Kathedralen wachsen in den Himmel – Knochenstruktur

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Kathedralen wachsen in den Himmel – Knochenstruktur
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Den Knochen neu
entdecken
Den Knochen in der Kunst neu entdecken –
das ist das Anliegen von Dr. Peter Diziol und
dieser Rubrik, die interessante Bauwerke,
Plastiken und Gemälde vorstellen wird.
Was macht gotische Kathedralen so einzigartig, dass nach mehr als 800 Jahren beispielsweise eins bis vier Millionen Besucher
jährlich vom Freiburger oder Straßburger
Münster so begeistert sind?
Ist es die Größe und Höhe des lichtdurchflutenden Raumes, das Lichtspiel
durch die großen, farbigen Glasfenster
oder die filigrane Struktur mit vielen Details im steinernen Bauwerk? Es entstanden
Gesamtkunstwerke im Mittelalter, die Architektur, Skulpturen, Glasfenster mit Glasmalereien und Gemälden zu einer Einheit
verschmolzen.
Wer waren die Menschen, die dazu fähig waren, solche gigantischen und zugleich grazilen Bauwerke zu erdenken und
in die Tat umzusetzen? Waren die Baumeister größenwahnsinnig, woher kamen
sie, was hatten sie gelernt? Welche Mittel
standen ihnen zur Verfügung, etwas so
Großartiges zu schaffen, ohne unser heutiges Handwerkszeug der Mathematik, Statik, den Berechnungsmöglichkeiten und
© Schattauer 2015
3D-Darstellung von Gebäuden mit Hilfe
von Computern? Mit welchen Hilfsmitteln
arbeiteten sie, denn Kräne, elektrische
Werkzeuge usw. zum Bearbeiten der Steine
gab es nicht. Ist es die Ehrfurcht vor diesen
besonderen Menschen und ihren Leistungen, die so etwas bauen konnten, die unsere Neugierde so stark beflügelt? Diesen
Fragen gehen wir in dieser Ausgabe der
Osteologie im zweiten Teil der Reihe „Architektur und Bauprozesse“ nach.
Eine organische, scheinbar überirdische
Leichtigkeit der Gotik ersetzte das massive
Mauerwerk der Romanik mit den kleinen
Fenstern und den runden Fensterbögen.
Häufig entstanden die neuen Kirchen auf
den Fundamenten dieser Kirchen, wurden
teilweise oder fast ganz abgerissen, ergänzt
und entsprechend umgebaut. Es entstanden Bauwerke, die schon zur Zeit der Entstehung alle bekannten Maßstäbe und Dimensionen sprengten.
Schon in der Romanik demonstrierten
die Gebäude die Mächtigkeit und enorme
Macht der Kirche. Dieser Machtanspruch
sollte beibehalten werden, der nunmehr
durch die besondere Höhe und Nähe zu
Gott in lichtdurchfluteten Räumen mit hohen und filigranen Türmen den Menschen
vermittelt wurde. Es war Abt Suger von St.
Denis in Frankreich, der den Zeitgeist als
erster umsetzte: „Gott ist Licht“ so erlebten
es die Menschen. Die innere Höhe der Kathedrale wuchs in eine bis dahin nicht vor-
Baustelle Kathedrale
OSTAK
Wissenschaft und Kunst
stellbare Dimension bis 40 Meter, nur
scheinbar filigrane Säulen tragen das schwere große Deckengewölbe aus Stein (siehe
Abbildung 1 in Ausgabe 2/2014 der Osteologie Seite 147: Säulen-Modell St. Denis).
Zahlreiche Vergleiche zwischen Bauweise gotischer Kathedralen zum Knochenbau, der Stabilität, Diagnostik und Therapie fallen uns beim Betrachten der ▶ Abbildung 1 ein, hat doch eine pharmazeutische Firma ein ähnliches Bild vom Knochenbau mit „Knochenfacharbeitern“ in
ihrer Werbung. Daher ist es sinnvoll, etwas
mehr zu den Ideen der Baumeister, ihrer
Mitarbeiter und der Konstruktion und
Restauration gotischer Kathedralen zu erfahren.
