Grün ist nicht meine Lieblingsfarbe

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Grün ist nicht meine Lieblingsfarbe
„Grün ist nicht meine Lieblingsfarbe“ von Daniela Faber
Grün ist nicht meine Lieblingsfarbe, nicht wirklich. Das ist eigentlich blau. So ein, wissen
Sie, so ein Blau, bei dem man anfängt vom Meer zu träumen. Natürlich nicht von
unserer schönen Ostsee, obwohl die wirklich schön ist, da spricht ja gar nichts gegen,
aber ich meine das Meer im Süden. Heiße Sonne, dass die Luft flirrt, heißer Sand unter
den Füßen und ein heißer Italiener an meiner Seite. Sie verstehen, was ich meine. Aber
ich schweife ab. So ein Blau also eigentlich. Eigentlich. Aber grün ist meine neue
Lieblingsfarbe, obwohl, was heißt neu. Es passierte, als ich 21 war, jetzt bin ich 36…
oha, ist also jetzt doch schon ´ne ganze Weile her. Wie die Zeit vergeht… Grün ist
meine neue Lieblingsfarbe, weil…denn… Entschuldigung. Ich schreibe kein Tagebuch
und auch in der Therapie damals hab ich nichts aufgeschrieben. Heute ist das erste Mal,
und ich muss die richtigen Worte finden.
Grün ist heute meine Lieblingsfarbe, weil Grün die Farbe ist, die vor 15 Jahren mein
Leben rettete. Das klingt vielleicht pathetisch oder nicht echt oder sonst wie anders,
aber so ist es gewesen. Einfach so. Vor 15 Jahren war ich, wie gesagt, 21 und blau war
meine Lieblingsfarbe. Ich war in der Ausbildung zur Verkäuferin, also Kauffrau im
Einzelhandel, wie es korrekt heißt. Das war nichts besonderes, aber okay halt, und die
anderen Mädels waren echt cool und wir zogen gerne am Wochenende zusammen los.
Ich war im dritten Jahr, die anderen teils jünger, aber ich hatte halt ein paar Jahre lang
nur nebenbei gejobbt und so, und erst mit 19 die Ausbildung angefangen. Schon damals
hat man ja nicht sofort was gefunden. Die Bekannte einer Freundin meiner Mutter besaß
dieses Klamottengeschäft und da war ich untergekommen. Berufsschule, na ja, da
musste man halt hin und wie schon erwähnt, die anderen Mädels waren voll super. Vor
allem Sandra, mit der war ich immer unterwegs. Entweder trafen wir uns unter der
Woche bei einem von uns oder wir belagerten die Discos der Umgebung am Freitag und
Samstag. Und natürlich trafen wir uns immer zum Shoppen. Klamottenshoppen
meistens. Ab und zu war auch Kino dran, aber wir holten uns dann schon eher die
Videos von der Videothek unten im Haus. Videos. Damals waren es echt noch Videos.
DVDs waren gerade erst im Kommen.
Sandra und ich waren nicht wirklich unzertrennlich, aber so gut wie, und deshalb war sie
es auch, mit der ich an dem besagten Abend zusammen aus war. Sandra hatte damals
zwar einen festen Freund, aber der war mehr für Sport zu haben und ging oft mit seinen
Kumpels zum Training. Sandra meinte, er vertraue ihr und deshalb war das okay für ihn,
wenn wir Mädels alleine weggingen. Ich war mal wieder solo, ich hatte irgendwie kein
Glück. Die Kerle waren alle scheiße, Entschuldigung, aber ist echt wahr. Einer nach
dem anderen kam angetrottelt, sie wollten knutschen, okay, sie wollten fummeln, okay,
aber nach der Nummer war’s dann regelmäßig vorbei, und ich konnte wie blöd das
Telefon anstarren, angerufen wurde da nicht. Männer. Wer will sie verstehen.
Der besagte Abend also. Der war zu dem Zeitpunkt dann eigentlich schon mehr eine
Nacht. Die Nacht von Freitag auf Sonntag, äh, Samstag, Samstag, ich… ich kriege
gerade wieder dieses Ziehen im Magen, das ich immer kriege, wenn ich aufgeregt bin.
Aber im negativen Sinne, verstehen Sie? Von Freitag auf Samstag also. Sandra und ich
hatten den Discobus genommen, waren easy reingekommen, ohne lange warten zu
müssen, und hatten eigentlich einen Superabend gehabt. Es waren zwar keine wirklich
interessanten Gesichter unter der männlichen Bevölkerung, aber wir hatten trotzdem ein
paar echt nette Stunden gehabt. Ich kann mich nicht hundertprozentig an alles erinnern,
was passierte, bevor ES geschah, aber ich weiß noch, dass ich zumindest mit zwei
Typen sehr lecker in der einen Ecke hatte knutschen können. Nach einander natürlich,
oder was denken Sie, huh? Sandra hatte so einiges intus, ich auch, warum auch nicht,
deswegen hatten wir ja extra auf’s Auto verzichtet und waren mit dem Bus gekommen.
