Kathedralen wachsen in den Himmel – Knochenstruktur
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Kathedralen wachsen in den Himmel – Knochenstruktur
89 Den Knochen neu entdecken Den Knochen in der Kunst neu entdecken – das ist das Anliegen von Dr. Peter Diziol und dieser Rubrik, die interessante Bauwerke, Plastiken und Gemälde vorstellen wird. Was macht gotische Kathedralen so einzigartig, dass nach mehr als 800 Jahren beispielsweise eins bis vier Millionen Besucher jährlich vom Freiburger oder Straßburger Münster so begeistert sind? Ist es die Größe und Höhe des lichtdurchflutenden Raumes, das Lichtspiel durch die großen, farbigen Glasfenster oder die filigrane Struktur mit vielen Details im steinernen Bauwerk? Es entstanden Gesamtkunstwerke im Mittelalter, die Architektur, Skulpturen, Glasfenster mit Glasmalereien und Gemälden zu einer Einheit verschmolzen. Wer waren die Menschen, die dazu fähig waren, solche gigantischen und zugleich grazilen Bauwerke zu erdenken und in die Tat umzusetzen? Waren die Baumeister größenwahnsinnig, woher kamen sie, was hatten sie gelernt? Welche Mittel standen ihnen zur Verfügung, etwas so Großartiges zu schaffen, ohne unser heutiges Handwerkszeug der Mathematik, Statik, den Berechnungsmöglichkeiten und © Schattauer 2015 3D-Darstellung von Gebäuden mit Hilfe von Computern? Mit welchen Hilfsmitteln arbeiteten sie, denn Kräne, elektrische Werkzeuge usw. zum Bearbeiten der Steine gab es nicht. Ist es die Ehrfurcht vor diesen besonderen Menschen und ihren Leistungen, die so etwas bauen konnten, die unsere Neugierde so stark beflügelt? Diesen Fragen gehen wir in dieser Ausgabe der Osteologie im zweiten Teil der Reihe „Architektur und Bauprozesse“ nach. Eine organische, scheinbar überirdische Leichtigkeit der Gotik ersetzte das massive Mauerwerk der Romanik mit den kleinen Fenstern und den runden Fensterbögen. Häufig entstanden die neuen Kirchen auf den Fundamenten dieser Kirchen, wurden teilweise oder fast ganz abgerissen, ergänzt und entsprechend umgebaut. Es entstanden Bauwerke, die schon zur Zeit der Entstehung alle bekannten Maßstäbe und Dimensionen sprengten. Schon in der Romanik demonstrierten die Gebäude die Mächtigkeit und enorme Macht der Kirche. Dieser Machtanspruch sollte beibehalten werden, der nunmehr durch die besondere Höhe und Nähe zu Gott in lichtdurchfluteten Räumen mit hohen und filigranen Türmen den Menschen vermittelt wurde. Es war Abt Suger von St. Denis in Frankreich, der den Zeitgeist als erster umsetzte: „Gott ist Licht“ so erlebten es die Menschen. Die innere Höhe der Kathedrale wuchs in eine bis dahin nicht vor- Baustelle Kathedrale OSTAK Wissenschaft und Kunst stellbare Dimension bis 40 Meter, nur scheinbar filigrane Säulen tragen das schwere große Deckengewölbe aus Stein (siehe Abbildung 1 in Ausgabe 2/2014 der Osteologie Seite 147: Säulen-Modell St. Denis). Zahlreiche Vergleiche zwischen Bauweise gotischer Kathedralen zum Knochenbau, der Stabilität, Diagnostik und Therapie fallen uns beim Betrachten der ▶ Abbildung 1 ein, hat doch eine pharmazeutische Firma ein ähnliches Bild vom Knochenbau mit „Knochenfacharbeitern“ in ihrer Werbung. Daher ist es sinnvoll, etwas mehr zu den Ideen der Baumeister, ihrer Mitarbeiter und der Konstruktion und Restauration gotischer Kathedralen zu erfahren. Am Gesamtkunstwerk einer Kathedrale arbeiteten viele Fachleute eng zusammen: