinen biografischen Daten etwas hinzufügen, was für mich wichtig ist – eigentlich das einzige, was richtig wichtig ist. Ich bin 63 Jahre alt, habe fünf Kinder und acht Enkel und es ist meine erste Ehe. Dieses persönliche Glück ist am Ende das, was zählt. Ich bin Ressortleiter „Investigative Recherche“ bei der Süddeutschen Zeitung und der Grundüberzeugung, dass es in aller Regel bei uns gar keinen Investigativjournalismus gibt in Deutschland. Das muss man vermutlich erklären. Für den investigativen Journalismus gibt es besondere Merkmale. Dazu gehört etwa, dass eine Geschichte von besonderer gesellschaftlicher Bedeutung ist und dass der Sachverhalt zuvor unbekannt war. Wenn ein Reporter sich auf die Spuren eines Ermittlungsverfahrens macht, kann das guter Recherchejournalismus sein, investigativ ist das nicht. Die Intensität, mit der wir Geschichten machen unterscheidet sich völlig von der der amerikanischen Kollegen. Wir versuchen es hier und da zu machen, aber meist ist die Vokabel Investigationsteam hier in Deutschland oft nur eine Marketingmaßnahme. Es sind jetzt ganz viele Investigationsteams entstanden, ganz viele übern sich in der angeblichen Königsdisziplin und es dient oft nur dem Zweck, so zu tun, als ob. Nehmen sie es nicht so ernst, wenn sie es hören. Wer war zuerst? Das Huhn oder das Ei? Ein vernünftiger Mensch stellt solche Fragen nicht. Ein vernünftiger Mensch stellt solche Fragen höchstens, wenn er einen anderen vorführen will. Wenn er ihm sagen will, dass der andere doch nicht durchblickt. Es gab auch eine Zeit, da wurde die Frage, wer zuerst da war, das Huhn oder das Ei, sehr ernst genommen. In der Predigt von dem edlen Menschen des Meisters Eckehart, der im 14. Jahrhundert in Köln und Paris lehrte, wird die Frage nicht nur ernst genommen, sondern sogar beantwortet. Ich rezitiere einen Teil der Übersetzung: „Die Natur macht den Mann aus dem Kind und das Huhn aus dem Ei. Gott aber machte den Mann vor dem Kind und das Huhn vor dem Ei.“ Ich will sie nicht mit europäischer Mystik langweilen, sondern nur darauf hinweisen, dass es viele Wirklichkeiten geben kann. Meist, wenn sie Journalist sind, begegnet einem das Leben verschwommen, verschleiert, verzerrt, man tut aber so, als sehe man klar. Was ist Wahrheit, was ist Wirklichkeit? Diese Frage stellt sich immer wieder für Journalisten. Ringvorlesung „PresseFreiheit“ des OSI-Clubs, Verein der Freundinnen und Freunde des Otto-Suhr-Instituts e. V., Sommersemester 2013 Hans Leyendecker: Die Macht, die Wut, die Medien – wo bleibt die Aufklärung? „Die Macht, die Wut, die Medien – wo bleibt die Aufklärung?“ – das ist der Titel meines Vortrags. Was ist Aufklärung? Alte Lexika weisen darauf hin, dass der Begriff mit Klarheit und mit Klären zu tun hat. Aufklärung heißt demnach, eine Sache klar, hell oder verständlich machen. Manchmal meint das Wort auch klarlegen oder klarstellen. Kämpfen wir ausreichend gegen Vorurteile, gegen Autoritätsdenken, stellen wir die Dinge klar? Im 18. Jahrhundert war Aufklärung ein philosophischer Terminus. Vertreter der Aufklärung kämpften gegen Aberglaube, Vorurteile und die Verzerrung der Wirklichkeit. Ich will Sie nicht mit europäischer Mystik langweilen, sondern nur darauf hinweisen, dass es viele Wirklichkeiten geben kann. Meist begegnet uns das Leben aber nur verschwommen, verschleiert, verzerrt. Wir haben in den vergangenen Monaten Erstaunliches erlebt. Wir haben einen Präsidenten mit Fehlern erlebt, dessen größter Fehler es war, dass er augenscheinlich nichts lernte aus den Fehlern, die er gemacht hatte. Wir erlebten Medien, die keine Lager mehr kannten, sondern nur noch ein Ziel: Den Mann, der sich selbst demontiert hatte zu demaskieren. Der tiefe Fall des Christian Wulff zeigte vieles: Er demonstrierte beispielsweise, wie sich die Medienzyklen immer mehr beschleunigen. Oft gibt das Internet den Takt vor und rund um die Uhr wurden Wahrheiten, Spekulationen und Gerüchte unter die Leute gebracht. Die Fehler hatte der Bundespräsident a.D. gemacht. Medien spiegelten die Fehler wider und stellten dabei selbst Zerrspiegel auf. Und sie traten noch auf ihn als er schon am Boden war. Bild trat ganz besonders fest zu. Erstaunlicherweise hat das Boulevardblatt für seine Berichte in der Wulff-Affäre im Mai den Henri-Nannen-Preis in der Sparte „Investigation“ bekommen. Sie haben möglicherweise davon gehört, dass es bei der Preisverleihung einen, wie die Berichterstatter schrieben, Eklat gegeben habe, also ein aufsehenerregendes Ereignis. In dem Begriff „Eklat“ liegt schon das Problem, denn eigentlich ist etwas passiert, was ich für völlig normal halte. Das Investigations-Team der Süddeutschen Zeitung, dem ich angehöre, sollte in derselben Sparte wie Bild den Preis erhalten. Die Jury war bei einem Patt hängengeblieben Daraufhin verzichteten wir auf den Preis. Es gab für uns keine Alternative zu dieser Entscheidung. Keine Sekunde, ja, keine Zehntelsekunde, haben wir uns vorstellen können, den Preis mit Bild gemeinsam anzunehmen. Im Mittelpunkt aller Bild-Veröffentlichungen stecken Inszenierung und nicht aufklärerischer Journalismus. Warum wird eigentlich alles mit demselben Wort Journalismus bezeichnet? „Wahrhaftig, wenn die Tagespresse, wie andere Gewerbetreibende, verpflichtet wäre, ein Schild auszuhängen, so müsste darauf stehen: „Hier werden Menschen demoralisiert, in der kürzesten Zeit, im größten Maßstab, zum billigsten Preis“. Diesen Satz hat der Philosoph Sören Kierkegaard 1848 in sein Tagebuch geschrieben. Er hatte natürlich nicht die Bild-Zeitung vor Augen, sondern ein satirisches Wochenblättchen, das ihm Ärger gemacht hatte. Aber ist das Bild mit dem größten Maßstab zum billigsten Preis nicht doch eine vorweggenommene Beschreibung der Bild-Praktiken? Nötigung, journalistische Schutzgelderpressung gehören nach wie vor zu den Methoden dieses Massenblattes. 2 Hans Leyendecker: Die Macht, die Wut, die Medien – wo bleibt die Aufklärung? „Bild wird gelesen nicht obwohl, sondern weil das Blatt von nichts handelt, jeden Inhalt liquidiert, weder Vergangenheit noch Zukunft kennt, alle historischen moralischen, politischen Kategorien zertrümmert; nicht obwohl, sondern weil es droht, quatscht, ängstigt, schweinigelt, hetzt, leeres Stroh drischt, geifert, tröstet, manipuliert, verklärt, lügt, blödelt, vernichtet. Gerade dieser unveränderliche, alltägliche Terror verschafft dem Leser den paradoxen Genuss, den er mit jedem Süchtigen teilt, und der sich von der bewusst erlebten Erniedrigung, die mit ihm verbunden ist, gar nicht trennbar ist.“ An den manipulativen Techniken der Zeitung gebe es nichts zu entlarven. Das hat Hans Magnus Enzensberger vor fast dreißig Jahren in einem Aufsatz über den „Triumph der Bild-Zeitung oder Die Katastrophe der Pressefreiheit“ geschrieben. Jede Aufklärung über die BildZeitung sei vergeblich, weil es über sie nichts zu sagen gäbe, was nicht schon alle wüssten, hat Enzensberger, der alte Seher, hinzugefügt: „Das gilt nicht nur für diejenigen, die die Zeitung machen. Es gilt vor allem für Ihre Leser, deren Zynismus hinter dem der Macher nicht zurücksteht. Ihre selbstverschuldete Unmündigkeit erwartet keinen Befreier. Sie ist sich durchaus selbst bewusst. An diesem Schuldbewusstsein scheitert alle Aufklärung, weil es bereits aufgeklärt ist“. Vor vielen Jahren gab es in Hannover einen Kabarettisten, der sich „Denkspaßmacher“ nannte. Das war Dietrich Kittner und der hat mit Bild eine empirische Felduntersuchung gemacht. An zwanzig Zeitungskiosken im Bundesgebiet zwischen Kiel und Regensburg verlangte er „das Lügenblatt“. Und in allen zwanzig Fällen erhielt er kommentarlos die Bild-Zeitung. Wenn wir heute eine ähnliche Untersuchung machen würden, was würde dann passieren? Ich bin mir ziemlich sicher, dass der Begriff Lügenblatt auch heute am Kiosk reichen würde. Wie kann man dann auf den Gedanken kommen, dass wir, also meine Kollegen Nicolas Richter, Klaus Ott und ich, gemeinsam mit Bild einen wichtigen Preis annehmen würden? Mein Kollege Nicolas Richter hat seine Ablehnung neulich so begründet: „Im vergangenen Jahr hat der Schauspieler Ottfried Fischer in einem Interview von seinen Erlebnissen mit Bild erzählt. Als er einmal eine Affäre hatte, meldete sich ein Bild-Reporter bei ihm und sagte sinngemäß: Wir haben hier ein paar Fotos, die Sie mit einem Bikini-Mädchen zeigen. Wir haben das jetzt erst mal vom Markt genommen. Was machen wir denn jetzt? Fischer sagte, da mache man jetzt gar nichts, denn sonst sei seine Ehe kaputt. Der Reporter soll nach Fischers Erinnerung geantwortet haben: Das schreiben wir schon so, dass Ihre Frau nicht so einen großen Schreck bekommt. Die Bild gibt sich gerne nett. Wer es mit ihren Reportern zu tun bekommt, berichtet von höflichen, zuweilen sogar vorgeblich fürsorglichen Menschen. Ob man ein Exklusiv-Interview haben, oder gemeinsam eine schöne ‚home story‘ machen könne, heißt es dann ganz unschuldig. So ähnlich hat Bild auch bei Fischer angefragt. Ob er sich nicht zu einem Abenteuer mit Prostituierten äußern wolle, bei dem er betrogen worden war und das Bild öffentlich gemacht hatte. In diesem Zusammenhang wies der BildRedakteur laut Anklage der Staatsanwaltschaft München darauf hin, dass er einen Film aus der Unterwelt besitze, der Fischer mit den Prostituierten zeige. Fürsorge? Oder Nötigung? Oder eine Art journalistische Schutzgelderpressung? 