PAULNIZON DISKURS IN DER ENGE VERWEIGERERS
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PAULNIZON DISKURS IN DER ENGE VERWEIGERERS
PAULNIZON DISKURS I N DER E N G E VERWEIGERERS STECKBRIEF Schweizer Passagen Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Peter Henning Diskurs in der Enge Vorwort Der »Diskurs in der Enge« ist vor zwanzig Jahren geschrieben und 1570 erstmals in Egon Ammanns kurzlebigem Berner Kandelaber Verlag publiziert worden. E r ist bestimmt kein Produkt der Gelehrsamkeit, eher schon eine Temperamentsnote und Streitschrift oder, anders, eine Gelegenheitsarbeit. Die Hauptarbeit damals galt dem Buch »Im Hause enden die Geschichten«, das tägliche Geschäft und die Brotarbeit hießen jedoch Kunstkritik, das Observatorium befand sich in Zürich, der Aktionsradius bestrich die Szene Schweiz, und mit dem »Diskurs« verabschiedete sich der Verfasser gewissermaßen von der Kunstkritikertätigkeit - soweit die »Gelegenheit« - und jedem Nebenberuf und einige Jahre später auch von Zürich und von der Schweiz. Die weder mit dem Anspruch auf Vollständigkeit noch auf objektive Ausgewogenheit verfaßte Schrift muß aus dem großen zeitHchen Abstand eine Menge Lücken aufweisen und stellenweise wohl auch eine überholte Sicht der Dinge. Eine ganze Generation von Künstlern und Literaten, darunter etliche von internationaler Mitsprache urid Bedeutung, wareri damals noch nicht auf dem Plan oder noch nicht sichtbar, wie es auch den aus helvetischeri Materialien gemachteri und zum weltweiten Exportartikel gediehenen Schweizer Fihn noch nicht wirklich gab. Trotzdem ist das Buch in der Schweiz nicht nur nicht vergessen, sondern unermüdlich weiterzitiert worden. Es ist inzwischen zum festen Bestandteil einer helvetischen Kulturdiskussiori (ja zum geflügeltcri Wort) geworden - weil es einen empfindUchen Nerv trifft? Weil es von nach wie vor stimmigen Thesen ausgeht? Wie immer, es ist jedenfalls eine A r t Herausforderung geblieben und soll darum nach langer Abwesenheit vom Markt (unaufgearbeitet) als Dokument wieder vorgelegt und einem weiteren Publikum zugänglich gemacht werden. 137 A u s unterhaltsamen G r ü n d e n w i r d der » D i s k u r s « hier mit Teilen einer A r b e i t k o m b i n i e r t , die 1971 unter dem Titel swiss made i m Benziger Verlag erschien u n d seit langem vergriffen ist. D e r T i t e l versammelt hier sechs A u f s ä t z e z u Schweizer K ü n s t l e r n , z u ihrer Person u n d i h r e m W e r k . D i e getroffene A u s w a h l sollte nicht eine F o r m v o n Wertung oder R e p r ä s e n tanz demonstrieren, sie hatte m i t p e r s ö n l i c h e m U m g a n g und i n einigen F ä l l e n m i t Freundschaft z u tun. D a r u m der U n t e r titel: Portraits, H o m m a g e s , C u r r i c u l a . Paris, J u n i 1989 P.N. Vorwort zur Erstausgabe Was bedeutet »Diskurs in der Enge«? Der Titel steht verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten offen, er bedarf.daher einer einschränkenden Erläuterung. Der Begriff Enge wird hier in doppelter Hinsicht für die Schweiz in Anspruch genommen. E r charakterisiert zunächst schlicht die naturbedingte Enge des Schauplatzes, aber er spielt darüber hinaus auch schon auf eine erstrangige Kulturhedingung der Schweiz an: er kündet die These an, die der folgende Diskurs zur Voraussetzung nimmt. Der Untertitel will lediglich materiell verstanden sein. E r weist darauf hin, daß die Untersuchung im Medium der Kunst stattfindet, womit in erster Linie die Bildende Kunst, daneben aber auch Literatur und Architektur gemeint sind. Es handelt sich im folgenden also um eine Auseinandersetzung mit der schweizerischen Enge unter kulturellem Gesichtspunkt - nicht um einen kunstgeschichtlichen, streng kunstwissenschafthchen oder gar kunstführerartigen Beitrag. Auch das will präzisiert sein. Unter Kultur wird aUgemein die Summe der geistigen und künstlerischen Leistungen innerhalb eines bestimmten Lebensraums oder innerhalb einer determinierbaren Gemeinschaft verstanden, mithin eine A r t Volksreichtum, ein Besitz. U n d die Beschäftigung mit solchen kulturellen »Werten«, die sogenannte Kulturbetrachtung, wird meist als eine Beschäftigung angesehen, die gesicherten Werten, , also letzten Endes der Vergangenheit güt. Gerade diese A r t kultureUer Werte interessiert hier nicht. Hier interessiert der Kulturschauplatz Schweiz, oder besser: das kulturelle Feld, und das heißt wiederum nicht das gesetzte Feld als abgeschlossenes Kapitel, sondern das in die Zukunft offene, das kulturelle Spannungsfeld. • • Dieses Feld steht zur Diskussion, und zwar unter spezifisch heutiger FragesteUung, d. h. unter einer Fragestellung, die die Sorge um die eigene Zeit diktiert. N u n ist die eigene Zeit gleichzeitig Produkt der Geschichte (ihrer Irrtümer, Vorstöße, Hoffnungen, Fehler), aber ebensosehr der Raum, 139 in welchem die Zukunft gärt, vorbereitet, in Aussicht genommen und verantwortet wird: die eigene Zeit, die Gegenwart, eine dunkel bewegte Größe sov/ohl aus historischen wie künftigen Latenzen - f ü r den, der sie bestehen möchte: ein Abenteuer der Bewnßtwerdung und geistiger Annexion! Kein Besitz - eine Aufgabe. Eine Aufgabe kultureUen Bewußtseins. Dieses Bewußtsein aber kann sinngemäß immer nur das Bewußtsein einer kulturellen Problematik sein. KultureU, meine ich, ist jede Auflehnung gegen die blinde Hinnahme eines ReaUtätsdiktates zu nennen, gleichviel ob sie aus einem radikalen Lebensanspruch, aus erkenntnishungriger Neugier, aus schöpferischem Drang, im Namen einer besseren - vernünftigeren - "Welt, im Namen der Utopie erfolge: sie beleuchtet das Dasein, sie impft dem Dasein mit der Beleuchtung VeränderungsmögHchkeit und Lebensenergie ein. Sie eröffnet Lebensaussichten. Es sind die Horizonte dieser Lebensaussichten, die den Bewußtseinsraum der Kultur erzeugen, der dem finsteren Schlachtfeld des sogenannten realen Lebens etwas wie einen Elimmel überspannt. U n d dient dieser »Hinunel«, der sich aus lauter Projektionen, demnach illusionär wölbt, auch nur als Spiegel f ü r das Untere, so ist er dennoch ErheUung. Ohne diese Erhellung verkäme das Unten der sogenannten Realität voUends. Der vorliegende Diskurs behandelt also die Erscheinungen der Kunst nicht als Werte f ü r sich, sondern als Projektionen aus einem vertrauten Schauplatz: der Schweiz. Uns interessieren hier die künstlerischen Energien, die Kräfte; die Charakteristika und Beschaffenheit der künstlerischen Weitprojekte als Ausdruck einer bestimmten liistorisch-geographisch-gesellschaftlich-poHtisch faßbaren Situation. Uns interessieren die Entstehungsbedingungen, Widerstände, interessiert das Spamrungsfeld. Das kulturelle Feld. Wie schon aus dem Titel hervorgeht, versteht sich der Schreibende als Teü dieses Feldes, sowohl als Bewohner wie als Produkt der behandelten Enge. Die Optik, die EinsteUung zur Sache ist deshalb notgedrungen parteiisch. Diese A-beit wurde nicht aus wissenschäfthchem Interesse, sondern aus persönlichem Betroffensein unternommen, mit anderen 140 Worten: aus dem Bedürfnis, eigenste Lebensaussichten zu aewinnen. Der kulmrelle Bestand wird als bekannt vorausgesetzt. Was die Auswahl der behandelten Phänomene, PersönHchkeiten, Bewegungen betrifft, so wurde kerne VoUständigkeit angestrebt. Im Februar 1970 P- N . 141 I. Teil Die scliweizerische Kunstlandschaft in unserer Zeit »Aufnahmen« und allgemeine Überlegungen I. D i e Schweiz als künstlerischer N ä h r b o d e n und Kulturschauplatz Wer die Schweiz als Kunstlandschaft ins Auge faßt, aber für einmal vom Museum Schweiz absieht, um nach dem eigenen Kunstschaffen zu fragen, macht die folgende Beobachtung: es gibt zweifellos ein reges Kunstschaffen im Lande, aber gibt es etwas, das als »Schweizer Kunst« zum Inbegriff geworden wäre, vergleichbar etwa der »Ecole de Paris« oder neuerdings der jungen englischen oder amerikanischen Kunst? Es fallen uns wohl einige berühmte Schweizer ein, aber sie sind fast ausnahmslos im Ausland groß geworden, das heißt, sie haben die Schweiz hinter sich gelassen, abgestreift. Das schweizerische Kunstschaffen ist da, aber es ist anscheinend unter solcher Fragestellung zumindest - anonym da. N u n mag der Vergleich mit ausgesprochenen Großmächten und ihren Metropolen f ü r unseren Kleinstaat unangebracht, ja ungerecht erscheinen. Man könnte einwenden, zu Vergleichszwecken wäre es vernünftiger, in der gegebenen Größenordnung zu bleiben, also in der Ordnung von Ländern wie Holland oder Schweden, allenfalls Österreich zum Beispiel. Dazu ist zu sagen, daß es hier nicht um einen quantitativen Vergleich, nicht um die Gegenüberstelliing von relativ (zur Bevölkerungszahl) eruierten kulturellen Hervorbringungen geht, nicht um eine »Ehrensache«: gefragt wird einzig nach den Voraussetzungen, Entstehungsbedingungen künstlerischen Schaffens, und f ü r derlei Beleuchtungsversuche kann die starke Kontrastwirkung nur willkommen sein. Die Frage ist: Woran liegt es, daß die Schweiz keine nennenswerten Bewegungen und Schulen, keine wesentlichen künstlerischen Zentren liei-vorbringt? Liegt es tatsächhch nur an 143 der Kleinheit des Landes, an der föderahstischen Struktur, am vielgerühmten Phänomen der kulturellen Mehrwertigkeit und Vielstimmigkeit, an unserer sprichwörtlichen demokratischen Vielgestaitigkeit? Es mag von Nutzen sein, nach den Bedingungen zu fragen, die anderswo zu Bewegungen von nationalem Gepräge und internationalem Rang geführt haben, während unsere Bedingungen etwas Entsprechendes geradezu zu verhindern scheinen. ^ Im FaUe von Paris wird man zuerst auf die jahrhundertealte Tradition verweisen, aber diese Tradition läßt sich nicht von der staatHch-geseUschaftÜcheh Struktur und nicht von der außenpoHtischen RoUe isolieren: Paris ist gleichbedeutend mit jenem Frankreich, das lange Zeit europäische Geschichte gemacht hat - oder Weltgeschichte. Das Kulturzentrum Paris ist welthistorisch fundiert. Als Haupstadt einer Weltmacht hat Paris seine einzigartige kultureUe Vormachtstellung erworben, die ja bekannthch so weit ging, daß die ganze übrige Wek nach französischem Muster lebte - angefangen bei der Mode, über die Küche, ja die Liebe, bis hin zu Architektur und Künsten. Französisch war Synonym für Lehensart, französisch war ein Kulturbegriff; und Frankreich war Paris. Die nationale und weltpoHtische Größe, kulminierend und kristalhsierend i m Mittelpunkt einer absoluten Hauptstadt - ist es das? ZweifeUos gehört dieser Sachverhalt zu den Hintergründen wenigstens der alten Kulturmetropole. Aber er erklärt nicht das Phänomen des modernen Kunstzentrums Paris. Paris bUeb ja eine Weüe noch künstlerische Hauptstadt der Welt, lange nachdem Frankreich als führende Macht abgedankt hatte. Für diesen Umstand ist eine andere Tatsache entscheidender - die Tatsache der Französischen Revolution. Durch sie wurde Paris emeut Metropole, und zwar weit ü b e r das welterschütternde Kaiserreich Napoleons hinaus. Die Kunsthaupstadt Paris überdauerte bis in unser Jahrhundert, aber jetzt als Ausschlagsort revolutionären Geistes. U n d als geistige Heimat des Fortschritts übte sie ihre Anziehungs144 kraft geradezu diktatorisch weiter aus, vor allem auf die Internationale all jener, die gewillt waren, »am Puls der Zeit« zu leben, sich vom Puls der Zeit amVecken, anstecken, anstacheln zu lassen. Für die Künstler . . . Nicht der alte Kulturboden und nicht die pohtisch-wirtschafthche Rolle allein geben den Ausschlag. E i n Ort muß offenbar weltbedeutend sein i n revolutionärem Sinne, um künstlerische Zentren hervorzubringen. E r m u ß Ausschlagsort des sogenannten Zeitgeistes sein. M i t anderen Worten: es bedarf des zeithistorischen Schicksalsklimas, damit ein Ort jene Sättigung erfahre, die künstlerisch inspirierend werden kann in führendem, in zentralem Sinne., Diese Are Klima finden wir auf allen Schauplätzen, die in der jüngeren Kunstgeschichte Zentren hervorgebracht haben. Wiv finden es i m Wien der sterbenden Donaumonarchie wie i m Berlin des untergehenden Kaiserreichs; wir finden es natürhch i m russischen Revolutionsraum wie an den Stätten des Bauhauses (das als geistiges Auffanglager nach der Katastrophe des ersten Weltkrieges gelten darf). U n d wir finden es neuerdings in London und N e w York, weil diese Städte die Bedingungen der neuen Zeit, weil sie das Wohl und Wehe der totalen Konsumgesellschaft am radikalsten versichtbaren. Schicksalsklima - Produkt der Ö f f n u n g i n die eigene Z e i t . . . Effekt einer entsprechenden »Durchlüftung« ? Das Fehlen von najnhaften Kunstzentren i n der Schweiz muß einerseits mit den Tatsachen unseres Staatswesens und pohtischen Verhaltens zusammengesehen-werden - wir sind ein Gebilde von 25 kleinen »staatlichen« Einheiten,' eine Vielheit (sogar was die Sprachen anbelangt) ohne echte Hauptstadt und ohne dominierendes Zentrum. Aber entscheidender: wir sind ein größtenteils bäurisch geprägtes Volk, trotz Industrie, Welthandelsbeziehungen, Bankenmacht und Landflucht... Die »Landschaften« spielten i n unserer Geschichte eine wichtigere Rolle als die Städte, und sie tun es — zumal in unserem Denken und Fühlen - heute noch. Rehie Städtekultur kennen wir strenggenommen nur von Genf und Basel - zur Zeit des Humanismus war Basel gar ein Vorposten modernen Zeitgeistes, weshalb es auch in kulturellen Belangen europäische Bedeutung erlangt hat. Aber das ist 145 die Ausnahme. Bei uns entstanden im Laufe der Geschichte viele Markt-, auch Vogt-Städtchen, aber nicht die Stadt als radikale Absetzung gegen Land, Landschaft und »Naturleben«. M i t Ausnahme von Zürich (das linapp die Großstadtgrenze erreicht) ist uns das Großstadtphänomen fremd gebheben; auch die Landflucht fördert hierzulande keineswegs die große urbanistische Konzeption, vielmehr die »Verdorfung«. ^ Der Ausbildung einer beherrschenden städtischen K o n zentration und damit einer Urbanen Keilformation mit der Funktion einer (ziviUsatorisch-kultureUen) »Lokomotive« scheinen in der Schweiz tiefverwurzelte Widerstände entgegenzuwirken. Unzweifelhaft hat hier das »Land«, hat die landschaftHche Provinz ungleich mehr Heimatanbietendes (mehr »Klebestoff«) als die Stadt. , E i n Staatswesen solcher Prägung hat andere kulturelle Voraussetzungen und Traditionen als jene höfisch oder kirchenfürstlich geprägten, selbstverständlich zentralistisch orientierten Länder, die einmal Weltgeschichte gemacht haben oder gar Nabel der Welt - und damit der Weltkultur waren. Nicht nur, daß unsere Geschichte aus begreiflichen Gründen höfische Glanzentwicklung verhinderte - allein schon unser System machte ein entsprechendes Kulturprogramm undenkbar, es heß einen vergleichbaren Bedarf gar nicht aufkommen. Typisch für diesen Sachverhalt: Kunstakademien kennen wir nicht; es gab keine Bedürfnisse, die solchen Luxus gerechtfertigt hätten. Kulturbedürfnisse wurden eher beiläufig in provinziellem Rahmen und Maßstab befriedigt oder durch Import. Der Grundstock unserer öffenthchen Musermnssammlungen illustriert diese Situation augenfällig: nicht fürstliche Gemälde- und Skulpturengalerien heferten die Urbestände, sondern Kirchenschätze, Zeughäuser, die in ihren Spitzenwerken vielfach aus Beutegut bestehen. M i t Ausnahme des exklusiven Basel finden wir unter den alten Meistern vorwiegend regionale Meister, vielfach den »Anonymus«. Die Urbestände unserer Sammlungen sind durch einen bescheidenen bürgerlichen bzw. patrizischen Kunstsinn geprägt. 14.6 Dieser vielgestaltige Kleinstaat, der aus Selbsthilfernaßnahmen zur Föderation gedieh und alle Energien darauf verwandte, durchzukommen und sich duchzulavieren zwischen den Großmächten, die ihn umgaben; der sich mentaHtätsmäßig immer noch stärker im »Land« verwurzelt fühlt als in. der »Stadt« und kulturell eher sparsam auskam: diese unsere heutige Schweizerische Eidgenossenschaft hat sich, einmal etabliert, jede Ambition auf weltgeschichtHche Abenteuer oder Partizipation aus Selbsterhaltungsgründen strikte versagt; sie hat sich ihre diesbezügliche Abstinenz durch die NeutraHtätsmaxime garantiert. Gut. Aber sie gleicht, in den Augen des Welthungrigen, ein bißchen einem Ehepaar, das sich aufs Altenteil zurückgezogen hat; die Scheunen, das unter Dach Gebrachte betrachtet, bedacht zu erhalten und zu schützen, was es als seiner H ä n d e Werk erachtet und als H o r t der Freiheit verehrt; und die Giebel der Scheunen verschmelzen ein bißchen mit dem Firn der Alpen, und aus dem Bild des Friedens erstrahlt auch die Personifikation eigener Tugend; und den Mythos der Heraufkunft festigt ein Strahlenkranz . . . Aber die Welt, die sich verändernde, fortschreitende, leichtsinnige, fordernde Welt verfolgt es mit mißtrauischen Bhcken. E i n Land, das sich aus den Weltkonflikten heraushält, aber mehr als das: sich bewußt das Weltgeschehen und damit in der Konsequenz die Geschichte vom Leibe hält - , ein solches Land kann natürHch nur schwer jenes weltbedeutende Schicksalsklima kristalhsieren, das wir als Voraussetzung f ü r wesenthche Kunstzentren bezeichnet haben. Es droht vom Bewässerungsstrom der Geschichte umgangen, wer weiß vielleicht brackig zu werden. In der Schweiz hat das künstlerische Leben keine Hauptstadt und Flochburg, keinen eigenthchen Brennpunkt, der die künstlerischen Kräfte anzöge: es spielt sich, mit unterschiedlicher Bedeutung, in vielen Provinzzentren ab, ja es verteilt sich auf die Ideinste Einheit, die weitgehend autonome Gemeinde. Das künstlerische Leben ist in der Schweiz zu einem guten Teil eine lokale Angelegenheit. Es manifestiert sich in lokalen Künstler gruppen und Ausstellungen, in lokalen 147 Wettbewerben und Aufträgen, es wird m zumeist lokalen Stipendienkommissionen gemessen. Kultur ist in der Schweiz im wesenthchen Gemeindeangelegenheit, deshalb ist der Schweizer naturgemäß ein Lokalkünstler, der, in Ermangelung eines Zentrums, das den größeren Wettbewerb und den größeren Lorbeer anzubieten hätte, nach lokalen Ehren zu streben gezwungen ist. Das ist der Grund, weshalb die kühneren Künstler seit je auswandern. Sie suchen den Anschluß an den Stromkreislauf ihrer Zeit und die entsprechende Konkurrenz draußen (im Ausland): • Es ist bezeichnend, daß es sich bei jenen Künstlern, die einen internationalen Namen haben, fast immer um solche Auswanderer handelt. Die Schweiz kann einen Künstler anscheinend nicht groß machen. M i t der Kunst ist es dasselbe wie vordem mit dem Reisläuferwesen: die Schweiz läßt ihre Söhne an die weltbedeutenden Zentren des Auslandes ziehen, und sie ninnmt die Rückwanderer und Heimkehrer wieder auf und mit ihnen die Emigranten, die ihrerseits in der Schweiz Diaspora-Gemeinden ausländischer Kunstbewegungen gründen. Anders ausgedrückt, sie bringen geistige Beute oder »Welt« nach Hause. Die Schweiz lebt kulturell »im Anschluß«. N o c h bis zum zweiten Weltkrieg gehörte es zu den Selbstverständlichkeiten einer anspruchsvollen Künstlerlaufbahn, in Paris oder München, in Berlin oder R o m eine Akademie zu beziehen oder in einem AteHer zu arbeiten. Die kühnen, die zeitgenössisch empfindenden Künstler zog es unwiderstehlich hinaus - an die Brermpunkte, an die »Front«. Einige wurden dort groß und bheben; andere, die sich nicht durchzusetzen vermochten, kehrten nach einiger Zeit zurück in die Heimat. Viele kamen vorzeitig zurück, gezwungen durch drohende Kjriegsgefahr. M i t ihnen kamen die Asyl suchenden Flüchtlinge. Durch all diese Rück- und Einwanderer, auch Durchzügler, kam es zu den erwähnten A b legern und Kolonien der jeweils avantgardistischen »Weltbewegungen«. A u f diese Weise spann sich ein weitverzweigtes Netz von Einflüssen. Die schweizerische Kunstlandschaft läßt sich als eine Topographie solcher Einflüsse und Echos lesen. Sie hat innerhalb der eigenen Grenzen nur verschwindend wenige eigenständige Strahlpunkte aufzuweisen, strenggenommen nur einen einzigen: Ferdinand Flodler. 2. D i e neuere Malerei der Schweiz als Topographie von Einflüssen und Echos: als »Kolonialkunst« gesehen U m mit dem großen Unabhängigen zu beginnen: Flodler hat nicht eigenthch Schule gemacht, aber er hat - im Grunde bis beute - unabsehbaren Ehifluß ausgeübt, nicht zuletzt durch das überragende schöpferische Beispiel, das er statuiert. Er war den Künstlern ein Anreger, ein Ansporn; eine morahsche Instanz. Stihstisch suid Spuren von Rödlers Ehifluß am deuthchsten bei dem Bemer Oberländer M a x Buri und dem zum Maler des WaUis gewordenen Edouard VaUet abzulesen. Aber auch bei einem Amiet und Giovanni Giacometti spürt man, daß sie sich mit ihrem maßstabsetzenden Zeitgenossen auseinandergesetzt haben. U m diese Auseinandersetzung kam damals wohl kein einigermaßen anspruchsvoUer Schweizer Künstler herum. Giacometti und Amiet veranschauHchen das Phänomen des Kunstkreislaufs auf denkbar lebhafte Weise. Sie zogen an verschiedene »Fronten«, und zwar in Deutschland wie in Frankreich. Kennengelernt haben sie sich in München, von wo sie gemeinsam nach Paris übersiedelten. Giacometti hat Amiet das prägende Erlebnis Segantinis, Amiet dem Freund das lücht mkider nachhaltige Erlebnis Gauguins vermitteh, mit dessen Lehre er sich an der QueUe: in Pont-Aven, auseinandergesetzt hatte. Amiet hat später direkte Beziehungen zu den deutschen »Brücke«-Malern unterhalten. . Das einzigartige Gespann fungierte innerhalb der schweizerischen Kunsdandschaft als wahrer Brückenkopf der verschiedensten Einflüsse in der Nachfolge Gauguins und. van Goghs. 