Master Thesis im Weiterbildungs- und

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Master Thesis im Weiterbildungs- und
Master Thesis im Weiterbildungs- und Ergänzungsstudiengang „Art in Context“
vorgelegt am Institut für Kunst im Kontext, Fakultät Bildende Kunst,
UDK Berlin 2012
if you don’t pay attention to me, I WON’T PAY ATTENTION TO YOU
Die Ökonomie der Aufmerksamkeit im Werk von Ryan Trecartin/ Lizzie Fitch und ihren
Mitwirkenden
(eine assoziative Reflexion)
Sarah Lewis
Matr. Nr.: 360159
SS 2012
Typ der Masterarbeit: C
Betreuerin: Seraphina Lenz
Sarah Margarita Lewis
www.sarahmlewis.com
www.lewisforever.com
mobil +49 (0)172 - 3044386
sarritalewis@gmail.com
Urbanstr. 120
10967 Berlin
Deutschland
1
If you don't pay attention to me, I WON'T PAY ATTENTION TO YOU
Die Ökonomie der Aufmerksamkeit im Werk von Ryan Trecartin/ Lizzie Fitch und ihre
Mitwirkenden
(eine assoziative Reflexion)
1. Einleitung zur Masterarbeit................................................................................................3
2.Prolog................................................................................................................................4
2.Einführung ….....................................................................................................................5
3.Beschreibung von Trecartins Einzelausstellung ANY EVER am PS 1 in New York City:......10
1.
2.
3.
4.
5.
Handlung::Themen/Drehbuch::Hypertext..............................................................11
Sprach-Skulptur „Worte Machen“........................................................................13
Raum und Ort und Sachen...................................................................................15
Zusammen arbeiten und Rollen, die angenommen werden.....................................16
Form und Inhalt = AUF und DURCH..................................................................19
4. Ökonomie der Aufmerksamkeit am Beispiel ANY EVER...................................................21
1. Produktion/ Vertrieb/ Konsum ….........................................................................21
2. Branding/ Marketing/Networking: Finissage von ANY EVER im PS1 (Der
unvermeidliche Faktor der Prominenz).................................................................23
1. Austausch..........................................................................................................24
2. Zeit und Wert.....................................................................................................26
5. if you don't pay attention to me, I WON'T PAY ATTENTION TO YOU
(Aufmerksamkeitsökonomie macht uns zu Schauspielern)....................................................27
6. Epilog..................................................................................................................................32
7. Literaturverzeichnis............................................................................................................33
8. Text zur Lecture Performance...........................................................................................36
2
Einleitung zur Masterarbeit
Im Jahr 2009 erwecktet die Arbeit von Ryan Trecartin und seinen Mitwirkenden meine
Aufmerksamkeit, bei der Ausstellung Younger than Jesus im New Museum in New York. Die
Gruppe (mit Trecartin als Leiter) produziert Filme, die sie selbst als "movies" bezeichnen, welche
mit Informationen künstlerisch überfüllt sind. Die Arbeit zeigt gleichberechtigt utopische und
dystopische Visionen einer Gesellschaft, die durch Medien übersättigt ist. Einerseits ist es ein
befreiendes Gefühl, weil Fragen der Rasse und des Geschlechts überwunden wurden. Die
Charaktere in den “movies” haben (durch ihre extrovertierte Kostümierung, durch ihre Gesten, ihre
Sprache und ihr individuelles Styling) ihre ganz eigene Hybrid-Persönlichkeit entwickelt. Auf der
anderen Seite spielen sie kontinuierlich mit vorhandenen Webcams oder Digitalkameras, ein
Selbstbewusstsein vor, das immer mehr in Eigenwerbung mündet. Sie spucken hektisch und in
rasendem Tempo sinnlose Informationen aus (wie Spam), in einem Wettbewerb um die knappste
Ressource: Aufmerksamkeit.
“Ein Reichturm an Information erzeugt eine Armut an Aufmerksamkeit.” Diese Feststellung von
Nobelpreisträger Herbert Simon basiert auf dem Knappheitsprinzip als Grundproblem
ökonomischen Handelns. Wenn Volkswirtschaften auf Knappheit beruhen (basierend auf dem
Konzept von Angebot und Nachfrage) und wenn der Wert von Aufmerksamkeit größer ist, als der
Wert von Gütern, dann kann man sich ein ökonomisches Konzept auf der Grundlage von
Aufmerksamkeit vorstellen. Diese Theorie wurde zuerst von Simon im Jahr 1971 vertreten. Als ich
2009 auf die Arbeit des Künstlers Ryan Trecartin stieß, wurde mir dieses Konzept erschreckend
klar. Seine digitalen “movies” scheinen sich auf die Ideen von Simon zu beziehen.
Meine Masterarbeit ist eine Beschreibung der Einzelausstellung von Ryan Trecartin im MoMa PS 1,
unter Berücksichtigung der Theorie der Ökonomie der Aufmerksamkeit. Diese Untersuchung hat
außerdem dazu gedient, meine eigene künstlerische Antwort auf diese neue Knappheit zu
entwickeln. Dabei will ich den Leser/Betrachter in ein Spiel zwischen Ablenkung und
Aufmerksamkeit verwickeln, um ihn offensiv mit der Thematik dieser Arbeit zu konfrontieren. Dies
möchte ich durch eine Performance erreichen, welche als ein analoges Echo des digitalen Formats
Trecartins gesehen werden kann. Die für die künstlerische Erarbeitung benötigte Beschreibung von
Trecartins Arbeit ist selbst wesentlicher Bestandteil der Lecture Performance.
Diese Masterarbeit ist eine assoziative Reflexion über ein Kunstwerk, welches meine
Aufmerksamkeit geweckt hat, da die Arbeit selbst und die Rezeption der Arbeit mit
Aufmerksamkeit spielt. Ich betrachte die Beschreibung als eine assoziative Reflexion, weil sie aus
einem Denkprozess oder einem multidisziplinären Ansatz entstanden ist, um die Auswirkungen
eines Kunstwerks verständlich zu machen. Der Künstler, den ich gewählt habe, arbeitet immer
zuerst mit einem Skript, und seine Arbeit beschäftigt sich mit dem Ausdruck der Identität. Ich habe
ein analoges Echo zu seinen “movies” gewählt, eine “live-performance”. Aus der Beschreibung
versuchte ich ein Skript für eine Lecture Performance zu entwickeln, welche Rollen zeigt, die wir in
einer Aufmerksamkeitsökonomie spielen. Deswegen ist meine Masterarbeit am Ende eine
Performance, basierend auf dem Text über eine Erfahrung.
3
Prolog
Wir sehen einen Raum, ein Wohnzimmer, das in einem Museum aufgebaut worden ist. In dem
Wohnzimmer findet sich Mobiliar, das wir als Ikea-Möbel wiedererkennen. Neben diesen
wohlbekannten Stücken sehen wir Teile eines Flugzeugs. Die Leute, die zuerst diesen Raum bewohnt
haben und vielleicht mit diesem Flugzeug angekommen sind, sind fort. Ich bin allein, und die Mitte
des Zimmers zieht sofort meine Aufmerksamkeit auf sich. Dort (in der Mitte) befindet sich ein großer
Flachbildfernseher, der tonlos einen unablässigen Strom von leuchtend farbigen Bildern ausstrahlt.
Ich kann sie nicht ganz erkennen. Obschon es keinen Ton gibt, so ruft er mich doch heran und zieht
mich weiter in den Raum hinein. Während ich mich dem Fernseher nähere, komme ich an eine
Parkbank, die das Sofa ersetzt. Ich gehe auf den Fernseher zu und fühle mich leicht orientierungslos,
da andere Menschen den Raum betreten haben. Ich bin mir nicht sicher, ob oder wohin ich mich
setzen soll. Mich beschleicht ein Gefühl der Unsicherheit. Werde ich beobachtet? Ich werde von
meiner Unsicherheit abgelenkt durch ein Paar Kopfhörer auf der Bank. Ich setze sie auf und schaue
fern. Plötzlich und mit überwältigender Energie nehme ich Ton wahr. Die rasend schnell sich
abwechselnden Szenen sehen aus und hören sich an wie ein Zusammenstoß von Kunst, Reality TV
und sozialem Netzwerken. Die Trümmer dieses Unfalls explodiert aus dem Fernseher und in den
mich umgebenden Raum hinein in Form von Gegenständen, die auf wundersame Weise intakt
geblieben sind. Die Menschen auf dem Bildschirm sind mir vertraut und doch zugleich fremd. Sie
sehen aus wie Menschen, die amerikanische Populärkultur genau studiert und aus deren absurdesten
Bestandteilen eine eigenwillig irre Episode konstruiert haben. Sie sprechen mit schwindelerregendem
Tempo, als hätten sie soeben erst einen Auto-Tunes-Recorder verschlungen. Mittlerweile habe ich
vergessen, dass andere Menschen im Raum sind. Ich gehe komplett in der Situation auf. Es ist eine
vollständig interaktive und persönliche Erfahrung. Ich bin tatsächliche zu eine Figur in einer Reality
TV Sendung geworden, die eine noch seltsamere Reality TV Sendung anschaut. Die Sendung ist
derart fesselnd und auf so raffinierte Weise verwirrend, dass ich mich umso destabilisierter fühle, je
länger ich hinsehe. Mir ist übel. Dadurch kann ich meine Figur weiterentwickeln. Meine Figur
verspürt Übelkeit. Es wird alles zu viel, und sie verlässt den Raum, ihre Gedanken rasen...
„Konzeptualisiere ich mich selbst für die Kamera und mein Publikum?“, fragt sie sich.
4
If you don't pay attention to me, I WON'T PAY ATTENTION TO YOU
Die Ökonomie der Aufmerksamkeit im Werk von Ryan Trecartin/ Lizzie Fitch und ihrern
Mitwirkenden
(eine assoziative Reflexion)
Meine Aufmerksamkeit wurde zum ersten Mal 2009 von dem Künstler Ryan Trecartin, seiner
engsten Mitstreiterin Lizzie Fitch sowie den Freunden, Familienangehörigen, Kinderdarstellern,
Haustieren und Künstlern, mit denen sie zusammenarbeiten, gefesselt. Es war The Generational:
Younger than Jesus Exhibit im New Museum in New York. Insgesamt 50 Künstler aus 25 Ländern,
die alle nach 1976 geboren waren, wurden in The Generational ausgestellt. Diese Gruppe ist unter
anderem als “die Millennium-Generation, Generation Y, iGeneration und Generation Me”
bezeichnet worden und wird häufig aufgrund ihres Konsumverhaltens definiert. 1 Inmitten dieser
jugendlichen Gruppe realisierte ich, dass ich bis dahin noch nie mit einem Kunstwerk konfrontiert
worden war, dass so auffallend eindeutig seine Zeit verkörperte.
Die Gruppe (mit Trecartin als ihrem Anführer) macht Arbeiten, die sie als “movies” beschreibt und
die eine Welt darstellen, die von Medien durchtränkt ist und dem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom
des Internetzeitalters unterliegt. Diese digitalen Schöpfungen verwenden nicht-lineare
Erzählstränge, Sprache, Queer Theorie, soziale Medien und digitale Kultur, um die Performance
und Präsentation von Identität in der heutigen Kultur mit einem exzentrischen Sinn für Humor
darzustellen. Von den häuslichen Szenen und dem Reality Fernsehen bis hin zu den skulpturalen
Landschaften der Vorstadt, wo sie gezeigt werden, haben Trecartin und Fitch zahlreiche Bühnen
entworfen, auf denen die Aufführung einer absurden Dramaturgie der Welt stattfinden kann, die uns
auf geradezu unheimliche Weise vertraut erscheint.
Die treibende Kraft dieser Welt ist der persönliche Ausdruck. Die Arbeit bebildert einen
andauernden Dialog zwischen Identität und Technik. Könnte man die Arbeit auf ein einziges Thema
“reduzieren”, so handelt sie möglicherweise von der Konstruktion und Performativität der
persönlichen Identität, mithilfe der sozialen Medien. Diese Sichtweise bietet interessante utopische
und dystopische Lesarten, die sich nicht wechselseitig ausschließen und den unwiderstehlichen
Charakter der Arbeit bewirken. So empfindet man es beispielsweise als befreiend, dass die
abgebildeten Figuren die Fragen von Rasse und Geschlecht hinter sich gelassen haben. Sie haben
(mit den Mitteln ihrer extrovertierten Kostüme, ihrer Manieriertheiten, Sprache und persönlicher
Stilausprägung) ihre eigenen hybriden Persönlichkeiten programmiert und entworfen.
“Trecartin’s films reject the binarism of real and virtual, male and female, self and other, gay
or straight, rationality and madness, surface and subtext, style and content, time and space.
What matters here is not the search for structure in a disordered, disorientating world, but the
free-form energy of self-invention.”2
1
New Museum website. (2009): <http://www.newmuseum.org/exhibitions/411>. [Zugegriffen 12.2.2012]
Langley, P. (2012): Ryan Trecartin: The Real Internet is Inside you. In: The White Review.
<http://www.thewhitereview.org/art/ryan-trecartin-the-real-internet-is-inside-you/ >[Zugegriffen 13.4, 2012]
2
5
Die vordringliche Beschäftigung mit der eigenen Individualität führt zu einem obsessiven Blick auf
sich selbst, der Subtext lautet: schau mich an, nein schau MICH an. Filmfiguren stellen
narzisstische digitale Cyborgs dar, die sich eigentlich nicht miteinander unterhalten, sondern zu
einander sprechen. Sie befinden sich in einer ständigen Performance für die allgegenwärtige
Webcam oder Digitalkamera – eine Selbstbewusstheit, die stets zu Werbung in eigener Sache führt.
Sie speien fieberhaft sinnlose Informationen (wie personifizierter Spam) in schwindelerregender
Geschwindigkeit, die erbittert um die knappste aller Ressourcen streitet: Aufmerksamkeit.
“Aufmerksamsein ist der Inbegriff des bewußten Daseins im Sinn von sowohl
selbstgewisser Existenz wie wacher Geistesgegenwart. Das Aufmerksamsein ist das
Medium, in dem alles vorkommen muß, was für uns erlebende Wesen wirklich werden will.