3 Hans Leyendecker: Die Macht, die Wut, die Medien – wo bleibt die Aufklärung? Schutzgelderpresser drohen nie offen. Sie kommen mit einem Goldfisch ins chinesische Lokal und erkundigen sich beim Wirt, ob er nicht gegen viel Geld den Fisch haben möchte. Das Restaurant sei doch so schön und der Fisch freue sich auch. Ähnlich läuft es in manchen Niederungen des ‚PeopleJournalismus‘: Niemand droht offen, aber die Zwischentöne, Andeutungen oder guten Ratschläge werden von Prominenten immer wieder eindeutig verstanden – so, dass Gefahr im Verzug ist. Wenn Bild jemanden fallen lässt, dann fällt der oft sehr tief. Ich möchte nicht mit einem Blatt geehrt werden, das im Privatleben von Prominenten oder Halbprominenten wildert, das die Schwächen oder Fehltritte von Schauspielern und anderen Sternchen ausnutzt, um an sogenannte Exklusiv-Interviews zu gelangen. Es geht nicht darum, sich moralisch oder intellektuell über den Boulevard zu erheben, noch über alle Kollegen, die bei Bild arbeiten. Wir möchten uns aber von Recherchetechniken distanzieren, die zum Beispiel im Fall Fischer nach Strafprozessen in drei Instanzen noch immer unter dem Verdacht stehen, kriminell gewesen zu sein. Viele ähnliche Fälle soll es geben, aber sie erreichen die Justiz meist gar nicht. Fischer hat den Bild-Reporter vielleicht nur deswegen angezeigt, weil ihm die Huren-Artikelserie ohnehin schon seine Würde genommen hatte. Bild gibt sich immer nett, und neuerdings auch seriöser. Das nackte Mädchen ist von der ersten Seite verschwunden, Recherchen zu Afghanistan oder zum Bundespräsidenten wirken wie ein Bemühen, politisch ernst genommen zu werden. Manche behaupten jetzt, ein Journalistenpreis ermutige die Bild, auf diesem Weg voranzuschreiten. Sie übersehen, dass solche Preise kein Geschäftsmodell in Frage stellen, sondern es stärken. Das Geschäftsmodell der Bild ist es, mit Indiskretionen ohne jede gesellschaftliche Relevanz Geld zu verdienen. Auch mit Vorverurteilung, Häme, Bloßstellung. Zuweilen auch damit, dass Bild auf Leute eintritt, die schon am Boden liegen. Als das CIA-Entführungsopfer Khaled el-Masri Straftaten beging, nannte Bild ihn ‚irre‘ und einen ‚durchgeknallten Schläger‘. Das Landgericht Berlin hat Bild vorgeworfen, in der Redaktion suche man seinen wirtschaftlichen Vorteil bewusst darin, dass man die Persönlichkeitsrechte anderer verletze. Ähnliches steht in etlichen, stets folgenlosen Rügen durch den deutschen Presserat. Investigativer Journalismus kann weh tun, er kann Karrieren beenden, er kann Mächtige stürzen, er kann Manager ihr Vermögen kosten, kann sie sogar ins Gefängnis bringen. Aber er darf Menschen nie ihrer Ehre, ihre Würde berauben. Vorbildlich sind deswegen die Recherchen des britischen Kollegen Nick Davies, der im Guardian die hochgradig kriminelle Ausforschungs- und Bloßstellungsmaschinerie der Murdoch-Presse offengelegt hat. Davies hat den Henri-Nannen-Preis für Pressefreiheit verdient. Das ist eine tiefe, ganz persönliche Überzeugung. Eine ganz persönliche Entscheidung war es auch, den Recherche-Preis nicht zusammen mit Bild anzunehmen.“ So hat mein 25 Jahre jüngerer Kollege unsere Entscheidung begründet. Das Hamburger Publikum klatschte Beifall, als Davies erklärte, den wütenden Murdoch-Blättern gehe es nur um Rendite und Macht. Um was geht es dann dem Wüterich Bild – geht es Bild nicht um Macht, nicht um Rendite? 4 Hans Leyendecker: Die Macht, die Wut, die Medien – wo bleibt die Aufklärung? Die Auszeichnung der Bild-Zeitung war ein Ärgernis, ein Kulturbruch, ein Anschlag auf den journalistischen Anstand. Und es war eine Zustandsbeschreibung zugleich. Alles verwischt sich. Es gibt Moden, es gibt Wut – und die Wut hat viele Gesichter. Wut auf die Planer eines Bahnhofsumbaus. Wut auf Wulff. Wut auf die Journalisten. Wut auf die Politiker. Wut hat zwar meist einen Anlass, aber sie bedarf oft keiner Argumente. Sie ist bei dem Wütenden mit Empörung verbunden. Das Gefühl der Empörung fällt mit dem Gefühl des Rechthabens zusammen. Und das Ventil für diese Wut und die Empörung und all das Recht haben ist auch und vor allem das Netz. Jeder, der in der öffentlichen Diskussion steht, wird im Cyberspace noch einmal besonders niedergemacht in Online-Foren, auf Facebook, YouTube, Twitter. Es gibt immer mehr Menschen, die schreiben und publizieren. Doch für einige von ihnen gilt im Unterschied zum Journalisten: Ein Pferd ohne Reiter ist immer noch ein Pferd. Ein Reiter ohne Pferd ist nur noch ein Reiter. Es gibt den allgegenwärtigen Talk, durch den das Ungefähre in der Sprache zu- und die Trennschärfe abgenommen haben. Und daneben gibt es die Attacke, den immerwährenden Angriff auf irgendjemanden, auf irgendetwas. Anfang des Jahres ist das Wort „shitstorm“ zum Anglizismus des Jahres gewählt worden. Der Begriff, so die Jury, fülle „eine Lücke im deutschen Wortschatz, die sich durch Veränderungen in der öffentlichen Diskussionskultur aufgetan hat. Diese neue Art des Protests unterscheidet sich in Ausmaß und Art deutlich von allem, was man in früheren Zeiten als Reaktion auf eine Äußerung oder Handlung erwarten konnte.“ Shitstorm trifft die Lage: Wem die Scheiße um die Ohren fliegt, dem vergehen Hören und Sehen. Der verliert die Orientierung. Es gibt, vor allem im Internet, den Hass, die Wut, den Spott. Es gibt vor allem im Netz gossenhafte Wortprügeleien, die eine Schar meist anonymer Blogger mit Diskussion und Freiheit verwechselt. Das Internet hat längst seine Unschuld verloren. Dabei liegen die Anfänge gar nicht so weit zurück. Anfänge bewegen uns immer. Wenn wir Kinder bekommen, Enkelkinder oder gar Urenkel, ist das immer ein Ereignis. Den Zauber aller Anfänge hat eine meiner Töchter mal so formuliert, als es ihr Baby sah und sagte: Es hat so schöne, unabgelaufene Füße. Jeder Anfang hat die Zartheit und den Glanz des Unverdorbenen. Es ist eine Erinnerung und auch ein Versprechen. Eine Erinnerung an all die Anfänge, die hinter uns liegen und in Hoffnung begonnen wurden, ein Versprechen, dass es einmal einen Anfang geben wird, der nicht gleich überholt ist. Die Geschichte des Internets ist eine Geschichte von einem unverdorbenen Anfang, der sehr rasch seinen Glanz verlor. 5 Hans Leyendecker: Die Macht, die Wut, die Medien – wo bleibt die Aufklärung? Der klassische alte Skandal, der viele Jahre mein journalistisches Leben bestimmt hat, ging tatsächlich noch auf das altgriechische „scandalon“ zurück: Das Wort bedeutete ursprünglich das Stellhölzchen einer Tierfalle, welche zuklappt, wenn das Hölzchen berührt wird. Der Unglückliche saß dann in der Falle und wurde vom Publikum bestaunt. Das Opfer wurde so zum negativen Vor-Bild, zum „Unwunschbild”, wie der Philosoph Ernst Bloch einmal geschrieben hat. Voraussetzung für einen ordentlichen Skandal war es allerdings, dass es dem Skandalierer überhaupt gelang, ein Ereignis als Skandal zu definieren. „Was dem einen ein Skandal, ist dem anderen vielleicht eine ephemere Bagatelle, dem Dritten eine durchaus korrekte Handlungsweise und dem Vierten womöglich gar schon der Beifall heischende Nachweis besonderer Befähigungen”, befand der Soziologe Ronald Hitzler in den achtziger Jahren in einem vielbeachteten Aufsatz. War die Miles-und-More–Geschichte, die vor vielen Jahren Opfer im rot-grünen Lager forderte, eine Affäre oder nicht? Meist definieren Medien, was ein Skandal wird oder eine Bagatelle bleibt. Für den Boulevard beispielsweise kann jedes Verhalten, das nicht ganz der Norm entspricht, ein Skandal sein. Hinter der Fassade sind andere Fassaden. Nicht selten haben die Skandalierer eine Gemeinde, die ihnen gerne folgt. Oft will das Publikum durch die Entdeckung eines angeblich neuen Sachverhalts nur im eigenen Vor-Urteil bestätigt werden. Bei der Frage, Skandal oder kein Skandal, kommt auch auf den Zeitpunkt an, und natürlich: auf die Aura. Die römische Kaiserin Messalina kopulierte öffentlich im Wettstreit mit einer bekannten Kurtisane mit 25 Männern. Das hat ihrem Image so wenig geschadet, wie dem FC-BayernEhrenpräsidenten Franz Beckenbauer sein unehelich und noch dazu auf der Club-Weihnachtsfeier gezeugtes Kind. Die Frage, ob es Aura gibt, lässt sich an einer Messaliana und erst recht an einem Beckenbauer zweifelsfrei mit Ja beantworten. Voraussetzung für einen ordentlichen Skandal ist es, dass es ein Publikum gibt, das an den Skandal glaubt. So lebt ein Teil des Publikums gut mit der Legende, dass der frühere Kieler CDUMinisterpräsident Uwe Barschel in den achtziger Jahren mit den perfidesten Methoden seine Gegner ausschalten wollte. Er war für viele Leute, nur Täter, kein bisschen Opfer. Mitte der neunziger Jahre fand ein neuer Untersuchungsausschuss heraus, dass Barschel durchaus auch Täter, aber viel mehr noch Opfer der Machenschaften seines Medienreferenten war. Wer hat danach das eigene Bild von Waterkantgate korrigiert, wer wollte es überhaupt noch korrigieren? Die Fehlspur wird verdeckt, die Legende gewoben. Gern wird dann Heinrich Böll zitiert: „Es bleiben Nebel, es bleiben Unklarheiten, es bleibt Ungeklärtes, nicht wirklich gelichtet.” Das Klare muss unklar werden, damit man Recht behält, das eigentlich Unrecht ist. 6 Hans Leyendecker: Die Macht, die Wut, die Medien – wo bleibt die Aufklärung? Ein weiterer schwerer Fall war Jürgen W. Möllemann. Durch Verquickungen von Geschäften mit der Politik stand er seit zwei Jahrzehnten im Dauerverdacht korrupter Machenschaften. Aber außer Vermutungen gibt es keinen Beleg dafür, dass er auch in Waffengeschäfte verwickelt gewesen sein könnte. „Keine Anhaltspunkte” hatten die Ermittler. Warum beriefen sich dennoch Medien auf anonyme Ermittler, um den Eindruck zu erwecken, er habe mit Waffengeschäften das große Geld gemacht? Kam es bei Möllemann nicht mehr darauf an, ob etwas wahr ist oder unwahr? Dürfen wir den Toten, noch ein bisschen zumindest, jagen? Kommt doch nicht drauf an. Oder die Geschichte der Terrorvereinigung Nationalsozialistischer