Frauenhilfe zum Selbermachen 2/08
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Frauenhilfe zum Selbermachen 2/08
Frauenhilfe zum Selbermachen 2/08 „Wenn das Brot, das wir teilen als Rose blüht…“ - Geschichten von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit ______________________________________________________________________________________ -1Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. Vorwort ______________________________________________________________________________________ „Wenn das Brot, das wir teilen, als Rose blüht …“ - in Andachten und Gottesdiensten, wenn wir Abendmahl gefeiert haben oder den diakonischen Auftrag unserer Kirche bedenken, singen wir dieses Lied, das nicht zuletzt an das Engagement der Elisabeth von Thüringen für die Armen, Hungernden und Kranken erinnert. In der vorliegenden Arbeitshilfe haben wir Material zusammengestellt, das Sie anregen soll, über den Zusammenhang von Diakonie und Barmherzigkeit, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit nachzudenken. Die Tradition der Frauen-Hilfe ist geprägt durch das Wort aus Matthäus 25 „Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern und Schwestern, das habt ihr mir getan“ und durch die sozial-diakonische Hilfe, die auf allen Ebenen des Verbandes geleistet wurde und wird - von den Bezirksfrauen bis zu den Einrichtungen der Behindertenhilfe, von der Müttergenesung bis zu den Projekten des Weltgebetstages, von der Arbeit des Frauenhauses bis zur Blumenkampagne usw. usw. Einerseits werden wir angerührt durch die Not von Menschen, herzliches Erbarmen erfasst uns, es drängt uns, etwas zu tun. Andererseits sind wir herausgefordert, Recht und Gerechtigkeit für alle Menschen zu schaffen, wie Gott sie verheißen hat. Die Texte aus Matthäus 25 und Jesaja 58 sind dafür eine wichtige Grundlage. Das Material ist wie ein Bausteinsystem zu verwenden, das Sie je nach Gruppengröße, Anlass, Zeit und Zielsetzung Ihrer Veranstaltung variieren können. „… dann hat Gott unter uns schon sein Haus gebaut“ - unter dieser Verheißung stehen wir, wenn wir uns um Barmherzigkeit und Gerechtigkeit in unseren Frauenhilfen, in unseren Gemeinden, in unserer Kirche, in unserer Gesellschaft, lokal und global mühen. Ihre Angelika Weigt-Blätgen (Leitende Pfarrerin) ______________________________________________________________________________________ -2Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. Inhaltsverzeichnis ______________________________________________________________________________________ „Wenn das Brot, das wir teilen als Rose blüht…“ - Geschichten von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit • „Krone, Brot und Rosen - die Geschichte der Elisabeth von Thüringen“ Impuls und Gruppenarbeit • Barmherzigkeit und Gerechtigkeit - Elisabeth von Thüringen als Verbindungsfrau zur Diakonie Impuls und Gruppenarbeit • Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Geschwistern 14 - 17 Andacht • Diakonie und Barmherzigkeit in den Handlungsfeldern der Evangelischen Frauenhilfe Vortrag 18 - 24 • Arbeitsblätter zur Gruppenarbeit „Krone, Brot und Rosen …“ Anlagen 1 - 5 25 - 29 • Arbeitsblätter „Biographie für zwei Sprecherinnen“ Anlage 6 30 - 31 • Fürbittengebet und Liedvorschläge Anlage 7 32 - 33 • Textblätter Jesaja 58, 6 - 12 Anlage 8 + 9 34 - 35 • Textblätter Matthäus 25, 31 - 46 Anlage 10 + 11 36 - 37 • Gerechtigkeit weltweit - die Blumenkampagne Anlage 12 38 - 42 • Für Gerechtigkeit - gegen Frauenhandel und Zwangsprostitution Anlage 13 43 - 45 • Häusliche Gewalt wahrnehmen - Rosenstrasse 76 Anlage 14 46 - 48 4-8 9 - 13 IMPRESSUM Herausgeberin: Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. Postfach 13 61, 59473 Soest Telefon: 02921/371-0 Fax: 02921/4026 www.frauenhilfe-westfalen.de e-Mail: beckheier@frauenhilfe-westfalen.de e-Mail: koenig@frauenhilfe-westfalen.de Zusammenstellung, Bearbeitung: Angelika Weigt-Blätgen Redaktionelle Arbeit und Druck: Manuela Beckheier, Martina König Stand: 04/2008 Preis: 3,00 Euro zzgl. Porto und Verpackung Preis: 2,50 Euro zzgl. Porto und Verpackung Abonnement Preis: 4,00 Euro zzgl. Porto und Verpackung Nicht-Mitglieder ______________________________________________________________________________________ -3Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. Frauenhilfe zum Selbermachen ______________________________________________________________________________________ „Krone, Brot und Rosen - die Geschichte der Elisabeth von Thüringen“ Einleitung: Das Jahr 2007 wurde in katholischen und evangelischen Kirchen, in Caritas und Diakonie, in ökumenischen Veranstaltungen und Frauengruppen als „Elisabeth-Jahr“ begangen. 1207 in Ungarn als Tochter des Königs Andreas II und seiner Frau Gertrud geboren wurde Elisabeth bereits als 4-jährige mit Ludwig, dem Sohn des mächtigen Landgrafen von Thüringen verlobt. Ein Leben unter und mit der Krone als Symbol von Macht, Einfluss und Reichtum warn ihr vorherbestimmt. Statt jedoch mit Krone und Robe auf Gemälden dargestellt geht Elisabeth in die Geschichte und in die Legenden ein als diejenige, die den Armen Brot bringt, die Kranke pflegt und in deren Händen sich Brot in Rosen verwandelt. Wir wollen uns heute mit der Biographie der Elisabeth von Thüringen beschäftigen. Zunächst wollen wir zusammentragen, welche Legenden, welche Bruchstücke der Lebensgeschichte der Elisabeth von Thüringen wir bereits kennen bzw. zu kennen meinen. Material: DIN A 3-Bögen für jeweils 4 - 5 Frauen Stifte Anlagen 1 - 5 mit der in Abschnitte aufgeteilten Biographie der Elisabeth von Thüringen Gruppengespräch: Nehmen Sie sich 10 Minuten Zeit und tragen jeweils in Gruppen von 4 - 5 Frauen zusammen, was Ihnen zu Elisabeth von Thüringen einfällt. Halten Sie die genannten Stichworte auf den ausgelegten DIN A 3Bögen fest. Arbeitsgruppen zur Biographie: In 5 Gruppen werden wir uns nun mit jeweils einem kurzen Abschnitt zur Biographie der Elisabeth von Thüringen beschäftigen. Jede Gruppe erhält einen Textabschnitt (Anlage 1 - 5). Erarbeiten Sie sich den Text in Ihrer Gruppe. Wählen Sie eine Sprecherin aus, die den anderen Frauen ihren Abschnitt erzählt. Gruppengespräch: Gehen Sie nun in Ihre Kleingruppe (4 - 5 Frauen) zurück und vergleichen Ihre Stichworte, die Sie aus der Erinnerung zusammengetragen haben, mit den Informationen, die Sie inzwischen erhalten haben. Abschluss des Nachmittags: Als Abschluss des Nachmittags eignet sich das Lied „Wenn das Brot, das wir teilen …“, EG 667, das Fürbittengebet aus dem Vorschlag zur Andacht bzw. eines der anderen vorgeschlagenen Lieder. ______________________________________________________________________________________ -4Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. Frauenhilfe zum Selbermachen ______________________________________________________________________________________ Elisabeth von Thüringen - Von der Königstochter zur Heiligen - Eine Frauenbiographie des 13. Jahrhunderts 1207 kommt in Ungarn die Tochter des Königs Andreas II. und seiner Frau Gertrud aus dem Haus Andechs-Meranien zur Welt. Sie wird auf den Namen Elisabeth getauft. Schon als Vierjährige gerät sie in die Welt der großen Politik: Sie wird mit Ludwig, dem Sohn des mächtigen Landgrafen Hermann I. von Thüringen, verlobt und verlässt ihre Heimat, um von nun an in Thüringen zu leben. Dort wächst sie am Hof des kunstsinnigen Fürsten zusammen mit ihrem vorgesehenen Ehegatten auf. Schon früh übt der christliche Glaube eine große Faszination auf das Mädchen aus. Sie versucht, möglichst oft in der Kirche zu sein und zieht dies sogar dem Spiel mit anderen Kindern vor. So beschrieben es - nach Elisabeths Tod - in der Rückschau auf ihre Kindheit Dienerinnen und Hofdamen, die sie von klein auf kannten. Als Elisabeth 13 Jahre alt ist, wird sie, wie es in dieser Zeit üblich ist, mit dem sieben Jahre älteren Ludwig verheiratet. Die wenigen Berichte von Augenzeugen, die einige Jahre nach Elisabeths Tod am 16./17. November 1231 aufgezeichnet wurden, sprechen immer wieder davon, in welch zärtlicher Liebe die beiden einander verbunden waren. Diese Liebe bringt drei Kinder hervor, Hermann, Sophie und Gertrud. Über ihre zweite Tochter wird Elisabeth zur Stammmutter der hessischen Landgrafen werden; der erste Träger dieses Titels, Heinrich I. von Hessen, ist ihr Enkel. Elisabeths christliche Begeisterung wird im Laufe der Jahre immer stärker. Sie sucht religiösen Beistand bei ihrem Beichtvater, und ihr Mann Ludwig, in dessen Leben Frömmigkeit auch eine bedeutende Rolle spielt, lässt sie gerne gewähren, wenn sie nachts das Ehebett verlässt, um zu beten und sich ihren asketischen Bedürfnissen hinzugeben. Ihre Hinwendung zum Nächsten zeigt sich deutlich in der Fürsorge für ihre Untertanen. Als Ludwig 1226/27 auf einer Reise ist und Thüringen von einer Hungersnot heimgesucht wird, lässt sie die Vorratsspeicher des Landgrafen öffnen und die Nahrungsmittel an die Not leidenden Menschen verteilen. Ihre Verwandten, vor allem die Brüder ihres Mannes, verfolgen dies mit Argwohn, doch Ludwig stellt sich nach seiner Rückkehr hinter Elisabeth. In dieser Zeit (1226/27) tritt ein Mann in das Leben Elisabeths, der für ihren weiteren Weg eine wichtige Rolle spielen wird, der Kreuzzugsprediger und Ketzerverfolger Magister Konrad von Marburg, der vom Papst mit einer enormen Machtfülle ausgestattet ist. Er wird zum religiösen Führer der jungen Fürstin, die ihm bald absoluten Gehorsam gelobt, aus dem nur die Rechte Ludwigs ausgenommen sind. Für den Fall von Ludwigs Tod legt sie einen Eid ab, auf eine Wiederverheiratung zu verzichten, ein ihre Standesgenossen und vor allem die Familie ihres Mannes brüskierender Akt. Immer öfter sieht man sie nun in einfache Kleider gehüllt; der höfische Luxus und der aufwändige Lebensstil des Adels werden ihr immer fremder. Bei Tisch besteht sie unter dem Einfluss ihres Beichtvaters darauf, mit ihren Dienerinnen nur solche Speisen und Getränke zu sich zu nehmen, die auf rechtmäßige Weise von den Gütern ihres Mannes stammen. Lebensmittel, die zum Beispiel aus entfremdeten Kirchengütern stammen, lehnt sie ab, lieber will sie hungern. 1227, Elisabeth ist gerade 20 Jahre alt, muss ihr Mann mit Kaiser Friedrich II. auf den Kreuzzug nach Palästina. Er wird von dort nicht wiederkehren, schon in Süditalien wird er zum Opfer einer Seuche werden. Die schwangere Elisabeth begleitet ihn bei seiner Abreise und es kommt zu einem langen, traurigen Abschied voll düsterer Vorahnungen. Bald trifft die Nachricht von Ludwigs Tod bei Elisabeth ein. Ihre Trauer um den geliebten Mann kennt kaum Grenzen, doch fügt sie sich in den Willen Gottes, den sie in den Geschehnissen sieht. ______________________________________________________________________________________ -5Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. Frauenhilfe zum Selbermachen ______________________________________________________________________________________ Ein neues Leben beginnt. Ihre Schwäger, Heinrich Raspe, der spätere Gegenkönig, und Konrad, wollen die junge Witwe mit ihren Kindern nicht mehr auf der Wartburg dulden. Sie befürchten vor allem, dass Elisabeth in der ihnen übertrieben und maßlos erscheinenden religiösen Hingabe an die Armen das Familiengut der Dynastie verschleudern könnte. Elisabeth verlässt die Wartburg mit ihren Kindern, versucht für einige Zeit, sich auf eigene Faust in Eisenach am Fuß des Burgbergs durchzuschlagen und wird dann von ihrer Tante, der Äbtissin des Klosters Kitzingen, nach Bamberg zu ihrem Onkel gebracht, dem dortigen Bischof, und später auf dessen Burg Pottenstein in der Fränkischen Schweiz. Unter Mitwirkung Konrads von Marburg kommt es zu einem Kompromiss mit den Schwägern, Elisabeth zieht sich auf ihr Witwengut in Marburg zurück. Spätere Quellen wollen wissen, dass in dieser Zeit sogar Kaiser Friedrich II. um ihre Hand angehalten habe, was sie ablehnte. Unter dem Einfluss der religiösen Ideen des Franz von Assisi und der frommen Armutsbewegung, die vor allem Frauen in ganz Europa ergriffen hat, widmet sie ihr Leben und den größten Teil ihres Besitzes nun der Pflege von Armen und Kranken, für die sie vor den Toren Marburgs eine Kapelle und ein Hospital errichten lässt. An einem Karfreitag schwört sie in der Kirche im Beisein Konrads von Marburg allen weltlichen Dingen ab, sie gibt ihre Kinder weg und will von nun an als Arme unter Armen leben, ganz dem Streben nach Begegnung mit Christus im Nächsten hingegeben. Aufopferungsvoll kümmert sie sich um Leprakranke, hungrige, verwahrloste Kinder und Bettler. Dabei sucht sie geradezu nach der Konfrontation mit dem Erschreckenden: sie küsst die eitrigen Wunden, liebkost die schorfigen Köpfe der kranken Kinder und verrichtet die niedersten Arbeiten, wie es in allen Berichten heißt, stets mit einem Lächeln auf den Lippen. Augenzeugen rühmen ihre Fröhlichkeit und ihr Gottvertrauen. Elisabeth ist in dieser Hingabe an karitative Arbeiten kein Einzelfall. Unter ihren Zeitgenossinnen und Zeitgenossen lassen sich viele andere finden, die so wie Elisabeth ihr weltliches Gut hingeben und ihre Familien verlassen, um sich der Nächstenliebe zu widmen, neben Franziskus mag Maria von Oignies als Beispiel dienen. Sie gilt als Gründerin der Beginenbewegung, der Elisabeth sich ebenso verbunden fühlt wie den Franziskanern. Im Unterschied zu den Nonnen in den von der Welt abgewandten Klöstern wollen diese religiös bewegten und begeisterten Frauen in der Welt den Menschen dienen. Gerade im Umgang mit den Ärmsten und Elendesten finden diese Frauen ihren direkten Kontakt zu Jesus Christus, der sagt: „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan." (Mt. 25, 40 b) Elisabeth stürzt sich in die Arbeit, in die Selbstaufopferung. Sie schenkt, würde am liebsten alles verschenken, was sie besitzt. Konrad von Marburg hält sie davon ab. Er verbietet ihr das grenzenlose Schenken, um für den Unterhalt des Hospitals Mittel zu sichern. Dabei schreckt Konrad auch vor derben Körperstrafen für Elisabeth nicht zurück, die er selbst ausführt oder aber von Dienerinnen ausführen lässt. Elisabeth, die offenkundig im Leiden Erfüllung finden kann, nimmt die Strafen mit Gleichmut, ja mit fröhlicher Gelassenheit hin. Ihr nahe Stehende beschreiben, wie sie gleichzeitig lachen und weinen kann. Elisabeth sucht nicht nach effektiv organisierter, nachhaltiger Nächstenliebe, sie will sich verschwenden für die Armen, hier und jetzt und sofort. Sie möchte sein wie sie: Immer wieder versucht sie auf rührende und etwas tollpatschige Weise, Arbeiten der einfachen Menschen aus dem Handwerk, der Haushaltsführung und der Landwirtschaft selbst auszuführen, was mehr als einmal schief geht. Elisabeth lacht darüber, Vieles ist ihr auch ein Spiel. Sie ist impulsiv und maßlos in ihrem Streben nach Heiligung ihrer Selbst und ihrer Nächsten. Mehr als einmal verschreckt sie die Menschen mit ihren ungezügelten Handlungen. ______________________________________________________________________________________ -6Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. Frauenhilfe zum Selbermachen ______________________________________________________________________________________ Es dauert nicht lange, und Elisabeth hat sich so verausgabt, dass ihr Körper nicht mehr mitmacht. Während Konrad von Marburg selbst schwer krank nieder liegt, kommt sie zu ihm und prophezeit ihm ihr nahes Ende. Und so geschieht es: Er wird wieder gesund, und sie legt sich nach einigen Tagen zum Sterben hin, das etwa zwei Wochen dauern wird. Ihr Körper ist vollkommen erschöpft, aber ihr Geist noch hellwach, oftmals in den Bann gezogen von Visionen, die sie klar und deutlich wahrnimmt und den sie Umstehenden erzählt. Als es immer mehr bergab geht mit ihr, möchte sie nur noch geistliche Personen um sich haben und einen Jungen, den sie gepflegt hat und der sie aus dankbarer Anhänglichkeit nicht mehr verlässt. In der Nacht vom 16. auf den 17. November 1231 stirbt Elisabeth in den frühen Morgenstunden. Die Nachricht von ihrem Tod verbreitet sich in Windeseile. Innerhalb weniger Stunden umringen viele Menschen den Leichnam, schneiden Fetzen von der Kleidung, reißen Haarbüschel aus und schrecken nicht davon zurück, Fingerglieder und die Brustwarzen mit Messern