Aufmerksame Wesen sind Zentren einer je eigenen Welt. Diese Welt existiert so oft, wie ein
aufmerksames Wesen in ihrem Zentrum »da« ist.”3
Es ist nicht leicht eine bündige Definition der Aufmerksamkeit zu finden. Die Standford
Encyclopedia of Philosophy bietet das folgende:
“The difficulty of giving a unified theory of attention that applies to attention's voluntary and
involuntary instances, and to its perceptual and inactive instances, makes attention a topic of
philosophical interest in its own right.” 4
Mit diesem Text beziehe ich mich auf Georg Francks Interpretation. Franck war einer der ersten, die
in Deutschland über die Verschiebung im ökonomischen Denken hin zur Aufmerksamkeit
geschrieben haben. Nach ihm ist Aufmerksamkeit eine der wertvollsten Ressourcen für die
Validierung unserer Existenz. Sie ist unabdingbar für die Anerkennung dessen, was “real” ist, was
für uns Bedeutung hat, was uns zum Zentrum unseres individuellen Universums macht. Was
geschieht jedoch mit der Aufmerksamkeit in einem Zeitalter der Informationsübersättigung?
Im Jahr 1971 schrieb der Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften Herbert Simon über das
Zusammenspiel von Aufmerksamkeit und Information:
"...in an information-rich world, the wealth of information means a dearth of something else:
a scarcity of whatever it is that information consumes. What information consumes is rather
obvious: it consumes the attention of its recipients. Hence a wealth of information creates a
poverty of attention and a need to allocate that attention efficiently among the
overabundance of information sources that might consume it" 5
und im Jahr 1997 schrieb Michael H. Goldhaber in The Attention Economy: The Natural Economy
of the Net:
3
Franck, Georg. “Ökonomie der Aufmerksamkeit”. Merkur Nr. 534/535. Hannover, München. (September/Oktober
1993), S.760
4
Stanford Encyclopedia of Philosophy, First published Tue 8. September 2009.
<http://plato.stanford.edu/entries/attention/>. [Zugegriffen 15.4.2012]
5
Simon, H.A. (1971): Designing Organizations for an Information-Rich World. In: Martin Greenberger, Computers,
Communication, and the Public Interest, Baltimore, MD: The Johns Hopkins Press. 1971 S.40-41.
6
“If scarcity is a main motivator of the type of organized activity that could possibly be
labeled an economy, then the scarcity of attention is an especially good one.” 6
Denken wir uns die Knappheit oder begrenzten Ressourcen als Triebfeder eines ökonomischen
Modells, so folgt die neue Wachstumsökonomie der postindustriellen Gesellschaft, in der es ein
Überangebot an Waren, Dienstleistungen und Informationen gibt und Gesetze, die nach wie vor auf
Angebot und Nachfrage basieren und daher das Knappe zu etwas Wertvollem machen.
Wirtschaften entwickeln sich wie Menschen in ihren Aktivitäten und im Zusammenspiel mit
Dingen. Goldhaber merkt an:
“an economy is not ultimately about nature; it is about human interactions. What matters in
an attention economy is much more why and how humans want, seek, obtain and pay
attention.”7
Da wir uns nun in einer Ära befinden, in der jeder unweigerlich mit dem einen oder anderen
digitalen/sozialen Medium in Berührung kommt, ist es von großer Bedeutung, dass man ein
wirtschaftswissenschaftliches Modell entwirft, das dieser Veränderung Rechnung trägt.
“If the Web and the Net can be viewed as spaces in which we will increasingly live our lives,
the economic laws we will live under have to be natural to this new space. These laws turn
out to be quite different from what the old economics teaches, or what rubrics such as "the
information age" suggest. What counts most is what is most scarce now, namely attention.” 8
Im Kunst-Kontext verweist Nicolas Bourriaud auf eine Veränderung darin, wie Kunst als Reaktion
auf sich wandelnde, ökonomische Modelle geschaffen wird. In einem Gespräch in Artforum
zwischen Bourriaud und Bennett Simpson über die Implikationen der digitalen Medien für die
Kunstpraxis, erörtert Bourriaud einige Funktionen der Kunst für das, was er als Postproduktion
bezeichnet. In seinen Ausführungen behauptet er, dass die Kunstproduktion sich heute eher am
Modell der Dienstleistungsindustrie und der immateriellen Ökonomie orientiert, im Gegensatz etwa
zum Minimalismus, der dem Modell der Schwerindustrie folgte.
“Commerce, trading, the market, is a much more important metaphor for art than we like to
believe........ It's no coincidence that art is dealing with this complex at this point. We have a
global culture, dominated by exchange.”
“Artists provide access to certain regions of the visible, and the objects they make become
more and more secondary. They don't really "create" anymore, they reorganize[...]The
6
Goldhaber, M. H. (1997): The Attention Economy: The Natural Economy of the Net.
<http://www.well.com/user/mgoldh/natecnet.html> [Zugegriffen 15.3.2012]
7
Goldhaber, M. H. (1997): The Attention Economy: The Natural Economy of the Net.
<http://www.well.com/user/mgoldh/natecnet.html>[Zugegriffen 15.3.2012]
8
Goldhaber, M. H. (1997): The Attention Economy: The Natural Economy of the Net.
<http://www.well.com/user/mgoldh/natecnet.html>[Zugegriffen 15.3.2012]
7
common point between relational aesthetics and Post-Production is this idea that to
communicate or have relations with other people, you need tools. Culture is this box of
tools.”9
Der Dienstleistungssektor, bzw. der immaterielle Markt, bzw. die Postproduktion als neue Form
künstlerischer Arbeit, kann auch als Teil der Aufmerksamkeitsökonomie betrachtet werden.
Empirisch hängt diese Art von Wirtschaftsmodell von menschlichem Verhalten ab, sowie von der
Art und Weise, wie Menschen miteinander kommunizieren und Beziehungen eingehen. Seine
Funktion besteht in einem Austausch von geschenkter und eingeforderter Aufmerksamkeit.
Im Verlauf dieser Arbeit werde ich Gedanken miteinander verweben, die die Verknappung der
Aufmerksamkeit (die einen Einfluss auf unser Leben nimmt und dementsprechend auf unser
Wirtschaftssystem) darstellt. Den Leitfaden für diese Betrachtung bietet die Ausstellung von
Trecartin und seinen Mitstreitern mit dem Titel Any Ever, die im PS1, dem Ableger des Museum of
Modern Art in New York stattgefunden hat. Sie stellt für mich eine Fallstudie einer Arbeit dar, die
kulturelle Trends verwendet (vor allem in Gestalt der Performance) und die eine Welt, die von der
Ökonomie der Aufmerksamkeit durchdrungen ist, verkörpert, parodiert und bloßstellt. Das
Hauptaugenmerk wird darauf liegen, wie dieser Gesellschaftstypus in der Produktion, Verbreitung
und Präsentation von Trecartins “movies” auf den Punkt gebracht wird und wie die “Wirklichkeit”
seine Rezeption beeinträchtigt.
Einen Teil der Faszination, oder vielmehr der Popularität von Ryan Trecartin, Lizzie Fitch und ihren
Mitstreitern liegt in der Tatsache, dass es ihnen gelungen ist, in nur wenigen Jahren die
Aufmerksamkeit der Kunstwelt auf sich zu ziehen. Insbesondere Trecartin als ihr Dirigent genießt
weitreichende Anerkennung (in den Publikationen der Kunstszene, des Internets, und sogar in den
Printmedien). Eine kürzlich erschienene Kritik im New Yorker erklärte ihn gar als “the most
consequential artist to have emerged since the nineteen-eighties.” 10 – eine ungewöhnliche Aussage
über einen Künstler, der erst vor Kurzem seinen 30. Geburtstag gefeiert hat.
Seine Arbeiten werden oft mit den frühen Werken von John Waters, Paul McCarthy und Mike
Kelley verglichen.
“Trecartin’s work is typically placed by critics within a genealogy of American subversives.
And yes, it is easy to detect within his work a strain of avant-garde aesthetics that feels
uniquely US: the sinister kitsch of John Waters’ films, for example, the dysphoric identitymashing of Cindy Sherman, even the violent ruptures of Paul McCarthy’s performance
films. But none of these comparisons quite nail Trecartin down.” 11
9
Bourriaud, N.; Simpson, B. (2001): Public Relations – an interview with Nicolas Bourriaud by Bennet Simpson. In:
Artforum. New York, NY. April 2001, S.54.
10
Schjeldahl, P. (2011): Party On: Ryan Trecartin at P.S. 1. In: New Yorker. New York, NY. 27. Juni 2011, S.84
11
Langley, P. (2012): Ryan Trecartin: The Real Internet is Inside you. In: The White Review.
<http://www.thewhitereview.org/art/ryan-trecartin-the-real-internet-is-inside-you/> [Zugegriffen 13.4, 2012]
8
Wie bei den meisten Künstler der Popkultur, hat sich um Trecartin ein gewaltiger Mythos
entsponnen, wie er beispielsweise 2004 im Internet entdeckt worden sei, was seiner Popularität den
Anstrich der Zugänglichkeit verlieh. Auch kommt dies mit Goldhabers Vorstellung überein, dass
aus dem Internet Aufmerksamkeit zu gewinnen ist. Wie bereits angemerkt, setzt er den Cyberspace
mit einem “Ort” gleich, wo die Aufmerksamkeitsökonomie ihre volle Geltung entfalten wird, und
sieht das Internet als ideales Mittel für die Ausstrahlung und Verbreitung von Aufmerksamkeit. 12
Obwohl Trecartin nicht etwa per Zufall im Internet entdeckt worden ist, so sind doch die Mehrzahl
seiner “movies” kostenlos im Internet zugänglich. Dieses Mittel des Vertriebs und des Konsums
werde ich später noch genauer erörtern.
Laut einem Interview in dem Magazin W wurde Trecartin vielmehr entdeckt, als eine seiner DVDs
zu einer Gruppe Kunststudenten in Cleveland gelangte, die sie der Künstlerin Sue de Beer zeigten,
die gerade dort zu Besuch war. De Beer empfahl sie wiederum der Kuratorin und Autorin Rachel
Greene, die ihrerseits Trecartin aufspürte und ihn einer Reihe von New Yorker Galeristen ans Herz
legte, zu der auch Elizabeth Dee gehörte. Dee wurde Trecartins Kunsthändlerin. Auf der besagten
DVD befand sich Trecartins erster “movie”, seine Abschlussarbeit an der Rhode Island School of
Design: A Family Finds Entertainment . Der “movie” ist sonderbar, düster, skurril und grotesk und
besitzt jene grobkörnige Qualität des frühen Reality TV, oder manch autodidaktischer Videos, die
bei Youtube hochgeladen werden. Dieses Video ist jedoch entstanden, bevor es Youtube überhaupt
gab, und es gibt eine Vorahnung dessen, was uns noch erwartet.13
(Ryan Trecartin, A Family Finds Entertainment, 2004, DVD, 41 min., 2004)
Trecartin, der in Texas geboren wurde und in Ohio aufgewachsen ist, behauptet von sich, dass er als
Kind nicht mit Kunst in Berührung gekommen ist, sondern eher von Disney, dem Kabelfernsehen
und Reality TV beeinflusst ist. Er genoss es, sich zu verkleiden und mit seinen Freunden Theater zu
spielen, und wuchs in einer Zeit auf, als die Kameras digital wurden und in jedem Haushalt zu
finden waren. In der 6. Klasse fing er an, diese Aufführungen aufzuzeichnen. Kurze Zeit später
machte ihn ein Fotografielehrer mit dem Werk von Cindy Sherman bekannt. 14
12
Goldhaber, M. H. (1997): The Attention Economy: The Natural Economy of the Net.
<http://www.well.com/user/mgoldh/natecnet.html> [Zugegriffen 15.3.2012]
13
Lubow, A. (2010): Ryan's Web: Cyberworld Art Star Ryan Trecartin makes over his band of merry collaborators and
takes Arthur Lubow inside his digital dreamscape. In: W Magazine. November 2010. <http://www.wmagazine.com/
artdesign/2010/11/ryan_trecartin> [Zugegriffen 17.4.2012]
14
Smith, R. (2011): Like Living, Only More So. In: New York Times. New York, NY. 23. Juni 2011, S. C25.
9
Es ist nicht leicht von einem seiner “movies” im Besonderen zu sprechen, da es wiederkehrende
Themen und Motive gibt, die sich durch alle seiner Arbeiten ziehen. Er selbst hat im
Zusammenhang des Films I-Be Area, der auf der Whitney Biennale von 2006 vorgestellt wurde und
seinen Durchbruch als Regisseur von Filmen mit Spielfilmlänge markiert, diesen beschrieben als “a
conceptual part-cyber-hybrid platform that obeys and functions with both laws of physics and
virtual-nonlinear reality and potential in Web 2.0/ultra-wiki communication malfunction liberation
flow, add-on and debate presentation.” 15 Diese Art der Erklärung klingt einerseits seltsam vertraut,
anderseits schräg und schwer verständlich, wie die “movies” selbst.
ANY EVER (Trailer), Ryan Trecartin MoMA PS1, 2011
Ich werde hier eine Skizze einer der jüngsten Einzelausstellungen liefern, nämlich Any Ever im
PS1. Die Ausstellung war ursprünglich eine Zusammenarbeit des Museum of Contemporary Art in
Los Angeles mit Elizabeth Dee Gallery. Any Ever ist von der konzeptuellen Struktur her ein
Diptychon, der aus einer Trilogie: Trill-ogy Comp (2009) und einem Quartett: Re’Search Wait’S
(2009–10) besteht. Sie durchwanderte Museen von Toronto über Istanbul, bis nach Paris und wurde
in dem Ableger des MoMA namens PS1 vom 19. Juni bis 3. September 2011 gezeigt. Die Trilogie
und das Quartett aus Any Ever dauern zwischen 40 und 50 Minuten und beziehen sich sowohl
inhaltlich, als auch formal auf einander. Die Videos werden in einer Endlosschleife in je eigenen
Räumen präsentiert und sind umgeben von Installationen aus Requisiten, die den “movies”
entstammen.16
Es würde unabsehbar lange dauern (und keinerlei Sinn ergeben), jeden der sieben “movies”, sowie
die dazugehörigen Installationen, die allesamt Any Ever ausmachen, zu dekonstruieren und zu
analysieren. Vielmehr möchte ich die sie um- und überspannenden Themen und Charakteristika
ausführen, und so die Aufmerksamkeit darauf lenken, wie die Arbeit die dominanten Aspekte der
Popkultur in einer Gesellschaft der Aufmerksamkeitswirtschaft reflektiert, verdreht und ad
absurdum führt.
15
16
Miller, M. H. (2011): Ryan Trecartin’s Manic, Dystopic Art Makes for One Killer Party. In: New York Observer.
New York, NY. 21. Juni 2011, S.12
Cwelich, L.(2011): Ryan Trecartin: Art for the Age of YouTube. In: Wall Street Journal.