Untergrund: Im November vergangenen Jahres war klar geworden, dass eine braune Bande neun Migranten und eine Polizistin ermordet hatte, ohne dass Ermittler auch nur eine Ahnung hatten, wer hinter der Mordserie steckte. Die thüringische Polizei hatte die Täter laufen lassen und danach versagten Verfassungsschutz und Zielfahnder. Und die bis zu 160 Ermittler, die der Blutspur folgten, waren sich fast alle sicher, dass das Motiv ganz gewiss im Bereich der Organisierten Kriminalität zu suchen sei. Die Opfer und ihre Familien wurden kriminalisiert. Einige Zeitungen witterten eine braune Staatsaffäre. Sie gingen von einer Kumpanei des Staates mit den Mördern aus und streuten den Verdacht, dass Quellen des Verfassungsschutzes eng mit den Mördern zusammengearbeitet hätten. Nichts davon stimmte. Am saubersten hatten, wie sich später herausstellte, die vorgeblich unsauberen Quellen gearbeitet. Ihre Berichte waren leider nicht ordentlich ausgewertet und nicht an die richtigen Stellen weitergeleitet worden. Ein Desaster? Ja. Ein Staatsversagen? Ja. Aber doch ganz anders als es zunächst von Journalisten bedeutet worden war. Enthüllungsjournalismus muss mehr sein als die Auswertung von Ermittlungsakten oder das Verfassen von Kommentaren. Es braucht journalistische Aufklärer, die ergebnisoffen ans Werk gehen. Und die, wenn es denn angebracht ist, auch gegen ihre Vorurteile publizieren. Bei all diesen Geschichten und Geschichtchen, die mein berufliches Leben bestimmt haben, ging es zumeist um Konflikte über die Ausübung, Kontrolle und Legitimierung von Macht, es ging um Theaterdonner, Ehrenwörter, Korruption und die Legitimationsempfindlichkeit staatlicher Politik und wirtschaftlicher Macht. Es ging um Ansichtssachen, darum, wie Fakten zu Skandalen werden, aber es ging nie um Nichts. Einen neuen Einblick in eine neue Dimension der Skandale liefert übrigens das Buch von Hanne Detel und Bernhard Pörksen „Der entfesselte Skandal: Das Ende der Kontrolle im digitalen Zeitalter“. Ein wichtiger Punkt des Buches ist die These, dass sich in der Digitalen Welt ein neues Skandalschema entwickelt hat. Früher fand er in einer linearen Medienwelt statt. Heute habe er sich davon entkoppelt. Das Publikum werde zum Akteur, gesellschaftliche Fallhöhe sei kein Schlüsselkriterium mehr, auch sei die Frage der gesellschaftlichen Bedeutung nicht mehr ausschließlich entscheidend. 7 Hans Leyendecker: Die Macht, die Wut, die Medien – wo bleibt die Aufklärung? Jeder könne heute effektiv skandalisieren, wenn es ihm gelinge, durch Medien im Social Web auf den Multimedia-Plattformen Skandalierungsprozesse einzuleiten. Es gebe neue Opfer, darunter Ohnmächtige, komplett Unschuldige und bislang der Öffentlichkeit Unbekannte, die zum Objekt kollektiver Empörung und unerwünschter Aufmerksamkeitsexzesse werden könnten. Die Diagnose, dass gegen Ohnmächtige oder kleine Leute kein Skandal ausbreche, wie Johannes Gross noch vor fast einem halben Jahrhundert meinte, war nie richtig. Der Boulevard, die Gosse lässt sich beim Skandalieren selten davon abhalten, dass es um Ohnmächtige oder kleine Leute geht. Der Einbruch in die Privatsphäre auch der kleinen Leute ist Teil des Geschäfts. Aber es gibt neuerdings den Cybermob, der Menschen jagt und Menschenfleisch sucht. Die Autoren beschreiben, wie eine junge Frau in Washington, die von ihren Sex-Abenteuern in ihrer Arbeitswelt berichtet, zu einer öffentlichen Figur wird, deren Geschichte sich rasend im Netz ausbreitet. Da wird eine junge Frau, die Unsinn über ein Erdbeben und die Opfer des Erdbebens geredet hat, gejagt, gehetzt und von der Welle der Empörung erdrückt. Alte, längst vergessene Geschichten werden im Netz zu einer Waffe. Noch einmal: Wie ist das mit der Wahrheit. Lessing, der Demokrat, hat den Wahrheitsbegriff so formuliert. Er sagte: „Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist, oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtig Mühe, die er angewandet hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen.“ Lessing erklärte, wenn Gott ihm in der rechten Hand die volle Wahrheit anböte, in der linken aber das unablässige Streben nach Wahrheit mit allen Möglichkeiten des Irrtums, er würde die linke nehmen. Will der Leser, der Hörer, Zuschauer die Wahrheit? Der größte der Großen, Johann Wolfgang von Goethe, hat 1819 an Rochlitz einen Brief über die Unterschiede bei den Lesern geschrieben. Es gebe drei Arten von Lesern: eine, die ohne Urteil genießt, eine, die ohne zu genießen urteilt und eine die genießend urteilt und urteilend genießt. Diese reproduziere eigentlich ein Kunstwerk aufs Neue. Welcher Lesertyp sind Sie: Der ohne Urteil, der ohne Genuss oder der Genießende mit einem überlegten, kenntnisreichen Urteil? Akzeptieren Sie als Zuschauer, Leser. Hörer eigentlich den Zweifel oder wollen Sie als Leser nur in Ihrem Verdacht bestätigt werden? „Der schreibt, was ich immer schon gesagt habe; gute Frau, guter Mann.“ Meine Erfahrung nach rund vierzig Jahren im Journalismus ist einfach: Es ist nicht leicht, Leute zu finden, die etwas Neues zu sagen haben, es ist aber noch sehr viel schwieriger, Leute zu finden, die etwas Neues hören wollen. Ich will versuchen, das am Beispiel Leuna zu erklären. Angeblich hatte es bei der Privatisierung der Leuna-Werke durch den französischen Konzern Elf Aquitaine einen riesigen Korruptionsskandal gegeben, in den angeblich die CDU und der ehemalige Bundeskanzler Helmut Kohl verwickelt waren. Ein Genfer Generalstaatsanwalt und eine Pariser Richterin hatten der deutschen Justiz vorgeworfen, sie traue sich nicht gegen die Mächtigen ernsthaft zu ermitteln. Ich habe, ebenso wie andere Journalisten, über den Verdacht berichtet und, glücklicherweise, nicht zu dick aufgetragen. 8 Hans Leyendecker: Die Macht, die Wut, die Medien – wo bleibt die Aufklärung? Dann gab es die Gelegenheit, die Akten zu lesen, auf die sich die Richterin und der Strafverfolger bei ihren Vorwürfen gestützt hatten. Es zeigte sich rasch, dass es sich um ein Missverständnis handelte. Zwar hatten Christdemokraten Geld bekommen, aber es handelte sich um ehemalige Politiker, die zwar mal Minister oder Staatssekretärinnen gewesen waren, jedoch ihr Geld jetzt als Lobbyisten verdienten. Ich habe dann, als ich die Akten auswerten konnte, über diese Zusammenhänge berichtet und geschrieben, dass Leuna anders gewesen sei. Es habe sich offenbar um ein Kick-Back der französischen Manager von Elf Aquitaine gehandelt und auf keinen Fall um eine Fortsetzung der CDU-Affäre. Wie war das Echo der Leser, die doch so freundlich und aufmerksam die Entwicklungen der KohlAffäre verfolgt hatten? Sie schrieben mir Briefe, schickten Faxe und protestierten. Lange hätten sie geglaubt, ich sei ehrlich bemüht, die Wahrheit herauszufinden. Aber jetzt sei klar, dass ich gekauft, faul, dämlich und korrupt sei. Offenbar habe mich die CDU geschmiert, damit ich die Unwahrheit schriebe. Die kollektive Phantasie braucht immer neue Opfer, immer neue Täter und vor allem: klare Verhältnisse. Nur nicht zögern. Überall Übeltäter, Schufte und trockne Schleicher. Wer ist schuld? Immer ist doch irgendeiner schuld. Das kleine Wort ermöglicht das Rechthaben, die Empörung und die Empörung stiftet Ordnung, weil sie die Schuldigen benennt. Man braucht nicht mehr zu zweifeln, man weiß doch, wie es läuft. Es gab bei den Debatten um den Plagiator Guttenberg und um Wulff zeitweise eine Entfremdung zwischen Teilen des Publikums und Teilen der Medien. Die Redaktion einer bürgerlichen Zeitung wurde von Journalisten mit einem Leuchtturm ausgezeichnet, weil sie in der Sache Guttenberg Haltung bewiesen habe. Trotz der Proteste vieler bürgerlicher Leser, trotz Abbestellungen und trotz Beschimpfungen, war das Blatt dran geblieben. So soll Journalismus funktionieren. Vom „Mythos zum Logos“ heißt eine Formel, die vermutlich Wilhelm Nestle geprägt hat. Der Logos, meine Damen und Herren, gelangt nie dorthin, wo der Mythos von Anfang an schon war. Es gibt im Journalismus die Währung, die alle belohnt, die Aufmerksamkeit um jeden Preis schaffen wollen. Aufmerksamkeit ist die Leitwährung. Der oft skrupellose Zugriff auf das Potenzial der Aufmerksamkeit des Lesers, Hörers, Zuschauers ist ein Angriff auf die Freiheit der Presse. Die ganz großen Gefahren für den Journalismus entstehen dort, wo die Aufmerksamkeit die Relevanz auffrisst. Durch das Enthüllungsportal Wikileaks – erinnern Sie sich noch an den Namen? – wurde eine Diskussion ausgelöst, die sich vorzugsweise um Geheimnis und Macht, um die totale Transparenz, die grenzenlose Blogosphäre und das Internet überhaupt drehte. Die Debatte in den Medien fand im Zwielicht von Argwohn und Komplizenschaft, Glorifizierung und Verachtung, Furcht und völliger Überschätzung statt. Mitunter standen sich Internet-Fans und klassische Journalisten fast unversöhnlich gegenüber. „Mit unseren derzeitigen Aktionen bestimmen wir das Schicksal der internationalen Medien in den kommenden Jahren“, tönte Julian Assange, Mitbegründer und Sprecher von Wikileaks. Kleiner mag er es selten. Er gab sich nicht wie David, sondern wie der Goliath der neuen Zeit. Und Journalisten machten ihn dazu. 9 Hans Leyendecker: Die Macht, die Wut, die Medien – wo bleibt die Aufklärung? Er war ein moderner Robin Hood für die Jungen. Nahezu einhellig stand die Netzgemeinde bei Facebook oder in den Kommentaren der Zeitungsportale auf Seiten von Assange. Eine Lagerbildung hatte stattgefunden hat. Hier die Älteren, auch die älteren Journalisten, die den radikalen Ruf nach Offenheit skeptisch sehen. Dort die Jungen, die sich über die Wikileaks-Verfolgung ähnlich empörten wie die Alten damals, 