vom Körper abzutrennen, um sie als Heil bringende Reliquien an sich zu nehmen. Nach drei Tagen, am 19., wird sie in der Franziskuskapelle ihres Hospitals beigesetzt. Schon bald setzt eine Wallfahrt zum Grab Elisabeths ein, die für ihre Zeitgenossen offenbar schon zu Lebzeiten eine Heilige war. Die Berichte und Erzählungen über die sich nach wenigen Tagen am Grab ereignenden Wunder werden das Ihre dazu getan haben, viele Menschen dazu zu bringen, den Weg nach Marburg auf sich zu nehmen. Konrad von Marburg setzt sofort erste Schritte für eine Heiligsprechung durch den Papst in Rom in Gang. Er lädt den zuständigen Mainzer Erzbischof nach Marburg ein und legt ihm eine Sammlung von Wunderberichten und einen von ihm selbst verfassten, kurzen Lebensabriss Elisabeths vor. Auch Elisabeths Schwiegerfamilie entdeckt sehr schnell, dass es nur von Vorteil ist, eine Heilige zu den eigenen Reihen zu zählen. Im Verlauf der nächsten Jahre werden weitere Protokolle von Verhören angefertigt, unter anderem das "Büchlein mit den Aussagen der vier Dienerinnen", in dem Frauen, die Elisabeth zu Lebzeiten eng verbunden waren, ihre Erinnerungen erzählen. Am Pfingsttag des Jahres 1235 ist es soweit: Papst Gregor IX. spricht Elisabeth in Perugia heilig. Konrad von Marburg erlebt diesen Tag nicht mehr: Schon zwei Jahre zuvor war er, der nicht nur Elisabeths religiöser Führer, sondern auch ein erbarmungsloser Ketzerjäger und Kreuzzugsprediger mit päpstlichem Auftrag gewesen war, im Auftrag von einigen Adligen, die er hatte verfolgen lassen, erschlagen worden. Am 1. Mai 1236 sieht Marburg die größte Menschenmenge, die je in die Stadt gekommen ist, manche - sicher etwas übertreibende - Berichte sprechen von einer Million Menschen. Eine kaum zu übersehende Zahl höchster geistlicher und weltlicher Würdenträger ist erschienen, an ihrer Spitze Kaiser Friedrich II. Er geht im Büßergewand barfuss hinter Elisabeths Sarg her, als sie zur Ehre der Altäre erhoben wird. Der Kaiser krönt den Schädel der Toten mit einer wertvollen Krone und birgt ihn in einem kostbaren Reliquiar. Schon vor der Heiligsprechung war mit dem Bau der Elisabethkirche in Marburg begonnen worden, dem ersten rein gotischen Bau, der in Deutschland errichtet wurde. Es sollte noch zwei Generationen dauern, bis sie 1283 geweiht wurde. Seitdem stellt sie das heraus ragende Erinnerungszeichen an Elisabeth von Thüringen dar. Mit den sterblichen Überresten ist die Geschichte wenig gnädig umgegangen: Um 1250 wurden sie in einen prunkvollen Schrein überführt, der noch heute in der Elisabethkirche steht. Nachdem im Verlauf der Jahrhunderte immer wieder kleine und größere Teile entnommen wurden, machte Landgraf Philipp der Großmütige von Hessen, selbst ein Nachfahre Elisabeths, der von ihm abgelehnten Heiligenverehrung ein Ende, indem er die letzten Reste Elisabeths 1539 entfernen und an einem unbekannten Ort beisetzen ließ. Mit letzter Sicherheit lässt sich nicht sagen, was aus den Reliquien wurde. ______________________________________________________________________________________ -7Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. Frauenhilfe zum Selbermachen ______________________________________________________________________________________ Ob ein heute in Wien liegender Schädel authentisch ist, oder einer in Viterbo; ob das kostbare Reliquiar in Stockholms Reichsmuseum wirklich das von Elisabeth ist; ob nicht vielleicht Schädel und Knochen bis heute unentdeckt tatsächlich im Boden der Elisabethkirche ruhen? Ob die Antworten auf diese Fragen wirklich von Bedeutung sind, mag jeder und jede Einzelne für sich entscheiden. Ohne Belang sind sie dafür, was Elisabeth gewirkt hat und bis heute wirkt. Noch immer ist sie eine der populärsten katholischen Heiligen, noch immer erfreut sie sich vor allem in Hessen und Thüringen aber auch in evangelischen Kreisen großer Bekanntheit und Beliebtheit. Ob wir uns für sie als historische Figur interessieren, ob wir uns von ihrer Radikalität faszinieren lassen, ob wir ihre tiefe Menschlichkeit bewundern, ob wir versuchen, ihre Religiosität zu begreifen, ob wir ihrer Spiritualität nachfühlen: Elisabeths Leben sowie Nachleben und das, was wir darüber wissen und zu wissen glauben, geben in ihrer schillernden Fülle viele Antworten, aber auch viele neue Rätsel auf. Das ist der Grund, warum sie uns immer wieder neu und unmittelbar begegnet, warum sie trotz der 800 Jahre, die seit ihrer Geburt in Ungarn vergangen sind, uns immer neu herausfordert. Nehmen wir die Herausforderung an! Dr. Jürgen Römer, 2006 Dieses Dokument stammt von der Website 800-jahre-elisabeth.de zum Elisabethjahr der evangelischen Kirchen und Diakonischen Werke in Hessen. ______________________________________________________________________________________ -8Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. Frauenhilfe zum Selbermachen ______________________________________________________________________________________ „Barmherzigkeit und Gerechtigkeit“ Elisabeth von Thüringen als Verbindungsfrau zur Diakonie Elisabeth: eine diakonische und ökumenische Verbindungsfrau Elisabeth von Thüringen ist eine besondere Frau. Vor mehr als 800 Jahren geboren hat sie Impulse gegeben und Maßstäbe gesetzt bezüglich der barmherzigen Zuwendung zu den Menschen und für ein Gerechtigkeitsempfinden, das bis heute auch eine politische Komponente hat. • Was gibt uns die Berechtigung, Elisabeth direkt mit unseren ökumenischen, politischen, diakonischen Anliegen zu verbinden? • Welche Wirkung ihres Lebens hat Brücken durch die Zeit gespannt? Was erscheint uns nachlebenswert? • Welche Züge dieser Frau, die wir nur begreifen können, wenn wir sie in ihrer Christusliebe, ihrer Leidenschaft für das Leben und ihrer Sehnsucht nach Gerechtigkeit sehen, beeindrucken uns heute? Diesen Fragen wollen wir nachgehen. Doch zunächst hören wir auf einen Impuls zur Biographie Elisabeths. Impuls: Wir erinnern heute an eine besondere Frau - an Elisabeth von Thüringen, die vor mehr als 800 Jahren geboren wurde. Von ihr wird folgende Geschichte erzählt: Es heißt, Elisabeth wollte ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten aus Raub und Plünderung der Armen. Während sie am Fürstenhof lebte, wurde ein neues Steuersystem eingeführt und dem Fürst wurde das Recht gegeben auf die Ernte der armen Leute Steuern zu erheben. Elisabeth erkundigte sich bei Tisch immer nach der Herkunft der aufgetragenen Speisen und wollte wissen, ob sie aus den rechtmäßigen Gütern des Landgrafen stammen oder ob sie erpresst worden seien. Kamen die Speisen aus landgräflichem Besitz, der Wein aber war erpresst, so sagte sie zu ihren Mägden: „Heute werden wir nur essen können.“ Waren dagegen die Speisen erpresst, während der Wein aus den Weinbergen des Landgrafen stammte, sagte sie: “Heute werden wir nur trinken können.“ Erfuhr sie aber, dass beides redlich erworben war, klatschte sie in die Hände und rief fröhlich: „Wohl uns, heute können wir essen und trinken.“ Sagte man ihr aber, Speisen und Wein seien unrechtmäßig erworben, dann lehnte sie alles ab und saß hungernd am Tisch und ließ sich durch nichts davon abbringen.“ Quelle: F. Steffensky, Spiritualität und soziales Handeln - Geschichten zur Vergegenwärtigung der Erinnerung , in: M. Schibilsky/B. Hofmann(Hg), Spiritualität in der Diakonie, 2001, S. 77) Elisabeth lebte von 1207 bis 1231. Sie war eine Frau des Mittelalters. Was wir von ihr wissen, stammt fast ausschließlich aus den Akten des Heiligsprechungsprozesses - die Episoden aus ihrem Leben wurden sehr sorgfältig ausgewählt. Sie sollten allen Nachweis für ein vorbildliches Leben, für das Leben einer Heiligen sein. ______________________________________________________________________________________ -9Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. Frauenhilfe zum Selbermachen ______________________________________________________________________________________ Auch wenn die ganze Überlieferungsgeschichte von den Interessen einer übermächtigen Kirche geleitet war, tritt uns hinter den Erzählungen eine erstaunlich vitale und eigenwillige Frau entgegen. Elisabeth war eine Frau des Mittelalters: Arme und Armut gehörten in die Gesellschaftsordnung, die auch sie als gottgegeben ansah. In den überlieferten Geschichten geht es nicht um die Armen - die sind einfach da. Es geht um Elisabeth. Wir erfahren, dass sie Teil einer strengen Gesellschafts- und Familienordnung war. Als Ehefrau eines Landgrafen hatte sie eine Rolle zu spielen. Sie hat diese gesellschaftlichen und kirchlichen Regeln nicht in Frage gestellt und nicht gesprengt - sonst wäre sie nicht heilig gesprochen worden. Sie hat sie für sich interpretiert und ausgestaltet. Allerdings hat sie dabei in den Augen ihrer Zeitgenossen die Grenzen der Etikette und des guten Geschmacks überschritten. Das macht sie so einzigartig und auch nach Jahrhunderten noch zur Herausforderung für alle, die danach fragen, wie die Grundsätze christlicher Nächstenliebe im konkreten Alltag gelebt werden können. Hinter der kleinen vorgelesenen Geschichte steckt die scheinbar schlichte Erkenntnis: Wenn den Bauern Unrecht geschieht, darf und kann das die Reichen und Wohlsituierten nicht unberührt lassen. Sie können nicht weitermachen wie bisher. Wir wissen, dass diese Erkenntnis nur scheinbar schlicht ist: Wer fragt sich schon beim Einkauf im Supermarkt, unter welchen Bedingungen die Waren im Einkaufswagen produziert wurden - und wer würde auf eine solche Frage eine vernünftige Antwort bekommen? Elisabeth hat genau geschaut und nachgeforscht, was auf ihren Tisch kam. Das war vermutlich ein neuer Stil auf der Wartburg: Knechte und Mägde mussten recherchieren, unter welchen Bedingungen Brot und Wein produziert wurden und herausfinden, wer darunter litt oder dabei ein ordentliches Auskommen fand. Von der Antwort hat Elisabeth das eigene Verhalten abhängig gemacht. Sie hat zeichenhaft auf Unrechtsstrukturen aufmerksam gemacht und von den unrechtmäßig erworbenen Gütern nicht getrunken oder gegessen. Das war kein Tick oder eine von vielen Optionen, es war existentiell für sie: Christsein geht nur, wenn das Wohl der anderen, v.a. das der Schwachen und Armen mit bedacht wird und alles Mögliche getan wird, um die Not zu lindern und die Armut zu überwinden. Für den Fairen Handel gibt es viele Begründungen - auch solche, die mit Religion oder Christentum nichts zu tun haben. Es gibt aber auch eine christliche, die erstaunlicherweise heute nicht viel anders lautet als vor 800 Jahren: Wir können bei unserem Handeln - und sei es noch so alltäglich - nicht davon absehen, welche Folgen es für unsere Nächsten hat - und in einer globalisierten Welt können diese Nächsten in weiter Ferne leben. (Text aus der Andacht zur Fairen Woche 2007: Tu deinen Mund auf für die Stummen und für die Sache aller, die verlassen sind. Sprüche 31,8) Impuls zur Gruppenarbeit: Elisabeth von Thüringen verbindet Ihr Christinnensein und ihr Gerechtigkeitshandeln miteinander. In weltweiter ökumenischer Verbundenheit spielt die Frage nach den Optionen für ein anderes Leben bis heute eine Rolle. ______________________________________________________________________________________ - 10 Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. Frauenhilfe zum Selbermachen ______________________________________________________________________________________ Die sieben Werke der Barmherzigkeit zeugen davon: Die klassische Aufzählung umfasst sieben Werke der Barmherzigkeit: 1. Hungrige speisen 2. Durstige tränken 3. Fremde beherbergen 4. Nackte kleiden 5. Kranke pflegen 6. Gefangene besuchen 7. Tote bestatten Biblische Grundlage: Gruppenarbeit: Die Reihenfolge der ersten sechs Werke folgt der Aufzählung aus der sog. Endzeitrede Jesu in Mt 25, 34 - 46 (Anlagen 10 + 11). Das siebte Werk wurde vom Kirchenvater Lactantius im 3. Jahrhundert im Bezug auf das apokryphe Buch Tobit (1, 17) (bzw. Tobias 1, 20) hinzugefügt und hat sich in der Folge als Bestandteil der Sieben Werke der Barmherzigkeit etabliert, obwohl es der Aussage Jesu widerspricht, die Toten sollten die Toten begraben (Mt 8, 22). Handlungsorte der Gerechtigkeit in der Evangelischen Frauenhilfe: Die Ausrichtung der Werke der Barmherzigkeit stellt eine Verbindung dar zur Arbeit des Verbandes der Evangelischen Frauenhilfe in Westfalen seit seiner Gründung. Die Akzente haben sich verschoben. Der wichtige Teil der Anti-Gewalt-Arbeit ist in den vergangenen zwanzig Jahren stark geworden. Beispiele aus diesem Bereich der Frauenhilfe-Arbeit in Westfalen stehen für das Engagement für Gerechtigkeit: • Die Blumenkampagne (Anlage 12) • Die Beratungsstelle NADESCHDA für Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution (Anlage 13) • Die Ausstellung „Rosenstraße 76“ zu häuslicher Gewalt (Anlage 14) Anweisung für die Gruppenarbeit: Bilden Sie zu jedem der drei Handlungsfelder Arbeitsgruppen. Händigen Sie den Arbeitsgruppen die Anlagen 12, 13 und 14 aus. Bitten Sie die Gruppen, sich mit dem Impuls zu dem jeweiligen Handlungsfeld zu beschäftigen und Verbindungslinien zu Elisabeth von Thüringen zu ziehen. Gruppenarbeit: ca. 20 Minuten Danach kurzer Austausch im Plenum durch Berichterstatterinnen aus jeder Gruppe. ______________________________________________________________________________________ - 11 Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. Frauenhilfe zum Selbermachen ______________________________________________________________________________________ Impuls: Hinweis für die Leiterin: Impuls für eine Gruppenarbeit: Gruppenarbeit: zu einer 2. Arbeitsgruppenphase Neben Handlungsfeldern bzw. Handlungsorten braucht es Zeiten der Gerechtigkeit. Denken Sie bitte darüber nach, wann im Kirchenjahr Frauenhilfe-Gruppen die Themen „Barmherzigkeit und Gerechtigkeit“ in besonderer Weise aufnehmen können. Austausch in Gruppen: 10 Minuten Einbringung ins Plenum: 20 Minuten mit Austausch im Plenum Mögliche Vorschläge zu „Zeiten der Barmherzigkeit und Gerechtigkeit“ sind: • Gestaltung der Fastenzeiten, z.B. durch die Impulse von „Andere Zeiten“ • Der Kollektensonntag: Judika (Gott, schaffe mir Recht! - Material zur Gestaltung des Gottesdienstes liegt beim Landesverband der Evangelischen Frauenhilfe vor) • Gestaltung des Internationalen Frauentages am 8. März • Gestaltung des Weltgebetstages am 1. Freitag im März • Gestaltung des Erntedankfestes unter den Stichworten „Barmherzigkeit und Gerechtigkeit“, z.B. Informationen über die TafelBewegung, über die Auswirkungen der Globalisierung auf die Versorgung mit Nahrungsmitteln weltweit, z.B. die Nutzung landwirtschaftlicher Anbauflächen zur Energiegewinnung • Gestaltung des Buß- und Bettages • Gestaltung des 25. November, Internationaler Tag „Nein zu Gewalt gegen Frauen“ Welche Aktionen zu welchen Anliegen möchten Sie konkret mit Ihrer Gruppe, mit Ihrer Gemeinde planen, um das Verhältnis von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit in Ihrer eigenen Gruppe/Gemeinde lebendig werden zu lassen? ca. 10 Minuten Sammeln der in der Gruppe erarbeiteten Vorschläge. Austausch im Plenum Abschluss. Von Elisabeth und ihrer Form des anderen Lebens haben wir uns anregen lassen, gemeinsam über Wege zu mehr Gerechtigkeit, Wege zur Überwindung von Gewalt nachzudenken. Solange unsere Welt nicht gerecht ist, braucht es Menschen, denen das Geschick der anderen nicht gleichgültig ist. Elisabeth von Thüringen war einer dieser Menschen. Im Buch „Gottescourage“ wird danach gefragt, weshalb ein ganz ähnlicher Zug in der Beschreibung des Lebens von Heiligen das überströmende Handeln der Liebe und Barmherzigkeit ist. Da heißt es: „Die Geschichten wiederholen sich, weil der Bedarf der Welt nach Liebe noch nicht gestillt ist. Unsere Welt kann nur existieren, wenn Menschen da sind, die immer wieder das Alte tun: ______________________________________________________________________________________ - 12 Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. Frauenhilfe zum Selbermachen ______________________________________________________________________________________ „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Unsere Welt steht und fällt mit der „Monotonie“ verschwenderischer Liebe. Sicher wäre es gut, wenn die Strukturen unserer Welt gerecht wären. Liebe ersetzt gerechte Verhältnisse nicht. Aber bis diese geschaffen sind, bleibt die Liebe die letzte Zuflucht. Sie allein kann die Lücken füllen, in denen es noch keine Gerechtigkeit gibt.