Das Thoracic Outlet Syndrom (TOS)

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Das Thoracic Outlet Syndrom (TOS)
Das Thoracic Outlet Syndrom (TOS)
Das zentrale Nervenkompressionssyndrom des Armes / Schulter -Arm-Syndrom/
Schultergürtelsyndrom / Skalenussyndrom / Halsrippensyndrom
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Als Nervenkompressionssyndrom häufig verkannt
Vielschichtiges und variables klinisches Bild
Ursachen: Anomalien von Muskeln, Bandstrukturen und knöcherne Varianten
Konservative krankengymnastische Behandlung als Basistherapie
Chirurgische Intervention in therapieresistenten Fällen
Das Thoracic Outlet Syndrom (TOS) ist ein kontrovers diskutiertes neurovaskuläres
Kompressionssyndrom der oberen Thoraxapertur. Initial hatte man es vor allem als
gefässchirurgisches Problem wahrgenommen: Die Kompression der Arteria subclavia kann zu einer
distalen aneurysmatischen Aufweitung führen, in welcher sich Thromben als Streuquelle für
Embolien in der Hand bilden können. Wegen dieses seltenen, aber eindrücklichen Geschehens und
wegen einer deutlich erkennbaren Ursache, nämlich einer Halsrippe (Abb. 1A), wurde dieses
vaskuläre Krankheitsbild schon Anfang des 19. Jahrhunderts als nosologische Entität beschrieben
(Cooper 1821).
Abb. 1A: Halsrippe (blau) mit Gelenkbildung zur ersten Rippe (rosa), Abb. 1B: Arteriographie mit Knickbildung (Pfeil) und
poststenotischer Dilatation der Arteria subclavia (rot) in Provokationsstellung.
Weit häufiger als die vaskuläre Form tritt jedoch mit über 90% die neuropathische Form des TOS auf.
Anlass für Irritationen des Plexus brachialis geben dabei meistens anatomische Varianten im Bereich
der oberen Thoraxapertur (Abb. 2). Entsprechend der Analyse von fast 300 eigenen
Operationsberichten kommen in 63% Varianten der Skalenusmuskulatur, in 55% bandartige
Strukturen im Bereich der Pleurakuppel und in 32% Varietäten der Knochenformationen in der
Umgebung der ersten Rippe, seltener eine Halsrippe (11%) vor, wobei Kombinationen in über 60%
auftreten. Auch in der Normalbevölkerung existieren anatomische Varianten in dieser Region,
allerdings nicht in derselben Häufung und Kombination (Roos 1976, Redenbach 1998, Carlier 2008).
Abb. 2A: Die häufigsten Ursachen einer Plexusirritation: Varianten der Skalenusmuskulatur (rot) sowie bandartiger
Strukturen im Bereich der Pleurakuppel (grün). Mit den eingekreisten gezackten Pfeilen sind die Plexusirritationszonen
durch den Pleurakuppelaufhängeapparat sowie den Vorderrand des M. scalenus medius markiert. Abb. 2B: Halsrippe (blau)
sowie Formvariante des Querfortsatzes des siebten Halswirbels (gelb) mit transversocostalem Band (grün) zu einer
Skalenuszacke am Innenrand der 1. Rippe.
Wann muss man an ein TOS denken?
Immer wenn gleichzeitig mehrere periphere Nervenstörungen auftreten (z.B. Karpaltunnel und
Sulcus ulnaris-Syndrom) oder wenn Operationen eines Karpaltunnels oder einer Epikondylitis
erfolglos bleiben oder die Beschwerden schnell wieder auftreten, ist nach einer weiter zentral
gelegenen Ursache der Probleme zu suchen. Leider geben Patienten generell umso undeutlichere
Symptome an, je zentraler die Störungen lokalisiert sind. So klagen sie häufig über ein Schweregefühl
des Armes, belastungs- bzw. positionsabhängige Nacken-, Schulter-, Armschmerzen, insbesondere
bei Überkopf-Arbeiten, sowie wechselnde Dysästhesien, vor allem der ulnaren Handkante (kaudale
Plexusanteile).
Diagnostik
Bei der klinischen Untersuchung weisen verschiedene Tests auf ein mögliches TOS hin: etwa eine
Pulsauslöschung beim Zurückführen der Schulterblätter (Military- oder Eden-Test), oder bei
bestimmter Kopfhaltung (Adson-Manöver), wobei Pulsveränderungen auch häufig bei gesunden
Probanden in Provokationsstellungen reproduziert werden können (Dunant 1987). Eine schnelle
Ermüdbarkeit bis hin zur Schmerzentstehung beim schnellen Öffnen und Schliessen der Hand bei
angehobenen Armen (Roos-Test) hat sich als aussagekräftiger herausgestellt.