1962, über die Spiegel- Affäre. Die Kritik vieler Journalisten an Wikileaks wurde von ihnen nicht als das wahrgenommen, was sie sein sollte: Ein Appell, handwerkliche Tugenden wie das Einordnen und die Gewichtung von Informationen in die digitale Welt hinüberzuretten. Für sie kam die Kritik an Wikileaks einem Generalangriff auf das Netz und seine offene Kultur gleich – auf das, was heute auch Pressefreiheit ist. Die Möglichkeit, eine Menge von Daten auf eine kleine Silberscheibe zu transformieren, hatte ohnehin schon vor Assange den Enthüllungsjournalismus verändert. Noch in den achtziger Jahren wäre es unvorstellbar gewesen, dass ein untreuer Angestellter oder ein ehrlicher Informant die kompletten Aufzeichnungen Hunderter schwerreicher Steuerhinterzieher an Medien lancieren konnte. Das Kopieren aller Unterlagen eines Liechtensteiner Treuhänders hätte jede Quelle überfordert. Heute reicht das Laden eines einzigen Memory-Sticks für die Beschaffung Tausender Dokumente. Durch die Wucht der überlieferten Berichte werden Staatsdebatten ausgelöst. Nur nebenbei: Ob eine Quelle uneigennützig dem Guten zum Durchbruch verhelfen möchte oder aus niederen Motiven sprudelt, ist für den Enthüllungsjournalismus meist unerheblich. Spätestens seit dem 1714 erschienenen Werk „Die Bienenfabel oder Private Laster, öffentliche Vorteile“ des niederländischen Sozialtheoretikers Bernard Mandeville, gilt die Theorie, dass auch Handlungen aus verwerflichen Motiven für das Gemeinwohl förderlich sein können. Diese Feststellung galt auch für Julian Assange, den die einen für einen Helden der Wahrheit und die anderen für einen geltungssüchtigen Egozentriker hielten. Das Gute im Bösen und das Böse im Guten liegen auch im Journalismus dicht beieinander. Immer häufiger werden Redaktionen umfangreiche Datensammlungen angeboten, die dann mit sogenannten Hit-Wörtern nach Namen, Orten und Begebenheiten durchsucht werden können. Auch arbeiten mittlerweile in einigen großen Blättern professionelle Internet-Rechercheure, die jenseits von Google Interessantes im Netz fischen. Wenn sie dann noch über spezielle Sprachkenntnisse wie Arabisch verfügen, können sie beispielsweise frühzeitig die Webseiten der Dschihadisten analysieren. Diese Journalisten sind manchmal fixer als die Nachrichtendienste. Es gibt auch Mischformen zwischen der Vermittlung von Material durch Internet-Plattformen und der Arbeit klassischer Medien. Die Umweltorganisation Greenpeace Deutschland etwa verfügt über ein Recherche-Team, das spezielle Erkenntnisse ins Netz stellt. Das kann ein von einem Anonymus gelieferter dicker Bericht über die Lobbyarbeit einer Unternehmensberatung für Politik- und Krisenmanagement von sein, oder es kann sich um Tausende Blatt der „Akte Gorleben“ handeln. 10 Hans Leyendecker: Die Macht, die Wut, die Medien – wo bleibt die Aufklärung? Manfred Redelfs, Leiter des Recherche-Teams bei Greenpeace hält es für die Aufgabe einer solchen Truppe, „das Material einzuordnen und auch auf Authentizität zu prüfen.“ Wichtig sei das „Gesamtbild“. Bei Wikileaks habe man es mit einer Art „Zwischeninstanz“ zu tun, hat Redelfs gesagt. Angeblich geht es immer um Aufklärung, aber zu oft geht es um eine Mission. Angeblich gehen Journalisten ergebnisoffen an ihre Arbeit. Aber oft steht das Ergebnis schon fest, bevor die Recherchen beginnen. Angeblich haben Journalisten mindestens zwei Quellen. Aber oft haben sie nicht mal eine, das Internet ausgenommen. „Wie haben Sie eigentlich früher recherchiert, als es Google noch nicht gab?“ Diese Frage hat mir neulich eine junge Redakteurin gestellt. Nach einer Studie einer Kommunikationswissenschaftlerin, die Beiträge aus Zeitungen und Hörfunk und von Nachrichtenagenturen nach der Quellenlage prüfte, gab es in 85 Prozent aller Fälle als Basis für eine Geschichte nur eine Quelle. Und das waren in der Regel Informationen aus einer Pressekonferenz oder PR-Mitteilungen, die ungeprüft verarbeitet worden waren. Einer anderen Untersuchung zufolge recherchiert ein Viertel der deutschen Journalisten am Tag nicht mehr als eine Stunde. Die ökonomische Krise der Verlage hat die Lage nicht verbessert. Nach Auskunft des Handbuches „Journalismus und Medien“ ist journalistische Recherche ein professionelles Verfahren, mit dem Aussagen über Vorgänge, beschafft, geprüft und beurteilt werden. Die Recherche setzt eine aktive Rolle des Journalisten voraus. Die Entgegennahme und redaktionelle Bearbeitung von Texten fällt nicht unter Recherche. Wutjournalismus auch nicht. Den eigenen Ergebnissen misstrauen, Fakten bewerten, jede Quelle mehrmals auf ihre Glaubwürdigkeit prüfen. Das gehört zum Recherchejournalismus: „If your mother says, she loves you, check it out“, verlangte der Lokalchef einer Tageszeitung in Chicago von seinen Mitarbeitern. Er hatte den Spruch auf seinem Schreibtisch. Die vierte Gewalt, meine Damen und Herren, sollte bei ihrer Arbeit ergebnisoffen sein. Die so genannte vierte Gewalt wird von vielen, die Macht haben, als lästig empfunden. Wir Journalisten, die Unruhestifter vom Dienst sein sollten, werden gern zum Teufel gewünscht. Das ist in Ordnung. Nicht in Ordnung ist, dass dieselben Politiker, die sich über die Medien bis zur Weißglut erzürnen, an Medien wieder ranschmeißen. Rudolf Augstein, der Gründer des Spiegel, erzählte gern die Geschichte vom ungarischen Schuster, der einst in einem kleinen Dorf sein Einmonatsblättchen redigierte und glücklich vor sich hinmurmelte: „Was wird der Zar sich am Montag ärgern.“ Journalisten, meine Damen und Herren, haben nicht das Mandat, Wahlen zu gewinnen oder Parteien zu promovieren. Ein Journalist gerät auf die Verliererstraße, wenn er versucht, Minister und Kanzler zu machen, Große und Kleine Koalitionen zu begünstigen; kurz, wenn er der Versuchung erliegt, Politik treiben zu wollen. Unternimmt er es dagegen, Einsichten zum Durchbruch zu verhelfen und zu sagen, was ist, dann ist er mächtig. Für einen kurzen Augenblick. 11 Hans Leyendecker: Die Macht, die Wut, die Medien – wo bleibt die Aufklärung? Lassen Sie uns kurz über Pressefreiheit reden. Die Pressefreiheit und ihre Schwester, die Rundfunkfreiheit, sind, was für eine Freiheit nicht ungewöhnlich ist, der einzige unverrückbare Rahmen, in dem der Journalist agiert. Die Pressefreiheit ist eine eigenständige funktionsbezogene Freiheit, die sich auf die publizistische Vermittlungstätigkeit bezieht. Sie ist „nicht im Interesse der Grundrechtsträger gewährleistet, sondern im Interesse der Rezipienten“, hat der frühere Richter des Bundesverfassungsgerichts, Dieter Grimm, erklärt. Medien erbringen also eine Leistung, derentwegen sie Freiheit genießen. Diese Leistung besteht, grob gesprochen, darin, eine Art von Öffentlichkeit herzustellen, ohne die eine demokratisch verfasste Gesellschaft nicht auskommt. Medien halten auf vielen Wegen den Informationsfluss und den Meinungsaustausch innerhalb des Publikums und zwischen Regierenden und Regierten aufrecht. Am Rande des Weges lauern Beeinträchtigungen und Gefährdungen. Sie entstehen daraus, wie der Journalist seinem Beruf nachgeht und sie entsteht aus den Bedingungen, unter denen Journalisten ihre Arbeit tun. Wenn Politiker über Journalisten sprechen, neigen sie meist zu eindeutigen Urteilen. Selbst vom ehemaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt, der in jungen Jahren mal Journalist werden wollte und im Alter dann Herausgeber der Zeit wurde, stammen die Etiketten „Wegelagerer“ und „Indiskretins“. Bismarck nannte Journalisten Leute, die ihren Beruf verfehlt hätten. Und der amerikanische Politiker Adlai Stevenston definierte, ein Journalist sei „jemand, der die Spreu vom Weizen sondert und die Spreu druckt.“ Der Informationshunger der Medien wird oft in die verdeckte Planung einbezogen. Man kann den Hunger mit gezielten Nachrichten füttern, kann deren Wirkung kalkulieren und timen. Es ist ein Märchen, zu behaupten, in Deutschland habe knallharter Recherchejournalismus Konjunktur, hier setze eine Armada aufklärungswütiger Medien Marlowes den Wirtschaftsführern und Politikern zu, wenn das notwendig ist, ein Irrtum. Noch immer und trotz Wulff holen sich die Machtinhaber beim Umgang mit Journalisten „eher Knutschflecken als blaue Flecken“, wie Siegfried Weischenberg mal festgestellt hat. Die Lage des Journalismus, meine Damen und Herren, ist ziemlich unübersichtlich. Zum einen war Journalismus weltweit noch nie so zugänglich wie heute. Es ist doch ein Erlebnis und ein Privileg zugleich, im Internet morgens die „New York Times“ vom selben Tag lesen zu können. Noch nie hatten Journalisten ein größeres Publikum als nach der digitalen Revolution. Auch war selten das Bedürfnis nach einem wirklich aufklärenden Journalismus größer als heute. Noch nie war die Konkurrenz so groß und noch nie war der Mainstream so stark. Die wirklich große Gefahr für den Journalismus geht nicht von durchgeknallten Staatsbeamten oder Vorratsdatenspeicherung oder Onlinedurchsuchungen aus, sondern von der Bedrohung der Pressefreiheit durch Abläufe im Innern der Verlage und Redaktionen. 12 Hans Leyendecker: Die Macht, die Wut, die Medien – wo bleibt die Aufklärung? Die wirklich große Gefahr für den Journalismus geht vom Journalismus aus, von den Medien selbst, von einem Journalismus, der den Journalismus und seine Kernaufgaben vernachlässigt, der Larifari an die Stelle von Haltung setzt. Es gibt den Zerfall einer Berufskultur, die von den Zynikern Realismus genannt wird. Die Gefahr geht von Verlegern aus, die den Journalismus aus echten vermeintlichen Sparzwängen kaputt machen. Sie geht von Medienunternehmen aus, die den Journalismus auf den Altar des Anzeigen-und Werbemarktes legen. Aber es gibt auch Gegenläufiges. Bei einem Seminar mit dem schönen Titel „Watergate in Wuppertal“, das sich vor allem an freie – und Teilzeit-Journalisten richtete, erklärten etliche Kollegen, sie würden finanzielle Einbußen in Kauf nehmen, wenn sie einmal tiefer in ein Thema eindringen könnten. Ein Vertreter derjenigen, die am Ende der Nahrungskette sind, erklärte: „Auch das nehme ich noch in Kauf, wenn ich meine Geschichte ordentlich machen kann und vielleicht sogar Wirkung erzeugen kann.