Baumeister, Parlier, Steinmetze, Steinhauer, Bildhauer, Maurer, Mörtelmischer, Zimmerleute, Schmiede, Glasbläser, Kunstglaser, Maler, Tagelöhner im Tretrad und viele andere. Damit sie über das gesamte Jahr auch in der kalten Jahreszeit arbeiten konnten, wurde an der Kathedrale eine Budenstadt errichtet. Es entstand die „Bauhütte“ die wir heute noch kennen, um Restaurierungen an Kathedralen durchzuführen. Der Baumeister hatte die Ideen zum Aussehen und Bauweise der Kathedrale. Es war seine Kunst und sein Talent, diesem neuen Baustil ein unverwechselbares Gesicht zu geben, aus Wänden, die keine mehr waren, großen Glasfenstern wie ©Bildarchiv, Freiburger Münsterbauverein Kathedralen wachsen in den Himmel – Knochenstruktur – Gotik Abb. 1 Münsterturm Freiburg – filigrane Architektur und Inspektion am Hauptturm – Vergleich zur Knochenfeinstruktur und Osteoporose Osteologie 1/2015 90 Fiale nicht deren Anzahl. Wie sollten die Ideen des ersten Baumeisters fortbestehen? Nachfolgende Baumeister können mit ihren eigenen Ideen das ursprüngliche Werk so verändern, dass es nicht mehr zu erkennen wäre und kein Gesamtkunstwerk mehr darstellt. Statik der Gotik und des Knochens © Dr. Peter Diziol OSTAK b a ad quadratum (a = b) Abb. 2 Vergleich Kraftlinien – Knochen und gotische Kathedrale mit filigraner Architektur. Gewicht und Schub des Gewölbes ruhen auf Stützpfeilern und werden über Strebepfeiler auf die Seitenschiffe und Wände nach unten weitergegeben (Pfeile). „Wände aus Glas“ und seine Vorstellungen im Detail auf große Pergamente in einem maßstabsgetreuen Aufriss als „Urmaß“ zu zeichnen und den „Bauherren“ zur Genehmigung und Finanzierung vorzulegen. Dieser Aufriss hing dann in der Bauhütte und war allen Handwerkern zur Umsetzung zugänglich. Er trug auch die Verantwortung für Statik, Architektur und Erscheinungsbild des Gesamtkunstwerks. Da sich die Bauphase gotischer Kathedralen über große Zeiträume erstreckte, wusste der Baumeister, dass er die Fertigstellung nicht mehr erleben und sehen kann und andere nach ihm weiterbauen mussten. Viele Baumeister an einer Kathedrale sind namentlich nicht bekannt, auch Informationen © Dr. Peter Diziol 1000-Jahrfeier Straßburger Münster • http://eurojournalist.eu/1000-jahre• Abb. 3 Blick auf das Haupt- und Seitenschiff, Münster zu Straßburg mit Strebewerk Osteologie 1/2015 • strassburger-muenster-ein-wuerdigerauftakt/ http://www.cathedrale-stras bourg-2015.fr/ http://www.1000cathedrale.strasbourg. eu/ Ohne Kenntnis von Baustatik, mathematischen Regeln zur Berechnung der Stabilität für filigrane Säulenbauten, Kraftschüben, Lasten eines Gebäudes – die Kathedrale entstand ja nur im Kopf des Baumeisters – sammelten diese doch praktische Erfahrungen schon als Parlier, Steinmetz und auch aus „Trial und Error“, das sie mündlich ihren Schülern und Kollegen in den Steinmetzverbänden offen weitergaben. Da Steinmetze an vielen Kathedralen in ganz Europa arbeiteten, konnte das Wissen rasch verbreitet werden. Als Berufsschutz erfuhren Außenstehende nichts von diesen wesentlichen Erfahrungen. Gewicht, Kräfte und Schub des steinernen, hohen, mächtigen Gewölbes ruhen auf den Stützpfeilern (▶Abb. 2, ▶Abb. 3). Damit diese durch die enormen Querkräfte nicht seitlich nachgeben können und die gesamte Kathedrale wie ein Kartenhaus in sich zusammenbricht, wurde das Gewicht des Gewölbes und Dachstuhls durch ein spezielles Strebewerk – Schwebebögen und Schwibbögen – nach außen auf Seitenschiffe verlagert. Der seitliche Druck wird in einen senkrechten Druck nach unten weitergegeben (siehe rote Pfeile). Die Seitenschiffe mit dem filigranen Strebewerk sind kein Zierwerk, sondern elementare Bauteile mit eigenen Fundamenten. Die Kreuzrippen in den Gewölben sorgen zusätzlich dafür, die Schubkräfte auf dieses Stützsystem zu verteilen (▶Abb. 2). Die Baumeister waren überzeugt, dass die Ordnung des Himmels und der Erde auf mathematischen Gesetzen beruhen, die zusammen eine vollkommene Harmonie ergeben. Diese sollte sich auch in der Ästhetik des Kathedralbaus wiederfinden, da sie das himmlische Jerusalem symbolisiert. In den Proportionen musikalischer Akkorde fanden sie Parallelen zu geometrischen © Schattauer 2015 Abb. 4 Vorderansicht Freiburger Münster; weiße Punktline: Höhe des Dachstocks; gelbe Punktlinie: innere Raumhöhe des Kirchenschiffs. Zwischen beiden Linien – Breite Hauptschiff. Abb. 5 Laufräder zum Heben großer Gewichte für Arbeiter beim Münsterbau: Laufkran in Originalgröße vor Augustinermuseum zur Ausstellung Gotik, 2014. Strebepfeiler des Münsterturms in die Wand eingelassen. Die spezialisierten Mitarbeiter in den Bauhütten waren vom Parlier für ihre besonderen Aufgaben ausgesucht worden. Nur scheinbar waren ihre Werkzeuge „primitive“ Hilfsmittel. Es war die Aufgabe der Schmiede, die besonderen Arbeitsgeräte zur Steinbearbeitung wie beispielsweise „Spitzeisen“ und „Schlageisen“ sowie die speziellen „Hebezangen“ herzustellen, um die großen, zugehauenen Steinlasten an ihren Zielort zu befördern. Um Gewölbe mit Steinen freitragend zu bauen, wurden von den Zimmerleuten entsprechende Bögen aus Holz gefertigt und auf die Säulen gelegt. Die großen Lasten und Steine mussten in die Höhe an den Arbeitsplatz befördert werden. Dazu fertigten Zimmerleute große Laufräder für Menschen mit einem Galgenkran an – vergleichbar mit Hamsterrädern. In diesen Hebemaschinen liefen die Menschen und zogen über lange Seile große Lasten in die Höhe. Noch heute sind diese Laufräder in vielen Kathedralen hoch oben im Turm oder Dachstock zu finden OSTAK © Dr. Peter Diziol Maßverhältnissen. Maß, Zahl und Gewicht hatten prinzipiell eine herausragende Bedeutung bei der Planung ihrer Architektur, die in allen Maßverhältnissen ein Modell dieser Ordnung wiedergebe, die der forschende Geist im Kosmos findet. Zahlen sind nicht nur Mengenangaben, sondern schließen vielmehr weitere Bedeutungen ein, die das ganze Weltbild ordnen. Die ersten Zahlen der Zahlenreihe sind die „größten und inhaltsschwersten“, die späteren Zahlen Kombinationen und Summierungen der ersten Zahlen; meist deckt die Quersumme oder ihre Wurzel deren Geheimnis auf. Für viele Menschen von heute ist diese Einstellung zur Zahl verloren gegangen. Wir bemerken diese aber indirekt in den Proportionen, der Ästhetik, die wir als gelungen ansehen. Durch Nachberechnungen bemerkte man, dass die Maße der Kathedralen wie die Gesetze der Musik einer Harmonie entsprechen, für die Zahlenordnungen den Schlüssel liefern. Daher galt: Die Kathedrale sei ,,gebaute Musik’’, und Goethe sagte dazu: ,,Ich glaube gar, der ganze Tempel singt’’. Ein Grundmaß der Vollkommenheit war beispielhaft das Quadrat. Daraus wurden weitere Zahlenverhältnisse abgeleitet, die „ad quadratum“ genannt wurden (siehe in ▶ Abb. 2 – blau gestrichelte Linie). Der Aufriss wurde aus