Am Gesamtkunstwerk einer Kathedrale arbeiteten viele Fachleute eng zusammen:
Baumeister, Parlier, Steinmetze, Steinhauer,
Bildhauer, Maurer, Mörtelmischer, Zimmerleute, Schmiede, Glasbläser, Kunstglaser, Maler, Tagelöhner im Tretrad und viele
andere. Damit sie über das gesamte Jahr
auch in der kalten Jahreszeit arbeiten konnten, wurde an der Kathedrale eine Budenstadt errichtet. Es entstand die „Bauhütte“
die wir heute noch kennen, um Restaurierungen an Kathedralen durchzuführen.
Der Baumeister hatte die Ideen zum
Aussehen und Bauweise der Kathedrale. Es
war seine Kunst und sein Talent, diesem
neuen Baustil ein unverwechselbares Gesicht zu geben, aus Wänden, die keine
mehr waren, großen Glasfenstern wie
©Bildarchiv, Freiburger Münsterbauverein
Kathedralen wachsen in den Himmel –
Knochenstruktur – Gotik
Abb. 1
Münsterturm Freiburg
– filigrane Architektur
und Inspektion am
Hauptturm – Vergleich
zur Knochenfeinstruktur und Osteoporose
Osteologie 1/2015
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Fiale
nicht deren Anzahl. Wie sollten die Ideen
des ersten Baumeisters fortbestehen?
Nachfolgende Baumeister können mit ihren eigenen Ideen das ursprüngliche Werk
so verändern, dass es nicht mehr zu erkennen wäre und kein Gesamtkunstwerk mehr
darstellt.
Statik der Gotik und des
Knochens
© Dr. Peter Diziol
OSTAK
b
a
ad quadratum (a = b)
Abb. 2 Vergleich Kraftlinien – Knochen und gotische Kathedrale mit filigraner Architektur. Gewicht
und Schub des Gewölbes ruhen auf Stützpfeilern und werden über Strebepfeiler auf die Seitenschiffe
und Wände nach unten weitergegeben (Pfeile).
„Wände aus Glas“ und seine Vorstellungen
im Detail auf große Pergamente in einem
maßstabsgetreuen Aufriss als „Urmaß“ zu
zeichnen und den „Bauherren“ zur Genehmigung und Finanzierung vorzulegen.
Dieser Aufriss hing dann in der Bauhütte
und war allen Handwerkern zur Umsetzung zugänglich. Er trug auch die Verantwortung für Statik, Architektur und Erscheinungsbild des Gesamtkunstwerks.
Da sich die Bauphase gotischer Kathedralen über große Zeiträume erstreckte,
wusste der Baumeister, dass er die Fertigstellung nicht mehr erleben und sehen
kann und andere nach ihm weiterbauen
mussten. Viele Baumeister an einer Kathedrale sind namentlich nicht bekannt, auch
Informationen
© Dr. Peter Diziol
1000-Jahrfeier
Straßburger Münster
• http://eurojournalist.eu/1000-jahre•
Abb. 3 Blick auf das Haupt- und Seitenschiff,
Münster zu Straßburg mit Strebewerk
Osteologie 1/2015
•
strassburger-muenster-ein-wuerdigerauftakt/
http://www.cathedrale-stras
bourg-2015.fr/
http://www.1000cathedrale.strasbourg.
eu/
Ohne Kenntnis von Baustatik, mathematischen Regeln zur Berechnung der Stabilität
für filigrane Säulenbauten, Kraftschüben,
Lasten eines Gebäudes – die Kathedrale
entstand ja nur im Kopf des Baumeisters –
sammelten diese doch praktische Erfahrungen schon als Parlier, Steinmetz und
auch aus „Trial und Error“, das sie mündlich ihren Schülern und Kollegen in den
Steinmetzverbänden offen weitergaben. Da
Steinmetze an vielen Kathedralen in ganz
Europa arbeiteten, konnte das Wissen
rasch verbreitet werden. Als Berufsschutz
erfuhren Außenstehende nichts von diesen
wesentlichen Erfahrungen.
Gewicht, Kräfte und Schub des steinernen, hohen, mächtigen Gewölbes ruhen
auf den Stützpfeilern (▶Abb. 2, ▶Abb. 3).