Bei der körperlichen Befunderhebung ist das laterale Halsdreieck druck- und klopfempfindlich, aber
auch alle peripheren Prädilektionsstellen für Nervendruckpunkte sind leicht irritierbar
(Handgelenkbeugeseite für den N. medianus, Ellbogenrinne für den N. ulnaris, Epicondylus radialis
für den N. radialis, Oberarminnenseite für sämtliche Nerven).
Neben der neurologischen Untersuchung, die radikuläre, periphere, sowie sonstige potentielle
neurologische Ursachen der Symptome ausschliessen soll, ist für die Diagnostik eine
Röntgenaufnahme der oberen Thoraxapertur nötig. Hierbei zeigen sich gegebenenfalls Halsrippen
oder Halsrippenrudimente, ein prominenter Processus transversus des 7. Halswirbelkörpers oder
eine speziell geformte erste Rippe, häufig mit Insertionszacken (sog. Skalenuszacken) an der
Innenseite, die dem Ansatz eines sehnigen Muskelrandes oder einer bandförmigen Struktur
entsprechen (Abb.2). Beide Gebilde können wie eine Halsrippe verlaufen und wie diese zu einer
schmerzhaften Plexusirritation führen. Solchen diskreten knöchernen Hinweisen kommt erhebliche
diagnostische Bedeutung zu, wie wir im Laufe der letzten Jahre zeigen konnten. Gegebenenfalls
kommen Phlebo- oder Arteriographien (Abb. 1B) in Normalposition und Provokationsstellung zur
Anwendung (bzw. Angio-CT/Angio-MRT), womit Konturunregelmässigkeiten, Einschnürungen oder
sogar Verschlüsse durch Band- oder Muskelanomalien nachgewiesen werden können (Abb. 1B). Der
direkte Nachweis der irritierenden Strukturen gelingt präoperativ nur in wenigen Fällen, hier liefert
inzwischen die MR Neurographie erste vielversprechende Befunde (Bäumer 2014).
Selten gelingt anhand dieser Untersuchungen der Beweis für das Vorliegen eines TOS. Die Diagnose
ergibt sich eher mosaikartig, indem erst anhand verschiedener, für sich allein nicht genügend
aussagekräftiger Informationen – Anamnese, Untersuchungsbefund, Neurologie, Röntgen – ein mehr
oder weniger deutliches Bild der Erkrankung entsteht.
Therapie
Die Therapie erfolgt zunächst konservativ. Aus einer Vielzahl verfügbarer gymnastischer Übungen
wird ein dem Einzelfall angepasstes Programm zusammengestellt, welches dann allerdings vom
Patienten systematisch und diszipliniert eingehalten werden muss, zunächst unter Anleitung, dann
selbständig.
Bei Muskelschwund, dauernden Parästhesien oder Schmerzen sowie bei erfolgloser konservativer
Therapie ist eine Operation angezeigt. Sie besteht bei uns in der Dekompression des Plexus brachialis
über einen supraklavikulären Zugang. Der Scalenus medius wird zusammen mit allen störenden
Bandstrukturen von der ersten Rippe abgelöst und teilweise reseziert. Falls vorhanden wird eine
Halsrippe ebenfalls entfernt. Oft ist eine externe Neurolyse erforderlich, wobei man das narbig
verdickte Epineurium spaltet. Immer wird anschliessend die erste Rippe im mittleren Anteil reseziert,
um sicher genügend Platz zu schaffen, damit der Plexus durch die zu erwartende Narbenbildung nicht
wieder eingeengt werden kann. Oft spüren die Patienten nach der Operation sofort eine deutliche
Erleichterung im betroffenen Arm. Um den Heilungsprozess nicht durch eine zu frühe
Bewegungsbelastung zu gefährden, sollten die Patienten während einer Woche stationär
nachbetreut werden. Wegen der Narbenverhärtung können die Symptome nach sechs bis acht
Wochen erneut auftreten. Mit der weiteren Narbendifferenzierung, die mit Förderung der
Durchblutung mittels Massage und Ultraschall noch befördert werden kann, bilden sich die
Gleitschichten wieder aus und die Symptome verschwinden wieder. In der Regel ist mit einer
Arbeitsunfähigkeit von sechs, bei anstrengenden handwerklichen Berufen auch acht bis zehn
Wochen zu rechnen.