“ (S. 101) Lied: „Wenn das Brot, das wir teilen …“ (EG 667) oder ein anderes aus den Vorschlägen (Anlage 7) Fürbittengebet.: (Anlage 7) (nach einer Arbeitseinheit von Pfarrerin Katja Jochum) ______________________________________________________________________________________ - 13 Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. Frauenhilfe zum Selbermachen ______________________________________________________________________________________ „Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Geschwistern…“ Andacht zu Matthäus 25, 31 - 46 Einleitung und Hinweise: Mt. 25, 31 - 46: Der Text Matthäus 25, 31 - 46 kann nach der Luther-Übersetzung (Anlage 10) bzw. der Bibel in gerechter Sprache (BigS) gelesen werden (Anlage 11) oder in übertragener Form, gesprochen von sieben verschiedenen Frauen, die jeweils ein Symbol vorstellen zu dem von ihnen vorgetragenen Werk der Barmherzigkeit. Ein Beispiel dieser Form der Lesung aus der Gemeinde Opherdicke, Kirchenkreis Unna, finden Sie im Folgenden. Die Symbole sind je nach Tradition und örtlichen Gegebenheiten und Erfahrungen der Frauen austauschbar. - Lesung mit Symbolen Ich bin hungrig gewesen… In meiner Hand halte ich eine Papiertüte. Sie ist jetzt etwa 60 Jahre alt. Damals, nach dem Krieg, wurde diese Tüte von Konfirmanden gebastelt. Es war die teure Zeit, in der alle nicht viel hatten. Der damalige Gemeindepfarrer machte sich dann in der Vorweihnachtszeit auf den Weg. Er besuchte die Frauen der Frauenhilfe und bat um weihnachtliches Gebäck. Gerne gingen die Frauen hier zur Hand, backten Spritzgebäck und Spekulatius, mit denen dann die Türen gefüllt wurden. Zu Weihnachten verteilte der Gemeindepfarrer diese Türen, so dass alle Kinder zu Weihnachten eine Tüte mit Naschereien bekamen. Diese Türen waren aber für uns weit mehr als bloße Nascherei. Sie waren uns ein Stück echter Weihnachtsfreude. Ich bin durstig gewesen… In meiner Hand halte ich einen Krug mit Wasser. Das Wasser aus dem Ruhrtal ist seit je her für die Menschen hier am Ort ein unverzichtbares Lebensmittel. Uns Frauen der Frauenhilfe ist es ein Symbol für die Tatkraft, die jede Frauengeneration in den zurückliegenden Jahren in das Gemeindeleben eingebracht hat. Hier ist die Selbstverständlichkeit zu nennen und die Freude zu bewundern, mit der zu den verschiedensten Anlässen das Gemeindehaus bewirtschaftet wurde. Ich bin ein Fremder gewesen… Meine Erinnerungen verbinden sich mit dieser Nachttischlampe. Im Sommer 1953 kam ich auf Urlaub nach Hengsen in die Vierbeck, zu Familie Cerkus. Hier habe ich meinen Mann kennen gelernt. Das war für mich ein Grund in Hengsen zu bleiben. 1963 mussten wir die Vierbeck für die Bundeswehr räumen. Durch das Wohnungsamt bekamen wir das Haus in der Brauckstraße. zugeteilt. Um alle Zimmer wohnlich einzurichten fehlten uns noch einige Möbel. Meine Nachbarin kam am anderen Tag, um sich vorzustellen. Sie erkannte sofort meine Not. Noch am gleichen Tage brachte sie eine Nachttischlampe und einige Möbelstücke. Ich war überglücklich. Jetzt hatte ich einige Sorgen weniger. ______________________________________________________________________________________ - 14 Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. Frauenhilfe zum Selbermachen ______________________________________________________________________________________ Ich bin nackt gewesen… In meiner Hand halte ich ein Paar Söckchen – und hier vorne steht ein altes Spinnrad. Früher, in der Zeit der beiden großen Kriege, haben die Frauen der Frauenhilfe für die Männer im Feld gestrickt. Heute sind diese schlimmen Zeiten vorbei. Gott sei Dank! Unsere Strickkunst hat eine neue, ganz wunderbare Bestimmung gefunden. Seit einigen Jahren schon stricken wir diese Söckchen für unsere Täuflinge. Es ist ein Gruß und ein Stück gemeindlicher Verbundenheit, die wir mit diesem Geschenk zur Taufe zum Ausdruck bringen möchten. Ich bin krank gewesen… In meiner Hand halte ich ein Kreuz. Es ist das unverkennbare Symbol unseres Glaubens, unserer Hoffnung und unseres Auftrages, die Liebe Gottes in diese Welt zu tragen. In dankbarer Erinnerung ist uns bis heute unsere Gemeindeschwester Martha. Sie war natürlich auch Mitglied unserer Frauenhilfe und wusste, in welchen Familien Kranke zu besuchen waren. Unermüdlich war sie unterwegs, zu Fuß und mit dem Fahrrad. Die Bezirksfrauen taten in dieser Zeit auch das ihre, um nahe bei den Menschen zu sein. Ich bin im Gefängnis gewesen… Dieses Stück Brot verbindet sich für mich mit einer alten Erinnerung. Ich war noch ein Kind und die Wirren des Krieges hatten auch Hengsen erreicht. Im Ruhrtal mussten russische Kriegsgefangene harte Arbeit leisten. Die Kontaktaufnahme war allen bei Strafe verboten. Dennoch gab es auch in der Bevölkerung auch Gedanken der Unterstützung. An einem Tag, als ein Gefangener an unserer Bäckerei vorbeigeführt wurde, gelang es mir, ihm ein Stück Brot zuzustecken. Das liebevolle Gedenken an die Verstorbenen… In meinen Händen halte ich das Gesangbuch meiner Großmutter. Sie hat mit diesem Buch gelebt und konnte die meisten Lieder auswendig. Ein besonderer Schatz darin sind die Trostlieder von Paul Gerhardt. Strophen daraus wurden gesprochen oder auch gesungen, wenn eine Frauenhilfeschwester verstorben war. Bis heute gedenken wir in unseren Frauenhilfestunden und zum Jahresfest unserer verstorbenen Mitglieder und schließen sie ein in unser Gebet. ______________________________________________________________________________________ - 15 Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. Frauenhilfe zum Selbermachen ______________________________________________________________________________________ Andacht über Matthäus 25, 40 „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Geschwistern, das habt ihr mir getan.“ Liebe Frauen der Frauenhilfe, „was ihr getan habt …“ - in der Evangelischen Frauenhilfe spüren wir diesem Wort nach, das zu Beginn der 1900er Jahre auf den Mitgliedskarten und Gründungsurkunden der „Frauenhülfe des Evangelisch-Kirchlichen Hülfsvereins“ erscheint. Links auf den Mitgliedsurkunden das Bild der Kaiserin Auguste Viktoria, der Gründerin bzw. Ideengeberin der Evangelischen Frauenhilfe, dazwischen Blumenranken, die Krone und in verschnörkelten Buchstaben: St. Matthai 25, 40 - ein Wort aus der Rede vom Endgericht, das nur bei Matthäus aufgeschrieben ist. In Aufnahme eines Prophetenwortes aus Jesaja 58 sagt Jesus, worum es geht; worum es in seiner Nachfolge geht; worum es am Ende im Gericht Gottes geht. Es geht darum: Mit Hungrigen dein Brot teilen, umherirrende Arme führst du ins Haus. Wenn du Leute nackt siehst, bekleidest du sie, vor deinen Angehörigen versteckst du dich nicht - so Jesaja. Ja, darum geht es. Es geht um das Teilen des Brotes mit den Hungrigen, es geht um die Zuwendung zu den Nackten und umherirrenden Armen, es geht um das Tränken der Durstigen, um die Aufnahme der Fremden, um das Besuchen der Gefangenen und der Kranken, um die würdige Bestattung der Verstorbenen. Als Werke der Barmherzigkeit sind diese in die Tradition der Kirchen eingegangen. Von Caravaggio und Montalier im 17. Jahrhundert bis zur „Gebrauchskunst“ in den Mutterhäusern des 19. Jahrhunderts haben die Werke der Barmherzigkeit ihren künstlerischen Ausdruck gefunden. Die Evangelische Frauenhilfe wurde bei ihrer Gründung durch Kaiserin Auguste Viktoria unter dieses Wort gestellt; die Schwestern der FrauenhilfeSchwesternschaften tragen Mt 25, 40 auf Brosche und Kreuz. Das in vielfältiger Weise begangene Elisabeth-Jahr hat zahllose Menschen an die Orte des Lebens der heiligen Frau, in Kirchen und Tagungshäuser und in die Klöster der „Barmherzigen Schwestern von der heiligen Elisabeth“ geführt, allein in das Kloster in Essen im Ruhrgebiet mehrere tausend. Geht es nicht darum? Die Schlichtheit mag anregend sein, die in der Frage und in der Antwort liegt; die Unmittelbarkeit mag anrührend sein und inspirierend. Die Werke der Barmherzigkeit sind individuell und spirituell konzentriert und weisen zugleich über sich selbst hinaus. Das Tun der Barmherzigkeit geschieht nicht aus dem Gedanken an Belohnung, sondern weil herzliches Erbarmen mit den Notleidenden (misericordia) den Menschen ergreift. Aus diesem Ergriffensein sind „Lesarten der Welt“ entstanden, Grundlegenden, Grunderkenntnisse unserer Tradition. Fulbert Steffensky beschreibt, dass Bilder, in denen das verwundete Leben beachtet wird, uns eine solche „Lesart der Welt“ vermitteln. Er erzählt eine dieser Legenden aus dem Leben der heiligen Elisabeth von Thüringen: „Auf ihrem Weg nach Eisenach sah Elisabeth mitten in einem Unwetter auf einem Holzstoß ein Kind sitzen, das in Lumpen gekleidet war und aus dessen Kopf zwei Augen sie anblickten, als ob sie die Not der ganzen Welt enthielten. Sie neigte sich zu dem Kind und fragte: ‚Kind, wo ist deine Mutter?’ Da wuchs an dieser Stelle ein Kreuz empor, an dem mit ausgespannten Armen Christus hing, der sie mit den Augen des Kindes ansah.“ ______________________________________________________________________________________ - 16 Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. Frauenhilfe zum Selbermachen ______________________________________________________________________________________ Eine Legende, eine der Grundlegenden unserer Tradition, nicht im Sinne einer erbaulichen Geschichte erzählt zur ermahnend moralischen Ermunterung. Legende heißt auch eine „Lesart“, eine verpflichtende Lesart der Welt, in den Augen des gequälten Kindes die Augen Christi zu lesen. „… in der Nacktheit des Bettlers den frierenden Christus erkennen, den durstigen, den fremden, den gefangenen Christus in dem Hungernden, Dürstenden, dem Fremden erkennen“ (Mt 25). „… was, wenn nichts mehr zu lesen ist, wenn keine Elisabeth die Augen Christi in den Augen des Kindes lesen kann. Der neue Feind der Erinnerung könnte die ungestörte Heutigkeit der Subjekte sein …. Man kann die Erinnerung kostenlos begraben. Es gibt auch die Würdelosigkeit, nicht mehr als ein heutiger zu sein, es gibt auch die Würdelosigkeit, nicht mehr als ein hiesiger zu sein, das heißt, nicht eine lange Erinnerung zu haben, nicht eine Botschaft aus der Ferne, die uns nie ganz hier zu Hause sein lässt.“ (Fulbert Steffensky in einem Vortrag zum Thema „Soziales Handeln“ in: Spiritualität in der Diakonie, 2000) Eine solche Botschaft aus der Ferne sind auch Jesaja 58 und Matthäus 25,40; sind die Legenden der heiligen Elisabeth. Sie vermitteln uns eine Lesart der Welt, die uns nie ganz zu Hause sein lässt, solange die „Geringsten“ uns mit den Augen Christi ansehen. Diese „Lesart“ spiegelt sich auch in den Gruppenberichten, Briefwechseln und Dokumenten der Frauenhilfen. Von Liebestätigkeit und Armenpflege ist dort die Rede, von Krankenbesuchen, Pflegeeinsätzen und Nachtwachen, von der Unterstützung Bedürftiger. Unzählige Besuche von Bezirksfrauen werden erwähnt, Sach- und Geldmittel zur Verfügung gestellt, Kindergärten und Mittagstische eingerichtet, Strümpfe gestickt und Geld gesammelt. Geld, in kleiner Münze meist, das in der Gemeinschaft der kleinen Münzen viel zu leisten in der Lage war und ist. Immer wieder hören wir eindrucksvoll, welche „Lesarten“ Frauenhilfe-Frauen eingefallen sind, wann Menschen durch sie Trost und Hilfe, Mitleid und Erbarmen erfahren haben, unmittelbare, persönliche Zuwendung, wenn sie notwendend nötig war. Worum also geht es? Es geht um Mitleidenschaft, es geht um voraussetzungslose Zuwendung, es geht um Barmherzigkeit. Die Hungernde oder der Arme, die Gefangene oder der Dürstende . sie müssen weder ihre Berechtigung nachweisen noch eine Begründung geben und die, die sich ihnen zuwenden, brauchen kein Bekenntnis abzulegen. Es geht um Begegnung und Beziehung, es geht um das Besuchen, das Brot, das Wasser. Es geht um Mitleiden, um Caritas, um Liebe. Es geht nicht um Sozialleistungen und dokumentationsfähige Behandlung von „Fällen“. Es geht nicht um Leistung, sondern um Liebe, es geht nicht um Fälle, sondern um die Allernächsten, die Brüder und Schwestern. Jesus rückt in Matthäus 25 etwas in den Mittelpunkt, das bei uns eher übersehen und gering geschätzt wird: die unmittelbare Zuwendung, die Barmherzigkeit, die den Kontakt nicht scheut, die Liebe, die sich selbst einbringt. Den höchsten Dienst, den größten Gottesdienst, den wir Gott erweisen können, haben wir an anderen Menschen zu tun: unmittelbar, barmherzig, liebevoll - mit Herzen, Mund und Händen. Amen. ______________________________________________________________________________________ - 17 Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. Frauenhilfe zum Selbermachen ______________________________________________________________________________________ „Diakonie und Barmherzigkeit in den Handlungsfeldern der Evangelischen Frauenhilfe“ Einleitung: In den Jahren 2006 und 2007 haben wir die Jubiläen der Schwesternschaft der Evangelischen Frauenhilfe, des Frauenheims Wengern und der Beratungsstelle NADESCHDA gefeiert und bedacht. Wir haben uns die Wurzeln und die Tradition unseres sozialdiakonischen Engagements bewusst gemacht. Wir sind der Frage nachgegangen, welches „Profil“ heutiger Frauenhilfe-Arbeit sich aus der Tradition und der Beschreibung unseres gegenwärtigen Selbstverständnisses entwickeln lässt. Einige Impulse zu dieser Profildiskussion geben wir in dieser Arbeitshilfe an Sie weiter unter der Überschrift: „Diakonie und Barmherzigkeit in den Handlungsfeldern der Frauenhilfe“ - und beschreiben damit zugleich eine gesamtverbandliche Herausforderung, unser Profil auf allen Ebenen unserer Frauenhilfe zu beschreiben, von den Gemeindegruppen bis hin zum Landesverband. Impulsreferat: „Liebestätigkeit“, diakonisches Handeln ist die Grundausrichtung, die Gründungsabsicht der Evangelischen Frauenhilfen, an vielen Orten entstanden und zum „weiblichen“ Teil weiterentwickelt aus den evangelisch-kirchlichen Hülfsvereinen. Die Evangelische Frauenhilfe ist damit Teil einer kirchlich-sozialen Bewegung im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die entstand als Antwort auf die Herausforderungen ihrer Zeit und als Ergänzung, Gegenüber, häufig auch als Bewegung gewordene Kritik an der „Regelorganisation“ Kirche und an dem ausschließlich an Verkündigung ausgerichteten und bürgerlich orientiertem Gemeindeleben. Hinzu kamen Impulse zu diakonischem Handeln aus der Erweckungsbewegung und der Einfluss englischer Sozialreformer. Es wurden Asyleinrichtungen für weibliche Strafgefangene, Versorgungshäuser, Stationen für weibliche Geschlechtskranke, Strick- und Kleinkinderschulen gegründet. Es wurden „Kinderdiakonissen“ (1836 die erste) und Gemeindediakonissen (1844 die erste in Jöllenbeck) entsandt. 1844 wird in Neuendettelsau eine Bildungsanstalt für Mädchen eingerichtet, aus der später das Mutterhaus entsteht. Auch die nichtkonfessionelle Schwesternbildung entfaltet sich, z.B. die der Vaterländischen Frauenvereine. 