Damit diese durch die enormen Querkräfte
nicht seitlich nachgeben können und die
gesamte Kathedrale wie ein Kartenhaus in
sich zusammenbricht, wurde das Gewicht
des Gewölbes und Dachstuhls durch ein
spezielles Strebewerk – Schwebebögen und
Schwibbögen – nach außen auf Seitenschiffe verlagert. Der seitliche Druck wird in einen senkrechten Druck nach unten weitergegeben (siehe rote Pfeile). Die Seitenschiffe mit dem filigranen Strebewerk sind kein
Zierwerk, sondern elementare Bauteile mit
eigenen Fundamenten. Die Kreuzrippen in
den Gewölben sorgen zusätzlich dafür, die
Schubkräfte auf dieses Stützsystem zu verteilen (▶Abb. 2).
Die Baumeister waren überzeugt, dass
die Ordnung des Himmels und der Erde
auf mathematischen Gesetzen beruhen, die
zusammen eine vollkommene Harmonie
ergeben. Diese sollte sich auch in der Ästhetik des Kathedralbaus wiederfinden, da
sie das himmlische Jerusalem symbolisiert.
In den Proportionen musikalischer Akkorde fanden sie Parallelen zu geometrischen
© Schattauer 2015
Abb. 4 Vorderansicht Freiburger Münster; weiße Punktline: Höhe des Dachstocks; gelbe Punktlinie: innere Raumhöhe des Kirchenschiffs. Zwischen beiden Linien – Breite Hauptschiff.
Abb. 5 Laufräder zum Heben großer Gewichte
für Arbeiter beim Münsterbau: Laufkran in Originalgröße vor Augustinermuseum zur Ausstellung
Gotik, 2014.
Strebepfeiler des Münsterturms in die
Wand eingelassen.
Die spezialisierten Mitarbeiter in den
Bauhütten waren vom Parlier für ihre besonderen Aufgaben ausgesucht worden.
Nur scheinbar waren ihre Werkzeuge „primitive“ Hilfsmittel. Es war die Aufgabe der
Schmiede, die besonderen Arbeitsgeräte
zur Steinbearbeitung wie beispielsweise
„Spitzeisen“ und „Schlageisen“ sowie die
speziellen „Hebezangen“ herzustellen, um
die großen, zugehauenen Steinlasten an ihren Zielort zu befördern. Um Gewölbe mit
Steinen freitragend zu bauen, wurden von
den Zimmerleuten entsprechende Bögen
aus Holz gefertigt und auf die Säulen gelegt. Die großen Lasten und Steine mussten
in die Höhe an den Arbeitsplatz befördert
werden. Dazu fertigten Zimmerleute große
Laufräder für Menschen mit einem Galgenkran an – vergleichbar mit Hamsterrädern. In diesen Hebemaschinen liefen die
Menschen und zogen über lange Seile große Lasten in die Höhe. Noch heute sind
diese Laufräder in vielen Kathedralen hoch
oben im Turm oder Dachstock zu finden
OSTAK
© Dr. Peter Diziol
Maßverhältnissen. Maß, Zahl und Gewicht
hatten prinzipiell eine herausragende Bedeutung bei der Planung ihrer Architektur,
die in allen Maßverhältnissen ein Modell
dieser Ordnung wiedergebe, die der forschende Geist im Kosmos findet. Zahlen
sind nicht nur Mengenangaben, sondern
schließen vielmehr weitere Bedeutungen
ein, die das ganze Weltbild ordnen.
Die ersten Zahlen der Zahlenreihe sind
die „größten und inhaltsschwersten“, die
späteren Zahlen Kombinationen und Summierungen der ersten Zahlen; meist deckt
die Quersumme oder ihre Wurzel deren
Geheimnis auf. Für viele Menschen von
heute ist diese Einstellung zur Zahl verloren gegangen. Wir bemerken diese aber indirekt in den Proportionen, der Ästhetik,
die wir als gelungen ansehen.
Durch Nachberechnungen bemerkte
man, dass die Maße der Kathedralen wie
die Gesetze der Musik einer Harmonie entsprechen, für die Zahlenordnungen den
Schlüssel liefern. Daher galt: Die Kathedrale sei ,,gebaute Musik’’, und Goethe sagte
dazu: ,,Ich glaube gar, der ganze Tempel
singt’’.