149 Die Kunstlandschaft der deutschen Schweiz wurde geraume Zeit durch eine latent fauvistisch-expressionistische Landschaftskunst dominiert, die man ruhig als Heimatmalerei bezeichnen darf. Die wichtigsten Statthalter (dieser Domäne) waren Amiet und Giacometti, aber nicht die einzigen. Ein Repräsentant f ü r viele andere: der Engadiner Maler Turo Pedretti. Ihr Einfluß mischte sich mit demjenigen des nach Davos exiherten Deutschen Ernst Ludwig Kirchner, über dessen Schüler Albert Müller sich in der Basler Gruppe »RotBlau« eine späte Expressionisten-Kolonie gebildet hatte. A u ßerdem hat das Werk des Norwegers Edvard Münch in der deutsch-schweizerischen Malerei deuthche Spuren hinterlassen. Als prägnantes Beispiel wäre hierfür Max Gubler zu nennen. Die Malerei der Westschweiz ist traditionsgemäß nach Frankreich ausgerichtet. So gibt es denn - mit der eindrückhchen Ausnahme Louis Soutters - kaum einen namhaften Maler dieses Landesteüs, der nicht auf Zeit Wahlpariser gewesen wäre. VaUotton ist es für immer geworden, nicht nur dem Paß nach; er ist in die Kunstgeschichte der Pariser Schule, genauer: in das Kapitel der um die »Revue Blanche« gescharten Nahis eingegangen. A n ihn knüpfen Vertreter eines magischen ReaUsmus wie Emile Chambon an, der wiederam mit dem Franzosen Balthus Verwandtschaft aufweist. Welches sind nun aber die Pariser Einflüsse, die, nach ihrer Rückkehr in die Heimat, ein Auberjonois, ein Blanchet, ein Ginuni verarbeitet und frachtbar gemacht haben? ' Es sind gmndsätzhch Cezanne-Einflüsse. Sie brachten-das Geheimnis (oder Rezept) des Cezanneschen Modeles mit. Während aber Cezannes Lehre in Paris schon um 1910 zu den epochalen Experimenten des Kubismus anzuregen begann, enthielten sich die genannten Westschweizer entsprechender Konsequenzen. Auberjonois beispielsweise war von 1897 bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges, also in einer künstlerisch sehr turbulenten Zeit, in Paris; doch ist seinem Werk vom revolutionären Klima jener Periode nur sehr wenig anzumerken. In den Motiven - vor allem aus dem Zirkusmilieu - mag man eine entfernte Beziehung zur Welt des frühen Picasso, in der Farbskala und spezifischen (schnitze- reiartigen) Plastizität der Figuren Anklänge an Farbstimmung und Formensprache der präkubistischen »Periode negre« feststellen, vielleicht noch gewisse Analogien zur Lage eines Modigliani. Trotzdem würde man weder Auberjonois noch Blanchet oder gar Gimmi ohne weiteres mit jenem aufbruchsfreudigen Pariser Milieu der Vorkriegszeit in Verbindung bringen. Bei den genannten Künstlern ist der Puls der Zeit nur mehr schwach zu vernehmen; sie gehören in eine stillere, beinah schon zeitlose, in eine ländhche Welt. U n d sonst? Den Einfluß Matisse' kann man allenfalls noch beobachten - bei einem Barraud etwa. Ferner stoßen wir in Gustave Buchet auf einen welschen Kubisten - aus dem Kreis von Villons (leicht schöngeistiger) Gruppe der »Section d'or« und in der Person AHce Baillys auf eine eigenwillige M i t streiterin der kubistischen Bewegung. Beide sind Wahl-Pariser. Die Auseinandersetzung mit dem französischen Kubismus hat in der Schweiz selber äußerst spärlich stattgefunden, wenn, dann eher noch in der deutschen als in der französischen Schweiz. Von Oskar Lüthy gibt es aus dem Jahr 1913 eine eindrucksvolle kubistische Analyse der berühmten »Pietä dAvignon«; auch Arnold Brügger und Otto Morach haben sich mit dem kubistischen Phänomen in der Zeit auseinandergesetzt; durch sie hat beispielsweise der junge Itten erstmals »Blut gerochen«. Aber diese Erscheinungen haben in unserer Kunstlandschaft keineswegs das Gesicht von Wendemarken oder Entwicklungstatsachen; sie bleiben Randerscheinungen. E i n bemerkenswerter Sachverhalt übrigens, wenn man bedenkt, daß gerade in dieser Bewegung die radikalste Entmythologisierung jedes handfesten Hehnatbegriffs vorgenommen und ein Bewnßtseüissprung in die (spirituellen) Tatsachen der Relativitätstheorie vollzogen wird. Direkter sind dann die schweizerischen Beziehungen zu deutschen Bewegungen an der Schwelle zur abstrakten Kunst. Das Ideengut des »Blauen Reiters« und insbesondere Delaunays v/tu-de zuerst durch Louis Moilliet adaptiert. Vermittler ist August Macke, der sich des öftern in der Schweiz aufhielt und mit Moilliet befreundet war. Die beiden haben zusammen mit Paul Klee die legendär gewordene Reise nach dem tunesischen Kairouan angetreten, die bekannthch ein wichtiges Datum moderner Kunstgeschichte markiert. M i t Paul Klee befinden wir uns an den Quellen der sogenannten modemen Kunst. E r ist neben, einem Kandinsky (mit welchem er im Milieu des »Blauen Reiters« zusammenkam und später am Bauhaus zusammenarbeitete) eine ihrer führenden Erscheinungen. Wenn er auch mit deutschem Paß starb, so darf er dennoch als Schweizer reklamiert werden Bern ist seine Jugendstadt und, nach der Rückkehr aus Flitlerdeutschland, das A s y l seiner letzten Zeit.-Sein Nachlaß wird als »Paul-Klee-Stiftung« im Berner Kunstmuseum aufbewahrt. Berner ist auch Johannes Itten, dem der Rang eines bedeutenden Initiators gebührt. E r kam jung zu Adolf Hölzel nach Smttgart, der, mehr als Theoretiker und Pädagoge denn als Künstler, zu den Wegbereitern der abstrakten Kunst zählt. Aus dem FIölzel-Kreis sind Leute wie Schlemmer und Baumeister hervorgegangen; vor Itten hatten schon die Schweizer Otto Meyer-Amden, Moilliet, Brühlmann, Peliegrini, nach ihm Camille Graeser dort gearbeitet. Der junge Itten wurde in Stuttgart nicht nur zu einem der frühesten Abstrakten, er begann hier auch seine kunstpädagogische Laufbahn, deren erste Station Wien, die zweite das neubegründete Bauhaus in Weimar war. Itten hat 1939 die Leitung der Zürcher Kunstgewerbeschule angetreten, die er bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1956 innehatte. Denkt man an die Reihe bedeutender Künstler, die an dieser Schule gelehrt haben - angefangen bei Sophie Taeuber, über Meyer-Amden, den Bildhauer Ernst Gubler, Morach, bis zu Itten, Fischli, Bül, dem Photographen Finsler . . . - , dann rückt dieses Institut in den Rang einer wichtigen Experimentieranstalt auf. M i t der Kunstgewerbeschule, aber auch dank anderer günstiger Umstände, vor allem auch auf Grund seiner Bedeutung als Asylstadt, darf man Zürich rückblikkend wenn auch nicht als Zentrum, so doch als wichtigen Kunstschauplatz ansehen. lyz Zum ersten M a l wurde Züricli Schauplatz selbstbewußter zeitgenössischer Tendenzen kurz vor dem ersten "Weltkrieg, als der von Walter Heibig und Paul Kdee gegründete »Moderne Bund« im Kunsthaus ausstellte. Das Gründungsjahr ist 19IG, die Ausstellung fällt ins Jahr 1912. Im "Vorwort des Katalogs nennt Klee als künstlerische Orientierungspunkte Cezanne, van Gogh, Gauguin, Matisse, Picasso, Braque . . . Die neuen Tendenzen gehen damals im Sanmielbegriff »Expressionismus« auf. Unter diesem Zeichen treten als schweizerische Phalairs unter anderen Amiet, Berger, Gimmi, Giovanni Giacometti, Heibig, Hermann Huber, Klee gemeinsam auf die Bühne, aber (was bemerkenswert ist) nicht als »Schweizer Künstler«, sondern als Partizipanten an einer internationalen Bewegung: sie stellen zusammen mit A r p , Delaunay, Le Fauconnier, Kandinsky aus. Die schweizerische Phalanx jenes Jahres wäre zu ergänzen durch Hodler, Trachsel, Auberjonois, Vallotton. Das nächste wichtige Ereignis auf dem Kunstschauplatz Zürich ist auf einen kriegsbedingten Zu-fall zurückzuführen: 1916 wird von den A s y l suchenden Ausländem Hugo Ball, Tristan Tzara, Emmy Hennings, Richard Huelsenbeck unter Beteihgung von Hans A r p und Sophie Taeuber im Zürcher Niederdorf das »Cabaret "Voltaire« gegründet und der D a daismus aus der Taufe gehoben. Die Dada-Hochburg erwies sich hierzulande als Kristallisations-, Rieht- und Sammelpunkt. Zulauf kam vor allem aus der Gegend des »Modemen Bundes«. Zwanzig Jahre später ist es wiederam die Drohung des Kriegs (und damit die Drohung provinzieller Isolation), was zum kämpferischen Zusammenschluß der schweizerischen Avantgarde führt. Der Zusammenschluß erfolgt in einer »Allianz« benannten "Vereinigung, der unter andern Klee, Wiemken, Sophie Taeuber-Arp angehören. Promotor der Bewegung ist der Zürcher Maler, Plastiker und Graphiker Leo Leuppi, der die progressiven Kräfte sammelt und unermüdlich vorstellt: erstmals 1936 in einer mit »Zeitprobleme in der schweizerischen Malerei und Plastik« betitelten KunsthausAusstellung, 1938 in Basel (»Neue Kunst in der Schweiz«), dann 1942 und 1947 in den »Allianz«-Ausstellungen i m 153 Zürcher Kunsthaus. Der Katalog der letzterwähnten Austeilung verzeichnet 44 Teilnehmer mit 206 Werken und enthält Textbeiträge von Leuppi, A r p , Bill, Le Gorbusier, Lohse und Moeschlin. M i t Lohse zusammen richtete Leuppi 1947 in Sankt Gallen die Ausstellung »Konkrete, abstrakte, surreahstische Malerei in der Schweiz« ein. Als bleibendes D o k u ment der Allianz-Bewegung ist der 1940 erschienene, von Leuppi und Lohse gemeinsam bearbeitete »Admanach neuer Kunst in der Schweiz« zu werten, der unter anderem Werke von Abt, Aeschbacher, Bill, Bodmer, Le Gorbusier, Eble, Erni, Fischli, Gessner, Glarner, Graeser, Klee, KHnger, "Verena Löwensberg, Leuppi, Lohse, von Moos, MoeschHn, Nebel, Meret Oppenheim, SeHgmann, Schiess, Sophie Taeuber-Arp, Tschumi, VuUiamy, Wiemken abbildet. Das Ausstellungsspektram erscheint reich, aber bei näherem Hinsehen können wir feststellen, daß hier hauptsächHch zwei Richtungen aus zwei Einfluß-Sphären zusammenwirken: eine surreaHstische Richtung, die letztHch auf Paris bezogen ist, und eine geometrisch-konstraktivistische, in welcher wir die Keimzelle der »Konkreten Kunst« erbhcken; letztere basiert auf dem Gedankengut der »Stijl«-Bewegung und des Bauhauses. Ohne den künsderischen Nährboden Zürichs schmälern zu wollen, darf dennoch nicht übersehen werden, daß es die Kriegsumstände sind, die die kriegsverschonte Insel Zürich begünstigen. Zürich wird vielen Künstlem zur Ersatzheimat. Wie die aus deutschen Museen verbannte »entartete Kunst« nun den Schweizer Museen zugute kommt, so kehren jetzt die aus ihren größeren Wirkungskreisen beziehungsweise »fremden Diensten« vertriebenen großen Söhne und Kunstreisläufer in die Heimat zurück; und mit ihnen kommen die Emigranten. Von den Surrealisten haben mit Ausnahme Wiemkens und Max von Moos' alle ihre entscheidende Zeit in Paris verbracht. Das güt für Erni, Schiess, SeHgmann, VuUiamy, Meret Oppenheim und Tschumi. Heimkehrer aus der Bauhausbeziehungsweise Stijl-Sphäre sind Klee, Itten und Graeser (der unter anderem schon 1926/27 im Wohnblock Mies van der Rohes in der Stuttgarter Weißenhofsiedlung eine Wohnung konzipiert hatte); Bauhausschüler sind übrigens auch 154 Bill und Fischli. Von den Emigranten, die während des Kriegs in Zürich lebten, haben Marino Marini und Wotruba sicherlich auf das MiHeu der Plastik eingewirkt. U n d natürhch Germaine Richier, die damals als Gattin des Bildhauers Bänninger hier gelebt hat. M i t diesen wenigen Hinweisen ist die Bedeutung der A s y l stadt Zürich natürlich bei weitem nicht gebührend gewürdigt, nur eben gestreift. Dasselbe gilt f ü r den Kunstschauplatz Zürich. Z u sprechen wäre von der Plastik, aber ebensosehr vom Kunsthandelszentrum,- und natürlich von Künstlerpersönlichkeiten, die abseits von Bewegungen stehen - wie Varlin zum Beispiel; auch er ein Rückwanderer am Vorabend des zweiten Weltkriegs, aber aus einem ganz anderen Winkel: aus dem pariserischen Montparnasse. Für unseren Zusammenhang ist es bedeutend interessanter, auf ein künstlerisches Phänomen zu sprechen zu kommen, das heute allgemein als zürcherisch-schweizerischer Beitrag an das. Kunstgeschehen der Gegenwart erkannt wird: Die konkrete Kunst m u ß ihren Entstehungsbedingungen nach als zürcherisch, hinsichtlich der verarbeiteten Einflüsse als europäisch, der Ausbreitung nach als schweizerisch und ihrer Geltung nach als international bezeichnet werden. Im Medium dieser Bewegung erscheint Zürich als Nachlaß walterin der Stijl- und Bauhausideen. Die Paten sind M o n drian und van Doesburg, Klee und Kandinsky; Vorläufer und Bereiter,des Bodens Sophie Taeuber-Arp, wohl auch Itten; die Hauptträger Bill, Graeser, Lohse, Leuppi, Glarner, Verena Löwensberg - wobei Lohse f ü r sich den Begriff »serielle und modulare Ordnungen« verwendet. Ihr Theoretiker, vielseitigster Propagator und Realisator ist Max Bill, der die Ziele der Konkreten Kunst in einem Gesamtprogramm formuliert und anvisiert, das - unter dem Zeichen des FunktionaHsmus von der Architektur über Malerei und Plastik bis zum Industrieprodukt reicht und, in Bills Hoffnung, wirklich das Leben »vom Löffel bis zur Stadt« zu verbessern geeignet sein soll. In solcher Hoffnung schimmert jener Aspekt aus Bauhausbreiten auf, den wir den Heilslehren zuordnen. Inwieweit das Bauhaus in seiner idealen und radikalen Intention in 155 der Konkreten Kunst em lebenskräftiges Fortbestehen habe, wäre zu untersuchen. In der Person des Künstler-Politikers B i l l greift Ideologisches jedenfaUs ins Politische über. U n d sicher ist, daß das Gute Form-Denken (das in der Schweiz von großem Einfluß war und ist) auf Theorie und Engagement der Konkreten Kunst zurückgeht. Das künstlerische Reisläufertum und das entsprechende K o loniahsieren hat heute f ü r die Schweizer Kunst nicht mehr dieselbe Bedeutung wie früher. Die Massenmedien haben die räumUchen Distanzen weitgehend aufgehoben und den Reislauf entbehrlich erscheinen lassen. Die neuen Stübewegungen machen unmittelbar nach deren Entstehen überall in der Welt explosionsartig Schule. Sie werden WeltstU. Übrigens kommen diese »Ekiflüsse« neuerdings auch durch das Warenhaus und dessen »Stilvermittlungen« in Umlauf. So lebt denn der Künstler geistig (oder doch modisch) intensiver im Anschluß an das Weltgeschehen als früher. Das mag der Grund sein, weshalb sich die skizzierten Eigenschaften der Schweizer Kunst immer mehr verbrauchen. M i t gerhiger Stüverspätung findet hierzulande aUes statt, was irgendwo in den Zentren die Künstler bewegt - von Pop bis zu Minimal und Concepttial A r t . Die junge Generation dürfte sich mit . der jungen Generation in N e w York oder London solidarischer fühlen als mit der Heimat. 3. Apercu zur Schvi^-eizer Plastik Denkt man an »Schweizer Plastik« (so geschrieben), dann sjeUen sich augenbhckhch drei Traditionen oder besser »Felder« ein, die in unserer VorsteUung unabhängig nebeneinander zu existieren scheinen, bei näherer Betrachtung aber sehr wohl Gemeinsamkeiten aufweisen. , Bei diesen »Schulen« (woUen wir einmal sagen) handelt es sich: I. U m die an einem klassischen Menschenbild festhaltende Statuenplastik der HaUer, ITubacher, Bänninger . . . 1^6 2. U m die auf architektonische Integration tendierende geometrisierende Idol- beziehungsweise Bauplastik - in Aeschbachers Gefolge zum Beispiel. 3. U m die als Exportartikel ins Weltgespräch gekommene Eisenplastik. M i t der ersten Kategorie assoziieren wir bei spontaner Vorstellung zunächst weniger Namen und Individualitäten von Künstlern als die allgemeine Qualität von Zeitlosigkeit und Museumswürdigkeit. W i r denken an all die Jünglinge und Mädchen, aber auch aufgesockelten Charakterköpfe, die die Bildersäle unserer Museen bevölkern und akzentuieren oder in öffenthchen Anlagen stille Überraschungen bereiten. Es geht hier um den nackten Menschen in seinem zeitlosen Jugendversprechen, um den Jüngling, um die junge amazonen- oder weibhafte Göttin in Mädchengestalt, es geht hier um die natürhche beziehungsweise Charakterschönheit, es geht um eine Naturwirklichkeit auf idealer Ebene - jedenfalls nicht um »Existenz« oder Existenzauslotung. U m Klassizität. Erst bei näherer Inspektion würde man (trotz Kontrapost, Stand- und Spielbein, Schreitbewegung oder trotz händeverwerfender Gebärde des Erschreckens) gewahr werden, daß solche Figuren nicht in irgendeinem weitabgelegenen historischen Raum beheimatet, sondern vielmehr aus einem Bemühen u m Reahstik - also heutige Lebenswirldichkeit - hervorgegangen sind. Offensichthch verkörpern und preisen sie den Sachverhalt eines gesunden und glücklichen Menschenschlages, den Sachverhalt der Gesundheit, Naturverbundenheit, ja bisweilen Sport'hchkeit. Obwohl man meinen könnte, es handle sich um Ausläufer ekier alten Tradition, handelt es sich bei dieser plastischen Kategorie im Gegenteil um eine verhältnismäßig junge »Schule«, die erstmals mitStauffer-Bern intendiert und mit Burckhardt, Probst und Haller begründet worden ist wobei sogleich betont sei, daß diese drei Begründer als starke Persönlichkeiten aus dem Feld herausragen. Bei ihnen ist das Schöpferische, das Ringen um einen zeitgenössischen Ausdruck sogar stark zu empfinden: geistvoll, ja kühn bei Burckhardt, in einer an Hodler gemahnenden »Kraftprobe« bei 157 Probst, etwas m-odischer bei HaUer. Bei den Nachfolgern, den Hubacher, Bärminger, Fueter . . . und vollends bei deren Epigonen gewinnt diese Tradition Züge einer (zeitlos klassisch gemeinten) »Körperkultur«, gegen die schon ein Barlach oder Lehmbruck revolutionär, wirken dürfte, von den Werken eines Matisse, Boccioni, Picasso, Laurens ganz zu schweigen. Es gibt wohl anekdotische Auflockerungen des Kanons (Stanzani mag hierfür als Beispiel stehen), aber das heüe Menschenbild bleibt unangefochten. Bei Karl Geiser hat sich das ungeschriebene Gebot einer Dankabstattung ans heile Menschsein - dieses ein breites Volks empfinden befriedigende Heroisierungsgebot - dann allerdings als geistig-künstlerische Problematik gesteUt und auf hoher Ebene produktiv ausgewirkt - bis zur Zerreißprobe. Davon wird noch zu sprechen sein. Auszunehmen von der solchermaßen summarisch charakterisierten Richtung wäre ein Ernst Gubler und im Bereich dessen, was man heute unter figürhcher Plastik versteht, Hans Josephsohn, der zweifeUos zu unseren bedeutenden Plastikern zählt. F ü r die Begründer der oben genannten Tradition war nicht Paris, nicht Deutschland, sondem der antikengesättigte Schauplatz R o m Ort der Ausehiandersetzung oder Erneuerung - der Bewährang. Das galt noch f ü r Hans Aeschbacher. Auch er ist, wie Stauffer-Bem, wie Burckhardt, wie HaUer, als Maler nach R o m gezogen und als Bildhauer zurückgekehrt. Aber er hat dort nicht die ewig-lebendige Naturgestalt gefunden, sondem die im Ausgrabungsfundstück verfremdete und hinfäUige Materialgestalt, das lecke Fragment oder auch: die »Wasserleiche«. Für Hans Aeschbacher - der am Anfang einer geometrischarchitektonischen Plastik-Tradition steht - erscheint uns wichtig, ds.ß, er nicht über die Zertrümmerung des Menschenbildes (nicht über den Kubismus) zur Abstraktion gelangt ist, sondem durch das Erlebnis des »antiquierten Menschen«, wie es sich im. Trümmerfeld R o m anbieten mochte. Er läßt den Menschen gev/issermaßen im Findhng versickern. Aus dem Materialwert des steinernen Findlings gewinnt er das 158 Md und über dessen fortschreitende Behandlung (Schleifung, Musikahsierung) den Quader, die tektonische Zelle f ü r seine konstruktiven Absichten. Diese Aeschbachersche Ausgangsposition (die auch mit »Mensch als Ausgräberfund, Wasserleiche oder auch Erdgeist«) zu umschreiben ist, hat Verwandtschaft mit der Position des frühen Marino Marini; aber auch bei d'Altri finden wir eine vergleichbare Ausgangslage. Wir erinnern uns, daß Marini während des zweiten Weltkriegs in Zürich war, übrigens gleichzeitg mit Wotruba. M i t den genannten Namen wäre ein - historisch und lokal - fixierbares Ursprungsklima schweizerischer Plastik benannt. F ü r die Aeschbacher-Schule oder weiter gefaßt: die Plastik geometrisch-konstruktiver Richtung gäbe es in der Schweiz viele Namen und Beispiele anzuführen. Das Feld hat übrigens mehrere Pole. E i n Pol ist mit dem Begriff »Konkrete Kunst« markiert, also mit dem Namen Bill; ein anderer Pol dürfte archaisierende Idolik genannt werden . . . das Feld erscheint weit und gewissermaßen beliebig erweiterbar. Prägnanter als die Umrisse dünken uns die Gefahren. Sie heißen einerseits: Steinmetzenpathos, Mythologisierung des Werk- beziehungsweise Kraftstoffs Stein; andererseits: Signetik, Fleraldik, funktionalistische Perfektion - »Gute Form«. Die'der ganzen Richtung drohende Gefahr, auf einen Nenner gebracht, lautet: Plastik als künstlerischer Schmuck, angewandte Kunst - »Bauplastik«. A n diesem Sachverhalt ist eine demokratisch Heb- und lustlose Auftrags- und Wettbewerbs-Praxis beteiHgt, die weniger unter Kunstpflege als unter »sozialer Fürsorge« zu rubrizieren verdient. Dieses in seiner Ausbreitung heute wohl beträchthchste Feld schweizerischer Plastik besitzt natürHch neben vielen »Fiandwerkern« auch seine Meister und KJeinmeister; auch einige aUeinstehende Künstlerpersönlichkeiten — zu ihnen wäre ein Otto Müller z u zählen. Die dritte, zum Exportartikel und Renommiergegenstand gediehene »Richtung« sei hier summarisch als »Eisenplastik« behandelt, obwohl diese Bezeichnung stdistisch nichts Ver159 bindliches aussagt. Stilistisch ist eine Vielfalt von Tendenzen zu beobachten. M a n m u ß sich fragen, warum diese durch Gonzales begründete,, also wohl durch den Kubismus (und dessen Interesse an der archaischen und primitiven Kunst) eröffnete MögHchkeit plastischen Bildens hierzulande so lebhaften Widerhall - und Nachwuchs - gefunden hat. Leicht gesagt: durch den im Schweizer lebendig gebHebenen bäurischen (bis pfahlbauerischen) Wesenskern? Fast aUe unsere Eisenplastiker haben mit Gebilden eingesetzt, die ländHches Gerät wie Sichel, Harke, Pflugschar, auch Amboß reflektieren, und da in unserer Geschichte derlei Utensihen immer auch die Funktion von Waffen hatten, ist in manchen dieser Eisenplastiken ausdrucksmäßig beides vorhanden: Landmann und Landsknecht, Heimatbezug und Wehrkraft: noithin zwei tragende Motive aus dem landläufigen Bilderschatz der Schweiz. . Dem Werkstoff Eisen mit dem in ihm schlummernden »urchigen« Ausdrucksgehalt kam hier also von vornherein eine spezifische Gefühlslage entgehen. Man könnte noch weiter gehen und behaupten, der Werkstoff Eisen sei von Schweizer Künstlern so begierig ergriffen worden, weil er besser als andere Medien Gelegenheit bot, das eigene Herkonomen zu bewältigen, Vergangenheit z u bewältigen, und das heißt bei uns immer auch: Tabus zu durchbrechen. Eisen als Übungsfeld f ü r derlei Bewältigungs- und Emanzipationsaktionen? Jedenfalls kann man entsprechende Sachverhalte in unserer Eisenplastik zur Genüge aufdecken. Luginbühl beginnt mit Gebilden, die den Kraftakt des Eisenbiegens und Schmiedens als Kulturakt - als Kulturstufen-Akt - imaginieren. E r überwindet i m Laufe seiner Entwicklung die rustikale Sphäre der (primitiven) »Eisenzeit«, um in die Welt der Technik vorzudringen, wobei er allerdings auf einer heroischen Frühst-ufe des technischen Zeitalters haltmacht. Seinen künstlerischen Weg kann man also auch als einen Weg aus »prähistorischen« oder anders: provinzieUen Reservaten in die weite Welt der Schiffsbautechnik, modernen Straßenbaumaschinen (bis hin zu Radarstationen) deuten und dam.it als die VerbUdlichung eines Verfeinerungs-, Ver160 edelungs-, Sublimierungsvorgangs - das heißt ZiviHsierungsstrebens verstehen. Etwas Ähnliches schwingt im Werk des Kdnetikers T i n guely mit. Auch bei ihm ist Eisen die Brücke, die in die moderne Zeit beziehungsweise Welt führt. Seine Domäne sind Polymotorik, Automation mitsam-t Lärm und Chaotik als Ausdruck einer annähernd heutigen Industriegesellschaft, wobei bei ihm die ironische Perspektive