Sandra hing dann irgendwann mehr auf ihrem Hocker als dass sie saß und ich fühlte
mich auf den Beinen auch nicht mehr so ganz sicher, deshalb fragte ich sie, ob sie
vielleicht jetzt auch gehen wolle, weil der Bus in zehn Minuten eh kommen würde und
die Tusse, mit der sie sich da eben noch hatte unterhalten wollen, bei der Lautstärke,
die hatte gerade den nächsten Typen aufgegabelt. Und obwohl Sandra sonst immer die
letzte war, was das Gehen anging, stimmte sie gleich zu. Aber es war ja auch schon vier
oder so. Oder halb fünf. Aber ist ja auch egal. Der Bus brachte uns also zurück zur
Haltestelle am Bahnhof, von wo aus wir keine fünf Minuten mehr nach Hause hatten.
Sandra wohnte in der einen Richtung, ich in der anderen. Die halbe Stunde Fahrt hatte
uns ein bisschen relaxen lassen und wir genossen nun die kalte Nachtluft, die uns
wieder etwas wachrüttelte. Der Kiosk am Ausgang vom Bahnhof hatte offen wie immer,
und außer dem Verkäufer waren nur zwei Nachtschwärmer anwesend, die wohl
Zigaretten kauften oder so. Interessierte uns nicht.
Sandra und ich waren in Supergackerlaune, wir benahmen uns wahrscheinlich wie
13jährige, die den ersten Rausch durchlebten, jedenfalls erinnere ich mich noch, dass
Sandra was von dem einen Typen eben in der Disco erzählte, was völlig schrill war, und
ich lachte mich fast tot. War auch ´ne geniale Story und so gackerten wir, was das Zeug
hielt. Hätten wir mal lieber einen sorgsameren Blick in den Kiosk geworfen.
Sandra und ich verabschiedeten uns von einander, Küsschen links, Küsschen rechts,
und noch mal, links, rechts, und weil’s so schön war das ganze noch mal von vorne.
Und wieder wurde gegackert. Und dann gab’s noch mal Küsschen, da liefen uns echt
schon die Tränen runter, weil wir so lachen mussten. Wir waren ziemlich hinüber, glaube
ich. Ich machte dann ganz mutig den Anfang und bewegte meine Beine in die ungefähre
Richtung, in der ich das Haus mit meiner Wohnung vermutete. Sandra klackerte auf
ihren Stilettos noch kurz hinter mir her, aber dann fand auch sie den richtigen Weg und
wir trennten uns endgültig. Jede ging brav ihre eigene Straße entlang, an deren Ende
das kuschelige Bettchen auf sie wartete. Wie die Polizei später rekonstruierte, muss in
dem Moment der Täter den Kiosk verlassen haben.
Meine Straße hatte natürlich Straßenbeleuchtung, aber an dem Haus, das gerade
renoviert wurde, also die Fassade, da war die Lampe aus. Irgendwelche Spinner hatten
mit einem Stein drei Tage zuvor die Birne zerschossen und was eine Großstadt ist, die
was auf sich hält, die erneuert natürlich so eine Birne nicht sofort, wozu auch. Ich hab ja
echt keine Angst im Dunkeln, und auch in dem Moment hatte ich keine, aber…. Die kam
erst, als ich kurz vor dem Haus Schritte hinter mir hörte, die vorher nicht da gewesen
waren. Und da es kein Stilettogeklacker war, sondern eindeutig das nachlässige
Schlurfen eines schwereren Menschen, war mir auch ohne Nachzudenken klar, dass da
nicht Sandra hinter mir ging. Ich verhielt mich also wie so eine strunzdumme Pute im
schlechtesten Krimi aller Zeiten und beschleunigte meine Schritte. Ich wollte an dem
dunklen Haus mit dem bekloppten Gerüst vorbei, wieder zurück ins Licht und in zwei
Minuten wäre ich zuhause. Dachte ich.
Und dann fasste eine Hand an meinen Arm, packte zu und riss mich rum. Ab da
erinnere ich mich nicht mehr so genau, aber der Typ hat später ausgesagt, ich hab wie
am Spieß geschrien und um mich getreten und wie bescheuert mit den Armen gerudert.
Die Absicht des Scheißkerls war ja klar, aber so leicht wollte ich es ihm nicht machen.