1886 hat Kaiserswerth 57 Mutterhäuser. Kaiserin Auguste Viktoria beruft 1889 eine „Konferenz von Sachverständigen und Freunden des Evangelischen Diakonissenwerks“ ein. Die vorhandenen Diakonissen können den wachsenden Bedarf vor allem häuslicher Kranken- und Altenpflege nicht mehr decken. Die Unzahl sozialer Probleme in den entstehenden Industrieregionen schon gar nicht. Der Bedarf an ehrenamtlicher Ergänzung durch „freiwillige, geschulte und organisierte Liebestätigkeit“ wurde größer und „Hilfsschwestern“, diakonische Schwestern als Hilfe und Ergänzung der Diakonissentätigkeit wurden benötigt. ______________________________________________________________________________________ - 18 Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. Frauenhilfe zum Selbermachen ______________________________________________________________________________________ Diese Entwicklung bildet den Hintergrund für die Entstehung der diakonischen Verbandsschwesternschaften. Der Status der „Hilfsschwestern“ prägt bis heute das Verhältnis zwischen Diakonissen und diakonischen bzw. Verbandsschwestern, zwischen dem Zehlendorfer Verband und dem Kaiserswerther Verband. Nicht zuletzt hat das Selbstverständnis als „Hilfsschwester“ einen zugeordneten bzw. untergeordneten Status zu haben, das Selbstverständnis und die Spiritualität der Verbandsschwesternschaften geprägt. Bei all diesen sozialen, diakonischen Bewegungen spielten immer auch missionarische und/oder politische Interessen eine große Rolle. Der Leitbegriff im protestantischen Bereich war „Innere Mission“. Der Impuls der Kaiserin zur Gründung der Evangelischen Frauenhilfe war auch motiviert durch die Absicht, die Frauen nicht an die Sozialdemokratie, die Gewerkschaften und die Frauenbewegung zu verlieren, sondern sie unter dem Evangelium zu sammeln. Für diakonisch Engagierte war der Schritt in die Politik oftmals eine fast zwangsläufige Folge. Nicht nur die Wunden zu verbinden, sondern auch die politischen Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass sich Lebensund Arbeitsbedingungen der Menschen verbessern konnten und staatliche Gesetzgebung, staatliche Hilfen und innere Mission ineinandergreifen konnten. Dass sich die Lebensbedingungen vor allem für die unteren Schichten der Gesellschaft und die Gefährdeten verbesserten war ein entscheidender Ansatz z.B. Wicherns, den er in einer Denkschrift und in zahlreichen Reden entfaltete: „Es tut Eines not, daß die Evangelische Kirche in ihrer Gesamtheit anerkenne: Die Arbeit der Inneren Mission ist mein, dass sie ein großes Siegel auf die Summe dieser Arbeit setze: Die Liebe gehört mir wie der Glaube. Die rettende Liebe muß ihr das große Werkzeug werden, womit sie die Tatsache des Glaubens erweist. Die Liebe muß in der Kirche als die helle Gottesfackel flammen, die kund macht, dass Christus eine Gestalt in seinem Volk gewonnen hat. Wie der ganze Christus im lebendigen Gottesworte sich offenbart, so muß er auch in den Gottestaten sich predigen, und die höchste, reinste, kirchlichste dieser Taten ist die rettende Liebe. Wird in diesem Sinne das Wort der Inneren Mission aufgenommen, so bricht in unserer Kirche jener Tag ihrer neuen Zukunft an.“ (Wichern auf dem Kirchentag in Wittenberg, 1848) Die Rede Wicherns auf dem Wittenberger Kirchentag führte zu einer Resolution, die Arbeit der Inneren Mission zu den Aufgaben des Kirchenbundes zu rechnen. Der Resolution folgte die Gründung des „Zentralausschusses für Innere Mission“. Neben der Bindung zwischen Kirche und Innerer Mission verfolgte Wichern die Absicht, die soziale Frage durch Verbindung von Staatshilfe durch Gesetz, Selbsthilfe der Arbeiterschaft und „Bruderhilfe der Inneren Mission“ zu lösen. Diese Absicht blieb wirkungslos, wohl nicht zuletzt wegen der Bindung der Inneren Mission an das konservativ-monarchistische Bürgertum. ______________________________________________________________________________________ - 19 Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. Frauenhilfe zum Selbermachen ______________________________________________________________________________________ Diese Bindung der Inneren Mission und der evangelisch-kirchlichen Hülfsvereine nutzte die Kaiserin, um zur Gründung der Evangelischen Frauenhilfe und zur Sammlung der Frauen und Jungfrauen unter dem Evangelium aufzurufen. Diese Ausrichtung der Inneren Mission kritisierte Naumann, Vorsitzender der Deutschen Demokratischen Partei, Oberhelfer im Rauen Haus und Pfarrer der Inneren Mission in Frankfurt im Jahre 1891: „Solange die Innere Mission nur eine Helferin der Kranken, Arbeitslosen und Kinder ist, wird sie zwar unberechenbares Leid lindern, aber nicht so, wie die Denkschrift es wünscht, in die verbitterten Kreise der Arbeiter die versöhnende Kraft der Liebe hineintragen können. Sie muß auch Freundin der gesunden Arbeiter werden und wird dies auch können, wenn sie für Wohnungen sorgen hilft, für edle Volkserholung arbeitet; das Familienleben durch Hilfe bei Verschönerung der Zimmer, Verbesserung der Lektüre, wirtschaftliche Belehrung der Frauen, hygienische Belehrung der Mütter usw. fördert. Die Denkschrift verlangt von der Inneren Mission noch mehr: Förderung der Erwerbstätigkeit der Arbeiter. ‚Wir gestehen, dass wir dies Wort mit banger Freude lesen, mit Freude, weil es die Innere Mission auf jene Höhe hebt, an die schon Wichern dachte, als er in seiner Denkschrift von der inneren Kolonisation schrieb, mit einer gewissen Bangigkeit, weil wir nicht zu sagen wissen, wie diese Forderung des Zentralausschusses verwirklicht werden soll.“ (Naumann über Wicherns Denkschrift, in: Das soziale Programm der Ev. Kirche, 1891) So befand sich die Frauenhilfe von Anfang an in einem Spannungsfeld zwischen Kirche und Diakonie bzw. Innerer Mission, Staat und Politik. Dieses Spannungsfeld bzw. diese Konfliktlinien spielten auf den verschiedenen Ebenen eine unterschiedliche Rolle. An der Basis der Gemeinden eine andere als in der Auseinandersetzung über die Gründung um Provinzialverbände; in der kaiserinnen-unmittelbaren Evangelischen Frauenhilfe auf Reichsebene eine andere als in den Provinzen bzw. Provinzialsynoden. Ich erinnere an die Geschichte der Inneren Mission und die Gründungen der Evangelischen Frauenhilfen in den Provinzen deshalb so ausführlich, weil ich der Überzeugung bin, dass der Gründungsgeist, d. h. die Zeit, in der Institutionen entstanden sind, ihre gesamte Geschichte mit prägt. Die biblisch-theologische Grundlegung der Frauenhilfe-Arbeit und der Frauen-Hilfs-Schwestern wurde in Mt 25, 40 beschrieben: „Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“ Dieses Wort steht auf Gründungs- und Mitgliedsurkunden der Frauenhilfe-Gruppen und Frauenhilfe-Mitglieder und auf den Kreuzen unserer Schwestern (Mt 25 knüpft zum Teil wörtlich an das Prophetenwort in Jesaja 58, 6 - 12 an). ______________________________________________________________________________________ - 20 Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. Frauenhilfe zum Selbermachen ______________________________________________________________________________________ Die Werke, die den Gerichtsversen in Mt 25 vorangehen und als Kriterien für die Gerichtsentscheidung aufgezählt werden, sind: Hungrige speisen; Durstigen zu trinken geben; Fremde aufnehmen; Nackte bekleiden; Kranke besuchen; Gefangene besuchen. Sie sind als „Werke der Barmherzigkeit“ in die Tradition eingegangen. Ergänzt wurden die sechs Werke, die in Mt 25 aufgezählt werden, in den urchristlichen Gemeinden um das Werk der Totenbestattung. Bereits um 140 wird dieses siebte Werk der Barmherzigkeit in einer Verteidigungsschrift der christlichen Gemeinde erwähnt. So entstanden die berühmten „Sieben Werke der Barmherzigkeit“, die in diesem Jahr, im Elisabeth-Jahr, im Gedenken an die Heilige Elisabeth von Thüringen eine besondere Rolle spielen. Der Katechismus der katholischen Kirche unterscheidet noch einmal zwischen leiblichen und geistlichen Werken. Als geistliche Werke werden benannt: belehren, raten, trösten, ermutigen, vergeben, geduldig ertragen. Den leiblichen Werken wird in der katholischen Tradition noch „Almosen geben“ hinzugefügt. Die Kunstgeschichte gibt ein eindrucksvolles Zeugnis von der Bedeutung der Werke der Barmherzigkeit. Von Caravaggio und Montalier im 17. Jahrhundert bis zur „Gebrauchskunst“ in den Mutterhäusern des 19. Jahrhunderts finden die Werke der Barmherzigkeit ihren künstlerischen Ausdruck. Der anrührende Charakter der Werke der Barmherzigkeit liegt sicherlich zum einen in der individuellen und spirituellen Konzentration und zugleich in der über sich selbst hinausweisenden Bedeutung. Das Tun der Barmherzigkeit geschieht nicht aus dem Gedanken an Belohnung, sondern weil herzliches Erbarmen mit den Notleidenden (misericordia) den Menschen ergreift. Aus diesem Ergriffensein sind „Lesarten der Welt“ entstanden, Grundlegenden, Grunderkenntnisse unserer Tradition, die wir uns bewahren sollten. Fulbert Steffensky beschreibt, dass Bilder, in denen das verwundete Leben beachtet wird, uns eine solche „Lesart der Welt“ vermitteln. Er erzählt eine dieser Legenden aus dem Leben der heiligen Elisabeth von Thüringen: „Auf ihrem Weg nach Eisenach sah Elisabeth mitten in einem Unwetter auf einem Holzstoß ein Kind sitzen, das in Lumpen gekleidet war und aus dessen Kopf zwei Augen sie anblickten, als ob sie die Not der ganzen Welt enthielten. Sie neigte sich zu dem Kind und fragte: ‚Kind, wo ist deine Mutter?’ Da wuchs an dieser Stelle ein Kreuz empor, an dem mit ausgespannten Armen Christus hing, der sie mit den Augen des Kindes ansah.“ Eine Legende, eine der Grundlegenden unserer Tradition, nicht im Sinne einer erbaulichen Geschichte erzählt zur ermahnend moralischen Ermunterung. Legende heißt auch eine „Lesart“, eine verpflichtende Lesart der Welt, in den Augen des gequälten Kindes die Augen Christi zu lesen. „… in der Nacktheit des Bettlers den frierenden Christus erkennen, den durstigen, den fremden, den gefangenen Christus in dem Hungernden, Dürstenden, dem Fremden erkennen“ (Mt 25). ______________________________________________________________________________________ - 21 Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. Frauenhilfe zum Selbermachen ______________________________________________________________________________________ „… was, wenn nichts mehr zu lesen ist, wenn keine Elisabeth die Augen Christi in den Augen des Kindes lesen kann. Der neue Feind der Erinnerung könnte die ungestörte Heutigkeit der Subjekte sein …. Man kann die Erinnerung kostenlos begraben. Es gibt auch die Würdelosigkeit, nicht mehr als ein heutiger zu sein, es gibt auch die Würdelosigkeit, nicht mehr als ein hiesiger zu sein, das heißt, nicht eine lange Erinnerung zu haben, nicht eine Botschaft aus der Ferne, die uns nie ganz hier zu Hause sein lässt.“ (Fulbert Steffensky in einem Vortrag zum Thema „Soziales Handeln“ in: Spiritualität in der Diakonie, 2000) Die „Lesart der Welt“ verändern - so kann das Bemühen vieler - auch bei uns in der Frauenhilfe - verstanden werden, die in Aufnahme der jüdischen Traditionen, der hebräischen Bibel die Verknüpfungen zwischen Barmherzigkeit Gottes und Werken der Barmherzigkeit, Gerechtigkeit und Diakonie wahrzunehmen versuchen, zu verstehen, zu übersetzen und zu gestalten versuchen. Durch die hebräische Bibel zieht sich der unbedingte Wille Gottes, Gerechtigkeit zu schaffen, ein Leben in Fülle für alle Menschen. Gott ist anrührbar und anrufbar, Gott zeigt herzliches, liebendes Erbarmen. Und Menschen klagen dieses liebende Erbarmen, diese Zuwendung ein. Menschen klagen Gott an, wenn er sie ihnen versagt, weil Gott seine liebende Treue bekräftigt hat in dem Bund, den er mit den Menschen geschlossen hat. Daran hält Gott fest, macht immer wieder neue Versuche trotz aller Untreue der Menschen, seinerseits treu und vergebungsbereit seinen Weg der Gerechtigkeit mit den Menschen fortzusetzen. Treue, Gnade, Liebe und Erbarmen Gottes - sie liegen in den Begriffen und Geschichten des Alten Testamentes nahe beieinander. So sind Werke der Barmherzigkeit immer zugleich Werke der Gerechtigkeit. Es lässt sich in der hebräischen Bibel nicht trennen zwischen der individuellen, der spirituellen und der gesellschaftlichpolitischen Bedeutung „guter Werke“. Ziel Gottes ist Gerechtigkeit, Teilhabe-Gerechtigkeit für alle Menschen, die in seinem Einflussbereich, im Bündnis, im Bund mit ihm leben. Gott ist in seinem Bund „Partei der Armen“ (Willy Schottroff), Partei der Opfer, Partei der kleinen Leute. Das Heil ist das Heil für alle und es umfasst auch das materielle Wohl, das Auskommen der Menschen. Es kann nicht individualisierend und/oder spiritualisierend auf das persönliche Heil reduziert werden, obwohl auch die Einzelne, der Einzelne, eine Rolle spielt. Gottes liebendes Erbarmen gilt allen Menschen. Die politische Dimension wird bei den Propheten sehr deutlich. Bei ihnen spielt auch der Gedanke des Gerichts und der Strafe ebenso wie in den Psalmen eine große Rolle. Die Ansage des Gerichts bekräftigt die Absichten Gottes, benennt die Konsequenzen für die Untreue gegenüber Gott und den Menschen und setzt die Armen „ins Recht“. Jesus verbindet sich in Mt 25 mit den Armen, Hungernden, Dürstenden, Nackten, Gefangenen und Einsamen. Er sympathisiert mit ihnen. Ihr Leid ist sein Leid, in ihren Augen sind die Augen Christi zu sehen - um die Legende noch einmal aufzunehmen. ______________________________________________________________________________________ - 22 Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. Frauenhilfe zum Selbermachen ______________________________________________________________________________________ Im Gericht wird sich entscheiden, wie bedingungslos Menschen diese Mitleidenschaft Jesu angenommen haben, wie sie nicht um der guter Werke willen tätig geworden sind, zur Nächsten/zum Nächsten geworden sind, sondern weil Gott in Jesus Christus nicht mehr nur Partei der Armen ist, sondern sich „selbst entäußerte“ und ihre Gestalt annahm. Barmherzigkeit und Diakonie in der Frauenhilfe. Es geht wohl nach dem bisher Gesagten aus der Tradition, dem theologischen Grundverständnis und den zahllosen Erfahrungen von Frauenhilfe-Frauen und Frauenhilfe-Schwestern um unsere „Lesart der Welt“, um die Art und Weise, wie wir uns im Geflecht derer verorten, die als FrauenHilfe Teil einer Bewegung für Gerechtigkeit und Frieden und sorgsamen Umgang mit allen Ressourcen sind. ¾ Wir sollten unter uns den Mut, die Aufmerksamkeit, die Offenheit befördern, herzliches Erbarmen zu zeigen, unmittelbare Zuwendung, liebevolle Wahrnehmung, einfach weil wir am nächsten dran sind, weil wir die Nächsten sind. ¾ Wir sollten die diakonischen Bereiche der Frauenhilfe-Arbeit daraufhin betrachten, welche theologischen, spirituellen und politischen Aspekte, Botschaften, Bestandteile sie aufweisen, wo sie über sich selbst hinausweisen und „Lesarten“ der Welt, „Lesarten“ der Absichten Gottes, „Lesarten“ klarer Parteilichkeit sind. ¾ Barmherzigkeit und Diakonie, Gerechtigkeitshandeln und eine Spiritualität, die ins Recht setzt, gehören zum Profil der Frauenhilfe-Arbeit. Dieses Profil muss auf jeder Ebene des Verbandes, auf der Gemeindeebene und der Gruppenebene ebenso wie auf der Bezirks- und Stadtverbandsebene, ebenso wie im Landesverband und seinen Einrichtungen weiterentwickelt und beschrieben werden. Wir sind nicht evangelische Frauen in Westfalen, wir sind Evangelische Frauen-Hilfe in Westfalen. In der Diakonie, in der Hilfe liegen unsere Wurzeln. In der Diakonie, in der Hilfe liegt das Grundmuster unseres Verbandes. Die Formen, die Zielgruppen, die Einrichtungen, die Handlungsfelder haben sich geändert und werden sich ändern. Die Ausrichtung sollte auch in der Zukunft auf Gerechtigkeit zielen. ¾ Individuelle Hilfe, herzliches Erbarmen, politische und ökumenische Diakonie gehören untrennbar zusammen. Wenn Gerechtigkeit der cantus firmus ist, dann stehen alle Noten und Zeichen in Beziehung dazu. ______________________________________________________________________________________ - 23 Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. Frauenhilfe zum Selbermachen ______________________________________________________________________________________ Als Beispiel für die Lesart des Alten Testamentes Jesaja 58, 6 - 12 (nach Bibel in gerechter Sprache): 6 Ist nicht dies ein Fasten, wie es mir gefällt: Unrechtsfesseln öffnen, Jochstricke lösen, Misshandelte als Freie entlassen, jedes Joch zerbrecht ihr! 7 Geht es nicht darum? Mit Hungrigen dein Brot teilen, umherirrende Arme führst du ins Haus! Wenn du Leute nackt siehst, bekleidest du sie, vor deinen Angehörigen versteckst du dich nicht. 8 Dann wird dein Licht wie die Morgenröte hervorbrechen, eilends wächst deine Wunde zu. Dann wird deine Gerechtigkeit vor dir hergehen, der Glanz Gottes sammelt dich auf. 9 Dann wirst du rufen, und Gott wird dir antworten. Du schreist um Hilfe, und Gott wird dir sagen: „Hier bin ich!“ Wenn du aus deiner Mitte das Joch wegräumst, das Fingerzeigen und die üble Nachrede, 10 und wenn du dich ganz den Hungrigen hingibst und die Niedergedrückten sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufstrahlen, deine Dunkelheit wird der Mittag sein. 11 Dann wird dich Gott beständig leiten, den unbändigen Durst deiner Lebenskraft stillen und deine müden Knochen wieder munter machen. Dann wirst du wie ein bewässerter Garten sein und wie eine Wasserquelle, deren Wasser nicht täuschen. 