Gesellschaftskritik impliziert. U n d doch hat auch dieser internationalste unserer Eisenplastiker den Heimat- oder Pathos-Schweizer nicht ganz abgestreift. M a n kann in seinen spulenden, surrenden, mehr- und widerläufig arbeitenden Industrie-»Kombinaten« auch etwas wie ein idyllisches LobHed auf jene heroische Heimindustrie empfinden, die ja an den Toren zu unserem Wirtschaftswunderland stand. Wiggli kommt über eine Montagetechnik von Panzer-(oder Masken-)Fragmenten zu einer plastischen Version von »gestellten Szenen« (wenn man diesen Ausdruck für die bildende Kunst verwenden darf), die immer mit der Thematik erotischer Obsession zu tun haben. Das urschweizerische Tabu namens Sexus spielt in unserer neueren Plastik übrigens ganz allgemein eine wichtige Rolle. Als »leuchtendes« Beispiel kann man hierfür auf Benazzi verweisen. M i t diesem Apercu ist die Schweizer Plastik keineswegs erschöpfend gewürdigt, es sollten ja auch weniger Leistungskataloge aufgestellt als Schwerpunkte, Konstanten, vielleicht Grundprobleme eruiert werden. Dabei wurde derjerüge Künstler ausgespart, der wohl als der berühmteste angesehen werden darf: Alberto Giacometti Die Abstreifung rustikaler Gewichte (als Herkunftsballast) ist am reinsten bei Linck gelungen. Vergegenwärtigt man sich seine metronomisch exakten Mobiles, die mit dem Phänomen »Zeit« umgehen: artistisch-perfekt wie ein Weltbühnen-Musik-Clown, dann erscheint jede »Eisenzeit« oder industrielle Revolution unendhch weit weg. E r ist unter den »Technikern« der sublimste. Die »Hüllen«-Plastiker gehen vom Panzer, also vom Kriegermythos - somit von einer weiteren typisch schweizerischen Fesselung oder »Maske« aus. Als ihr Generalthema könnte man das Abstreifen oder Durchlöchern der Maske bezeichnen, was sowohl f ü r einen Mattioli wie für einen Wiggh oder Robert Müller Sinn ergäbe. Mattioli zerfleddert den Panzer auf dramatisch-pathetische Weise mit der Tendenz, den dahinter stehenden »Leib im Fegfeuer«, mit andern Worten die »Existenzfigur« sichtbar zu machen. Bei Müller und Wiggli wird gleichzeitig mit dem Panzer das Tabu »Sexus« durchstoßen, wobei es. bei beiden zeitweilig zu Gebilden kommt, die man als Metarmorphosenwesen in einem Feld zwischen exotisch-kriegerischem Habitus, Insekt und Phallus definieren könnte. Müller entwickelt sich in der Folge zu einem großartigen Erkunder des dunklen Kontinents »Triebwelt« oder »Unterbewußtsein« (er gewinnt von allen Eisenplastikern die freieste Weite); In der jüngsten Generation haben die genannten Grundprobleme ihre Geltung weitgehend verloren, das heißt: der Begriff »Plastik« hat für viele Jüngere, etwa die mit Kunststoffen laborierenden Objekt-Plastiker, als deren wichtigster Experimenteller Walter Voegeh gelten darf, überhaupt seine Relevanz verloren. i6i 4. Eine schweizerische Architekrurlandschaft - heute? Die Sage ist, daß das architektonische Niveau hierzulande im Durchschnitt erfreuhch bis erstaunlich, jedenfalls konkurrenzfähig sei. Wer Architekturbetrachtung als Inventar sogenannter »Guter Bauten« betreibt und auf einen Katalog von Einzelleistungen - auf einen Qualitätenkatalog - erpicht ist, mag so urteilen. Wer Architektur urbanistisch begreift, hat i n der Schweiz allerdings wenig zu rühmen. Eine Autofahrt durch unser Land fördert in architektonischer Hinsicht ein unerfreuliches, über weite Strecken beklemmendes Bild zutage: das. Bdd der Verdorfung oder besser: der »Landschaftsverhäuselung«, wie das mißhche Phänomen auch schon charakterisiert worden ist. Die Landschaft - übrigens längst keine naturwüchsige mehr, sondern eine beispiellos ausgenutzte, domestizierte und entsprechend nivelherte Landschaft, wenn man von den Bergen und vielleicht noch der Jura-Region absieht - leidet unter dem Aussatz von Einfamilienhäusern einerseits, von verhäknisblind deponierten Blöcken und Hochhäusern andererseits, die merkwürdig maßstablos wirken in ihrer Vereinzelung, v/ie Strandgut... K u r z : sie droht zu einer Öde zu degenerieren, die die polaren Lebenswerte »Natur« / »Stadt« in einem Zersetzungsprozeß neutralisiert. Der ästhetische Effekt ist Kleinlichkeit, der diagnostische Befund wohl Krankheit. Wenn Architektur in einer allgemeinen Betrachtungsweise die »künsthche« Absetzung ziviHsatorischer Bereiche gegen die Natur bedeutet; wenn Architektur also Urbanisierung im Sinne von Kulturraum-Gewinn darstellt, dann allerdings steht es schlecht mit der modemen Schweizer Architektur. N u n steht sich bei uns das urbanistische Problem zugegebenermaßen weniger einfach als etwa in Breiten wie Finnland oder Amerika, wo es sich um Neulandbesiedlungen, das heißt um Gründungen handelt. Bei uns geht es um AngHedemngsprobleme, um Erweiterungen, Überbrückungen vielleicht: u m Exploration aus dem Stamme geschichtHcher Wirklichkeiten heraus, anders ausgedrückt: um Selbstemeuerung. U n d an dieser Aufgabe scheitert alles. Vorschub leistenden Bodenrechtsverhältnisse unter formaldemokratischer Regie, die die besagte Gesichtslosigkeit systematisch zeitigen. Wenn wir, bei uns von Architektur sprechen, dann handelt es sich um das Haus - allerhöchstens das Siedlungsformat bÜdhch gesprochen um die Erweiterung des Stalles. Dabei wird alles größer Dimensionierte ideell von außen importiert und auf unser Maß adaptiert. So sind denn die Formen und Stüistika unseres architektonischen Sprachschatzes praktisch-empirischen, nicht echterdings originären Ursprungs. Die moderne Schweizer Architektur ist i m Gmnde durch ein kommentarhaftes Verhalten zu Leistungen und Lösungen von außerhalb gekennzeichnet, ,wenn sie diesen Sachverhalt auch gerne übersieht und durch eher kunsthandwerkliche Finessen wettzumachen oder zu vermschen sucht. Die letzten vollwertigen urbanistischen Taten sind jedenfalls weit in unserer Vergangenheit zu suchen. Sie sind strenggenommen mit den zähringischen Städtegründungen identisch oder allenfalls noch mit Amehorationen aus den Gründerjahren. Die Lindt-Ebene, Glams und L a Chaux-de-Fonds sind Beispiele dafür, die beiden letztgenannten wnrden im Sinne moderner Stadtplanungen von G m n d auf neu erbaut (infolge von Brandkatastrophen). Wenn wir bei uns von »Stadt« sprechen, dann betrifft es die alte Stadt beziehungsweise die mit den Stadtvierteln der beginnenden Industriegesellschaft des 19. Jahrhunderts (mit den sogenannten Industriequartieren) verkoppelte mittelalterliche Altstadt. Von diesem Zeitpunkt weg, hat es den Anschein, wurden mehrheitlich nurmehr Unterkunftsagglomerationen in die Welt gesetzt; wir nennen sie Schlafquartiere. Warum? In der Schweiz gibt es keine eigentUche zeitgenössische Architekadandschaft, weil uns eine entsprechende (Landsch.aks-)VorsteUung abgeht. U n d eine solche kann sich wohl deshalb nicht ausbilden, weil die Schweiz ideell nicht nach vorn, sondern rückwärts gerichtet lebt. Die Verändemngsangst, unsere erzrestaurative Einstellung süid wenig geeignet, taughche Vorstellungen zu produzieren. Sie können aber auch keinen Resistenzgaranten gegen die Auspowerung und Verschandelung der Landschaft abgeben. Übrigens spiegelt das Büd der wuchernden Einöde, spiegelt das ungestalte Niemandsland, dem wir entgegensteuern, aufs deuthchste unsere gesellschafthche Situation und politische Stagnation. Es sind die einer unkontrolUerten Spekulation und Profitgier Wenn moderne Schweizer Architekmr dennoch einen leidhch guten Ruf oder je nachdem sogar internationales Prestige genießt, dann bezieht es sich auf das eingangs erwähnte Durchschnittsniveau unseres Bauens, bezieht es sich auf »Gute Bauten«. Oder es geht auf den FunktionaHsmus der zwanziger und dreißiger Jahre zurück, auf jenen vorübergehenden Aufschwung, der mit dem Begriff »Neues Bauen« 163 164 heroische Erinnerungen weckt. In jedem Fall auf Einzelleistungen, nicht auf urbanistische Taten. In den zwanziger und dreißiger Jahren formierte sich im Bereich des (internationalen) Funktionalismus bei uns eine Phalanx von Architekten, die mit den damals führenden deutschen und holländischen Leuten zu wetteifern vermochten. Die funktionahstischen Prinzipien der Nüchternheit, Sparsamkeit, Sachlichkeit verbunden mit einer rationahstisch begriffenen ZweckdienHchkeit; der puristisch-abstrakte Heüsgedanke dieser Richtung, der eine Überwindung (Sanierung!) zeitgebundener Wirkhchkeit auf eine zeitenthoben-gültige Weise verhieß - all das m u ß schweizerischem Wesen in höchstem Maße entsprochen haben. Die führenden Schweizer Architekten des »Neuen Bauens« haben denn auch Einzelleistungen von teils exemplarischem Wert realisiert. Sie empfanden sich in einer Ära des Aufbruchs, sie waren sozial engagiert, sie witterten Zukunft. Sie wnßten sich in einer Kampfposition, und sie wurden denn auch überfaUen, aUerdings von unerwarteter Seite. Schriften. Fast möchte man behaupten, die Mehrzahl der jüngeren Architekten seien »Abonnenten«. _ Das soU keine Schmähung sein. Die Schwierigkeit liegt nicht darin, daß die Schweiz keine Architektenpersönlichkeiten_ hervorzubringen vermöchte, die Schwierigkeit besteht darin, daß das schweizerische System echten Neuerern keine WirkungsmögHchkeit anzubieten hat, daß es sie naturgemäß eher aus dem Lande scheucht als fördert oder gar beansprucht. Das trifft zu auf den aus L a Chaux-de-Fonds gebürtigen Le Gorbusier (er hat bekannthch in der Schweiz nie einen öffentUchen Auftrag erhaken), es güt für einen WiUiam Lescaze, der bereits vor den Abwanderern aus dem Bauhaus - also vor 193 8 - in den U S A eme pionierhafte Bautätigkeit entwickelte; und auf einen Othmar H.Aromann, der »drüben« die Washhigton- und Golden Gate Bridge errichtet hat. F ü r PersönHchkeiten dieses Zusclinitts ist die Schweiz, die Heber das Mittlere und Mittelmaß fördert, aUerdings zu eng. Z u Ende der dreißiger und vor allem im Jahrzehnt der vierziger Jahre wird in der Schweiz der interriationaHstisch gestimmte architektonische Aufbruch unvermittelt zum StiUstand gebracht und zum Rückschritt gezwungen. Durch die Kriegsbedrohung wird die Schweiz von außen abgeriegelt. Sie entwickelt als Widerstandsidee eine forcierte (heimatbezogene) Selbstbesinnung, die zum vielgeschmähten »Heimatstü« ausschlägt. Nationales Signal zu dieser Bewegung ist die LandesaussteUung von 1939. Die Nachkriegsarchitektur hat hierzulande keine eigenthche »Front«, sie ist (wenn auch uneingestandenerweise) eklektizistisch. Orientierungspunkte sind Aalto, Mies van der Rohe, Gorbusier natürlich; auch Frank L l o y d Wright und etwa die junge englische Bewegung des » N e w Brutalism«. Das Bild der schweizerischen Gegenwartsarchitektur ist, veraUgemeinernd ausgedrückt, das Bild der modernen Architekturzeiti6y 166 II. Teil Engnis der Enge Versuch über das Schweizerische in der Kunst der Schweiz Phänomene, Folgerungen, Interpretationen I. Esoterik und Mystizismus (Hang z u m Sublimieren, Vergeistigen, Spintisieren) als Formen von "Weltersatz und als Ausdruck von A n s c h l u ß b e d ü r f n i s s e n Z u den Grundbedingungen des Schweizer Künstlers gehört die »Enge« und was sie bewirkt: die Flucht. Es ist die Furcht vor der Enge, die das typisch schweizerische Phänomen des »Kunstreislaufs« zeitigt; die Landesflucht, das Ausschwärmen nach den Fronten - es sind ja Anstrengungen, die Enge zu sprengen und in die »Welt« zu gelangen; sie sind von entsprechenden Anschlußbedürfnissen diktiert. Aber um einen Ausweg aus der Enge zu finden, stehen neben der physischen Flucht noch andere Wege offen: der Ausstieg in die Überhöhung, das Sich-versteigen in die Vergeistigung, der Taumel in Richtung Kosmisches sind sublimere Formen derselben Überwindungssehnsucht; und sie sind nicht minder typisch f ü r die Schweizer Kunst. Die Enge, um die es sich handelt, ist nicht nur diejenige des Kleinstaates; es gibt schließlich Kleinstaaten, die weniger beengen, allerdings haben diese Staaten ganz andere städtische Zentren hervorgebracht. N e i n , es ist eine spezifische, eine wahrhaft sonderfall-mäßige Enge, die hierzulande den Künstler aus dem Lande oder i n die voreilige Vergeistigung treibt. Wir werden darauf noch zu sprechen konameri. A n dieser Stelle beschäftigt uns einzig die Frage, wie sie sich für den Künstler auswirke. Den Künstler kann diese unsere Enge ganz direkt als Mangelerscheinung betreffen, ja als »Unterernährung«. Er 167 m u ß fürchten, daß das schweizerische Lebensbeispiel nicht ausreiche, um welthaltige Stoffe abzugeben. Die Enge, empfunden als Absenz von »Welt« ...? Der Künsder ist ja in erster Linie Zeitgenosse, nicht Schweizer. Es ist die Wirklichkeit seiner Zeit (nicht irgendeine verklärt-verflossene oder sonderfaUmäßig limitierte Realität), die es ihn in seinen Grenzen zu veranschaulichen treibt. Wie aber, wenn der eigene Lebensschauplatz zu wenig hergibt? Wenn dieser die dazu notwendigen''»Bodenschätze« nicht genügend enthält? Wenn er als Anschauungsraum versagt, die Veranschaulichung verweigert? Dem Künstler stellt sich das Problem der schweizerischen Enge als Stoffproblem. Die moderne erzählende Literatur unseres Landes leidet eindeutig unter Stoffschwierigkeiten oder - genauer - unter Stoffmangel. Sosehr der schweizerische Schriftsteller die Wirklichkeit seiner Zeit auch z u spüren und - als Welt seines Bewußtseins - auch zu kennen vermeint: wenn er sie im eigenen Alltag sucht, um damit z u arbeiten, scheint sie sich zu verkrümeln. Literatur, wie sie ihm vorschweben mag: »Welt«-Literatur im Sinne von »zeitgenössischer« Literatur läßt sich aus schweizerischen Alltagsmaterialien, läßt sich aus schweizerischen Schicksalen und Figuren und in schweizerischem Miheu nur sehr schwer verfertigen. Jedenfalls nicht in jenem selbstverständhch lebensvollen Sinne, wie er es wohl gerne möchte und wie er es von anderen Literaturen her keimt - etwa (um wiederum ein großes Beispiel zu geben und zwar zu Kontrastzwecken) von der amerikanischen Literatur her kennt. Dort, scheüit es ihm, braucht der Schriftsteller bloß in seme Straße, auf sein Pflaster zu tauchen, und schon zieht er riesige Netze voller Lebensstoff an Land. Der Weltschauplatz scheint dort wirkhch vor der Tür zu liegen und zu brausen. Keine Angst, daß der hterarische Extrakt zu dünn und zu dürftig abfalle. Das ist dem Schweizer versagt. Versucht er etwas Entsprechendes, dann läuft er Gefahr, lokal zu werden: unecht in 1(^8 jenem Sinne, in welchem sich Dialektstück und Mundartschwank zur Wirkhchkeit verhalten; oder gekünstelt in unfreiwillig theatrahscher Manier; oder gesucht beziehungsweise unwahrschehihch; oder lächerhch aus Verniedlicliungsgründen - wie Marionettenwirkhchkeit; oder einfach langweihg und unbedeutend. Der »Schweizer Roman« existiert als solcher ebensowenig wie der »Schweizer Film«. Die neuere erzählende Literatur der Schweiz kommt nicht aus ohne Weltanlehnung; und nicht, ohne Weltanleihen aufzunehmen - in der Welthteratur nämlich. Aber bei den Anleihen droht immer Gefahr, daß die geHehene Optik, weü sie sich nicht aus unseren Bedingungen aufdrängte, sondern bloß modellhaft auf unsere Verhältnisse angewandt wird, überanstrengt wirke. Übernommene Modelle wie etwa »Tod des Handlungsreisenden« oder »Ein Tag i m Leben des Inseratenakquisiteurs . . . « müßten sich, auf unseren Boden verpflanzt, ganz von selbst als angelesene Wiridichkeit entlarven. Warum eigenthch? Weü unsere Stoffe das dazu notwendige welthaltige Luftgemisch vernnssen Heßen, weü die Enge nur einen unausgewachsenen SonderfaU des ModeUs zuHeße? Sie gingen letztHch über die einheimischen Erfahrungen hinaus, sie gingen in zu großen Kleidern einher. Angelehnt ist die neuere erzählende Literatur unseres Landes vielfach bei der amerikanischen, bei Hemingway, FauUcner zum Beispiel. Schon der junge Zollinger nahm Arüeüien bei einem Dos Passos auf. Jetzt, Ende der sechziger Jahre, hat sich die Situation etwas geändert. Darauf wird noch zurückzukommen sein. Das Phänomen der Weltanleihe wird besonders deuthch am Fluchtmotxv, das sich durch unsere Literatur durchzieht und deshalb als typisch schweizerische Thematik oder doch als typisches Stimulans schweizerischer »Handlung« angesehen zu werden verdienr. In unserer Literatur reißen die Helden aus, um Leben unter die Füße zu. bekommen-wie in Wirklichkeit die SchriftsteUer ins Ausland fliehen, um erst einmal zu leben, um Stoffe zu erleben. Flucht als Kompensation von Ereignislosigkeit und Stoffmangel. Das literarische Problem der Stoffschwierigkei169 ten und damit im Zusammenhang das Phänomen der Flucht wird auf verschiedene Weise exemplarisch iUustriert durch zwei Beispiele von Rang: A l b i n ZolHnger und Robert Walser. ZolHnger hat in seinem frühen Roman »Die große,Unruhe« den Ausbruch aus der Enge auf ergreifende A r t vorgelebt. Er suchte das Weite zu gewinnen, handlungsmäßig durch einen geradezu ritueU beschriebenen Absprung ins zeitgenössisch vibrierende Paris, formal durch eine Optik (und Technik), die bei John Dos Passos' »Manhattan Transfer« Anleihen gemacht haben mag. Beim Lesen dieses Buches hat man den Eindruck, von der endgültigen Überwindung der Enge sei ZoUinger auf dieser Stufe nicht weit entfemt gewesen. Aber dann wnrde er durch den Krieg erneut in die Schweiz eingesperrt und zwar in eine Schweiz der geschlossenen Grenzen und der geistigen Landesverteidigung. U m anzukommen, um Gehör zu finden, hatte er jetzt ein »Schweizer Dichter« zu sein. Es entstanden die schon von den Titeln her lokalkoloritduftenden Romane »Pfannenstiel« und »Bohnenblust«, die bewußt mit dem Schweizer Schauplatz und mit schweizerischen Stoffen auszukommen suchen. E r woUte wohl den »Schweizer Roman«, aber dieses Unterfangen tmg nicht. Die Enge rächte sich am kühnen literarischen Projekt, sie gab keine genügende Wirklichkeit der Welt ab. Die Romane wirken überanstrengt, weü der Mangel an überzeugenden Stoffen und die daraus folgende Handlungs armut dauernd mit der Ausflucht in Problemdiskussionen einerseits, in L y risfnen andererseits kompensiert wird. Das aber ging bei der realistischen Anlage des Buchplanes nicht. So bleiben denn diese beiden Romane in der Demonstration der Absicht stecken; formal faUen sie auseinander - in eine Handlungsebene, in eine Ebene der Problemdiskussionen und in eine lyrische Ebene. ZoUingers Versuch, die Schweiz, so wie sie war, kühnen eigenen Vorstellungen von moderner Schönheit und geistiger Energie (zeitgenössischen »Welt«-VorsteUungen) zu unterwerfen und anzugleichen, ist mißlungen; die Übereinstimmung war überzeugend nicht herzustellen, und das Zeug zum Heimatschriftsteller hatte er nicht; so blieb ihm nur die 170 Ausflucht in die Spekulation und - via Lyrik - in die Heimat des Kosmos. Das »tiefe Zuhause gebrochener Lüfte«, das er in seinen Gedichten anruft, spricht deuthch für seine Unbehaustheit und innere Heimatlosigkeit auf Erden der »LandiSchweiz«. Robert Walser hatte, im Unterschied zu ZoUinger, das Auswandern beizeiten praktiziert.. E r hatte das Glück, in jungen Jahren dank der Hilfe seines erfolgreichen Malerbruders einige Jahre auf dem Weltschauplatz Berhn leben zu dürfen. U n d Berhn war damals vor dem ersten Weltkrieg wahrhaftig ein Weltplatz. Das Entscheidende von .Walsers Epik entstand in Berlin, so die drei zu Lebzeiten publizierten Romane. »Jakob von Gunten« spielt auch da. Nach seiner Rückkehr in die Schweiz hatte Walser zusehends größere Produktionsschwierigkeiten. E r ist ja dann auch bald verstummt. In die Romane und kleine Prosa der BerUner Jahre ist die Welt unvergleichHch anders eingegangen als bei ZolHnger, als bei jedem Schweizer überhaupt. U n d , was das auffaUendste ist, seine Stoffe, seine Hterarische Provinz sind eminent schweizerisch. Liegt es daran, daß diese durch den Füter der Berhner Luft, also eines zeitgenössisch sthmnigen Mediums, gewonnen worden ist? JedenfaUs gehngt es ihm, ohne nennenswerte Wekanleihe: aus echt schweizerischen Schauplätzen und Materiahen eine überzeugende Lebenslandschaft seiner Zeit z u schaffen - eine in diesem Sinne weltbedeutende Landschaft der Literatur. Es gelingt durch eine ganz spezifische Form der Anpassung an unsere Verhältnisse. Dürch eine entsprechende Optik und Thematik. Walser versucht erst gar nicht, hierzulande ein Leben entdecken zu v-^oUen, wie er es aus anderen Literaturen und Breiten kennt. E r geht vielmehr gerade von der Reahtät schweizerischer Ereignislosigkeit, Bedeutungslosigkeit oder soU man sagen: Stagnation - aus. E r faßt von vornherein die Kleinheit und Enge his Auge, aber er paßt sich ihr an, indem er sich und seine Helden entsprechend klein macht. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß zwischen der erklär- ten Bedeutungslosigkeit, ja Nichtigkeit von Walsers Protagonisten-Ausstattung und RoUe einerseits und der Kleinmaschigkeit, romanhaften Unergiebigkeit, ja ElendigHchkeit der schweizerischen Lebenswirklichkeit ein kausaler Zusammenhang besteht. Walser geht also von vornherein von einer ReaHtät der Lebensarmut, somit von einem Negativum, aus; und er setzt auf diesem Boden nicht ekien Titanen, Siegfried, Rächer, hungrigen Wolf oder Erlöser, Revolutionär, Weltverbesserer, Entwicklungsromantiker - : nicht einen Helden, sondern einen Lebensunfähigen aus. Einen anmutigen Taugenichts und reinen Toren, einen zu jeder Karriere unfähigen, an eigenem Vorankommen uninteressierten, also ungefährlichen Diener von Geburt aus, der sich als QuartalsgehUf e verdingt und dies aus Überzeugung; einen zutiefst anspruchslosen Mitiäufer setzt er aus, von dem gar nicht erwartet werden kann, daß er Handlung mache und Lebenskurven absolviere. Dieser zutiefst entwicklungslose »Held«, der so gewichtslos ist, daß er beinah überhaupt nicht existiert: dieser geborene Anti-Held darf ruhig vor sich hinträumen, kuriose Reden führen und Betrachtungen ansteUen - und spazieren gehen. Der so ausgestattete, untragische Romanheld ist aber in seiner naturbedingten Anspruchslosigkek geradezu prädestiniert, auf der kargen Weide Schweiz Nahrung zu finden. E r ist ja gewissermaßen darauf programmiert, nur das ganz Bescheidene zu leben und erlebend zu entdecken. E r hat die Nüstern, i m scheinbar Leblosen Lebensstoff zu wittern. Er wird denn tatsächhch auch zu einem Entdeckungsreisenden in Miniaturdimensionen, und geine Entdeckungen in der kleinen Wek wachsen sich zu UnendHchkeken des Mjkrokosmischen aus. E m normaler, em positiver Held wäre zu solcher Optik nicht legitimiert gewesen, aber Walsers, Protagonist ist es. So entsteht aus der Begegnung einer von Natur aus quasi lebensunfähigen Existenz (mit reichem Innenleben) mk einem vor lauter Ereignislosigkek gewissermaßen unwirklichen Schauplatz etwas äußerst, ja abgründig Wirkliches. Die beiden SonderfäUe schlagen aus ihrer Begegnung das Feuer einer heftigen LebenswirkHchkek. 