dem Grundriss entwickelt. Beispielsweise wurde für die Höhe einer Fiale – es sind die kleinen, aus Stein gemeißelten schlanken und spitz zulaufenden Türmchen, die neben ästhetischen Aspekten auch statische Funktion wahrnehmen, da sie die Konstruktion von Strebepfeilern stabilisieren – die Seitenlänge eines Grundquadrats mal 6 genommen. Die Entwürfe für Fassaden, Türme, Fenstermaßwerk, Strebesystem bauen sich aus diesen Verhältnissen auf. © Dr. Peter Diziol 91 Know-how am Bau © Schattauer 2015 Abb. 6 Laufräder zum Heben großer Gewichte für Arbeiter beim Münsterbau: Zwei Laufräder im Glockenturm Straßburger Münster. © Dr. Peter Diziol Die mittelalterlichen Baumeister kannten noch nicht den „Meter“ als Maßeinheit, die gebräuchlichsten Längenmaße waren Elle und Fuß. Die Freiburger Elle entspricht 54 cm, ein Freiburger Fuß (Freiburger Werkschuh) hatte die Länge von 32,4 cm. Diese Maße waren z. B. am nordwestlichen Osteologie 1/2015 92 den Bürgern oder Zuwendungen adliger Mäzene, die sich in Bildern oder Statuen verewigen lassen wollten. Die Bauherren sind meist Geistliche oder Bischöfe, oft unterstützt vom Domkapitel oder weltlichen Ratsherren, die den Baumeister wählten und ihm die Anforderungen zum Bau mitteilten sowie Gelder für den Weiterbau bewilligten. Auch Bürger von aufstrebenden Städten, wie beispielsweise Straßburg, konnten Bauherren werden, die dann die Finanzierung des Baues kontrollierten und verwalteten. Kathedralen waren schon damals Tourismusmagnete, es kommt Geld in die Stadtkasse, schafft Arbeitsplätze und Pilgerströme sowie Handwerker und Händler sorgen für weitere Einnahmen. Eine Kathedrale zu bauen, war wie ein heutiges Großunternehmen, die Stadtbevölkerung wurde mit einbezogen, es brachte Arbeit und Lebensunterhalt für Generationen für die am Bau Beteiligten. Arbeitszeiten waren akribisch geregelt und Löhne für jede Arbeitergruppe genau ausgehandelt. Straßburg – 1000-Jahr-Feier der Kathedrale 2015 Am Beispiel des Straßburger Münsters werden praktische Beispiele und die Besonderheiten am Bau aufgezeigt. An den drei gotischen Münstern zu Freiburg, Straßburg und Thann arbeiteten zu verschiedenen Zeiten die gleichen Baumeister und Steinmetze, so dass gemeinsame Erfahrungen im Bau eingeflossen sind. Abb. 7 „Steinmetzzeichen“ an den behauenen Steinen im Freiburger Münster; häufig Buchstaben oder einfache geometrische Formen © Dr. Peter Diziol OSTAK (▶ Abb. 5, ▶ Abb. 6). Kunstglaser und Glasmaler schufen in den Bauhütten die großen bunten, bleigefassten Glasfenster. Die Werkzeuge der heutigen Mitarbeiter in den Bauhütten unterscheiden sich nur wenig von denen des Mittelalters, nur dass mit mehr elektrischen Hilfsmitteln gearbeitet werden kann. Auf diese Arbeitsweisen wird in späteren Beiträgen eingegangen. Schon damals waren die Baustellen gut organisiert. Überflüssige Lasten sollten nicht vom Steinbruch in die Bauhütte transportiert werden. Die Steine wurden schon grob auf das vorgegebene Maß von Steinmetzen im Bruch zugehauen. Jeder Stein bekam seine Markierung für den künftigen Platz am Bau. In der Bauhütte arbeiteten die Bildhauer und Steinmetze. Für die Figuren einer Kathedrale, häufig wurden um die 2000 Plastiken aus Stein gemeißelt, haben viele Steinmetze gleichzeitig mit weiteren Gehilfen über viele Jahre gearbeitet. Der Beruf der Steinmetze war eine sehr gut bezahlte Arbeit. Um diese Arbeitsleitung auch für die