1 NLMR 5/2013-EGMR Sachverhalt

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1 NLMR 5/2013-EGMR Sachverhalt
NLMR 5/2013-EGMR
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© Jan Sramek Verlag (http://www.jan-sramek-verlag.at). [Übersetzung wurde bereits in Newsletter Menschenrechte 2013/5 veröffentlicht] Die erneute Veröffentlichung wurde allein für die Aufnahme in die HUDOC-Datenbank des
EGMR gestattet. Diese Übersetzung bindet den EGMR nicht.
© Jan Sramek Verlag (http://www.jan-sramek-verlag.at). [Translation already published in Newsletter Menschenrechte 2013/5] Permission to republish this translation has been granted for the sole purpose of its inclusion in the
Court's database HUDOC. This translation does not bind the Court.
© Jan Sramek Verlag (http://www.jan-sramek-verlag.at). [Traduction déjà publiée dans Newsletter Menschenrechte
2013/5] L’autorisation de republier cette traduction a été accordée dans le seul but de son inclusion dans la base de
données HUDOC de la Cour. La présente traduction ne lie pas la Cour.
Sachverhalt
Der Bf. ist Produzent bzw. Moderator der täglich
erscheinenden satirischen Fernsehsendung »Striscia
la notizia«, die vom privaten Fernsehsender »Canale 5«
vertrieben wird. Sie soll auf ironische Weise schlechte Praktiken im politischen Leben und im Fernsehgeschäft aufzeigen.
Im Oktober 1996 zeichnete der staatliche Fernsehsender RAI eine Sendung auf, zu der der Schriftsteller
Aldo und Gianni Vattimo, ein Philosoph, eingeladen
worden waren. Die Aufzeichnung der Unterhaltung, die
dann noch für die endgültige Fernsehfassung umgearbeitet werden sollte, erfolgte auf den internen Sendefrequenzen von RAI. Während der Sendung kam es zwischen den beiden Künstlern zu einem Wortgefecht. In
der Folge konnte man sehen, wie die Moderatorin ihre
Mitarbeiter fragte, ob Herr Vattimo schriftlich sein Einverständnis zur Ausstrahlung des Filmmaterials gegeben hätte, was diese jedoch verneinten. Sie rief darauf:
»Das ist doch nicht möglich! Sie wurden doch extra eingeladen, um (publikumswirksam) miteinander zu streiten!«
Die Aufzeichnung wurde von »Canale 5« im Zuge der
Überwachung der Aktivitäten von anderen Fernsehsendern abgefangen. Der Bf. entschied, sie in zwei Ausgaben von »Striscia la notizia« vom 21. und 26.10.1996 zu
bringen, »um so die wahre Natur der Fernsehwelt zu zeigen, in der alles auf ein Spektakel ausgerichtet ist«.
Am 14.5.1997 erstattete RAI Strafanzeige gegen den Bf.
wegen arglistigen Abfangens und öffentlicher Bekanntmachung von vertraulichen Fernsehaufnahmen iSv.
Österreichisches Institut für Menschenrechte § 617 StGB.1 Dem Strafverfahren schlossen sich RAI und
Herr Vattimo als Privatbeteiligte an.
Am 12.4.2002 sprach das Strafgericht Mailand den
Bf. hinsichtlich des arglistigen Abfangens von vertraulichen Fernsehaufnahmen frei, aber wegen deren öffentlicher Bekanntmachung schuldig. Er wurde zu einer
bedingten Haftstrafe von über vier Monaten und zum
Ersatz der Verfahrenskosten verurteilt. Ferner musste
er ungeachtet des noch ausständigen Zivilverfahrens
€ 10.000,– an jeden Privatbeteiligten als Vorauszahlung
entrichten. Das dagegen erhobene Rechtsmittel blieb
erfolglos.
Am 19.5.2005 hob das vom Bf. angerufene Kassationsgericht das Urteil des Rechtsmittelgerichts mit dem Hinweis auf, die in Frage stehende Straftat sei mit 21.4.2004
verjährt. Es entschied in der Sache selbst und bestätigte die Verurteilung des Bf. zur Zahlung einer Entschädigung und zum Ersatz der Verfahrenskosten.
Am 4.8.2009 verurteilte das Zivilgericht Mailand den
Bf. zur Zahlung einer Entschädigung in der Höhe von
€ 30.000,– an Herrn Vattimo. Es stellte fest, dass der
Antragsteller durch die Ausstrahlung von »Striscia la
notizia« im Recht auf Schutz seines Bildnisses bzw. auf
Achtung seines Privatlebens verletzt worden wäre.