12 Dann werden deine Leute die Trümmer der Vorzeit aufbauen und die Grundmauern von Generationen wieder aufrichten. Du wirst heißen „Lückenschließerin“ und „die die Pfade wiederherstellt zum Bleiben“. ______________________________________________________________________________________ - 24 Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. Frauenhilfe zum Selbermachen ______________________________________________________________________________________ Anlage 1 Gruppenarbeit „Krone, Brot und Rosen - die Geschichte der Elisabeth von Thüringen“ 1207 kommt in Ungarn die Tochter des Königs Andreas II. und seiner Frau Gertrud aus dem Haus Andechs-Meranien zur Welt. Sie wird auf den Namen Elisabeth getauft. Schon als Vierjährige gerät sie in die Welt der großen Politik: Sie wird mit Ludwig, dem Sohn des mächtigen Landgrafen Hermann I. von Thüringen, verlobt und verlässt ihre Heimat, um von nun an in Thüringen zu leben. Dort wächst sie am Hof des kunstsinnigen Fürsten zusammen mit ihrem vorgesehenen Ehegatten auf. Schon früh übt der christliche Glaube eine große Faszination auf das Mädchen aus. Sie versucht, möglichst oft in der Kirche zu sein und zieht dies sogar dem Spiel mit anderen Kindern vor. So beschrieben es nach Elisabeths Tod - in der Rückschau auf ihre Kindheit Dienerinnen und Hofdamen, die sie von klein auf kannten. Als Elisabeth 13 Jahre alt ist, wird sie, wie es in dieser Zeit üblich ist, mit dem sieben Jahre älteren Ludwig verheiratet. Die wenigen Berichte von Augenzeugen, die einige Jahre nach Elisabeths Tod am 16./17. November 1231 aufgezeichnet wurden, sprechen immer wieder davon, in welch zärtlicher Liebe die beiden einander verbunden waren. Diese Liebe bringt drei Kinder hervor, Hermann, Sophie und Gertrud. Über ihre zweite Tochter wird Elisabeth zur Stammmutter der hessischen Landgrafen werden; der erste Träger dieses Titels, Heinrich I. von Hessen, ist ihr Enkel. Elisabeths christliche Begeisterung wird im Laufe der Jahre immer stärker. Sie sucht religiösen Beistand bei ihrem Beichtvater, und ihr Mann Ludwig, in dessen Leben Frömmigkeit auch eine bedeutende Rolle spielt, lässt sie gerne gewähren, wenn sie nachts das Ehebett verlässt, um zu beten und sich ihren asketischen Bedürfnissen hinzugeben. Ihre Hinwendung zum Nächsten zeigt sich deutlich in der Fürsorge für ihre Untertanen. Als Ludwig 1226/27 auf einer Reise ist und Thüringen von einer Hungersnot heimgesucht wird, lässt sie die Vorratsspeicher des Landgrafen öffnen und die Nahrungsmittel an die Not leidenden Menschen verteilen. Ihre Verwandten, vor allem die Brüder ihres Mannes, verfolgen dies mit Argwohn, doch Ludwig stellt sich nach seiner Rückkehr hinter Elisabeth. ______________________________________________________________________________________ - 25 Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. Frauenhilfe zum Selbermachen ______________________________________________________________________________________ Anlage 2 Gruppenarbeit „Krone, Brot und Rosen - die Geschichte der Elisabeth von Thüringen“ In dieser Zeit (1226/27) tritt ein Mann in das Leben Elisabeths, der für ihren weiteren Weg eine wichtige Rolle spielen wird, der Kreuzzugsprediger und Ketzerverfolger Magister Konrad von Marburg, der vom Papst mit einer enormen Machtfülle ausgestattet ist. Er wird zum religiösen Führer der jungen Fürstin, die ihm bald absoluten Gehorsam gelobt, aus dem nur die Rechte Ludwigs ausgenommen sind. Für den Fall von Ludwigs Tod legt sie einen Eid ab, auf eine Wiederverheiratung zu verzichten, ein ihre Standesgenossen und vor allem die Familie ihres Mannes brüskierender Akt. Immer öfter sieht man sie nun in einfache Kleider gehüllt; der höfische Luxus und der aufwändige Lebensstil des Adels werden ihr immer fremder. Bei Tisch besteht sie unter dem Einfluss ihres Beichtvaters darauf, mit ihren Dienerinnen nur solche Speisen und Getränke zu sich zu nehmen, die auf rechtmäßige Weise von den Gütern ihres Mannes stammen. Lebensmittel, die zum Beispiel aus entfremdeten Kirchengütern stammen, lehnt sie ab, lieber will sie hungern. 1227, Elisabeth ist gerade 20 Jahre alt, muss ihr Mann mit Kaiser Friedrich II. auf den Kreuzzug nach Palästina. Er wird von dort nicht wiederkehren, schon in Süditalien wird er zum Opfer einer Seuche werden. Die schwangere Elisabeth begleitet ihn bei seiner Abreise und es kommt zu einem langen, traurigen Abschied voll düsterer Vorahnungen. Bald trifft die Nachricht von Ludwigs Tod bei Elisabeth ein. Ihre Trauer um den geliebten Mann kennt kaum Grenzen, doch fügt sie sich in den Willen Gottes, den sie in den Geschehnissen sieht. Ein neues Leben beginnt. Ihre Schwäger, Heinrich Raspe, der spätere Gegenkönig, und Konrad, wollen die junge Witwe mit ihren Kindern nicht mehr auf der Wartburg dulden. Sie befürchten vor allem, dass Elisabeth in der ihnen übertrieben und maßlos erscheinenden religiösen Hingabe an die Armen das Familiengut der Dynastie verschleudern könnte. Elisabeth verlässt die Wartburg mit ihren Kindern, versucht für einige Zeit, sich auf eigene Faust in Eisenach am Fuß des Burgbergs durchzuschlagen und wird dann von ihrer Tante, der Äbtissin des Klosters Kitzingen, nach Bamberg zu ihrem Onkel gebracht, dem dortigen Bischof, und später auf dessen Burg Pottenstein in der Fränkischen Schweiz. Unter Mitwirkung Konrads von Marburg kommt es zu einem Kompromiss mit den Schwägern, Elisabeth zieht sich auf ihr Witwengut in Marburg zurück. Spätere Quellen wollen wissen, dass in dieser Zeit sogar Kaiser Friedrich II. um ihre Hand angehalten habe, was sie ablehnte. ______________________________________________________________________________________ - 26 Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. Frauenhilfe zum Selbermachen ______________________________________________________________________________________ Anlage 3 Gruppenarbeit „Krone, Brot und Rosen - die Geschichte der Elisabeth von Thüringen“ Unter dem Einfluss der religiösen Ideen des Franz von Assisi und der frommen Armutsbewegung, die vor allem Frauen in ganz Europa ergriffen hat, widmet sie ihr Leben und den größten Teil ihres Besitzes nun der Pflege von Armen und Kranken, für die sie vor den Toren Marburgs eine Kapelle und ein Hospital errichten lässt. An einem Karfreitag schwört sie in der Kirche im Beisein Konrads von Marburg allen weltlichen Dingen ab, sie gibt ihre Kinder weg und will von nun an als Arme unter Armen leben, ganz dem Streben nach Begegnung mit Christus im Nächsten hingegeben. Aufopferungsvoll kümmert sie sich um Leprakranke, hungrige, verwahrloste Kinder und Bettler. Dabei sucht sie geradezu nach der Konfrontation mit dem Erschreckenden: sie küsst die eitrigen Wunden, liebkost die schorfigen Köpfe der kranken Kinder und verrichtet die niedersten Arbeiten, wie es in allen Berichten heißt, stets mit einem Lächeln auf den Lippen. Augenzeugen rühmen ihre Fröhlichkeit und ihr Gottvertrauen. Elisabeth ist in dieser Hingabe an karitative Arbeiten kein Einzelfall. Unter ihren Zeitgenossinnen und Zeitgenossen lassen sich viele andere finden, die so wie Elisabeth ihr weltliches Gut hingeben und ihre Familien verlassen, um sich der Nächstenliebe zu widmen, neben Franziskus mag Maria von Oignies als Beispiel dienen. Sie gilt als Gründerin der Beginenbewegung, der Elisabeth sich ebenso verbunden fühlt wie den Franziskanern. Im Unterschied zu den Nonnen in den von der Welt abgewandten Klöstern wollen diese religiös bewegten und begeisterten Frauen in der Welt den Menschen dienen. Gerade im Umgang mit den Ärmsten und Elendesten finden diese Frauen ihren direkten Kontakt zu Jesus Christus, der sagt: "Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan." (Mt. 25, 40b) Elisabeth stürzt sich in die Arbeit, in die Selbstaufopferung. Sie schenkt, würde am liebsten alles verschenken, was sie besitzt. Konrad von Marburg hält sie davon ab. Er verbietet ihr das grenzenlose Schenken, um für den Unterhalt des Hospitals Mittel zu sichern. Dabei schreckt Konrad auch vor derben Körperstrafen für Elisabeth nicht zurück, die er selbst ausführt oder aber von Dienerinnen ausführen lässt. Elisabeth, die offenkundig im Leiden Erfüllung finden kann, nimmt die Strafen mit Gleichmut, ja mit fröhlicher Gelassenheit hin. Ihr nahe Stehende beschreiben, wie sie gleichzeitig lachen und weinen kann. Elisabeth sucht nicht nach effektiv organisierter, nachhaltiger Nächstenliebe, sie will sich verschwenden für die Armen, hier und jetzt und sofort. Sie möchte sein wie sie: Immer wieder versucht sie auf rührende und etwas tolpatschige Weise, Arbeiten der einfachen Menschen aus dem Handwerk, der Haushaltsführung und der Landwirtschaft selbst auszuführen, was mehr als einmal schief geht. Elisabeth lacht darüber, Vieles ist ihr auch ein Spiel. Sie ist impulsiv und maßlos in ihrem Streben nach Heiligung ihrer Selbst und ihrer Nächsten. Mehr als einmal verschreckt sie die Menschen mit ihren ungezügelten Handlungen. ______________________________________________________________________________________ - 27 Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. Frauenhilfe zum Selbermachen ______________________________________________________________________________________ Anlage 4 Gruppenarbeit „Krone, Brot und Rosen - die Geschichte der Elisabeth von Thüringen“ Es dauert nicht lange, und Elisabeth hat sich so verausgabt, dass ihr Körper nicht mehr mitmacht. Während Konrad von Marburg selbst schwer krank nieder liegt, kommt sie zu ihm und prophezeit ihm ihr nahes Ende. Und so geschieht es: Er wird wieder gesund, und sie legt sich nach einigen Tagen zum Sterben hin, das etwa zwei Wochen dauern wird. Ihr Körper ist vollkommen erschöpft, aber ihr Geist noch hellwach, oftmals in den Bann gezogen von Visionen, die sie klar und deutlich wahrnimmt und den sie Umstehenden erzählt. Als es immer mehr bergab geht mit ihr, möchte sie nur noch geistliche Personen um sich haben und einen Jungen, den sie gepflegt hat und der sie aus dankbarer Anhänglichkeit nicht mehr verlässt. In der Nacht vom 16. auf den 17. November 1231 stirbt Elisabeth in den frühen Morgenstunden. Die Nachricht von ihrem Tod verbreitet sich in Windeseile. Innerhalb weniger Stunden umringen viele Menschen den Leichnam, schneiden Fetzen von der Kleidung, reißen Haarbüschel aus und schrecken nicht davon zurück, Fingerglieder und die Brustwarzen mit Messern vom Körper abzutrennen, um sie als Heil bringende Reliquien an sich zu nehmen. Nach drei Tagen, am 19., wird sie in der Franziskuskapelle ihres Hospitals beigesetzt. Schon bald setzt eine Wallfahrt zum Grab Elisabeths ein, die für ihre Zeitgenossen offenbar schon zu Lebzeiten eine Heilige war. Die Berichte und Erzählungen über die sich nach wenigen Tagen am Grab ereignenden Wunder werden das Ihre dazu getan haben, viele Menschen dazu zu bringen, den Weg nach Marburg auf sich zu nehmen. Konrad von Marburg setzt sofort erste Schritte für eine Heiligsprechung durch den Papst in Rom in Gang. Er lädt den zuständigen Mainzer Erzbischof nach Marburg ein und legt ihm eine Sammlung von Wunderberichten und einen von ihm selbst verfassten, kurzen Lebensabriss Elisabeths vor. Auch Elisabeths Schwiegerfamilie entdeckt sehr schnell, dass es nur von Vorteil ist, eine Heilige zu den eigenen Reihen zu zählen. Im Verlauf der nächsten Jahre werden weitere Protokolle von Verhören angefertigt, unter anderem das "Büchlein mit den Aussagen der vier Dienerinnen", in dem Frauen, die Elisabeth zu Lebzeiten eng verbunden waren, ihre Erinnerungen erzählen. Am Pfingsttag des Jahres 1235 ist es soweit: Papst Gregor IX. spricht Elisabeth in Perugia heilig. Konrad von Marburg erlebt diesen Tag nicht mehr: Schon zwei Jahre zuvor war er, der nicht nur Elisabeths religiöser Führer, sondern auch ein erbarmungsloser Ketzerjäger und Kreuzzugsprediger mit päpstlichem Auftrag gewesen war, im Auftrag von einigen Adligen, die er hatte verfolgen lassen, erschlagen worden. Am 1. Mai 1236 sieht Marburg die größte Menschenmenge, die je in die Stadt gekommen ist, manche - sicher etwas übertreibende - Berichte sprechen von einer Million Menschen. Eine kaum zu übersehende Zahl höchster geistlicher und weltlicher Würdenträger ist erschienen, an ihrer Spitze Kaiser Friedrich II. Er geht im Büßergewand barfuss hinter Elisabeths Sarg her, als sie zur Ehre der Altäre erhoben wird. Der Kaiser krönt den Schädel der Toten mit einer wertvollen Krone und birgt ihn in einem kostbaren Reliquiar. ______________________________________________________________________________________ - 28 Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. Frauenhilfe zum Selbermachen ______________________________________________________________________________________ Anlage 5 Gruppenarbeit „Krone, Brot und Rosen - die Geschichte der Elisabeth von Thüringen“ Schon vor der Heiligsprechung war mit dem Bau der Elisabethkirche in Marburg begonnen worden, dem ersten rein gotischen Bau, der in Deutschland errichtet wurde. Es sollte noch zwei Generationen dauern, bis sie 1283 geweiht wurde. Seitdem stellt sie das heraus ragende Erinnerungszeichen an Elisabeth von Thüringen dar. Mit den sterblichen Überresten ist die Geschichte wenig gnädig umgegangen: Um 1250 wurden sie in einen prunkvollen Schrein überführt, der noch heute in der Elisabethkirche steht. Nachdem im Verlauf der Jahrhunderte immer wieder kleine und größere Teile entnommen wurden, machte Landgraf Philipp der Großmütige von Hessen, selbst ein Nachfahre Elisabeths, der von ihm abgelehnten Heiligenverehrung ein Ende, indem er die letzten Reste Elisabeths 1539 entfernen und an einem unbekannten Ort beisetzen ließ. Mit letzter Sicherheit lässt sich nicht sagen, was aus den Reliquien wurde. Ob ein heute in Wien liegender Schädel authentisch ist, oder einer in Viterbo; ob das kostbare Reliquiar in Stockholms Reichsmuseum wirklich das von Elisabeth ist; ob nicht vielleicht Schädel und Knochen bis heute unentdeckt tatsächlich im Boden der Elisabethkirche ruhen? Ob die Antworten auf diese Fragen wirklich von Bedeutung sind, mag jeder und jede Einzelne für sich entscheiden. Ohne Belang sind sie dafür, was Elisabeth gewirkt hat und bis heute wirkt. Noch immer ist sie eine der populärsten katholischen Heiligen, noch immer erfreut sie sich vor allem in Hessen und Thüringen aber auch in evangelischen Kreisen großer Bekanntheit und Beliebtheit. Ob wir uns für sie als historische Figur interessieren, ob wir uns von ihrer Radikalität faszinieren lassen, ob wir ihre tiefe Menschlichkeit bewundern, ob wir versuchen, ihre Religiosität zu begreifen, ob wir ihrer Spiritualität nachfühlen: Elisabeths Leben sowie Nachleben und das, was wir darüber wissen und zu wissen glauben, geben in ihrer schillernden Fülle viele Antworten, aber auch viele neue Rätsel auf. Das ist der Grund, warum sie uns immer wieder neu und unmittelbar begegnet, warum sie trotz der 800 Jahre, die seit ihrer Geburt in Ungarn vergangen sind, uns immer neu herausfordert. Nehmen wir die Herausforderung an! ______________________________________________________________________________________ - 29 Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. Frauenhilfe zum Selbermachen ______________________________________________________________________________________ Anlage 6 Elisabeth von Thüringen Biographie für zwei Sprecherinnen 1. Sprecherin: 1207 wird Elisabeth geboren. Ihre Eltern sind der ungarische König Andreas und Gertrud von Andechs-Meranien. Elisabeth ist das zweite von fünf Kindern. Im Alter von vier Jahren wird Elisabeth mit Ludwig verlobt, dem Sohn des Landgrafen von Thüringen. Der Landgraf von Thüringen ist einer der mächtigsten Fürsten im deutschen Reich. Diese Verlobung soll die Macht und den Einfluss beider Familien weiter festigen. Elisabeth wird von vier Gesandten in Ungarn abgeholt, um am thüringischen Hof erzogen zu werden. Mit großem Gefolge und reichen Schätzen versehen kommt sie im Jahr 1211 in Eisenach am Fürstenhof an. Dort wird sie nun 17 Jahre leben. 2. Sprecherin: Elisabeth kommt aus dem ungarischen Adel und wird in den Adel des deutschen Reiches verheiratet. 