Ein Grundmaß der Vollkommenheit
war beispielhaft das Quadrat. Daraus wurden weitere Zahlenverhältnisse abgeleitet,
die „ad quadratum“ genannt wurden (siehe
in ▶ Abb. 2 – blau gestrichelte Linie). Der
Aufriss wurde aus dem Grundriss entwickelt. Beispielsweise wurde für die Höhe einer Fiale – es sind die kleinen, aus Stein gemeißelten schlanken und spitz zulaufenden
Türmchen, die neben ästhetischen Aspekten auch statische Funktion wahrnehmen,
da sie die Konstruktion von Strebepfeilern
stabilisieren – die Seitenlänge eines Grundquadrats mal 6 genommen. Die Entwürfe
für Fassaden, Türme, Fenstermaßwerk,
Strebesystem bauen sich aus diesen Verhältnissen auf.
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Know-how am Bau
© Schattauer 2015
Abb. 6
Laufräder zum Heben
großer Gewichte für
Arbeiter beim Münsterbau: Zwei Laufräder
im Glockenturm Straßburger Münster.
© Dr. Peter Diziol
Die mittelalterlichen Baumeister kannten
noch nicht den „Meter“ als Maßeinheit, die
gebräuchlichsten Längenmaße waren Elle
und Fuß. Die Freiburger Elle entspricht
54 cm, ein Freiburger Fuß (Freiburger
Werkschuh) hatte die Länge von 32,4 cm.
Diese Maße waren z. B. am nordwestlichen
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den Bürgern oder Zuwendungen adliger
Mäzene, die sich in Bildern oder Statuen
verewigen lassen wollten. Die Bauherren
sind meist Geistliche oder Bischöfe, oft unterstützt vom Domkapitel oder weltlichen
Ratsherren, die den Baumeister wählten
und ihm die Anforderungen zum Bau mitteilten sowie Gelder für den Weiterbau bewilligten. Auch Bürger von aufstrebenden
Städten, wie beispielsweise Straßburg,
konnten Bauherren werden, die dann die
Finanzierung des Baues kontrollierten und
verwalteten. Kathedralen waren schon damals Tourismusmagnete, es kommt Geld in
die Stadtkasse, schafft Arbeitsplätze und
Pilgerströme sowie Handwerker und
Händler sorgen für weitere Einnahmen.
Eine Kathedrale zu bauen, war wie ein
heutiges Großunternehmen, die Stadtbevölkerung wurde mit einbezogen, es
brachte Arbeit und Lebensunterhalt für
Generationen für die am Bau Beteiligten.
Arbeitszeiten waren akribisch geregelt und
Löhne für jede Arbeitergruppe genau ausgehandelt.
Straßburg – 1000-Jahr-Feier
der Kathedrale 2015
Am Beispiel des Straßburger Münsters
werden praktische Beispiele und die Besonderheiten am Bau aufgezeigt.
An den drei gotischen Münstern zu
Freiburg, Straßburg und Thann arbeiteten
zu verschiedenen Zeiten die gleichen Baumeister und Steinmetze, so dass gemeinsame Erfahrungen im Bau eingeflossen sind.
Abb. 7
„Steinmetzzeichen“
an den behauenen
Steinen im Freiburger
Münster; häufig Buchstaben oder einfache
geometrische Formen
© Dr. Peter Diziol
OSTAK
(▶ Abb. 5, ▶ Abb. 6). Kunstglaser und
Glasmaler schufen in den Bauhütten die
großen bunten, bleigefassten Glasfenster.
Die Werkzeuge der heutigen Mitarbeiter in
den Bauhütten unterscheiden sich nur wenig von denen des Mittelalters, nur dass
mit mehr elektrischen Hilfsmitteln gearbeitet werden kann. Auf diese Arbeitsweisen
wird in späteren Beiträgen eingegangen.
Schon damals waren die Baustellen gut
organisiert. Überflüssige Lasten sollten
nicht vom Steinbruch in die Bauhütte
transportiert werden. Die Steine wurden
schon grob auf das vorgegebene Maß von
Steinmetzen im Bruch zugehauen. Jeder
Stein bekam seine Markierung für den
künftigen Platz am Bau. In der Bauhütte
arbeiteten die Bildhauer und Steinmetze.
Für die Figuren einer Kathedrale, häufig
wurden um die 2000 Plastiken aus Stein gemeißelt, haben viele Steinmetze gleichzeitig
mit weiteren Gehilfen über viele Jahre gearbeitet.