<http://blogs.wsj.com/speakeasy/2010/07/20/ryan-trecartin-art-for-the-age-of-youtube/>. 20.Juli, 2011.[Zugegriffen
15.4.2012]
10
Handlung::Themen/Drehbuch::Hypertext
Die Titel der “movies” in Trill-ogy Comp (2009) lauten: Sibling Topics (section a), K-Corea INC.K
(section a), P.opular S.ky (section ish). Im Quartett Re'Search Waits (2009-2010) finden wir:
Roamie View: History Enhancement, Ready, Temp Stop und The Re'Search.
All diese Titel zeigen deutlich, wie Trecartin mit der Sprache der digitalen Popkultur umgeht, um
wiederkehrende Motive durch alle “movies” hindurch zu transportieren und zu kommunizieren.
Marktforschung, zur Ware werden, Konsum, Ehrgeiz, Beschimpfungen, Überwindung der
Zugehörigkeitsfrage von Geschlecht und Identität, Berühmtheit, Unterhaltungsindustrie und die
Darstellung des Alltags, der zutiefst von den Massenmedien geprägt wird - dies sind z.B. die Motive
der “movies”. Any Ever stellt, wie der Titel schon andeutet, Alles und Jedes dar, was zeitgleich im
Internet stattzufinden scheint. Diese Eigenart macht es schier unmöglich, sich die ‘Movies’ von
Anfang bis Ende anzusehen.
Auf die Handlungsstränge als Motive verweise ich deshalb, weil dieses digitale Kino keine
Geschichten erzählt, sondern schlicht Inhalt generiert. Figuren bewegen sich nicht auf ein
bestimmtes Ziel hin; sie erfüllen keinerlei beschreibbare Aufgabe. Sehr wohl machen sie Dinge
kaputt, springen in den Pool, malen Bilder. Sie existieren, wo immer, wann immer sie wollen. Sie
befinden sich in einem permanenten Zustand des Abhängens, in dem sie eine Litanei scheinbar
sinnloser Informationen mit großer Geschwindigkeit von sich geben, die jegliche narrative
Zielvorstellung im Keim erstickt. Die Figuren verfestigen sich erst, wenn sie dem Blick der Kamera
ausgesetzt werden. Der Inhalt wird von einer rhizomartigen Struktur ummantelt, die analog zu
Erzählungen ist, die für soziale Netzwerke und Videospiele geschrieben worden sind. Die nichtlinearen, vielfältigen Erzählstränge bieten dem Zuschauer die Möglichkeit, sich in einem
selbstgewählten Abenteuers zurechtzufinden, so dass sie in der Lage sind, willkürlich auszuwählen,
was sie sehen bzw. erleben möchten.
Trill-ogy Comp zeigt ein fortlaufendes Programm, wohingegen die vier “movies” von Re’Search
Wait’S zeitgleich laufen, sodass der Zuschauer
“can curate and structure their own plot and themes, through the process of editorializing, by
how long they stay in each space.”, sagt Trecartin.17
Dies vermittelt das Gefühl, das nichts jemals ganz ankommt; Erzählstränge werden nie aufgelöst,
und die Erfahrung wird eine sehr persönliche.
Der Philosoph und Kulturkritiker Slavoj Žižek spricht in seinem Essay The Cyberspace Real über
narrative Strukturen, während er Überlegungen anstellt, etwas “Wirkliches” innerhalb der
chaotischen, “proto-psychotischen” Dimensionen des Cyberspace zu verstehen. Er skizziert zwei
Strukturen des Erzählens im Cyberspace: erstens eine eher lineare des “Abenteuers eines einzelnen
17
Zitat von Ryan Trecartin in: Cwelich, L.(2011): Ryan Trecartin: Art for the Age of YouTube. In: Wall Street Journal.
<http://blogs.wsj.com/speakeasy/2010/07/20/ryan-trecartin-art-for-the-age-of-youtube/>. 20.Juli, 2011.[Zugegriffen
15.4.2012]
11
Pfads in einem Irrgarten” und zweitens die “vom Hypertext unterwanderte Form der rhizomhaften
Fiktion”. In der ersten Struktur kann der “Interakteur” (wie er den Teilnehmer bezeichnet) nur eine
einzige Lösung in dem Spiel wählen, das gewonnen oder verloren wird. In letzterer, dem
‘Hypertext-Rhizom’, gibt das Drehbuch „keiner Reihenfolge des Lesens oder des Interpretierens”
den Vorzug. Es gibt keinen endgültigen Überblick, keine Möglichkeit einer kohärenten
Rahmenerzählung – “wir, die Interakteure, müssen einfach hinnehmen, dass wir uns in der
widersprüchlichen Komplexität von multiplen Verweisen und Verknüpfungen verirrt haben”. 18
Dies, argumentiert Žižek, ist beruhigender, als den Zuschauer zu verwirren oder ihn eine Art der
Angst erleben zu lassen, weil es hier kein eindeutiges Ende des Erlebnisses gibt. Auf bestimmte
Weise wird dem Zuschauer ermöglicht, “alternative Wirklichkeiten zu erforschen, in die man sich
zurückziehen kann, wenn man an einem toten Punkt angelangt ist”. 19 Das ‘Hypertext-Rhizom’
veranschaulicht, was Žižek für die Ideologie hält, die der Technik zugrunde liegt, die wir mehr und
mehr im Alltag verwenden. Eine Ideologie, die auf eine Auflösung bzw. ein Ende hindeutet.
Dieser existenziellen Sorge widmet sich Trecartin, wenn er die Figur Waits in Ready (RE’Search
Wait’S) spielt, die direkt an die Kamera gewandt erklärt:
“Am I over existing or am I over existing? That's my inside joke.” 20
Es überrascht wenig, dass selbst die bloße Erzählstruktur dämonisiert wird. In P.opular S.ky
(section ish), teilt uns eine weitere von Trecartin gespielte Figur mit, dass sie den Wunsch hat, in
einer Welt zu leben, in der das Erzählen der Teufel ist. Das Erzählen (der Teufel) ist der lineare
Gegenspieler der Freiheit des selbst-verfassten Drehbuchs und der Möglichkeit von Mehrdeutigkeit
und Widersprüchlichkeit in allen Einzelfiguren. 21
(Ryan Trecartin, P.opular S.ky (section ish) HD video, 43 minutes, 51 seconds, 2009)
18
Zizeck, S. (2008): The Cyberspace Real: Cyberspace Between Perversion and Trauma.
<http://www.egs.edu/faculty/slavoj-zizek/articles/the-cyberspace-real/>. 13 Sep 2008 [zugegriffen 18.4, 2012].
Übersteztung von Volker Ellerbeck 2012.
19
Zizeck, S. (2008): The Cyberspace Real: Cyberspace Between Perversion and Trauma.
<http://www.egs.edu/faculty/slavoj-zizek/articles/the-cyberspace-real/>. 13 Sep 2008 [zugegriffen 18.4, 2012].
Übersteztung von Volker Ellerbeck 2012.
20
Ryan Trecartin, Ready (Re'Search Wait'S) HD Video, 26:50, 2009-2010.
21
Ryan Trecartin, P.opular S.ky (section ish) HD video, 43: 51, 2009.
12
Eigentlich ist also die Absicht hinter dieser Struktur nicht die, des einfachen Zuschauens und des
Versuchs eine lineare Geschichte auszumachen, die zu einer Auflösung führt. Sondern vielmehr des
‘Lesens’ der Hypertext-Erzählung, die kein festgelegtes Ende besitzt. Der Mangel an linearer
Erzählung verleiht den Figuren die Freiheit, ihre eigene, vielfältige Existenz zu erschaffen. Das
Rhizom-Hypertext/Drehbuch ermöglicht dies, durch die Sprache, die es verwendet. Die Worte
werden zur Basis. “I try to explore language as something that extends into every aspect of a
presentation[...]The whole piece is language.” 22
(Ryan Trecartin, K-CoreaINC.K (section a), HD Video 33 minutes, 5 seconds, 2009)
Sprach-Skulptur „Worte Machen“
Trecartin gibt an, dass er jede Arbeit damit beginnt, ein Drehbuch zu schreiben. Das Geschriebene
ist aus und vom Internet, aber es ist nicht wie flarf oder digitale Poesie, deren Voraussetzung in
prinzipiell zufälliger Suche, Copy und Paste liegt. Trecartin integriert vielmehr die Sprache des
Internets und kombiniert sie mit der Sprache des Reality TVs und der Populäpsychologie. Diese
hybride Verwendung von Sprache wird in dem Maß organisch, in dem das geschriebene Wort
Gestalt annimmt. Eines von Trecartins wichtigsten Themen, und der Grund, warum er Münder mit
Clown-Make-up betont, ist sein Interesse an Sprache.
“exploring language and how it is changing. Mouths are a direct expression of an idea I’m
trying to get across. I’m exploring all levels of a particular word – how it’s said and with
what accent and what positioning within a sentence and how a person’s face is moving and
what kind of props they’re using with that word. It’s all communication. Media and
technology are not separate from that anymore.” 23
Dies macht den gesprochenen Ton des Wortes vertraut und doch kryptisch. Figuren sagen Dinge wie
“I don’t have a consistent birthday”, wenn ihnen ein Geschenk überreicht wird, oder, noch
charakteristischer für die Zeit in der wir leben, “I love learning about myself through other people’s
22
Zitat von Ryan Trecartin in: Ford, W. (2011): The Q&A: Ryan Trecartin Video Artist. In: More Inteligent Life,The
Economists. <http://moreintelligentlife.com/blog/whitney-ford/qa-ryan-trecartin>. August, 2011. [Zugegriffen
17.4.2012]
23
Zitat von Ryan Trecartin in: Cwelich, L.(2011): Ryan Trecartin: Art for the Age of YouTube. In: Wall Street Journal.
<http://blogs.wsj.com/speakeasy/2010/07/20/ryan-trecartin-art-for-the-age-of-youtube/>. 20.Juli, 2011.[Zugegriffen
15.4.2012]
13
products” und "I hope for your sake you’re a good enough visualizer to contain yourself long
enough to pump out a few more giggles before you see the button that you are and push it." 24
Sämtliche Aspekte von Trecartins Arbeiten – die Kameraführung, der Schnitt, die Musik, das Makeup und die Kostüme, wie auch Lizzie Fitchs Drehorte für die Videos und die “sets” für ihre
Vorführung Any Ever – werden vorweggenommen, durch seine Art mit Worten umzugehen. In
gewissem Sinn ist die Sprache die skulpturale Grundlage und alle anderen Elemente, die in der
Arbeit hinzukommen, werden zu Werkzeugen für die Verfeinerung jener Skulptur.
“Speech functions as a series of “identity storage units,” to quote from “K-Corea,” an
assemblage of accents, sentence fragments, phrases, and non sequiturs. The viewer is left to
position herself amid the chaos and navigate the linguistic cues in her own way.” 25
Wie in einer Skulptur obliegt es dem Betrachter, sich im Text zurechtzufinden und sich zu ihm in
Beziehung zu setzen. Die sprachlichen Hinweise umfassen beispielsweise:
Ich kann einen gewinnorientierten Verlust sexy
und vollkommen vernünftig aussehen lassen.
Hast du schon unser Vater
Netzwerk gekündigt?
Männlich war schlicht eine hübsche Idee,
ich bin letztlich nur ein ,als ob‘
I can make a for-profit nonprofit look sexy and totally
reasonable.
Did you cancel our father
network yet?
Male was just a cute idea
I’m finally just an ‘as-if’
Besitze ich einmal ein Monopol, werde ich ihm
ein neues Image verpassen
Once I have a monopoly, I’m
gonna rebrand him.
Ich kann es kaum erwarten, bis das
Internet seine Unabhängigkeitserklärung
abgibt
I can’t wait ’til the internet
declares its independence
Ich will jemanden zusammenschlagen, ich
will einem Jungen in den Kopf schießen und
ich will meine Automatenschwester in den
Blender schmeißen
I wanna beat someone up,
I wanna shoot a boy in the
head, and I wanna throw my
automatic sister in a blender
Ryan Trecartin, K-Corea INC.K (section a), 2009
24
25
Ryan Trecartin, Roamie View : History Enhancement (Re'Search Wait'S) HD Video 28:24, 2009-2010
Huettner, J. (2011): Narration Is The Devil: Ryan Trecartin's Any Ever @ PS1. In: Hyperallergic, Sensitive to Art &
its Discontents.< http://hyperallergic.com/29213/narration-is-the-devil-ryan-trecartins-any-ever-ps1/>. 12. Juli 2011
[Zugegriffen 17.4.2012]
14
Die Art und Weise, in der die Worte nebeneinander gestellt und nach dem Zufallsprinzip präsentiert
werden, schafft eine Umgebung, die analog zu dem über die Filmkulisse verstreuten Mobiliar ist.
Badezimmerfliesen treten neben Büromöbeln auf. An einer Wand wechseln sich Barhocker mit
Pflanzenkübel ab, die mit Papier vollgestopft sind. Ansonsten liegen Gepäckstücke auf Emporen
herum, ebenso wie Flugzeugsitze, Sofas und Küchenutensilien. Die Möbelstücke sind so allgemein
üblich, dass man sie auf unendlich viele Arten miteinander kombinieren kann. Sie sind wie Worte.
“Grammatical difference meets geographical difference as both are jettisoned. No setting is
indicated-the list of characters is enough to locate the action in an unanchored imaginary.” 26
Raum und Ort und Sachen
Über einen Zeitraum von anderthalb Jahren haben Trecartin und Fitch (immer wieder sporadisch
mit ihren Mitstreitern) zusammen in einem Haus in Miami gelebt, das auch die Kulisse für die Serie
abgab, aus der schließlich Any Ever entstand. Im bereits erwähnten Interview im Paper Magazine
gibt Trecartin ein Bild davon, wie sich das Haus langsam wie Cyberspace anfühlte, da es keinerlei
persönliche Geschichte gab, die die Bewohner mit ihm assoziierten. Die häusliche Umgebung und
seine innewohnende Cyberspace-Qualität steht in Beziehung zur inneren Logik, sowie der
Präsentation der Arbeit: Alles existiert im Augenblick, es gibt keine Zeit für ein Gefühl der Dauer. 27
Die skulpturalen Motive, die die “movies” bewohnen, verweisen auf die Bildschirmereignisse. Alles
macht den Eindruck, absichtlich allgemein gehalten und deplatziert zu sein; der weitaus größte Teil
der Einrichtung, innen wie außen, stammt von Ikea.“Items from any ordinary middle-class home are
present—couches, dining room tables, patio umbrellas—and they can be sat upon or touched, but
everything is out of place: mirrors are cracked, luggage rests in suitcases, curtains are draped over
blank sections of a wall.”28
Die Kulisse wird zu einem destabilisierenden Element, das den Betrachter davon abhält, sich brav
in einer vertrauten Umgebung hinzusetzen. Diese theaterhaften Landschaften bieten dem Zuschauer
die Gelegenheit, selbst zu einer Figur in etwas zu werden, das wie eine sonderbare Kulisse für
Reality TV aussieht. Diese von Trecartin so bezeichneten „skulpturalen Bühnen“ kümmern sich um
die Gegenwart und die Performance des Publikums.