Eigene Erfahrungen
Der Senior-Autor bemüht sich seit 30 Jahren, dieses zentrale Nervenkompressions-Syndrom bei den
Handchirurgen bekannt zu machen (Stober 1989, 2006), denn als Krankheitsbild ist es weit häufiger
anzutreffen, als das Gefässkompressionssyndrom. Dennoch wird es vielfach verkannt, ja, die Existenz
eines solchen Syndroms gelegentlich immer noch abgestritten, was die oft langen und leidvollen
Umwege der Patienten bis zur Diagnosestellung und schliesslich Heilung erklärt (Gruss 2006). Dabei
erzielt eine Operation in der Hand des Geübten gute Langzeitergebnisse (Merle 2011, Illig,
Thompson, Freischlag et al., The Thoracic Outlet Syndrome, Springer Verlag 2013).
Anfangs haben wir bei eindeutigem intraoperativem Befund einer Muskel- oder Bandanomalie nur
diese Anomalie beseitigt. Wir mussten anhand der Nachuntersuchung unserer ersten 100 TOSOperationen in St. Gallen (1988-1994) feststellen, dass bei Patienten ohne Rippenresektion die
Beschwerdelinderung nicht so zuverlässig eintrat (70% zufriedene Patienten ohne Rippenresektion
versus 86% mit Rippenresektion, Stober 2006). Deshalb resezieren wir seit 1995 bei jedem TOS
unabhängig von seiner anatomischen Ursache die erste Rippe im mittleren Drittel, um auf diese
Weise genügend Platz für die zu erwartende Narbenbildung zu schaffen. Auch bei Vorliegen einer
zusätzlichen Halsrippe kommt bei uns nur noch die Kombination von Dekompression des Plexus
brachialis sowie Resektion von Hals- und erster Rippe zur Anwendung.
Nach mittlerweile über 300 solcher Operationen seit den 90er Jahren haben wir in der Statistik der
Aarauer Fälle von 2002-2012 eine Komplikationsrate von 4% vorzuweisen, davon musste 1%
aufgrund der Komplikation erneut operiert werden. In der Literatur finden sich je nach
angewendeter Technik Komplikationsraten von 4 bis 40% (Sanders 1979, Hempel 1996, Illig,
Thompson, Freischlag et al., The Thoracic Outlet Syndrome, Springer Verlag 2013). Inzwischen liegen
uns auch 10-Jahres-Langzeitergebnisse vor. 88% unserer Patienten sind mit dem Operationsergebnis
so zufrieden, dass sie sich nochmals für die Operation entscheiden würden. Schlechtere
postoperative Erfolgsaussichten bestehen bei posttraumatisch ausgelösten TOS-Symptomen (Illig,
Thompson, Freischlag et al., The Thoracic Outlet Syndrome, Springer Verlag 2013). Bei diesen
Patienten ist die Indikation zur Operation besonders sorgfältig zu stellen.
Die Junior-Autorin beschäftigt sich seit 2012 intensiv mit diesem zentralen
Nervenkompressionssyndrom und hat auch andere TOS-Spezialisten besucht (z.B. Prof. A. Dubuisson,
Neurochirurgie, Centre Hospitalier Universitaire de Liège, Belgien; Prof. M. Merle, Handchirurgie,
Hôpital du Kirchberg, Luxembourg und PD W. Girsch, Orthopädisches Spital Speising, Wien,
Österreich), mit ihnen operiert und diskutiert. Seit 2013 arbeitet sie in Sachen TOS wissenschaftlich
und operativ mit dem Senior-Autor zusammen.
Wichtig erscheint vor allem, dass man bei entsprechender Symptomkonstellation an die Möglichkeit
dieses Krankheitsbildes denkt und die korrekte Abklärung veranlasst, denn auch heute noch müssen
viele Patienten einen langen Leidensweg durchlaufen, bis das TOS als Ursache der oft untypischen
Beschwerden in Betracht gezogen wird.
Prof. Dr. med. Reinhold Stober, Facharzt für Chirurgie, speziell Handchirurgie; seit April 2016 Konsiliararzt im
HFR Fribourg-Kantonsspital
Dr. med. Claudia Bauer, Fachärztin für Chirurgie, seit September 2015 im HFR Tafers, Spezialsprechstunde bei
V.a. TOS (Claudia.Bauer@h-fr.ch), allfällig notwendige Operationen gemeinsam mit Prof. R. Stober im HFR
Fribourg-Kantonsspital