171 172 M a n kann dieses Phänomen allerdings auch anders sehen und auslegen. Walsers Held entspricht ja der Figur des Dichters hauteng. E r läßt sich jedenfalls nicht als literarische Erfindung oder als »Kniff« erklären. Die verwnnderHche Walser'sche Lebens- und Heldenrolle läßt sich auslegen als Gestalt eines frühen und für alle Lebenszeit bestimmenden furchtbaren Erschreckens angesichts einer beängstigenden Lebensleere. A l s eine Art bleibende Lähmung auf Grund einer katastrophal empfundenen Enttäuschung. Denn dieser Walser war ja anlagemäßig eine Dichternatur von hochschweifenden Lebensansprüchen, der ein ganz anderes Weideland und andere Lebenskurven verlangt hätte. Der furchtbare Urschrecken löste die Lähmung aus. U n d die beschriebene Rolle war seine Form der Anpassung. Das Sich-klein-Machen war seine Form der Anpassung, um zu überleben. Im Falle Walsers hat die Selbstdegradierung bisweilen Züge der Selbst-Kastration. M a n kann in seiner Gehülfenrolle mit ihren Selbstbescheidungs- beziehungsweise Kastrationserscheinungen eine Form der Selbstbestrafung erkermen. Es wäre die in Selbstbestrafung verkehrte Enttäuschung angesichts einer mehr als sträfhchen, einer tötenden Lebensleere. Tatsächhch hat sich der Dichter Walser in diesem Sinn auch selber exekutiert. A l s Strafe f ü r die Leblosigkeit, die er vorfand und bei allen Anstrengungen rücht zum Leben zu erwecken vermochte; aus unstillbarem H u n ger nach Lebensstoffen, die seine Natur benötigt hätte und lange vergleichsweise aus dem Nichts mit Sprachalchimie herzauberte; aus Gründen solcher Unterernährung hat sich der Mensch Walser immer weiter vernichtigt und schHeßHch buchstäblich entleibt. E r floh in eine A r t Umnachtung. Für ihn war die Endstation des Schweizer Hauses die A n stalt. Das unmäßig aufbauschende, manierlich schnörkelnde Sprachgehaben dieses Dichters war nichts anderes als rhetorische Ersatzhandlung f ü r Fehlendes. Der ganze Walsersche Sprachtanz ist anzusehen als ein Bebilderungskampf von David'scher Kühixheit, um die goHathesken Ausmaße eines ihn umgebenden »Toten Meeres« zu verdecken, zu 173 kaschieren. Oder: als sprachdrechselnder Seütanz, um die Abgründe der eigenen Sprachlosigkeit zu übertönen. Wenn ZoUinger sich in eine kosmische Ersatzheimat zu retten versuchte, dann ging Walsers Fluchtbestreben eine Zeitlang dahin, im trockenen Boden die Weiten des Mikrokosmos aufzubrechen. Bei Frischs »Stüler« hat sich das Leiden unter der Enge zu jenem Punkt zugespitzt, wo der Protagonist seine Zugehörigkeit zur Heimat ablehnt, indem er sie leugnet. Der Ausweg öffnet sich einzig in der Bestreitung der eigenen Identität. Das Leiden unter der Enge hat sich zur Identitätsproblematik ausgewachsen. StUler ist ein Heimkehrer, er hat am Weltgeschehen teügenommen (am Spanischen Bürgerkrieg), er hat »gelebt« - nun wird er von der Enge buchstäblich verschluckt: er wird verhaftet. In dieser zwangsweisen Integration hl die Heimat, in der Häftlingssituation, ist er einer ausweglosen Konfrontation mit der Enge ausgesetzt, und deren Ergebnisse sind wahrhaftig verheerend: gemessen an seüier Welterfahrung kommt üim das hehnische Landestheater lächerHch vor in einem Maße, dem nur die Empfindung der UnwirkHchkeit gerecht wird. Vor der Drohung (in einem metaphysischen Sinne) selber unwirklich zu werden, indem er sich der heimatHchen UnwirkHchkeit wiederverschreibt, .bleibt dem an eüier physischen Flucht Verhinderten nur ein radikaler Ausweg: »Ich bin nicht StiUer«, behauptet er und streitet Paßgültigkeit, streitet seine ganze verbriefte Schweizerzugehörigkeit ab. M i t der Bestreitung der Heimatberechtigung bestreitet er im Grunde die Lebensberechtigung der Heimat—weü diese dem Leben in seinem Sirme nicht mehr zu gleichen scheint. »StiUer« ist das Gerichtsitzen über die Schweiz, wobei beide Parteien, die des Anklägers und die des Angeklagten, als zwei Seelen ha der einen Brust aufeinanderpraUen. Der Katalog der Anklagepunkte ist exemplarisch f ü r die EinsteUung des schöpferischen Menschen zur schweizerischen Heim.at. Das Fluchtmotiv zieht sich durch die schweizerische Literatur wie eine ansteckende Krankheit. Die Verhaltensv/eisen 174 der Flüchtenden sind sehr verschieden, die Skala reicht von der Flucht in den Landesverrat (bei Jakob Schaffner) bis zur Zuflucht zum Rauschgift (Friedrich Glauser), bis zur Walserschen Selbstvernichtung und bis zum Freitod im Falle Alexander Xaver Gwerders. Als mildere, in ihrer Tragik weniger offensichtliche Formen der Flucht wäre der Ausweg in die innere Emigration oder (neuerdings) i n den Untergrund zu nennen. F ü r beides drängt sich als Beispiel die Situation eines Ludwig H o h l auf, der im fremdsprachigen Genf, nur deutsche Schriftsprache sprechend, in einem legendär gewordenen Keller als ebenso legendärer Trinker (und Schaffer) haust - ein Heimatloser und Nichtintegrierter par excellence. U n d überaus zahlreich sind die Beispiele jener, die einen Ausweg in der Geistigkeit, das heißt nur zu oft Schöngeistigkeit, Esoterik oder einer Utopie suchen. Leuchtendes Beispiel f ü r diese WirkHchkeitsflucht: Hesses »Glasperlenspiel«, i n welchem sich, nach Kurt Marti, »Welt und Geist, Mozart und Kloster, Freiheit und Askese, Mystik und Mathematik, M o r genland und Abendland, kurzum: die archetypischen A n t i thesen des Geistes und der Seele begegnen, durchdringen und in humaner Offenheit versöhnen können«. Dieses (schweizerische) Kastihen des »Glasperlenspiels« skizziert nach Marti die »ins Utopische ausgezogene Möglichkeit des Friedenslandes Schweiz, mit seiner Neutrahtät >schöne Geistesfrucht< bringen zu können«. Auffallender allerdings ist an unserer erzählenden Literatur neueren Datums der Umstand, daß sie mehrheithch stoffarm und heimatlos ist, daß sich die Enge ganz direkt im Stoffmangel abbildet. Wo fänden sich die Beispiele f ü r das, was einem James Joyce mit seinem »Ulysses«, einem Italo Svevo mit seinem »Zeno Cosini« oder einem Carlo Emiho Gadda ohne weiteres möglich ist: das Welttheater in der reichsten Bedeutung des Wortes aus dem heimatlichen Schauplatz und Genius loci aufzubauen? F ü r einen Zweig unserer jüngsten erzählenden Literatur ist es charakteristisch, daß die Schriftsteller der Enge gewissermaßen nach abwärts zu entschlüpfen suchen. Flinsichtlich der (abzubildenden) Realität gehen sie mit Vorhebe von der provinziellsten Provinz aus, aber sie fassen sie ins Auge gewissermaßen wie Naturforscher. Sie gehen dabei nicht von einem bekannten O r t in einem bestimmten Kanton der Schweiz aus, sie gehen i m Gegenteil vor wie Wissenschaftler, die in einem weiter nicht definierbaren Gelände einen Stein aufheben, um zu sondieren, was sich darunter an Leben vorfindet. Sie gehen im Grunde wie Sprachforscher vor, legen Benehmensart und Lebensgebärden - wie sie sich im mundarthch gefärbten Umgangston spiegeb - frei und untersuchen dieses Leben im Medium Sprache, nicht um »Schweizerisches« darzustellen, sondern um irgendein »Vorkommen« an Menschenleben innerhalb der Dimension »Gegenwart« zu strukturieren und zu veranschauHchen. Das solchermaßen zutage geförderte Stück Dasein ist nicht mehr an einen Ort der Handlung gebunden, sondem steUt sich - in der Brechung der »Zeit-Luft« von selbst als Teil einer zeitgenössischen Weite dar. Sie bauen mit ihrer sprachforschenden Perspektivik den Überbau einer fragwürdigen heünatHchen Indoktrinierung ab, um »Welt« zu schürfen; oder besser Weltvorkommen. Die Schweizer Kunst ün 20. Jahrhundert ist, wie wir gesehen haben, zum überwiegenden Teil angelehnt an Bewegungen des Auslandes. Die Frage ist, wo unsere Kunst Aiüeihen gemacht hat und wo nicht. Die Frage ist ferner, welche zeitgenössischen (revolutionären) Bewegungen bei uns keinen Niederschlag fanden und wamm nicht. Vergegenwärtigt man sich die wichtigsten Bewegungen innerhalb der letzten hundert Jahre (die man im Rückblick als Stationen der [Welt-]Kunstgeschichte bezeichnet), dann muß auffaUen, daß der Impressionismus, Kubismus und Futurismus hierzulande praktisch ohne Ehifluß bHeben. Das waren nun aber Bewegungen, die auf die technisch-industrieU bedingten geseUschafthchen - und bewußtseinsmäßigen - Veränderungen am empfindhchsten und radikalsten reagierten. Ihre Optiken sind Ausdruck eines künstlerischen Nachvollzugs solcher Weltveränderungen: bildnerische Reflexe auf das Zeiterlebnis. Warum sind sie hierzulande übergangen worden? Es waren Erlebnisweisen, die nur die Großstadt vermitteln konnte. Die neuen Realitäten manifestierten sich anschauHch nur im Großstadtraum, die Optik konnte nur da entwickelt werden. Und bei uns ist die »Stadt« bis heute vermieden, nein: verdrängt worden. Nehmen wir den Impressionismus. Die Weltvernebelung im Impressionismus ist Ja nichts anderes als die Sichtbarmachung einer in moderner Vielsthnmigkeit (Plurahtät) auseinanderpulsenden Welt, die nur noch im flüchtigsten Festhalten von Lichtreflexen (Illusionen) notdürftig suggeriert werden kann. U n d das Auseinanderpulsen der festgefügten Dinge im impressionistischen Bilde ist nichts anderes als die künstlerische Antwort auf das neue Lebenstempo; Es ist das Stampfen der Maschinen und des im M a schinentempo gehetzten Verkehrs i m überwältigend angewachsenen Großstadtraum, das (äus Zeitnot) den impressionistischen Skizzenstil befiehlt. Die Weltvernebelung ist Ausdruck einer tatsächlichen Weltentfremdung. Davon weiß die schweizerische Malerei der Zeit nichts z u vermelden. Statt dessen haben wir in der Epoche Böcklin, Buchser, Koller, Frölicher, Anker, StäbH; mit anderen Worten: eine romantisch durchstimmte Feier der unberührten Landschaft oder eine in die Beschwörung von weitab Hegenden Mythen abschweifende (Traum)kunst oder allenfalls die bäuerHch i n takte Dorfidylle. Die Trennung, die unsere Museen zwischen französischer beziehungsweise deutscher »Welt«-Kunst und unserer Heimatkunst machen, ist aus solcher Sicht tatsächhch verständlich; wir hatten einen SonderfaU in der Zeit. Kubismus, Futurismus, Metaphysische Malerei sind Formulierungen eines Zeiterlebnisses, das im Banne der »Entfremdung« wurzelt. In der Metaphysischen Malerei der ItaHener ist der Schrecken der Künstler über den urplötzlich antiquiert gewordenen Menschen nachzuerleben. Die häusHche beziehungsweise städtische Welt erscheint albtraumartig - die angebrochenen »modern times« haben das altvertraute Bild des Lebens in einem derart rasenden Tempo überroUt, daß Häuser, Straßen, Monumente mitsamt Menschen wie antike Ausgrabungen zurückbleiben; oder wie ein Welttrümmerfeld so tot und still. 177 Kubismus und Futurismus zeigen eki weniger melancholisches, ein positiveres Verhältnis zum veränderten Dasehi. Sie suchen eine neue BewußtseinstotaHtät zu verbüdlichen. Sie führen die Dimension der Zeit mittels Überschichtungen (also Vergleichzeitigung) von Außen- und Innenansichten, von optischen, haptischen, ja akustischen Eindrücken in die BUdsprache ein. A u f ihren Bildern erscheint die bislang festgefügte Dingwelt aufgebrochen und aufgefächert: luzid. Die neue BUdsprache sucht der Relativkät der ReaHtät Ausdruck zu verleihen. Von aU dem ist in unserer Kunst so gut wie nichts zu spüren. Spuren hinterläßt dafür der französische Fauvismus und deutsche Expressionismus, wie wir gesehen haben. Bloß: das neue Naturerlebnis dieser beiden Kunstrichtungen war ja ebenfaUs ein Großstadterlebnis; es war Naturbeschwörung aus der Sicht des Großstadtmenschen. Es war der ekstatische Beschwörungsakt von Urfrühen, wie er nur einem apokalyptisch gestimmten Zeiterlebnis entspringen konnte. So sagt denn die Natur in den Büdern der expressionistischen Künstler mehr aus über den Verzweiflungsgrad des modernen Stadtmenschen ais über irgendwelche Naturverbundenheit. Der neue Urwald, das neue Dschungelprinzip waren aus Zivüisationsnöten geboren. Von diesen Aspekten ist in unserer expressionistisch -angelehnten Kunst wiederum fast nichts zu erkennen. D a die Untergangsgefahr hier offenbar nur sehr schwach ausschlug, fäUt auch die Emeuerungsinbrunst weg. Bei Amiet und Giacometti wird das Ekstatische doch eher ins bieder Paradiesische verklärt: in die Hochfeier des intakt gebliebenen Bauerngartens, in das HoheHed des Bauerntums. Bei Segantini wird übrigens die Überwindung der Zeit - der »bösen Zeit« - , mit anderen Worten, des modernen ZiviHsationspessimismus, bezeichnenderweise auch in der Mystifizierung des Hochgebirgs gesucht. Dasselbe Phänomen steUen wir fest, wenn wir die MunchAnlehnung in unserer Malerei untersuchen. Die Angst-Momente, die bei Münch in eine metaphysische Lebensangst pervertierende »Platzangst« samt Verfolgungswahn - dieser Aspekt entfällt. Es ist denkwürdig: noch dieser wahnsinns178 nahe Künstler liefert unserer Malerei Argumente für die weitere Festigung unserer Bodenständigkeit. Wenn das nicht insgesamt Verklärungstatsachen sind! Es erübrigt sich beinah anzumerken, daß der sozialkritische Realismus hierzulande wiederum so gut wie ganz unterdrückt bleibt, es sei denn, man zähle Ansätze bei Schürch (diesem echten Nichtintegrierten) zu dieser Richtung. Unsere Kunst ist ihrer Ambition nach eine Kunst der Zeitlosigkeit. Es bheb, wie uns dünken will, auch gar nicht viel anderes übrig, als solche Tugenden auszubilden. Das Streben nach Zeitlosigkeit ist aber Kompensation jener Weltarmut, die wir jetzt als »Zeitarmut« bezeichnen dürfen: als ein Fehlen von exphzit zeitgenössischen Stoffen in unserer . LebenswirkKchkeit. Wie denn das? Haben wir denn wirklich außerhalb der Zeit gelebt, in einem hinterwäldlerischen Bauernwinkel? Flaben wir an allem vorbeigelebt? Doch wohl nicht. Wir gehören zu den frühestindustrialisierten Ländern, das Bauerntum hat hier beizeiten aufgehört, eine dominierende. Rolle zu spielen. Jedenfalls sind wir aUes andere als ein Agrarland. Uhren-, Maschinen-, Werkzeug-, Waffenexport sind schon eher als unsere Aktiva anzusprechen; das Bankenzentrum mit seinen »Gnomen von Zürich« ist etwas ungemein Weltwirklicheres als der Jodel. Die durch die i n dustrielle Revolution bedingten gesellschaftHchen U m strukturierungen haben hier durchaus stattgefunden - auch sonst sind wir (wenigstens nach westHchem Muster) ein sogenannt modernes Land. Übrigens gab es einen Frühkommunismus im Lande, ganz abgesehen von dem Revolutionsbefruchter Rousseau auf der Petersinsel im Bielersee; und abgesehen von dem vorübergehend an der Spiegelgasse in Zürich lebenden Revolutionsexporteur und -Strategen Lenin . . . Kurzum: die »Zeit« hat dieses Land »im Herzen Europas« (wie es immer heißt) nicht ausgespart. Aber merkwürdigerweise sind die Veränderungen, die die Zeit effektiv anstellte, im populären Bevmßtsein ohne viel Nachhall geblieben. Auch blieb das offizielle Selbstver- ständnis der Schweiz von der »Zeit« weitgehend unberührt, ja verschont. Also muß man annehmen, daß sie verdrängt worden ist zu Gunsten eines zeitlosen Images der Schweiz - emes Images, das an bäueriich-heroischen Mythen festhält. Verdrängt, wie hierzulande die Idee »Großstadt« oder auch nur »Stadt« verdrängt beziehungsweise verhindert worden ist. Zeitbewußtsein und Stadt kamen wohl deshalb nicht zustande, weü sie nicht ins (ideologische) Bild passen: weil sie unserer »Schweizer Art« nicht entsprechen. Also leben wir geistig unangepaßt an unsere tatsächhchen Verhältnisse und damit unangepaßt an die Zeit; und diesbezüglich an die Welt? E i n Sonderfall, eben. Ist es das? Haben w ü uns derart in unseren Sonderfall eingelebt und in eine Doktrin der Erhaltung dieser Sonderart, daß wir tatsächhch ab-sonderhch im Sinne von weltfremd geworden sind und damit dem uns umgebenden zeitgenössischen Leben unähnlich? Sind wir von unserer Schweizer Idee derartig indoktriniert, daß diese sich als Impfmittel gegen Erfahrungen, als eine A r t Immunitätsserum erweist? Ist es diese Immunität, die den Zeitgeist abhält und ein entsprechendes »Schicksalsklhna« verhindert und uns innerhalb der geistigen Energienfelder der Welt in »Quarantäne« hält? Was wäre derm die »Idee«? Ist es die materialistische Wohlstandsidee und Verschontwerdensidee? Das Gefühl, unser materielles Gedeihen und langandauerndes Verschontbleiben sei direkte Glücksfolge unserer Abkapselung und ehies entsprechend mystifizierten Neutrahtätsprinzips? Es wäre demnach eine Idee, die Geld und Gut mit Gott gleichsetzt - oder doch mit Tugend - ; und beides, Tugend und Gott mit einer heroischurtümlichen Vergangenheit verknüpft. Eine Idee auch, die Demokratie unter allen Umständen als »Schweizer Demokratie« versteht und damit nicht als Aufgabe für die Zukunft, nicht als Entwicklungs-Ansporn, sondern als Stabüisierungsgebot, also letztlich als eine besondere Form von Mythos und damit Unfreiheit. Eine unter Mythen heldischer Vergangenheit und ländhcher Unschuld versteckte erzmaterialistische Idee wäre die schweizerische Heimat-Idee. Und die Heimat ein mit Gründen abgeriegeltes Schweizer Haus, das m-ateriell 179 180 alle Welt aufnimmt und sie nullkommaplötzlich in Geld und Gut verwandelt und bei den Goldreserven versenkt, aber nie auf den Gedanken käme, sich der Welt wirklich zu öffnen. Ist das, was wir f ü r den Schauplatz Schweiz als charakteristisch und für die Künstler als problematisch empfinden, nämlich die Nivellierung im Lebensausschlag, die Ereignislosigkeit, Gräue, das Einerlei - ist dieses Gespenst namens Neutrum das direkte Produkt unserer »Neutralität« als L e bensidee und damit Folge jener tiefgreifenden Indoktrinierung mit der Idee »Schweizer Art«, mit dieser unserer H e i matidee? Hat die Lebensarmut mit der aus der Indoktrinierung hervorgehenden Gleichschaltung zu tun? Handlung ergibt sich f ü r den Menschen ja nur, wenn er sich in einer Lebenspotentialität fühlt; wenn er sich echten Möglichkeiten der Wahl und Entscheidung ausgesetzt sieht, wenn er sich inmitten eines Kräftefeldes aus sich bekämpfenden geistigen Antinomien weiß: im offenen Feld - der Zeit. Für unsere Kunst ist insgesamt charakteristisch, daß sie die Zeichen der Zeit, daß sie die Zeit kaum reflektiert. Der Puls der Zeit schlug hier eben nicht genügend stark aus. Dieses Fehlende kompensiert sie mit einer Tendenz nach Zeitlosigkeit. U n d da Zeitlosigkeit hierzulande gerne in einen ländlich-landschafthchen Reduit-Mythos projiziert wird, dieser Mythos aber ledighch die Quahtät eines Glaubensartikels besitzt, ist unsere Kunst vielfach auf mystisch-esoterische Wege verwiesen, wenn sie versucht, Heimat und Zeit zusammenzubringen. Von der Schweizer Kunst läßt sich sagen, daß sie sich lange zu einer A r t falscher Propaganda verpflichtet fühlte oder, anders ausgedrückt: sie hatte dauernd ihren »landwirtschafthchen Zehnten« abzuhefern. Sie ist auf weite Strecken eine latente oder wirkliche Heimatstükunst. Die von dieser Linie abwichen, die Abweichler, die A n schluß an die weitere Heimat der Zeit suchten, taten es unter dem Risiko, ihre Fleimat zu verscherzen. Wenigen gelang der Absprung, andere kamen auf halbem Weg zu Fall und strebten nach einer Ersatzheimat — des Religiösen oder Pseudorehgiösen. Oder sie stillten ihren zeitgenössischen Hunger z ö gernd in Kleinformaten, die einen penetranten Privatgeruch TST atmen können: als hätte der Verfasser nicht recht den Mut gefunden, seine Auffassung der Öffenthchkeit auszuhefem. Einer, der sich in solcher Hinsicht offensichthch beschnitt, ist Moilhet, der Aquarelhst (er hat sich andererseits Verdienste um die Erneuerung der Glasmalerei erworben). Natürhch hat er ha beiden »Fächern« unbestritten Vortreffhches geleistet, trotzdem haben die Aquarelle den Beigeschmack von Privatissima oder auch von Geistesübungen. Warum er, der an der Schwelle des Abstrakten steht, dem (öffenthcheren) Bildformat auswich, ist eine Frage, deren Beantwortung sicherlich mit dem angeschnittenen Heimatproblem zusanmienführen würde; und ganz gewiß mit den Tatsachen der Enge. E i n anderes Beispiel fiir die skizzierte schweizerische A n fälhgkeit für Mystizismus und Esoterik statuiert Itten. Er, der sich selber als einen Sohn der Berge sah, suchte den Anschluß an die Zeit gewissermaßen kopfüber vor lauter Ungestüm - aber schon bei sehien ersten abstrakten Arbeiten ist viel Mystizismus (als Überbrückungs-»Material«) hn SpieL Später als entschlossener »Weltbaumeister« in Weimar und Berlin baut sich der Kunsterzieher Brücken mit Anleihen bei fernösthchen Heilslehren, als führe der Weg von den schweizerischen Bergen zu den europäischen Zeitproblemen ganz selbstverständhch über »Mazdaznan«. Das AnschlußSuchen an die Zeit geht in seiner Entwicklung mit auffallenden Neigungen zur Kasteiung, zum Mönchisch-Meditativen vonstatten - als sei der Schritt vom Hehnatschweizer zum zeitgenössisch bewußten Weltbürger nur über die Unterdrückung der eigenen Schweizer Natur durchzuführen. Nachdem er vor Ausbruch des Zweiten Wekkrieges in die Schweiz zurückgekehrt war, mündete seine Malerei übrigens w^ieder in eine Kunst mit handfestem Heknatbezug. Aus ihr geht auf vielen Umv/egen das Spätwerk hervor, das als eine glasperlenspielartige Meditation i n Farben gehen darf und der zeitlosen Thematik Natur verpflichtet ist. Das Los des Verlandens oder der VerländHchung einerseits, der esoterischen Verkapselung andererseits hat übrigens viele schweizerische Kunstreisläufer nach der Rückkehr in die Heimat ereilt. Exemplarisch skid die Auswirkungen der Enge im Werk und in der Erscheinung Otto Meyer-Amdens aufzuzeigen. Bei ihm wird die Enge i n ähnhcher Weise zum künstlerischen Thema wie beim Dichter Robert Walser. Sie sind in mancher Hinsicht Nahverwandte, nur daß Walser der Ausblick in die (religiöse) Verklärung, die beim Maler zu beobachten ist, nicht gegeben war. Otto Meyer-Amdens bestimmendes Jugenderlebnis war das Waisenhaus. Aus dem Waisenhaus-Zögling hat er die zentrale Figur und Thematik seines Lebenswerks entwickelt - i m Ansatz und Kern eine moderne Existenzfigur, wie sich erweisen sollte. Sein Zögling ist ein.frierender Jüngling, der an der Schwelle zum Leben zögernd verharrt und dabei in eine archaische Pfeilerfigur mutiert. Aber hier ist der Säulencharakter nicht Ausdruck eines Menschheitsbeginns wie beim vorklassischen Kuros (auf welchen Meyer-Am.dens Jünghng geheimnisvoll anspielt); hier wird sich kein