26
Droitcour, B.(2011): Making Word: Ryan Trecartin as Poet. In: Rhizome.
<http://rhizome.org/editorial/2011/jul/27/making-word-ryan-trecartin-poet/> . 27. Juli 2011. [Zugegriffen 19.4.2012]
27
Kramer J. (2011): Controlling the Chaos. In: Paper Magazine.
<http://www.papermag.com/arts_and_style/2011/06/controlling-the-chaos.php>. 17. Juni 2011[Zugegriffen 28.4.2012]
28
Miller, M. H. (2011): Ryan Trecartin’s Manic, Dystopic Art Makes for One Killer Party. In: New York Observer. New
York, NY. 21. Juni 2011, S.12
15
(ANY EVER , Ryan Trecartin MoMA PS1, 2011)
“ The room is critical to that particular presentation. The work is meant to have many homes:
movie theatre, home theatre, internet, computer, installation, party. These different homes
bring out different aspects of the content and story and promote different experiences
“reading” the work”.29
Sachen spielen wichtige Rollen und haben entscheidende Auftritte. Das VIP (very important
product), das wichtigste Accessoire der “movies” ist das Mobiltelefon. Ein Apparat, der täglich und
häufig benutzt wird, der nicht nur für die Kommunikation genutzt wird, sondern um unser Leben zu
organisieren, zu dokumentieren und zu archivieren – eine technische Erweiterung unserer selbst.
Beinahe jede Figur besitzt eines. Die Figuren in den “movies” Telefonieren entweder unablässig,
was sie nicht davon abhält, auch eine Unterhaltung mit den Menschen im selben Zimmer zu führen,
oder sie verwenden das Mobiltelefon als eine Art Ventil, um Frustrationen abzubauen. In einem der
“movies” streiten zwei jugendliche Mädchen und werfen BlackBerry Mobiltelefone in einen
Swimmingpool, in dem bereits ein Bürostuhl unbehaglich umhertreibt. Die Mobiltelefone werden
selbst zu Figuren, deren Sprache eine physische Form annimmt, die auf dem Schirm in Gestalt von
Zahlen, Symbolen und Kurznachrichten erscheint.
Zusammen arbeiten und Rollen, die angenommen werden
“Over and above the creator/collaborator relationship, their work involves the invention of a
new form of connective creativity. The characters intermingle, merge and subdivide, with
gender, age, appearance and function as random factors whose permutations serve as triggers
for his fictions.”30
29
Zitat von Ryan Trecartin in: Ford, W. (2011): The Q&A: Ryan Trecartin Video Artist. In: More Inteligent Life,The
Economists. <http://moreintelligentlife.com/blog/whitney-ford/qa-ryan-trecartin>. August, 2011. [Zugegriffen
17.4.2012]
16
Dutzende von Familienangehörige, Freunden, Kinderdarsteller und Künstlerkollegen werden
gecastet und spielen Figuren, die sich stets in einem Übergangsstadium befinden. Trecartin schreibt
die Mehrzahl der Szenarien für die Videos, führt Regie und übernimmt die Überarbeitung, während
Fitch sich um die Produktion kümmert. Die Installationen werden ebenso wie die Skulpturen in
Zusammenarbeit hergestellt. Der Abspann listet jeweils die Einzelheiten der Arbeitsteilung auf.
Trecartin, wie auch Fitch spielen Filmfiguren und schreiben oft während der Aufnahmen am
Drehbuch weiter. Unterschiedliche Rollen werden bei der Herstellung der “movies” übernommen.
Die Regisseur/Schauspieler-Rolle löst sich auf, bei einer Aufnahme ergibt sich eine Innen- und eine
Außenperspektive. Alle Beteiligten stehen jederzeit vor der Kamera, liefern eine Performance für
die Kamera.
“It's more kinetic: the camera starts getting passed around, the director-actor role collapses
and people start to have authority on how they want to be directed.” 31
Trecartin führt aus, dass die Arbeit zwar streng nach Drehbuch vor sich geht, jedoch auch
Improvisation im kooperativen Prozess zugesteht.
“There's always an amount of agency that all the characters have because it's a collaborative
effort. There's a meeting point where the performance meets the set, meets the props, meets
the script, meets the wardrobe.”32
Ein anschauliches Beispiel, das aus dem veröffentlichten Drehbuch K-Corea INC.K (2009)
hervorgeht, ist diese Fusion von Elementen der Filmfiguren. Ich habe die Koreas-Charaktere
„Figuren“ genannt, aber das Drehbuch bezeichnet sie als „Anwesende“, ein Unterschied, der die
Flüchtigkeit gegenüber der Dauer einer Figur betont. K-Corea ist ein Wortspiel mit dem Wort
Karriere. Der “movie” ist besetzt mit Menschen aus der ganzen Welt, die alle blonde Perücken
tragen, dicke weiße Schminke und weiße Hemden. Sie plappern in einem fort und erörtern in der
Sprache des Verkaufsfernsehens, so umfassende Themen wie die Weltherrschaft. In der Kulisse
finden sich behelfsmäßige Flugzeuge und Büros, die in einem Haus untergebracht sind. Einige der
Figuren wie etwa Global Korea, North America Korea, Mexico Korea, USA Korea, British Korea
und General South AmeriK werden allesamt zu Geheimagenten, die Kostüme, Kulisse, Requisiten
und Drehbücher (die Trecartin weiter oben erwähnt) verwenden, um ihrer Darstellung der
genreüblichen Fragen von „Karriere“ und Globalisierung Vorschub leisten. Die Generalisierung ihre
Sprache überdeckt jegliche Form des Andersseins.33
30
Burluraux, O.; Michaud, F. (2011): Any Ever at Musee D'Art Moderne De La Ville De Paris, exhibition curators
text. <http://www.mam.paris.fr/en/node/534>. October 2011. [Zugegriffen 19.4.2012]
31
Zitat von Ryan Trecartin in: Kramer J. (2011): Controlling the Chaos. In: Paper Magazine.
<http://www.papermag.com/arts_and_style/2011/06/controlling-the-chaos.php>. 17. Juni 2011[Zugegriffen 28.4.2012]
32
Zitat von Ryan Trecartin in: Kramer J. (2001): Controlling the Chaos. In: Paper Magazine.
<http://www.papermag.com/arts_and_style/2011/06/controlling-the-chaos.php>. 17. Juni 2011[Zugegriffen 28.4.2012]
33
Original Texte für K-CoreaINC.K (section a) 2009 in: Ubu Editions: Publishing The Unpublishable.Goldsmith,
Kenneth. ed.(2007)www.ubuweb.de. 2007-bis heute. [Zugegriffen 24.2.2012]
17
(Ryan Trecartin, K-CoreaINC.K (section a)
HD Video 33 minutes, 5 seconds, 2009)
Auf die Frage, warum er keine besondere Unterscheidung nach dem Geschlecht trifft, antwortet
Trecartin:
“I see it less as a lack of distinction in binary terms and more as an exploration of territories
within infinite gender creation, individualization and specificity. I imagine this as a type of
multiplex space. I’m often interested in realities where gender takes a back-seat to
personality articulation. As people explore and expand into spaces that are not dependent on
the body, but rather the mind, the construction and use of one's personality can become the
most defining aspect to identify. And the thing I love about personality is that it can be
added to, changed or re-worked at will, while not being classified or grouped very easily.” 34
Letztlich bekommt man den Eindruck, es gäbe hier einen open-source Zugang zu den Themen von
Persönlichkeit und Geschlecht. Im Allgemeinen werden in seiner Arbeit zwei Sorten von Figuren
dargestellt. Diejenigen, die so aus einer amerikanischen Vorstadt gepflückt wurden, wie sie dort zu
finden sind. Gegenübergestellt, die der schrillen und eklektisch kostümierten transgender, transrace,
post-Internet Typen. Die jedoch weitaus größte Zahl der Figuren “spielen” junge Leute einer
Generation, die nie ohne das Internet und die sozialen Medien gelebt haben.
Figuren interagieren miteinander, vor allem aber starren sie in die Kamera, während sie eine
Performance liefern, kommunizieren und Informationen verbreiten. Der Stil erinnert an Heimkino
auf Youtube. So beginnt zum Beispiel Sibling Topics (2009) mit einer schwangeren Jugendlichen,
deren Bauch sich wölbt und seine Form ändert aufgrund der Vierlinge, die in ihm wachsen. Sie
macht ein Video für ihre ungeborenen Kinder, während sie ihren Selbsthilfejargon von sich gibt,
Yogaübungen macht und von ihrem bevorstehenden Tod spricht. Später sehen wir die Figur Cedar
(einem der Vierlinge), der ein Video von sich für seine Mutter aufnimmt, in dem er in seinem
Zimmer herumstolziert und uns über seine Langeweile aufklärt. Das ist genau die Art der
Kommunikation dieser Figuren: durch die Performance erschaffen sie sich selbst. Sie teilen nie
ganz mit, wie sie sich fühlen, sie stellen unbearbeitete Gefühle aus.
34
Zitat von Ryan Trecartin in: Ford, W. (2011): The Q&A: Ryan Trecartin Video Artist. In: More Inteligent Life,The
Economists.< http://moreintelligentlife.com/blog/whitney-ford/qa-ryan-trecartin>. August, 2011. [Zugegriffen
17.4.2012]
18
Diese Qualität hat Massimiliano Gioni, den Direktor der Sonderausstellungen am New Museum,
dazu gebracht, den vom Kritiker James Woods geprägten Ausdruck “hysterical realism” auf
Trecartins Arbeit anzuwenden. “Hysterical realism” ist eine Literatursparte, deren ausgeklügelte
Absurdität nicht mitteilt, wie sich eine Figur fühlt, sondern stattdessen Gesellschaftstheorien
darüber reproduziert, wie die Welt funktioniert. Sämtliche Figuren der “movies” sind “hysterisch
real”. Wir sehen nicht, wie sie sich fühlen, sondern wie sie sich andauernd aufführen, mit ihren
Performances und der Zurschaustellung ihrer aufmerksamkeitsheischenden Persönlichkeit. Dies
wiederum reproduziert Gesellschaftstheorien darüber, wie die Welt funktioniert. 35 Es lässt sich nicht
leugnen, dass die westlichen Gesellschaften in einer Epoche leben, in der ein Kontakt mit der einen
oder anderen Art von digitalen Medien unvermeidlich ist. Die Verbreitung von realitätsbasierter
Unterhaltung und sozialen Medien hat unsere Kommunikation und Interaktion konditioniert.
Auf die Frage im Paper Magazine, ob er sich auf mediale Technologie und Sättigung oder auf die
menschlichen Reaktionen konzentriere, erklärte Trecartin:
“Technology is not the subject matter in the movies as an 'otherness,' or an element that
can be treated as a device. It's much more about the response, and the exchange, and it as
an extension, and the way that it's transforming our relationship to where we exist, who
we are, and how we co-mingle and communicate and what counts as a reality.” 36
Die Ideologie, die hinter dieser Technologie steckt, ist die Kommunikation und Vernetzung der
Nutzer untereinander. Allerdings zeigen die “movies” dies als eine Unmöglichkeit. Die Figuren sind
fortwährend mit sich selbst beschäftigt und wie sie selbst kommunizieren. Auf seiner Vimeo Seite
hat ein Betrachter einen Kommentar hinterlassen, der das Gefühl beschreibt, das ich hatte, nachdem
ich Trecartins Arbeit gesehen hatte:
Cody Sharp (Januar 2012)
“This overwhelming uncomfortable feeling, it's not in me, but around me. I want to feel bad
for the characters (myself), but once I do I will be acknowledging I am a part of this.” 37
Form und Inhalt = AUF und DURCH
In seinem Buch The Economics of Attention: Style and Substance in the Age of Information,
schreibt Richard Lanham über die Unterschiede und die Vereinigung von Stil und Gehalt in einer
Aufmerksamkeitsökonomie. Er sieht eine Analogie zum Lesen eines Textes und argumentiert dafür,
35
Zalewski, D. (2002): The Year in Ideas; Hysterical Realism.In: The New York Times.
<http://www.nytimes.com/2002/12/15/magazine/the-year-in-ideas-hysterical-realism.html>. 15. Dezember 2002.
[Zugegriffen 18.4.2012]
36
Zitat von Ryan Trecartin in: Kramer J. (2001): Controlling the Chaos. In: Paper Magazine.
<http://www.papermag.com/arts_and_style/2011/06/controlling-the-chaos.php>. 17. Juni 2011 [Zugegriffen
28.4.2012]
37
Zitat von Cody Sharp in Ryan Trecartins Vimeo Seite:< https://vimeo.com/5793454>. [Zugegriffen 17.4.2012]
19
dass es zwei Möglichkeiten gibt: AUF ihn zu blicken oder DURCH ihn zu blicken. AUF ist eine
Sichtweise an der Oberfläche oder die Verpackungsart, das Design, den Stil, wohingegen DURCH
ein Lesen und ein Verständnis des Inhalts bezeichnet. Er überlegt, dass in einer
Aufmerksamkeitsökonomie “der Inhalt der Stil ist”, beides nicht mehr zu trennen ist. 38
In Any Ever, werden vom Betrachter zugleich AUF und DURCH Sicht verlangt. AUF und DURCH
können auch als Form und Gehalt betrachtet werden. AUF bzw. Stil und Form der Arbeit können als
übereinandergelagerte Schichten von Bildern beschrieben werden. Es besteht ein Übermaß an
Farbe, Filmmaterial aus dem Internet und der Popkultur, wild stilisierte Kulissen und Performances,
die alle durch schnelle Schnitte und Überarbeitung miteinander verwoben werden. Der Film verfügt
über eine Partitur von Geräuschen und wie das Internet klingen würde, wenn es singen könnte. Die
Stimmen einiger Figuren sind digital manipuliert, so dass sie sich anhören wie zunehmend
populäre, digitalisiert Stimmen, die für Popsongs verwendet werden. Alles sieht aus und klingt wie
ein überlanges Musikvideo für Menschen mit Aufmerksamkeitsdefizit.