“ Vor diesen Kollegen verbeuge ich mich. Wirken zu können kann ein unerhörter Spaß sein – vor allem, wenn Wirkung erzeugt wird. Ich will bei dem Begriff „Wirken“ auf den Mann zurückkommen, zu dessen Hauptbegriffen dieses Wort gehörte. Auf Goethe, den Bewundernswerten. Wenn es eine Sünde für ihn gab, der doch die Kategorie Sünde eigentlich nicht ausstehen konnte, war es Faulheit, besonders schlimm war für ihn die apathische Faulheit. Insbesondere seit er Spinoza begegnet war, war für Goethe das Tätigsein weit mehr als die bürgerliche Tugend des Fleißes. Journalismus ist Passion, ist Leidenschaft – Leidenschaft für das Wort, für die Sache. Goethe war zornig, als er im Stammbuch seines kleinen Enkels Walther auf eine Klage Jean Pauls stieß: „Der Mensch hat hier dritthalb Minuten: eine zu lächeln, eine zu seufzen und eine halbe zu lieben, denn mitten in dieser Minute stirbt er. Lächeln, seufzen sterben.“ Goethe schrieb auf, was er von jeder Minute im menschlichen Leben hielt: „Ihrer sechzig hat die Stunde, über tausend hat der Tag. Söhnchen! Werde dir die Kunde, was man alles leisten mag.“ Das war ein Bekenntnis gegen den Weltschmerz, gegen die Schwermut, welche manchen Schreiberling im 19. Jahrhundert immer neu in Versuchung führte. Ihrer sechzig hat die Stunde, über tausend hat der Tag – das wäre auch ein Spruch für die Redaktionsstuben. Auch bei den Verlegern gibt es sehr unterschiedliche Typen: Die Fleißigen, die Neugierigen, die Tüchtigen – und es gibt auch die anderen. Es gab mal einen wunderbaren, wirklichen Verleger, der von einem Kinounternehmer angemacht wurde. Der Kinounternehmer ärgerte sich fürchterlich darüber, dass ein junger Journalist häufig kritisch über die gezeigten Filme berichtete. Und dann kam eines Tages dieser Kinomann zu dem Verleger und sagte: „Ich setze jetzt die Anzeigen bei Ihnen aus. Ihr Journalist hat mich zu sehr geärgert“. Dann kam er nach sechs Wochen wieder, weil die Kinosäle fast leer waren und sagte: „Jetzt bin ich wieder so weit!“ Und dann sagte unser Verleger den schönen Satz: „Ich aber noch nicht.“ 13 Hans Leyendecker: Die Macht, die Wut, die Medien – wo bleibt die Aufklärung? Manchmal sehnt man sich als Journalist nach diesem Verleger zurück, der vermutlich auch schwierig war. Aber für den hatte das Verlegen etwas mit Liebe zu tun. Die Verbindung zu dem, was er machte, war ein Liebesverhältnis. Heute habe ich manchmal den Eindruck, dass sich Journalisten bei der Suche nach Lösungen intensiver und sachkundiger mit Geldfragen beschäftigen als manche Verlagsleute. Journalisten sollten unabhängig und nur der Wahrheit verpflichtet sein. Das ist eine der wesentlichen Grundlagen des Berufes. Aber manches, was wir tun, hat wenig mit Wahrheit und zu wenig mit der Wirklichkeit zu tun. Es gibt den oft beklagten Mainstream-Journalismus und gleichzeitig gibt es einen Wettbewerb um Schlagzeilen und vorgeblich atemraubende Enthüllungen. Wir leben in einer permanenten Gegenwart – ohne Vergangenheit, ohne Zukunft. Ständig wird eine neue Sau durchs Dorf getrieben. Es sind ganze Herden von Schweinen unterwegs und es werden immer mehr. Angestrebt wird das frühzeitige Besetzen von Themen, das Anzetteln von Aufregungskommunikation, die dafür sorgt, dass das eigene Blatt, der eigene Sender von anderen Blättern, von anderen Sendern erwähnt wird. Es ist eine der Verrücktheiten unserer Tage ist es, dass wir manchmal die Nachricht für die Agentur schon schreiben, bevor wir den Text für Online oder Print geschrieben haben. „Die Kolportage ersetzt die Reportage und Exclusivitis und Sensationshascherei prägen das Tagesgeschäft“, hat Johannes Rau mal gesagt. Man kann auch mit wenig auffallen. Inszenierungen nehmen zu. Wir Journalisten laufen allzu oft den großen Events hinterher, aber es werden zu wenige Prozesse abgebildet. Der wirtschaftliche Druck, unter dem die Verlage, ganz anders übrigens als das öffentlich-rechtliche Fernsehen, heute stehen, hat viele Folgen. Ich will Ihnen die Entwicklung anhand von zwei exotischen Beispielen erläutern: Beispiel 1: Im kalifornischen Pasadena gibt es einen ebenso sparsamen wie erfindungsreichen Verleger. Weil die Sitzungen des Stadtrats von Pasadena im Internet direkt übertragen werden, schickt er nicht einen Mitarbeiter ins Rathaus, denn davon hat er keinen mehr, sondern beauftragt einen Journalisten in Indien, über die Sitzungen zu berichten. Der sieht sich die Sitzungen im Internet an und schreibt auf, was er hört und sieht. Das ist preisgünstiger und kostengünstiger als der kostengünstigste Journalist in Kalifornien. Beispiel 2: Baseball ist, wie Sie vielleicht wissen, ein Spiel mit viel Statistik. Neulich kam ein Tüftler auf die Idee, mit den Statistiken einen Computer zu speisen, der dann einen Spielbericht fertigte. Der Tüftler mit dem Computer ließ unabhängig davon Spielberichte von richtigen Journalisten schreiben und präsentierte die Arbeit einer Jury. Die konnte nicht herausfinden, welcher Text vom Computer stammte und welcher Text Werkstück eines Journalisten war. Im Finanzjournalismus stützt sich eine Institution wie Forbes auf eine Firma mit dem Namen „Narrative Science“, die Daten in Texte verwandelt. Eins der Programme von „Narrative Science“ kann Artikel verfassen, wie sich der amerikanische Wahlkampf in sozialen Netzwerken abspielt. Zehn Dollar für 3.000 Zeichen. Der Roboterjournalismus kann Texte in kürzester Zeit produzieren. 14 Hans Leyendecker: Die Macht, die Wut, die Medien – wo bleibt die Aufklärung? Was sagen uns diese Beispiele? Diese Beispiele sagen: Wenn wir die Computer und alles andere überstehen wollen, müssen wir Dinge abliefern, die ein Computer nicht machen kann. Wir müssen anders schreiben, andere strukturelle Zusammenhänge zeigen, die man so einfach nicht findet anderswo. Computer haben keine Haltung. Journalisten können Haltung haben. Das Wort, auch das ist wahr, ist ein wenig aus der Mode gekommen. Haltung meint, für etwas einstehen, sich nicht verbiegen lassen; nicht von kurzfristigen Moden, nicht von der Sucht nach Anerkennung. Journalismus hat eine Aufgabe, die über das Geldverdienen hinausgeht. Haltung gibt also Halt, Autorität kommt von Autor und Qualität kommt von Qual: „Qualität kommt von Qual.“ Der Satz steht über dem Eingang der Hamburger Henri-Nannen-Schule. Er gilt nicht nur für Journalistenschüler. Dieser Satz verlangt von Journalisten, dass sie keine Wut-Journalisten sind, dass sie sich quälen, das Beste leisten und er verlangt von den Verlegern, dass sie die Journalisten in die Lage versetzen, das Beste leisten zu können. 15 Hans Leyendecker: Die Macht, die Wut, die Medien – wo bleibt die Aufklärung? Diskussion Sie sprachen das Pörksen-Buch „Der entfesselte Skandal“ an. Da ist es doch aber meines Erachtens so: Das sind Beispiele drin, die ja mehr so aus Asien, China und Amerika kommen und auch gar nicht so richtig mit unserem Deutschland zu tun haben. Und auch das Beispiel, das sie ansprachen mit dieser Frau, die ihr Liebesleben ausbreitete. Das hat sie ja dann auch erst mal von sich preisgegeben. Es kam von ihr selber und dann muss sie sich ja nicht wundern, dass es doch durchsickert, oder? Da habe ich eine völlig andere Auffassung. Es kann jemand von sich etwas preisgeben, aber das gibt niemandem die Berechtigung jemanden zu jagen. Das ist keine Jagdgesellschaft hier. Gerade dieses Beispiel ist ein bisschen heikel, würde ich sagen. Da können wir aber später weiter drüber reden. Nein. Das ist ein wichtiger Punkt. Es sagt jemand etwas Dummes im Internet, wem gibt das die Berechtigung, die Frau zu erledigen? Ich fand es ja ganz gut, dass sie auch den Vormärz 1848 genannt haben. Da fällt mir das bekannte Zitat ein, das nicht nur die persönliche Verantwortung des Journalisten trifft, sondern auch das Strukturelle. Das Zitat heißt: „Nicht Pressfreiheit, sondern Fressfreiheit.“ (Karl Marx) Wenn das „Fressfreiheit“ nicht nur vulgär meint, sondern im Sinne von Brecht, „erst kommt das Fressen, dann die Moral“, das heißt, erst die materielle Substanz einer Gesellschaft. Das meint also den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang. Das wurde mir zu wenig beleuchtet, wie diese Dialektik da funktioniert. Das wäre die eine Frage. Die andere Frage wäre bezogen auf das zukünftige, andere Medienverständnis. Es hat hier immerhin eine breitere Bewegung alternativer Medienarbeiter gegeben. Wie sehen sie heute die Chancen, dass im Sinne der Traditionen aus den 1920er Jahren, Brecht, Benjamin, ein anderes Verständnis von Rezipient und Sender geherrscht hat. Wie kann man daran anknüpfen und wie kann man das ein stückweit ausbauen? Man darf nicht glauben, dass man ein Massenmedium schafft. Es gibt in Baden-Württemberg in der Nähe von Stuttgart den Versuch, eine alternative Zeitung zu machen. Die wird von der taz unterstützt. Freudenreich, ein großer Reporter im Südwesten, hat dieses Projekt auf den Weg gebracht. Es gibt ein paar bürgerliche Leute, die das mitfinanzieren. Aber: Sie haben nur 1.200 Auflage. Das ist so. In Basel gibt es auch einen interessanten Versuch. Basel ist eine interessante Pressestadt und da gibt es reiche Basler, die sich zum Ziel gesetzt haben, eine Zeitung zu bringen, die nicht unbedingt von der SVP (Schweizerische Volkspartei) gemacht wird. Da gehen dann andere Inhalte rein. Wir haben sie doch bei ProPublica [Non-Profit-Newsdesk für investigativen Journalismus, die Red.] in den USA. Wo reiche Leute wirklich Geld in die Hand nehmen und sagen: „Wir ermöglichen hier Journalisten Arbeit, wie es normalerweise Redaktionen nicht mehr können.