Ich weiß nicht einmal mehr, ob ich mich tatsächlich nass gemacht habe oder ob ich
einfach nur verdammt am Schwitzen war. War hinterher dann auch egal. Der Kerl wollte
mich an die Wand drücken, während er mit der anderen Hand schon an seiner Hose
rumfummelte, da bekam ich etwas zu fassen, dass von oben, von dem Gerüst über uns,
direkt vor meiner Nase baumelte. Bei der schlechten Beleuchtung und der Panik sah ich
nichts, sondern ich zog einfach und offensichtlich war es eine Schnur, an deren
anderem Ende, eine Gerüstetage höher, ein Eimer befestigt war, der warum auch immer
von einem faulen Malergesellen zu Feierabend vergessen worden war. Was mein Glück
war. Denn der Eimer kippte über, verlor seinen Deckel, und ergoss seinen Inhalt
komplett über mich!
Natürlich hatte ich immer noch Angst um mein Leben, schrie weiter wie ein
abgestochenes Schwein und schlug um mich. Und dann bekam ich etwas zu fassen,
dass sich wie Stoff anfühlte und ich kloppte einfach drauf los, immer drauf los. Ich
glaube, in dem Augenblick war ich wieder komplett nüchtern. Deshalb erinnere ich mich
auch, wie plötzlich eine Stimme rief: Aufhören, aufhören, bitte! Interessierte mich aber
nicht, ich langte dem Mistkerl erst noch eine und dann fand ich endlich die Zeit, mir die
Augen frei zu wischen. Im Schein der Laterne von 10 Meter weiter sah ich auf grüne
Hände hinab. Aber der Typ, dem ich eine gelangt hatte, war nicht der gleiche wie von
eben! Der Mistkerl von eben hatte zu dem Zeitpunkt, wo die Farbe auf mich runterkippte,
ganz offensichtlich sein Interesse an mir verloren. So ein mit Farbe begossener Pudel
muss ihn abgetörnt haben, der Arsch. Aber das wusste ich in diesem Moment ja nicht!
Während der Idiot sich verpisste, hatte der andere mir zu Hilfe kommen wollen! Aber
ganz sicher war ich mir da nicht, deshalb sah ich zu, dass ich von hier wegkam und
rannte wie eine gesengte Sau nach Hause, brach beim hastigen Aufschließen fast den
Schlüssel ab und knallte die Hauseingangstür hinter mir zu. Mir wird immer noch etwas
mulmig in den Beinen, sozusagen, wenn ich an diese Nacht zurückdenke.
Oben in der Wohnung blieb ich auf dem Fußboden sitzen, direkt hinter der
Wohnungstür. Mir war so schlecht! Ich übergab mich da, wo ich war, und schleppte mich
dann ins Badezimmer. Aus dem Spiegel über dem Waschbecken starrte mir ein grünes
Monster entgegen! Es hatte rot unterlaufene Augen, verschmiertes oder teilweise gar
nicht mehr als solches zu erkennendes Make-up, und ich war tatsächlich über und über
mit grüner Farbe bedeckt. Nicht grün wie Gras oder grün wie Tannenwald, sondern so
ein kränkliches, blasses Grün, das vermutlich gerne mal „freundliches Lind“ genannt
wird und auf Fassaden toll aussieht, aber nicht auf Gesichtern. Ich jedenfalls fand, es
war die schönste Farbe der Welt. Dieses Grün, diese Schmiere, die langsam von
meinem Kinn ins Becken unter mir tropfte, hatte mir wahrscheinlich mein Leben gerettet.
Nach der Dusche rief ich Sandra an, immer noch mit einem Riesenzittern in der
Magengrube, und berichtete ihr alles haarklein, was auch sie schlagartig ernüchterte,
obwohl sie schon am Hinüberdämmern gewesen war. Sie und ihr Freund kamen dann
tatsächlich noch mal rüber, superlieb, im Auto diesmal, und brauchten ungefähr eine
Stunde, um mich zu überzeugen, ich müsse zur Polizei gehen, auch wenn nicht wirklich
was passiert war. Aber es war natürlich was passiert, und ich hatte dann ja auch noch
einige Zeit daran zu knabbern.
Sandra und ihr Freund fuhren mich also zur nächsten Polizeiwache – und da war er!