Der Beruf der Steinmetze war eine sehr
gut bezahlte Arbeit. Um diese Arbeitsleitung auch für die Abrechnung des Lohnes
zu dokumentieren, hatte jeder Steinmetz
und Bildhauer sein spezielles Erkennungszeichen, das „Steinmetzzeichen“, das auch
heute noch in den Kathedralen an den behauenen Steinen zu sehen ist. (▶ Abb. 7).
Häufig sind es einfache geometrische Formen, Buchstaben oder besondere Gegenstände.
Woher kam das Geld, um die Arbeiter
zu bezahlen? Das Startkapital stammte
häufig aus kirchlichen Einnahmen wie
dem Zehnten, Ablässen, von wohlhaben-
Osteologie 1/2015
Der Straßburger Münsterturm war Höhepunkt der Gotik und bis ins 19. Jahrhundert mit 142 Metern das höchste Gotteshaus der Welt – die eindrucksvolle Fassade
wurde niemals übertroffen. Ein bekannter
Kunsthistoriker sagte 1869 vergleichbares
über den 116 Meter hohen Turm des Freiburger Münsters im Vergleich zu Basel und
Straßburg: „Und Freiburg wird wohl der
schönste Turm auf Erden bleiben.“ Ihn besteigen jährlich mehr als 170 000 Besucher.
Nach Fertigstellung des Westturms um
1330 gehörte das Freiburger Münster für
rund ein Jahrhundert zu den höchsten Sakralgebäuden der Welt. Solche Attribute
sind bekanntlich vergänglich. Der 1890
vollendete 161,53 Meter hohe Turm des
Ulmer Münsters ist bis heute der höchste
Kirchturm der Welt. An diesem Bau war
der Meister Ulrich von Ensingen tätig, der
auch nach Straßburg als Baumeister berufen wurde. Die Namen vieler seiner Erbauer sind in Vergessenheit geraten.
1770 zieht das Straßburger Münster die
Aufmerksamkeit von Johann Wolfgang von
Goethe auf sich, als er zum Studium in
Straßburg weilte und sofort von diesem
Kirchenbau fasziniert war. Er entdeckt die
besondere Schönheit dieser gotischen Kathedrale und versuchte, den Baumeister zu
ergründen. Auf einer Grabplatte im Hof
fand er den Namen von Meister Erwin von
Steinbach. Ist es nur das Werk eines einzigen Mannes, eines Genies? Wer waren diese Baumeister? Viele Baumeister sind unbekannt oder ihre Namen waren vergessen,
nur einige Namen wurden in langjährigen
Forschungen in den letzten Jahren zugeordnet.
In alten Handschriften der Bauhütte in
Straßburg taucht am 16. August 1284 zum
ersten Mal der Name von „Meister Erwin“
mit der Bezeichnung Werkmeister auf. Der
erste romanische Kirchenbau stammte aus
dem Jahr 1015, damit feiert Straßburg in
diesem Jahr 2015 das 1000-jährige Bestehen der heutigen Kathedrale (Informationen siehe Kasten auf Seite 48). Zahlreiche
Baumeister hatten schon an der romanischen Kathedrale gebaut, als Meister Erwin
nach Straßburg kommt. Er tritt damit ein
besonderes Erbe an. Heutige Forschungsergebnisse zeigen, dass er bereits auf den
großen gotischen Baustellen der Ile de
France, in Chartres und Reims gearbeitet
© Schattauer 2015
© Schattauer 2015
Abb. 8
Westfassade Münster
zu Straßburg
Architektur bleibt den Zeitgenossen von
damals verborgen. Sie können aber den
Figurenschmuck in den Portalen deuten
und wissen, was er von Sünde und Erlösung erzählt.
Mit seiner Inspiration zum Plan der Rosette in seiner Klarheit und Verständlichkeit
hebt er sich von anderen Rosetten seiner
Zeit deutlich ab. Seine Rose setzt sich aus 16
konzentrischen wie Blütenblätter angeordneten Lanzettenfenstern ohne weitere Unterteilung zusammen. Es ist wohl die vollkommenste aller Rosen der damaligen Zeit,
die er selbst noch sehen konnte (▶Abb. 10).
Erwin von Steinbach stirbt im Jahr 1318.