Abrechnung des Lohnes zu dokumentieren, hatte jeder Steinmetz und Bildhauer sein spezielles Erkennungszeichen, das „Steinmetzzeichen“, das auch heute noch in den Kathedralen an den behauenen Steinen zu sehen ist. (▶ Abb. 7). Häufig sind es einfache geometrische Formen, Buchstaben oder besondere Gegenstände. Woher kam das Geld, um die Arbeiter zu bezahlen? Das Startkapital stammte häufig aus kirchlichen Einnahmen wie dem Zehnten, Ablässen, von wohlhaben- Osteologie 1/2015 Der Straßburger Münsterturm war Höhepunkt der Gotik und bis ins 19. Jahrhundert mit 142 Metern das höchste Gotteshaus der Welt – die eindrucksvolle Fassade wurde niemals übertroffen. Ein bekannter Kunsthistoriker sagte 1869 vergleichbares über den 116 Meter hohen Turm des Freiburger Münsters im Vergleich zu Basel und Straßburg: „Und Freiburg wird wohl der schönste Turm auf Erden bleiben.“ Ihn besteigen jährlich mehr als 170 000 Besucher. Nach Fertigstellung des Westturms um 1330 gehörte das Freiburger Münster für rund ein Jahrhundert zu den höchsten Sakralgebäuden der Welt. Solche Attribute sind bekanntlich vergänglich. Der 1890 vollendete 161,53 Meter hohe Turm des Ulmer Münsters ist bis heute der höchste Kirchturm der Welt. An diesem Bau war der Meister Ulrich von Ensingen tätig, der auch nach Straßburg als Baumeister berufen wurde. Die Namen vieler seiner Erbauer sind in Vergessenheit geraten. 1770 zieht das Straßburger Münster die Aufmerksamkeit von Johann Wolfgang von Goethe auf sich, als er zum Studium in Straßburg weilte und sofort von diesem Kirchenbau fasziniert war. Er entdeckt die besondere Schönheit dieser gotischen Kathedrale und versuchte, den Baumeister zu ergründen. Auf einer Grabplatte im Hof fand er den Namen von Meister Erwin von Steinbach. Ist es nur das Werk eines einzigen Mannes, eines Genies? Wer waren diese Baumeister? Viele Baumeister sind unbekannt oder ihre Namen waren vergessen, nur einige Namen wurden in langjährigen Forschungen in den letzten Jahren zugeordnet. In alten Handschriften der Bauhütte in Straßburg taucht am 16. August 1284 zum ersten Mal der Name von „Meister Erwin“ mit der Bezeichnung Werkmeister auf. Der erste romanische Kirchenbau stammte aus dem Jahr 1015, damit feiert Straßburg in diesem Jahr 2015 das 1000-jährige Bestehen der heutigen Kathedrale (Informationen siehe Kasten auf Seite 48). Zahlreiche Baumeister hatten schon an der romanischen Kathedrale gebaut, als Meister Erwin nach Straßburg kommt. Er tritt damit ein besonderes Erbe an. Heutige Forschungsergebnisse zeigen, dass er bereits auf den großen gotischen Baustellen der Ile de France, in Chartres und Reims gearbeitet © Schattauer 2015 © Schattauer 2015 Abb. 8 Westfassade Münster zu Straßburg Architektur bleibt den Zeitgenossen von damals verborgen. Sie können aber den Figurenschmuck in den Portalen deuten und wissen, was er von Sünde und Erlösung erzählt. Mit seiner Inspiration zum Plan der Rosette in seiner Klarheit und Verständlichkeit hebt er sich von anderen Rosetten seiner Zeit deutlich ab. Seine Rose setzt sich aus 16 konzentrischen wie Blütenblätter angeordneten Lanzettenfenstern ohne weitere Unterteilung zusammen. Es ist wohl die vollkommenste aller Rosen der damaligen Zeit, die er selbst noch sehen konnte (▶Abb. 10). Erwin von Steinbach stirbt im Jahr 1318. OSTAK meinschaft mit eigenen Regeln, den „Steinmetzordnungen“. Die meisten Steinmetze sind