Nein, nicht der Scheißkerl, der andere! Der, der mir hatte helfen wollen! Ich dachte, ich
sah nicht richtig. Er saß da, vor der Theke, mit grünen Händen, Flecken überall auf den
Klamotten und einem grünen Handabdruck auf der Wange. Ich glaube, ich wurde rot in
diesem Moment. Er saß da und schaute hoch, als wir rein kamen. Er muss mich auch
gleich erkannt haben, denn er stand auf, aber er bewegte sich nicht weiter, er blieb
einfach stehen, da neben der Bank. Er sah nett aus, dunkle Haare, ein paar Locken,
Brille, auch mit Farbspritzern, und ein Kapuzenshirt mit irgendeinem Schriftzug vorne
drauf. Aber der war mir ziemlich egal. Seine Augen, die waren es, die machten mich
einfach fertig. Blau wie das Meer im Süden. Sie wissen, was ich meine. Meine
Lieblingsfarbe. Eigentlich.
Der zuständige Polizist sprach ihn dann von hinter der Theke an und jetzt halten Sie
sich fest, wissen Sie, wie er hieß, nicht der Polizist, sondern er, der Held des Tages?
Ruben Grünberg. Grünberg! Sagen Sie selbst, soll man das für möglich halten?
Grünberg! In dieser Sekunde, glaube ich, war es, dass meine Lieblingsfarbe von
besagtem Blau zu Grün wechselte. Trotz seiner Augen.
Sobald den Polizisten klar wurde, dass wir alle wegen des gleichen Vorganges da
waren, wurden unsere Aussagen zügig aufgenommen, und dann durften wir gehen,
nachdem wir beide uns gegen eine Untersuchung im Krankenhaus entschieden hatten.
Sandra und ihr Freund merkten da irgendwie was und warteten ein paar Meter entfernt,
während dieser Ruben Grünberg und ich noch kurz miteinander redeten. Ich
entschuldigte mich tausendmal für die Ohrfeige, was er nicht hören wollte, da es ja
verständlich war, warum ich um mich geschlagen hatte. Ich weiß nicht, was wir noch
alles in wahrscheinlichen zwei kurzen Minuten, gefühlten zwei hinreißenden Stunden
sagten, aber irgendwie mussten wir uns für den nächsten Tag verabredet haben.
Sandra und ihr Freund nahmen mich dann mit zu sich, wofür ich sehr dankbar war, denn
diese Nacht, oder Restnacht, hätte ich echt ungern alleine verbracht.
Ja, das alles ist also jetzt 15 Jahre her. Der Täter wurde sogar ermittelt und bekam eine
Bewährungsstrafe, weil er geständig war, aber ich hab ihn zum Glück nie wieder
gesehen. Ich hab kein komisches Gefühl mehr, wenn ich eingerüstete Häuser sehe oder
wenn ich merke, eine Straßenlaterne geht nicht. Aber das hat einige Zeit gedauert. Und
abends alleine rausgehen tue ich immer noch ein bisschen ungerne. Aber zum Glück
habe ich ja jetzt Ruben an meiner Seite. Ja. Natürlich. Ruben. Wir haben uns damals
dann wirklich am nächsten Tag getroffen, also eigentlich nur einige Stunden später,
ganz unverfänglich am Nachmittag, im Café. Und Sonntag haben wir uns dann noch mal
getroffen. Da fand gerade ein Flohmarkt statt und da sind wir ein bisschen
langgeschlendert, auch mit Händchenhalten und so. Aber zusammengekommen sind
wir erst zwei Wochen später. Er war nicht nur charmant und lieb und nett, er war auch
witzig, mein Ruben: Zum Date brachte er Kondome mit, aber welche in grün! Die nach
Waldmeister schmeckten. Was auch sonst! Tja, und seitdem sind wir zusammen. Ein
halbes Jahr später haben wir eine passende Wohnung für uns beide gefunden, in einer
anderen Straße, und noch zweieinhalb Jahre später ließen wir die Hochzeitsglocken
bimmeln. Da war die kleine Sarah dann auch schon da. Mittlerweile hat unser
Sesselpupser Noah das Quartett vervollständigt.
Und ich und meine Lieblingsfarbe? Ich hab mittlerweile alles in grün, Tops, Hosen,
Kleider, Socken, Handtaschen, alles, auch Unterwäsche, die nicht so einfach zu finden
ist. Und Schuhe, die muss man echt suchen. Ohne grün fühl ich mich nicht mehr wie
„ich“. Und es vergeht kein Tag, an dem Ruben mich nicht damit neckt. Und dafür liebe
ich ihn. Mein Ruben Grünberg. Der Mann mit der Farbe im Namen, die mir mein Leben
rettete. Damit ist meine Geschichte eigentlich zu Ende, aber eines möchte ich an dieser
Stelle noch anbringen: Ich würde dem faulen Malergesellen von damals, der den Eimer
mit der Schnur auf dem Gerüst stehen ließ, dem würde ich gerne hiermit noch mal
richtig danken. Er war schließlich an meiner Rettung nicht ganz unschuldig. Danke!