1. Sprecherin: Von Elisabeth wird erzählt, sie sei ein heiteres Kind, erfüllt von einer tiefen Frömmigkeit. Sie kann mitfühlen und verzichten und will nichts „Besseres“ sein als ihre Dienerinnen. Ludwig und Elisabeth werden miteinander groß. Sie sind einander in zärtlicher Liebe verbunden. 1221 - Elisabeth ist 13 Jahre alt - heiraten sie. Drei Kinder werden ihnen geboren: Hermann, Sophie und Gertrud. 2. Sprecherin: Ludwig schützt Elisabeth gegen den Argwohn seiner Verwandten in der Ausübung ihrer Frömmigkeit und Nächstenliebe. Elisabeth verlässt nachts das gemeinsame Lager zum Beten auf kaltem Stein, sie fastet mehr als vorgeschrieben, die setzt in der Kirche am Altar die Krone ab, sie teilt aus von seinem Gut. 1. Sprecherin: Elisabeth versorgt auf ungewöhnlich hingebungsvolle Weise Arme und Kranke in der Stadt Eisenach, richtet dort ein Hospital ein und arbeitet in der Pflege mit. Völliges Unverständnis erweckt sie aber mit der Entscheidung, nur noch das zu essen und zu trinken, wes nicht durch Raub und Plünderung auf den Tisch gekommen ist. Als es im Jahre 1226 eine große Hungersnot gibt, öffnet Elisabeth die Speicher und die Vorratskammern und verkauft ihren eigenen Schmuck, um jeden Tag 900 Menschen zu speisen. 2. Sprecherin: Jeden Tag füllt Elisabeth Körbe mit frischen Broten, geht von der Burg hinab nach Eisenach und verteilt das Brot an die hungernden Menschen. 1. Sprecherin: Einziges Bestreben Elisabeths ist es, in diesen Armen und Kranken Christus selbst zu speisen, zu kleiden und zu heilen. Eine Legende erzählt: ______________________________________________________________________________________ - 30 Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. Frauenhilfe zum Selbermachen ______________________________________________________________________________________ 2. Sprecherin: Ludwig, angeblich von seiner Umgebung gegen Elisabeths „Verschwendung“ aufgehetzt, soll seine Frau, die mit einem brotgefüllten Deckelkorb von der Burg hinabstieg, gefragt haben: „Was trägst du da?“ „Rosen, Herr“, antwortete sie mit demütiger Miene. Ungläubig sah er selbst in den Korb und fand unter dem Tuch statt der eben frisch eingepackten Brote lauter frisch duftende Rosen. Lächelnd bing er davon und ließ Elisabeth gewähren. 1. Sprecherin: Als Elisabeth 20 Jahre alt ist, wird sie Witwe. Ihr Mann ist auf einem Kreuzzug, zu dem Papst und Kaiser aufgerufen haben, gestorben. Elisabeths Trauer ist groß. Wegen ihres ungewöhnlichen Lebensstils kann sie nicht am Hofe bleiben, sie wird von der Familie ihres Mannes vertrieben. Sie geht nach Marburg. Mit ihrer Abfindung gründet sie ein Spital, in dem sie Kranke pflegt, die in keinem anderen Krankenhaus aufgenommen wurden. Ihre Kinder gibt sie weg. Sie lebt als Arme unter Armen. Aufopferungsvoll kümmert sie sich um Kranke, Bettler und verwahrloste Kinder. Sie küsst die Wunden der Kranken und verrichtet die niedersten Arbeiten. Sie findet im Leiden Erfüllung – auch die harten Körperstrafen durch ihren Beichtvater Konrad von Marburg nimmt sie gelassen und fröhlich hin. Uns heutigen Menschen ist fremd, wie weit Elisabeth in ihrer Selbstaufopferung gegangen ist. Zu ihrer Zeit war sie aber kein Einzelfall. Auch andere Frauen fanden im Umgang mit den Ärmsten und Elenden ihren direkten Kontakt zu Jesus Christus. Drei Jahre lebt Elisabeth noch. Jahre, in denen sie sich in ihrer Aufgabe geradezu verzehrt. Mit 24 Jahren stirbt Elisabeth. Schon vier Jahre später wird sie heilig gesprochen und ihr die neu erbaute Elisabethkirche in Marburg geweiht. ______________________________________________________________________________________ - 31 Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. Frauenhilfe zum Selbermachen ______________________________________________________________________________________ Anlage 7 Fürbittengebet und Liedvorschläge L 1: Gott, du kommst zu uns in den Menschen, die unsere Hilfe brauchen. In den Hungrigen bittest du um Brot, in den Fremden klopfst du an unsere Tür, in den Kranken und Gefangenen wartest du auf unseren Besuch. Mit der Liebe, die wir anderen schenken, willst du uns segnen und glücklich machen. Wir danken dir für Menschen wie Elisabeth, die dich gefunden haben auf dem Weg der Liebe. Sie hat Hungrige gespeist und Durstigen zu trinken gegeben: Sie war nicht nur wohltätig, sondern verschwenderisch in der Liebe. L 2: Wir bitten dich, barmherziger Gott: Lass uns an ihrer Liebe zu den Armen unsere Bedeutung entdecken. Dann wird die Begegnung mit Menschen, die Not leiden, unsere Liebe wecken; wir werden Wege suchen und Möglichkeiten finden, Not zu lindern und für gerechtere Lebensbedingungen einzutreten. L 1: Elisabeth hat Fremde aufgenommen und Kranke gepflegt. In der Begegnung mit ihnen und im Lindern der Not hat sie ihr Glück gefunden. L 2: Wir bitten dich, barmherziger Gott: Lass uns an ihrer Offenheit für andere unsere Berufung entdecken. Dann werden wir unsere Berührungsängste überwinden und in den Fremden unter uns dich erkennen, der uns zu Schwestern und Brüdern macht. L 1: Elisabeth hatte ein empfindsames Gewissen. Sie wollte nicht von dem leben, was man von den Bauern erpresst hatte; sie konnte nur das genießen, was rechtmäßig erworben war. L 2: Wir bitten dich, barmherziger Gott: Lass uns an ihrem Sinn für Gerechtigkeit unsere Berufung entdecken. Dann werden wir nicht gedankenlos konsumieren, sondern unsere Mitverantwortung für ein gerechtes Wirtschaftssystem entdecken. L 1: Elisabeth lebte in tiefer Verbundenheit mit Christus. In seiner Nähe wollte sie sein, ihm ähnlich werden. ______________________________________________________________________________________ - 32 Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. Frauenhilfe zum Selbermachen ______________________________________________________________________________________ L 2: Wir bitten ich, barmherziger Gott: Lass uns an ihrem Glauben unsere Berufung entdecken. Dann suchen wir Gemeinschaft mit dir, der Quelle des Lebens, und werden durchlässig für die Liebe Jesu, die durch uns hineinströmen will in die Welt. L 1: Elisabeth sah ihre Aufgabe darin, die Menschen fröhlich zu machen. L 2: Wir bitten dich, barmherziger Gott: Lass uns an ihrer Fröhlichkeit unsere Berufung entdecken. Dann können wir Ja sagen zu dem Platz, an den du uns gestellt hast; wir werden dankbar werden für das Gute, das uns begegnet. und können unseren Weg fröhlich gehen. Wir danken dir, Gott, für Elisabeth, unsere Schwester und unser Vorbild im Glauben und Lieben. Wir danken dir, dass du auch uns berufen hast, und bitten dich: Begleite uns und vollende das Werk, das du in uns angefangen hast. Pfarrerin Andrea Wöllenstein, Ev. Kirche in Kurhesse-Waldeck in: Krone, Brot und Rosen, Bausteine für einen Gottesdienst zum Frauensonntag am 16.09.2007 Lieder: EG 667 „Wenn das Brot, das wir teilen als Rose blüht“ EG 664: „Wir strecken uns nach dir“ EG 666: „Selig seid ihr, wenn ihr einfach lebt“ EG 675: „Lass uns den Weg der Gerechtigkeit gehen“ EG 587: „Ubi caritas“ ______________________________________________________________________________________ - 33 Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. Frauenhilfe zum Selbermachen ______________________________________________________________________________________ Anlage 8 Jesaja 58, 6 - 12 Übersetzung Luther 1984 6 Das aber ist ein Fasten, an dem ich Gefallen habe: Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast, lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast! Gib frei, die du bedrückst, reiß jedes Joch weg! 7 Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut! 8 Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen Zug beschließen. 9 Dann wirst du rufen und der HERR wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich. Wenn du in deiner Mitte niemand unterjochst und nicht mit Fingern zeigst und nicht übel redest, 10 sondern den Hungrigen dein Herz finden lässt und den Elenden sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen, und dein Dunkel wird sein wie der Mittag. 11 Und der HERR wird dich immerdar führen und dich sättigen in der Dürre und dein Gebein stärken. Und du wirst sein wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt. 12 Und es soll durch dich wieder aufgebaut werden, was lange wüst gelegen hat, und du wirst wieder aufrichten, was vorzeiten gegründet ward; und du sollst heißen: »Der die Lücken zumauert und die Wege ausbessert, dass man da wohnen könne«. ______________________________________________________________________________________ - 34 Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. Frauenhilfe zum Selbermachen ______________________________________________________________________________________ Anlage 9 Jesaja 58, 6 - 12 nach Bibel in gerechter Sprache 6 Ist nicht dies ein Fasten, wie es mir gefällt: Unrechtsfesseln öffnen, Jochstricke lösen, Misshandelte als Freie entlassen, jedes Joch zerbrecht ihr! 7 Geht es nicht darum? Mit Hungrigen dein Brot teilen, umherirrende Arme führst du ins Haus! Wenn du Leute nackt siehst, bekleidest du sie, vor deinen Angehörigen versteckst du dich nicht. 8 Dann wird dein Licht wie die Morgenröte hervorbrechen, eilends wächst deine Wunde zu. Dann wird deine Gerechtigkeit vor dir hergehen, der Glanz Gottes sammelt dich auf. 9 Dann wirst du rufen, und Gott wird dir antworten. Du schreist um Hilfe, und Gott wird dir sagen: „Hier bin ich!“ Wenn du aus deiner Mitte das Joch wegräumst, das Fingerzeigen und die üble Nachrede, 10 und wenn du dich ganz den Hungrigen hingibst und die Niedergedrückten sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufstrahlen, deine Dunkelheit wird der Mittag sein. 11 Dann wird dich Gott beständig leiten, den unbändigen Durst deiner Lebenskraft stillen und deine müden Knochen wieder munter machen. Dann wirst du wie ein bewässerter Garten sein und wie eine Wasserquelle, deren Wasser nicht täuschen. 12 Dann werden deine Leute die Trümmer der Vorzeit aufbauen und die Grundmauern von Generationen wieder aufrichten. Du wirst heißen „Lückenschließerin“ und „die die Pfade wiederherstellt zum Bleiben“. ______________________________________________________________________________________ - 35 Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. Frauenhilfe zum Selbermachen ______________________________________________________________________________________ Anlage 10 Matthäus 25, 31 - 46 Übersetzung Luther 1984 31 Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm, dann wird er sitzen auf dem Thron seiner Herrlichkeit, 32 und alle Völker werden vor ihm versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, wie ein Hirt die Schafe von den Böcken scheidet, 33 und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken. 34 Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! 35 Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen. 36 Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen. 37 Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben, oder durstig und haben dir zu trinken gegeben? 38 Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen, oder nackt und haben dich gekleidet? 39 Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? 40 Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan. 41 Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln! 42 Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir nicht zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir nicht zu trinken gegeben. 43 Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich nicht aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich nicht gekleidet. Ich bin krank und im Gefängnis gewesen und ihr habt mich nicht besucht. 44 Dann werden sie ihm auch antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig gesehen oder als Fremden oder nackt oder krank oder im Gefängnis und haben dir nicht gedient? 45 Dann wird er ihnen antworten und sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan. 46 Und sie werden hingehen: diese zur ewigen Strafe, aber die Gerechten in das ewige Leben. ______________________________________________________________________________________ - 36 Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. Frauenhilfe zum Selbermachen ______________________________________________________________________________________ Anlage 11 Matthäus 25, 31 - 46 nach Bibel in gerechter Sprache 31 Wenn aber der Mensch in seinem göttlichen Glanz kommt und alle Engel mit ihm, dann wird er sich auf seinen himmlischen Richterstuhl setzen. 32 Und alle Völker werden sich versammeln und sich seinem Gericht stellen. Er wird die Menschen voneinander scheiden, wie ein Hirte die Schafe von den Ziegen trennt. 33 Er wird die Schafe zu seiner Rechten aufstellen und die Ziegen zu seiner Linken. 34 Dann wird die königliche Person denen zur Rechten sagen: „Kommt heran, ihr Gesegneten Gottes, Vater und Mutter für mich; ihr werdet in der Welt Gottes leben, die von Anfang der Welt an für euch geschaffen wurde. 35 Ich war hungrig, ihr gabt mir zu essen; ich war durstig, ihr gabt mir Wasser; ich war fremd, und ihr habt mich aufgenommen. 36 Ich war nackt, ihr habt mich gekleidet; ich war krank, ihr habt mich gepflegt; ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen.“ 37 Dann werden ihm die Gerechten antworten: „Herr, wann haben wir dich hungern sehen und dir zu essen gegeben, oder durstig, und gaben dir Wasser? 38 Wann haben wir dich in der Fremde gesehen, und haben dich aufgenommen, oder nackt und haben dich gekleidet? 39 Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen?“ 40 Und die königliche Person wird ihnen antworten: „Wahrhaftig, ich sage euch, alles, was ihr für eines dieser meiner geringsten Geschwister getan habt, habt ihr für mich getan.“ 41 Dann wird sie zu denen zur Linken sagen: „Geht fort von mir, ihr seid fern von Gott; geht in das endlose Feuer, das von Gott für den Teufel und die, die ihm dienen, bestimmt ist. 42 Ich war hungrig, und ihr gabt mir nicht zu essen, ich war durstig, ihr gabt mir kein Wasser. 43 Ich war fremd, und ihr nahmt mich nicht auf, ich war nackt, und ihr habt mich nicht gekleidet, ich war krank und im Gefängnis, und ihr habt euch nicht um mich gekümmert.“ 44 Dann werden auch sie antworten: „Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig oder fremd oder nackt oder krank oder gefangen gesehen und haben dich nicht versorgt?“ 45 Dann wird der himmlische Mensch ihnen antworten: „Wahrhaftig, ich sage euch, alles, was ihr für eine oder einen von diesen Geringsten nicht getan habt, habt ihr auch für mich nicht getan.“ 46 Und sie werden in die endlose Strafe fortgehen, die Gerechten aber ins „ewige Leben.