Gottmensch aus der Säule lösen, um die Bewegungsfreiheit zu gewinnen: der Waisenhauszögling verpuppt sich rm Gegenteü aus Angst vor dem Austritt, aus Zukunftsangst. E r sucht keine »Entwicklung«^ er schreckt davor zurück, er strebt das Schatten- und Zwiehchtdasein i n der Waisenhausgemeinschaft an, das Nummerndasein (wenn man will), die Anonymität, EntpersönKchung. E r ist ein negativer Held wie der Protagonist Robert Walsers. E r ist das stehende, plastische Symbol der Lebensangst (also der Entfremdung), er macht sich klein und nichtig und unbeweghch, um nicht austreten zu müssen. E r möchte i m »Mutterleib« des Waisenhauses vorgeburtlich existieren (ein Seelenleib). Aus einem konkret-bernischen Erlebnis von »Enge« ist es Meyer-Amden gelungen, eine überindividuelle, eine wahrhaft zeitgenössische Figur zu entwickeln und derart die eigene Enge zu sprengen. sehen Dichtung zu nennen. Aber gleichzeitig finden wir in der büdenden Kunst das IVEotiv der Puppe, der mechanischen Puppe, der Schneiderpuppe - eine Metapher, die mit dem Zöghng der Dichter verwandt sem. muß. (Man könnte als Vorstufe dazu noch Picassos fahrende Leute aus der rosa und blauen Periode heranziehen.) Die Puppe der itaHenischen Metaphysiker, die surreaHstische Puppe,. Legers Maschinenmensch und natürHch Schlemmers menschhche »Baupfeüer« - sie aUe gehören in dasselbe geistige Feld. Aber während Schlemmer aus dem Keimling des Berners Meyer-Amden die positive Stütze einer küixftigen GeseUschaft (den BauhausTypus) entwickelt und Leger einen Gerüstmenschen im Sinne eines soziaHstischen Aufbauprinzips - um zwei ideahstische Konsequenzen des einen Sachverhalts anzudeuten; und während die Italiener und die SurreaHsten die Entlarvung des antiquierten beziehungsweise mariipulierten Menschen groß heraussteUen, das heißt ün Büd- bis Wandbüdformat realisieren, zieht sich Meyer-Amden gewissermaßen in die Privatsphäre zurück. U n d in die Verklärung. E r sucht eüien Ausweg in Richtung Lichtfigur. E r tendiert geistig ins Glasfenster einer reHgiösen Heimat, er sucht das IsoHertsein in der Figuration des Kreuzeszeichens oder ähnlicher symboHscher Konfigurationen aufzuheben. E r nimmt jedenfalls seine Aussage über Heimatlosigkeit und Entfremdung wieder zurück wenigstens in-der Tendenz. U n d vor aUem nimmt er sich selbst als Künstler gewissermaßen zurück, indem er in der miniatürUchen Farbstiftzeichnung verbleibt. Der Schweizer sucht f ü r den Verlust (schweizerischer) Heimatzugehörigkeit Ersatz in einer erzwungen anmutenden Vergeistigung und Mystifizierung. E r verkriecht sich in eine künstlerische Enge von vieUeicht fragwürdiger Demut oder auch HeiHgkeit. Ob es sich um eine Form von Selbstbestrafung f ü r eine (an schweizerischer A r t gemessen) unheiHge blasphemische Flandlung handelt? Das Zöglingsthema ist ja tatsächhch ein Zeit-Thema. Es kommt nicht nur bei Walser, speziell in dessen »Jakob von Gunten« des histituts Benjamenta vor. Dasselbe Thema findet sich bei Musil, bei Kafka, bei Cehne, bei Hamsun, bei Joyce, um nur einige berühmte Beispiele aus der zeitgenössi183 184 2. Ferdinand H o d l e r : D i e Ü b e r w i n d u n g der Enge, oder: Das Pleroische als Stilprinzip Ferdinand Flodler statTxiert das für uns singulare Beispiel, daß ein Künstler zum Nationalhelden wird. Es Hegt nicht einfach daran, daß er es zu Weltruhm gebracht hat, das taten andere vor und nach ihm — ein Gorbusier zum Beispiel hätte lüer nie zu vergleichbaren Ehren kommen können, auch wenn er Hodlers R u h m noch so sehr überstrahlen sollte. Nein, H o d ler ist darin wirklich exzeptionell. E r gehört zweifeUos in die Heldenkategorie. Allenfalls Pestalozzi und Gottfried KeUer, vielleicht noch Gotthelf lassen sich ihm, was rückwirkende Popularität anbetrifft, an die Seite steUen, aber auch sie erstrahlen nicht i n derselben Heldengloriole. Hodler ist so etwas wie die Inkarnation Wilhelm TeUs, wobei der Umstand, daß er die TeUfigur neu erschaffen hat, mitspielt, aber nicht ausschlaggebend ist. Hodler ist WUhelm Teil redivivus, ein Freiheitsheld. Er ist natürHch schon als Natur prädestiniert, in den Tellenumrrß zu passen - ein K i n d des Volkes, ein Kämpfer, eine Kraftnatur, die aUe Widerstände brach; kein armer Staatsschreiber von schwächlicher Statur wie KeUer, der in Quartalssäufereien und überhaupt als Wirtshaushocker versauerte (Keller ist umstihsiert worden); auch kein Pazifist wie Pestalozzi, den kein Siegernimbus ziert; und auch keiner, der das Volk von der Kanzel herunter maßregelte, »abkanzelte«, kein inteUektueller »Herr« wie Gotthelf. Im urwüchsig-zähen und zornigen Hodler kann sich der alte Schweizer, kann sich der Landsknecht im Schweizer wiedererkennen. Außerdem hat Hodler (um zu werden, was er geworden ist) alles aus eigener Kraft geschafft U n d er steht über den Gegensätzen welsch und deutsch. Zwar nicht einfach dadurch, daß er, der Berner, Genf zu seiner Wahlheimat machte; er hat die Sprachengrenzen übersprungen und die Kulturengegensätze aufgehoben, indem er in seinem Werk von vornherein auf Gegenstände zurückgriff, die die »Idee Schweiz« repräsentieren. Sein Werk behandelt 185 wie kein anderes schweizerische Stoffe, und es bändigt sie in einer Weise, die f ü r alle ein Heimatangebot enthält - für alle LandesteUe und aUe Volksschichten. Sein Werk gibt der Schweiz einen Ideenumriß, und es verschafft der, Schweiz einen Platz in der Welt. In diesem Shme ist Hodler der Stifter einer eigenthchen Nationalhymne. In diesem - heimatbegründenden - Sinne ist Hodler em Nationalheld. Wie TeU. Hodler ist in erster Linie der Maler unserer Berge und der Maler unserer Historie. In beiden knüpft er an Freiheitsmythen an: an Grundbestände, aus welchen sich unsere Staatsidee nährt. . Die Berge - Tabu erster Ordnung - sie bedeuten dem Schweizer das Reservoir der ureigenen Kraft ebenso wie Gottes Thron; sie smd H o r t der Freiheit, Reduit (Verkörperung der Widerstandsidee); aUes in aUem: der gottgewoUte nationale Hochaltar. U n d von den Bergen stammen gleich auch die Urschweizer ab, die aUe heroischen Eigenschaften des Gebhrgs in unsere Schweizer A r t tragen. Aber die Berge sind ja noch in anderer Hinsicht Schicksalsbedingungen des Schweizers. Sie sind die Kerkerwände unserer Enge, die natürhchen Mauern und Scheuklappen, die uns auf eine mythische Vergangenheit festnageln. Wie verhält sich Hodler diesem Tabu gegenüber, wie leitet er aus derartig kUscheehaften Motiven künsderische WirkHchkeiten ab, die ein echtes Heimatangebot enthalten (und dies in weltgültigem Sinne)? Dazu ist es nötig, sich kurz bei jener biUigeren A r t von Heima.tkunst aufzuhalten, die Fluchtinstinkte weckt, weil sie uns die Hehnat normiert und auf AUzubekaimtes reduziert, statt sie als ein lebenswertes Stück Welt aufzuschließen. Heimatmalerei in solch negativem Sinne ist Malerei, die die Heimat »heimehg« macht und damit weltunähnHch. Man denkt sogleich an den Handhannonikaspieler (oder »Handörgeler«), der die niedere Stube mit ihrem Arvengeruch in den ewigen Orgelkehren in eine fragwürdige TrauHchkeit einstrickt. Es gehört die dicke heiße Luft dazu und in i8d ihr die roten Köpfe am Tisch und nackten Arme. Es gehört dieses ganze Sich-verkriechen dazu, das die musikahsche Leier unterstützt: bis sich darüber die Welt vergißt und nichts anderes überhaupt mehr existiert. Diese TrauHchkeit ist aber nur die Angst der Enge, die personifizierte Angst, die ka Zusammengehörigkeitsgefühl Stärke sucht. Es ist die Angst vor der Welt, die der Enge befiehlt, sich noch enger zu machen; sich zu komprhnieren und aufzuheizen bis zum Machtwahn, der nun bereit ist zu allerlei Teufelsaustreibungen. Der Hauptteufel, gegen welchen sich die Enge solchermaßen rüstet, ist der Weltteufel. Das Heimweh, das nach dieser A r t TrauHchkeit giert, entstammt der Weltangst. Dem Welthungrigen aber beschert solcher Heimwehlaut nur das Elend des Windelwehs - wie er im Jodel ja auch weniger den Jauchzer der Freiheit vermmmt als den Schrei aus der Gottverlassenheit, der sich an den Berghängen hochwhidet und das Weite ersehnt. System, das in sehier Anordnung deutlich Bezug nimmt auf die ZeUstruktur im Gestein. Die beiden Zonen entsprechen einander wie Ton und Echo; oder so wie positive und negative Formen (als Gedankensprünge) einen Zusamnienhano" erzeugen. In seiner zellularen Existenz wird der Berg so gewissermaßen i n den himmHschen Reigen überführt. Dadurch gewinnt er Anschluß an den Kreislauf von VergängHchkeit und Werden, also an die größere Ordnung der ZeitHchkeit - an die »Welt«. Wenn man übrigens bei Hodlers Schweizer Bergen die Tendenz zur Personifikation feststeUen mag, dann ist das durchaus richtig. »Person« (personare = durchtönen) woUen Hodlers Berge ja sein. Sie sind nicht nur durchwittert und durchlüftet, sie sind durchtönt - von ZeitHchkeit. Die ganze StUisiertmgsart dient der Veranschaulichung dieses Aspekts. Die heünehge Heimatkunst ist das als TrauHchkeit edierte Getto. Das Heroische m. Hodlers StÜ ist Ausdruck emes künstlerischen Kraftaktes mit dem Ziel, einen SonderfaU der Natur so umzufunktionieren, daß er als Element einer größeren E i n heit ersichthch wird. Die Natur des Berges wird zu diesem Zweck entsprechend zurechtgebogen, die Falten werden in ein gewissermaßen paraUelistisches System gepreßt, und noch die Wolken werden dieser Absicht unterworfen, wie wir gesehen haben: sie überklammern den Berg, sie überschweben das unten Festgefügte in einer Figuration, die einer Reigen-Choreographie zu gehorchen scheint. In Hodlers Werk spielt das Reigenmotiv eine große RoUe. Es kommt nicht nur in den Landschaften - hier insbesondere in der Anordnung der W o l k e n - , es kommt auch in den großen Figurenbildern zur Geltung, zurücklialtender in den historisierenden, auffaUender in den aUegorischen Darstellungen; ja es ließe sich wohl ohne weiteres in der formalen Infrastruktur der Bilder nachweisen. ÜberaU dient es dazu, den stan-en Einzelfall (oder das isoliert IndividueUe) zu vei-flüssigen und einem größeren Ablauf unterzuordnen. Der Reigen ist Hodlers ShinbUd für das Transitorische, und das transitorische Prinzip ist zweifellos wesentlicher Teil seiner künstlerischen Intentionen. Hodler geht beim Berg nicht vom Jenseitsbegriff und nicht vom unantastbaren Dogma aus. E r steUt die Berge hin als etwas vom Druck der Zeiten Erzeugtes, Gepreßtes, Geschichtetes. Die f ü r seine Bergbilder typischen (geologischen) Schichtungen bringen die Dünension der (Natur-)Geschichte zur Anschauung. Gestik und M i m i k der Berghidividuen sind damit nicht länger mystische Erscheinungen, sondern Ausdruck einer freigelegten physikalischen Formation im Raum der Zeit. M e i n schon in dieser (geschichthchen) Schichtung bringt Hodler also das Zeitprinzip in sein Bild vom Berg. Die künstlerische (^7ivi-)Sektion der Struktur erklärt Materie als Zeitprodukt; und die als »GeschichtszeUen« lesbaren Brokken deuten überdies die MögHchkeit des Zerbröckehis an und damit wiederum emen Zeitprozeß, wenn auch in destruktivem Sinne. N u n korrespondiert aber das ganze System des Bergleibs bei Hodler fast hnmer mit emem ähnHch gelagerten WoUien187 188 Im Zustand schwerelosen Gleitens und wolkengleichen Vorüberziehens: in dieser Wegversetzung vordergründiger Realität gibt sich für Hodler eine weltbildhafte (oder weltanschauhche) Ordnung zu erkennen. Das Einzelne, sei es Bäumchen, menschliche Figur, Wolke oder Stein, läßt sich derart durchaus in seiner plastischen Gegenwärtigkeit beibehalten, aber gleichzeitig scheint es nun aufgehoben in einem Zusammenhang von überirdischer Dauer. M i t anderen Worten: im transitorischen Reigenprinzip wird es möghch, die Aufhebung der Gegensätze VergängHchkeit/Ewigkeit zu suggerieren und damit eine Vision eine AUeinheitsvision! - , die Hodler mit den Größten seiner Zeitgenossen teilt. Diese Vision ist eine Sehnsucht aus der Zeit, sie ist ein inbrünstiger Wiedergutmachungsversuch der sogenannten »Entfremdungstatsachen«. In der Alleinheitsvision, um deren künstlerische Verwirkhchung um die Jahrhundertwende die bedeutendsten Künsder verzweifelt rmgen, drückt sich ein Selbsterlösungsversuch des unter seiner existentiellen Verlorenheit und Hehnadosigkeit leidenden, eben »entfremdeten« Individuums aus. Darum all diese Anstrengungen, Zusammenhang zu konstruieren. Darum auch die Tendenz zur Monumentahtät - des Frieses bei Gauguin, des Reigens bei Hodler, zum minutiösen Mäander bei Khmt; zur tiefenräumUchen UnendHchkeitserzwingung bei van Gogh . . . darum die Tendenz zu Symbolik und Allegorik ganz allgemein. nicht mehr das Licht, sondern die Kurvatur der Versengung das Ehiigende). U n d bei Hodler ist es, wie gesagt, das im Reigenmotiv und ParalleKsmus aufscheinende transitorische Prinzip. Bei den genannten Künstlern gehngt jedoch diese Flerstellung einer Alleinheitsvision nur unter wahrhaft heroischem Einsatz. Bei Hodler ist das Fleroische am sinnfälligsten von allen. Liegt es an den widerständigen Stoffen, die sich der Uberführung i n die kosmische Konstellation außergewöhnlich stark widersetzen? Liegt es daran, daß er-als Schweizerviel zäher an den heimatHchen ReaHtäten (des Bodens) hängt und deshalb entsprechend größere Mühen hat, sie in die Figuration einer kosnüschen Heimat umzusetzen? Von seinen »Ubersetzungsschwierigkeiten« sprechen jedenfalls seine allegorischen Bilder eine deutHche Sprache. Die Umfunktionierung der realistisch erlebten »Schweizerinnen« zu aUegorischen Trägerfiguren eines kosmischen Weltgebäudes geUngt oft nur unter einer eurhythmischen Zurechtbiegung, die sehr auf Kosten der Ästhetik geht. Das Heroische in Hodlers StU ist Ausdruck eines Kraftaktes. U n d der ELraftakt in Hodlers Werk ist Ausdruck sehier Vergeistigungsschwierigkeiten, nicht ungeschlacht urwüchsiger Kraft. Was schlägt sein HolzfäUer aus dem Stamm? Den Lichtblick Wolke, dieses Guckloch i n den Raum schlägt er aus dem H o l z . U n d so wird in Hodlers BergbUdern nicht das heimatliche Idol aufgesockelt, sondern dieses Höherstreben: die Berge erzwingen sich den Wolkenraum. So ein Berg mag zwar immer noch als heimatUches Inventarstück erscheinen, aber gleichzeitig auch wie eine Grimasse der ZeitHchkeit. Heroisiert wird der Kraftakt dieses Anschlußsuchens. Bei Gauguin kommt die Alleinheitsordnung, kommt der ersehnte Zusammenhang hn bildnerischen Prmzip des nachdenksam gedämpften Lebensteppichs mit seiner zähflüssigen Kurvatur zustande, der alles Einzelne in seme endlosen Muster aufnimmt; bei Klimt stiftet der erotisch knisternde Strich den Zusammenhang, der alle Einzelerscheinungen auflöst, aber auf dem Nenner eines zeitlosen Gekräuseis und Gewebs wieder vereinigt; bei van Gogh wird das lebenspendende Licht in einer Weise materiahsiert, ja personifiziert, daß die einzelnen Bildmotive aussehen, als wären sie aus Nen'-en des Lichts getrieben und so an den Rippen einer Allmacht (in der Spätzeit ist dann Hodler ist kein Verklärer der Heimat, im Gegenteil. E r ist aber auch kein Flüchding und vor aUem kein Opfer der Fleimat. E r nimmt zwar erzheimathche Stoffe, er entengt sie jedoch, indem er das »SonderfaUmäßige« aufbricht, um Aussicht z u gev/innen. E r ist tatsächlich der einzige Schweizer Künstler, der in seiner Zeit und mit seinen eigenen Stoffen (also ohne WeltanleUie und Weltanlehnung) eine künstlerische Sprache ent-wickelt hat, die souverän zum Weltgespräch 189 190 taugte. E r machte dadurch die Schweiz in seinem Werk sozusagen zum korrespondierenden MitgHed der Wek. E r machte die Heimat wek-ahnlich und weltfähig. In dieser Hinsicht ist er tatsächlich eine A r t freiheitsstiftender Nationalheld, der Mauern der Enge und Barrikaden einreifJt. Sein einzigartiger, sein legendärer Ruhm hierzulande m u ß in solchen Verdiensten gründen. 3. D i e » G u t e F o r m « als A h b i Als Ausweis moderner Haltung, als fortschritthches Gestaltungsprinzip, aber auch als Garant f ü r die Integration künstlerischer beziehungsweise kultureller Energien in den Bereich der Gebrauchsgegenstände (und damit in den Alltag) hat hierzulande die Idee der »Guten Form« einen fruchtbaren N ä h r b o d e n gefunden und bis vor kurzem noch wahre Triumphe gefeiert. Dieses Denken stammt aus Bauhaustagen. Es ist in der Schweiz in einer Weise assimüiert und modkiziert worden, daß es zu den schweizerischen Spezialitäten gerechnet werden darf. Das Engagement des Bauhauses bestand darin, durch E i n flußnahme auf das Serienprodukt der Industrie die ganze Umweltgestaltung zu inspirieren, um letzten Endes ein »Haus des Lebens« zu errichten, das allein schon durch sein formales System zum erzieherischen Miheu würde. Programm und Engagement des Bauhauses waren die Antwort auf Chaotik und Schrecknis des Ersten Weltkrieges. Von hier aus ist die »Gute Form«-Doktrin abzuleiten. Die ihr innewohnende Sanierungs- beziehungsweise Heüsidee heße sich ruhig auf folgenden Nenner bringen: M a n gestalte, die gewöhnlichen Nutzungs- und Wohnungsgegenstände: die alltäglichen Lebensgefäße nach rational-stimmigen, zweckgerecht-vernünftigen, zeitgemäß-zeitbeständigen Gesichtspunkten, und folgerichtig werde sich, wenn auch nicht ein erlebbares Paradies auf Erden, so doch eine dahingehende Besserung einstellen. Es handelt sich bei diesem Ideenkomplex zu emem guten 191 Teil um funktionalistische Prinzipien, wie man.sieht, und das funktionahstische Denken hat bei uns bekannthch außergewöhnlich stark eingeschlagen. Es hat unserer Architektur in den zwanziger und dreißiger Jahren bedeutenden Aufschwung verliehen, es hat aber auch allem Kunstgewerblichen zu der sprichwörthch gewordenen Schweizer Quahtät aufgeholfen. Die Quahtäten von Nüchternheit, Sparsamkeit, Schnörkellosigkeit, Sauberkeit, Vernünftigkeit scheinen sich mit »Schweizer Art« besonders gut zu vertragen. Die ihnen gemeinsame rationahstisch-puristische Ader läßt sich denn auch gefahrlos mit unserer Lebensidee vereinbaren - sie entspricht deren praktisch-pragrnatischeri Konstanten. U n d außerdem taugen die genannten Werte vorzüghch für aUfälhge latent-vorhandene Vergeistigungsbedürfnisse. Die Ideologie der »Guten Form« befriedigt unsere affirmativen N e i gungen; gleichzeitig bietet sie Möglichkeiten zur geistigen Überhöhung unseres Selbstbejahungsdrangs an. Man möchte behaupten, kn Wertsystem der »Guten Form« transzendiere Wesentliches aus dem Katalog schweizerischer Nationaltugenden in eine mystische Sphäre, oder: hier feiere unsere Heimatidee Auferstehung im zeitlosen Raum einer »geistigen Heimat«. Womit wir wiederum bei Verklärungstatsachen angelangt wären, genauer: bekn Thema »Esoterik und Mystizismus als Weltflucht oder Weltersatz«: bei jenem schweizerischen KastUien, mit anderen Worten, in welchem Kurt Marti die »ins Utopische ausgezogene MögHchkeit des Friedenslandes Schweiz, mit seiner Neutrahtät >schöne Geistesfrucht< bringen zu können« erbUckt. Die für das kastilische Glasperlenspiel typischen Kräftepaare »Freiheit und A s kese«, »Mystik und Mathematik« und noch »Morgenland und Abendland« könnte man ohne große Mühe auch f ü r die »Gute Form« in Anspruch nehmen, genau so wie sie f ü r die »Glasperlenspiele« der Konkreten Kunst Geltung besitzen und bereits für diejenigen von Wegbereitern wie MoiUiet und Itten. Wenn wir die im »Gute Form«-Prinzip angelegten Sanierungstendenzen auf Uire Wirkung hin betrachten, dann allerdings erweist sich die Ideologie schon eher als Ahbi. Die 192 »Gute Form« hat hauptsächhch zu einer spezifischen Geschmacksdiktatur beigetragen. Jedenfalls haben die aufs äußerhche Leben angewandten »Kunst-Griffe« dem Menschen nicht viel weitergeholfen. M i t »Guter Form« wird der Mensch weniger saniert als interniert. E r wird i n »Gute Form« korsettiert, in. »Gute Form«-Sprossenwände evakuiert. D e r Sanierungsgedanke gipfelt in einem SauberkeitsEtat. Eine entsprechende Kultur verdiente allenfalls den N a men einer Prothesen-Kultur. Jedenfalls fällt es heute ungemein schwer zu glauben, daß sich eine Gesellschaft dadurch bessere, daß. sie in Häusern guter Form aus Löffehi guter Form esse. Die entsprechenden Glaubensleuchtfeuer scheinen erloschen. I E . Teil- Das Thema vom großen bzw. verlorenen Selm Streiflichter auf das Verhältnis Künstler und Heimat, Künstler und Gesellschaft I. Stauffer-Bern und die Wiedergutmachung K a r l Stauffer ist 18 57 in Trubschachen, Kanton Bern, als Sohn des dortigen Pfarrhelfers geboren und 1891 in Florenz gestorben. Die Lebensspanne deckt sich annähernd mit derjenigen seines großen Zeitgenossen Vincent van Gogh, und wie bei jenem hat sie, zumal in der »Schicksalsfigur«, einen legendären Zeitstoff geliefert. Die Laufbahn beginnt typisch schweizerisch (»kunstreisläuferisch«), allerdings ungewöhnhch glanzvoll. Der erst Neunzehnjährige begibt sich 1876 auf vier Jahre an die .Kunstakademie in München, um Malerei zu studieren. Es ist die Zeit, da in Ausstellungen und Atehers die Historienund Genremalerei dominiert; es ist aber auch die Zeit, da die französischen Impressionisten in Paris zum erstenmal als (kämpferische). Gruppe an die Öffentlichkeit treten. Der junge Maler Stauffer zeigt sich weder an der konventionellen Historienmalerei, noch am naturahstischen Fredicht-Kult interessiert: er wird Porträtist. M i t einem Bildnis des Bildhauers Klein gewinnt er i n BerHn die offizieUe Auszeichnung der »Kleinen goldenen MedaUle«. E r wird gewissermaßen über Nacht berühmt. E r zieht nach Berlin, wo er als gefeierter und vielbeschäftigter Porträtist ein überlaufenes Atelier unterhält. Gipfel dieses frühen Ruhms: der Auftrag, für die Berhner Staatsgalerie das Büdnis des Dichters Gustav Freytag zu malen. Doch zu diesem Zeitpunkt ist er an der Malerei schon nicht mehr recht interessiert. Zwar entledigt, er sich des übernommenen Auftrags mit Anstand, aber auch mit Mühen. Denn schon 1885 hat er sich, statt auf der gesicherten Erfolgsbahn fortzuschreiten, von der Malerei ab- und der Radierung 193 194 zugewandt: einem Gebiet, das er sich autodidaktisch aneignet und auf welchem er in Küi'ze unbestidttene Meisterleistungen heiTorbringt - man denke an die populär gewordenen, großartig radierten Bildnisse eines Gottfried Keller und C . F . M e y e r . Aber auch dieses Gebiet bleibt f ü r ihn ein Durchgang - auf der Anmarschstrecke zur eigenthchen Berufung: zur Bildhauerei. Stauffer ist einunddreißig, als er diese Gewißheit seiner künstlerischen Bestimmung gewinnt. Schauplatz dieser Wandlung und neue Wahlheimat ist Rom, das Jahr: 1888. »Es war mehr Empfindung als Bewußtsein und gab sich vor allem negativ kund, es war mir ahes verleidet, die Stadt, die Menschen, die Kunst, die sie üben, die ich geübt habe. K u r z : fort! war das einzige, was ich tun konnte, und Gott sei Dank, daß ich weg bin und hier (in Rom)«, heißt es in einem Brief Stauffers. E r fühlt jetzt freie Bahn vor sich: »Keine Schultradition hindert mich . . . Flier bin ich frei und frisch . . . Sono scultore io . . . Jetzt fehlt mir nichts mehr zum Glück . . . « Aber kurz darauf, i8c)i, setzt er seinem Leben ein Ende »gebrochen nach schwerem Kampf«, wie auf seinem Grabstein zu lesen steht. E r ruht auf dem Campo Santo degli A l l o r i in Florenz (wo übrigens nach ihm auch BöcHin bestattet wurde). Das Lebenswerk von Stauffer-Bern (wie er sich nannte) zerfällt in drei Perioden oder Stufen. In eine erste, die Stauffer als gefeierten Porträtisten in Berlin zeigt; rn eine zweite des Radierers und i n eine dritte, kaum begonnene, aus welcher nur zwei Plastiken faßbar sind, beide unvollendet: ein lebensgroßer »Adorant«, nach einem ^noch armlosen) Gipsmodell nachträghch gegossen, heute im Berner Kunstmuseum; und noch das Modell f ü r ein Standbild Adrians von Bubenberg, mit welchem Stauffer 185)0 an einem bemischen Wettbewerb teilgenommen hatte. Das Standbild, auf Verwendung der Gottfried Keller-Stiftung in vorgesehener Größe ausgeführt, wurde 1958 vor Schloß Spiez aufgestellt. D a ß Stauffer-Bern das Zeug zum bedeutenden Bildhauer hatte, machen diese beiden hinterlassenen Figuren deutlich. Sie haben ja auch genügt, ihm einen bleibenden Platz in der 195 Geschichte der neueren Schweizer Plastik zu sichern - ja, sie sind Gegenstand eines einzigartigen postumen Ruhms geworden. Über den »Adoranten« schreibt Hugo Wagner in der Zeitschrift »Werk« (Heft 9, September 1956): »Stauffers Figur ist vielleicht die einzige Plastik des 19. Jahjrhundens, in der die Antike wahrhaft lebendig wird und die trotzdem unserer Zeit g e h ö r t . . . D a ß Stauffer zerbrach, bevor er sein Werk vollendet, ist der größte Verlust, den die neuere Schweizer Kunst zu beklagen hat.