Die grobkörnige Qualität der “movies” (die ursprünglich in iMovie bearbeitet wurden) sehen aus,
als wären sie mit der Kamera eines Mobiltelefons gemacht worden oder mit einer Handkamera,
aber sicher nicht von einem professionellen Filmemacher. Auf die Frage nach dem Einfluss der
Videotechnik auf seine Arbeit, erwiderte Trecartin:
“Life has changed greatly since 1995 and so should the logic of storytelling and the look,
structure and creation of the moving image. I use manners that relate and challenge current
life, and that meditate on future possibilities. I would argue that the word professional is
slowly becoming harder and harder to understand or evaluate.” 39
All diese stilistischen Entscheidungen lassen sich nicht unabhängig von dem DURCH, dem Inhalt,
dem Gehalt behandeln. In seiner Form wie auch in seiner Funktion erscheint das „bewegte Bild“
zunächst als undurchdringlich, unlesbar. Doch sein Stil bzw. seine Form fesselt die Aufmerksamkeit
des Betrachters, indem es ein Medium verwendet, mit dem wir täglich und häufig umgehen: den
Bildschirm.
“His work depicts worlds where consumer culture and interactive systems are amplified to
absurd or nihilistic proportions and characters circuitously strive to find agency and meaning
in their lives. The combination of assaultive, nearly impenetrable avant-garde logics and
equally outlandish virtuoso uses of color, form, drama, and montage produces a sublime,
stream-of-consciousness effect that feels bewilderingly true to life” 40
38
Lanham, R. A. (2006): The Economics of Attention: Style and Substance in the Age of Information Interview. In:
University of Chicago press. <http://www.press.uchicago.edu/Misc/Chicago/468828.html>. 2006 [Zugegriffen
16.2.2012]
39
Cwelich, L.(2011): Ryan Trecartin: Art for the Age of YouTube. In: Wall Street Journal.
<http://blogs.wsj.com/speakeasy/2010/07/20/ryan-trecartin-art-for-the-age-of-youtube/>. 20.Juli, 2011.[Zugegriffen
15.4.2012]
20
Zahlreiche Betrachter und Kunstkritiker haben Trecartins Konstruktionen sozialer Realität positiv
aufgenommen, weil sie eine Welt zeichnen, die inhaltlich wie rezeptiv einer Logik der
wechselseitigen Aufmerksamkeit verhaftet ist. Er benutzt, was heute knapp und daher wertvoll ist,
nämlich die Aufmerksamkeit des Nutzers, und zeigt die absurden und intensiven Anstrengungen,
die unternommen werden, dieses Gut zu erlangen. Die Arbeit fesselt die Aufmerksamkeit. Sie tut
dies, indem sie das Gegenteil von dem unternimmt, von dem wir erwarten würden, dass es uns
fesselt: Sie bombardiert den Betrachter mit einem Übermaß an Information. Die “movies” und ihre
Präsentationsweise spielen mit unserer Aufmerksamkeit, entziehen sie uns, bringen uns dazu, unser
Aufmerksamsein selbst zu erforschen.
Die Ökonomie der Aufmerksamkeit am Beispiel ANY EVER
Produktion/ Vertrieb/ Konsum
Die Filmreihe aus der Any Ever besteht, wurde in einem Haus in Miami mit Digitalkameras und
Computern hergestellt und auf zahlreichen Internetplattformen vertrieben. Sie kann überall auf der
Welt an einem Computer konsumiert werden. In einer Gesellschaft, in der Aufmerksamkeit zu
einem ökonomischen Faktor geworden ist, konnte diese Art von Arbeit gedeihen. Nach Michael
Goldhaber liegt die effizienteste Weise des Aufmerksamkeitszuwachses im Internet. Es ist ein
natürlich organisches Forum zur Verbreitung der eigenen Arbeit und/oder Identität mit der größten
potenziellen Zuschauerschaft. 41
Trecartin ist das Vorzeigekind all jener, die im Internet ihren Aufmerksamkeitsreichtum gemehrt
haben. Alle seine “movies” sind auf mehreren unterschiedlichen Webseiten zu sehen: von UBUWeb
(ein vertrieb für experimentelle Videos) und Kunstmagazinen im Web wie DIS, bis hin zu populären
und bekannten Plattformen wie Vimeo und YouTube. Auch hat Trecartin seinen eigenen YouTube
Kanal eingerichtet: Wian Treetins. Allein der YouTube Kanal hat 3.100 Abonnenten, die 526.773
Video angeklickt haben. Der Kanal bietet kurze Ausschnitte aus seinen “movies”, YouTube Clips,
die er für interessant hält und natürlich eine Kommentarfunktion. Beispiele für Originalkommentare
sind unter anderem:
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so so good, I love these amazing videos :}
LLLeeeeeeeee 9 months ago
i don't know what the fuck is going on but i love it. .......
lalalaalove224 11 months ago
this stuff is so great. serious entertainment.
Deprogramr 1 year ago
Look on UBUWeb. He has 2 more works up and a third on the way.
Daikamaitachi in reply to Frebrik (Show the comment) 2 years ago
40
Zitat von Kevin McGarry in: McGarry, K. ed. (2011): Ryan Trecartin: Any Ever. New York:Skira Rizzoli Publications
in association with Elizabeth Dee, 2011. S. 110.
41
Goldhaber, M. H. (1997): The Attention Economy: The Natural Economy of the Net.
<http://www.well.com/user/mgoldh/natecnet.html> [Zugegriffen 15.3.2012]
21
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Your work is complete crap. I hate you and your stolen money. I hope you lose your home
and self respect and everything else of value to you.
MetroidStar890 2 years ago
Sir, your work is all art, and I am love all of it, indeed, it makes me delicious, so I thankaroo
that you should create one last wonderful creation, maaybe either a family finds
entertainment or YO! a romantic comedy. 42
Unabhängig davon, ob die Kommentare positiver oder negativer Natur sind, wird hier
Aufmerksamkeit geschenkt und Information mitgeteilt, etwa wo längere Versionen der “movies” zu
finden sind. Obwohl die Any Ever Ausstellung für ein Museumspublikum entworfen wurde,
verbreiten sich die “movies” selbst außerhalb der Institutionen der offiziellen Anerkennung. Das
Mehren von Aufmerksamkeitswohlstand verdrängt also die Notwendigkeit der monetären
Kompensation durch den scheinbaren Verkauf der “movies”. Finanzielle Aufwandsentschädigung
wird sekundär. Die “movies” mehren Aufmerksamkeit und folglich Popularität, je attraktiver sie für
Institutionen werden, die sodann frühere und zukünftige Arbeiten vergüten.
“In this new economy it is disadvantages to restrict access to the content of your work.
Therefore the fight over intellectual property and rights to make copies is actually a struggle
between the new economy and the old, a reason why they cannot both coexist forever, and
thus a feature of the period of transition from old to new.” 43
Dies ist ein interessanter Aspekt, wenn man über den Inhalt und den Konsum von Trecartins
“movies” nachdenkt. Die “movies” selbst stammen aus der öffentliche Natur des Internet, und die
Öffentlichkeit erhält dort die Gelegenheit, sie umsonst online anzusehen, ohne Beschränkung und
Regelungen zur Verwendung und zum Kopieren des Materials. Dadurch ist die Arbeit nur noch
populärer geworden, hat ein Publikum erreicht, das wahrscheinlich nicht in eine
Museumsausstellung gehen würde. Die Arbeit hat den Mainstream infiltriert. Trecartin sagt selbst
dazu:
“There was a moment in time where I thought, “Whoa, I’ve gotten more mainstream
attention than attention from the people I’m actually trying to reach.” Art-world mainstream.
I’m thankful for it, because it’s the only way I’ve been able to make more movies. Recently
I’ve been doing more of visiting schools and talking, and it’s been so rewarding to hear what
the people who actually watch the movies five times have to say, rather than somebody who
watches for two minutes, then says something because it’s their job to.” 44
42
Zitate von Betrachtern der Videos von Ryan Trecartins YouTube Seite: <http://www.youtube.com/watch?
v=YxFu4KO5uaA&list=UUG6NoUlmmWUG72Amw0mNNTQ&index=1&feature=plcp> [Zugegriffen 15.4.2012]
43
Goldhaber, M. H. (1997): The Attention Economy: The Natural Economy of the Net.
<http://www.well.com/user/mgoldh/natecnet.html >[Zugegriffen 15.3.2012]
44
Zitat von Ryan Trecartin in: Lafreniere, S. (2011): Ryan Trecartin Interview. In: Vice.
<http://www.vice.com/read/ryan-trecartin-596-v17n11>. Mai 2011.[Zugegriffen 27.4.2012]
22
Branding/ Marketing/ Networking: Finissage von ANY EVER im PS1 (Der unvermeidliche
Faktor der Prominenz)
Die Party fand am Mittwoch, den 3. August statt und wurde von PopRally präsentiert und vom DIS
Magazine organisiert. Der Event wuchs sich zu einem riesigen öffentlichen Spektakel aus, bei dem
jeder, der rechtzeitig eine Karte zu 11$ erwischt hatte und über 21 war, mitmachen konnte. Die
Werbung für das Ereignis machte daraus: [REALTIME/RETWEET/RYAN TRECARTIN].
PopRally (ein Wortspiel aus pep rally, ein Ritual, das häufig in High schools stattfindet, um die
Studentenschaft und die Spieler vor einem wichtigen Spiel heiß zu machen) ist ein
Veranstaltungsprogramm des Museum of Modern Art und MoMA PS1, in dem Kooperationen unter
Künstlern und Musikern, Performances, Filmvorführungen, Empfänge und spezielle Führungen
durch Ausstellungen stattfinden. DIS Magazine ist ein Multimedia-Kunstmagazine, für das Trecartin
und viele seiner Mitstreiter Beiträge liefern. Auf der Party traten unter anderem Bodybuilder, Drag
Queens, die allererste High Definition Boy Band, eine über 113 Kilo schwere Stripperin namens
Spicee Cajun und ein 15-jähriger Avantgarde-Rapper mit dem Namen GlassPopcorn auf. Während
des Events gab es Candy, eine offene Bar und ein Feuerwerk. Wie Warhol und sein Gefolge haben
Trecartin und seine Kollaborateure ein Talent dafür, das Subversive populär zu machen. 45
Für die gesamte Party organisierte das DIS Magazin zwei große Menschen in weißen
Ganzkörperanzügen mit Logos beliebter amerikanischer Marken wie Home Depot, FedEx, Vita
Coco, Under Armour, K-Mart, dem Brustkrebsbändchen und Apple (von denen keiner den Event
finanziell unterstützte), die am Eingang Fotos von den eintreffenden Partygästen machten. Dies war
selbstverständlich eine Parodie auf den Rummel um rote Teppiche, auf dem Prominente Werbung
für bestimmte Produkte machen.
Der Event hob noch einmal vieles von dem hervor, was während der Ausstellung stattgefunden
hatte: den unweigerlichen Unterhaltungs- und Prominentenfaktor. Es gab ein interaktives Element,
bei dem jeder eine Rolle in einer Satire auf die Konsum- und Prominentenkultur übernehmen
konnte. Allerdings wurde diese Lesart von der Tatsache ermöglicht, dass Trecartin sich ein
erhebliches Maß an Berühmtheit erworben hat. In einem kürzlich erschienenen Interview mit der
Huffington Post erörtert Andrea Fraser den Aufstieg der „Kunst-Prominenz“.
“In the last decade, we saw the rise of the art-celebrity and art-fashion nexus as well as a
vogue for all things participatory in a turn that many people have linked to the “experience
economy." I think that major museums today, and the most ambitious artists, want to be all
things to all people. They have succeeded beyond the wildest dreams anyone might have had
40 years ago, except maybe Warhol.” 46
45
Binlot, A. (2011): The Art World's Justin Bieber? Meet Glass Popcorn, the 15-Year-Old Rapper Who Rocked
RyanTrecartin's PS1Party.In: Artinfo. <http://www.artinfo.com/news/story/38505/the-art-worlds-justin-bieber-meetglass-popcorn-the-15-year-old-rapper-who-rocked-ryan-trecartins-ps1-party/>. September, 27,2011[Zugegriffen
19.4.2012].
46
Zitat von Andrea Frasier in : Massara, K. (2012): Interview With Andrea Fraser About The Whitney Biennial.In:
The Huffington Post. <http://www.huffingtonpost.com/2012/03/22/interview-with-andrea-fraser_n_1369790.html>.
23
Trecartin ist in der Lage, es anscheinend “allen recht zu machen”, da er gegenwärtige kulturelle
Massenphänomene nutzt, um seine Arbeit zu kontextualisieren. Er ist für ein Publikum attraktiv, das
sich von der jüngeren Generation faszinieren und beeinflussen lässt.
Woran ist aber diese jüngere Generation interessiert? GlassPopcorn zufolge sind es: "the sillier
aspects of the cultural and counter-cultural ideas that members of my generation form and subscribe
to, as well as my generation's incredible involvement with the Internet and social media.". 47 Es ist
wenig überraschend, dass Trecartin angemerkt hat, dass ein Zielpublikum seiner Videokunst in der
Altersgruppe von 9 bis 12 zu finden ist, die kein Leben ohne Internet kennt und mithilfe der neuen
Technologien und der sozialen Medien kommuniziert. 48
Austausch
“The real promise of the Web and the net and the like, though also a promise it can never
completely fulfill, is to help satisfy the ever more pressing desire attention. To get attention
you must emit what is technically identifiable as information; likewise for information to be
of any value, it must receive attention. Therefore an information technology is also an
attention technology, or in other words, a transfer of information is only completed when
there is also a transfer of attention proceeding in the opposite direction.” 49
Wie Goldhaber in diesem Zitat darstellt beruht die Möglichkeit zur Teilnahme an der
Aufmerksamkeitsökonomie, auf einem Wissen darüber, wie Aufmerksamkeit zu nehmen und zu
geben ist. Allerdings streiten mehrere Faktoren permanent um unsere Aufmerksamkeit. Daher ist es
unwahrscheinlich, dass wir unsere Aufmerksamkeit schenken, ohne dafür etwas von
überzeugendem Wert angeboten zu bekommen. Wir werden wesentlich wählerischer im Bezug
darauf, auf wen oder was wir unsere Aufmerksamkeit richten. “Das tun sie nur, wenn das Medium
zuverlässig herausbringt, was die Leute sehen wollen.”50
Dies halte ich für einen der Gründe, weshalb Trecartin die Arbeiten als “movies” bezeichnet und
nichts als “films”, und weshalb er sie gratis im Internet anbietet. Das Wort “movie” ist etwas, das
leichter erreichbar, zugänglicher ist. Es hat nicht den elitären Beigeschmack den “film”,
insbesondere “art film” besitzt. Die “movies” sind so entworfen, dass sie einem bestimmten
Bevölkerungsteil gefallen, weil sie von ihm handeln. Dieses erkennbare Format bewirkt, auch wenn
23. März 2012. [Zugegriffen 19.4.2012]
Zitat von Glass Popcorn in: Binlot, A. (2011): The Art World's Justin Bieber? Meet Glass Popcorn, the 15-Year-Old
Rapper Who Rocked RyanTrecartin's PS1Party.In: Artinfo. <http://www.artinfo.com/news/story/38505/the-art-worldsjustin-bieber-meet-glass-popcorn-the-15-year-old-rapper-who-rocked-ryan-trecartins-ps1-party/>. September,
27,2011{zugegriffen 19.4.2012].