“ ProPublica kann Arbeiten machen, die die New York Times nicht mehr schafft, weil sie dafür keinen Etat mehr hat. 16 Hans Leyendecker: Die Macht, die Wut, die Medien – wo bleibt die Aufklärung? Dafür brauchen sie aber auch Leute, die mit Stiftungen anders umgehen, als sie es bei uns tun. Das ist ein anderes Thema, wie wir in diesem Lande auch mit Stiftern umgegangen sind und welches Verhältnis wir da auch steuerlich immer hatten. Ich empfehle ihnen wirklich: Zu 1848 gibt es eine wunderbare Reihe bei den Marbachern [Marbacher Magazine, die Red.]. Die Marbacher haben eine Reihe aufgelegt der großen Journalisten von 1848. Von denen, die allerdings völlig andere Bedingungen hatten als wir, kann man lernen. Gucken sie sich den Streit an, den Börne [Ludwig Börne, die Red.] mit Heine [Heinrich Heine, die Red.] immer hatte, über die Frage, ob Heine nicht in Wirklichkeit immer vor der Wahrheit sich drückt und nur modisch sein möchte. Es waren völlig andere Zeiten. Wenn sie sie sich unsere Hetze angucken, die Bedingungen unter denen wir heute versuchen, dieses zu machen, indem wir uns manchmal unterwerfen und manchmal entziehen, sind sie so anders. Dennoch einigt man sich dann wieder wegen dem eigentlichen Ziel. Das heißt, man versucht zu definieren, dass man Dinge nicht nur verschwommen und verzerrt lässt. Welchem Druck die damals ausgesetzt waren, wie die Staatsmacht mit denen umgegangen ist. Das hat man doch alles gar nicht mehr. Wenn sie heute nach Weißrussland gehen, nach Algerien gehen, da gibt es viele Journalisten, die verfolgt werden. Uns droht hier manchmal der Presseanwalt. Wo ist das Problem? Wir leben unter ganz anderen Bedingungen, als die, die vor uns gewesen sind. Eigentlich unter besseren, aber auch wieder unter schwierigeren. Mir machen die unabgelaufenen Füße ein bisschen Kopfschmerzen, weil sie ja dem Internet so viel Unschuld zusprechen. Also ich weiß nicht, ob es allgemein bekannt ist, dass das Internet aus dem ARPANet entstanden ist, aus dem Militär. Und dem würde ich schon mal wirkliche Unschuld absprechen. Ich denke, dass es auch unsere Paranoia schürt und eigentlich unseren Kindern nicht so gut tut, den größten Teil des Tages im Internet, im facebook, wie auch immer, zu verbringen. Mit den unabgelaufenen Füßen: für mich war es neu, für mich hatte das Internet mehr Infos. Vergeben sie mir. Ich habe dann festgestellt, dass sie nicht mehr unabgelaufen sind. Finden sie nicht, dass sie ein Armutszeugnis ausgesprochen haben für den investigativen Journalismus mit ihrem Vortrag? Und sich damit selber diskreditieren? Und perlen Angriffe auf die eigene Person auch nach 40 Jahren Pressearbeit an ihnen ab? Armutszeugnis, ja, partiell ja, weil wir von dem ganzen Mythos von Watergate, etc. in der Praxis ganz weit weg sind. Wir sind in anderen Zusammenhängen, haben andere Probleme und das versuchte ich ihnen ungelenk zu sagen. Ich habe vor kurzem Helmut Schmidt/Peer Steinbrück: „Zug um Zug“ gelesen und meine daraus gelernt zu haben, dass Peer Steinbrück zumindest befürchtet, dass all das was zu der schweren Finanzkrise geführt hat, nach wie vor relevant ist. Ich bin da kein Fachmann. Können sie mit der SZ, vielleicht auch mit ihren Freunden beim WDR, einen Preis ausschreiben, der denjenigen Ökonom zum Sieger erklärt, der Schuldige benennt und einen fairen Prozess anfordert, damit der Schlamassel sich nicht wiederholt? 17 Hans Leyendecker: Die Macht, die Wut, die Medien – wo bleibt die Aufklärung? Wie man das mit dem Preis macht, ich glaube in diesem Lande kommen die Leute dann immer darauf, Hickel [Prof. Rudolf Hickel, Wirtschaftswissenschafter, die Red.] einen Preis zu geben. Das wäre nicht sehr originell, fände ich, für die Finanzkrise. Die SZ ist auch nicht in der Lage und fühlt sich auch nicht berufen, gemeinsam mit anderen einen Preis auszuschreiben. Herr Leyendecker, sie haben angedeutet, dass es rein qualitativ um den investigativen Journalismus in Deutschland ja nicht so toll bestellt ist. Können sie das noch ein wenig konkretisieren? Welche Zeitungen oder Rundfunkanstalten sind überhaupt in der Lage, das auch angesichts der Finanzierung und der Notlage der Presse das überhaupt zu realisieren? Wie ist das mit den investigativen Sendern und Zeitungen? Es gibt Investigationsbüros und ressorts seit längerer Zeit. Bei Zeitungen ist es so, dass sich viele insgesamt als Investigationsteam betrachten. Das ist ein Markenzeichen. Es gibt sowas bei Bild, bei der WAZ, bei der Zeit, bei der SZ und Focus hatte mal eins, aber das Schicksal habe ich dann nicht mehr verfolgt. Das sind relativ kleine Trupps. Bei den Sendern gibt es das beim SWR, MDR und NDR. Die haben eigentlich eine andere Situation, als wir. Die öffentlich-rechtlichen bekommen acht Milliarden im Jahr. Und wie viel sie eigentlich für dieses schmale Spektrum dann ausgeben, das ist nicht alles. Es ist auch nur eine Spielart. Und das ist relativ bescheiden. Das Problem, das alle Investigationsteams haben, um das Armutszeugnis nochmal mit aufzunehmen: Es findet zu oft ein Wettbewerb um Nichts statt. Wenn sie sich mal die NSUBerichterstattung seit November angucken. Wie viele Fehlspuren drin waren. Angeblich waren die Ermittler noch näher dran und sie waren immer weit weg. Die haben nie eine Ahnung gehabt, von dieser Gruppe, die unterwegs war. Aber man dreht immer, um irgendwie in die Nachrichten zu kommen. Es gibt eine völlig idiotische Einrichtung, eine Firma namens Mediacontrol. Die macht in diesem Lande die Exklusivgeschichten. Dann ist Bild vorne, Spiegel vorne, SZ vorne. Ein völlig verrücktes System. Weil Mediacontrol natürlich nicht sehen kann, ob die Geschichte richtig oder falsch ist. Oder ob sie schon mal da war und nur neu angestrichen worden ist. Sie wird nur von anderen aufgenommen. Wenn sie das Wochenende beachten: am Wochenende heißt es immer: „...weitet sich aus.“ Am Wochenende weitet sich immer irgendein Quatsch aus, bis er am Montag wieder platzt. Diese Luftballons, immer „weitet sich aus“. Da kriege ich Gänsehaut. Die Verlage und die Sender wollen erwähnt werden. Das ist eigentlich für Leute, die veröffentlichen eine skurrile Situation. Man möchte wahrgenommen werden, dass es einen gibt. Was ist das für ein komischer Wettstreit? Ich veröffentliche ständig und die Menschen sollen sagen: „Es gibt ihn wirklich. Er ist keine Schattenexistenz. Er ist wahrhaftig.“ Das führt zu Absonderlichkeiten der Chefredakteure von Zeitungen, die ihre armen Redakteure einladen. Wenn diese eine Exklusiv-Geschichte haben, dann müssen die mit dem Chef abends Essen gehen. Das kann eine große Strafe sein. 18 Hans Leyendecker: Die Macht, die Wut, die Medien – wo bleibt die Aufklärung? Mich interessiert bei dem Thema immer, wie sie überhaupt die Auswahl treffen. Wie sie an Tipps kommen, dass sie einer Sache nachgehen. Bei Guttenberg war das offensichtlich, aber ist gibt ja auch andere Dinge, zum Beispiel Vorgänge in Behörden, wo sie persönlich auch schon mal recherchiert haben. Und da finde ich interessant: Wann greifen sie das auf, wie konkret müssen die Hinweise desjenigen sein, die ihnen einen Hinweis geben, dass man da recherchieren sollte? Das ist unterschiedlich in den Systemen, in den Investigativtrupps in den USA oder bei uns. Wir haben in Behörden und in Firmen Informanten, mit denen wir ständig reden. Wir versuchen, unser Netz auszubauen, um an wichtige Dinge ranzukommen und haben dann auch so ein Spezialistensystem. Ich habe zeitweise, wenn ich viel über Proliferation gemacht habe, von Gaszentrifugen so viel verstanden, dass ich mich mit den Menschen, die die herstellen, unterhalten konnte. Das war auch die Bedingung dafür, dass man Material bekam. Es ist nichts schlimmer, als wenn Leute feststellen, dass der Journalist sich nicht die Mühe macht. Oft hast du ein Halbwissen. Oder wenn man über Kälbermast berichtet. Kälbermast war mal ein riesiges Thema hier in diesem Lande. Es gab im Landwirtschaftsministerium NRW Leute, die brachten die Kälber alle um, wenn sie mit Hormonen gespritzt waren. Das war ein wichtiges Thema, also musste man da auf dem Laufenden sein und auch Akten dazu haben. Also macht man sich da zum Experten. Aber generell läuft es so, dass wir ein Informanten-System haben und die Informanten ernähren uns hoffentlich. Thema Whistleblower. Ich rate in der Regel Leuten ab, es Medien zu geben. Wenn sie sich mal die Geschichte der Whistleblower angucken, sind viele von denen völlig unglücklich geworden. Ehen sind kaputt gegangen, sie sind mit dem Ruhm nicht fertig geworden, die Medien haben sie fallen gelassen, haben sie erst hochgehoben, wenn sie eine Fallhöhe nach unten hatten. Das ist ein ganz schwieriges Thema. Wenn jemand zu mir kommt und sagt: „Ich habe einen ganzen wichtigen Vermerk, den haben nur drei unterzeichnet.“ Dann sage ich ihm: „Sorgen sie dafür, dass er wieder ins Haus zurückkommt und das 40 Leute unterzeichnen. Damit die Gefahr verringert wird.