« U n d Hans Christoph von Tavel äußert sich in einem unlängst erschienenen, durchaus kritischen Buch über »Die Schweizer Kunst von Böcklin bis Alberto Giacometti« (Skira Verlag, im Auftrag der Schweizerischen Volksbank, 1969) nicht weniger enthusiastisch, wenn er schreibt: » . . . der B u benberg ist die ideale Formulierung der Entschlossenheit zur Abwehr und das edelste Denkmal des 19. Jahrhunderts, das ein Schweizer geschaffen h a t . . . « Niemand zieht ernsthch in Frage, daß Stauffer zu unseren großen Künstlern zähle. Dabei ist die Größe, ist der Rang, den man ihm selbstredend zubilHgt, durch das Werk nicht unbedingt erklärt und gerechtfertigt, es. läßt keineswegs zwingend auf einen künftigen Neuerer und Bahnbrecher schheßen. Alles von Stauffer Hinterlassene markiert lediglich eine Anmarschstrecke und Vorbereitung auf die Plastik hin, und die Strecke bricht an der Schwelle zur eigenthchen »Gestalt« ab. Aber sie wurde mit allen Anzeichen eines außerordenthchen Künstlertums beschritten. Das macht der künstlerische Werdegang deuthch, und das verdeudichen die biographischen Begleitumstände. Aus beiden spricht auf Schritt und Tritt dieser radikale unteilbare Anspruch, koste es was es wolle nur das Große zu erstreben. Vermuthch Hegt der Grund f ü r Stauffers großartiges Nachleben in diesem heute noch fühlbaren Anspruch. In seinem Fall überlebt eine großangelegte Figur. Es ist aber dieser Größenhunger - oder »Größenwahn« - , der ihn mit der schweizerischen Gesellschaft in Kom^ikt und - zu FaU gebracht hat. Stauffer-Bern war einunddreißig, als er in Rom zu seiner Bestünmung - und zu seinem Anfang - fand. Das römische 196 Kapitel seines Lebens sollte sich auf die denkbar tragischste Weise als sein »letztes Kapitel« erweisen. Die biographischen Hintergründe dieses Kapitels werden gerne prüde verschwiegen oder mit aUgemeinen FormuUerungen vertuscht, teUs wohl aus echten Schuldgefühlen, teüs in der irrigen Annahme, eine unglückliche Liebesgeschichte könne einer anspruchsvoUen Kunstbetrachtung höchstens falsche Gesichtspunkte beisteuern. Hier in Kürze die sogenannte Liebesgeschichte. Karl Stauffer trat seine römische Periode mit der H ü f e und dem Segen seiner schweizerischen Freunde E m ü und Lydia Weki-Escher an. Lydia ist die Tochter jenes Alfred Escher, der als der Erbauer des Gotthard-Tunnels in die Geschichte eingegangen ist; EmÜ Welti ist der Sohn des Bundesrats. Welti. Die beiden stammen also aus jener geseUschafthchen Schicht Zürichs, die das Musische nicht nur zu pflegen, sondern zu fördern als natürhehes Vorrecht ansah. Übrigens waren beide mit Gottfried KeUer befreundet. In Stauffers FaU bheb es nicht bei der übUchen Anteünahme: Lydia Escher brennt mit Stauffer nach ItaUen durch. Sie verläßt ihren Gatten, sie setzt sich über aUe Vorschriften der Reputation und Konvention hinweg, sie bringt Schande über ihre Familie und Klasse, sie verletzt die bürgerhche Moral usw. usw. - : wie knmer man Lydias Fehltritt auch bezeichnen mag, entscheidend ist dieser Aspekt der Geschichte f ü r unseren Zusammenhang überhaupt nicht; er würde die unglaubliche Reaktion des verlassenen Ehemannes nämhch nie und nimmer erklären. Diese Reaktion ist ein Racheakt beispielloser A r t : über diplomatische Kanäle wird in Italien die Verhaftung Stauffers erwkkt rmd dann seine iUegale Versenkung in kahenischen Gefängnissen und Irrenanstalten. Stauffer-Bern auf mittelaherlich anmutenden Sträfhngstransporten, mk Mördern zusammengekettet; und Stauffer • unter Geisteskranken hinter Anstaltsmauern. Hier w k d der verhinderte Künstler zum Dichter. E r dichtet Lieder, die Papst und Kaiser, Luther und Phidias zu Zeugen anrufen. Nach Monaten erst gelingt einigen wahren Freunden (unter ihnen der BUdhauer A d o k von Hüdebrand) Stauffers Stauffers Ende wird veraUgemeinernd gerne als eine »Folge des Konflikts zwischen künstlerischer Freiheit und geseUschafthcher Ordnung« beziehungsweise »zwischen maßlosen Ansprüchen des Künstlers und verständnisloser Reaktion der GeseUschaft« hingesteUt. Für dieses unglaubUche Kapitel eines »Künstlerromans« genügen derlei Interpretationen nicht. D a f ü r m u ß eine spezifische Erklärung gesucht werden, mit anderen Worten: eine schweizerische. Das BeispieUose an Stauffers Geschichte besteht weniger i n seinem Konflüct mit der GeseUschaft als in der A r t der Strafe, die die GeseUschaft über ü m verhängt hat. Das BeispieUose besteht darin, daß Stauffers Fall (da er über die Wege diplomatischer Beziehungen zwischen Nachbarstaaten gelöst wurde) als ein PoHtikum behandelt worden ist. Stauffer wurde gleichsam vor ein Kriegsgericht gesteUt und zum Tode verurteüt - wie ein Landesverräter. Woran hat er sich denn aber vergangen, worin besteht sein Verrat an der Heimat? Rom war f ü r ihn der Ort, wo er seine schöpferische Person nicht nur befreit und entdeckt, sondern recht eigenthch her- 107 I<58 FreUassung. Doch der Befreite sieht sich nicht rehabihtiert, vielmehr von seiner GeHebten verraten. Lydia Escher hält dem auf sie ausgeübten Druck nicht stand, sie widerruft alles, sie gibt, um mühsam den Schein zu wahren, eine Version zu ProtokoU, die sie als Opfer und Stauffer als Verbrecher hinstelk. Zwar versucht Stauffer sich unter letzter Kraftanstrengung durch die künstlerische Arbeit zu retten. Im Florentmer AteUer Hüdebrands fertigt er das erwähnte ModeU f ü r das Bubenberg-Denkmal an, aber er vermag den Entscheid der Jury nicht mehr abzuwarten, er nknmt sich das Leben, »gebrochen nach schwerem Kampf«, wie der Grabstein vermeldet. Lydia Escher folgt ihm ein Jahr darauf ün Tode nach, nachdem sie (in der kurzen Zeit zwischen ihrem Verrat und Stauffers Freitod) die »Stiftung für die Kunst« ins Leben gerufen hatte, die zuerst WeltiEscher-Stiftung heißen soUte, auf Anraten E m ü Weltis dann jedoch k l »Gottfried-KeUer-Stiftung« umgetauft worden war, weü sich mit diesem Namen von selbst die VorsteUung von Kunst einstelle. vorgebracht hat. R o m ist sein künstlerischer Geburtsort. E r ist in der Konfrontation mit der dort versammelten abendländischen Kulturgestalt einem total unschweizerischen Schöpfen-ausch und Machtwahn verfallen. E r sah in seinen hochfliegenden Plänen (wie es heißt) nicht nur bildhau.erische Projekte, soaidern ganz neu zu erschaffende Kult- und K u l turstätten - neue Gründungen, Reiche! vor sich. Der Berner Stauffer hatte in R o m nicht nur die heimatliche Enge abgestreift, er war im Begriff, ein Welteroberer oder zumindest ein Europäer zu werden. U n d er hatte in diese ehrgeizigen Pläne die Angehörige einer führenden Schicht der schweizerischen Gesellschaft hineinverwickelt. Die Beziehung zwischen Stauffer und Lydia Escher ist ja weniger die Variation einer Romeo-und-Julia-Fabel, weniger die Geschichte einer Liebe als die Geschichte einer Blendung. So wie Lydia selbst Teil von Stauffers größenhungrigen Phantasien war, so fühlte sie sich von dessen gefährhchen Träumen angesteckt. U n d durch sie wurde ihre Famihe und mit ihr die ganze Schicht, aus welcher sie stammte (und damit potentiell das »System«), betroffen. In Stauffers Weltansprüch fühlte sich das in der kleinteüigen föderalistischen Struktur gewachsene, auf Opportunität und praktische Vernunft ausgerichtete, jedem Abenteuer abholde, zutiefst unspekulative und anti-utopische, auf bewährtes Mittelmaß bedachte Schweizer Wesen beleidigt, ja geradezu bedroht. Das war das Sträfliche und Vermessene an Stauffers Blendung und Lydias Verblendung. In Stauffers ganz und gar unschweizerischen Ambitionen witterte Lydia Eschers Klasse etwas »Volksfeindhches«. Der Mitbürger mußte auf unser Maß zurückgestutzt, wenn anders nicht möghch, gerichtet und vernichtet werden. M i t semem Tod war die Gefahr gebannt. Jetzt durfte er als großer Sohn adoptiert werden. Die Gottfried Keller-Stiftung ließ zur hundertsten Wiederkehr seines Geburtstags Stauffers »Bubenberg« vor Schloß Spiez, dem Sitz des Helden von Murten, aufstellen: zur bleibenden Verherrlichung des schweizerischen Freiheitsmythos. Dieses Monument patriotischer O p ferbereitschaft wurde vom Autor des Standbildes wahrhaft mit dem Leben bezahlt. Die Gottfried Keher-Stiftung ist die Geld und Tat gewordene Wiedergutmachung am Unrecht, das die Heimat Stauffer angetan hat. Sie versteht ihre Aufgabe darin, zu sammeln, was die GeseUschaft in der Zeit an großen Söhnen nicht zu tragen vermochte und an schöpferischen Energien verschleudert hat. Sie webt so korrigierend und flickend am Kunst- und Mythen-Teppich der Nation. 2. Johannes Itten, oder: V o m Segen der Berge Johannes Itten wurde am 11. November 1888 in Südernlinden (an der Scheide zwischen Emmental und Berner Oberland) geboren. E r starb i m März 1967 mt Zürich. Dazwischen hegen Stationen von welthistorischem Klang. U n d Itten hat am großen Geschehen partizipiert, er hat Geschichte gemacht, er ist eine historische Figur. Dennoch gehört er keüieswegs zu unseren »Verlorenen Söhnen« (wie ein Gorbusier zum Beispiel, der die Heimat f ü r immer abgestreift hatte): Itten gehört i m Grunde nicht einmal zu den sogenannten Weltbürgern. E r hat die Heimat nicht abgestreift, er ist immer und überall der Sohn der Heimat geblieben. Ihm ist die Heimat zum Segen geworden. Was war ihm die Heimat und üiwiefern ist in diesem FaUe HeimatUches zur »Welt« geworden? M i t anderen Worten: aus welchem (Heimat-)Stoff sind unsere positiven Söhne beziehungsweise Helden gemacht? In Ittens Lebensgeschichte schimmern große Muster durch - das Muster der »Lehr- und Wanderjahre« etwa. D a ist der »Hirtenknabe«, der von den Bergen in das Leben der Städte hinuntersteigt, an die Stätten der ZiviHsation gelangt, dann an die Brennpunkte geistiger Auseinandersetzung. Aber es bleibt nicht beim Schnuppern; der Hirtenknabe und Sohn der Berge wird GesprächsteUnehmer, dann Wortführer, ja urgewaltiger Verkünder einer bekn Einzelnen ansetzenden Entwicklungstheorie. U n d hier schiUert das Muster der Lehr- und Wanderjahre in jenes andere Muster hinüber, das wir aus den Heilsgeschichten kennen ~ aus Prophetengeschichten . . . 199 200 Da ist die Kondlieit in einer weltabgelegenen Bergbauerngegend, in einean von Zivilisation unberührten Schongebiet gewissermaßen. Der kleine Johann (der sich später Johannes nennen wird) wächst »wild« auf. Im Sommer hütet er auf einer Rinderalp das Vieh, nur im "Winter lebt er im Dorf. Die frühe Kindheit verläuft ohne nennenswerte Störung durch Schulbetrieb und Elternhaus: außergewöhnlich natumah. Mit zehn kommt die Versetzung in die Stadt. Der Wildwuchs wird Verwandten im Städtchen Thun in Pflege gegeben. Jetzt folgen die Zöglingsjahre: bis sechzehn in Thun, darauf in Elofwil in der N ä h e der Stadt Bern, wo der junge Itten das Lehrerseminar besucht. Diese ZögHngsjahre sind Jahre der eigenen Zivilisierung und ersten Schnupperns an den H o r i zonten der Kultur. Itten erlebt sie als Bildungsprozeß im alten Sinne des Wortes, nicht als Ausbildung in Richtung einer bestimmten Berufstätigkeit. Die erwachenden Interessen stehen unter den Dominanten von Musik, Malerei und Mathematik. Nach einem kurzen Gastspiel als DorfschuUehrer entschließt sich Itten f ü r Malerei und geht nach Genf, um dort an der einzigen Kunstschule der Schweiz zu studieren. Vielleicht ist dieser Schritt auch durch das Vorbild Hodlers beeinflußt. Der Versuch mit Genf mißHngt aus allgemeinen Assimilierungsschwierigkeiten. Es folgt die Rückkehr nach Bern und die Umkehr zu den Naturwissenschaften. Itten absolviert an der Berner Universität das höhere Lehrfach mathematisch-naturwissenschafthcher Richttmg, er wird Sekundarlehrer - und geht auf einen zweiten Winter nach Genf, um Malerei zu studieren. Doch jetzt bleibt er dabei. Von Genf geht's gleich weiter nach Stuttgart und zwar auf einem denkwürdigen Fußmarsch (der an die Zeit der Scholaren gemahnt). Stuttgart bedeutet Hölzel und dessen neuartige Kunsttheorie, aber auch Mitschüler wie Schlemmer und Baum-eister. Hier findet explosionsartig die Geburt des abstrakten Malers Itten statt. M i t knapp fünfundzwanzig Jahren hat er seinen Anschluß an den Stromkreislauf seiner Zeit und damit an die Welt gefunden - eine erstaunhche Tatsache, wenn man Herkommen und Aufwachsen in Betracht zieht. 1916 stellt er bereits auf der renommiertesten AvantgardeBühne Deutschlands: in Herwart Waldens »Sturm«-Galerie in BerHn aus. U n d im selben Jahr übersiedelt er nach Wien, um dort ein eigenes AteHer (mitsamt kunsterzieherischem Betrieb in kleinem Rahmen) aufzumachen. Bei Adolf Hölzel in Stuttgart ist nämlich auch der Kunsterzieher in Itten geweckt worden. Im Wiener Milieu der Jahre 1916/19, einem geistigen Klima, das mit Namen wie Karl Kraus, Adolf Loos, KHmt, Schönberg, Auer, Berg, Werfel und vor allem mit dem (als Kulturbrückenkopf legendären) Namen der Alma Mahler suggeriert sei, spielt der noch nicht dreißigjährige »Naturberner« die Rolle des Avantgardekünstlers und -theoretikers. Hier steUt er, unter dem Patronat von Adolf Loos übrigens, die revolutionären Bilder seines Frühwerks aus; und von hier wird er durch A l m a Mahlers derzeitigen Gatten Gropius als Meister ans neubegründete Bauhaus nach Weimar berufen (dessen erster Phase er denn auch eindeutig seinen Stempel aufgedrückt hat). Es folgen die langen Jahre des Kunsterziehers, pädagogisch-weltverbesserischen »Unternehmers« und Weltmannes Itten. Die Stationen heißen BerHn, Krefeld und - nach der • Rückkehr in die Schweiz - Zürich. In BerHn unterhält Itten sein eigenes »Bauhaus« - eine private Kunstschule, an welcher nach der Methode seines ureigenen »Aufbauprogramms« in einem von Architektur bis Produktgestaltung reichenden Unterricht vor aüem »das Schöpferische im Menschen« freigemacht werden soll. Daneben baut er in Kj-efeld (dem damaligen Zentrum der deutschen Seiden- und Kunstseidenindustrie) eine Schule f ü r Textilentwerfer auf. Kurz vor Kriegsausbruch kehrt Itten über eine Ausweichstation in HoUand 1939 in. die Schweiz zurück, nicht eigenthch als Kriegsvertriebener oder Flüchtling: es trifft sich, daß er seine erzieherische Arbeit an einflußreicher Stelle fortsetzen kann, nämUch an der schweizerisch wichtigen Kunstgewerbeschule in Zürich, deren Leitung er jetzt antritt. Als Direktor von Kunstgewerbeschule und -Museum, später noch der Textilfachschule und des Rietbergmuseums, kann er seine Methoden und Lehre in der Hehnat in offizieller Funktion anwenden. Der Maler Itten tritt erst nach der Pensionierung von Amt 201 202 und Würden, von 19 5 6 an, wieder richtig in Erscheinung, und jetzt mit einem Akerswerk, das dem Frühwerk ebenbürtig ist. Zuvor zieht er in zwei großen Büchern noch die Summa semes kunstpädagogischen Lebenswerks. Die »Kunst der Farbe« und die auf Ittens »Vorkurs am Bauhaus« benihende gleichnamige Gestaltungslehre sind heute weltläufige Standardwerke. Als ihr Autor, doch ebensosehr als Künstler, kurz: als Pioniergestalt der sogenannten »Moderne« darf Itten in Zürich noch internationale Anerkennung, öffentliche Ehrungen, späten Ruhm erleben. Die Lebensknie erscheint in der Tat großartig, das Maß der Selbstverwirklichung außerordenthch. Johannes Itten hat offensichthch ein erfülltes Leben gelebt. A m glückhchen Tatbestand der Erfüllung hat sein positives Verhältnis zur Hehnat wesentlichen Anteil. Was war ihm die Heimat? Sie war f ü r ihn identisch mit dem frühen Erlebnis der Bergnatur als Schauspiel von Schöpfungsmysterien. A m Anfang waren die Bergblumenwiesen mit ihren Tieren und ihren Gewittern. A m Anfang steht f ü r Itten eine spezifisch schweizerische Paradieslandschaft. Johannes Itten hat in einer begonnenen (bis heute unveröffenthchten) Autobiographie sein Herkommen und Aufwachsen geschkdert. Es ist interessant festzustellen, daß hier alles, was bei anderen Künstlern im Elternhaus verankert wird, fehlt. Itten stellt sich in einer Weise dar, daß man glauben möchte, er stamme nicht von Eltern, sondern dkekt von einer schöpfungsmächtigen Bergwiese ab, auf der sich Rinder und Ziegen inmitten leuchtender Blumen bespringen, auf welcher aus Eiern Kücken schlüpfen, Wasser rauscht, der Wind sich erhebt und wieder legt - und nachts breitet sich über diesem gebirgigen Abseits der gestirnte Himmel aus, und noch das Gewitter kündet von einem unbegreiflichen Wuriderraum jenseits aller Greifbarkeiten der prallen Natur. Sich selbst sieht er als Auswurf der Natur, und seinen späteren Weg deutet er als eine Folge von zum Teü äußerst harten Läuterungsprozessen. Itten schreibt sich eine Abkunft gewissermaßen direkt aus der Rippe der Natur zu, und die Natur wird i n magischmythischer (bisweüen mystischer) Weise als Schöpfung er207, lebt, als Raum außerhalb der Geschichte. Als ungeschichtlicher (Energien-)Raum zwischen Himmel und Erde. Unten die Niederung, die triebhafte Zone; oben, ehrfürchtig staunend erahnt, eine diaphane Zone - des Himmels, des Gestirns, des Kosmos. Diese geschichtslose und damit unpolitische, natürlich auch ohne nationale Apostrophierung auskommende Vorstellung einer Heimat begleitet Itten durchs ganze Leben. Sie hat ihm auch seine Lebensthematik geliefert: die große Schöpfungsthematik, verstanden als Geheimnis von Naturkräften einerseits und deren Korrespondenz in kosmischen Ereignisräumen; verstanden als Kräftespiel und Dualismus zwischen Materie und Geist, als Mysterium gegenseitiger Erneuerung kn Medium entsprechender »Wanderschaften« (vielleicht auch Seelenwanderungen). In diesem Sinne ist Itten die Heimat, sind ihm unsere Berge mit üirem naturgewaltigen Aspekt zum Segen geworden. Der ganze Itten läßt sich von da erklären und herleiten, vor aüem aber auch der Umstand, daß ihm die Heimat nie zum Problem wurde, daß er sie auch nicht abzustreifen brauchte. U n d noch etwas erklärt sich von da her: die spezifische A r t seiner Einsamkeit oder soU man sagen: »Weltfremdheit«? Im Falle Itten fäUt auf, daß ihm die Welt, die er draußen i m Ausland und beispielsweise im kriegsdurchrüttelten Ausland (Stuttgart/Wien) vorfand, merkwürdig wenig anhaben konnte. E r blieb in seinem eigenen »Weltraum« eingeschlossen, gefeit und unbedürftig, aber auch »wissend« - wie ein Prophet. E r bheb be-heimatet. Der junge Itten, der sich zu Fuß nach Stuttgart aufmachte, erlebte unterwegs die Felder wie einen »Choral«. Es ist anzumerken, daß schon der Seminarist Itten ein begeisterter Klavier- und Orgelspieler war. Sein bevorzugter Komponist war Bach. Das Motiv der »Felder« (in den musikanalogen Formen von Fuge und Kontrapunkt zum Beispiel) hat ja in seiner Malerei, vor allem kn Alterswerk, breiten Raum gefunden: es vmrde zur Tastatur f ü r farbenmusikalische Meditationen über die Geheknnisse der Natur im Spiegel der Jahreszeiten, im Spiegel von Werden und Vergehen . . . ZOA. Die Stuttgarter und die nachfolgende Wiener Periode fallen in die Zeit des Ersten Weltkrieges, also in eine Zeit weitverbreiteter Weltuntergangsstimmung. Wenn man die derzeitigen Bilder unter solchem Gesichtspunkt betrachtet, könnte man zu folgender Interpretation gelangen: es sind Büder, die das historisch bedingte Chaos (der Weltzerstörung) in ein zeitloses schöpferisches Chaos umwerten. In diesen Büdern zerbirst der Bildraum in explodierenden Bahnen und Schächten, die wiederum von symbolartigen Zeichen durchwirbelt werden. Es ist Schöpfungsmythos im Zeichen Luzifers. Was Itten an Gegenkräften gegen das Chaos aufbietet, sind eigene Beiträge an das unzerstörbare »Geistige« (in der Kunst); oder an das Kosmische. Übrigens hat Itten immer wieder betont, was es ihn gekostet habe, das Naturgeschöpf in sich oder anders, den »Naturberner« z u überwinden, zu läutern und zu sublimieren, um jener anderen (höheren) »Heimat« des Geistigen oder Kosmischen habhaft zu werden. Schon die frühe Zuwendung zu Mathematik und exakten Naturwissenschaften, später längere Phasen einer mönchischen Lebensweise mitsamt Kasteiungs- und Meditationsübungen, die Anleihen bei der M a z daznan-Bewegung und anderen östhchen Phüosophien - all das ist Ausdruck von Ittens eigenen Läuterungsbestrebungen. A m Bauhaus, wo sich Itten als pädagogische Urgewalt erweist, setzt er Gropius' »Zurück zum Handwerk« das radikalere Programm »Aufbau des Menschen in seiner Ganzheit als schöpferisches Wesen« entgegen. U n d er entwickelt zur Durchführung dieses Programms die unkonventionellsten Methoden, die von Ernährungsvorschriften über Fasten- und Andachtsübungen bis zu Stimmübungen, Schocktherapie, Spiel und Tanz reichen und zunächst nichts anderes bezwekken als eine A r t Abbau von zivilisatorischem »Schutt« zur Freilegung des darunter verschütteten Naturgeschöpfs. Was er praktiziert, kann eine Naturmethode genannt werden. »Der v/ahre Lehrer«, heißt es in einem Aufsatz Ittens über seinen Unterricht, »ist wie ein Gärtner; er bereitet den Boden vor und säet. Das Samenkorn keimt unsichtbar i m dunklen 205 Schoß der Erde; nach der ihm gemäßen Zeit treibt es empor und schheßhch kommt es zum Vorschein . . . Der Iduge Gärtner bemüht sorgfältig seine pfleghche HÜf e. E r weiß, daß seme H ü f e gering ist, die Kraft und Macht der Natur aber riesengroß . . . « . . Das ganze - künsderische und kunsterzieherische - Lebenswerk Ittens läßt sich als imposante Veranschauhchung emer Naturmethode interpretieren, deren Wurzeln wiederum ün Heünaterlebnis des Kindes zu erkennen smd; genauer: in den auf der Rinderalp empfangenen Visionen des Dasems als Schöpfungsmysterium. Ihm sind die Berge zum Segen geworden. 