1 Danach ist mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu vier
Jahren bzw. mit einem Jahr bis zu fünf Jahren, wenn gegen ein
staatliches Unternehmen begangen, zu bestrafen, wer in arglistiger Weise Informations- oder Fernsehsysteme abhört bzw.
abfängt. Dasselbe gilt für den, der der Öffentlichkeit alle oder
einen Teil dieser Kommunikationen enthüllt.
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Ricci gg. Italien
Rechtsausführungen
Der Bf. behauptet, aufgrund der strafrechtlichen Verurteilung in seiner Meinungsäußerungsfreiheit gemäß
Art. 10 EMRK verletzt zu sein. Angesichts des von »Striscia la notizia« verfolgten Ziels habe er ein Recht gehabt,
die Öffentlichkeit über die wahre – nämlich scheinheilige – Natur des (staatlichen) Fernsehens zu informieren.
I. Zur Zulässigkeit
Die Regierung wendet die verspätete Einbringung der
Beschwerde ein. Die letztinstanzliche Entscheidung
(hier: das Urteil des Kassationsgerichts vom 19.5.2005)
sei in der Kanzlei des EGMR erst am 1.2.2006 eingetroffen. Das Beschwerdeformular datiere jedoch vom
12.9.2006 und sei am 19.9.2006 in Straßburg eingelangt.
Der GH hält fest, dass eine Beschwerde ab der ersten Verständigung des Bf. als eingebracht gilt, wenn
dieser seine Absicht zu verstehen gibt, ihn anzurufen,
und, mag es auch in summarischer Form erfolgen, seine
»Beschwer« offenlegt. Diese erste Verständigung unterbricht die Sechs-Monats-Frist. Ein Bf. muss aber seiner
Beschwerde nach dem Erstkontakt mit gehöriger Sorgfalt nachkommen. Tut er dies nicht, wird die Unterbrechung der Sechs-Monats-Frist als hinfällig erachtet und
gilt die Beschwerde ab der Übermittlung des vollständig
ausgefüllten Beschwerdeformulars als eingebracht.
Im vorliegenden Fall kontaktierte der Bf. die Kanzlei des EGMR mit Brief vom 18.7.2006, eingelangt am
24.7.2006. Er wurde daraufhin am 31.7.2006 aufgefordert, innerhalb einer Frist von sechs Wochen ein ordnungsgemäß ausgefülltes Beschwerdeformular, begleitet von den zur Prüfung seiner Sache notwendigen
Dokumenten, abzugeben. Formular und Dokumente
wurden vom Bf. am 12.9.2006 abgeschickt und langten
nach einer Woche in der Kanzlei des EGMR ein.
Unter diesen Umständen geht der GH davon aus,
dass die Beschwerde am 18.7.2006 eingebracht wurde
– somit in weniger als sechs Monaten nach Übermittlung der letzten innerstaatlichen Entscheidung. Der
Einwand der Regierung ist daher zurückzuweisen (einstimmig).
Die vorliegende Beschwerde ist weder offensichtlich
unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig und folglich für zulässig zu erklären (einstimmig).
II. Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK
Es besteht kein Zweifel daran, dass der Bf. »Informationen und Ideen« iSv. Art. 10 Abs. 1 EMRK weitergeben wollte und dass seine Verurteilung einen Eingriff
in seine Meinungsäußerungsfreiheit darstellte. Dieser
beruhte auf einer gesetzlichen Grundlage und verfolgÖsterreichisches Institut für Menschenrechte NLMR 5/2013-EGMR
te die legitimen Ziele des Schutzes des guten Rufes und
der Rechte anderer und der Verhinderung der Verbreitung vertraulicher Informationen. Zu prüfen ist, ob der
Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war.
Der GH erinnert daran, dass Journalisten ein Recht
haben, Informationen von allgemeinem Interesse weiterzugeben, sofern sie in gutem Glauben und auf der
Basis von exakten Tatsachen handeln und in Beachtung der journalistischen Ethik zuverlässige und präzise
Informationen liefern. Die Verurteilung eines Journalisten wegen Weitergabe vertraulicher Informationen vermag im Bereich der Medien tätige Personen daher davon
abzuhalten, die Öffentlichkeit über Fragen des allgemeinen Interesses zu unterrichten. Bei der Prüfung, ob eine
derartige Maßnahme ungeachtet der wichtigen Rolle
der Presse als »Wachhund« dennoch notwendig war,
sind folgende unterschiedlichen Aspekte zu untersuchen: (a) die auf dem Spiel stehenden Interessen; (b) die
von der nationalen Gerichtsbarkeit ausgeübte Kontrolle; (c) das Verhalten des Bf. und (d) das Ausmaß der über
diesen verhängten Sanktionen.