“ Gucken sie sich Manning [Bradley E. Manning, die Red.] an. Assange wäscht sich grade die Hände und sagt er habe nichts damit zu tun, was der Manning gemacht hat. Keiner weiß doch, ob der unser Informant war. Es hat zwischen denen eine Kommunikation gegeben, die feststellbar ist. Und dem zu sagen: „Du riskierst dein Leben, wenn du das machst“, das ist unser Job. Zu fragen, ob die Person sich klar ist über das, was auch passieren kann. Sie haben ihren Vortrag mit der Wahrheit angefangen und versucht klar zu machen, dass die Wahrheit viele Seiten hat und man sie differenziert betrachten muss. Aber mir kam es so vor, als ob sie selbst bei einer Kritik der Bild-Zeitung oder einer Kritik der Arbeiter-Bild-Zeitung dazu nicht in der Lage waren. Es erschien so, als wäre kein Attribut monströs genug, um die Bild-Zeitung und deren Arbeit zu beschreiben. Können sie vielleicht Vermutungen anstellen, wie die moralische Rigorosität, die sie hervor gebracht haben und auch die Differenzierung vor allem mit der Arbeit der Kollegen, die die Recherche im Fall Wulff gemacht haben, wie man das miteinander vereinen kann und zu einer Kritik kommt, die vielleicht nicht so, verzeihen sie mir, spießig und altlink rüberkommt? 19 Hans Leyendecker: Die Macht, die Wut, die Medien – wo bleibt die Aufklärung? Zu der Frage, ob ich spießig und alt-link bin, sage ich ja. Beides trifft zu. Ich habe sozusagen den Enzensberger rausgeholt um zu sagen: Leute, diese Kritik war schon da und diese Kritik hat sich eigentlich nicht geändert. Solange man kleine Leute fertig macht, solange man sie jagt und erniedrigt, solange sie mit Prominenten so umgehen, interessiert es mich überhaupt. Wenn die Bild-Zeitung aufrufen würde, man solle die Linke wählen, das interessiert mich alles nicht, wenn Leute erniedrigt und erledigt werden. Das ist mein Kriterium, das zählt. Ob die Zeitung bei der Bild-Recherche nicht so schlimm war, wie sie sonst ist. Ich will nur Kund tun, warum wir den Preis nicht angenommen haben. Wenn sie jeden Tag diese Zeitung auswendig lernen, ist das OK. Für mich ist es ein Drecksblatt und ein Lügenblatt und ich kaufe es nicht. Das habe ich von Klaus Staeck gelernt. Klaus hat immer gesagt, solche Zeitungen kauft man nicht. Spießig und altlink ist korrekt. Sie haben ja auch relativ ausführlich Kritik am Leser geäußert und dass er nur das bestätigt bekommen möchte, was er schon denkt. Inwiefern glauben sie, dass sie sich bei ihrer Arbeit selbst davon losmachen können? Da sie ja durch ihre Einstellung auch einer bestimmten Spur nachgehen und auf andere Ideen wahrscheinlich gar nicht kommen? Jeder hat irgendwas im Kopf und versucht, dem zu folgen. Davon muss man sich befreien. Wenn man unterwegs merkt, dass führt zu was anderem. Das ist für Bundesjournalisten, für jemand der Jahrgang 1949 ist, ist es nicht mehr das Problem zu sagen, da ist nichts dran. Die sagen dann: „Guck mal, wie sorgfältig wir das machen.“ Wenn ein junger Mensch mit viel Zeit sowas gemacht hat, sagt man: „Hast du dich denn verrannt? Haste denn falsch gesehen?“ Da muss man den jungen Leuten helfen, dieses vortragen zu können. Sie haben aus meiner Sicht ein relativ düsteres Bild des Internets und neuer Techniken gezeichnet. Ich würde dahingehend gerne wissen, was sie dann von den datenjournalistischen Projekten ihrer jungen Online-Kollegen aus anderen Redaktionen halten, weil sie einerseits sehr hoch gelobt wurden und weil sie natürlich Möglichkeiten bieten, was Journalismus in Zukunft darstellen kann und weil es zusätzlich die Möglichkeit bietet, große, vielleicht auch investigativ recherchierte Datensätze darzustellen? Datenjournalismus ist in Amerika weit verbreitet und wird auch auf uns zukommen. Das wird eine Revolution bringen. Sie können heute schon, wenn sie die Diskussionsgeschichten sehen, mit Online-Daten-Journalismus enorm viel machen und ich glaube, dass in jede gute Investigationsgruppe jemand gehört, der damit umgehen kann. Da können wir von den Amerikanern unheimlich viel lernen. Die haben zwar ein anderes Zugangssystem, aber wird eine wesentliche Veränderung liegen. Mich interessiert Ihre Meinung zu einem anderen Investigativjournalisten, der jüngst bei RTL angefangen hat: Günter Wallraff. Und ob sie das auch schon als Kompromittierung dieses Investigativjournalismus bezeichnen würden, sich auf ein Format von einem Sender zu verlegen, der jetzt vielleicht nicht unbedingt mit der Bild-Zeitung so in einen Topf zu werfen ist, aber schon was die Seriosität angeht in dieselbe Richtung geht? 20 Hans Leyendecker: Die Macht, die Wut, die Medien – wo bleibt die Aufklärung? Ich bewundere Wallraff zutiefst. Aber das sage ich, weil er kein Journalist ist. Das ist ein Missverständnis. Ich glaube, dass Wallraff ein Literat ist. Dass er eine andere Herangehensweise hat. Ein Journalist geht mit seinem Namen dahin. Mein Name ist Hans Leyendecker, wenn sie mit mir reden. Ich kostümiere mich nur an Karneval. Aber die Muße, die Wallraff hat, wenn sie an Griechenland denken, wenn sie an Portugal denken. Was er in diesen Ländern ausgelöst hat mit dem Türken Ali oder dieser heroische Selbstversuch in Sachen Bild. Sich darauf einzulassen, nach Hannover zu gehen und dieses alles zu ertragen. Und der hat das gemacht für uns. Und wir zehren immer noch davon. Netzwerk Recherche, da haben sie doch auch mitgewirkt? Netzwerk Recherche ist eine Vereinigung von hoffentlich recherchierenden Journalisten gegründet, ich gehörte zu den Mitgründern. Ich war zweiter Vorsitzender, es gab einen Übervater, das war Thomas Leif. Thomas Leif ist ein unheimlich fleißiger, erfindungsreicher, kundiger Mann, der Tag und Nacht für dieses Netzwerk gearbeitet hat. Und da ist was passiert, was bei sozialen Organisationen häufig passierte: Die Gründerväter nehmen es dann manchmal auch fast mit ins Grab. Es gab dann eine Finanzkrise, in der wir noch stecken. Das Netzwerk Recherche das absolute Sauberkeit verkündete und von jedermann in dieser Republik alles verlangte, war bei Zuschüssen unsauber, die es von der Bundeszentrale für politische Bildung bekommen hatte. Daraus ist dann eine große Affäre erwachsen und da hat sich eins gezeigt. Ich habe bei Weitem nicht so viel für die Netzwerke getan wie er. Ich habe aber auch nach drei Jahren gesagt: Komm, lass es jüngere Leute machen. Da sagte er: Sie wissen doch wie faul die sind und keiner macht was. Ich sagte: Wenn die es nicht so machen, dann machen sie es anders, aber sie machen es. So läuft es auf dieser Welt. Überall hast du die Friedhöfe mit den Leuten, die nicht mehr zu ersetzen sind. Und jetzt unter dem Druck dieser Geschichte machen das ganz andere und die machen das wunderbar. Die machen das anders und sie setzen andere Akzente. Das muss man schon sagen. Was ich auch gelernt habe, ich bin früher mit Skandalen ganz anders umgegangen. Ich habe früher gedacht, Flick war unglaublich. Und ich war verwundert, dass die Gesellschaft drüber hinweg ging. Aber heute weiß ich, wenn sie mir diese eine Stunde geben dann kann ich das wenige, was ich habe, in ihre Ohren schreiben. Wenn ein junger Mann rausgeht und sagt der alte Sack hat damals dieses eine gesagt: „Du musst im Journalismus begeistert sein“ und er macht es, dann ist das doch toll. Dann hat es sich doch gelohnt. Die dritte Stelle hinterm Komma, das hat auch was mit dem Älterwerden zu tun, dass du nicht mehr glaubst. Sondern dass du das hohe Lied der dritten Stelle hinter dem Komma summen kannst. Das hat was. Ich hätte auch eine Frage zu dem Thema Wahrheit. Nordkorea, Saddam Hussein, Scientology oder neuerdings der Islam, der den Kommunismus abgelöst hat. Es gibt Dinge da kann man sagen das ist Wahrheit. Ebenso im Positiven: Man könnte auch nicht sagen, tausend Menschen leiden unter der Freiheit und das ist erwiesen. Nein es ist einfach ein Tabu. Mir ist ein altes Buch in die Hand gefallen, da haben kleine Kinder mit ihren Eltern gespielt. Da dachte ich: „Das ginge heute gar nicht mehr. So etwas Positives könnte man in dem Zusammenhang gar nicht mehr bringen.“ Da wollte ich fragen, wie kommt das und wie sehen sie das? 21 Hans Leyendecker: Die Macht, die Wut, die Medien – wo bleibt die Aufklärung? Nordkorea und Saddam – nicht einfach. Es gibt die Freiheit als Kampfbegriff. Freiheit wird als Kampfbegriff auch in den Dreck gezogen. Die Definition der Mächtigen, was jetzt Freiheit ist und was Unfreiheit ist, ist ein Versuch, Dinge in ihrem Sinne zu beeinflussen. Das Positive, das bleibt. Erich Kästner, immer wieder neu, wo bleibt das Positive? Ich denke, wir finden immer wieder Stellen, wo wir es bringen. Bei unserer Truppe steht es nicht im Mittelpunkt, uns auf die Jagd nach dem Positiven zu machen, sondern es ist mehr das andere. Ich bin ein noch älterer englischer Journalist hier in Berlin und ich muss ehrlich sagen, ich war völlig schockiert, als ich den Artikel vom 7. Januar [2011, die Red.], also den großen Gribkowsky [Gerhard Gribkowsky, früherer Bayern-LB-Vorstand, die Red.] las. Das las sich für einen Ausländer, wie ein Artikel, den man erst nach der Verurteilung eines Menschen lesen durfte. Dass es eigentlich Einflussnahme war. Nun frage ich sie: Inwieweit basiert dieser Artikel auf dem Vermerk der Staatsanwältin also von diesen Treffen, die sie mit Herrn Gribkowsky hatte, nachdem ihre Kollegen mit ihm gesprochen haben. Ich bin ziemlich durcheinander, wie diese Geschichte zustande gekommen ist, weil ich da Widersprüche sehe, in dem was sie dann präsentieren. Das Folgende ist wirklich eine Fachfrage, ich weiß nicht, inwieweit ich sie damit traktieren kann. Die beste investigative Geschichte, die ich selbst erlebt habe, war eine, die zwei Kollegen und ich dann als Beifahrer gemacht haben. Das war die Geschichte über einen Menschen, der heißt Gribkowsky. Er war bei der bayerischen Landesbank mal im Vorstand und gegen den lief ein Verfahren wegen ganz allgemeiner Dinge. Der hatte in einer Vernehmung 2010 sein Vermögen mit 300.000 Euro angegeben. Dann gab es den Wunsch der bayrischen Landesbank, dass man sich von Leuten, die die ins Unglück gestürzt hatte, Geld holt und hohe Schadensersatzforderungen stellt. Nun hatten wir eine Recherche begonnen, die hieß „Wer hat eigentlich wie viel?