3. K a r l Geiser, oder: V o n der Einsamkeit i n der Enge Karl Geiser ist 1898 k i B e m geboren und 1957 m Zürich gestorben. E r stammt aus einer angesehenen Famüie mit starker »vaterländischer« Verwurzelung: der Vater, Historiker und Rechtsprofessor an der Universität Bern, ist der Dichter des Volksliedes »Im Rösehgarte z'Mailand«. K a r l Geiser hat in Bern das humanistische Gymnasium durchlaufen, aber schon gleich nach der Maturitätsprühmg die künsderische Laufbahn emgeschlagen, was m semem Falle allerdbgs nicht als Abkehr vom bürgerhchen Ekemmiheu z u werten ist, kn Gegenteil: » . . . wenn der Urgroßvater Bauer gewesen ist und der Großvater Wirt und Metzger und der Vater sein Lebtag lang stolz darauf ist, aus emer so alten wohlangesehenen Famihe zu stammen, wurd eben der Sohn auch nicht m k ekiem M a l ein Bohemien und >Kunstier<. Wenn ich einmal etwas Rechtes zustande bringe m der Plastik, so hoffe ich das zur Ehre meiner Hehnat zu mn, und es wäre mir verflucht unangenehm, wenn ich bei den Leuten als ein lächerhcher Eigenbrötler und unnützhcher Artist gehen w ü r d e . . . « , so schreibt der Dreiundzwanzigjährige an den Büdhauer Hermann Hubacher. Er ist denn auch aUes andere als eki unnützer Artist geworden, er war geschätzt, er gak etwas im Lande. E r konnte zoG verschiedene bedeutende öffenthche Aufträge übernehmen. Wir nennen die beiden Dreiergruppen vor dem Berner G y m nasium, den Löwen am Zürcher Walche-Gebäude, einen überlebensgroßen David f ü r Solothurn, em Denkmal für die Opfer der Bombardierung der Stadt Schaffhausen, das Denkmal der Arbeit am Zürcher Helvetiaplatz. Die Berner Dreiergruppen, ein wahrhaft monumentales plastisches Werk, wurden an der Wekausstellung in Paris vor dem schweizerischen Pavillon ausgestellt, allerdings hat Geiser an dieser Arbeit zwölf Jahre »verloren« und sich dabei fast bankrott geschuftet,- mit dem David hat er bis zu seinem Tode gekämpft, das Denkmal f ü r die Bombenopfer Schaffliausens blieb unvollendet, desgleichen das Denkmal f ü r die Arbeit; es wurde erst nach Sehlem Tode nach einem kleinmaßstäblichen (AteHer-) ModeU ausgefülirt. F ü r Geiser haben sich die übernommenen öffenthchen Aufträge jedenfaUs nicht als Segen ausgewirkt. E r ist ja das Gegenteü des Typs »Auftragskünsder«, kern opportunistischer Unternehmer, der von Aufträgen profitieren könnte, vielmehr ein ausgesprochen schwieriger, querköpfiger, schwerblütiger Künsder, der es sich nicht leichtmachen kann; einer, der an sich die härtesten Maßstäbe steht und sich mit den öffenthchen Aufträgen »überlebensgroße« Aufgaben auflädt. Anscheinend hat er die schweizerische ÖffentUchkeit als Partner gesucht. E r wünschte - um auf das vorangegangene Zitat zurückzukommen - üi der Plastik »etwas Rechtes zu machen«, und er hoffte es zur Ehre seiner Heimat tun zu können. Doch hat sich der beabsichtigte Tribut an die Heimat mit den künstlerischen Selbstansprüchen nur schwer vereinbaren lassen - Tatsache ist, daß wir in Geisers Leben mit den Jahren eine zunehmende tragische Verschattung feststeUen Über sein Ende schreibt der Geiser-Freund und -Spezialist Hans Naef in eüier Robert Walser und Karl Geiser gewidmeten Ausgabe der Zeitschrift »DU«: »In einer Einsamkeit, wo weder Bewunderung noch Freundschaft noch auch die Liebe selbst ihn erreichen konnten, ist er aus dem Leben geschieden. Niemand weiß, was seine letzte Stunde war . . . « Karl Geiser wurde am y. Aprü 1957 tot üi seinem Atelier 207 aufgefunden. Die Zeitungen sprachen von Selbstmord, was aUerdings nicht zu beweisen ist. Über diese Einsamkeit ist zu sprechen, wenn wir nach den Gründen für Tragik und Mü5Hngen im Leben Geisers fragen. Es ist die Isolierung des um Welt, das heißt um zeitgenössische Weh ringenden Künsders m der Schv/eiz, f ü r den sich sowohl der Kulturschauplatz wie das Lebenstheater der Heimat als zu eng erweisen, um wahrhaft tragen zu können. Geiser hatte Aufträge, aber keüie echte HÜfe. Es ist bei Geiser dasselbe wie bei ZoUinger. Beide hatten künsderisch Kühnes vor, und beide rieben sich in emem zermürbenden AUeingang auf. Nicht zu vergessen: beide waren die längste Zeit üires Lebens auf die Schweiz angewiesen. Geiser ist mit Ausnahme eines frühen Abstechers nach BerHn und emes knapp einjährigen Aufenthakes in Paris praktisch knmer ki Zürich gebheben. E r hat zweimal die durch Weltlmege bedüigten geschlossenen Grenzen erlebt, die uns von der Wek abriegeken. In seinen letzten Jahren fäUt ekie zunehmende Disponibüität f ü r Auslandbesuche auf. E r reiste mehrmals kurz nach Venedig, teÜs um die Biennale zu sehen, teüs um auf italienisehen Plätzen die VoUssszene zu erleben, die er denn auch in photographischen und zeichnerischen Aufnahmen als »Unterlagen« nach Hause brachte. E r suchte die Auseinandersetlung mit dem Zeitgeist, er suchte entsprechende Pulsfühlung, aber er suchte auch Anschauungsmaterial für seine plastische Arbek. Offenbar reichte dazu die heimatUche Szene nicht aus. Für das Arbeiterdenkmal stehen nachweisHch nicht schweizerische Passanten und Gruppen Pate, sondern kahenische. U n d dort, wo er auf heknatUche Anschauungsbüder bezogen bheb, erwies sich die Fortführung der Arbek als problematisch. Das beste Beispiel f ü r diese Behauptung finden w k im Solothurner »David«, f ü r welchen er nach Vorbüdern unter den Älpler-Ringerfiguren bei Volksfesten Umschau hiek. Der David ist aus solchen »Erlebnissen« entwickek und nie voUendet worden. OffensichtUch hat dazu der einheknische »Stoff« nicht ausgereicht. Doch läßt sich Geisers Einsamkek nicht nur auf diese 208 •wohlbekannten Aspekte der Enge zurückführen, es sind nicht nur die aus der einheimischen Weltarmut hervorgehenden Stoffschwierigkeiten. Ihm fehlte Partnerschaft, ihm fehlte die diesbezügliche Hüfe, die nur der Nährboden eines echten Zentrums zu schenken vermag. In dieser Hinsicht erhtt er wohl die schÜmmste Einsamkeit. E r hat sich in seinem Alleingang aufgerieben. Ramuz hat diesen Aspekt unserer Enge in seiner Arbeit über Auberjonois beschrieben: »Une fois qu'on n'est plus ä Paris, ces memes droles de metiers (gemeint sind Malerei und Dichtung) deviennent suspects et on se sent solitaire, tandis qu'on ne Test pas ä Paris. O n y est soutenu constamment par l'attention, l'interet, les applaudissements (meme quand üs ne s'adressent pas ä vous) de ce qui n'est je veux bien, qu'une toute petite minorite, mais qui, compte tenu des dimensions du milieü fait masse quandmeme; alors ensuite (je veux dire chez nous) cette meme minorite n'est plus qu'une poussiere d'individus, isoles, impuissants et qui ne peuvent plus vous etre d'aucun secours.« F ü r Geisers Mißlingen oder Scheitern - und wir empfinden ihn als einen Gescheiterten, wenn auch um Haaresbreite und auf höchster Ebene - müssen die Gründe unter anderen in solchem Sachverhalt angenommen werden. Es heißt von üim immer, er sei der H ö h e p u n k t jener klassisch orientierten figürlichen Plastik-Tradition unseres Landes, als deren Vorbote Stauffer-Bern und als deren Begründer Burckhardt gelten. M a n mißt dabei seine Bedeutung an klassischen Marksteinen der Vergangenheit und »erledigt« ihn solchermaßen StiUschweigend als Rückwärtsgewandten. Dabei übersieht und neutralisiert man die überaus zukunftsträchtigen Ansätze, die vor aUem in seinem Spätwerk zum Ausdruck kommen. M a n kann Geiser nämhch auch ganz anders sehen: als einen Künstler, der seiner Zeit voraus war - als Antipoden eines Alberto Giacometti, genau genommen. Seine Einsamkeit würde sich als die Isolierung eines Mannes zu erkennen geben, der mit seinem Problembewußtsein von völhg neuartiger Tragweite allein stand, zudem in der Enge allein stand, 209 ohne H ü f e . Eüi verkannter Künstier, bei aUer Nachfrage, bei aUer Beanspruchung durch Aufträge. Karl Geiser: ein verkannter anerkannter Künstler. Schon mit seinen frühen Jünghngsfiguren distanziert er sich vom klassizistischen Typus und entsprechender Verkennung. In einer (in der erwähnten »Du«-Nummer) publizierten N o t i z aus dem Nachlaß heißt es: »Ich habe mich bemüht, weder in abstrakte Spekulation noch in plumpe ReaUstik zu verfallen. Die dargestellten jungen Menschen sind weder muskelprotzende Athleten noch blutieere InteUektueUe . . . es ist weder em Monument heldischer Männhchkeft noch eüie weichhche L y r i k . . . So wie die Figuren heute dastehen, repräsentieren sie ein humanistisches Menschheitsideal, das heute aktueUer ist als je.« Diese Selbstaussage umschreibt eüie Positionsmeldung, und zwar durch Absicherung nach zweierlei Richtung. Geiser setzt sich als ReaUst von »abstrakter Spekulation« ab, aber, sein Reahsmus möchte sich freihalten von Esoterik einerseits, von Affirmation oder gar Heroisierung eüies ungültig gewordenen »heüen« Menschenbüdes andererseits. Geisers Absage güt somit beiden Alternativen, durch welche die Kunstsituation der Zwischenkriegszeit und der Nachkriegszeit charakterisiert würd; er sucht zwischen der SkyUa des längst überlebten platten Näturahsmus und der Charybdis eüier von ihm gehaßten Abstraktion nach emem dritten Weg. Hierzu zwei weitere Selbstaussagen. Die eine erschien am 15.11. 1947 im »Genossenschafthchen Volksblatt«, die andere stammt aus einem unveröffentUchten Aufsatz zum Denkmal der Arbeftvom Mai 1956 (Zitat aus der angegebenen »DU«-Nummer): »Wenn ich mich schon emer >Richtung< verpflichten sollte, so wäre sie irgendwie in der Nähe des >sozialen Humanismus< zu finden.« U n d , modifizierter: »Was ich heute wül, wollte ich eigenthch schon vor dreißig Jahren, nur glaubte ich damals, so etwas sei nur in Sowjetrußland möghch. Doch wie es sich heraussteUte, war es auch dort schwierig. Die künstlerische Produktion der Sowjetunion hat sehr unter forciertem Tempo und ideologischer Schulmeistere! gelitten, aber das macht den Negativismus, Miserabüismus und Zynismus der wesrKclien Produktion nicht besser. N u n , die Parteien wechseln ihre Namen, die Parteilinien ihre Richtung, die Kunsttheorien und -ism.en gehen vorüber. Was bleibt, ist der Mensch, der trotz aher technischen Fortschritte und pohtischer Anstrengungen sich wenig ändert, sehr langsam und mit schaurigen Rückschlägen sich vorwärtsentwikkek und der (trotz allem!) unser erstes Interesse verdient. Aber es gibt nicht nur Clowns, Kranke, Über- und Untermenschen, es gibt auch den ganz gewöhnhchen, normalen, im Schweiße seines Angesichts und mit seiner Hände Arbeit sein Brot verdienenden Menschen, im Westen wie im Osten. Dieser ist weder der fehlerlose Held, wie ihn der Osten zu züchten versucht, noch jene Jammerkreatur, wie er im Westen oft dargestellt w k d , er hat seine Fehler und Schwächen, Momente übermenschhcher Opferbereitschaft und Momente schauriger Vertiertheit, doch ist er derjenige, um dessen Rechte heute auf der ganzen Erde gekämpft wird und von dessen Erhebung zur Menschenwürde die Zukunft der Welt abhängt. Ihn darzustellen, darin sehe ich die höchste und edelste Aufgabe der Kunst.« Diese Argumentation (und deren Bewnßtseinslage und Engagement) mutet nun aber überaus heutig an, sie könnte von einem neuen ReaHsten dieser Tage stammen. Geiser lehnte die abstrakte Kunst radikal ab, er verabscheute darki die Weltflucht in Richtung Inneriichkek und Abgründigkeit - das Sich-verkriechen in einen Superindividualismus. E r lehnte aber auch das (surreahstisch-lüsterne) Wühlen im Monstrum Mensch mit den entsprechend insektoiden Visionen des niedrigen menschlichen Wesens ab. Seine Ablehnung rührte nicht daher, daß er den betreffenden Pessimismus nicht selber empfand, im Gegenteil: gerade weil er unter der Unmenschhchkeit des Menschen litt, versagte er sich Fatahsmus und Nihilismus, doch nicht um an einem antiquierten Idealbild festzuhaken, sondern kn Sinne einer Großen Hoffnung:. »Der Mensch kann gedeihHch keiner gedeihlichen Größe dienen als durch'diejenige seiner eigenen Menschlichkeit«, lautet eine Aussage Geisers. E r hielt also am Menschen fest, doch ohne Heroisierungsabsichten. E r suchte mit dem Menschen von heute als einem historischen Produkt Verbindung aufzunehmen, mk dem Massenmenschen der Konsumgesellschaft, mit dem Arbeiter, Radfahrer, auch (folkloristischen) Ringer - kurz: mit dem banalen Menschen. Oder auch: mit dem unbekannten Menschen im aUtäghchen Menschen. M i t dieser Position stellt sich Geiser genau hi jenes hochaktueUe Feld heutiger Kunsttendenzen, das auf der einen Seke mit den Inspirationen oder Irritierungen durch den sozialen Reahsmus (des Ostblocks), auf der anderen Seke mk den Vorstößen der Pop-Reahsten und ihrer Nachfolger umrissen werden kann. Wenn man sich Arbeken aus Geisers letzter Zeit ansieht, also etwa Entwürfe f ü r das Arbeiterdenkmal, aber auch Variationen zum Thema Radfahrer, dann fühlt man sich unversehens in die Nähe eines Segal versetzt. Es sind Formuherungen von anonymen Straßenbekanntschaften gewissermaßen, mit nur ganz rudimentären individuellen Signalen (wenn überhaupt). Es sind Formuherungen des Schwemmgutes Mensch, aufgenommen innerhalb emes Raumerlebnisses, das man als Strom des Lebens oder als das Räderwerk bezeichnen möchte. Es sind Formuherungen nicht des Lebensdominators (und -Mittelpunkts) Mensch, sondem des manipuherten Menschen. Die bewußte Unartikulierthek dieser Figuren, ihre Verschwommenheit, Anonymität und Banahtät -wird hier nicht als Lust an der Gleichschaltung des Menschen, sondern als Memento an die Geschöpfhchkeit, nicht kak sondern mitfühlend, vorgetragen. Die Verwandtschaft mit einem Segal besteht in der Geisterhaftigkek der Erschekiung, in einer Perspektivik, die den einzelnen Menschen inmitten des Lebensstroms in einer Weise fixiert, als wäre er im Begriff, von den Toten aufzuerstehen. In dieser A r t von Schock kommt das humane Moment zum Ausdmck. Wenn Alberto Giacometti den Menschen dargestellt hat als das sich seiner selbst erwehrende Klümpchen Mensch im Sog der Zek, dann hat Geiser den Menschen aus einer ähnhchen Eriebnislage als Erscheinung fixiert, die quasi am Horizont einer unendlich weken Allee auftaucht, aber kn Kommen ist: weil der Mensch im Kommen seki mriß. Weil diese Hoffnung lebensnotwendig ist. -> T 7 Den Künstler Karl Geiser hat diese Hoffnung zuletzt nicht mehr zu tragen vermocht. E r stand mit seiner vorwegnehmenden künstlerischen Position aUzu allein da, allein in der Enge, die nicht zu ernähren vermochte, allein in einer weltweiten künstlerischen Situation, die die Abstraktion feierte, zudem aufgebraucht durch öffenthche Aufträge, deren Anerkennung keine H^dfe bedeutete. E r ist an der Einsamkeit gescheitert. 4. Louis Soutter: D i e Freiheit i n der Vogelfreiheit, oder: D e r Künstler als Paria Louis Soutter wurde von der schweizerischen Öffenthchkeit 1961 entdeckt, knapp zwanzig Jahre nach seinem Tode. M i t ihm wurde nicht eine historische Nebenfigur, ein »Füllsel« für das A l b u m der schweizerischen Kunst entdeckt, sondern ein Mann, dessen Werk »das Kräftefeld der Schweizer Malerei verändert«, wie A . M . Vogt damals in der Neuen ZürcherZeitung schrieb: eine zeitgenössische Kraft ersten Ranges. »Louis Soutter, der einundsiebzigjährig mitten im Krieg, 1942, starb«, fährt Vogt in seinem Artikel fort, »ist einerseits die kühnste uns bekannte Vorwegnahme von Tachismus und A r t informel, andererseits ist er deren schärfste Kritik. Die große feierhche Vernissage, an der Staatsrat Oguey, M u seumsdirektor Manganel, Prof. Rene Berger und der RamuzVerleger und Sammler H . L . M e r m o d das Wort ergriffen, machte deutlich, daß die welsche Schweiz sich anschickt, Soutter den gebührenden Platz zuzuweisen. Wo ist dieser Platz? E r kann nirgends anders sein als in der Nähe jenes Triumvirates großer Künstler, das dem kleinen Gebiet in diesem Halbjahrhundert geschenkt wurde: in der Nähe des Malers Rene Auberjonois, des Dichters Charles-Ferdinand Ramuz, des Architekten Le Gorbusier . . . « Man sieht, es war nicht irgendeine Entdeckung, nicht irgendein Zuwachs, es war die Hebung eines Schatzes von nationalem Rang, und diese Hebung wurde gewissermaßen als Staatsakt gefeiert. Wie war es möglich, daß ein Werk von so hoher (postumer) Einschätzung so völHg im. Verborgenen gedeihen konnte? 213 Wie war es möghch, daß der Künstler Soutter so vollkommen durch die Maschen der Aufmerksamkeit schlüpfen und sich so ungestört entfalten konnte? So unangefochten auch durch die schweizerische Enge? Es war möghch, weü er es verstanden hatte, sich so gering zu machen, daß er überhaupt keine Aufm.erksamkeit mehr auf sich ziehen konnte. Durch einen phänomenalen Absickerungsprozeß (durch die sozialen Schichten) bis auf ein Niveau »under ground«, das f ü r die Gesellschaft nicht mehr i n Betracht fiel. Allerdings wurde dieses Absteigen nicht unbedingt planmäßig betrieben - es sei denn, man nehme eine unterbewußte Planmäßigkeit a n - , sagen wir also, es habe sich um eüi außergewöhnliches Schicksal gehandelt. Louis Soutter wurde 1871 in Morges als Sohn eüies A p o thekers geboren. Seine Mutter, eine geborene Jeanneret aus La Chaux-de-Fonds, ist eine Verwandte der Famihe Corbusiers, der ja bürgerlich auch Jeanneret hieß. Soutter besucht zuerst die Industrieschule üi Lausanne, begann dann ein Architektur- oder Zeichnerstudium, das er abbrach, um sich der Musik zuzuwenden. E r ließ sich in Brüssel als Violonist ausbüden, als Berufsmusiker, um hernach das abgebrochene Studium i m Zeichnen doch wieder aufzunehmen und zwar in Lausanne, Genf und schließhch in Paris bei Benjamin Constant. Es folgt die Heirat mit einer amerikanischen Musikerin, hierauf die Übersiedlung nach den ÜSA, nach Colorado Springs, w^o Soutter als Lehrer f ü r Musik und Zeichnen amtiert und dies acht Jahre. 1904 wird ervon Typhus befallen, . was ihn verarüaßt, in die Schweiz zurückzukehren. In den Jahren zwischen 1904 und 1923 füidet nun eine Odyssee statt, die zu der Entfaltungskurve bis Colorado Springs in reziprokem Verhältnis nach abwärts verläuft. Soutter scheint nach der Rückkehr üi die Heünat bereits ein gebrochener Mann gewesen zu sein, gebrochen mindestens hinsichthch aller karrieremäßigen Ansprüche. E r amtierte zuerst als Orchestermusiker, dann als K i n o - und Kaffeehausgeiger, dann als Gärtnergehilfe, dann als Bauernhandlanger. 1923 bringt ü m seine Famihe in einem A s y l in Ballaigues Qura) unter, ü n d damit hatte er jene absolute Vogelfreiheit erreicht, die sich als künstlerische Freiheit äußerst fruchtbar auswirken sollte. 214 Hier beginnt nun das manische Zeichnen, mit Bleistift, mit Tusche (Feder, Pinsel), am Schluß mit bloßen Fingern, dessen Ergebnisse zwanzig Jahre nach Soutters Ableben in der eingangs erwähnten staatsaktmäßigen Entdeckungsfeier honoriert werden sollten. Soutters künstlerisches Schaffen setzt mit zweiundfünfzig Jahren in der Abgeschiedenheit der Anstalt ein und dauert 19 Jahre. Es hat den f ü r die Schweizer Kunst bezeichnenden intimen (Kleinformat-)Charakter: Tagebuchcharakter. Soutter zeichnet eigendich Stundenbücher. Diese Aufzeichnungen werden kleinkarierten Schülerheften anvertraut, die ein Verwandter anbringt. Vom Zeichner Soutter wußten zwar einzelne Künstler, Le Gorbusier, Auberjonois und Vallotton, aber nicht die Öffentlichkeit So war er m Ruhe gelassen, außerhalb von Kunstbetrieb und Wettbewerb, außerhalb von Markt und Auftrag, aber ein Minimum an Zustimmung hatte er. 1936 hat Le Gorbusier in Skiras »Minotaure« über ihn geschrieben (1948 Auberjonois i m »Werk«). Wie f ü r Robert Walser war f ü r Soutter die Endstation des »Schweizer Hauses« die A n stalt. N u r daß der erstere dort sein Verstummtsein nicht mehr aufgegeben hat, während Soutter hier offenbar die günstigen Arbeitsbedingungen vorfand. Sein Werk ist weder als Dilettantenarbeit i m Sinne des naiven Künsders noch i m Sinne des kranken Anstaltsinsassen nüßzuverkennen. Es ist wohl nlanisch, im übrigen durchaus professionell. N u r daß es eine Freiheit des Ausdrucks erlangen soUte, die hierzulande bei einem integrierten Künstler wohl schwerhch anzutreffen wäre. Louis Soutter ist mitten im Krieg gestorben, man könnte annehmen: verschont vom Grauen jener Periode, da er ja wahrhaft abseits stand. Es ist nun aber überraschend festzustellen, daß, wenn irgendwo in der Kunst jener Jahre (zumal in der Schweiz) etwas vom Geist der Konzentrationslager zum Ausdruck kommt, dann bei Soutter. Sollte sich die Analogie, die zwischen seinem Getto und den Gettos der Kriegsländer und -lager besteht, auch innerlich (geistig) ausgewirkt und bewahrheitet haben? Jedenfalls war dieser vogelfreie Anstaltsinsasse als 215 Stundenbuch-Zeichner nicht nur ein echter Zeitgenosse, sondern geradezu eine Antenne von erschreckender Sensibilität. Der Raum, den Soutter im Zeichnen evoziert und bezieht, ist ein nistender, flackriger, geisternder Innenraum; ein gefährhcher Zufluchtsraum - und der Zeichner ist mittendrin in diesem Raum, wahrhaft gefangen. Soutter zeichnet sich weniger hinaus als hinehi. Ihn interessiert die Wahrheit der Verflechtung, nicht die Bewältigung dieser Wahrheit mit einem Aufgebot an Ordnungsmittehi. Die figürhchen Zyklen zeigen den Menschen in einen Schattengrund gebunden. Der Grund ist nicht weiter definiert, ist aber wie Mauerschatten zu empfhiden, wie andererseits die eng bezeichneten Blätter wie winzige Ausschnitte aus einem über und über bebilderten hnaginären Tempel wirken. Das Schhngmotiv (das unter anderem i m Muster des Zykhschen reflektiert) gehört z u den Merkmalen von Soutters zeichnerischer Welt. Es ist offensichthch: das Dämmrige, Schattige, ja Geisterhafte ist Intonierung einer seehschen Realität. Die Seele spiek übrigens ki den Tkeln ekie wichtige Rolle. Beispiel: »L'äme qui s'en va du seuil des fleurs au cycle des pierres noires.