48
Lafreniere, S. (2011): Ryan Trecartin interview. In:Vice. <http://www.vice.com/read/ryan-trecartin-596-v17n11> Mai
2011.[Zugegriffen 27.4.2012]
49
Goldhaber, M. H. (1997): The Attention Economy: The Natural Economy of the Net.
<http://www.well.com/user/mgoldh/natecnet.html> [Zugegriffen 15.3.2012]
50
Vgl. Franck (1993). “Ökonomie der Aufmerksamkeit”. S.751
47
24
es verdreht ist und auf dem Kopf steht, die überwältigende Popularität der Arbeit, wie sich an den
Kommentaren auf seiner Vimeo Seite und seinem Youtube Kanal ablesen lässt. Hier noch ein
weiterer Originalkommentar:
zanapplepie bakedtoperfection (2010):
RYAN RYAN RYAN
i absolutlee mega hella rockafella umbrella godzilla heart everything you've done. i-be etc.,
and lizzie. what can i say cuz THANK GOD someone is doing something tight.
*art needs you, i love you, please keep yes yes uh huh51
Diese Plattform nährt die Illusion, dass Trecartin in engem Kontakt zum gesamten Spektrum seiner
Fans und Follower steht. Goldhaber nennt das „illusorische Aufmerksamkeit“.
“Most of us, much of the time, can do little better than get illusory attention, which does not
really focus in on who we actually are very successfully. But getting that is enough to make
us feel a gratitude to the stars who provide it, in part simply because it feels as if, with their
large audience, they have singled us out. This gratitude can account for our further efforts to
pay them attention in any of its various forms.” 52
Im Zusammenhang mit den Taktiken innerhalb dieser neuen Ökonomie schreibt Lanham: “Draw
your inspiration from your audience not your muse. And keep in touch with that audience. The
customer is always right. No Olympian artistic ego need apply.” 53 Das genau ist Trecartin gelungen.
Er hat Unterstützung bei seinen Fans gefunden, weil seine Fans seine Inspiration sind. Er hat
unmittelbaren Zugang zu ihnen durch die sozialen Medien, was der Aufmerksamkeit unter
gleichberechtigten Nutzern förderlich zu sein scheint.
Goldhaber hingegen sagt:
“By focusing on stars in this fashion, we further restrict the availability of real attention,
which in turn intensifies the competition for it, and that, in its turn pushes still more of us
towards the lure of illusory attention, and so on in a tightening spiral.” 54
Die Sehnsucht nach echter Aufmerksamkeit in großen Mengen wird nur intensiver.
51
Zitat von Ryan Trecartins Vimeo Seite.<https://vimeo.com/5793454 [Zugegegriffen 26.4.2012]
Goldhaber, M. H. (1997): The Attention Economy: The Natural Economy of the Net.
<http://www.well.com/user/mgoldh/natecnet.html> [Zugegriffen 15.3.2012]
53
Lanham, R.A. (2006): The Economics of Attention: Style and Substance in the Age of Information in an interview. In:
University of Chicago press.<http://www.press.uchicago.edu/Misc/Chicago/468828.html> 2006.[Zugegriifen
16.2.2012]
54
Goldhaber, M. H. (1997): The Attention Economy: The Natural Economy of the Net.
<http://www.well.com/user/mgoldh/natecnet.html> [Zugegriffen 15.3.2012]
52
25
“If the average kid today at age twenty has seen over 30,000 hours of TV, and, if, as is often
suggested, TV offers young viewers role models for acceptable behavior, then the one thing
everyone visible on the tube has in common to model is going after attention and getting it.
This is also what is universally modeled by rock stars, successful athletes, politicians, and to
a lesser degree even by school teachers and college professors.” 55
Dieser Aspekt der Aufmerksamkeitsökonomie spiegelt sich auch in den Themen und vielleicht der
schwindelerregenden Geschwindigkeit von Any Ever wieder. Wie eingangs angemerkt, unterliegen
sämtliche Figuren stets einer irrwitzigen Obsession, die sie nötigt, eine Performance zu liefern, die
Aufmerksamkeit auf sich zieht. Jedoch gelingt es ihnen nicht wirklich, da sie zu viel Zeit damit
zubringen, illusorische Aufmerksamkeit zu schenken.
Zeit und Wert
In den anderthalb Jahren zwischen 2009 und 2011 hat es Justin Bieber, ein nunmehr 18 Jahre alter
Popstar geschafft, von einem relativ unbekannten Menschen zu jemandem zu werden, der sämtliche
Karten für den Madison Square Garden in New York in 22 Minuten absetzt. Dieses Phänomen lässt
sich in wesentlich kleinerem Maßstab auf den Erfolg Trecartins übertragen, dessen Weg zum Ruhm
nur wenige Jahre in Anspruch genommen hat. Beiden ist es gelungen, mittels der sozialen Medien
rasche Berühmtheit zu erlangen und zu festigen. Zu ihrem Erfolg hat beigetragen, dass ihre Fans
das Gefühl haben, dass ein Teil des Erfolgs ihnen gehört. Sie schaffen einen Wert für ihre Arbeit,
indem sie die Existenz ihre Fangemeinde anerkennen und umgekehrt.
Dezember 2011: Ich liege krank im Bett und schaue mir Americas Next Top Model an. In dieser
Staffel dreht sich alles um Branding. Eine der Aufgaben für diese Woche besteht darin, einen Song
zu schreiben, zu dem sie ein Video drehen werden, das sich virusartig im Internet verbreiten wird.
Die Kandidaten haben 20 Minuten, um den Song zu schreiben. Eine der Kandidatinnen ist bereits
nach fünf Minuten frustriert, weil ihr nichts Gutes einfällt. Kurz darauf sehen wir eine Einstellung
von ihr, kurz bevor die Zeit abgelaufen ist. Sie ist beinahe ekstatisch und erklärt, dass manche
Meisterwerke in nur 20 Minuten geschrieben werden können. Ich denke: Wow, nicht nur, dass jeder
seine 15 Minuten Berühmtheit bekommt, man braucht auch nur 20 Minuten, um dahin zu kommen.
Ich erzähle diese beiden Anekdoten, um deutlich zu machen, wie Zeit und Wert in der
Aufmerksamkeitsökonomie miteinander verflochten sind. Die eine Anekdote unterstreicht eine
Realität, die andere eine Illusion, die aus einer seltenen Tatsache bezüglich der Menge an Zeit
entsteht, die nötig ist, eine große Menge an Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Aufmerksamkeit ist
nicht zu quantifizieren. Sie ist nicht messbar und deshalb nur schwer als Währung zu denken. Wie
sollte ich die Menge an Aufmerksamkeit bewerten, die ich Ihnen schenke oder die Sie mir
schenken? Vieleicht anhand der Zeitspanne der Konzentration.
55
Goldhaber, M. H. (1997): The Attention Economy: The Natural Economy of the Net.
<http://www.well.com/user/mgoldh/natecnet.html> [Zugegriffen 15.3.2012]
26
Esther Dyson, die als so eine Art amerikanischer “Internet Guru” bekannt ist, schrieb 2011 über die
Ökonomie der Aufmerksamkeit, dass die Menge der Zeit, die wir auf etwas verwenden, zum Wert
der Sache beiträgt, der wir unsere Aufmerksamkeit widmen. Das Internet ändert die
Aufmerksamkeitsökonomie, indem es die Aufmerksamkeit unter gleichberechtigten Nutzern
fördert. Menschen verbringen eine große Menge Zeit damit, einander Aufmerksamkeit zu schenken
– und sie versuchen zunehmend Aufmerksamkeit zu erlangen, anstatt sie zu verschenken. 56 Die
Dinge, denen wir Aufmerksamkeit widmen nehmen unsere Zeit in Anspruch und werden für uns
wertvoll, weil sie für uns an Bedeutung gewinnen. Was passiert also, wenn wir anfangen, auf die Art
und Weise zu achten, mit der wir Aufmerksamkeit gewinnen können? Verwenden wir mehr Zeit und
Aufmerksamkeit darauf, wie wir uns präsentieren, um so Aufmerksamkeit zu erringen statt unserer
Umwelt Aufmerksamkeit zu schenken und uns mit ihr auseinanderzusetzen?
if you don't pay attention to me, I WON'T PAY ATTENTION TO YOU:
(Aufmerksamkeitsökonomie macht uns zu Schauspielern)
In gewissem Sinn haben wir schon immer in einer Aufmerksamkeitsökonomie gelebt. Nach Richard
Lanham findet sich die früheste, wirkungsträchtigste Studie zur Zuteilung von Aufmerksamkeit in
der antiken Lehre von der Rhetorik.
“This body of thinking was formulated in Greece half a millennium and more before Christ.
It began informing Western culture at the juncture when Greece was moving from orality to
written language. Rhetoric argued that, since attention constituted the central social power,
the orator who allocated it must be the central figure in the polity, and his training the
fundamental training for civic life.” 57
Die Fähigkeit, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, bedeutete Macht.
Obwohl das Bedürfnis nach menschlicher Aufmerksamkeit keineswegs neu ist, sind seine
Vorrangstellung und Akzeptanz es sehr wohl. In einem Gespräch mit meinem 72 Jahre alten Vater
erzählte er mir, dass er in seiner Kindheit gewohnt war, dass die Reaktion auf jemanden, der
Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollte, darin bestand, ihm entgegenzuhalten: “Gib nicht so an.”
Goldhaber spricht diesen Wandel in der gesellschaftlichen Etikette an: “the ethos of the old
economy which makes it often bad taste or a poor strategy to consciously seek attention seems to be
giving way to an attitude that makes having a lot of attention rather admirable and seeking it not at
all to be frowned upon.” 58 Ich denke nur an all die Menschen, die jeden Tag Videos von sich selbst
bei Youtube einstellen.
56
Dyson,E. (2011): Attention Economy. In: Informilo.<http://www.informilo.com/20110914/attention-economy-386>
14. September 2011[Zugegriffen 27.4.2012]
57
Lanham, R. A.(1997): The Economics of Attention. In: Michigan Quarterly Review. Vol. XXXVI, no. 2, Frühling
1997.
58
Goldhaber, M. H. (1997): The Attention Economy: The Natural Economy of the Net.
<http://www.well.com/user/mgoldh/natecnet.html> [Zugegriffen 15.3.2012]
27
Lanham sieht einen großen Unterschied in der Beschäftigung mit menschlichen Verhaltensweisen
zwischen der klassischen Wirtschaftswissenschaft, gegenüber einer Ökonomie der Aufmerksamkeit.
Die klassische Wirtschaftswissenschaft setzt eine Welt von Privatpersonen voraus, die rationale
Entscheidungen auf der Grundlage ihres Eigeninteresses darüber treffen, was sie kaufen und
verkaufen sollen. Diese individuellen Entscheidungen bestimmen den Marktpreis, bezüglich Kauf
und Verkauf. Aus dieser Perspektive wirken Menschen wie Schauspieler, die ein theatralesgesellschaftliches Selbst, statt eines rationalen Selbst besitzen und bewusst in einer vorherrschend
theatralen Gesellschaft leben.59
In dieser Situation ist jeder Mensch stets damit beschäftigt, ein Drehbuch zu verfassen und Rollen
zu spielen bzw. zu analysieren. Nach Goldhaber:
“The divide between work and home, work and play, that characterized the industrial
economy is rapidly eroding. In the attention economy there is no down time.” 60
Der Trend lässt sich auch in einem kürzlich in der New York Times erschienenen Artikel ablesen, der
von Facebook und Charakterzügen handelte und den Titel trug: “Shape your profile according to the
top five personality traits”. Darin findet sich ein Verweis auf das Journal of Applied Social
Psychology, das folgende Liste der Hauptcharakterzüge eines Facebook-Profils aufstellt:
Gewissenhaftigkeit, emotionale Stabilität, Liebenswürdigkeit, Extrovertiertheit und Offenheit
gegenüber neuen Erfahrungen. Im Idealfall stellt Sie Ihr Facebook-Profil hinsichtlich dieser
Kriterien in ein positives Licht.
“To be viewed favorably in terms of conscientiousness, you need to be organized, thoughtful
and disciplined about what you post. Sharing a link to a news story and commenting on it
thoughtfully? Yes. Sharing a link to a racist organization? No. For emotional stability, try to
refrain from frequent posts that could demonstrate mood swings—complaining about your
significant other one moment, then praising them as your soul mate the next. As for
agreeableness, avoid rants and nasty comments bashing the opinions and tastes of others. To
exhibit extraversion, push yourself to comment on friends’ wall posts and meet as many new
friends as you can. For openness to experience, add Facebook applications that display the
books you’re reading, the charities you’re donating to, the songs you’re listening to, and
anything else that shows that you’ve engaged in new activities over time.” 61
59
Lanham, R. A.(1997): The Economics of Attention. In: Michigan Quarterly Review. Vol. XXXVI, no. 2, Frühling
1997.
60
Goldhaber, M. H. (1997): The Attention Economy: The Natural Economy of the Net.
<http://www.well.com/user/mgoldh/natecnet.html> [Zugegriffen 15.3.2012]
61
Schawbel, D. (2012): How to Shape Your Facebook Profile to Help You Land a Job. In: Time Magazine MoneyLand
<http://moneyland.time.com/2012/03/01/how-to-shape-your-facebook-profile-to-help-you-land-a-job/ > 1. März 2012
[Zugegriffen 28.4.2012]
28
Zwischen privatem und öffentlichem Ich gibt es keinen Unterschied. Reichtum an Aufmerksamkeit
wächst, indem man sich zur Gänze ausdrückt.