unbekannt, verewigt haben sie sich aber in anderer Form in ihren Skulpturen. Wasserspeier als „Fabelwesen“ bevölkern das Münster, häufig auch Chimäre genannt. Diese zeugen von der unbändigen Fantasie ihrer Schöpfer. Mit Steinmetzzeichen haben sie sich auch im Stein verewigt. Oft finden sich die gleichen Zeugen an verschiedenen Kathedralen in Europa, so dass die Wanderschaft und die Arbeitsleistungen zusammengetragen werden können. Eine Fährte zur Erkundung der Arbeitsleistung von Meister Erwin führte auch nach Karlsruhe zum KIT Baugeschichte. In den Aufzeichnungen eines Franziskanermönchs fand man in einer Chronik von 1724, dass er als Baumeister auch in Thann (Elsass/Vogesen) und an der Konzeption des Freiburger Münsterturms gearbeitet hatte. In anderen alten Dokumenten bei der Zeichnung des Freiburger Münsterturms konnte man auf der Rückseite des Pergaments zum ersten Mal den originalen Plan auch der Fensterrose des Straßburger Münsters von Meister Erwin sehen. Durch Vergleich vieler Originalentwürfe auf Pergament verschiedener Kathedralen und den Handschriften der Baumeister bestätigte sich der Hinweis, dass Meister Erwin auch das Westwerk entworfen hatte. Die Westfassade ist massiv und filigran zugleich (▶ Abb. 8), für die Menschen des Mittelalters sprengte das Münster die vertrauten Dimensionen. Das Geheimnis der © Dr. Peter Diziol hatte. Im Elsass übernahm er von heute auf morgen die Baustelle und brachte einen völlig neuen Stil in die Region, den wir heute Gotik nennen (▶Abb. 8). Neue Studien belegen, dass er das Münster durch seinen Entwurf und Bau des Westwerks mit der großen imposanten Fensterrosette zu einem Musterbau der Gotik umgestaltete (▶ Abb. 9). Seine Proportionen wirken besonders harmonisch, so dass Größe und Leichtigkeit in einer Weise verschmelzen, die bis heute einmalig ist. In den Chroniken aus dem Jahr 1276 finden sich keine Hinweise auf ihn oder andere Baumeister. In der Bauhütte Straßburg liegt eine der ältesten und kostbarsten Sammlungen mittelalterlicher Baupläne, auch der große Fassadenplan mit dem ersten Entwurf der gotischen Westfassade, auf Pergament gezeichnet. Dieser ist über 700 Jahre alt und misst fast drei Meter Länge und war fest in einem Glasrahmen. Er ist einer der schönsten Pläne des Mittelalters und zugleich einer der bedeutendsten, denn er zeigt einige wesentliche Neuerungen in der Fassadengliederung. Die tragenden Mauern verschwinden förmlich hinter einem Vorhang aus Verzierungen. In dieser Größenordnung ist dies eine wirkliche Innovation. Straßburg entwickelte sich zu einem kreativen Schaffenszentrum ersten Ranges. Dies strahlte bis ins 14. Jahrhundert auf die anderen großen Baustellen des Heiligen Römischen Reiches aus. Fast alle Elemente seines Entwurfs finden sich an der Westfassade wieder. Kunsthistoriker nennen es „Harfenmaßwerk“. In den Rechnungsbüchern wurden Abrechnungen detailliert eingetragen. So konnte man sich eine genaue Vorstellung der Größe der Baustelle und der Zahl der Beschäftigten machen. Über 50 hochspezialisierte Fachleute arbeiten zu Spitzenzeiten an dieser Baustelle. Sie treiben den Bau des Münsters voran. Ihre Arbeitsbedingungen sind in Verträgen genau geregelt. Zehn Arbeitsstunden/Tag, mehrere auf das Jahr verteilte Urlaubstage. Auch die wöchentliche Bezahlung ist darin festgeschrieben. Bildhauer und Steinmetze sind am meisten vertreten und am besten bezahlt. Sie erhalten