“ Eines Tages kam ein Kollege zu mir und sagte: „Da ist ein Gribkowsky, dessen Namen ich gar nicht kannte, der hat ganz viel.“ Ich fragte: „Was heißt ganz viel?“ Er sagte: „Der hat ganz, ganz viel.“ Die Recherche ging über September, Oktober und November, wir haben mit ihm telefoniert und er hat immer Angaben gemacht, die so nicht stimmten. Wir haben ihm dann am 23. Dezember einen Fragebogen geschickt. Dann hat er erst erklärt, er äußere sich dazu nicht und dann hat er erklärt, er wolle der Redaktion aber alles klar machen. Da war uns klar: entweder kam das Geld von Strabag oder es kam aus der Formel Eins, es war jedenfalls illegal. Dann hat er mit uns einen Termin gemacht und bevor das Gespräch stattfand, ist er zur Staatsanwaltschaft gegangen und hat bei der Staatsanwaltschaft eingelassen und gesagt, zum einen fühle er sich von der SZ verfolgt und zum anderen habe er eine ganz einfache Erklärung für die 50 Millionen. Da hat ihn die Staatsanwältin gefragt: „Wieso 50 Millionen, sie haben doch in der Vernehmung gesagt, sie hätten 300.000.“ Da sagte er: „Ja, das lässt sich alles leicht erklären.“ 22 Hans Leyendecker: Die Macht, die Wut, die Medien – wo bleibt die Aufklärung? Anfang Januar ist er festgenommen worden, sodass wir bei dieser Geschichte den Punkt hatten, dass es diese Ermittlungen in der Sache gegen ihn nicht gegeben hat. Und es ist nicht unsere Aufgabe, Leute vor den Kadi zu bringen. Es ist kein Triumph. Er hat neulich ein Geständnis abgegeben und hat gesagt, dass die Vorwürfe alle zuträfen, die in der Anklage seien, die dann gemacht wurde. Nachdem wir diese Geschichte gemacht haben, hat sich die Staatsanwaltschaft dran gesetzt, hat ermittelt und dann eine Anklage vorgelegt. Wir haben das begleitet. Das was wir geschrieben hatten, sehr früh, hat sich dann im Zuge dieses Geständnisses als richtig herausgestellt. Wenn man länger in diesem Beruf ist, hat man rasende Verfolger, die einen begleiten. Es gibt einen Herrn Fischler [Hersch Fischler, die Red.], der begleitet mich schon viele Jahre. Immer wenn er irgendwo auftaucht, begehrt er Rederecht und ich muss ihn dann bitten, den Raum zu verlassen, weil er eben Unfug redet. Und dieser Fischler hat neulich etwas ähnliches, was sie jetzt sagen, an viele Leute geschickt mit völlig unwahren Geschichten. Ich bin dann gebeten worden, da Stellung zu nehmen. Da habe ich gesagt, ich nehme nicht zu einem rasenden Verfolger Stellung. Warum soll ich? Warum soll ich im Detail Unfug widerlegen? Das ist auch seine Sache, das kann er auch machen. Nur meine Lehre nach all den Jahren ist, du kannst mit einem Amokläufer nicht um die Wette rennen, weil du dann wegen Seitenstechen aufgeben musst. Der Amokläufer rennt und rennt und rennt. Der bleibt in seiner Spur. Und das mehr, als Rooney [Wayne Rooney, die Red.] hatte bei der EM. Soweit Gribkowsky. Ich würde gerne wissen, warum sie so vehement abgelehnt haben, was über türkische organisierte Kriminalität zu machen, also organisierte Kriminalität. Warum haben sie das direkt abgelehnt bei der Anfrage ihrer Redaktion damals? Warum nicht türkische Organisierte Kriminalität? Weil ich keine Lust hatte, Migranten und türkische Organisierte Kriminalität zu machen. Es gibt so viele Leute, die darüber schreiben und es drängte mich nicht, in diese Welt zu tauchen, weil du in Wahrheit auch nichts erfahren kannst. Du bist immer angewiesen auf Ermittler, die sagen, es sei so rum und so rum. Du hast ja als Journalist überhaupt keine Möglichkeiten, dich in diese Welt zu begeben. Du kannst niemanden anlaufen, du kannst nicht gegenhalten, du kannst Ermittlungsergebnisse nicht abfragen und möglicherweise zu einem anderen Schluss kommen. Du bist darauf angewiesen, dass diejenigen, die in diesem Land Organisierte Kriminalität als Ziele haben, im LKA und BKA [Landeskriminalamt und Bundeskriminalamt, die Red.], das rausfinden. Und warum sollte ich das machen? Im Nachhinein wird es also nicht zum Boomerang, weil ich genau das im Kopf hatte, was die Organisierte Kriminalität-Leute im Kopf hatten. Klassische türkische Organisierte Kriminalität. Da ist halt der Moment, wo man sagen muss, man hat versagt, weil man in seinem Kopf schon so eingestellt war. Wenn sie sich die Migranten-Morde angucken: Dass da irgendwas komisch war, konnte man eigentlich schon schlussfolgern, wenn immer wieder kleine Gewerbetreibende erschossen werden. Und dazu gibt es einen ganz großen Zusammenhang an verschiedenen Orten. In Mecklenburg erschossen, sie wurden in Hamburg erschossen und in Dortmund. Das da irgendwo eine lenkende Hand sein sollte, das war eine komische Geschichte. Man hätte sie nicht recherchieren können. 23 Hans Leyendecker: Die Macht, die Wut, die Medien – wo bleibt die Aufklärung? Wenn heute die Kinder, zum Beispiel die Tochter des Blumenhändlers, der als Erster sterben musste, oder die Tochter vom Kiosk-Besitzer aus Dortmund sagen, sie seien kriminalisiert worden: Man sei zu ihnen gekommen und habe gefragt, warum sie nicht die Wahrheit sagen würden. Da kann ich nur sagen, auch Journalisten müssen um Vergebung bitten. Das gilt natürlich auch ein Stückweit für die, deren ureigenes Gebiet Neo-Nazis sind. Die haben auch nichts gemacht. Die haben eigentlich überall Leere gehabt. Ich glaube, dass sie nichts mit Neo-Nazis gemacht haben, weil sie nicht mit Bild vergleichbar sein wollten, die das Thema groß gefahren haben. Wo eine Andrea Röpke, die Riesenverdienste hat, auch nicht geschrieben hat. Die haben auch nicht für einen Moment gesagt: „Kann es nicht sein, dass wir hier nicht nur Feierabend-Terrorismus haben, sondern dass wir hier ein gezieltes Kommando unterwegs haben. Niemand der drin war, hat sich diese Frage gestellt. Deshalb muss man auch Medienleute und ich mir selbst auch Vorwürfe machen. Der Bürger ist doch aber verunsichert, gerade wegen der türkischen Organisierte Kriminalität. Paralleljustiz ist ja DAS Wort zurzeit. Es ist eins der Wörter, das geprüft wird. Zu dem Metier noch eine Nachfrage: Wenn es um Prozesse geht, über die sie berichten, bei denen Geheimdienste und V-Leute eine Rolle spielen, kann ich mir vorstellen, dass besondere Anforderungen an die Recherche-Methoden gestellt werden. Vor dem Hintergrund des Gebotes, dass alle Bürger, einschließlich der Journalisten, sich aus allgemein zugänglichen Informationsquellen informieren dürfen. Sobald Geheimdienste und die V-Leute im Spiel sind, haben sie keinen direkten Zugang zu diesen Dokumenten – von denen auch, wie man in der Presse gelesen hat, über ganze Perioden Dokumente vernichtet worden sind. Wenn diese Unsicherheit der Recherche besteht, dann frage ich mich, wie sie zu der sicheren Aussage gekommen sind, dass es sich in dem NSU-Fall nicht um ein Staatsversagen handelt? Obwohl die Verbindungen zwischen V-Leuten und Geheimdiensten sehr undurchsichtig sind und in zweierlei Richtungen funktionieren. Die V-Leute sind zum Beispiel nicht nur Informationsgeber, sondern sie können auch von den Geheimdiensten aus eingesetzt werden, um bestimmte Aktionen auszulösen. Staatsversagen sage ich ja. Aber ein anderes Staatsversagen als dieses Staatsversagen meine ich: Das Versagen der Ermittlungsbehörden, das Versagen des Verfassungsschutzes. Aus meiner Sicht liegt das Versagen in diesem Falle, dass es Alleswerter gibt, die nicht alles werten. Dass es Verbindungen gibt zwischen Nachrichtendiensten und LKAs, die in dem Fall nicht stattfinden. Dass es Zielfahnder gibt, die nach einem Jahr aufhören. Ich sehe das große Versagen im Entstehen der Zelle bis 2001 – wenn sie sich die Berichte angucken, die Tilo Brandt und andere braune Quellen gemacht haben. Und das hat Schäfer [Gerhard Schäfer, die Red.] gemacht. 24 Hans Leyendecker: Die Macht, die Wut, die Medien – wo bleibt die Aufklärung? Schäfer ist ein ehemaliger Bundesrichter, der sich in heiklen Geschichten Sachen angeguckt hat. Es gab eine Schäfer-Kommission. Der Schäfer ist zum Fazit gekommen, den Bericht kann man im Internet nachlesen, dass es eine Fülle von Hinweisen der V-Leute gab. Dass es aber ein riesiges Versagen in den einzelnen Behörden gab. Eine völlig rätselhafte Situation: Da ist ein Auswerter, der konnte bis ins Detail sagen, wie man richtig auswertet. Und die Frage war: „Warum haben sie es in diesem Fall nicht gemacht?“ Der hat dann eine Erklärung gehabt wie: „Haben wir nicht für so wichtig gehalten. Wir haben gedacht, die sind weg.“ Da haben sie in diesem Falle das Problem. Insgesamt haben sie natürlich Recht, da wo Nachrichtendienste eine Rolle spielen, ist es für einen Journalisten immer deutlich schwieriger. Das gilt auch in anderen Bereichen. Die machen es undurchsichtiger. Nur: Schäfer hat darauf bestanden, dass er die Klarnamen aller V-Leute erfuhr. Hat sich jede Biographie angeguckt und sein Fazit ist und da orientiere ich mich schon an jemandem, den ich für integer halte und der sämtliches Material dann hat. Und der sagt: „Es ist halt ein unglaubliches Versagen dieser Behörden.“ Zu viele Leute da... Zu viele oder zu wenig – ich glaube, dass man diese kleinen Landesämter für Verfassungsschutz nicht lassen darf, weil sie überfordert sind mit ihrem eigenen Betrieb. Dass wir eine Zusammenlegung machen, das geht aus Gründen des Föderalismus nicht. Warum gibt es Radio Rhön und warum gibt es Saarländischen Rundfunk, jeder hat da so seinen kleinen Hof, den er halten will. Aber in diesem Bereich ist es ein richtiges Problem. Vielen Dank. 25