“The best guarantee you have for attention going to you for what you do is living your life as
openly as possible, expressing yourself as publicly as possible as early as possible (hence it
makes sense to put out drafts, early versions, so there are witnesses for everything you
do).”62
Das erfordert totale Transparenz. Privatsphäre wäre hier die Fähigkeit, nicht aufmerksam zu sein,
die Fähigkeit abzuschalten. Aus der Gefahr in dieser Ökonomie an den Rand gedrängt zu werden,
ergibt sich der Druck, in den Kampf um Aufmerksamkeit einzutreten. Es geht nicht mehr um den
fairen Austausch von Aufmerksamkeit, sondern darum, so viel wie möglich an sich zu raffen. Da
wir aber alle Aufmerksamkeit benötigen, steigt der Konkurrenzdruck und unsere Bemühungen
werden umso wichtiger.
“When real attention of the right sort is unavailable, one has to make do to make do with the
illusory kind, which comes through an increasing variety of media: paperback books, sound
recordings, movies, radio, magazines, TV, video, and most recently computer software, CDROMs and the Web”. 63
Die Filmfiguren Trecartins sind das Produkt dieses Konsumverhaltens. Sie konsumieren auf
manische Weise, damit sie manische Versionen ihrer selbst produzieren können, die
Aufmerksamkeit erringen. Die Figuren erscheinen uns so vertraut, weil (wie der Times-Artikel über
Facebook und Charakterzüge deutlich macht) mehr und mehr Menschen die markttauglichsten
Versionen ihrer selbst herstellen und diese bei dem größtmöglichen Publikum in Umlauf bringen.
Die “movies” porträtieren die wachsende Herausforderung, jedermanns Aufmerksamkeit zu
erlangen, weil wir uns darin verzehren, sie für uns selbst zu erlangen, und zwar so viel wie nur
irgend möglich.
In ihrem Buch betrachtet Jane Healy die populären wie klinischen Manifestationen dessen, was als
Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom bekannt geworden ist. Sie geht von der Beobachtung aus, dass
ihre Studenten im Vergleich zu früher einfach nicht mehr bei der Sache waren. Sie befragte andere
Lehrende zu dieser Veränderung und stellte fest, dass es nicht nur ihr so erging. Sie begann sich in
die Fachliteratur der Neurowissenschaft einzulesen, die sich mit dem Thema befasst. Ihre These
läuft letztlich auf folgendes hinaus: Die heutige Überfrachtung mit Informationen, insbesondere die
Überreizung der Sinne durch die elektronischen Medien und die Fragmentierung des
Familienlebens haben dazu geführt, die Gehirne ihrer heutigen Studenten anders als früher zu
vernetzen. Die neuronale Vernetzung, die für höhere begriffliche Fähigkeiten erforderlich ist,
existiert einfach nicht mehr. Ist dem so, dann heißt das, uns droht eine wirkliche Tragödie von
62
Goldhaber, M.(1996): M.H. GOLDHABER'S Principles of the NEW ECONOMY.
<http://www.well.com/user/mgoldh/principles.html>1996 [Zugegriffen 24.3.2012]
63
Goldhaber, M.(1996): M.H. GOLDHABER'S Principles of the NEW ECONOMY.
<http://www.well.com/user/mgoldh/principles.html>1996 [Zugegriffen 24.3.2012]
29
Seiten der digitalen Revolution und der Aufmerksamkeitsökonomie, die jene geschaffen hat. Es
könnte sein, dass das Hypertext-Universum des Denkens, die Saat seiner eigenen Zerstörung
hervorgebracht hat.64
Eingedenk dieser Überlegungen kann Trecartins Arbeit als ein wachrütteldender dystopischer Blick
auf die Wirklichkeit betrachtet werden, in der über alles andere der Status und die Prominenz
gewürdigt werden, die man dadurch verbessert, dass man die Aufmerksamkeit der Medien erringt
und dadurch diejenige der Massen. Ein Drama, das den Verlust der Fähigkeit darstellt, sich auf
etwas oder jemanden Einzelnes zu konzentrieren; ein Ort, an dem tieferes Verständnis unmöglich
ist. Es ist das Porträt einer Generation von Menschen, die in die Pubertät zurückgefallen sind und
die zugleich schreien: “if you don’t pay attention to me, I won”t pay attention to you.”
Dennoch kann es auch als Komödie der Irrtümer gesehen werden, die das Bild einer Welt zeichnet,
die oft befreiend komisch sein kann. Die Populärkultur und die Konsumgesellschaft werden als
kreative Werkzeuge eingesetzt. Das Absurde hat seinen Zugang im Lokalen, im Häuslichen. In
dieser Wirklichkeit muss man nicht eine bestimmte Rolle annehmen und sich abgrenzen. Der
Hypertext (wie schon bemerkt) bietet der selbstverfassten Freiheit die Möglichkeit von mehrfachen,
einander widersprechenden Versionen, in einem individuellen Charakter. Die Frage, oder besser die
Furcht liegt mehr darin, wie weit wir diese Obsession treiben können. Wenn dies ein Weg für mich
ist, mir selbst einen eigenen Stil und Handlungsfreiheit zu verschaffen, dann ist dies befreiend.
Wenn ich mich aber auf eine bestimmte Sorte von Drehbuch festlegen muss, das die Art und Weise
prägt, auf der ich jene Persönlichkeit herstelle und in Umlauf bringe, dann schränkt dies meine
Freiheit ein.
Was geschieht aber mit den „Unsichtbaren“ einer Aufmerksamkeitsökonomie? Existieren sie nicht
länger in einer Welt, in der es zu einem Gemeinplatz wird zu sagen „Ich kann gegoogelt werden,
also bin ich“? In einer Ökonomie der Aufmerksamkeit entsteht eine regelrechte Entmaterialisierung.
Diese Wende von den Dingen hin zu dem, was wir über uns selbst und die Dinge denken, ist der
Bestandteil einer Verschiebung in den Motivationsmustern. Dies kann eine
aufmerksamkeitsheischende, narzisstische Kultur einläuten, die brüllt: Schenk mir Aufmerksamkeit!
Oder sie kann uns die Gelegenheit bieten, darauf aufmerksam zu werden, was uns und wie uns
welche Dinge interessieren, tiefer zu graben und zu verstehen, welche Rollen wir in der
Gesellschaft spielen.
Hier kommt die Kunst ins Spiel. Denn die Kunst hatte stets die Rolle der Kontextualisierung
unserer Weltanschauung. Ihr Schwerpunkt liegt nicht in dem Erschaffen von Dingen, sondern in der
erzeugten Aufmerksamkeit, die der Betrachter ihr entgegen bringt. Sie kann das Licht im
Unsichtbaren bündeln, etwas deutlich sichtbar machen, was zuvor verborgen blieb. Als Darsteller in
dieser Wirklichkeit, kann sie uns eine Handlungsfreiheit zu gesellschaftlichem Wandel verleihen.
Künstlern wird seit jeher die Aufgabe zugeschrieben, Aufmerksamkeit auf die sozialen, politischen
und kulturellen Konsequenzen des menschlichen Verhaltens zu lenken. Mit Blick auf die
64
Healy, J. M.(1999): Endangered Minds. New York: Simon & Schuster, 1999. S. 10-16.
30
Implikationen der digitalen Medien und die Verschiebung der Bedeutung vom Materiellen auf das
Immaterielle, kann insbesondere die Performance als immaterielle Kunstform eine besondere Rolle
innerhalb der kulturellen Produktion spielen. Sie kann auch die Präsentation von Identitäten mithilfe
der sozialen Medien kritisch thematisieren.
Meine Motivation, über dieses Thema zu schreiben, entspringt aus meinem lebenslangen Interesse
an den darstellenden Künsten. Für mich stellt Trecartins Arbeit den eindeutigen Trend zur
Selbstdarstellung im digitalen Zeitalter dar. Im vorausgegangenen Text wird dies als Kern der
Aufmerksamkeitsökonomie anschaulich. Es handelt sich um ein Wirtschaftsmodell, dessen
Handelsware auf menschlichem Verhalten und zwischenmenschlicher Interaktion basiert. Wir
interagieren immer häufiger durch die Kanäle der Medien. Unser Hauptaugenmerk wird zunehmend
auf die Machtzentrale einer Aufmerksamkeitsstruktur gelenkt: auf den Bildschirm. Die Menschen,
die auf diesem Schirm erscheinen, werden zu Objekten unserer Aufmerksamkeit. Wir lieben es, auf
dieses Zentrum zu blicken, ob dort Filmstars, Sportler, „It-Girls“ oder Politiker auftreten. Zugleich
bleiben wir miteinander in Kontakt und betreiben modische Gruppenaktivitäten der Vernetzung auf
den Plattformen der sozialen Medien. Abermals ist es der Schirm, der uns gestattet, unsere
Beziehungen öffentlich zur Schau zu stellen. Was Trecartins “movies” ans Licht bringen ist, dass
die Menschen im Zentrum einer medialen Aufmerksamkeitsstruktur allesamt Schauspieler sind.
Die Form dieser “movies” hat einen hohen Wiedererkennungswert, der die Entwicklung hin zu
einer Gesellschaft reflektiert, die sich immer mehr in einem Selbstdarstellungsmodus befindet.
Diese Masterarbeit bildet die Grundlage, aus der ich meine Lecture Performance entwickelt habe.
Kontinuierlich denke ich über die Umsetzung von “live performance” und “teaching as art” im
Zeitalter der digitalen Medien nach. “Live performance” wird nie die Popularität eines digitalen
Formats erreichen. Aber sie kann ein unmittelbarer und intimer Weg sein, eine Diskussion in Gang
zu setzen.
Ich sehe in diesem Format die Möglichkeit, über narzisstische Rollen zu reflektieren. Mit der “live
performance” schaffe ich eine Situation, in der ich Aufmerksamkeit sowohl durch theatralen,
medialen und körperlichen Ausdruck inszeniere, wobei ich gleichzeitig auf die Aufmerksamkeit der
Zuschauer angewiesen bin. So stehe ich anders als in medialen Formaten im Internet, selbst zur
Diskussion und lade dadurch zur Diskussion ein. Wobei der Zuschauer in diesem Moment einen Art
“Aufmersamkeitsvertrag” eingeht, im Gegenstaz zu einer Plattform inder der betrachter Pause
drücken, bzw. sofort aus der Situation heraus treten kann. Die Bedeutung von Aufmerksamkeit
könnte sich wandeln, wenn sie verschenkt anstatt eingefordert wird, indem sie nicht mehr als
knappes Gut, sondern als Ressource betrachtet wird.
31
Epilog
Im Geiste gehe ich zurück in das Zimmer, das Wohnzimmer, das in einem Museum wohnt. Ich gehe
auf die Wand zu, auf den Fernseher zu, ich ziehe nur für einen Augenblick den Stecker heraus,
schließe die Augen und fange an, nachzudenken.
32
Literaturverzeichnis:
Binlot, Ann. (2011): The Art World's Justin Bieber? Meet Glass Popcorn, the 15-Year-Old Rapper
Who Rocked RyanTrecartin's PS1Party. In: Artinfo. <http://www.artinfo.com/news/story/38505/theart-worlds-justin-bieber-meet-glass-popcorn-the-15-year-old-rapper-who-rocked-ryan-trecartins-ps1party/>. 27. September 2011 [Zugegriffen 19.4.2012]
Bourriaud, Nicolas und Simpson, Bennet. (2001): Public Relations – an interview with Nicolas
Bourriaud by Bennet Simpson. In: Artforum. New York, NY. April 2001, S.54.
Burluraux, Odile; Michaud, François. (2011): Any Ever at Musee D'Art Moderne De La Ville De
Paris, exhibition curators text. <http://www.mam.paris.fr/en/node/534>.October 2011. [Zugegriffen
19.4.2012]
Cwelich, Lorraine. (2011): Ryan Trecartin: Art for the Age of YouTube. In: Wall Street Journal.
<http://blogs.wsj.com/speakeasy/2010/07/20/ryan-trecartin-art-for-the-age-of-youtube/>. 20.Juli
2011. [Zugegriffen 15.4.2012]
Droitcour, Brian. (2011): Making Word: Ryan Trecartin as Poet. In: Rhizome.
<http://rhizome.org/editorial/2011/jul/27/making-word-ryan-trecartin-poet/ >. 27. Juli 2011
[Zugegriffen 19.4.2012]
Dyson,Esther. (2011): Attention Economy. In: Informilo.
<http://www.informilo.com/20110914/attention-economy-386>. 14. September 2011[Zugegriffen
27.4.2012]
Franck, Georg. “Ökonomie der Aufmerksamkeit”. Merkur Nr. 534/535. Hannover, München.
(September/Oktober 1993), S. 748-761. Downloadtexte:
<http://www.iemar.tuwien.ac.at/publications/Franck_1993a.pdf>
Ford, Whitney W. (2011): The Q&A: Ryan Trecartin Video Artist. In: More Inteligent Life, The
Economists. <http://moreintelligentlife.com/blog/whitney-ford/qa-ryan-trecartin> August 2011
[Zugegriffen 17.4.2012]
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35
Die Performance
Das Skript
36
if you don’t pay attention to me, I WON’T PAY ATTENTION TO YOU
eine Performance
Rollenbesetzung:
Sarah Lewis als Sarah Lewis
Eric Green als Sarah Lewis
Kostüme:
Beide Person sind gleich gekleidet.
Technische Anforderungen:
ein Podium, zwei Beamer, eine Live-Kamera, ein Rechner, kabellose Mikrophone
Produktionsnotizen:
Die Präsentation beginnt eindrucksvoll, mit Sarahs Beschreibung ihrer ersten Begegnung der Arbeit
von Ryan Trecartin. Dies wird in dramatischer Form von einem Soundtrack begleitet, wie bei dem
Vorspann eines Films. Danach startet Sarah einen imaginären Dialog mit Ryan Trecartin, als
Einführung über ihn und seine Arbeit. Sarah und Eric, der ebenfalls die Rolle Sarah spielt, werden
um die Aufmerksamkeit des Publikums regelrecht konkurrieren. Am Ende werden die
unterhaltsamen Elemente verblassen und Sarah präsentiert, wie Kunst eine Rolle in der
Aufmerksamkeitsökonomie spielen könnte. Das Stück dauert nicht länger als 20 Minuten.