auch einen Gefahrenzuschlag, denn sie arbeiten oft in großer Höhe. Sie bilden eine eingeschworene Ge- © Dr. Peter Diziol 93 Abb. 9 Ausschnitt Westfassade Münster zu Straßburg mit Rosette Osteologie 1/2015 94 © Dr. Peter Diziol Abb. 10 „Rosette am Straßburger Münster, Entwurf Meister Erwin. Die Rose setzt sich aus 16 konzentrischen Lanzettenfenstern zusammen. OSTAK Danach folgte Erwins Enkel Gerlach und 1383 Meister Michael von Freiburg, gefolgt von Meister Klaus von Lore im Jahr 1390. Beide gehören zur großen Baumeisterfamilie der Parler, die an vielen berühmten Bauten Europas beteiligt waren. Die Straßburger holten sich 1399 Meister Ulrich von Ensingen vom Ulmer Münster zum Bau ihres Nordturms (▶Abb. 11). Daneben war er zeitweise Baumeister und Planer an der Frauenkirche Esslingen und dem Münster Basel. Der Turm ist innen hohl, nur die Säulen außen an den Ecken tragen die Treppentürmchen. Neue Berechnungen des Turm- gewichts weisen 2500 Tonnen nach, die auf den den vier Außenmauern des Turmes lasten. Der Turm weist auf Höhe der Besucherterrasse ein Viereck aus, weiter oben geht er in ein Achteck mit Säulen über. Damit erreichte Meister Ullrich größte Harmonie, alles wirkt so schwerelos in einem wundersamen Gleichgewicht. Als würde der Bau vom Himmel angezogen und nicht von der Erde. Jedes Türmchen ist detailliert gestaltet – Turm und Treppen sind aber voneinander getrennt, nur an wenigen Stellen miteinander verbunden, daher ergibt sich der leichte Eindruck. Meister Ulrich starb 1419, als sein Turm noch nicht vollendet war. Die Turmspitze fehlte noch. Als neuer Meister wird Johannes Hültz ernannt. Er setzt der Turmspitze Transparenz ohne eine zentrale Treppe auf. Der Turm erreicht bei der Vollendung im Jahr 1439 eine Gesamthöhe von 142 m mit Aufsatz und ist eine Höchstleistung des Mittelalters (▶Abb. 12). Die neueren Untersuchungen zu den Baumeistern und Steinmetzen am Bau gotischer Kathedralen in Europa ergeben interessante Einblicke, woher das Know-how an den einzelnen Baustellen stammt, die relative rasche Verbreitung des gotischen Baustils herrührt und warum in kurzer Zeit so viele imposante Kathedralen entstehen konnten. Wichtig ist auch die enge und offene Zusammenarbeit der Mitarbeiter in und zwischen den Bauhütten mit Fachleuten ganz verschiedener Arbeitsaufgaben. Hätten die Baumeister des Mittelalters schon Einsicht in den besonderen Knochenbau gehabt, weitere herausragende Ergebnisse im Bau von Kathedralen hätten uns begeistert, wie es neue Ergebnisse der Bionik aus diesem Wissen erwarten lassen. Diese Zusammenarbeit an besonderen Fragestellungen ist vergleichbar mit den unterschiedlichen Arbeitsgebieten und Forschungsergebnissen der Osteologen, die sich dem Wissenstransfer und der unabhängigen medizinischen Information verschrieben haben, unter anderem wieder beim Kongress OSTEOLOGIE 2015 in Berlin. Die Reihe wird fortgesetzt. Dr. Peter Diziol, Baden-Baden Literatur beim Verfasser OSTAK Osteologie Akademie GmbH © Dr. Peter Diziol © Dr. Peter Diziol Hellweg 92, 45276 Essen Tel.: 02 01/38 45–627 Fax: 02 01/805–27 17 E-Mail: kastner@ostak.de Abb. 11 Nordturm, Münster zu Straßburg; Baumeister Ulrich von Ensingen Osteologie 1/2015 Impressum Verantwortlich für den Inhalt Abb. 12 Ausschnitt obere Turmspitze Straßburg, Baumeister Johannes Hültz Dr. Barbara Kastner, Geschäftsführung OSTAK Osteologie Akademie GmbH © Schattauer 2015