Was nun den gegenständlichen Fall betrifft, vermag
sich der GH der Argumentation des Strafgerichts Mailand bzw. des Kassationsgerichts, wonach der Schutz
von staatlichen Kommunikations- und Rundfunksystemen grundsätzliche jedwede Möglichkeit einer Abwägung mit der Ausübung der Meinungsäußerungsfreiheit
ausschließe, nicht anzuschließen. Die vorhin genannten vier Überprüfungskriterien kommen jedenfalls auch
bei vertraulichen Rundfunksendungen zur Anwendung.
Betreffend den ersten Aspekt akzeptiert der GH das
Vorbringen des Bf., wonach die von ihm in »Striscia la
notizia« gezeigte Fernsehsendung eine Angelegenheit
des öffentlichen Interesses betraf, nämlich die Funktion und die »wahre Natur« des (öffentlichen) Fernsehens in der modernen Gesellschaft. Er räumt ein, dass
die Gemeinschaft ein gewisses Interesse daran haben
mochte, über die Enttäuschung einer Fernsehmoderatorin informiert zu werden, nicht den erhofften und
schließlich eingetretenen Streit zwischen zwei Künstlern bringen zu können. Darin konnte ohne weiteres der
Wunsch gesehen werden, die Öffentlichkeit eher mit
einem Streit beeindrucken, als ihr Informationen kulturellen Inhalts übermitteln zu wollen. Dies ändert jedoch
nichts daran, dass der Bf. nach Auffassung des GH ein
individuelles Verhalten stigmatisieren bzw. lächerlich
machen wollte. Wenn er tatsächlich beabsichtigte, eine
Debatte über einen Gegenstand von vorrangigem Interesse für die Gesellschaft wie hier die Rolle des Fernsehens vom Zaun zu brechen, dann wären ihm andere Mittel zur Verfügung gestanden wie ein Verstoß gegen die
Vertraulichkeit von Fernsehaufnahmen.
Zur von den innerstaatlichen Instanzen ausgeübten
Kontrolle ist zu sagen, dass lediglich das Strafgericht
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Mailand zweiter Instanz die Frage eines Konflikts zwischen dem Recht auf die Vertraulichkeit von Aufnahmen und der Meinungsäußerungsfreiheit aufwarf. Es
befasste sich mit dem Interesse der Gesellschaft an
einer Ausstrahlung der fraglichen Sendung und kam zu
dem Ergebnis, dass dieses im vorliegenden Fall nicht
vorrangig gewesen sei. Der GH meint, dass diese Analyse nicht in willkürlicher Weise, sondern im Einklang
mit den von ihm aufgestellten Kriterien durchgeführt
wurde.
Was nun das Verhalten des Bf. betrifft, konnte ihm als
»Medienprofi« nicht verborgen bleiben, dass die strittige Sendung auf einer für RAI reservierten Sendefrequenz lief. Es musste ihm daher bewusst sein, dass die
Ausstrahlung der Sendung gegen die Vertraulichkeit von
»Mitteilungen« des öffentlichen Fernsehens verstieß.
Der Bf. hat daher nicht in Übereinstimmung mit der
journalistischen Ethik gehandelt. Seine Verurteilung
stellte daher keine Verletzung von Art. 10 EMRK dar.
Anderes gilt für die Frage der Verhältnismäßigkeit
des Eingriffs in Bezug auf den Charakter und die Schwere der verhängten Sanktionen. Der Bf. wurde nämlich,
zusätzlich zum Ausgleich des Schadens, zu einer Frei-
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heitsstrafe von vier Monaten und fünf Tagen verurteilt.
Ungeachtet der Tatsache, dass die Strafe zur Bewährung ausgesetzt wurde und die Straftat vom Höchstgericht für verjährt erklärt worden war, musste die Verhängung einer Gefängnisstrafe eine stark abschreckende
Wirkung haben. Dazu kommt, dass der gegenständliche Fall, der eine Fernsehsendung betraf, deren Inhalt
an sich kaum einen erheblichen Nachteil verursachen
konnte, von keinerlei außergewöhnlichen Umständen
begleitet war, der einen Rückgriff auf eine dermaßen
harsche Sanktion zu rechtfertigen vermochte.
Mit Rücksicht auf Natur und Umfang der Sanktion war
der Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit des Bf.
daher nicht mehr verhältnismäßig gegenüber den verfolgten legitimen Zielen. Verletzung von Art. 10 EMRK
(6:1 Stimmen; Sondervotum von Richterin Karakaş).
III. Entschädigung nach Art. 41 EMRK
Die Feststellung einer Konventionsverletzung stellt für
sich eine ausreichend gerechte Entschädigung für den
vom Bf. erlittenen immateriellen Schaden dar (6:1 Stimmen; Sondervotum von Richterin Karakaş).
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