Szene:
Die Lichter sind an und die Leute haben im Raum der Hardenbergerstr. 33 Platz genommen. Das
Publikum schaut auf ein Podium, mit zwei Stühlen, einem Tisch mit dem technischen Equipment
(Beamer/Kamera). Dahinter die Wand, auf die während der gesamten Performance die Bilder der
Live-Kamera projiziert werden. Eric arbeitet zuerst als Techniker / Regisseur, mit Ton, Licht und
Kamera. Er bewegt sich hinter dem Equipmenttisch und das Publikum kann ihn beobachten. Wenn
die Vorstellung beginnt geht das Licht aus und der Soundtrack startet. Sarahs Stimme erfüllt den
dunklen Raum, die Projektion eines RyanTrecartin Films ist die einzige Lichtquelle. Sarah bahnt
sich ihren Weg durch das Publikum zum Podium, während Soundtrack und Originalton des Films
sich abwechseln, ein- und ausblenden.
37
S: Wir sehen einen Raum, ein Wohnzimmer, das in einem Museum aufgebaut worden ist. Ich bin
allein, und die Mitte des Zimmers zieht sofort meine Aufmerksamkeit auf sich. Dort (in der Mitte)
befindet sich ein großer Fernseher, der tonlos einen unablässigen Strom von leuchtend farbigen
Bildern ausstrahlt. Ich kann sie nicht ganz erkennen. Obschon es keinen Ton gibt, so ruft er mich
doch heran und zieht mich weiter in den Raum hinein. Ich gehe auf den Fernseher zu und fühle
mich leicht orientierungslos, da andere Menschen den Raum betreten haben. Ich bin mir nicht
sicher, ob oder wohin ich mich setzen soll. Mich beschleicht ein Gefühl der Unsicherheit. Werde ich
beobachtet? Ich werde von meiner Unsicherheit abgelenkt durch ein Paar Kopfhörer, ich setze sie
auf und schaue fern. Plötzlich und mit überwältigender Energie nehme ich den Ton wahr. Die
rasend schnell sich abwechselnden Szenen sehen aus und hören sich an wie ein Zusammenstoß von
Kunst, Reality TV und sozialen Netzwerken. Die Trümmer dieses Unfalls explodieren aus dem
Fernseher und in den mich umgebenden Raum hinein in Form von Gegenständen, die auf
wundersame Weise intakt geblieben sind. Die Menschen auf dem Bildschirm sind mir vertraut und
doch zugleich fremd. Sie sehen aus wie Menschen, die amerikanische Populärkultur genau studiert
und aus deren absurdesten Bestandteilen sie eine eigenwillig irre Episode konstruiert haben.
Mittlerweile habe ich vergessen, dass andere Menschen im Raum sind. Ich gehe komplett in der
Situation auf. Es ist eine vollständig interaktive und persönliche Erfahrung. Ich bin tatsächliche zu
eine Figur in einer Reality TV Sendung geworden, die eine noch seltsamere Reality TV Sendung
anschaut. Die Sendung ist derart fesselnd und auf so raffinierte Weise verwirrend, dass ich mich
umso destabilisierter fühle, je länger ich hinsehe. Mir ist übel. Dadurch kann ich meine Figur
weiterentwickeln. meine Figur verspürt Übelkeit. Es wird alles zu viel, und sie verlässt den Raum,
ihre Gedanken rasen...
„Konzeptualisiere ich mich selbst für die Kamera und mein Publikum?“, fragt sie
sich.”
Musik und Film blenden aus, Sarah sitzt auf einem Stuhl neben dem Podium. Sie beginnt ihren
Vortrag, adressiert an Ryan Trecartin, als ob er auf der anderen Seite der Kamera stehen würde.
Sarah schaut in die Kamera, das Publikum kann die Kamerabilder in der Projektion verfolgen.
S: Alles hat damit angefangen, dass du und deine Mitstreiter meine Aufmerksamkeit bei der
Younger than Jesus Ausstellung im NY im Jahr 2009 geweckt habt. Deine Gruppe produziert wie
sie selbst sagt "movies", so eine Art Amateur- Videos bei YouTube die mit Information künstlerisch
TOTAL überfüllt sind. Die “movies” beinhalten nicht-lineare Erzählformen, Sprache, Queerness,
soziale Medien und digitale Kultur, zur Performance von Identität in der zeitgenössischen Kultur.
(Ahhhh)Deine Arbeit zeigt utopische und dystopische Visionen einer Gesellschaft, die durch
Medien TOTAL übersättigt ist. Es gibt zwar ein befreiendes Gefühl, weil Fragen der Rasse und des
Geschlechts überwunden werden. Die Figuren in den “movies” haben ihre ganz eigene: HybridPersönlichkeit. Sie tragen ganz extrovertierte Klamotten, haben individuelle Gesten, Sprache und
Styling. Aber sie spielen andauernd mit ihren Webcams oder Digitalkameras. Ein
Selbstbewusstsein, das die reinste Selbstvermarktung ist. Es ist als ob sie sagen würden:
38
E: “schau mich an” (pause): S: “ nein, schau mich an!”.
S: Sie spucken hektisch sinnlose Informationen aus (wie Spam), in einem Wettbewerb um die
knappste Ressource: Aufmerksamkeit.
E: wie definierst du Aufmerksamkeit?
S: Aufmerksamkeit ist der Kern des Bewusstseins im doppelten Sinn einer selbst vergewisserten Existenz
und einer wachen Geistesgegenwart. Aufmerksamkeit ist das Medium, in dem alles präsentiert werden muss,
das für uns als Erfahrung machende Wesen wirklich werden soll. Jedes aufmerksame Wesen bildet das
Zentrum seiner eigenen individuellen Welt. Diese Welt existiert so oft wie es bewusste Wesen in ihrem
Zentrum gibt.
Eric begibt sich hinter das Podium und wendet sich dem Publikum zu.
E (mit einer offiziellen Stimme):
Zu Präsentationzwecken beziehe ich mich auf Georg Francks Interpretation. Franck war einer der
ersten, die in Deutschland über die Verschiebung im ökonomischen Denken hin zur
Aufmerksamkeit geschrieben haben. Nach ihm ist Aufmerksamkeit eine der wertvollsten
Ressourcen für die Validierung unserer Existenz. Sie ist unabdingbar für die Anerkennung dessen,
was „real“ ist, was für uns Bedeutung hat, was uns zum Zentrum unseres individuellen Universums
macht. Was geschieht jedoch mit der Aufmerksamkeit in einem Zeitalter der
Informationsübersättigung?
S: wichtige Punkte zu Aufmerksamkeit:
a: sie ist knapp
b. sie es sehr begehrt
c. man kann kaum genug Aufmerksamkeit bekommen
d. wieviel man geben kann ist aber begrenzt
e. sie ist unwiderstehlich
f. sie gibt große Macht
E ( mit einer offiziellen Stimme):
39
“Ein Reichtum an Information erzeugt eine Armut an Aufmerksamkeit.” Diese Feststellung von
Nobelpreisträger Herbert Simon basiert auf dem Knappheitsprinzip als Grundproblem
ökonomischen Handelns. Wenn Volkswirtschaften auf Knappheit beruhen (basierend auf dem
Konzept von Angebot und Nachfrage) und wenn der Wert von Aufmerksamkeit größer ist, als der
Wert von Gütern, dann kann man sich ein ökonomisches Konzept auf der Grundlage von
Aufmerksamkeit vorstellen.
S: Simon vertrat als erste diese Theorie im Jahr 1971. Als ich 2009 auf die Arbeit des Künstlers
Ryan Trecartin stieß, wurde mir dieses Konzept erschreckend klar. Künstlern wird seit jeher die
Aufgabe zugeschrieben, Aufmerksamkeit auf die sozialen, politischen und kulturellen
Konsequenzen des menschlichen Verhaltens zu lenken. Mit Blick auf die Implikationen der
digitalen Medien und die Verschiebung der Bedeutung vom Materiellen auf das Immaterielle
kann insbesondere die Performance als immaterielle Kunstform eine besondere Rolle
innerhalb der kulturellen Produktion spielen. (2x)Sie kann auch die Präsentation von
Identitäten mithilfe der sozialen Medien kritisch thematisieren. Trecartin und seine Mitstreiter
stellen für mich eine Fallstudie einer Arbeit dar, die kulturelle Trends verwendet. Es ist eine
Performance eine Welt, die von der Ökonomie der Aufmerksamkeit durchdrungen, parodiert, und
bloßgestellt wird.
Sarah richtet die Kamera neu aus und sie wendet sich gemeinsam mit Eric dem Publikum zu.
S: eine Darstellung der Rollen in einer Ökonomie der Aufmerksamkeit:
S: Stars and Fans
S und E: Spielen vor der Kamera
…......................................(lange und unangenehme 30 Sekunden Pause)...............................
E: eine Darstellung der Aktionen in einer Ökonomie der Aufmerksamkeit:
E: darstellen , kreiern und die Suche nach einem Publikum
S und E: Spielen vor der Kamera
Sarah ist wieder auf dem Podium, hinter Ihr ist dieser Titel projiziert
40
S: Diese Masterarbeit ist eine assoziative Reflexion über ein Kunstwerk, welches meine
Aufmerksamkeit geweckt hat, da die Arbeit selbst und die Rezeption der Arbeit mit
Aufmerksamkeit spielt. Ich betrachte die Beschreibung als eine assoziative Reflexion, weil sie aus
einem Denkprozess oder einem multidisziplinären Ansatz entstanden ist, um die Auswirkungen
eines Kunstwerks verständlich zu machen. Der Künstler, den ich gewählt habe, arbeitet immer
zuerst mit einem Skript, und seine Arbeit beschäftigt sich mit dem Ausdruck der Identität. Ich habe
ein analoges Echo zu seinen “movies” gewählt, eine “live-performance”. Aus der Beschreibung
versuchte ich ein Skript für eine Lecture Performance zu entwickeln, welche Rollen zeigt, die wir in
einer Aufmerksamkeitsökonomie spielen. Deswegen ist meine Masterarbeit am Ende eine
Performance, basierend auf dem Text über eine Erfahrung.
Meine Motivation, über dieses Thema zu schreiben, entspringt aus meinem lebenslangen Interesse
an den darstellenden Künsten. Trecartins Arbeit stellt mehr als alles andere, das ich in letzter Zeit
gesehen habe, einen eindeutigen Trend zur Selbstdarstellung im digitalen Zeitalter dar. Die soeben
dargestellte Aufmerksamkeitsökonomie veranschaulicht ein Wirtschaftsmodell, dessen primärer
Schwerpunkt auf menschlichem Verhalten und zwischenmenschlicher Interaktion basiert. Wir
interagieren immer häufiger durch die Kanäle der Medien. Unser Hauptaugenmerk wird zunehmend
auf die Machtzentrale einer Aufmerksamkeitsstruktur gelenkt: auf den Bildschirm. Die Menschen,
die auf diesem Schirm erscheinen, werden zu Objekten unserer Aufmerksamkeit. Wir lieben es, auf
dieses Zentrum zu blicken, ob dort Filmstars, Sportler, „It Girls“ oder Politiker auftreten. Zugleich
bleiben wir miteinander in Kontakt und betreiben modische Gruppenaktivitäten der Vernetzung auf
den Plattformen der sozialen Medien. Abermals ist es der Schirm, der uns gestattet, unsere
Beziehungen öffentlich zur Schau zu stellen. Was Trecartins “movies” ans Licht bringen ist, dass
die Menschen im Zentrum einer Aufmerksamkeitsstruktur allesamt Schauspieler sind.
Aufmerksamkeit macht sie dazu.
In dieser Situation ist jeder Mensch damit beschäftigt, ein Drehbuch zu verfassen und Rollen zu
spielen. Das Streben nach Aufmerksamkeit schafft eine Situation, in der der Unterschied zwischen
Arbeit und Zuhause, Arbeit und Spiel, einer schnellen Erosion unterliegt. In der
Aufmerksamkeitsökonomie gibt es keine Ausfallzeiten. Zwischen privatem und öffentlichem Ich
gibt es keinen Unterschied. Reichtum an Aufmerksamkeit wächst, indem man sich in Gänze
ausdrückt.
Eingedenk dieser Überlegungen kann Trecartins Arbeit als ein wachrüttelnder dystopischer Blick
auf die Wirklichkeit betrachtet werden. Er zeigt ein Drama, das den Verlust der Fähigkeit darstellt,
sich auf etwas oder jemanden Einzelnes zu konzentrieren; ein Ort, an dem tieferes Verständnis
unmöglich ist. Es ist das Porträt einer Generation von Menschen, die in die Pubertät zurückgefallen
ist und die zugleich schreien: “if you don't pay attention to me, I wont pay attention to you!.”
Dennoch kann es auch als Komödie der Irrtümer gesehen werden, die das Bild einer Welt zeichnet,
die oft befreiend komisch ist. Die Populärkultur und die Konsumgesellschaft werden als kreative
Werkzeuge eingesetzt.
Die Form dieser “movies” hat einen hohen Wiedererkennungswert, der die Entwicklung hin zu
einer Gesellschaft reflektiert, die sich immer mehr in einem Selbstdarstellungsmodus befindet.
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Meine Masterarbeit bildet die Grundlage, aus der ich diese Lecture Performance entwickelt habe.
Kontinuierlich denke ich über die Umsetzung von “live performance” und “teaching as art” im
Zeitalter der digitalen Medien nach. “Live performance” wird nie die Popularität eines digitales
Formats erreichen. Aber sie kann ein unmittelbarer und intimer Weg sein, eine Diskussion in Gang
zu setzen.
Ich sehe in diesem Format die Möglichkeit, über narzisstische Rollen zu reflektieren. Mit der “live
performance” schaffe ich eine Situation, in der ich Aufmerksamkeit sowohl durch theatralen,
medialen und körperlichen Ausdruck inszeniere, wobei ich gleichzeitig auf die Aufmerksamkeit der
Zuschauer angewiesen bin. So stehe ich anders als in medialen Formaten im Internet, selbst zur
Diskussion und lade dadurch zur Diskussion ein. Wobei der Zuschauer in diesem Moment einen Art
“Aufmersamkeitsvertrag” eingeht, im Gegensatz zu einer Plattform in der der Betrachter Pause
drücken, bzw. sofort aus der Situation heraus treten kann. Die Bedeutung von Aufmerksamkeit
könnte sich wandeln, wenn sie verschenkt anstatt eingefordert wird, indem sie nicht mehr als
knappes Gut, sondern als Ressource betrachtet wird.
Während S und E den Raum verlassen .........
S: Im Geiste gehe ich zurück in das Zimmer, das Wohnzimmer, das in einem Museum wohnt. Ich
gehe auf die Wand zu, auf den Fernseher zu, ich ziehe nur für einen Augenblick den Stecker heraus,
schließe die Augen und fange an, nachzudenken.
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