« Aus diesen Seelenräumen steigen zuaUerletzt die schattenspielartigen Figuren auf, die Soutter mit dem tuschebefeuchteten Finger groß auf die Blätter schwärzt und tupft - ein Reigen, der nirgends enden kann. Das Schhngmotiv geht auch in diesen schlangenastieibigen Gestaken durch, die nichts anderes sind als Dkektprojektionen innerer Regungen an eine knagkiäre Wand. Das Ergebnis ist em Welttheater samt Totentanz, aber jetzt direkt und ohne Umschreibung, ohne Einkleidung auf der Ebene der Triebe, Ängste, Süchte, Sehnsüchte, der Verhängnisse, der Schuld- und Sühnegefühle imaginiert. Es smd entstiegene Archetypen, die sich da endlos ergehen und ergeben, verwandt den geisterabwehrenden Beschwörungen aus der sog. Wildenkunst, verwandt aber auch der Magie des malenden Ritualtänzers Pollock. Für Louis Soutter hat sich die (soziale) Vogelfreihek ki eine hierzulande kaum bekannte künstlerische Freiheit verkehrt. j . D i e Schweiz verscherzt ihre Söhne Dem Kritiker kultureller Zustände wird hierzulande gerne entgegengehalten, immerhin habe die Schweiz auf »kulturellem Gebiet« eine stolze Reihe großer Söhne hervorgebracht. Das stimmt - nur hat sie zu einem guten Teil nicht ihr Land, sondern das Ausland groß gemacht; und nur zu oft hat die Schweiz ihre großen Söhne schändlich verscherzt. Einige hat sie geradezu umgebracht. Zugegeben: jeder echte Künsder steht naturnotwendig im Gegensatz zur Gesellschaft (ihren Konventionen, Kompromissen, Wertmaßstäben, ihrem herrschenden »System«) schließlich gehört die Kritik am EtabHerten definitorisch zum künsderischen Daseinsentwurf; der Wille zur Neuschöpfung schließt die Veränderung und damit folgerichtig das Nichteiniggehen mit den gegebenen Zuständen ein. Aber das bedeutet Tucht zwingend, daß umgekehrt jeder echte Künstler gesellschaftsunfähig sei und mehr: in geradezu lächerHchem Ausmaß ohne Prestige auskommen, mißachtet bis verachtet, ja verfolgt werden müßte. Von der Schweiz indessen läßt sich dies behaupten; sie vermag ihre großen Söhne nicht nur nicht zu tragen, sie ist ihnen geradezu feindhch gesinnt. Die Schweizer Kunstgeschichte ist eine tragische Geschichte. Sogar Jeremias Gotthelf »starb als einer der meistgehaßten Männer seines Landes«, schreibt Walter Muschg. Seine Bücher erschienen gezwungenermaßen in Deutschland, mit einem Glossar für Dialekterklärung. U n d Gottfried Keller, der immer als Paradebeispiel herhalten m u ß für den Künstler in ungetrübter Ausübung seiner Staatsbürgerpfhchten, für den versöhnten, den bürgerHch befriedeten Künstler? Stauffers Kellerbildnis zeigt ein traurig-resignatives Dichterantlitz. Es ist das Gesicht des in Staatsschreiberdiensten versauernden Dichters, der zeit seiner Amtsausübung stagnierte und in Unproduktivität verkam. Erst nach Quittierung des Staatsdienstes kam ein neuerlicher Aufschwung. Die öffentliche Beanspruchung war das Gegenteil von Förderung, war Überforderung, Mißbrauch. U m bei den Dichtern zu bleiben: nehmen wir unseren größten deutschsprachigen 217 seit Keller, den einzigartigen Robert Walser. Seine beflügelte, wold glückhchste Zeit verbrachte er in Berlin. Nach seiner Rückkehr in die Schweiz 1913 setzt bei Walser ein ähnhcher »Abstieg« ein wie bei Louis Soutter. Ehie geseUschafthche Pveintegration schien unmöghch. Walser ging buchstäblich an Echolosigkeit und entsprechender Ernüchterung zugrunde. Von 1929 bis zu seinem Todesjahr 1956 war er (armengenössiger) Anstaltsinsasse seines Heiniatkantons AppenzeU. U n ter den letzten dichterischen Äußerungen (vor semer Internierung) finden sich die Verse »Sieht für mich nun alles/wie entzaubert aus?-Doch müssen nicht die andern/auch durch das lange Leben wandern?/Was fiel mir schönheitstrunkner Seele ein?« Von A l b i n ZoUinger sagt Frisch: »Albin ZoUinger hatte kein anderes Flinterland als das Land, wo er lebte, und dieses erwies sich als zu klein, um ein produktiver Raum zu sein in sich selbst, zu lange schon geschichtslos, um ein whrkUches AbbUd der Welt zu liefern . . . E r hat sich kleiner gemacht, um eine Umwelt zu haben, die Umwelt, die damals zur Verfügung stand . . . Je kleiner der Raum ist, in den man spricht, je abgeschlossener, um so dringender vieUeicht wiU der SchriftsteUer schon vom nächsten Nachbarn verstanden werden, zumindest gehört; er wird seiner Umgebung ähnhch gegen seinen WiUen; er wird lokal, nicht weU er Lokales darstellt, sondem weil er es mit der Zeit nicht mehr von außen sieht. Er geht eüi. So sehe ich das Werk von A l b i n ZoUinger als das Vemiächtnis eines O p f e r s . . . « Nicht anders als zu den »Propheten im eigenen Land« steht die Schweiz zu den im Ausland zu Weltmhm gekommenen Söhnen. Ramuz, längst von der französischen Literatur ehrenvoU adoptiert, starb in der Schweiz, weü anscheüiend das Geld f ü r eüie lebenswichtige Operation nicht schneU genug aufzubringen war. Auch er starb unbeachtet, d. h. geradezu an Nichtbeachtung. Le Gorbusier, ausgewandert aus L a Chaux-de-Fonds und über Frankreich zum Inbegriff des modernen Urbanismus geworden,' ein Pionier von Weltrang - Le Gorbusier hat es in seiner Heimat zu keiner Mitwirkung gebracht, wiewohl er aUein schon für Zürich mehrere konkrete Einzelprojekte 218 ausgearbeitet und bis in die Details bereinigt hat. »Während der beinah fünfzig Jahre seines Schaffens in Paris kamen nur zwei Bauten Le Corbusiers auf Schweizer Boden zur Ausführung: ein . . . Häuschen f ü r seine Mutter am Genfersee und ein Mietblock in Genf. Jeder Bauzeichner hatte m der Schweiz mehr Chancen, zum Zuge zu kommen, als der Architekt, der das Bauen unserer Zeit auf neue Grundlagen gestellt hat . . . « (S. von Moos im »Zürcher Almanach«, 1968). So wie die Schweiz auf Corbusiers Mit-wirkung zu verzichten wußte, so hielt sie es auch f ü r unangebracht, den in der N ä h e Berns geborenen, in Bern aufgewachsenen und zur Schule gegangenen Paul Klee einzubürgern, als er, ein Flüchthng aus Hitlerdeutschland, der hier Zuflucht suchte, sich um den Schweizer Paß bewarb. E r starb denn als Ausländer, wird jedoch heute aufs selbstverständhchste als großer Schweizer reklamiert. H a t die Schweiz, die sich so viel auf ihre Asylgeberrolle einbildet, wenigstens den illustren Fremden, den verfolgten Künstlern ü n d Dichtern, anders gegenübergestanden, sagen wir: aus humanitären Gründen? Die Emigranten waren, während des Zweiten Weltkriegs zumindest, schutzlos der Willkür bornierter Bürokraten ausgeliefert, hat es den Anschein. Wer weder Geld noch private • Gönner i m Lande hatte, blieb Passant. Brecht zog es vor, nach Schweden weiterzuflüchten, Döblhi wnrde unter lächerHchem Spionageverdacht von der Fremdenpolizei behelligt und außer Landes komphmentiert. »Die schweizerische Fremdenpolizei«, schreibt Ignazio Silone (in einem Aufsatz über »Begegnungen mit Musil«, Wien 1965) ist eine perfekte Organisation: Belästigungen, Sekkaturen, Ä r ger und Schikanen, die zum Wesen jeder Polizei gehören, sind bei ihr zur Vollkommenheit gesteigert...« Silone stellt fest, sie wende ihre Bestimmungen unterschiedslos mit der gleichen Pedanterie an, ob sie es nun mit einem berühmten Künstler, einem Geschäftsmann oder einem Arbeiter zu tun habe, ausschlaggebend seien einzig die finanziellen Verhältnisse. Süones Kommentar: »Die Schweiz ist ohne jeden Zweifel eine Demokratie, aber eben eine mit kapitahstischen Einschränkungen.« U m MusH, der unbeachtet erst in Zürich, dami in Genf lebte, sorgten sich Freunde. Auch Joyce konnte auf die Hilfe befreundeter Gönner zählen. Die Dienste des Asyhandes zählen offensichdich nicht unbedingt zu den rühmenswerten Punkten der Schweiz. Die diesbezüghche Funktion, auf ehien barschen Nenner gebracht, müßte anders lauten: Die Schweiz verkauft Grabgelände. Hier blüht das Kulturgrabgeschäft. Die Schweiz - Kulturfriedhof Europas? » . . . unser helvetischer Boden hat aufgeprägt bekommen die Merkmale einer NekropoHs: in ihm Hegen die Gräber von Rilke, George, Thomas Mann, Joyce, Klages, Musil, Georg Kaiser, Derleth, Mombert, W i e c h e r t . . . « (Max Rychner in »Bedachte und bezeugte Welt«, 1962). Die zitierten B eispiele (sie wären behebig zu vermehren) lass en auf ein in der Tat äußerst merkwürdiges Verhältnis zwischen schweizerischer Gesellschaft und - sagen wir ruhig - dem geistigen Mitmenschen und Mitbürger schheßen. Whrd in unserer Demokratie Hervorragen untergründig mitundemokratischem Verhalten gleichgesetzt und deshalb geahndet? Bevor wir uns dieser Frage zuwenden, sei, als facit der Bestandesaufnahme gewissermaßen, noch Jakob Schaffner zitiert: »Das Verhältnis des schweizerischen geistigen Menschen zum Bund und seiner Öffenthchkeit ist ein schmerzhaftes Problem. Nirgends wie in kleinen Demokratien hat man eine so amusische, kunst- und geistfeindhche politische Öffenthchkeit. Ich sage ausdrückhch »feindHche« und nicht »gleichgültige«, was dem Zustand das meiste schuldig bhebe. In ruhigen Zeidäufen weiß man diese Geshinung, geübt m aUen Opportunitäten, würdig zu b e m ä n t e b . In kritischen M o menten bricht aber eine erschreckende Gehässigkeit gegenüber dem InteUektueUen, um das Wort ebmal zu gebrauchen, hervor, daß man das Gefühl bekommt, als ständen sich da zwei femdhche Rassen gegenüber. Der schweizerische geistige Mensch ist dazu verurteUt, abseits und im aktiven FaU unter der Feindschaft der offizieUen Schweiz zu schaffen! Das einzige scheinbare Gegenbeispiel, das man mit Gottfried 219 220 Keller immer gern anführt, ist nur eine weitere Erhärumg. Man hat Gottfried KeUer zu einem niederen Dienst mißbraucht und darin verbraucht. Die gerühmte Bestallung war ein lebendiges Begräbnis . . . E r ist ein Opfer jenes ungeschriebenen Grundsatzes, wenn möghch keinen Geistigen, keinen »Dämonischen« hochkommen zu lassen. Die offizielle Schweiz hat vor nichts so Angst und verabscheut nichts so wie einen lebenden »Dämonischen«. Verdauen kann sie ihn nur in totem Zustand . . . « Kurt Marti, der engagierte Pfarrer, SchriftsteUer und Dichter, hat diesen Sachverhalt (in seinem Buch »Die Schweiz und ihre Schriftsteller - die Schriftsteller und ihre Schweiz«, 1966) mit besonderen Aspekten unseres Bürgertums z u erklären versucht. E r meint, die betreffende Animosität gehe zurück »auf eine Geisteshaltung, die vieUeicht am besten bestimmbar ist als diejenige eines intakt gebUebenen Bürgertums, das sich jedoch aus der revolutionären Kraft, die es in der Schweiz des 19. Jahrhunderts war, in eine konservative Macht verwandelt hat, die ihre Aufgaben im 20. Jahrhundert weniger im Neugestalten als i m Erhalten des Überlieferten erbhckt. Die Intaktheit dieses Bürgertums manifestierte sich bis jetzt in seiner Assimilationskraft, mit der es revolutionäre Strömungen (Soziahsmus, aber auch die faschistischen »Fronten« der dreißiger Jahre) aufzufangen und zu »verbürgerUchen« vermochte. Der Konservatismus dieses Bürgertums äußert sich in seinem instinktiven Mißtrauen jeder neuen Idee gegenüber, die eine Veränderung bisheriger Zustände anstrebt... Der poUtische und soziale Erfolg des schweizerischen Bürgertums, das seit Jahrhunderten die öffentlichen Institutionen geprägt und schheßhch auch die Arbeiterschaft (bis auf wenige Reste) integriert hat, ist ja tatsächlich erstaunlich und verschafft dem »establishment« den Kredit historischer Bewährung. Die Position des schweizerischen SchriftsteUers, der dieses »establishment« als Stagnation, als geistige Enge, als latente ü n f r e i h e i t empfindet, ist deshalb viel schwächer als z . B . diejenige seiner deutschen Kollegen, die ein anderes, in der Vergangenheit nie so. erfolgreiches und deshalb auch nicht intakt gebliebenes Bürgertum Imtisieren. Die Verachmng des 221 SchriftsteUers, der das »estabhshment« nicht repräsentiert, sondern sich kritisch zu ihm verhält, trifft sich mit einer Geringschätzung schriftsteUerischer Arbeit, die historisch auf die Tatsache zurückgehen mag, daß die Dichter, hn Unterschied zu den büdenden Künsdem, nie zu einer Zunft gehörten und ihre Arbeit deshalb nie als ehrUche Arbeit im bürgerlichen Sinne g a l t . . . « Martis Argumentation steckt f ü r unsere Fragestellung den phänomenologischen Rahmen ab. U m den Ursachen dieses spezifisch bürgerhchen Wertempfindens näherzukonmien, müssen wü: uns um die Erfassung der gesellschz-kspsychologischen Hintergründe bemühen. Es ist nicht zu vergessen, daß sich die legendären Werte der alten Eidgenossen, nennen wir sie Unabhängigkeitsdrang und Mannesmut, ün Kampf gegen Aristokratie ausgebüdet haben, und Aristokratie bedeutete damals vomehmhch auch feüie Lebensart und vor aUem Büdungsprivüegien. Es wäre denkbar, daß sich von dieser Kampfposition her etwas wie Kulturanünosität erhalten hätte; daß das Geistige (in seiner kritisch-schöpferischen, nicht der verklärenden Auslegung) in unserem Selbstverständnis die negative Quahtät des Hochtrabenden, Anmaßenden angenommen hätte. Die Annahme, der »alte Schweizer im Schweizer« wehre kulmreUen A n spruch in diesem Sinne als etwas »Art- und Volksfremdes« ab, ist jedenfaUs nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen. Es wnrde an anderer SteUe bereits darauf hingewiesen, daß wir mentaUtätsmäßig - und vor aUem in unseren heimatlichen Emotionen - auch heute noch stärker auf die Kategorie der »Landschaft« bezogen sind als auf diejenige der »Stadt«. (Die »Stadt« als kultureUe Situation. wird hierzulande ja weitgehend verdrängt.) Dieser Sachverhalt würde unsere A n nahme stützen. Gestützt w h d das für uns typische instinktive Mißtrauen gegenüber dem geistigen Menschen aber noch durch einen anderen Umstand: durch eine spezifisch schweizerische Interpretation des demokratischen Prinzips. Im landläufigen Verstand heißt Schweizer sein soviel wie Demokrat sein: der Name Eidgenossenschaft bedeutet uns sozusagen ein Synonym für Demokratie. Aber die Demokra- tie, auf die wir uns bezielien, ist nun wiederum stark emotional gefärbt. Es ist die mit heldenhaften Erinnerungen aufgeladene Vorstellung einer Landsgemeinde- und Rüthschwurartigen - genossenschaftlichen - direkten Demokratie, getragen von freien Bauern, die zu einer Selbsthdfevereinigung zusammentreten. Auch an dieser Wurzel unserer Selbsttypisierung finden wir uns auf das Bild des unzimperhch-schhchten, aufrecht-tapferen, doch unverbildeten und ganz gewiß unintellektuellen Menschen festgelegt. U n d von diesem Inbild aus mag sich untergründig eine Verschmelzung des Prinzips Gleichheit mit Schhchtheit und darüber hinaus mit Durchschnitthchkeit vollzogen haben. Nicht umsonst paßt sich hierzulande der wohlhabende, der Mann aus sogenannt , gehobenen Schichten, in seinem Gehaben instinktiv diesem Maßstab an, indem er »tief stapelt« und sein Bessergestelltsein mit Vorhebe versteckt. Die Angst ist, er könnte »aus der A r t schlagen«. Nichts wird bei uns so sehr gefürchtet wie die »öffentliche Meinung.«, und die öffentliche Meinung wiederum sorgt dafür, daß w i r uns im Regulativ des durchschnitthchen Umrisses halten. Die Eidgenossenschaft güt uns und andern rundweg als die Wiege der Demokratie. W i r nehmen für uns in Anspruch, Pioniere von Freiheit, Gleichheit, sozialer Gerechtigkeit und sozialem Fortschritt zu sein. U n d im 19. Jahrhundert waren wir in all diesen Belangen ja auch eine revolutionäre Kraft. Davon zehren wir heute noch, nur haben wir in der Z w i schenzeit unsere fortschrittliche Position eingebüßt. W i r sind, müde ausgedrückt, eingeholt worden. W i r haben uns nicht mehr erneuert seither, wir haben uns konsohdiert. M i t der damahgen Position verglichen, sind wir in Stagnation geraten, doch gestehen wir uns diese Lage nicht ein. Unsere Reaktion ist Verdrängung dieser Wahrheit, und ein Ausdruck dieser Verdrängung ist die immer rigorosere Selbstabkapselung, und zwar unter der nationalen Devise der immerwährenden Neutralität. Die Schweiz mußte seit je zwischen Mächtigen lavieren. Sie m u ß t e sich geschäfthch nach allen Seiten offen- und einlassen, 223 um zu leben; um überhaupt überleben zu können. NatürHch kommt in unserer bewaffneten Neutralität auch heute noch die traditioneUe Abwehrbereitschaft zum Ausdruck, jedoch dürfte für unser Verschontwerden ebenso stark die »geschäftliche Drehscheibe Schweiz« (der eidgenössische GeschäftsIcnotenpunkt) von Ausschlag gewesen sein, mit anderen Worten: die aUseitig Geschäfte erlaubende Neutralität. Der latente Verdacht eüier vorwiegend opportun praktizierten, gesinnungsmäßig jedoch eher fragwürdigen Neutrahtät läßt sich nun sicher nicht konfliktlos vereinbaren mit unseren Freüieitsidealen. Unser Monopolanspruch auf die hohen Freüieits- und Gleichheitswerte wird dadurch erheblich geschädigt - oder doch relativiert. Unter dem (kulturellen) Gesichtspunkt des Ethos kann unsere Neutrahtät nicht rein standhalten, aber unzweifelhaft hat sich das mit der Neutrahtät verknüpfte langandauernde Verschonrwerden rentiert: materieU gelohnt. W i r gelten heute als ein Wohlstands- und Bankenland par exceUence. In dem Maße also, als unsere materieUen Werte gediehen und gestiegen sind, sind notgedrungen unsere ideeUen Werte kompromittiert, üi Mideidenschaft gezogen, ausgehöhlt worden. Unmerklich m u ß etwas wie ein Abtausch von ethisch profUierten Freiheitswerten in Werte einer materiellen Unabhängigkeit stattgefunden haben. Neutrahtät kann unter solchen Umständen durchaus als A b kapselung, interessierte Abkapselung, mit anderen Worten: als luftdichte Verwahrung von Wohlstand aufgefaßt werden. VieUeicht hat sich der legendäre Unabhängigkeüsdrang von einst (da er nicht mehr mit dem. Einsatz des Lebens gewagt werden muß) unversehens in das materieUe Ideal des Sparens und der Sparsucht transferiert. W i r sind stolz auf das Sparen; Sparen rangiert hier unter den Nationaltugenden. Bei uns wird Besitz angehäuft, nicht um (besser) zu leben; es ist schon eher so, daß wir leidenschafthch dem Besitz leben. Aus dem freüieitsliungrigen Volk der Hirten ist jedenfalls mittlerweüe eine GeseUschaft von besitzenden und dem Besitz zugetanen, dem Besitz lebenden Bürgern geworden, die indessen von der Zwangsvorstellung üires ursprünghchen Büdes keineswegs 224 ablassen, im Gegenteil: Ungeachtet aher Veränderungen fülrlen sie sich immer noch als MonopoHnhaber und Pioniere demokratischer Freiheit. Das heißt, anders ausgedrückt: je stärker wir der materiellen Enge unserer Herkunftsbedingungen entraten, um so entschiedener kapseln wir uns durch eine retrospektive Fixierung in eine einstellungsmäßige Enge ein. N u n entspricht der psychologisch eng gebliebene Typus, den w i r propagieren, überhaupt nicht unseren realen Verhältnissen, wie überhaupt unser ganzes eidgenössisches Selbstverständnis nicht unserer Wirklichkeit entspricht. Die einstellungsmäßige Abkapselung von der Welt mit aUen Ansteckungsängsten ist schon deshalb problematisch, weil wir keineswegs Selbstversorger, vielmehr auf den lebhaftesten Zwischenhandel angewiesen und darüber hinaus via Kapitalverflechtung ohnehin aufs vielfältigste mit der Welt verbunden sind. W i r müssen ja reahter durchaus an den Veränderungen des Weltzustandes partizipieren, doch tun wir es nur äußerlich. Innerhch befinden wir uns in der Igelpsychose (in einer immerwährenden verdächtigen Angst, unsere »Eigenart« zu verheren, in Uberfremdungsängsten). Die innerliche Abkapselung dient der Intakterhaltung und äußersten Verteidigung eines Images, das heute schlicht den Mythen angehört. So sind, wir denn diesbezüglich nicht nur unsere eigenen Klassiker, sondern aus Verdrängungsgründen notgedrungen verhältnisblind. Diese psychologische Situation m u ß folgerichtig Unsicherheit erzeugen, und diese wiederum schlägt bei uns in die sprichwörtÜche aggressive Selhstgerechtigkeit um. Unsere Mission in ,der Völkerfamihe meinen wir in unserer eigenen Vorbildlichkeit zu erkennen. W i r SteUen unser Exemplum zur Verfügung. Wir aber ziehen es vor, uns auszuklammern. Wir entragen der Geschichte, wir sind unveränderhch, neutral und ausgenommen . . . D a diese Einstellung (zu uns und unserer Umwelt) in Wirklichkeit Ausdruck einer geistigen Unangepaßtheit an die wirkhchen Verhältnisse ist und insofem mit Verdrängung, Unsicherheit und Kompensation zu tun hat, reagie- ren wir gmndsätzhch hochempfindhch auf jede Infragestellung der von uns propagierten »Schweizer Art«: ressentimentgeladen. U n d unser latentes Ressentiment reagiert sich am heftigsten ab am Typus des schöpferisch-geistigen Menschen, des Künstlers, des Schriftstellers: weü er, sei es aus baren Wirkhchkeitsansprüchen, sei es in ErfüUung seiner »Funktion, Gewissen zu sein oder Stachel des Bewußtseins«, gerade nicht die gefragte Affirmation abliefern kann, sondern das Verdrängte offenbaren, also Kritik üben muß. Dieser »Dämonische« (wie Schaffner ihn nennt) muß denn um der Intakterhaltung des .schweizerischen Selbstverständnisses, um der Selbsterhaltung wiUen, von einer so eingestellten Öffentlichkeit als »artfremd« verdrängt und das heißt unterdrückt und unschädUch gemacht werden. »Verdauen kann sie ihn nur in totem Zustand.« In solchen psychologischen Zusammenhängen ist die für unser Land traditioneUe Künstler- und InteUektueUenfeindhchkeit zu sehen, die, nach Jakob Schaffner, so gehässig hervorbrechen kann, daß man den Eindmck erhalte, »als ständen sich da zwei feindliche Rassen gegenüber«. Der InteUektueUe, der Künsder unterscheidet sich vom offizieUen, sagen wir: vom Bemfsschweizer, dadurch, daß er vom ehrgeizigen Anspmch erfüUt ist, seiner Zeit und damit selbstredend den zukunftsträchtigen Energien der »Welt« zu leben. Der W E L T . Während die GeseUschaft, der er zugehört, geradezu besessen scheint von der Idee, ihrem Gewordenen, also dem »Zeidosen« oder auch üirem »Besitz« zu leben - was die »Welt« notwendig ausschließt. K u l m r aber kann nie und nirgends sicherer Wert bedeuten; Kultür ist kein Besitz, Kultur entwirft und definiert sich fortwährend neu, und zwar an den Anforderungen und Herausforderungen der sich verändernden Zeit. Kultur ist kein Gegenstand der Wähmng und Erhaltung, sondern immerwährende Aufgabe. Sie ist nur im Zeichen der Erneuerung denkbar. U n d sie setzt, nach Keyserhng, allemal die Anerkennung der Ausnahme voraus, nicht die Regel.