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meinschaft mit eigenen Regeln, den „Steinmetzordnungen“.
Die meisten Steinmetze sind unbekannt,
verewigt haben sie sich aber in anderer
Form in ihren Skulpturen. Wasserspeier als
„Fabelwesen“ bevölkern das Münster, häufig auch Chimäre genannt. Diese zeugen
von der unbändigen Fantasie ihrer Schöpfer. Mit Steinmetzzeichen haben sie sich
auch im Stein verewigt. Oft finden sich die
gleichen Zeugen an verschiedenen Kathedralen in Europa, so dass die Wanderschaft
und die Arbeitsleistungen zusammengetragen werden können.
Eine Fährte zur Erkundung der Arbeitsleistung von Meister Erwin führte auch
nach Karlsruhe zum KIT Baugeschichte. In
den Aufzeichnungen eines Franziskanermönchs fand man in einer Chronik von
1724, dass er als Baumeister auch in Thann
(Elsass/Vogesen) und an der Konzeption
des Freiburger Münsterturms gearbeitet
hatte. In anderen alten Dokumenten bei
der Zeichnung des Freiburger Münsterturms konnte man auf der Rückseite des
Pergaments zum ersten Mal den originalen
Plan auch der Fensterrose des Straßburger
Münsters von Meister Erwin sehen.
Durch Vergleich vieler Originalentwürfe auf Pergament verschiedener Kathedralen und den Handschriften der Baumeister
bestätigte sich der Hinweis, dass Meister
Erwin auch das Westwerk entworfen hatte.
Die Westfassade ist massiv und filigran zugleich (▶ Abb. 8), für die Menschen des
Mittelalters sprengte das Münster die vertrauten Dimensionen. Das Geheimnis der
© Dr. Peter Diziol
hatte. Im Elsass übernahm er von heute auf
morgen die Baustelle und brachte einen
völlig neuen Stil in die Region, den wir
heute Gotik nennen (▶Abb. 8).
Neue Studien belegen, dass er das
Münster durch seinen Entwurf und Bau
des Westwerks mit der großen imposanten
Fensterrosette zu einem Musterbau der
Gotik umgestaltete (▶ Abb. 9). Seine Proportionen wirken besonders harmonisch,
so dass Größe und Leichtigkeit in einer
Weise verschmelzen, die bis heute einmalig
ist. In den Chroniken aus dem Jahr 1276
finden sich keine Hinweise auf ihn oder
andere Baumeister.
In der Bauhütte Straßburg liegt eine der
ältesten und kostbarsten Sammlungen mittelalterlicher Baupläne, auch der große Fassadenplan mit dem ersten Entwurf der gotischen Westfassade, auf Pergament gezeichnet. Dieser ist über 700 Jahre alt und
misst fast drei Meter Länge und war fest in
einem Glasrahmen. Er ist einer der schönsten Pläne des Mittelalters und zugleich einer der bedeutendsten, denn er zeigt einige
wesentliche Neuerungen in der Fassadengliederung. Die tragenden Mauern verschwinden förmlich hinter einem Vorhang
aus Verzierungen. In dieser Größenordnung ist dies eine wirkliche Innovation.
Straßburg entwickelte sich zu einem kreativen Schaffenszentrum ersten Ranges. Dies
strahlte bis ins 14. Jahrhundert auf die anderen großen Baustellen des Heiligen Römischen Reiches aus. Fast alle Elemente
seines Entwurfs finden sich an der Westfassade wieder. Kunsthistoriker nennen es
„Harfenmaßwerk“.
In den Rechnungsbüchern wurden Abrechnungen detailliert eingetragen. So
konnte man sich eine genaue Vorstellung
der Größe der Baustelle und der Zahl der
Beschäftigten machen. Über 50 hochspezialisierte Fachleute arbeiten zu Spitzenzeiten an dieser Baustelle. Sie treiben den
Bau des Münsters voran. Ihre Arbeitsbedingungen sind in Verträgen genau geregelt. Zehn Arbeitsstunden/Tag, mehrere
auf das Jahr verteilte Urlaubstage. Auch die
wöchentliche Bezahlung ist darin festgeschrieben. Bildhauer und Steinmetze sind
am meisten vertreten und am besten bezahlt. Sie erhalten auch einen Gefahrenzuschlag, denn sie arbeiten oft in großer Höhe. Sie bilden eine eingeschworene Ge-
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Abb. 9 Ausschnitt Westfassade Münster zu
Straßburg mit Rosette
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Abb. 10
„Rosette am Straßburger Münster, Entwurf
Meister Erwin. Die
Rose setzt sich aus 16
konzentrischen
Lanzettenfenstern
zusammen.