“ ______________________________________________________________________________________ - 37 Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. Frauenhilfe zum Selbermachen ______________________________________________________________________________________ Anlage 12 Gerechtigkeit weltweit - die Blumenkampagne Kolumbien, Kenia und Ecuador sind nach den Niederlanden die größten Blumenlieferanten für den Weltmarkt. Durch die Einführung der Blumenindustrie, die von der Weltbank gefördert wurde, sollten die Länder des Südens „neue" Produkte auf dem Weltmarkt anbieten können, um ihre Abhängigkeit von nur wenigen Produkten wie z.B. Kaffee, Bananen und Kakao zu verringern. Kolumbien Die Blumenproduktion begann in Kolumbien vor 35 Jahren. Heute ist Kolumbien weltweit das zweitgrößte Blumenexportland. Rund um die Stadt Bogotá gibt es hervorragende Bedingungen für die Blumenproduktion: Ebenes Land, gute Bodenqualität, optimale Temperaturen und die Anbindung an einen internationalen Flughafen. Billige Arbeitskraft war und ist im Überfluss vorhanden. In 500 Unternehmen werden auf 4.900 Hektar mehr als 40 verschiedene Blumensorten angebaut. Kolumbien beliefert hauptsächlich den US-amerikanischen Markt, nur ca. 9 % der Blumen werden nach Europa verkauft. Mehr als 70.000 Menschen haben ihren Arbeitsplatz in der Blumenproduktion, weitere ca. 50.000 sind in Bereichen beschäftigt, die mit der Blumenproduktion zusammenhängen. Soweit die erstaunliche Erfolgsbilanz. Kenia Kenia ist das größte Blumenexportland Afrikas und liegt weltweit an dritter Stelle. Kenia liefert 90 % seiner Blumenexporte nach Europa. In 120 Unternehmen mit einer Fläche von 1.900 Hektar produzieren ca. 40.000 Beschäftigte Blumen für den Norden. Ecuador Ecuador ist im weltweiten Blumengeschäft das viertgrößte Exportland. Wie auch in Kolumbien und Kenia empfahl und unterstützte die Weltbank die Einführung der Blumenindustrie in Ecuador, deren Anfänge hier in den 80er Jahren liegen. Heute werden in ca. 350 Betrieben von knapp 40.000 Beschäftigten auf fast 30.000 Hektar Blumen angebaut, darunter mehr als 250 verschiedene Rosensorten. Die ecuadorianischen Rosen sind berühmt für ihre Schönheit und Haltbarkeit. Die USA sind der größte Abnehmer von ecuadorianischen Blumen - ca. 70 % des Gesamtexportes gelangen dorthin. Der Rest verteilt sich auf Europa, Japan und Russland. In allen drei Ländern hat sch der Blumenanbau als erfolgreicher Wirtschaftszweig etabliert. Die drei Länder haben weitere Gemeinsamkeiten, die jedoch ein anderes Licht auf diese „Erfolgsstory" werfen: Die Mehrzahl der in der Blumenindustrie Beschäftigten ist weiblich, jung und verfügt über einen niedrigen Bildungsstand. Das macht es den Unternehmen leicht, Arbeitsverhältnisse aufrechtzuerhalten, die die Bezeichnung „Ausbeutung" verdienen: schlechte Entlohnung keine festen Arbeitsverträge mangelnder Mutterschutz Arbeitstage, an denen zu Spitzenzeiten 14 bis 16 Stunden gearbeitet wird mangelhafte Arbeitsschutzkleidung Belastung der Gesundheit durch Kontakt mit giftigen Chemikalien sexuelle Übergriffe massive Behinderung von (gewerkschaftlicher) Organisierung der Beschäftigten Benachteiligung von Frauen gegenüber männlichen Kollegen ______________________________________________________________________________________ - 38 Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. Frauenhilfe zum Selbermachen ______________________________________________________________________________________ Jeder dieser Punkte verletzt international gültige Menschenrechte und oft auch die nationalen Gesetze. Obwohl Ecuador z.B. äußerst fortschrittliche Gesetze im Umweltschutzbereich gar, werden diese jedoch oft nicht beachtet. In Kenia dagegen fehlen solche Gesetze, und andere nationale Gesetze bleiben weit hinter internationalen Standards zurück: So gewährt das kenianische Gesetz Frauen insgesamt nur fünf Wochen Mutterschutz, während die Internationale Arbeitsorganisation jedoch bereits 1952 zwölf Wochen Mutterschutz als Standard festsetzte. Auf der anderen Seite ist in Kenia der Grad der gewerkschaftlichen Organisierung in der Blumenindustrie weiter fortgeschritten als in den lateinamerikanischen Ländern. In Kolumbien werden Gewerkschaftler oft massiv verfolgt. In den letzten zehn Jahren wurden ca. 3.000 Gewerkschaftsmitglieder ermordet. Kein Wunder, dass angesichts solch massiver Bedrohung die Angst wesentlich größer ist als die Bereitschaft, für die eigenen Rechte einzutreten. In jedem Land gibt es neben den Gemeinsamkeiten jeweils spezifische Bedingungen, die im Engagement für die Verbesserung der Situation der Blumenarbeiterinnen zu beachten sind. Gar nicht rosig - Frauen in der Blumenindustrie Im Süden wie auch im Norden sind überwiegend Frauen im Blumensektor beschäftigt. In unseren Blumengeschäften sind es meist Frauenhände, die Blumensträuße binden und Gestecke arrangieren. Auch in den Ländern des Südens sind mehr als 70 % der in der Blumenindustrie Beschäftigten Frauen. Ihr Arbeitsalltag ist zunehmend durch Unsicherheit geprägt. Selten werden feste Arbeitsverträge abgeschlossen, oft werden Frauen saisonweise angestellt. Die schlechte soziale Lage und die große Schar von Arbeitssuchenden machen es den Unternehmen leicht, Personal auszuwechseln. Werden die Frauen krank, sind sie schwanger oder stellen Forderungen, steht für jede sofort Ersatz zur Verfügung. Die meisten Frauen sind jung, haben wenig Schulbildung und sind oft auf der Suche nach Arbeit vom Land in die Stadt gezogen. Viele Frauen sind alleinerziehend und müssen mit den Löhnen, die sie erhalten, ihre Kinder durchbringen. Dabei reichen die Löhne in der Blumenindustrie fast nie, um die notwendigsten Ausgaben zu tätigen und ein Leben in Würde zu sichern. Der Preis: Gesundheit Die gesundheitlichen Risiken durch die Belastung mit giftigen Substanzen sind hoch: Asthma, Hautreizungen, Augenentzündungen, Magenprobleme, Fehlgeburten und Missbildungen bei Neugeborenen sind Folgen, die Ärztinnen und Ärzte beobachten. Pestizide werden wesentlich umfangreicher eingesetzt als dies z.B. in den Niederlanden geschieht, und oft werden dabei die nationalen Gesetze ignoriert. „Man respektiert die Regeln zur Pflanzenbesprühung nicht. Selbst während wir arbeiten, besprühen sie die Pflanzen. Meine Haare begannen auszufallen. Ich bin jung, aber ich fühle mich sehr alt", beschreibt eine kolumbianische Blumenarbeiterin die Auswirkungen des Chemikalieneinsatzes. Viele der benutzten Chemikalien führen zu Schädigungen des Nervensystems, Unfruchtbarkeit und können Krebs auslösen. Schutzkleidung fehlt oft oder ist mangelhaft. In vielen Betrieben tragen Männer Schutzkleidung, während Frauen ungeschützt arbeiten. Mit dem Wachstum der Blumenindustrie hat auch der Arbeitsdruck zugenommen: Vor zehn Jahren mussten die Arbeiterinnen in Kolumbien in einer Stunde 600 Blumen schneiden und 25 Sträuße binden - heute sind es 1.000 Blumen und 40 Sträuße pro Stunde. Die Bezahlung ist gleichbleibend schlecht geblieben. Dennoch sind die meisten Frauen froh, überhaupt eine bezahlte Arbeit zu haben. ______________________________________________________________________________________ - 39 Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. Frauenhilfe zum Selbermachen ______________________________________________________________________________________ Einschüchterung und Schikane Für deutsche Verhältnisse ist es schwer vorstellbar, wie Plantagenbesitzer gegen Organisierungsversuche der Arbeiterinnen vorgehen: „Aide Silva (30) ist Vorsitzende der Blumengewerkschaft Untraflores und arbeitet seit mehr als zwölf Jahren auf der Großplantage La Benilda, die Nelken und Rosen für den deutschen Markt produziert. An ihrer Arbeitsleistung gab es nie Kritik, doch seit sie Anfang 2001 mit einigen Kolleginnen eine Gewerkschaft gegründet hat, sind Besitzer Pedro Mejia und Geschäftsführer Carlos Gomez schier außer sich. Untraflores gründet sich, nachdem alle existierenden Sozialleistungen bei La Benilda gestrichen worden waren. Die Firma ging mit Entlassungen, massiven Drohungen und Diskriminierungen gegen die junge Gewerkschaft vor. „Ich musste nicht nur über Monate allein in der Kantine Kartoffeln schälen, damit ich nicht mit anderen Arbeiterinnen sprechen konnte. Ich kann mir auch kein Mittagessen in der Kantine mehr leisten, denn sie haben für Gewerkschaftsmitglieder den Preis auf 2.800 Peso heraufgesetzt, während die anderen nur 800 Peso zahlen müssen." Bei einem Monatslohn von 33.200 Peso (ca. 100 Euro) heißt es nun für Aide Silva, morgens um vier Uhr aufzustehen, um Essen vorzubereiten und mitzunehmen. Sie erhält ein Drittel weniger Transportkostenzuschuss. Und das für sie gestrichene Weihnachtsgeld entspricht den Schulgebühren ihrer beiden Töchter. Da sich die Gewerkschafterinnen von der massiven Diskriminierung nicht einschüchtern ließen, wurden viele entlassen. In mehreren Fällen wurde ihre Wiedereinstellung gerichtlich angeordnet, doch nach wenigen Tagen entließ La Benilda die Gewerkschafterinnen erneut. Alltag in Kolumbien." Für uns ist es eine Herausforderung, diese Frauen in ihrem Engagement für ihre Rechte zu unterstützen. Angaben entnommen aus FIAN: Blumen: Geschäfts in Kolumbien - grün, fair oder traurig? und Frank Braßel, Food First, Nr. 4, 2003 Das Flower Label Programm (FLP) 1998 wurde das Flower Label Programm (FLP) gegründet. Diese Programm legt Richtlinien für die menschenwürdige und umweltschonende Blumenproduktion fest. Es umfasst soziale und ökologische Standards und überwacht ihre Einhaltung in der internationalen Blumenproduktion. Blumenfarmen, die im Flower Label Programm mitwirken, müssen u.a. folgende Standards erfüllen: Gewerkschaftsfreiheit Verbot von Kinder- und Zwangsarbeit Festverträge und überdurchschnittliche Sozialleistungen Gesundheitsschutz und Arbeitssicherheit Verantwortlicher Umgang mit natürlichen Ressourcen Verbot hochgiftiger Pflanzenschutzmittel Alle FLP-Mitgliedsfarmen sind verpflichtet, die weltweit anerkannten Arbeitsrechte einzuhalten, die von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) vorgegeben sind. Weltweit kann sich jede Blumenfarm nach den FLP-Standards von unabhängigen Gutachtern prüfen lassen und Mitglied im Flower Label Programm werden - vorausgesetzt, die oben genannten Standards sind erfüllt. Menschenrechtsgruppen und Gewerkschaften haben das Recht auf Stichproben. ______________________________________________________________________________________ - 40 Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. Frauenhilfe zum Selbermachen ______________________________________________________________________________________ Für die Arbeiter und Arbeiterinnen werden vertrauenswürdige Beschwerdestellen in ihrem Land eingerichtet. Nach der Prüfung werden die Farmen mit einem FLP-Zertifikat ausgezeichnet und sind damit berechtigt, Blumen mit dem FLP-Siegel auf dem Markt anzubieten. Inzwischen gibt es in Kenia, Ecuador, Simbabwe, Südafrika, Tansania und Kolumbien mehr als 50 Blumenfarmen, die Mitglied im Flower Label Programm sind. In diesen Farmen gibt es jetzt bessere Arbeitsbedingungen: Durch das FLP erhalten viele Blumenarbeiterinnen erstmals dauerhafte Festverträge und bezahlten Schwangerschaftsurlaub. Mindestlöhne und zusätzliche Sozialleistungen sind gewährleistet. In den afrikanischen Ländern lebe die Arbeiter vielfach auf den Blumenplantagen. Ordentliche Häuser mit ausreichender Wasserversorgung sind daher eine Voraussetzung, um das Siegel führen zu dürfen. Die Bereitstellung von preisgünstigen Lebensmitteln und kleine Gemüsegärten ist wichtig für die Sicherung des Menschenrechts auf Nahrung. Beim Umgang mit Pflanzenschutzmitteln sind strikte Vorsichtsmaßnahmen festgelegt. Auf Pflanzenschutzmittel kann noch nicht verzichtet werden, doch sind problematische Mittel aus dem Flower Label Programm ausgeschlossen. Gegründet und getragen wird FLP von folgenden Organisationen: - Verband des Deutschen Blumen-Groß- und Importhandels (BGI) Fachverband Deutscher Floristen (FDF) - Menschenrechtsorganisation FIAN ( FoodFirst Informations- und Aktions-Netzwerk) Evangelisches Hilfswerk „Brot für die Welt" - Kinderhilfswerk „terre des hommes Deutschland e.V." - Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG Bau) Augen auf beim Blumenkauf! - Kleine Siegelkunde Wir als Verbraucherinnen und Verbraucher sind die bestimmenden Faktoren auf dem Markt. Durch unser Verhalten beim Blumenkauf können wir, wie schon bei der Kleider- und Spielzeugkampagne, „Politik mit dem Einkaufskorb" machen. Das heißt, indem wie gezielt Blumen aussuchen und kaufen, setzen wir uns für die menschenwürdige und umweltschonende Produktion von Blumen weltweit ein. Wir zeigen uns solidarisch mit den Arbeiterinnen und Arbeitern auf den Blumenplantagen in den Ländern des Südens. Auch hier in Deutschland und in den benachbarten Niederlanden werden Blumen produziert. Hier wie dort gibt es neben dem FLP-Siegel, das bereits ausführlich vorgestellt wurde, weitere Gütesiegel, die über den Anbau und die Behandlung von Blumen und Zierpflanzen Auskunft geben. Bioland-Gütesiegel Die meisten Öko-Schnittblumen-Betriebe sind unter dem Bioland-Gütesiegel zertifiziert. Sie garantieren das höchste Maß an nachprüfbaren Umweltstandards. Die Verwendung von chemisch-synthetischen Pflanzenschutz- und Düngemitteln wird überflüssig, weil die Blumen in möglichst intakten Ökosystemen angebaut werden. Die Blumen legen keine weiten, energieverbrauchenden Transportwege zurück, und für die Menschen in der näheren Umgebung werden Arbeitsplätze geschaffen. ______________________________________________________________________________________ - 41 Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. Frauenhilfe zum Selbermachen ______________________________________________________________________________________ Das Grüne Zertifikat (DGZ) Das Grüne Zertifikat gibt den Verbraucherinnen und Verbrauchern im Bereich des konventionellen Blumenanbaus Hinweise auf umweltgerechte Produktion. Dieses Umweltlabel geht über gesetzliche Vorgaben hinaus und garantiert, dass die Betrieb nachhaltig mit Blick auf Düngung, Pflanzenschutz und Energieverbrauch arbeiten. Die Betrieben werden regelmäßig durch anerkannte, neutrale Prüfungsorganisationen überprüft. Leider hat sich dieses Siegel auf dem Markt noch nicht genügend durchgesetzt. MPS-Siegel Bei unseren Nachbarn in den Niederlanden gibt es das „Umweltprogramm Zierpflanzen", kurz: MPS - Milieu Programma Sierteelt. Das MPS-Siegel gibt den Kundinnen und Kunden Hinweise auf ökologisch verantwortliche Produktionsmethoden, und zwar von der Zucht der Blumen bis zu ihrem Verkauf. Die Kritik von Umweltgruppen, Verbraucherinnen, Verbrauchern und Politik am horrenden Verbrauch an Düngemittel und Energie bewirkte in den Niederlanden ein Umdenken. „Die Sorgen um Morgen" riefen die Verantwortlichen auf den Plan. Das Resultat ist, dass die Niederländer meist preiswerter als deutsche Betriebe sind. Dies wird möglich durch ausgeprägte Monokulturen, ein hohes technisches Niveau sowie staatliche Subventionen für Energie. aus: Zeitung – Rosige Aussichten 100 plus! Katholische Frauengemeinschaft Deutschland Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. Brot für die Welt Pfotenhauer, Ankum, April 2005 ______________________________________________________________________________________ - 42 Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. Frauenhilfe zum Selbermachen ______________________________________________________________________________________ Anlage 13 Für Gerechtigkeit - gegen Frauenhandel und Zwangsprostitution 3. Schritt Nur die Spitze des Eisberges... Nach Schätzungen der Europäischen Union werden zurzeit ca. 500.000 Frauen Opfer von Menschenhandel. Die weltweiten Schätzungen variieren sehr stark. Es wird von 4 - 40 Millionen Menschen ausgegangen. Die meisten von ihnen sind Frauen. In Nordrhein - Westfalen wurden 1999 251 Opfer von Menschenhandel registriert. Das ist nur die Spitze des Eisberges. Nun ist es für die einzelne betroffene Frau nicht unbedingt relevant, wie hoch die Zahlen sind. Deutlich wird jedoch, dass Menschenhandel nicht ein individuelles Problem von Einzelnen ist, sondern dass es sich um ein gesellschaftliches Problem handelt, von dem viele betroffen sind. In Nordrhein-Westfalen sind zu mehr als 90 % Frauen aus den Staaten Mittel- und Osteuropas betroffen. Seit Anfang der 90er Jahre sind es Frauen aus den ehemals sozialistischen Ländern, die wie „Ware“ nach Westeuropa gehandelt werden. Zuvor, in den 70er und 80er Jahren waren es zumeist Frauen aus Asien. Das Schicksal der Frauen lässt sich vermarkten... Das Thema ist in jüngster Zeit oft in den Schlagzeilen zu finden. Das Schicksal der Frauen lässt sich gut vermarkten. Es geht um Sex und Gewalt. Das Rollenklischee von Frauen als Hure oder Heilige lässt sich bei diesem Thema gut bedienen. Und im Gegenüber der Frauen befinden sich neben den Medien Justiz, Polizei, organisierte Kriminalität, Kunden, Moral und Doppelmoral. Das wirtschaftliche Gefälle zwischen Ost und West, und die Nachfrage nach Frauen von Seiten der Verkaufenden und Käufern sind weitere Faktoren, die das Thema brisant machen. In diesem Gegenüber werden die betroffenen Frauen verdinglicht. Die Frau wird nicht als Person wahrgenommen, sondern als „Ware“, die im Warenkreislauf von Angebot und Nachfrage zum Geschäftsobjekt wird. Das klingt hart und drastisch, veranschaulicht aber, wie im Bereich des Menschenhandels mit Frauen umgegangen wird. Der Handel mit Frauen ist ungeheuer profitabel. Ohne großes Risiko können einzelne Täter oder Gruppen einen großen Umsatz erzielen. Es geht um sehr viel Geld, das schneller als mit Drogen- oder Waffengeschäften zu machen ist. Der Handel mit Menschen hat längst die Umsätze des Drogen- und Waffengeschäfts überboten. Falsche Versprechen locken die Frauen... Es ist kein Problem, immer neue Frauen anzuwerben. Zumeist sind es falsche Versprechen auf einen Job im Haushalt oder in einer Bar, mit denen sich die Frauen locken lassen. 