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Danach folgte Erwins Enkel Gerlach
und 1383 Meister Michael von Freiburg,
gefolgt von Meister Klaus von Lore im Jahr
1390. Beide gehören zur großen Baumeisterfamilie der Parler, die an vielen berühmten Bauten Europas beteiligt waren. Die
Straßburger holten sich 1399 Meister Ulrich von Ensingen vom Ulmer Münster
zum Bau ihres Nordturms (▶Abb. 11). Daneben war er zeitweise Baumeister und
Planer an der Frauenkirche Esslingen und
dem Münster Basel.
Der Turm ist innen hohl, nur die Säulen
außen an den Ecken tragen die Treppentürmchen. Neue Berechnungen des Turm-
gewichts weisen 2500 Tonnen nach, die auf
den den vier Außenmauern des Turmes
lasten. Der Turm weist auf Höhe der Besucherterrasse ein Viereck aus, weiter oben
geht er in ein Achteck mit Säulen über.
Damit erreichte Meister Ullrich größte
Harmonie, alles wirkt so schwerelos in
einem wundersamen Gleichgewicht. Als
würde der Bau vom Himmel angezogen
und nicht von der Erde. Jedes Türmchen ist
detailliert gestaltet – Turm und Treppen
sind aber voneinander getrennt, nur an wenigen Stellen miteinander verbunden, daher ergibt sich der leichte Eindruck. Meister Ulrich starb 1419, als sein Turm noch
nicht vollendet war. Die Turmspitze fehlte
noch. Als neuer Meister wird Johannes
Hültz ernannt. Er setzt der Turmspitze
Transparenz ohne eine zentrale Treppe auf.
Der Turm erreicht bei der Vollendung im
Jahr 1439 eine Gesamthöhe von 142 m mit
Aufsatz und ist eine Höchstleistung des
Mittelalters (▶Abb. 12).
Die neueren Untersuchungen zu den
Baumeistern und Steinmetzen am Bau gotischer Kathedralen in Europa ergeben interessante Einblicke, woher das Know-how
an den einzelnen Baustellen stammt, die
relative rasche Verbreitung des gotischen
Baustils herrührt und warum in kurzer
Zeit so viele imposante Kathedralen entstehen konnten. Wichtig ist auch die enge und
offene Zusammenarbeit der Mitarbeiter in
und zwischen den Bauhütten mit Fachleuten ganz verschiedener Arbeitsaufgaben.
Hätten die Baumeister des Mittelalters
schon Einsicht in den besonderen Knochenbau gehabt, weitere herausragende Ergebnisse im Bau von Kathedralen hätten
uns begeistert, wie es neue Ergebnisse der
Bionik aus diesem Wissen erwarten lassen.
Diese Zusammenarbeit an besonderen
Fragestellungen ist vergleichbar mit den
unterschiedlichen Arbeitsgebieten und
Forschungsergebnissen der Osteologen, die
sich dem Wissenstransfer und der unabhängigen medizinischen Information
verschrieben haben, unter anderem wieder
beim Kongress OSTEOLOGIE 2015 in
Berlin.
Die Reihe wird fortgesetzt.
Dr. Peter Diziol, Baden-Baden
Literatur beim Verfasser
OSTAK Osteologie
Akademie GmbH
© Dr. Peter Diziol
© Dr. Peter Diziol
Hellweg 92, 45276 Essen
Tel.: 02 01/38 45–627
Fax: 02 01/805–27 17
E-Mail: kastner@ostak.de
Abb. 11 Nordturm, Münster zu Straßburg; Baumeister Ulrich von Ensingen
Osteologie 1/2015
Impressum
Verantwortlich für den Inhalt
Abb. 12 Ausschnitt obere Turmspitze Straßburg, Baumeister Johannes Hültz
Dr. Barbara Kastner, Geschäftsführung
OSTAK Osteologie Akademie GmbH
© Schattauer 2015