60 % der Frauen, die 1995 festgenommen wurden, sind zwischen 14 und 21 Jahren alt. In der Regel sind sie jünger als 25 Jahre. Sie werden abhängig gemacht, indem ihnen aufgezwungen wird, sich zu verschulden. Reisekosten, Passgebühren, Unterkunftskosten: Dafür verlangen Menschenhändler ungeheure Summen. Manche Frauen zahlen bis zu 10.000 DM für die Vermittlung nach Deutschland. Sie tragen alle „Investitionskosten“ selbst. Die Täter fühlen sich sehr sicher, denn Menschenhandel gilt nur dann als Straftatbestand, wenn nachgewiesen wird, dass die Betroffenen zur Prostitution gezwungen wurden. Doch der Nachweis kann nur erbracht werden, wenn die Frauen aussagen. Zuhälter verhindern, dass Frauen aussagen in einem Prozess, indem sie sie in verschiedensten Formen einschüchtern. Oft fehlt es an Beweisen. In den wenigsten Fällen kommt es zu einem Prozess, noch seltener zu einer Verurteilung. ______________________________________________________________________________________ - 43 Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. Frauenhilfe zum Selbermachen ______________________________________________________________________________________ Die „Bestrafung“ der Frau ist mehr als drastisch... Das Strafmaß ist im Vergleich zur Drogenkriminalität gering. Es reicht von 6 Monaten bis zu 10 Jahren. Im Gegensatz dazu ist die „Bestrafung“ der Frau mehr als drastisch. Nach einer Razzia durch die Polizei werden die Frauen zunächst verhaftet und über Nacht in Sicherheitsverwahrung genommen. Praktisch bedeutet das, dass die Frauen in eine Zelle gesperrt werden. Manche kommen anschließend in Abschiebehaft oder werden direkt abgeschoben bzw. ausgewiesen, weil sie gegen das Aufenthalts- und Arbeitsrecht verstoßen haben. Der Vorwurf, gegen das Arbeitsrecht verstoßen zu haben, ist umso erstaunlicher, handelt es sich bei der Zwangsprostitution doch um eine Arbeit, zu der sie gezwungen wurden. Manchmal bekommen wir den Eindruck, es wird eher die illegale Beschäftigung und der illegale Aufenthalt von Polizei und Justiz bekämpft als die Überführung der Täter. Eine Abschiebung bedeutet für die Frauen ein lebenslanges Einreiseverbot in alle Staaten, die das Schengener Abkommen unterschrieben haben. Wir versuchen mit der Arbeit in der Beratungsstelle Nadeschda eine Abschiebung unter allen Umständen zu verhindern. Denn die Frauen werden so vom Gesetz an Stelle derer, die sich ihrer bedienen, verantwortlich gemacht. Die Frauen werden ein zweites Mal zu Opfern gemacht („Sekundäre Viktimisierung“). Frauen, die den Mut aufbringen und in ein fremdes Land gehen, passen ohnehin in kein Opferschema. Doch wie sollen wir benennen und festhalten, wem Unrecht und Gewalt geschieht und wer dafür verantwortlich ist. Wenn Frauen abgeschoben werden, kommen sie nur bis zur bundesdeutschen Grenze. Danach werden sie sich selbst überlassen. In den Heimatländern der Frauen, gibt es nur wenige Frauenorganisationen, die diese Frauen nach einer Rückkehr begleiten können. Viele Frauen werden nach einer Ausreise zu Hause von den Schleppern gleich wieder bedroht und zurück nach Deutschland gebracht. Wenn sie dann abermals in Deutschland aufgegriffen werden, wird nur noch selten von Zwang ausgegangen. Das ist jedoch ein Irrtum. Angst vor der Polizei, den Konsequenzen einer Aussage... In Nordrhein - Westfalen haben Opfer von Menschenhandel durch einen Innenministererlass das Recht auf eine freiwillige Ausreise innerhalb von 4 Wochen. In dieser Zeit müssen die Frauen sich überlegen, ob sie bereit sind, auszusagen, und welche Konsequenzen eine Aussage für sie hat. In der Situation des Aufgreifens haben die Frauen genauso viel Angst vor der Polizei, wie vor den Tätern. Diese Angst vor der Polizei erklärt sich aus negativen Erfahrungen mit der Polizei im Heimatland. Sie wird noch verstärkt, wenn die Frauen eine Nacht in eine Zelle gesperrt werden. Falls Frauen jedoch aussagebereit sind, wird ihnen für die Zeit bis zum Prozessabschluss ein eingeschränktes Aufenthaltsrecht - eine Duldung - gewährt. Das bedeutet, dass die Frauen monatelang, manchmal sogar Jahre, bis zur Aufnahme des Prozesses warten müssen. Während dieser Zeit leben sie von minimaler Sozialhilfe, denn sie dürfen nicht arbeiten. Eine Arbeitserlaubnis gibt es nicht. Sie können sich in dieser Zeit kaum beschäftigen. Unter Umständen wird ihnen der Besuch eines Sprachkurses ermöglicht. Ein selbstbestimmtes Leben zu führen, ist jedoch nicht möglich. Die Schuldfrage wird häufig auf die Frau projiziert... Wenn es zu einer Verhandlung kommt, versucht die Verteidigung, ähnlich wie bei Verhandlungen wegen sexuellem Missbrauch, das Leben der Zeuginnen minutiös auseinander zunehmen, um die Glaubwürdigkeit der Zeuginnen infrage zu stellen. Keiner fragt zum Beispiel den Angeklagten, mit wie vielen Frauen in seinem Leben er schon „Verkehr“ hatte. Die Frauen werden oft indirekt zu Angeklagten gemacht, wenn nicht juristisch, dann doch moralisch. Denn die Schuldfrage wird häufig zumindest in den Hinterköpfen auf die Frau projiziert: Eine Frau, die ihren Körper verkauft hat, gleichgültig, ob gezwungen oder nicht, wird immer noch abgestempelt. ______________________________________________________________________________________ - 44 Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. Frauenhilfe zum Selbermachen ______________________________________________________________________________________ Äußerungen wie „Eine Prostituierte kann nicht vergewaltigt werden.“ spiegeln entsprechende Einstellungen wieder. Nicht selten laden sich auch die betroffenen Frauen selbst die moralische Schuld auf. Dies macht sie nicht nur in juristischen Angelegenheiten, sondern auch moralisch erpressbar und mundtot. Um dieses Missverhältnis aufzuheben, müssen die Frauen unterstützt und über ihre Rechte aufgeklärt, und die Öffentlichkeit verstärkt sensibilisiert werden. Menschenhandel als Menschenrechtsverletzung... Die Beratungsstelle Nadeschda gibt deshalb vorbeugend muttersprachliche Faltblätter zur Aufklärung in den Heimatländern heraus, um Frauen mit Hilfe von Botschaften, Universitäten und unterschiedlichsten Gruppen zu informieren. Sie arbeitet mit kirchlichen und nichtkirchlichen Gruppen aus den Staaten Mittel- und Osteuropas zusammen. Sie unterstützt die Arbeit an einheitlichen Richtlinien auf europäischer Ebene. Dort wird allmählich deutlich, dass Menschenhandel als Menschenrechtsverletzung und nicht nur als organisiertes Verbrechen wahrgenommen werden muss. Langsam, aber sicher, wird erkannt, dass es neben den Tätern auch Opfer gibt. Restriktive Einwanderungsgesetze verschlimmern nicht nur die Lage der Opfer, sondern bieten indirekt die Grundlage für Menschenhandel. Deshalb setzt sich die Beratungsstelle Nadeschda für ein revidiertes Ausländergesetz ein, in dem Frauen nicht in illegale Räume getrieben werden, in denen sie noch ausbeutbarer werden. Weltweite Verpflichtung zum Kampf gegen Menschenhandel... Deutlich ist: Menschenhandel ist nicht nur ein Thema für Deutschland, sondern für die weltweite, internationale Gemeinschaft. Seit 1949 sind international eine Reihe von Konventionen verabschiedet worden, um dem Menschenhandel Einhalt zu gebieten. Viele Staaten haben diese Konventionen unterzeichnet, um sich auf eine effektive Bekämpfung des Menschenhandels zu verpflichten. Es sieht so aus, als seien wir nun, zu Beginn des 3. Jahrtausends, endlich soweit, bestimmte Schritte dieser Verpflichtungen in die Tat umzusetzen. Im September 2000 wurde eine Arbeitsgruppe gegen Menschenhandel als Teil des EU Stabilitätspaktes für Süd-Ost- Europa eingerichtet. 1999 hat das Zentrum für die Internationale Verbrechensbekämpfung (CICP) ein weltweites Programm gegen den Menschenhandel lanciert. Am 8. März 2001 hat der EU Kommissar Antonio Vitorino anlässlich des Internationalen Frauentags eine „Umfassende Europäische Strategie gegen Frauenhandel“ veröffentlicht. Die Aktivitäten der Europäischen Union haben sich bisher auf Justiz und Polizei konzentriert. In Zukunft sollen jedoch die Bereiche von Prävention und damit auch die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen wie wir sie als Beratungsstelle Nadeschda der Evangelischen Frauenhilfe in Westfalen leisten, stärker in den Blick genommen werden. „Jede Frau hat das Recht auf ein Leben ohne körperliche und seelische Gewalt und Misshandlung Unabhängig von ihrer Nationalität und ihrem Aufenthaltsstatus.“ Selbstverständlich? NADESCHDA HEISST HOFFNUNG aus: Hoffnung gegen Gewalt Arbeitsmappe zum Thema Menschenhandel Corinna Dammeyer, Anja Vollendorf Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V., Soest 2001 ______________________________________________________________________________________ - 45 Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. Frauenhilfe zum Selbermachen ______________________________________________________________________________________ Anlage 14 Häusliche Gewalt wahrnehmen - Rosenstraße 76 Rosenstrasse 76 ______________________________________________________________________________________ - 46 Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. Frauenhilfe zum Selbermachen ______________________________________________________________________________________ Häusliche Gewalt wahrnehmen, zum Thema machen, überwinden. Die Augen öffnen: Häusliche Gewalt überwinden Gewalt in der Familie ist in Deutschland eine der stärksten Bedrohungen menschlicher Würde. Die Rosenstrasse 76 ist eine ganz normale Dreizimmerwohnung - und dabei eine einzigartige Ausstellung! Sie steht exemplarisch für Räume, in denen die Gewalt zu Hause ist. Dies ist einer der brutalen Orte, an dem Menschen psychisch und sexuell erniedrigt, geschlagen, vergewaltigt und manchmal auch getötet werden. Was hinter den Türen der Rosenstrasse 76 verborgen geschieht, könnte überall passieren: In Deutschland oder anderen Nationen, in engen Großstadtwohnungen oder vornehmen Villen, in von Arbeitslosigkeit betroffenen Familien oder bei den oberen Zehntausend - sogar in unserem unmittelbaren Umfeld. Die Ausstellung zeigt Besuchern häusliche Gewalt dort, wo sie stattfindet - in den vier Wänden. Wer die vollständig eingerichtete Wohnung wie ein Entdeckungsreisender durchstreift, beispielsweise den Anrufbeantworter abhört oder im Bücherregal stöbert, kann im wahrsten Sinne des Wortes hinter der Fassade des Alltäglichen das Grauen der Gewalt entdecken. Informationen an alltäglichen Gegenständen reden über Zahlen, Fakten und Schicksale, wenn diese mit offenen Augen betrachtet werden. Zur Sache Die Evangelischen Kirche von Westfalen (EKvW) unterstützt Wege aus der Gewalt: Seit vielen Jahren initiiert und begleitet sie Projekte, Initiativen und Einrichtungen, die sich der Prävention und Deeskalation von Gewalt und der Hilfe für die Opfer häuslicher Gewalt widmen. In einem gemeinsamen Beitrag zu der vom Weltkirchenrat für die Jahre 2001 bis 2010 ausgerufenen Dekade „Gewalt überwinden” bündelt sie nun diese Erfahrungen – mit dem Ziel, nachhaltige Lösungsstrategien zu erarbeiten und schließlich eine wirkungsvolle Lobby- und Öffentlichkeitsarbeit auf die Beine zu stellen. Somit ist die Ausstellung Rosenstrasse 76 in eine Vielzahl von Aktivitäten eingebettet, die Menschen für das Thema sensibilisieren, um eine breite Öffentlichkeit für die Thematisierung und Überwindung häuslicher Gewalt zu gewinnen. Auf Entdeckungsreise durch die Rosenstrasse 76 Schon der Haussegen im Eingangsbereich zeigt: Häusliche Gewalt ist oft nicht auf den ersten Blick zu erkennen! Es handelt sich vielmehr um eine komplexes Misshandlungssystem innerhalb dessen vielschichtige Handlungs- und Verhaltensweisen darauf abzielen, Macht und Kontrolle über eine andere Person, ihr Handeln und Denken zu gewinnen. Körperliche und sexuelle Gewalt, Mord oder Totschlag sind nur ein Teil des Geschehens. In der Rosenstrasse 76 werden die vielfältigen Aspekte Häuslicher Gewalt beleuchtet rund 35 Informationsschilder an einzelnen Gegenständen zeigen Ursachen, Formen und Auswirkungen aber auch harte Zahlen und Fakten wie beispielsweise Kostenaufstellungen und Statistiken. Beim Eintritt in die Ausstellung werden die Besucher aufgefordert, hinter die schöne Fassade zu schauen: Sie sollen Türen öffnen, Schränke inspizieren oder technische Geräte benutzen. Im Wohnzimmer offenbart der Anrufbeantworter Ausschnitte aus der Geschichte einer Familie: die Ängste der Tochter, die Demütigung durch den Partner oder die Wut der Nachbarin. Hier können sich Besucher/innen an den langen Esstisch setzen oder gemütlich auf der Couch lesen oder fernsehen. Die Krankschreibung auf dem Tisch gibt Einblick in die Auswirkungen häuslicher Gewalt, das Sparbuch im Wohnzimmerschrank listet die Kosten dieser weltweiten Katastrophe auf. ______________________________________________________________________________________ - 47 Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V. Frauenhilfe zum Selbermachen ______________________________________________________________________________________ Die Küche mit Esstisch und Küchenzeile enthüllt zum Beispiel, wie stark Alkoholkonsum als verstärkender Faktor zu Häuslicher Gewalt beiträgt; die Information findet sich an einer Bierflasche. Eine achtlos herumliegende Valiumschachtel vermittelt das Thema psychische Gewalt und ihre Folgen. Exotische Urlaubsbilder an der Wand informieren über den Zusammenhang von Migration und häuslicher Gewalt. Und darüber, dass Gewalteskalation nicht selten tödlich endet, spricht ein Informationsschild an einem Messer. Im Kinderzimmer lassen die Poster an der Wand erkennen, dass hier ein Teenager mit seinem kleinen Geschwisterchen lebt. Mit welchen Spielen er sich die Zeit vertreibt, können Besucher selbst ausprobieren. Das kleinere Kind hat sich eine Höhle aus Bettdecken gebaut. Seine Spielsachen liegen verstreut auf dem Boden. Auch hier sind die Gegenstände mit Informationen gespickt: Sie verdeutlichen, welche Auswirkungen häusliche Gewalt auf Kinder hat und wie diese wieder Träger einer Gewaltkultur werden können. Aber auch, wie sie das Potential zur Überwindung von Strukturen der Gewalt bereits in sich tragen. Das Schlafzimmer der Ausstellung stellt die geschlechtsspezifischen Aspekte häuslicher Gewalt in den Vordergrund. Hier erfahren die Besucher aber auch, wie Vergewaltigungen oder Suizidversuche das Leben vieler Menschen zerstören. Und die nüchternen Zahlen und Fakten bekommen eine Stimme: Auf einem CD-Player sind mittels Endlosband etwa 60 Zitate von Männern und Frauen zu hören, die von häuslicher Gewalt betroffen waren oder sind. An diesem privaten Ort erzählen sie ihre Geschichte, jede einzelne ein wichtiges Dokument gegen das Schweigen. Der Weg zum Forum schließlich greift die hörbaren Zitate noch einmal auf. An langen Schnüren hängen sie wie ein Vorhang an einer Tür, durch den die Besucher hindurchgehen müssen, um die Wohnung zu verlassen. So berühren diese persönlichen Geschichten jeden einzelnen Gast unmittelbar. Tritt er durch sie hindurch, lässt er sie an sich heran und leistet so den ersten wichtigen Schritt, sich Wegen aus der Problematik zu öffnen. Das Forum selbst ist ein Ort der Sammlung aber auch Ermutigung. So entlässt die Rosenstrasse 76 die Besucher nicht in tiefer Depression und Niedergeschlagenheit. Durch Informationsgespräche, Flyer, Plakate und eine Powerpoint-Präsentation erfahren die Besucher/innen, welche erfolgreichen Strategien es gegen häusliche Gewalt gibt und wie sie selber zu einer Verbesserung der Problematik beitragen können. Die Veranstaltungsorte in Westfalen Soest 24. Februar - 16. März 2008 Unna 03. April - 27. April 2008 Rheine 01. Juni - 21. Juni 2008 Gelsenkirchen 17. August - 05. September 2008 Hagen 13. September - 04. Oktober 2008 Espelkamp 12. Oktober - 31. Oktober 2008 Dortmund 11. Januar - 06. Februar 2009 ______________________________________________________________________________________ - 48 Evangelische Frauenhilfe in Westfalen e.V.